Darstellungen aus dem Gebiete der Pädagogik: Band 1 [Reprint 2019 ed.] 9783111564661, 9783111193342

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Darstellungen aus dem Gebiete der Pädagogik: Band 1 [Reprint 2019 ed.]
 9783111564661, 9783111193342

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Darstellungen aus dem

Gebiete der Pädagogik. HerauSgegeben und zum Theil selbst verfaßt

von

Fr. H. Chr. Schwär;, D»ctor der Theologie und Philosophie, Grofiherz. Badenschem Geheimen» Kirchenrath und ord. Professor der Theologie zu Heidelberg, Mitglied der historisch-theologischen Gesellschaft zu Leipzig.

1?lld Na6)träge zur Erzrehungölcbrc.

Leipzig, bei Georg Joachim Göschen. 1855-

Vorrede. ctver an dem Ende seines Tagewerkes steht,

blickt mit eitler gewissen Wehmuth aus dasselbe zurück. Schon ein Gefühl der Art ist das,

welches jeder

empfindet, der auf die hingcschwundenen Freuden sei­

ner Wirksamkeit hinsieht, und der nun täglich erwar­

ten muß,

daß er aus derselben abgerufen werde:

aber der Vers, meint hier zunächst einen andern Ge-

müthszlistand.

Der Maler sieht auf sein Bild, und

fühlt, wie tief es noch unter seinem Ideale geblieben;

er bessert nach, es gelingt ihm hier durch einen Zag, da durch eine Lichterhebung,

dort durch eine Farbe

seinem Werke noch etwas zu geben, das ihm fehlte;

dann sieht er es wieder an, und immer wieder, und immer entdeckt sein Auge noch etwas, wo er nachzu­ helfen sucht, und wenn er endlich auch das Bild un­ ter dem Rahmen an einem ehrenvollen Platze erblickt, so wird er immer noch dieses und jenes finden, woran

er nachbesscrn möchte, und immer wird sich ihm je­

nes Gefühl erneuern.

Diesem ähnlich ist die Weh­

muth, womit der Mann am Ende einer Lebensauf­ gabe auf dieselbe zurücksieht, und vor das Werk mit

prüfendem Auge Hintritt.

„Das ist mir gelungen,

IV

jenes nicht, dort ist eine Lücke, dort eine Ueberladung, dort fehlt es an Klarheit, dort an Ordnung" u. s. w. — er nimmt es genau,

er will sich nicht schonen,

denn es gilt die Sache, die Lösung einer großen Auf­

gabe; und so findet er immer noch zu verbessern, zu ergänzen, nachzuholen. Der unterzeichnete Verf. der Crziehungslehre tritt

gegenwärtig vor sein Publicum mit der Vollmacht,

welche ihm dieses Gefühl bei jedem Wohldenkenden ertheilt.

Er hatte sein ganzes Leben hindurch an sei­

ner Thätigkeit zu verbessern und auszubilden, und daß

er in den Lehren über Erziehung, halbe Jahrhundert

abläuft,

noch bevor das

während dessen er in

dieser Lehrthätigkeit begriffen war, manches an dem, was er hierin ausgestellt hat,

nachholen »iöchte,

verbessern,

ergänzen,

liegt in der Natur der Sache.

Der, welcher den Arbeiter in sein Tagewerk angestellt

hat, und ihm nun noch Kräfte und Gelegenheit gibt, verpflichtet ihn eben hierdurch zu solchen Nachbesse­

rungen.

Darum, lieber Leser, dieser Nachtrag.

Die Erziehung umfaßt bekanntlich so viel, daß

man das ganze Leben hindurch, so lange es auch sey, darin zu lernen hat, und der Greis bleibt neben dem

angehenden Erzieher immer noch Schüler. Ist es ja doch eine Aufgabe der Menschheit im Ganzen für ihre fortwachsende Entwickelung; und wann wird man

sagen können:

jetzt ist sie völlig gelöst?

Wie vjel

welliger darf der Einzelne, welcher an dieser Lösung unmittelbar arbeitet, sich sagen:

ich habe sie gelöst!

Vielmehr wird er gern noch mehr Licht suchen, auf­ nehmen und über seine bisherigen Lehren verbreiten.

V

Die vorliegenden Aufsätze des Verf. sollen dieses hof­ fentlich belegen.

Aber zu demselben Zwecke hat er

auch Aufsätze einiger Freunde in die Reihe dieser Darstellungen ausgenommen.

Die biographischen lassen

uns Männer sehen, deren Leben für den Pädagogen

von Bedeutung ist; der kritische über eine neue Me­

thode, welche Aufsehen macht, gehört zur Vervollstän­ digung der Lehre und Geschichte des Unterrichts; der

anthropologische über das Gehen dient für die Gym­ nastik. Die Aussätze des Verf. sind nieist durch Neue­

stes in der Literatur oder sonst durch Bemerkungen angeregt worden.

Als er schon einen Theil zum Ab­

druck abgeschickt hatte, kam ihm die Geschichte der

Seele von Schubert (1830) in die Hande, wel­ ches Werk ihn besonders anzog, als eine Fundgrube anthropologischer Kenntnisse und als eia Reichthum genialer Tiefblicke.

Dem denkenden Erzieher eröffnet

sich da eine Ferne, wovon er manches geahnt, und aus welcher zwar auch setzt noch mehreres nicht in

bestimmter Gestaltung vorschwebt, aber doch mancher

lichte Gedanke auftaucht, deir er gern in seinen Geist aufnimmt, und ihn mit praktischem Verstände in das

Leben einführen möchte. Da die gegenwärtigen Nach­ träge auf eine höhere Stufe der Erziehung bestimm­

ter Hinweisen sollten, auf welche der Verf. vielfältig

schon in seiner Erziehungslehre hingedeutet hat, so war ihm vieles in jenem Werke um so willkommner, weil es ihm diese Idee zu einem deutlicheren Bewußt­ seyn brachte.

Er ist jetzt vollkommen überzeugt, daß

die Kunde und Kunst der Erziehung an einem neuen

VI

Entwickelungsmoment stehe, durch welches auch unser

Studium einen neuen Aufschwung gewinnen müsse. Allerdings ist das Wesen der Erziehung langst in

seinem Umriß bekannt, auch

ist es schon lange Ge­

genstand der Lehre; daß es aber in seinem Innersten

erkannt und ins Leben gerufen sey, wer möchte das

behaupten?

Es liegt zu ries in

Menschheit selbst,

dem Wesen

der

deren Gesetz Werden und Wach­

sen ist, als daß wir nicht auch neue Perioden des

Wachsthums für das Herausbilden der Erziehungs­ idee annehmen müßten.

Die bisherige Erfahrung

gibt uns eben auch noch keinen so gar großen Be­ griff von dem,

was die Erziehung bisher geleistet.

Denn man hört bei Hohen und Niedern dre Klage,

daß mich mit der besten (?) gar wenig ansgcrichtet werde, ja daß es mit dieser ganzen Wissenschaft und

Kunst, die man seit Rousseau so zuversichtlich anprcißt, am Ende nichts sey. Wir können also uiiinöglich die bisherige Stufe der Erziehung als die höchste gelten

lassen, sondern werden genöthigt, eine höhere zn snchen, sie aber auch zu hoffen, weil wir nach einem

göttlichen Gesetze an ihre Wirksamkeit und an ihren

gesegneten Erfolg glauben.

„Also höhere wissenschaftliche Begründung, also eigentliche Erziehungswissenschaft!"

Das meinen die­

jenigen Denker, welche in ihrer speculativen Richtung das Praktische gern fallen lassen, und das Lebendige jeder wahren Idee übersehen.

Nicht aus höher ge­

steigerte» Begriffen kann dieses kommen,

höhere Erziehung erzeugt werden,

kann eine

sondern aus der

Idee selbst, welche nun einmal in das Leben geboren

VII

ist, und in der vielseitigsten Erfassung des Lebens aus­ Ich bitte Euch,

gebildet werden will.

was haben

wir denn mit allen bisherigen Versuchen gewonnen,

welche die Erziehungskunde aufstellen,

begründen wollten?

seine

durch

eine Philosophie

oder durch ein Princip als Wissenschaft

Meinungen

Große Worte, in welche jeder

und

samt

prächtige Redensarten,

sonders

legen

kann,

durch welche jeder nach Be­

lieben eine herrliche Welt sich mag vorzaubern lassen,

werdet Ihr doch nicht für mehr halten als tönendes Erz und einnehmendes Klangspiel?

Wenigstens ist

welche einem Platon in

das nicht die Philosophie,

ganz anderm Sinne die höchste Musik war, und wel­ che auch uns in der Erziehung fördern könnte. Viel-

mehr die Natur des Menschen selbst ist unser Ge­ genstand;

sie müssen wir phliosophircnd erforschen,

und ihre Bestimmung lind

Entwickelung

nicht als

menschliches Machwerk, sondern wie sie Gott gewollt,

erkennen, wenn wir den Menschen erziehen und ver­

ständige Bildner desselben seyn wollen.

Diese Er­

forschung — wollt Ahr sie als Naturphilosophie be-

zeichneu, so bitten wir nur das Wort in einem an­ dern Sinne zu nehmen,

als dem gewöhnlichen —

ist nie beendigt. Es wird in der unergründlichen Tiefe der menschlichen Natur immer Neues aufgeschlossen,

und darum lieben wir für die Fortbildung unserer Idee geistreiche Werke der Anthropologen, wie die angeführten, und ziehen sie für diesen Zweck allen so­

genannten Philosophiern vor.

Der Verf. hat daher

in einem eignen Aufsätze (No. VIII.) der vorliegen­

den Darstellungen sich besonders auf Schuberts Ge-

VIII

schichte der Seele eingelassen. Weil er vieles aus sei­

ner Erziehungslehre voraussehen konnte, so war ein

strenger Zusammenhang weniger für die Mittheilung dieser Gedanken geeignet, als eine Folge von abge­

brochenen Bemerkungen. Was der Vers, frei aus seinem Gemüthe mit­ theilen wollte,

sprach sich auch am natürlichsten in

einer gemüthlichen Darstellung aus.

So die Weihe

eines Pädagogen; aus seiner Bildungsgeschichte (nicht der des Verfassers).

Die Berichtigungen, Entgeg­

nungen ii. s. w. mußten dagegen in einer andern Form

auftreten. Dahin gehört: No. III. die Nichtweihe des Pädagogen; No. IV. Bemerkungen, die Ge-

schichte der Erziehung betreffend.

Etwas mehr

in wissenschaftliche Form, soweit sich die Warme des

erfüllten und überzeugten Gemüths in solchen Grän­

zen bewegen kann, treten die beiden Reden No. V. nnd VI.,

die das Christenthum für die Erziehung

zum Gegenstand haben; und der Verf. rechnet dabei

als auf eine Bestätigung auf das theil

einer

Partei,

das

sich

ungünstige Ur­

hierbei

wiederholen

möchte, und das vielleicht seht nicht mehr das Wort

Mysticismus, aber doch wenigstens Einseitigkeit oder ein stärkeres gebraucht, um die Lebensidec des Chri­

sten hoch herab anzusehen.

Der Epilog ist zur Be­

seitigung eines Misverständnisses bestimmt, wie wür­ den sagen zu allem Ueberflnß, weil schon vorher an

mehrer» Orten der Aufsähe davon

die Rede war,

wenn dem Verf. nicht gerade daran viel liegen müßte,

daß der Begriff einer höhern Erziehung recht verstan­ den würde; und deßhalb fand er auch für nöthic

IX

noch in dieser Vorrede darüber ein paar Worte zu

sagen.

Wir haben oben an den neuen Aufschwung

erinnert, welchen die Erziehung für die nächstfolgende

und wir nennen sie

Periode zu gewinnen verspricht, eine höhere Erziehung,

nicht um die bisherige als

eine niedere oder gemeine herabzusehen,

sondern um

diese vielmehr selbst zu erhöhen; auch nicht, um durch eine doktrinäre oder verwickeltere die natürliche und einfache zu verdrängen,

sondern um eben recht zur

Einfachheit der Lebensweise,

dabei zur Reinheit der

höher» Natur durch Mütter, Väter, Lehrer, Schul­ männer die Jugend zurückzuführen. Aber hier ergreift uns ein eignes Schmerzgefühl.

Wir sehen das Werk, in welchem wir auf Hoffnung arbeiten, jetzt durch so manches in seinem Gedeihen verkümmert, uird was unsere Zeit in jedes ihrer Ta­ geblätter aufzeichnen läßt, droht unserer deutschen Er­

ziehung mitten in ihrer, auch von dem Arislande geprießnen Blüthe, vielleicht noch größeres Unheil. Die

kanten Stimmen, welche unsere Jugendbildung von

dem Christenthum losreißen wollen,

scheinen immer

mehr Anklang zu finden; die Meinung, daß die Fort­ schritte unserer Zeit uns über allen Glauben, außer

dem an den Menschen selbst, das heißt doch anr Ende

an nichts Höheres als sein Ich, nunmehr hinaufge-

schwungen hätten, und daß wir auch von den Kin­ dern keinen Gehorsam mehr fordern dürsten, weil das

doch nur ein blinder sey, schmeichelt sich bei allen ein,

die nicht die christliche Religion,

nicht das mensch­

liche Herz, nicht die helehrende Geschichte kennen,—

und deren sind nicht wenige,

auch unter den söge-

X

nennten Gebildeten; — ferner die tauschende Ansicht je­ ner Fortschritte, als ob sie vor allem durch Dampf und Buchdruckerschwarze gefördert würden, und daß man zu weitern Fortschritten die Volksschulen nur von der Kirche losreißen und mit allen materiellen Wissereien erfüllen müsse; dabei dann auch der ge­ heime Haß eines gewissen Liberalismus gegen den noch bestehenden Gelehrtenstand, den man durch Umwand­ lung seiner Schulen zu untergraben droht; hierzu die Förderung der materialistischen Denkart in Lehre und Leben;------ doch was sollen wir alles das aufzäh­ len, was uns niederschlagen könnte, alle diese Feind­ seligkeiten des Zeitgeistes, gegen welche der christliche Erzieher zu kämpfen hat! Der Vers, hat in der Vor­ rede zu seinem Buche: die Schulen, voriges Jahr von diesem Zeitgeiste gesprochen: er könnte dasselbe auch heute, und vielleicht verstärkt, wiederholen. Entmuthigeu soll uns das aber alles nicht, und wenn auch unsere Stimme überhört und überschrieen wür­ de; eutmuthigen kann es uns nicht. Das angestammte Gute unserer deutschen Nationalbildung wird nicht untergehen, und daß es verbessert auf unsere Nach­ kommen sich vererbe, darauf sey unsere Wirksamkeit gerichtet, so lange unser Tag währet, mit dem Ver­ trauen auf den, der in seinem Reiche alles herrlich hinaussührt. Heidelberg, im Ium 1833.

Schwarz.

Inhalt,

I.

n.

Seite Die Weihe eines Pädagogen. Aus seiner Bildungsgeschichte. Von dem Herausgeber. 1. Der Gärtner................................................................. 5 2. Der Arzt............................................................................. 33 3. Der Musiker........................................................................59

Drei Schulreden, historisch-pädagogischen Inhalts, bei den Prüfungsfeicrlichkeiten des Gymnasiums zu Frankfurt a. M. gehalten von Theodor Vömcl, Dircct. des Gymn. 1. Rede über Philipp Melanchthons Einfluß auf das

2. 3.

III.

Schulwesen........................ ..... ............................... 85 Johannes Sturm...............................................................99 Die Leidenschaften sind mitden Wissenschaften un­ verträglich. — FlaciuöLeben................................... 115

Die Nicht-Weihe des Pädagogen. Ein Brief, wie er geschrieben werden könnte, nebst vorläufiger Antwort. Von

dem Herausgeber.................................. '.............................................131

IV.

Die Geschichte der Erziehung des Herausgeberbetreffend. Beantwortung einiger Vorwürfe, welche dieser Geschichte gemacht worden, nebst Berichtigungen und Nach­ trägen ..............................................................................................

V.

Das Christenthum der höchste Standpunct für die Erziehung und ihre Geschichte. Allgemeine Schul­ rede. Von dem Herausgeber. . . ............................................ 179

VI.

Warum ist manchmal eine Erziehung von christ­ lichen Ettern so unwirksam? Versuch einer Beantwor­ tung in einer Rede vor einem engern Kreise. Von dem Herausgeber........................................................................

143

207

XII Seite VII.

Einige allgemeine Bemerkungen über den Gang

des Menschen. Zugabe zur Erziehungslehre Seite 69. 162. 189. 336. 538. und Unterrichtslehre S. 161. Von " (ei­ nem Kenner der Gymnastik)............................................................. 229 VIII. Nachträge zur Erziehungslehre, Hauptsächlich mit Beziehung auf G. H. Schubert, Geschichte der Seele (1830). Von dem Herausgeber.........................................................................249

IX. X.

Epilog.

Gespräch des Verfassers mit einem Gegner

.

.

333

Ueber die neuen Methoden, fremde Sprachen zu lehren, welche Hamilton und Jacotot angegeben.^ Von Dr. Krüger, Katecheten am Waisenhause zu Hamburg. 345

I

Die Weihe eines Pädagogen. LuS seiner Bildimgsgeschichte.

Von dem Herausgeber.

reicher Privatmann hatte zwei Kinder, einen Kna­ ben und ein Mädchen. Sie waren unter der Pflege einer edlen Mutter, die, bei ihrer Liebe zur Eingezogenheit, nur ihrem Hause, ihrem Manne und ihren Kindern lebte, gesund an Leib und Seele nunmehr soweit herangewachsen, daß sie einer erweiterten Erziehung bedurften, Matchen war so eben fteben Jahre alt geworden, und Ernst vor mehreren Monaten fünf Jahre. Der verständige Vater ließ es an seiner Mit­ wirkung nicht fehlen, aber er fand doch für gut, daß er schon fetzt zum Gehülfen in der Erziehung einen Hauslehrer an­ nähme, damit dieser früh genug mit den Kindern bekannt würde, und sie sich mit ihrer ersten frommen Zuneigung ihm Hingaben. Er sah wohl ein, daß es besser sey, wenn der junge Mann auch lange genug bei seinen Zöglingen bleibe, welches er von einem, der schon den Zähren eines Amts nahe genug gerückt sey, nicht erwarten konnte. Eben so wenig er­ wartete er, daß irgend ein Hauslehrer allen seinen Wünschen entsprechen, oder daß er sogleich von Anfang schon das seyn oder leisten werde, was er sich etwa mit der Zeit von ihm versprechen könne. Am wenigsten ging er auf die Empfeh­ lungen ein, an denen es für eine so vortheilhafte Stelle nicht fehlte, wo er nicht erst die persönliche Bekanntschaft selbst gemacht hatte, und wenn auch eine ausgezeichnete Gelehrten­ bildung, versteht sich mit guten Sitten der Empfohlenen, ge­ rühmt wurde. Er war so glücklich, nicht lange in Verlegen­ heit zu seyn, ja er hatte seinen Mann schon gefunden. Dieser war ein Candidat der Theologie, der eben von der Universität und dem Examen mit den besten Zeugnissen in seine Heimath zurückgekehrt war, in die Nähe des Gutes, wo der Principal damals wohnte, und wo dieser ihn kennen lernte, auch bisweilen in seinem Hause sah. Da überzeugte er sich 1»

4 von den schönen Schulkeiintnissen dieses jungen Mannes und von seinem anständigen, wenn gleich noch nicht ausgcschliffenen Aeußeren. Das würde ihn jedoch noch nicht bestimmt haben, ihm seinen Antrag zu machen, hätte er nicht bei ihm eine gewisse Festigkeit und Strenge des Charakters bemerkt, die vielleicht bis zum Kleinlichen ausschlagen konnte, aber jeden­

falls die gewissenhafteste BerufStrcue versprach. Dem Vater war das viel, aber auch das entschied ihn noch nicht ihn zu wählen.

Da er nun auch ein Talent bei ihm zu bemerken

glaubte, sich mit Kindern lehrend zu beschäftigen, und ein

freundliches Gemüth, welches ans allem sprach, was er redete

und that, überdies die bei den jungen Leuten von Bildung so selten gewordene Bescheidenheit, so würde er keinen Augenblick gezögert haben ihn zu gewinnen.

Nur über einen Punet mußte er sich erst noch überzeugen, ob nämlich der junge Mann ein ächter Christ sey, frommes Herzens und gläubig an das Evan­

gelium ; denn das war ihm Grundbedingung.

Wie groß war

seine Freude, als er auf sicherem Wege hiervon gewiß wurde. Nun machte er ihm alsobald den Antrag. Aengstlich zögernd und nur durch die liberale Nachsicht des edlen Mannes ermuthigt, nahm Hr. P. (wie er sich in seinem Tagebuch bezeich­ net) den Antrag an und trat alsobald ein. Er fühlte wohl, daß er jetzt erst selbst feine Schule machen müsse, daher schrieb er mehreres über seinen eignen Bildungsgang in diesem ehrenwerthen Hause nieder. Späterhin stellte er die Hauptmomente in einem Auszuge zusammen, den wir hier mittheilen. Wir erlauben uns jedoch einige Zusätze, mitunter auch kleine Ana­

chronismen, da wir Zwecke für die jetzige Zeit vor Augen ha­

ben. Die drei Stufen seiner Weihe, wie er jene Zeit seiner Bildung nannte, bleiben dadurch für seine Zeit wie für die neueste in ihrer wahren Bedeutung.

Bei der dritten Stufe

bittet der Vers, der Erziehungslehre den Schluß der lften Abth.

feiner Geschichte der Erziehung zu lesen: die Musik als höch­ stes Bildungsmittel der alten Welt, vielleicht wird der Vers, dann besser verstanden, und seine Hinweisung auf das Chri­ stenthum richtiger gewürdigt.

I. Der Gärtner. Der angehende Pädagoge im Garten.

--------- Das junge Bäumchen schon wollen Sie an den Stab fest binden? — „Eben noch zur rechten Zeit," erwie­

derte der Gärtner. — Zch dächte, die wäre später!

Der Ju­

gend muß man noch ihre Freiheit lassen; in ihrer Frei­ heit entwickelt sie sich doch am schönsten. Zum Einschnü­

ren ist es immer noch Zeit genug. — „Zum Einschnüren nie!" — Nun, was thun Sic denn hier anders? — „Was

ich hier thue? da junger Herr, sehen Sie nur, hier eben will das Bäumchen anfangen sich zu krümmen." — Da ließe ich die liebe Mutier Natur gewähren; die wird schon wissen, was sie zu thun hat; die treibt überall in gerader Richtung hin­ auf. — „Da würde ich mich auf die liebe Mutter Natur schlecht verlassen; sie verhärtet nur das Krumme, und mein Baum verwächst." — Lieber Mann, thun Sie der Natur

nicht unrecht; was sie verdirbt, macht sie auch wieder gut. Wir Menschen sind es, die sie verderben und überall stören. O die Natur soll man heilig halten, ihren Gesetzen folgen, ihre Freiheit ungefeffelt lassen. Das sollten auch Sie. — „Dort in der Wildmß! und dazu braucht man keinen Gärt­ ner," antwortete dieser und sah mit einem bedenklichen Blicke

dem neuen Hofmeister nach.

Er wird zum Mismulh versucht. Jene Aeußerungen waren mehr aus seinen Büchern, die ihm der Principal für seine ersten pädagogischen Studien und

das nicht ohne Plan gegeben hatte, als aus seinem eignen Gemüthe gekommen. Er hatte von Zeigend auf einen mäch­ tigen Natursinn, der ihm in ländlicher Reinheit lieb geworden war, und den ihm nun Rousscaus Emile gerade jetzt verstärkt hatte. Wohlbedächtig hatte ihm der Principal dieses schön

6 geschriebene

und

an

Gedanken

reiche Buch

jenes

misan-

thropisch-philosophischen Träumers zur ersten Lectüre gegeben; denn er wollte ihn von der Einseitigkeit, die er in ihm be­

merkte,

dadurch zurückbringen, daß er der Anpreißung der

Natur am Ende selbst müde werden mußte, und seine Mei­ nung mit eignem Nachdenken berichtigte. Der schroffe Mann drunten im Garten hatte ihn jetzt verdrießlich gemacht.

So setzte er sich an seinen Tisch, blätterte in dem Buche, dachte

an die Natur als an die liebe Mutter, die ihm zurief, er möge ihr doch nicht untreu werden, konnte sich aber doch nicht bergen, daß aus ihrem Emile eben kein besondrer Baum ge­

worden, und die Wildniß dort im Waldgebirge sey doch eben auch kein Paradies. Dabei fiel ihm aus ein Paar andern Schriften dieses Naturfreundes ein, da er sie ebenfalls gelesen hatte, daß er die Cultur als die O-uelle alles llnheils verwün­ sche. P. konnte das nun nicht mit der Erziehung vereinigen. Denn statt dessen, was man da thut und treibt, müsse man dann vielmehr jeden in seiner Natur gehen und sich selbst er­

ziehen lassen.

Fange man einmal an, so könne man die Hand

gar nicht mehr abthun. Das Menschcnbäumchen, sagte er zu sich selbst, gibt mir so viel zu hanbthiercn, daß ich damit gar nicht fertig werden kann, während der Gärtner mit seiner ganzen Baumschule vielleicht schon in em Paar Tagen fertig wird. Ilnd was ist am Ende mir allem meinem Abmühen und Abquälen gethan? doch nicht das Rechte! Nein — ich kann nicht erziehen, — ich will nicht erziehen, ich darf cs nicht wollen. So wohl ich mich auch in diesem Hause befinde, so darf ich nicht bleiben, denn ich weiß nicht, was ich thun soll — ich versiehe nichts von Erziehung.

Wie könnte ich das

Zutrauen, mit welchem ich ausgenommen bin, hintergehen? — Diese Scrupcl quälten ihn. Zn dem Augenblick trat das liebe

Kinderpaar gar freundlich herein. Der Anblick brachte ihn einigermaßen in eine bessere Stimmung, er hielt spine Lehr­ stunde sorgfältig ab.

Nach derselben ging er in den Garten,

als wolle er der Natur selbst seine Zweifel übergeben.

7 Der Gärtner veredelt die Natur.

P. sah dem Pfropfen zil und ließ sich die verschiedenen Arten, wie die Obstbämne veredelt wurden, Impfen, Copuliren und einige andere Versilche beschreiben. Da hörte der Pädagoge manches, das ihm neu war und ihn in Verwun­ derung setzte, wie weit eS die Gartenkunst gebracht habe. Hier standen Bäume, große und kleine, in anziehender Gestalt,

dort entzückten

die Beete mit duftenden Frühlingsblumen.

Auch wußte er, wie das ganze Jahr hindurch die Tafel ver­

sorgt und das Haus geschmückt wurde.

Er sah an dem ern­

sten Gärtner gleichsam hinauf, als auf einen Herrn der Na­ tur in seinem Bereiche. Ach, seufzte er dabei, wäre ich doch

auch so etwas in dem meinigen! Mit Zutrauen dichtete er jetzt einige Fragen an den Gärtner, der sich indessen in seiner Arbeit nicht stören ließ und ihn mit der kurzen Antwort ab­ fertigte:

„Allerdings bringt die Zwiebel der Hyacinthe keine

Lilie!" Der Pädagoge betrachtete die Fülle aus diesem Blu­ menbeete und konnte die Kunst nicht genug bewundern, die solche Schönheit in so vielen Varietäten hervorzubringen ver­ mochte, oder vielmehr, die so tief in die Natur eingedrungen sey, daß sic derselben ihre Geheimnisse gleichsam abgelauscht habe. Da sieht man recht, was die Kunst vermag, wenn sie der Natur ihren freien Spielraum verschafft. Der Gärtner, zu welchem er diese Worte gerichtet hatte, lächelte und sagte

„Die Natur muß aber erst gestört, sogar um ihre Zeugungskraft gebracht werden, damit solche gefüllte Blumen hervorkommen." — Wie? rief P., da müßte man diese schö­ nen Blumen wohl gar für kranke Wesen halten ? — „Die dagegen:

halten Sie, wofür Sie wollen, junger Herr, die Natur hat sie nun einmal nicht so von selbst so werden lassen." — Aber

Sie, lieber Mann, würden doch gewiß nicht die Natur ver­ derben wollen? „Behüte, wer wird das wollen!" — Das wollen wir freilich nicht, dachte der Pädagoge bei sich, aber

es kommt doch fast so heraus, als sey die gefüllte Hyacinthe oder Nelke eine verdorbene Natur; und wäre das dann nicht

8 auch die geschickte Klavierspielerin, oder der Knabe, der sein

Latein gut lernt? — Wie soll ich das verstehen?

Der Pädagoge lernt von ihm.

CS wollte unserm Hauslehrer immer noch nicht so recht Er scheute sich vor dem Gedanken,

mit den Kindern gehen.

daß er ihrer Natur Gewalt anthue, und so unterließ er lieber

ihnen etwas zuzumuthen, wußte aber nicht, daß er sie gerade

in dem, wo er nichts an ihnen that, in einer Unbestimmtheit

ließ, wodurch manches verdorben wurde.

Gut war es noch,

daß die Kinder zur Ordnung und Thätigkeit gewöhnt waren und von dem im ganzen Hause waltenden Geiste darin erhal­ ten wurden. P. fühlte bald, daß er den Kindern das nicht war, wqS sie bedurften und wirklich auch in ihm zu suchen schienen. Ein schmerzliches Gefühl für ihn; die schönen Pflanz,

chen drohten zu verkümmern, und das durch seine Schuld!

Er klagte einmal dem benachbarten Pfarrer, der zu Zeiten in

das Haus kam, seine Noth, daß es mit den Kindern nicht so recht fortwollte. Dieser hatte sogleich Rath, wie die Leute, die in allgemeinen Sätzen die Weisheit zu besitzen meinen, leicht mit denselben zu berathen wissen. Da kam nämlich seine ins Breite gediehene Belehrung immer darauf hinaus, der Mensch sey von Natur gut, und man müsse das Kind zu ei­

nem guten Menschen erziehen. P. konnte sich nicht enthalten, seine Logik etwas mitzunehmen, indem er sagte: Nun der

Mensch ist von Natur gut, das Kind ist gut, also lassen wir

gut gut seyn, wir lassen die Natur ihren guten Gang gehen und erziehen gar nicht. — „Sie misverstehen das, entgegnete

lebhafter der Prediger, — ich meine zu sittlichguten, zu sitt­ lichreligiösen Menschen erziehen" — und ließ seiner Rede noch eine Zeit lang freien Lauf.

Der Pädagoge schwieg, die Weis­

heit, welche der gute Mann reichlich spendete, wie sie sich denn in vielen Bächlein solcher Schriften zu ergießen pflegt, war für ihn zerronnen, er begleitete ihn hinab und erging sich Hann in dem Garten.

AIS er eben da wieder den Gärtner

9 fand, legte er ihm die Gewissensftage vor, ob er die Statut für gut halte? „Da muffen Sie das Wort Gottes fragen," war die Antwort.

Die Statut hat auch ihre geheimen Kräfte. Eines Abends bei Mondschein fand ihn P. damit be­

schäftigt, diesem Lichte einige Pflanzen auszuseßen, andere zu

entziehen.

Wozu das? fragte er ihn, ich dächte die Sonne

gäbe das Licht aus erster Hand. — „Die zweite ist doch manch­ mal besser, als die erste." — Sie mögen recht haben, erwie­

derte P., und ich muß da auch an Ammen und Lehrer, und — an Sie selber denken; der Gärtner ist eine zweite Hand der Statur. Auch begreife ich wohl, daß für manche Pflanze das

Sonnenlicht zu mächtig sey, von dem Mondlicht würde ich indessen eben nicht viel erwarten.

Denn daß man ihm einen bösen Einfluß schuld gibt, wie denn die Griechen den Wärterin­

nen verboten, die Kinder von dem Mond bescheinen zu lassen, und wie Reisende auf der Südsce diesen Einfluß meinen erfahren zu haben, das ist doch wohl Aberglaube, wie sich der stille Mond so manches muß gefallen lassen. Daß man nur bei

zunehmendem Lichte pflanzen solle, und dergleichen mehr — das halten doch auch Sie, lieber Mann, wohl für Aberglau­

ben? — „Aberglauben!" — Der Gärtner sah den Fragenden hierbei ernster an — „junger Herr, haben Sie denn in die

Geheimnisse der Statut geschaut? ich stehe da nur vor ihren

ersten Buchstaben."

Arglos war das gesprochen, nicht so arg­

los war die Erwiederung des Pädagogen, der ironisch fragte:

Sie buchstabiren indessen doch aus den Stemen etwas für ihre Blumen? — „Kann wohl seyn!" — Diese ernste Antwort fiel ihm beschämend auf die Seele.

Er sah zum Himmel hin­

auf, Mond und Sterne standen herrlich da, die schweigende

Statut erfüllte ihn mit einem heiligen Schauer.

Selbstmacht de« Meuscheu. Ein ehemaliger Schulfreund sprach bei P. ein.

Wie die­

ser seine beneidenswerthe Lage sah, so konnte er kaum seine

10 Misgunst bergen, da er ihn dieses Glücks nicht so werth fand, als er sich selbst dessen werth halten mochte.

Denn er sand

ihn noch so weit hinter der neuesten pädagogischen Zeit zurück.

Zn ihre» Schuljahren war an solche Studien noch nicht ge­ dacht worden.

Aber jener Freund, bald nachher dazu ange­

regt, hatte Averdon besucht und war als ein ausgemachter Pestalozzianer zurückgekommen. Davon war er denn noch jetzt ganz voll und wollte den unkundigen Hauslehrer in aller

Geschwi ndigkeit zum neuen Licht bekehren.

„Zur Selbsikraft

soll man den Zögling alsbald fördern, ihn aus der Unbehülflichkeit reißen, ihn alles aus sich selbst schöpfen lassen. Man

bringe ihm nur nichts Fremdes in die Seele, nichts weiter gebe man ihm als das rechte Wort für jede Anschauung, daß

er sich nur selbst ausspreche.

Rur lehre man ihn Auge und

Hand richtig gebrauchen, Winkel und Linie an alles anlegen, richtig zählen und messen, um die Welt richtig aufzufassen und

das Denkvermögen zu üben, damit er so viel möglich alle

Kenntnisse aus sich erzeuge, das Gute erkenne und wolle, un­ abhängig werde und die volle Selbsikraft gewinne."

Das waren so die Hauptlehrcn, über welche er vieles zu reden wußte. Der Hauslehrer hörte verwundert zu, brachte auch manche Bedenklichkeiten vor, mußte sich aber mit manchem neuen Worle abwcisen lassen. Indessen sprach ihn doch vie­ les an, wenn eS ihm gleich noch kleine Zweifel zurückließ. So sprach der Pestalozzianer sehr warm von dem natürlichen Stre­

ben des Menschen, das man nur durch den Trieb der Liebe, der schon von der Mutter ausgehe, auf Gott und auf das Gute lenken müsse, dann müsse der Mensch gut werden. Lernt das Kind dabei richtig anschauen, sprechen, messen, urtheilen,

so wird Bildung.

auch das Gute wollen, und es erwächst zur wahren Dahin führt es seine Natur aus ihrer eignen Kraft,

wenn man sie rein aus sich selbst entwickelt.

Darum liebte

auch Pestalozzi das bekannte Liedchen: „Süße, heilige Na­ Darin fand unser Pädagoge allerdings mehr als in Rousseaus Natur; die Selbst­

tur, — laß mich gehn auf deiner Spur."

macht des Menschen zog ihn an, aber — Genug, er dankte

11 dem Freund für seine Belehrungen und gab ihm, ohne jedoch

sein Jünger geworden zu seyn, die besten Wünsche und ein freundliches Andenken mit auf den Weg.

Einige Worte, wie

Sclbstkraft, Individualität, waren ihm in diesen Paar Tagen so geläufig geworden, daß sie sogar der Gärtner oft von ihm

hören mußte, der dabei lächelte und dann einmal kurzweg sagte: „Run ja, diese Primel ist nicht jene, und jene nicht diese." Machwerk.

Nicht lange nachher fügte cs sich, daß ein Bekannter des Principals auf einer Reise einen Besuch machte. Unter an­

dern wußte er auch von der neuen Methode viel zu erzählen, welche Zacotot erfunden habe, und die bei den Franzosen gro­ ßes Aufsehen mache. Diese Methode bestehe in nichts gerin»

gerem als in der Kunst, aus jedem Kinde alles zu bilden, was man nur wolle. Er gehe von dem Grundsatz aus, daß Alles aus Allem werden könne, daß alle Kinder mit ursprüng­ licher Gleichheit auf die Welt kämen, und daß man jedes zu dem er-iebeu könne, wozu jedes andere; eins wie das andere könne dasselbe lernen, in derselben Vollkommenheit; alle, wür­ den also zu völliger Gleichheit gelangen, wenn man sie nach dieser neuesten Methode behandle.

Auch käme man in der

kürzesten Zeit zu einem Ziele, zu welchem es kein andrer Un­ terricht zu bringen im Staude sey. Man könne sich also vor­ stellen, wie man diese große Erfindung der Menschheit an­ staune, da man wirklich in einem Instittit erstaunliche Dinge davon gesehen habe. — Das war nun für unsern Pädagogen Da wurde die Natur vielmehr gemacht, und als ob vorher in dem Kinde noch gar keine Natur dagewieder etwas anders.

wescn, wurde sie dem Kinde nach Belieben, und in einem wie in dem andern in die leere Seele hineingegeben.

Das ist frei­

lich mehr, dachte er, als Rousseau und Pestalozzi wollten und konnten, aber? — Hier traten ihm Bedenklichkeiten entgegen,

die stärker waren als bei jenen Lehrern; bei ihnen gab es doch

eine Natur, hier aber keine, oder vielmehr ein Nichts.

12 Der Gärtner weiß den Pädagogen besser zu belehren. Als P. in dem Garten darüber so hin und her dachte, begegnete ihm der Gärtner mit einer schönen Topfpflanze.

Fast

möchte ich doch am Ende auf den Gedanken kommen, sagte

er zu ihm, indem er die Pflanze bewunderte, Sie könnten aus dem Gewächs machen, was Sie nur wollen. — „Nur Gott

kann schaffen, was er will." — Nun ja, das wollen Sie

auch nicht; ich meine nur, Sie verstehen die Kunst, Farben und Varietäten in den Blumen hervorzubringen, der Hortensia wissen Sie die blaue Farbe zu geben, Hyacinthen, Nelken und wie viele andere Blumen gefüllt zu machen, immer neue Sorten zu erhalten, auch Früchte zu veredeln und zu verän­ dern; ist es doch, als stünden Zhnen die Geister dieser Wesen zu Gebot. — „Machen Sie mich nicht gar zu einem Zaube­ rer; das geht alles natürlich zu." — Schon recht, aber Sie nöthigen doch die Natur zu Ihren Diensten zu seyn. Da

mischen Sie bald die Erde, bald den Blüthenstaub, da neh­ men Sie bald ein Gewächs aus einem Land und lassen es in einem ganz andern wurzeln, bald setzen Sie ein Auge in einen fremden Zweig, der es ernähren muß und dafür mit

edleren Früchten prangt. So muß Zhnen die Natur fol­ gen. — „So weit, als uns Gott die Herrschaft über sic ge­ geben hat." — Wohl, und geht diese nicht so weit, daß Sie die Natur eines Gewächses ändern können? — „Das, lieber junger Herr, vermag kein Mensch; auch Sie können nicht die Natur ihrer Zöglinge ändern." — O vermöchte ich da nur etwas von dem, was Sie vermögen! — „Wenn Sie denn doch uns Gärtnern so viel zutrauen, so will ich Zhnen auch

einmal selbst unsere Kunst preißen.

Sehen Sie, da kommt

es vorerst auf den Boden an, in welchem das Samenkorn

keimt, ob das Würzelchen einen lockeren findet, ob das Pflänz­ chen, wenn es hervorsticht, eine harte Erdrinde zu durchbre­ chen hat, oder gar von einem Steinchen gedrückt wird, ob

die Erde ihm leicht ausweicht, oder ob es der Erde auswcichen muß. Dann kommt es darauf an, wenn es heraus-

15 blickt, von welchem Lichtgrade es empfangen wird, ob von der Sonne selbst, oder im Schatten,

oder unter Regen.

Auch

kommt es darauf an, welcher Jahreszeit es entgegen wächst,

ob die Wärme zunimmt, oder abnimmt — und so könnte ich Ihnen noch vieles nennen, worauf wir Gärtner uns ver­ stehen müssen, um die Natur in unsere Gewalt zu bekommm,

damit unser Gewächs uns Freude mache."

Da wäre also,

fiel ihm der Pädagoge in die Rede, weniger eine Macht als

eine Ohnmacht der Natur zuzuschreiben. — „Wie Sie das nun nennen wollen, daß die Natur uns so gefällig ist. Denn sie treibt uns zu Gefallen das Gewächs, das wir genugsam

an seinem rechten Orte versorgen, zu einem Riesen herauf, und wenn wir das junge Bäumchey in einen Topf setzen und geben ihm wenig Erdcnstoff, führen ihm aber Stärkung zu, so läßt uns die Natur sogar den Spaß, daß wir Zwerge er­

ziehen und eine Speisetafel mit einem Obst- und Eichenhain

verzieren können." Der geschickte Gärtner war ganz redselig geworden, was sonst seine Art nicht war; denn er fand etwas

in der Wißbegierde des Hauslehrers, das ihn mehr und mehr ansprach. „Wenn Sie denn also, lieber junger Herr, silhr er weiter fort, doch darüber nachdenken wollen, was die Men­ schenhand in der Natur der Pflanze zu machen vermag, so

erinnere ich Sie daran, wie man schon in der jetzt blühenden Blume die künftige bereiten, und wie man aus derselben Samenkapsel variirende Gewächse hervorbringen

kann, wie

man den einjährigen ihr Leben verlängern, den mehrjährigen es verkürzen, und wie man die junge Pflanze durch Begießen, Trockenhalten, Versetzen aus seinem heimischen Boden, aus

dem schlechteren in den

besseren und umgekehrt,

oft auch

durch öfteres Verpflanzen, oder durch vergünstigtes Verbleiben in ihrer Heimath, und so durch Ruhe oder Störung und all

dergleichen mehr zu etwas machen kann, daß wir uns selbst verwundern müssen. Und doch bleibt die Natur, was sie ist, Natur, die ja auch Sie lieben, und die wir alle lieben, und

die Gott der Herr so wundervoll eingerichtet hat." — So daß der Mensch von ihr lernen und in ihr wirksam seyn kann,

Vi setzte P. hinzu und äußerte dem weisen Mann in dem Gar­ tenkittel seinen herzlichen Dank für solche Zurechtweisung. Schicksal oder Willkühr? und Natur?

P. stand vor einer majestätischen Eiche: Du wärest das nicht geworden, wäre die Eichel, ans welcher Du so schon er­ wachsen, dorthin gefallen, wo die verkrüppelte siche.

Diese Anrede an den Baum war eigentlich an das Schicksal des Menschen gerichtet, wie es dem einen seine Gunst von der Ge­

burt an gewährt, dem andern versagt. Der Gärtner gibt dem Baume Richtung und Gestalt, der Blume Form, Farbe, Fülle, dem Obst Saft und Würze; er hat die Natur des gan­ zen Gewächses in seiner Hand. Alle Elemente müssen ihm für seine Pfleglinge dienen. So ist auch das Kind in Men­ schenhand gegeben; in guten gedeiht es, in schlechten verküm­ mert es. Jener Unglückselige wurde in einem Loch aufgefüt­ tert, und so ward er um seine Jugend gebracht. Etwas an­ ders würde aus ihm geworden seyn, hätte man das Kind ei­ ner Zigeunerhorde übergeben. Wieder etwas anders bei sorg­ losen Eltern. Aber was konnte iiicht aus ihm werden, hätte er in mütterlicher Pflege und bei einem verständigen Vater seine Zugend verlebt! Die Erziehung oder Rlchterziehung, wel­ chen Unterschied macht sie zwischen diesem und diesem Men­ schen! Wo bleibt aber da die Natur? wo fängt sie an? wo hört sie auf? Nun weiß ich mir gar nichts mehr dabei zu denken, wenn man von naturgemäßer Erziehung spricht. Immer greift etwas herein,bald des Menschen Willkühr, bald dcS Schick­ sals Macht. Und doch kann ich nicht das Heiligthum der Na­ tur verlassen; in jedem Kinde soll es mir heilig bleiben. Ich meinte schon von dem Weisen im Garten zurecht gewiesen zu seyn, und sehe mich jetzt nur noch mehr in der Irre. DeS Gärtners frommer Sinn.

Bei Gelegenheit, daß ein junger Bekannter, der im Gar­ ten herumschlendcrtc, hier und da etwas an den Gewächsen abgerissen, fand P. den Gärtner in einem Zustand, wie er den

45 ruhigen Mann noch nie gesehen. ser ihm,

Befragt hierüber klagte die­

daß ihn so etwas mehr außer sich bringen könne,

als wenn ein Ungewitter seinen Garten beträfe. „Mit meinen Pflanzen", sagte er ernst, „soll niemand Muthwillcn treiben;

die sind auch Kinder des lieben Gottes, und der hat mich zum Pfleger über sie gesetzt; für meine Pflanzen habe ich auch ein Gewissen." — Indessen sind sie doch, erwiederte der Pä­

dagoge, nur Gewächse, und nichts weiter, und ob man sie aus Muthwillen abreißt oder aus Absicht adschneidet, ist für

die Pflanze ganz einerlei.

Ich ehre Ihre Gewissenhaftigkeit

auch im Kleinen, aber die Poesie, welche in den Gewächsen

empfindende Wesen sieht, so schön sie auch ist, können Sie doch nicht im Ernst nehme». — „Lieber junger Herr, wir stehen überall vor Geheimnissen der Ratur." — Wohl, erwie­

derte der Pädagoge, ich gestehe Ihnen sogar, daß mir oft eine

heilige Scheu die Hand zurückhält, wenn ich etwas abbrechen

will.

Auch stehe ich oft vor einer Blume rind öfter noch vor

den mannigfaltigen Baumgestalten, und es ist mir, als woll­ ten sie mir etwas sagen, aber da läßt sich nichts hören, und so gehe ich weiter und lächle über die Täuschung der Seele, die sich in dem Gewächs bald so bald so wie im Spiegel sicht. — „Das mögen Sie sich erklären, wie ein gelehrter Herr: ich bin so ein Naturmensch und lebe da unter meine,»

Pflanzen wie unter meines Gleichen, und wenn ich auch einer

manchmal wehe thun muß, so geschieht es mit Liebe; und das Auge Gottes, das uns aus Sonne, Mond und Sternen leuchtet, spiegelt sich mir auch in der Blume." — Dieses

Wort des frommen Gärtners fand seinen Anklang in des Er­ ziehers Gemüth; und er dachte an seine Zöglinge. Belehrung durch Bücher.

P. setzte seine Lectüre fort und verglich alle die Mei­ nungen über die Erziehung mit den Meteoren, die von Zeit

zu Zeit blendeten und bald verschwanden.

Damit war er fer­

tig, aber Pestalozzi? Ja, das ist ein Erzlehungsmann, mehr noch als Rousseau! Er war selbst eine Natur in großem

16 Styl und ehrte die höhere Natur schon in dem Kinde.

Er

hat Elemente aufgefunden, die vorher verdeckt lagen, ob er aber tiefer in das Heiligthum geschaut, als unser Mann im

Garten bei seinen Kindern, das muß ich bezweifeln, denn ge­ funden hat er doch nicht, was zum Ziele führt. Z. P. Fr. Rich­ ter preißt ihn mit Recht und aus dem Herzen voll Liebe, das in seiner Levana spricht, wo er jenen kindlichen Greis ebenso wie den kindlichen Sinn der Kleinen so freundlich anerkennt.

Aber selbst seine tiefer gehenden genialen Blicke in die KindeSseele lassen mich immer noch nicht das Rechte finden; daS

Paradies der Kinderwelt, welches seine Liebe hinzaubern möchte, ist mir alsbald wieder in der wirklichen Welt verschwunden, und die Mittel es herzustellen sehe ich nicht. — Mit dem Wunsch, in das wirkliche Leben einzudringen, las P. nun auch

Wilhelm Meisters Lehrjahre und andere Schriften von Göthe. Hier fand er zwar die Natur mehr nach ihrer Wahrheit dar­ gestellt, aber er hörte doch »mehr den Dichter reden, als den

wahren Beobachter.

Zn allem diesem fand er bei vielen treff­

lichen Gedanken, die der Erziehung dienen, immer noch nicht, was er suchte. Nur ging ihm die Idee von der Natur des Kindes mehr auf, wie sie in ihrer Schönheit erscheine, und

daß, wie dem Künstler sein Ideal vorschwebe, das er darstellen will, eben so auch der Erzieher etwas Höheres in seinem Zög­ linge zum voraus schauen müsse, das er in ihm hervorzu­

bringen suche, und das sey eigentlich jene höhere Natur, die er heilig zu halten habe.

Wenn schon die Pflanze sich veredeln lasse, wie vielmehr das natürliche Wesen des Kindes, welches

noch etwas ganz anders in sich trage. Indessen sey da auch noch etwas zu bekämpfen, das dem Gärtner nicht in dem

Wege stehe, und das finde er in allen jenen freundlichen Schil­

derungen der Kinder übersehen.

Bei der Erziehung sey es

also nicht bloß mit einer Kunst gethan, obgleich das Talent,

die Natur des Kindes gut zu behandeln, den Blick und die Hand eines Künstlers erfordre.

17 Der stille Kimstlersinn.

Wie durch einen Sturmwind wurde eines Tages eine

Gesellschaft in das Haus verschlagen, die den ruhigen Geist desselben plötzlich störte; doch nur auf kurze Zeit.

Es kamen des Weges mehrere Männer, welche durch die politischen Be­ wegungen zu einer Reise getrieben waren, und die machten im Vorbeigehen dem Ehrenmann auf diesem Landgute einen

Besuch, vielleicht einige nicht ohne die Absicht, ihn für ihre Partei zu gewinnen. Farbe.

Doch waren nicht alle von derselben

Ausgezeichnet unter ihnen war ein Maler, ein junger

Manu voll tiefen Ernstes, mitunter humoristisch, der die Ultras, auf welcher Seite er sie auch traf, gerne mitnahm und so, daß sie wohl selbst mitlachten. Jetzt sah er ihr Disputircn mit an, und als eben einer die Worte Verfassung u. s. w.

mit weitem Munde so laut schrie, daß ihm die Stimme aus­ ging, sagte er dem Hausherrn, der sich neben ihn gesetzt hatte: „Da habe ich endlich das wahre Gegenstück zur Schule von Athen." Das Dispntiren war so laut geworden, daß der gute Hauswirth vergeblich zu mildern suchte. Indessen erhielt es einen Ableiter durch den Hauslehrer, dessen sich die

Herren bemächtigten. „Sie sind Erzieher," rief einer, — „nur

konstitutionell erzogen!

Die alte Zeit ist vorüber.

Wir müs­

sen vorwärts. Es geht jetzt alles rasch. Weg mit der alten Weise! Nieder mit den Jesuiten und allen den Obscuranten! Es leben die consiituttonellen Erzieher!" — Und, rief der Ma­ ler dazwischen, die constitutiouellen Kinder! — auch die kon­ stitutionellen Mütter! — Die Leute ließen sich aber nicht un­ terbrechen, sie setzten dem armen Pädagogen immer stärker damit zu, die Kinder müßten alsobald und vor allem die Rechte

des Volks lernen, sie mußten frühzeitig zur Selbstständigkeit kommen — da gelte kein Gängelband mehr — die neue Aera habe begonnen, u. s. w. Der Principal befreite ihn endlich aus seiner Noth, indem er ihn ersuchte, den Maler in den Garten zu führen.

Da athmeten diese btiden doch wieder

auf — „Ach, sagte der Maler, da ist Freiheit, hier liegt man

Schwari Dariieli. a. 6. Gebiete d. Erzieh.

2

48 doch wieder an dem Herzm der lieben Mutter Natur!

Wie wohlthucnd überall ihre schönen Gestalten nach jenen Zerrbil­ dern! Warum stoßen wir doch so oft auf diese gerade unter den Menschen, und wo möchten wir das Herrlichste lieber se­

hen als unter ihnen i Sie sind Erzieher, lieber P., Sie kön­ nen das noch am reinsten in den Kindern erschauen. Manch, mal wünsche ich mir auch so einen Erzieherblick. Wenn ich so dasitze und ein Porträt male, möchte ich eigentlich den Engel

gern in dem Menschen sehen, der da hervorscheinen soll. Ich versichre Sie, lieber P., ein Maler kann sich nicht genug die Brider der verklärten Menschheit vorhalten; denn will ich auch

eine Gesellschaft wie da droben malen, und selbst Scenen, wo es ganz wild hergeht — die Erinnerung an die menschliche

Urschönheit darf doch nie ganz fehlen, wenn sich anders die Kunst nicht erniedrigen soll. Irgend ein mildes Licht muß sich auch über das Bild von einem Schlachrgetümmel hingießcn, wer möchte es sonst mit Liebe sehen wollen, und wer es malen?" — Sie geben dem Erzieher damit einen wichtigen Wink, erinnerte P., denn was Ihre Kunst vermag, das sollte unserm Streben, die leibhaften Menschen zu bilden, als Mu­ ster vorstehen. Bisher fand ich dieses Vorbild bloß in den Schönheiten, wie sie dieser Garten darbietet, so weit reicht aber mein Blick noch nicht, daß ich sie in den Menschen durch die entstellende Hülle hindurch entdecken könnte. „Sie haben recht, fuhr der Maler fort, daß Sie sich an die stille Natur, die hier ihre reine Formen entfallet, zuerst wenden. Wir Hi­ storienmaler müssen das auch thun, und sehen wir eine im überirdischen Glanze dargestellte Landschaft, so ist eS, als ob wir ihre Verklärung in uns aufnehmcn müßten, um dem Bilde von Menschengestalten etwas davon zukommen zu lassen. Za, wir möchten manchmal solchem Meister den Preis vor

dem, der Menschen malt, zuerkennen, weil er sogar in einer Natur, die doch niedrer steht als die menschliche, jene höhere aufsindet, die er seinem Bilde gleichsam einzuhauchen we»ß." — Auch dafür Dank, erwiederte P. Was sie mir da andeuten, wird mir nicht verloren gehen. Bei diesen Worten waren sse

19 eben zu dem Gärtner gekommen, mit welchem sich der Maler bald in ein Gespräch einließ, das dem Pädagogen manchen Blick in die höheren Regionen der Natur und Kunst eröff­

nete.

Er konnte nur noch nicht so alles fassen, und darum

hat er nichts weiter davon ausgeschrieben.

Erziehung für die Freiheit. Indessen war der demagogische Funke, der in jener Ge­ sellschaft doch in seine Seele gefallen war, nicht erloschen. Daß der Mensch dem Gemeinwesen angehöre, war ihm unbezweifelt, und so hielt er es für ganz richtig, daß man den

Knaben für dasselbe erziehe.

Schon vorher hatte er an sei­ bemerkt und daran gedacht, daß ihm auch Gesellschaft im Lernen gut seyn

nem Zögling den Trieb nach seines Gleichen

werde, um ihn aus seinem in sich gekehrten Wesen aufzure-

gen.

Aber er dachte nun auch an das, was er in Rousseau-

Buch über die Ungleichheit unter den Menschen gelesen, und es schien ihm jetzt manches richtig. Pestalozzis Schrift über die Mittel der Unbehülflichkeit der menschlichen Natur abzuhel­

fen, gab diesen Gedanken noch mehr Stärke, und als er nun vollends Fichtes Reden an die deutsche Ration las, entglomm in ihm jener Funke, so daß derselbe wo nicht zur Flamme doch zu einiger Fieberhitze ausbrach.

Aufhebung der Verschieden­ heit unter den Ständen, Gleichheit der Menschenrechte, voll­

ständige Freiheit im Staat, und dergleichen prächtige Dinge

mehr schienen ihm nunmehr unerläßliche Bedingungen für eine ächte Erziehung, und zugleich ihr großes Ziel zu seyn. Doch waren die Paroxysmen nicht so heftig, daß er nicht bald aus

seinen schönen Fieberträumen zur nüchternen Besinnung zurück­ gekommen wäre.

Die Natur, welche sich in den Verschieden­

heiten gefällt, sprach zu laut ihm entgegen, und noch stärker

sprach in ihm eine höhere Stimme, welche er von Kindheit

auf heilig zu halten gewohnt war. Wenn sich denn, dachte er, in-größerer Freiheit alle Kräfte vollkommener entfalten, nun so tritt auch die Individualität des Kindes desto entschiedener hervor, wo bleibt denn da die Gleichheit? Vielmehr würde



20 sie durch die unendliche Mannigfaltigkeit der Naturen augen­

blicklich wieder aufgehoben.

Da würden auch alsobald alle

Kräfte sich loslassen, und ihr wildes Spiel würde unaufhalt­ sam hintoben; statt der Freiheit herrschte dann Frechheit, und

in der Verwilderung müßten die gewonnenen Kräfte sich selbst nur zernichten. Die freien Griechen hatten andre Grundsätze, als jene Radicalen, die unser Haus neulich heimsuchten. Sie lehrten doch den Knaben Gehorsam, den

Jüngling Beschei­

denheit, den Mann Selbstbeherrschung; sie lebten der lieber«

zeugung, daß, wer nicht in der Jugend gehorchen gelernt, nim­ mermehr zu regieren verstehe. Soll mein Zögling für die Ge­ sellschaft gut erzogen werden, so muß ich ihn bei feiner guten Gewöhnung seines folgsamen Herzens erhalten, aber er muß sich auch an die Gesellschaft gewöhnen und unter andern Kna­ ben erwachsen.

Aber unter welchen? —

Einfluß der Gesellschaft. Bei dem nächsten Spaziergang im Garten fand der Pä­ dagoge den Gärtner mit dem Wegschaffcn einiger Gewächse be­ schäftigt,

die auf dem

Beete schön herangewachsen waren. „Böse Gesellschaft verdirbt gute Wie so das hier? Es gedeiht

Warum das? fragte er ihn. Sitten;" war die Antwort.

nicht jedes neben jedem.

Sie wissen doch, lieber junger Herr,

daß es Schmarozerpflanzen gibt; sehen Sie nur, wie da drü­ ben jener Baum vom Epheu umstrickt schon dürre Acste hat, und bemerken Sie nur, wie der Same der Mistel, den ein Vogel etwa von einem Birnbaum auf den andern getragen, sich da ist er dann einmal in seine Rinde ausgenom­ men, so raubt er dem Ast seine Säfte. So wird mancher ausgesaugt, bis er erstirbt, muß wenigstens das Raubgeschmeiß einschmeichelt;

lind haben Sie nicht schon gesehen, daß die Obstbäume in der Nähe von Holzwaldungen mehr Moos

von Moos ernähren,

ansetzen und schlechtere Früchte bringen, als im Gartenhaine?" — Damit sagen Sie mir, nahm der Pädagoge das Wort

auf, daß der Knabe unter rohen Gesellen rohe Sitten annimmt, schlecht lernt und durch einschmeichelnde Verführung vielleicht

21 ;ar zu Grunde gerichtet wird. — „Mag wohl seyn," erwiederte der Gärtner, „daß das, was uns hier die Natur zeigt, seine

Anwendung auch auf die menschliche Gesellschaft habe. findet sich vielleicht noch mehreres.

Da

Unter manchem Baum will

nichts recht gedeihen, manche Gewächse wollen nur in einem Walde wachsen, manche nur neben gewissen andern, manche dulden keine von andrer Art neben sich; es gibt einsame und

gibt gesellige Pflan-en." — Da möchte man ja fast, fiel der Pä­ dagoge ein, bei dem Gras und Getreide an unsere Volksschulen denken, oder vielmehr an daS ganze Volksleben. — „Warum wollten wir," erinnerte der Gärtner, „hierbei den Weinstock ver­ gessen? Er umrankt mit seinen Reben das Haus, als ein Bild der gesegneten Familie, die darin wohnt.

Oder er ist in tau­

send Reben über den Weinberg verbreitet, ein Bild von dem friedlichen Vereine, worin feine Bebauer glücklich sind, und wie

Sie ja gar wohl wissen, von dem Reiche unsers Herrn. Aber es wird in dem Weinberge nichts geduldet, was ihm Sonne oder Nahrung entzieht; auch nicht einmal die kleineren Ge­ wächse, die den Trauben einen fremden Geschmack zuführen

möchten." — Nur weiter! bat der Pädagoge, der dieses mit gespanntem Nachdenken anhörte. — „Es wäre noch gar viel

davon zu sagen," fuhr der Gärtner fort, „und ich will Ihnen künftig meine Beobachtungen mittheilen, wozu ich seit einiger Zeit Versuche mache, z. B. ob die Birne in der Nähe eines

Buchenwaldes an ihrer Milde verliere, und ob ebenso in der Nähe eines Eichenwaldes, und ob auch selbst das Moos ihres Baumes dort und da verschieden werde; wie das Steinobst, wie das Kernobst unter andern Nachbarn einen andern Ge­ schmack annehme, und dergleichen vieles. Eben jetzt habe ich

an Topfpflanzen beobachtet, welchen Einfluß der Dunstkreis der einen auf die andre hat.

Glauben Sie mir, das alles ist gar

nicht einerlei; wir Gärtner haben darin noch viel zu erfor­ schen." — Und in der That wir Erzieher noch mehr. Hier gibt es auch gesellige und ungesellige Naturen. Manches Kind gedeiht besser in der Einsamkeit, manches mitten in der

Welt, manches nur unter seines Gleichen; und man muß

22 wissen, welche Gesellschaft einem gerade die zuträgliche, welche die nachtheilige sey. — „Was werden Sie indessen dazu sa­

gen, daß ich manchmal einer Pflanze ihren Feind zur Seite gebe, damit er ihre Tugend wach erhalte?" — Das ließe sich,

meinte der Pädagoge, auf die Schüler anwenden, die durch Rlvalität zum Fleiß gebracht werden; auch wohl noch auf meh­ reres; indessen möchte ich es nicht gerade wagen. Daß gute Gesellschaft immer das Beste sey, meinte auch der Gärtner. Zudem nun P. seinen Spaziergang weiter fortsetzte, mußte er

über sich selbst lächeln, daß er in den Blumenbeeten, Obsthai­ nen, Wäldern, Fruchtseldern, überall gesellschaftliche Vereine für das gemeinsame Gedeihen, Staaten von mancherlei For­

men fand.

Pädagogische Systeme und die glückliche Gärwerehand. Die Bücher der pädagogischen Literatur zogen ihn immer weniger an. Einige zum Nachschlagen, wie Niemeyers Grund­ sätze, behielt er sich wohl zur Hand, aber der Ratursinn führte

ihn immer wieder dahin, daß er selbst beobachten wollte. Die Zeitschriften, womit ihn der benachbarte Pfarrer reichlich ver­ sorgte, waren «hm welke Blätter, die praktischen Anweisungen alle nannte er Schulmeistereien, doch gestand er dem eifrigen

Patron aller dieser neuen Sachen und Methoden gerne zu, daß er manches daraus lerne und sich besonders über die Fort­ schritte in dem Schulunterricht freue, nur sollte man damit nicht meinen, das Höchste gefunden zu haben. Mit Unwillen warf er die meisten Recensionen aus der Hand, wo sich der

schulmeisterliche Pedantismus so recht auslaffe. ^Diejenigen pädagogischen Systeme, welche Ableger aus philosophischen wa­ ren, konnten ihm gar nicht dienen, denn die abstracten For­ meln waren mehr von dem Leben entfernt als die algebrai­ schen, welche doch ihre gute Anwendung haben. Indessen machte er sich dieses stolzen Wegwerfens aller der literärischen

Bildungsmittel doch nur mehr nn Anfang schuldig, bis er sich mehr in den Grundsatz hineingefunden halte, daß der Erzieher bei seinen eignen Forschungen und seinem Studium der Natur

23 doch

auch andre Meinungen hören müsse, um die scimgen

besser zu prüfen und auf weitere Gedanken geleitet zu werden.

Selbst der Freund im Garten führte ihm zu Gemüthe, daß man bei den hochfliegenden Ideen leicht in einen noch ärgeren

Dünkel gerathe, als der ist, den man bei den kleinlichen Men­ schen tadle, und daß diejenigen, welche das alltäglich Kleine

wie die Arbeiter dort auf den Kohlbeeten,

treulich besorgten,

in den Baumschulen u. s. w., gar wohl verdienten in Ehren gehalten zu werden.

Ein guter Gärtner muß das vor allen sei­

nen Studien zuerst lernen.

Die Belehrungen über die phnfische

Erziehung überzeugten ihn davon zunächst, indem er sie zugleich an der Pflanzenwelt absehen konnte.

Denn da sah er z. 33., wie

bald die Gewächse in dem Zimmer erkranken, wie sie ihre freie Luft, ihre gehörige Wärme und überall ihre zuträgliche Pflege

bedürfen.

Za selbst die glückliche Hand des Gärtners blieb da

nicht unbeachtet, denn er behandelte ja seine Pflanzen als seine Kinder, wie er sie auch nannte.

Und wie fröhlich ist ihr Gedei­

hen! Gewiß vermag die fromme Pflege der sorgfältigen Mut­ ter mehr, als man denkt, sagte er sich selbst dabei.

Gewiß

auch vermag der Lehrer in den Anfangsgründen bei dem Kinde viel für sein ganzes Leben, wenn ihn die liebende Sorgfalt

unsers Gärtners auch in dem Kleinsten leitet, was er zu thun hat.

Auch da gibt es eine glückliche Hand.

Auf die rechte Weise Hand anlegeu. Der Meister arbeitet mit eigner Hand und ordnet in seünem Gebiet, seine Gesellen sind fleißig am Werk,

haben ihre Lust an diesem Thätigseyn.

und alle

Das sah P. täglich

im Garten, und es war ihm oft, als sähe er sich in einer Schule, wo das Werk ebenso fröhlich gedeihen sollte.

Welche

größere Lust muß es, so dachte er, erst in einem solchen Men­ schengarten seyn!

Denn das hatte er durch seine bisherigen

Studien begriffen, daß ein methodisches Verfahren im Unter­

richten eine Entwicklung der Naturkräfte sey, wie es auch der Gärtner bei seinen Gewächsen

anwende, und er selbst hatte

nunmehr schon angenehme Erfahrungen be» seinen Zöglingen

24 gemacht.

So begriff er auch, daß es für die ganze Erziehung

naturgemäß sey, das Kind zur reinen Sitte zu gewöhnen, eben so gut, wie es zum aufrechten Gehen und Stehen gewöhnt

wird, und daß auf diesem Wege alle die edleren Formen im geselligen Leben sich eben so natürlich entfalten wie die Blü­ then der Pflanzen, auch dann erst das Schöne und Aumuthige haben, das man in allen den angelernten Artigkeiten vergeb­ lich suche.

Auf diese Weise sah es der Pädagoge den Gartenar­

beiten ab, wie man der Natur gemäß erziehen solle.

Aber

das war eine andere Natur, als sie vor Zahr und Tag ihm vorgestellt worden. Jetzt stand sie selbst vor ihm, in jener Ho­ heit, welcher er früher nur im dunklen Gefühle gehuldigt. Sie hatte ihm jetzt auch ihre Gesetze deutlicher verkündigt, als

daß er noch so anmaßend hätte denken können, aus der Natur

des Kindes zu machen, was man nur wolle. Er sah, wie sie sich in den mannigfaltigen Formen gefällt, und so wie in der Pflanzenwelt, so auch in der Kinderwelt.

Keine Seele wie die andre, kein Angesicht wie das andre. Zn jedem In­ dividuum ist sie ganz, in jedem erklingt der Grundton ihres Wesens, und in jedem will sie als Einzclnheit eiwas Eigen­ thümliches darstellen. Aber daß dieses Einzelwesen das werde, dazu müssen die Naturkräfte vom Sternenhimmel herab bis

in die Erde Zusammenwirken; und alle die offenen und gehei­ men Einflüsse, die darin walten, damit das Gewächs in sei­ ner eigenthümlichen Natur aufblühe, wer vermag diese zu be­ rechnen ! Was kann nun der Mensch dabei thun? Eine Fin­ gerbewegung im Ocean? Ilnd doch thut der Gärtner so viel. Aber der Erzieher?

Der hat etwas mehr als eine Pflanzen­

natur zu bilden! Der Erzieher tritt in die Reihe der Künstler.

P. sah nun in seinem Berufe die Aufgabe für ein künst­

lerisches Ziel. Die Natur nimmt in der Kunst einen höhern Schwung, um sich selbst zu einer Vollkommenheit zu erheben, welche in deni wirklichen Leben nirgends erscheint. Der, in welchen ein Licht von oben strömt, worin das Himmlische vor

23 ihn Hintritt, und das ihn mit der Schöpfungskraft so erfüllt, daß er jenes Herrliche in irdischer Gestalt verkörpern möchte, der hat die Weihe der Kunst empfangen.

Der Maler in sei-

litt» stillen Sinne sieht durch das, was seinem Auge im Zrdischen gegeben wird, hindurch das lleberirdische, und seine Hand weiß es vor die Augen Andrer schöpferisch hinzusiellen,

wenn er, getrieben von seinem Genius, nicht ruhen kann, bis sein Ideal außer ihm dasteht. Der Bildhauer scheint noch eine stärkere Schöpfungskraft zu bedürfen, damit selbst der harte

Stein unter seinem Meise! mit ihrem Hauche beseelt werde. Aber der sinnige Gärtner lebt schon in den reinen Gestalten selbst, die mütterliche Erde hat ihm ihre schönsten Kinder an­

vertraut, und diese selbst müssen seine Blicke erwecken, daß sie

das überirdische Paradies schauen, das noch schönere Blumen

zieren, als die Natur sie auf der Erde für sich hervorbringt. Er darf daher gar wohl einem Phidias und Raphael die Hand reichen. Denn in jedem ihrer Geweihcten sieht die Natur über sich selbst hinauf zu einer Natur hin, die sie noch nicht ist,

die sie aber durch ihn werden möchte.

Sie selbst will sich in

dem Künstler zu einer reineren Stufe erheben. Dieser soll das, was hieniedcn ihm entgegenkommt, in die Himmelsregion, in

die Heimath der göttlichen Urbilder, emporheben, damit jenes Licht sie verkläre, ohne welches alles Irdische in ein Schatten­ reich erstirbt.

Wie sie von oben kommt, strebt sie auch zum

Himmel hinauf.

Draußen die Natur ist die Lehrerin, aber

nur im Borhof; in dem Tempel selbst waltpt ein reinerer Geist. Er verlangt aber auch reine Seelen. So hat er jenen Maler zu seinem Erwählte» gemacht, dessen Gemüthsruhe

in der geräuschvollen Bewegung sich selbst gleich bleibt, und jenen sanften Mann, dessen Hammer und Meise! das Göttliche in Menschengestalt erscheinen läßt; nicht minder auch jenen horchenden Meister der Töne, in dessen leidenschastloser Seele

die ewigen Harmoniern auf- und abwogen; und wäre der Gärt­ ner nicht so frommen Sinnes, seine Blumenwelt würde nicht

so entzücke». Was denn nun ist meine Kunst? und was will ich schwacher Pädagoge vermögen, um das Kind zu bildens

26 Dazu fehlt mir ja noch alles, es fehlt mir noch die Seelen­

ruhe.

Rur diese erst sollte ich vom Gottesfreund iin Gar­

ten lernen.

Er soll die Freundlichkeit des Gemüths nicht verlieren.

„Auch wir möchten oft unmuthig werden," sagte ihm der

Gärtner, „wenn z. B-, so eine Witterung kommt, die unsere besten Hoffnungen zernichtet; ja ich werde bisweilen versucht, mit dem Himmel zu zürnen.

Aber da sey Gott vor!

Es ist

wahr, lieber junger Herr; bei den Kindern haben Sie hun­ dertmal eher Ursache, ärgerlich zu werden, als ich bei meinen Bäumen und Pflanzen. Die sehen mich immer wie Kinder

lieblich und vertraulich an; das pflegt nun bei den Menschen­ kindern nicht so zu seyn, und da mögen Sie wohl oft genug

zum Unwillen gereizt werden." — Za, ich muß Ihnen geste­ hen, erwiederte der Pädagoge, schon die unfreundliche Gesichts­ miene des Kindes kann mich verstimmen, und ist man einmal verstimmt, so wird es immer ärger. Die Kinder sehen den Lehrer verdrießlich und gewöhnen sich am Ende daran, ihn so zu sehen und selbst so zu seyn. Die Leichtsinnigen zwar wer­ den gleichgültig, die verdrossenen aber noch gar widerspenstig,

und die Aergerlichkeit der Lehrer, oder auch der Eltern, ruft eine Unart aus der andern in dem Kinde hervor. Zch gestehe es Ihnen, ich wünschte mir Ihre Seelenruhe. — „Was Sie mir da beilegen," antwortete der Gärtner bescheiden, „ist mir so meine Natur und nicht mein Verdienst, auch helfen mir, wie gesagt, meine lieben Kinder da selbst dazu, wo sie mir fehlt.

Bei Ihnen ist das freilich etwas anderes; es ist eine viel grö, ßere Tugend und Gabe Gottes, wenn Sie ruhig bleiben, wo

die Kinder nicht gehorchen.

Aber zürnen Sie auch einmal,

so sind Sie doch immer weit besser als ich, wenn ich zürne.

Denn was darf ich gegen Gott und die Natur unwillig wer­ den! Sie aber werden unwillig über etwas Böses, und da haben Sie ganz recht." — Sie, lieber Mann, trösten mich

da zwar, aber ich kann mich doch weniger entschuldigen. Sie sehen in den Pflanzen nur die Natur in ihrer zwar schönen

Gestalt, aber doch vernunftlos und dem Menschen untergeben,

ich aber habe in dem Kinde Gottes Ebenbild vor mir, wie

darf ich dem zürnen? — „Richt dem zürnen Sie ja, bester Herr, sondern dem, was sich vor dasselbe gestellt hat, dem Willen des Kindes, der es nicht zu dem kommen läßt, waS

Sie gerne in ihm sehen möchten." — Das ist, erwiederte der Pädagoge, allerdings einiger Trost für mich, aber ich ertappe

mich auch wohl darauf, daß ich über den Zögling meinen Aerger äußere, den ich insgeheim über mich selbst empfinde. Mit diesem Geständniß reichte er dem Gärtner die Hand zum

Dank, und als wolle er sich damit bessere Selbstbewachuug

geloben. Wie hat eö der Gärtner leichter-

Es ist wahr, sagte P. sich selbst, der Mann ist benei-

denswcrth. Kommt er des Morgens in seinen Garten, so hat er sein Morgenlied noch in der Seele, sei» frommer Sinn er­ heitert seine Blicke, und alle seine Pflanzen empfangen ihn in ihrem fröhlichen Gedeihen, als wollten sie ihn begrüßen. So gut sollte es der Lehrer auch haben. Aber tritt dieser auch einmal mit heitrer Miene in seine Schule herein, augenblick­ lich stört ihn hier etwas und da etwas; hier ist ein Knabe unachtsam, dort einer muthwillig, und da geht es sogleich an

ein Verweisen, Zürnen, Strafen, und am Ende wird auch die Hand zu Hülfe genommen. So fängt frühmorgens sein

Verdruß an und verfolgt ihn den ganzen Tag hindurch. Abends ist der arme Mann völlig verstimmt, sein Blut in Wallung, sein Muth niedergeschlagen, alle seine schönen Ideen zerronnen, und wenn er anders nicht auch an Schlaflosigkeit leidet, kann er etwa nur noch daöon träumen. Muß sich da nicht seine Kraft aufreiben? und wie kann er nur zu sich selbst kommen?

Kein Wunder, wenn er endlich gleichgültig

wird, nur als Tagelöhner in seiner Schule arbeitet und über

jedes Zdealisiren am Ende nur spotten lernt. Besser habe ich es zwar bei den lieben Kindern in diesem Hause, aber da gibt es doch auch fast jeden Tag etwas, das meine Lust stören

28 könnte, und-ich entlasse sie oft unzufriedener, als ich sollte. Nein, so darf eS nicht seyn.

Wer andre führen will, muß sich erst

selbst jn seiner Gewalt haben.

Ohne die Selbstverläugnung

gehl es- nicht. Der liebe Mann da unten vergißt sich und die Welt, wenn er sich in seinem Garten befindet. Da umflie­ ßen ihn mit. den frischen Düften auch die lieblichen Bilder, und er sicht in jedem seiner Gewächse ein freundliches Kmd; sein Gemüth erhebt sich dann in heiliger Stille zu Gott und sieht

sein Vertrauen auf den Segen mit jedem Morgen belohnt. Nun, kann ich denn das nicht auch?

Wärmn sollte, mein Blick.an der- Wolke haften, die sich um meinen Zögling hin­

zieht? warum sollte er nicht lieber durchdringen, bis er den

Lichtmenschen in ihm entdeckt?

Das wird den, Erzlcherange

zwar-schwer, aber dafür erhält es za das himmlische Urbild von .oben, wenn es-nur darnach schauen will. Liebt der Gärt­

ner das» Erdenkiiid, warum liebe ich nicht -das Gotteskmd? Ich sehe, es nicht vor mir. O, wenn ich es nur sehen wollte, so würde der Nebel, der nur sein Göttliches verhüllt, schon

verschwinden, wenn anders mein Auge klar ist, .Freilich spie­ gelt sich nicht der Himmel m dem aufgeregten drüben See; nicht einmal? die schöne tlferlandschaft wirft dann in ihm »hr

Bild zurück. — Es »st nicht anders, Selbstverläugnung und Selbstbeherrschung ist dem Erzieher nothwendig, damit er die Himmelspflanzo erkenne, und in seinem Zöglinge liebe. So werd? ich denn auch ein Gärtner!

Der Mensch der Herr der Statur. Es war an einem schönen Septemberabend, als P. vor

einelst Levkojenbeet stand x dessen Fülle und Farbenspiel in dem scheidenden Sonnenstrahl wundervoll glänzte.

Wie seyd ihr

reizenden Kinder der Natur doch von der geschickten Hand eures

Pflegers zu dieser Bollendung gelangt! redete er sie an. Mag immerhin, der Sinn, der nur die Gemeinheit der niederen Na­ tur kennt, ein Siechthum in euch finden! meinethalben sehe

er zur Strafe hier nur ein Lazareth!

Zch nicht!

Nein, ihr

seyd vielmehr vor euren nur ärmlich blühenden Schwestern in

29 ein

volleres

Leben erhoben.

Zum Gärtner gewendet fuhr

er fort: Ist es wirklich so, wie manche sagen, daß diese Pflan­ zen, nur durch Versetzen und Ilebertreiben geängstet, zu dieser

vollen Schönheit gelaugt finb?

Der Gärtner

lächelte unb

meinte, wenn mau solche Klagen anstimmen wollte, so müß­ ten sie eher den Gewächsen im Treibbause gelten; denn diesen

würde so lange zugeseßt, bis sie vor der Zeit Blüthen und Früchte brächten und dann frühzeitig ihr Leben verbluteten;

jene gefüllten Blumen aber seyen, gleich den veredelten Baum­ früchten, nur eine Erhebung ihrer Natur zu einer paradiesi­

schen Vollkommenheit.

Der Pädagoge dachte an die Treib­

hauspflanzen der unglücklichen Wunderkinder, und dagegen an die naturgemäße Bildung der Jugend in Künsten und Wissen­

schaften. Diese bleiben zwar in ihrer Natur, wie sie der Schöpfer

ausgestattet hat, aber es

tritt doch auch unter der bildenden

Hand die Vollkommenheit hervor, die in dem gemeinen Hin­ leben verloren gegangen wäre.

Diese Idee wurde ihm in dem

weitere» Gespräch auch gegen einige Bedenklichkeiten gerettet.

„Wenn denn jemand," erinnerte der Gärtner, „von einem Ouä-

lcn oder Verletzen der Gewächse reden wollte, so würde ich ihm freundlich zu Gemüthe führen, warum er sich denn so

was sogar bei den Thieren erlaube und dann obendrein mit diesen wie mit jenen seine Tafel besetze. denken zu wenig an alle die Noth,

Es ist wahr, wir

welche wir unsern Mit­

geschöpfen machen, aber wahr ist cs auch, Gott gab dem Men»

scheu die Herrschaft über sie."

Er gab ihm, fuhr der Päda­

goge fort, das Recht über Leben und Tod von Pflanzen und

Thieren, nicht sie zu mishandcln, gewiß aber zur Verherr­ lichung der Erde.

Das Wesen bleibt. „Ob die Pflanzen Seelen haben?" erwiederte der Gärtner in einem weiteren Gespräche, „das mögen die Gelehrten aus­

machen; mir ist es so, als wollte da so etwas heraussprechen. Doch das kümmert mich nicht,

aber Sie wissen ja, daß ich

unter meinen Gewächsen wie unter meinen Kindern lebe." —

30 Möchte ich nur auch die Sprache der Natur verstehen, wie

Sie, lieber Freund! — „Die verstehen Sie gewiß," fiel ihm der Gärtner zwischen den Klageton ein, „sehen Sie nur recht.

Dieser blühende Baum da, sagt er Zhnen denn nichts?" — Das wohl, bester Mann, ich fühle da allerdings das Wehen der Allmacht und Liebe, ja es ist mir, als ob da in diesen Zweigen etwas freundlich zu meinem Gemüthe sprechen wollte,

und hier in diesem Baum etwas anderes, als da in diesen

Knospen, die auf schlankem Schafte aufbrechen wollen, und hier, und hier, und in jedem Gewächs etwas anderes, immer

mit eigner Lieblichkeit. Aber ich denke nn weinen Gärtnerbe­ ruf, an meine Pfleglinge. Da find Seelen, die sich zwar durch die Sprache verkünden, aber sie verstehen, in dem, was sie nicht mit Worten auszusprechen vermögen, in ihrem in­

nersten Wesen verstehen, das möchte ich, das sollte ich, und wie lerne ich das? — „Zch dächte doch, daß Sie das leicht können", ich rede nur so nach meinem Gärtnerverstand. Wenn ich so die Pflanze von den Wurzelfasern bis zu den Staub­

fäden ins Auge fasse und vom Aufkeimen bis zum HiNwelkm betrachte, so finde ich da eyvqs, welches in allem diesem bleibt,

als könnte ich eS wie ein Kind mit einem Namen nennen.

Denn da zieht sich etwas hindurch, das mir wie in dem Wur­ zelblatt, so in der Blumenkrone wieder erscheint, nur zuletzt verfeinert, verschönert, und zu seiner höheren Kraft gesteigert,

wo es im Samenkorn den Keim für ein neues Gewächs er­ zeugt." — Sie wissen also auch, unterbrach ihn der Päda­

goge, von der Idee, die ich unlängst gelesen, daß in der Me­ tamorphose der Pflanzen drei Perioden zu unterscheiden sind,

wornach sich das Wesen, das sich in dem Gewächs hervoktreibt und wechselsweise erweitert und zurückzieht, immer rei­

ner ausbildet und zugleich seine Säfte läutert. — „Das ist

mir allerdings nicht unbekannt," antwortete der Gärtner, „nur

möchte gegen dieses Läutern der Säfte manches auftreten, unter andern der Feigenbaum und der Weinstock. Indessen das ge­ stehen wir alle zu, daß sich so etwas, welches Sie denn Seele nennen mögen, in allen Umwandlungen des heraufsproffeuden

51 Keimes bis zu seiner Blüthe entfaltet, woran wir immer das» selbe erkennen." — lind sollte sich mir das nicht in meinem

Zöglinge als seine wahre Natur offenbaren? meinte der Pädagoge hierbei. Die Gärtnerkuust für den Erzieher.

Wohl zieht sich der Lebensodem, der von dem Schöpfer ausgeht, durch alle Naturwesen hin, und ein Lebensfaden hält

alle Gattungen und Arten zu einem Ganzen zusammen, lleberall erscheinen die Urformen wieder und bilden sich in jedem Ein­ zelwesen ab.

Dieses aber sieht da mitten in der großen Ein­

heit der Natur, und doch in sich selbst gehalten, in seiner Ei­

genthümlichkeit.

So hat die Pflanze ihre Tugend.

Sie weiß

nicht darum, aber der Mensch weiß oder soll wissen, daß er

von der» Urquell alles Guten stammt, und daß ihn Gott be­

stimmt hat, mit seinem Geiste aufwärts zu schauen, und sei­ nen göttlichen Beruf als der Herr der Erde zu erfüllen.

Das

sagt die Natur schon in dem Kinde, und darum sehnt sie sich

gleichsam selbst nach der erziehenden Hand.

Ist der Mensch,

wie ein KuustgeniuS es einmal ausgedrückt, „das erste Gespräch der Natur mit Gott," so ruft ihm auch die göttliche Stimme in der Natur zu, daß er diese selbst erheben und, was in ihr an­

gelegt ist, zur Vollendung bringen soll.

Diese Stimme kennt

der Gärtner, und so freut er sich seines Berufes unter den

Gewächsen, welche unter semer Hand zum schöneren Leben ge­ deihen.

Zeder Kunstgeweihete wird von diesem göttlichen Zuge

geleitet, und das Licht, in welchem das Bild einer heiligen Familie

dasieht, so wie das Licht, welches sich über Berg und Thal und Wasser und Luft der Landschaft ergießt, ist nur ein Wie-

derschein von jenem Himmelsstrahl, der in die Seele des Ma­ lers herableuchtet.

Den Menschen selbst aber zu seinem llr-

dilde zu erheben, dazu gehört noch etwas mehr.

Steht er ja

doch über der Natur, und so soll er sich selbst bilden.

Wie

gelangt denn nun der Erzieher zu seiner Kunst? An sich muß er anfangen. — Zn diesem Gedankendrange war P. wieder

an das Blumenbeet gekommen, tpo er den lieben Mann be-

52 schäftigt fand. O, verstünde ich doch, was Sie verstehen! rief er ihm aus voll em Herzen zu, wäre ich nur auch cui Gärtner! — „Bester Herr, erwiederte dieser, der Erzieher ist ja weit mehr; gleich Blumen sollen allerdings diese Kinder blühen, aber in Zhren Zöglingen erwächst doch etwas, das über die Erde hinausrcicht." Umb es ist noch mehr für ihn zu thun.

Aber, dachte der Pädagoge, dieses Himmlische mußte doch von selbst hervorwachscn. Wozu ist denn noch Menschenhand nöthig? Sie konnte nur stören, und die Kraft von oben geht doch über alles und schlägt von selbst durch. Warum soll der Erzieher mehr thun als der Gärtner? Es ließe sich wohl eine ganze Reibe von Regeln niedcrschrelben, wie da-s Kind gleich der Pflanze zu behandeln sey, und sic sind leicht der Natur abzusehen. Unsere Gartenkunst, was soll sie denn noch weiter lernen? Sieht der Bliimist schon der Tulpenzwiebel an, wie die Farbe und Form ihrer Blume sehn werde, und erkennt der Weinbauer schon aus dem Blatt, vielleicht schon aus der Rebe, die Traubenart, warum sollte der Erzieher nicht die Na­ turart des Kindes, woran uns ja schon idie gemeinen Spruch­ wörter erinnern, erkennen? Erkennen aber muß er sie, damit er weiß, was er zu thun habe. Aber da ist noch etwas ganz anderes für ihn zu thun. Der Lichtmensch m dem Zögling muß sich ihm offenbaren, der durch die Hülle durchbrechen will. Die­ sem gehört allerdings sein Eigenthümliches an, welches sich in diesem Einzelwesen entfaltet, aber das ist nicht jene Hülle, die abgestreift werden soll; wer die Pflanzenblüthen ihrer Kronen­ blätter beraubt, würde sie nur zerstören. Jene Wolkcnhülle ist etwas Fremdes, das weggeschafst werden muß. Sie hält den edlen Trieb zurück, sie unterbricht die reine Gestaltung, sie fesselt den reinen innern Menschen, und diesen soll der Erzieher frei machen; das ist das Schwere und Große seines Berufes, denn sonst hätte er nur die Kunst und die Lust des Gärtners, nach der ich mich immer gesehnt habe. So sprach der Pä­ dagoge zu sich und sah jetzt wohl em, daß für ihn noch etwas

53 ganz andres zu lernen sey, worin er seine Bcrufsfreude finden

solle. Eine trauliche Unterhaltung mit dem frommen Mann im Garten gab diesen Gedanken noch mehr Klarheit. Der Freund

erinnerte an ihr erstes Gespräch

über das Bäum­

chen, das sich krümmen wollte, und das er festband; erzeigte es ihm jetzt, wie es gerade gewachsen war

und nun auch

nichts mehr von der fesselnden Schiene fühle.

Za, Sie hat­

ten recht, sagte der Pädagoge mit einer dankenden Miene, die Natur bedarf des Menschen Hand, und Sie haben mich auf

das Rechtt. hjngewiesen. Aber welche Krümmungen in allen den Unarten Her Kinder! Könnten Sie, Mann Gottes, mir

da helfen!

Da wäre-, ich erst recht Zhr Lehrling. — „Sie,

lieber junger Herr, werden auch darin Zhren rechten Lehrer

finden, und haben Sie ihn denn nicht schon gefunden? Meine Kunst ist gering, und ihr Gebiet ist nur dieses kleine Stück­ chen Erde hier mit seinen Erzeugnissen, die aufgrünen, um wie­

der hmzuwelken: Sie aber find zum Arbeiter in dem Reiche

berufen, welches die Seelen jum Himmel führt.

Was diese

bedürfen, wissen Sie, und Sie kennen auch die O-uelle, woraus

uns das Heck kommt."

II. Der

Arzt.

Der Pädagoge kommt zur Heilkunde. Die Familie zog für den Winter in die Stadt. P. konnte sich nur schwer von dem Garten trennens eS wgrsein Stu­ dienort geworden, und die letzten Worte jenes Lehrers in der

freien Natur begleiteten ihn als eine seiner edelstm Gaben. Auch wurde »hm der Mann immer achtungswerther, je mehr

er jetzt jede seiner Unterhaltungen überdachte, und er vergaß ihn nicht bei den neuen Bekanntschaften, welche er in der Stadt

machte.

Das war vornehmlich der Hausarzt, schon länger her

der Hausfreund dieser Familie, welcher darum auch weniger Schwarz: Darstell, a. d. Gebiete d. Erzieh.

3

54 das erstere zu seyn brauchte.

Denn er machte sich gern als

Arzt entbehrlich, weil er nicht zu denen gehörte, die sich mit den ängstigenden Krankheitsnamen und unaufhörlichen Re­ cepten unentbehrlich machen, sondern in jenem höheren Beruf seiner Wissenschaft lebte, das Krankwerden durch gute LebenSordnung zu verhüten. Ein Arzt für die Gesunden war ihm kein Widerspruch, und das bestätigte das Wohlbefinden dieses

ganzen Hauses, wo kaum der Fall vorkam, daß man ein Kind Ueberhaupt hielt er nichts darauf,

nach seinem Befinden fragte.

daß die Kinder an ein solches Reflectiren auf sie gewöhnt würden.

Daß nun dieser Hausfreund auch bald des Haus­

lehrers Freund wurde, versteht sich von selbst, und der Prin­

cipal hatte das gehofft.

Sie standen sich durch ihre Geistes-

bedürfniffe nahe, und eS begann alsbald eine tägliche Mit­

theilung.

Höchst erwünscht war es dem Pädagogen, von die­

sem wissenschaftlich ausgezeichneten Manne des Faches einen

Lehrcurs über Anatomie und Physiologie zu erhalten, der für seinen bestimmten Zweck eingerichtet wurde. Hieran knüpften sich denn die Unterredungen, welche auch in andere Theile der

Heilkunde entgingen und immer ein neues Interesse gewannen. Der Arzt lernte selbst dabei, insbesondere aber ließ er sich gern in ein tieferes Studium über die Natur des Kindes ein­

führen, denn er wußte wohl, wie wenig seine Wissenschaft

noch zur Zeit darin versiehe, und wie häufig sich die Praxis hierin schlimme MiSgriffe zu Schulden kommen lasse. Was ist Gesundheit?

Das Kind so zu erziehen, daß es gesund sey und bleibe, das wurde als die Aufgabe befunden, wozu sich der Pädagoge und der Arzt vereinigen sollten. Denn was heißt Gesund­

Nur der Mensch ist gesund, dessen geistige und leibliche Kräfte in Einheit wirken, harmonisch in ihren verschiedenen seyn?

Richtungen, zur Erhaltung dec Lebensfrische, zum bleibenden Wohlbefinden.

Der Arzt stimmte zwar damit ein, bemerkte

aber, daß diese Worte, so leicht hingesagt, doch manches Dunkle hätten, und wir, wenn wir sie zu erklären versuchen, immer nur

53 andre Worte geben für eine Sache, die mehr gefühlt als in

einem Begriff erfaßt werde.

Auch sey es schwer, die Gränze

zu bezeichnen, wo die Gesiuidhett aufhöre und das Erkranken beginne. Denn schon das, daß die Heilkunde Krankheiten ab­ zuwehren suche, sey ein Beweis, daß etwas da sey, das die

Ratlir zu einer Krankheit geneigt mache, und das sey doch nicht Gesundheit zu nennen.

Eine völlig und rein gesunde

Kindcsnatur dürfe nicht die mindeste Neigung zu Drüsenübeln und dergleichen haben, man würde eine solche auch nicht ein­

mal dagegen verwahren dürfen, weil sie sich selbst in ihrer

natürlichen Entwicklung am besten dagegen verwahrt, und die Diät hätte auf nichts als die Bedürfnisse der reinen Natur

Rücksicht zu nehmen.

Zn diesem Sinne, meinte der Päda­

goge, möchte cs wohl kein recht gesundes Kind geben, und das bestätigte ihm auch der Arzt. „Wenn wir weiter gehen," setzte dieser hinzu, „so finden wir die ganze physische Entwick­ lung des Kindes als einen fortwährenden krankhaften Zustand. Da sehen wir, wie ein früheres liebel bei einer neu eintreten­ den Periode in einer andern Form erscheint, oft in einer schlim­ meren, und wie die Heilung nur scheinbar gewesen, nur ein Berstecken oder Ilmgestalten des Uebels. Daher ist das erste Gesetz für den Kinderarzt, das liebel in seinem Entstehen auf-

zuspüren, durch alle Entwicklungsperioden der Zugend zu ver­ folgen, und es somit durch eine nach zeder dieser Perioden sich

bestimmende Lebensordnung zu bekämpfen.

Das kann freilich

nur der Hausarzt, denn die Cur dauert die ganze Jugendzeit hindurch. Gehen wir noch weiter, so finden wir diesen Zu­

stand durch alle Generationen hindurch fortgepflanzt, wie ein Miasma, das von Anfang des Menschengeschlechts hereinge­ treten; eigentlich den Tod. Denn schon im unendlich Kleinen beginnt seine Herrschaft, und was wir in der Geschichte bemer­

ken, ist nichts anderes als ein Kampf der Natur gegen die­ selbe, die jedoch nie besiegt ist, sondern, wie einmal ein Krankheitsübel aufgehört hat, alsbald wieder in einem neuen

hervorbricht.

Daher der Wechsel in Krankheiten und die Er­

scheinung von ganz neuen, eigentlich

nur neuer Gestalten.



56 DaS Grundübel ist dasselbe. Wenn man jetzt mehr scrophulöse Kinder, als ehemals, sieht, so fehlte es ehemals nicht an an­ deren Kinderübeln; zum Beispiel dient der sonst viel häufigere

Ausschlag. So verhält es sich auch mit den jetzigen chronischen Krankheiten der Erwachsenen, vornehmlich mit allen den Ncrvenübeln.

Alles dieses erzeugt,

gestaltet, verbreitet sich

durch die mancherlei Veränderungen in der Lebensweise, aber

auch diese, und alles grsammt, entwickelt sich in dem Zeiten­ strome.

Da ist denn auch in dem Gesundheitszustände Ebbe

und Fluch, nie aber und nirgends das gleichmäßige, unge­ brochene, schöne Hinwallen einer reinen Lebenskraft. Was

Aristoteles von den periodischen Veränderungen in dem Men­ schengeschlecht sagt, das ist besonders mif jenen Zustand anzu­

wenden."

Also, wie in dem Kinde, meinte der Pädagoge, so

in der Menschenwelt im Großen, wie in dem Zndividuum, so in den Völkern, Schwankungen, Gährungen, neue Entwick­ lungen.

Aber, fragte er: müssen wir nicht manchen Zustand

in einem bestimmteren Sinne krankhaft nennen ? „Eben das,"

antwortete der Arzt, „haben Sie sich selbst beantwortet, in­

dem Sie von dein Schwanken reden und einen Gährungsstoff annehmen, ber bisweilen furchtbar ausbricht. Krankhaft ist

die Unruhe unserer Zeit nut ihrer politischen Fieberhitze.

ES

kommt also nur darauf an, ob die Menschen mehr oder we­

niger krank sind; zu der einen Zeit, oder in der einen Nation sind sie mehr dieß, zu der andern und am andern Ort mehr jenes." Daher auch wohl manchmal gefährlicher? fragte P. weiter.

„Auch das," erwiederte der Arzt, „und da wird meine

Kunst oder die Zhrige allerdings augenblicklich rintreten, wenn uns das Wohl der Menschheit am Herzen liegt.

Rur darf

man nicht verzweifeln. Zwar kann mir das Kind sterben, an dessen Krankenbette ich aÜes aufbiete, und ein Staat kann durch Zerrüttung im Volksleben untergcheü, wenn gleich Got­

tesmänner sich vor den Riß stellen und sich sogar aufopfern. Aber das bleibt doch unsere feste Hoffnung im großen Gang der Vorsehung, daß die Menschheit im Ganzen zu ihrer Ver­ herrlichung gelange." — Wohl! das glaube auch ich als Christ

37 von ganzem Herzen, aber wir wollen doch gerne die Mittel

wissen, nm auch jetzt zu.heilen. Wenn z. B. bei der jetzt überhand nehmenden Schwäche des weiblichen Geschlechts die

verfeinerte Cultur angcklagt wird, so fragen wir: was ist ge­ gen dieses Ilebel zu thun? — „Vieles haben wir Menschen zu thun, vieles auch nicht," erinnerte der Arzt, „am wenigsten dürfen wir meinen, daß darin die Heilung bestehe, wenn ein

ehemaliger Zustand wieder herbeigcführt werde. Das hyste­ rische Mädchen kann ich nicht in seine Kindheit zurückversetzen. Rur dann wird unsere Heilung sicher geleitet, wenn sie immer das Ziel der vollkommenen Gesundheit nur in der Ferne sieht und in einem stetigen Gange den Weg führt, der doch näher

bringt. Die ganze Erdcnwelt liegt in einem Heilungsproceß."

Da- Ziel der Heilkuodr. Das war eine lange Unterhaltung über die Gesundheit, und doch war

nicht ins Klare gekommen.

Er dachte an

manches Wort seines Gärtners, das ihm jetzt klarer wurde. Wer weiß, welche Gartenkunst die Natur im Paradiese ent­

wickelt hätte, wäre eS nicht verloren gegangen, und wäre der Mensch in seiner Unschuld und göttlichen Ordnung geblieben! Zwar ist ihm die Sehnsucht und der Sinn geblieben, aber die

reine Schönheit und Vollkommenheit sicht er nicht auf der Erde, die muß sich ihm von oben offenbaren.

Der Trieb zur

Verbesserung, das Fortschreiten der Wissenschaft und Kunst, darin wirkt das Streben jener Sehnsucht. Der Maler läßt uns Himmelsgegenden und Himnielskinder sehen, und der Gärt­

ner weiß für schönere Blumen und eine reizendere Gegend, so wie sie seine Phantasie zaubert, die Raturkräste selbst zu gewinnen. Ueberall läßt uns das Kunstgenie über die verkümmerte Welt

hinauf in die ersehnte schauen,

lind mein gelehrter Doctor

der Medicin, was will er anders, als wornach in jedem Zweige die ächte Gelehrtenbildung strebt, die Natur und den Menschen

erforschen, um dem Unheil zu wehren, und dem

Weg zu bahnen. ders wollen?

Heil den

Was kann denn auch der Pädagoge an­

Wiederherstellung der Gesundheit könnten wir

38 nicht unschicklich daS gemeinsame Ziel aller edleren Thätigkeit Diese höhere Heilkunde müssen wir studircn.

nennen.

Wann ist da« Kind gesund?

„Was fällt Ihnen dabei denn so auf," sagte der Arzt in einem folgenden Gespräch, „daß ich unser ganzes Erdenleben

eine Krankheit nenne?

Ich sage ja damit nichts anderes als

das allbekannte und uralte Wort: alle Menschen müssen ster­

ben; und: mit dem ersten Athemzug opfert schon das Kind bei seinem Aushauchen der Atmosphäre etwas von seiner Lebens­

kraft.

Der Todeskeim ist mit uns geboren und macht unser

Leben zu einem täglichen Sterben bis zu

dem letzten Aus­

hauch." — Halten Sie denn das für die ursprüngliche Be­

stimmung des Menschen? fragte P., und der Arzt antwortete kurz: „Diese Frage möchte ich eher verneinen, aber ich weiß

nichts bestimmt darauf zu sagen." — Aber was soll ich mir denn unter Gesundheit denken, wie sie denn nun einmal ist ? —

„Etwas sehr Relatives.

Denn jenes Gleichgewicht der Kräfte

erhält sich doch immer nur in einem fortwährenden Schwanken von dem ersten Schrei des neugeborenen Kindes bis zum letz­ ten Hauch, der den Geist zu jener Welt entläßt,

durch alle

jene Beränderungrn in den Lcbensperioden bis zum Greiseiialter hin.

Wollen Sie das die Gesundheit nennen, so werden

Sie von dem gemeinen Sprachgebrauch

verstanden.

Denn

dieser nennt dagegen nur das Ueberschlagcn nach einer Rich­ tung'hin, welche eine frühere Auflösung herbeiführen würde, Krankheit.

Aber wir dachten ja an jenen schönen Lebensstrom,

der in gleichem Takt dahinfließt und in allen Adern, Nerven,

Fibern, ja

in aller geistigen Thätigkeit sich in unverzehrler

Frische erhalt." — Wie aber, wenn die Lebenswellen zu man­

cher Zeit stärker auswallen müßten, zu mancher nur schleichm, und dieses nur ein Pulsiren in größerer Abmessung wäre, aber doch ein regelmäßiges zur Erhaltung der Gesundheit? — „Doch

immer nur relativ!" erwiederte der Arzt, „und Sie könnten sogar das Beispiel anführen, wie mancher Krieger oder See­ mann,

der seine Jugend

in den größten Strapazen zuge-

59 bracht, der Wunden und mancherlei Leibcsuoth ausgcstanden, ein hohes Alter erreicht, worin er sich einer bewundernswür­ digen Munterkeit erfreut, und wie dagegen Andere auf ein wohlgeordnetes Zugendleben einen siechen Körper hcrumschlep-

pen müssen oder früher durch Krankheit weggerafft werden. Dergleichen Erfahrungen sagen aber nichts weiter, als daß für manche Naturen größere Aufregungen zuträglich sind, um

die völlige Entwicklung des Todeskeimes einige Jahre länger aufzuhalten. Denn entwickeln muß er sich doch; er ist ein­ mal da; das Einzelieben auch des Menschen auf der Erde kommt und vergeht, und der gewaltige Pulsschlag der Zeit

steht für die Erdensöhne unter der Herrschaft des Todes. Das

Gesetz, das Gott ausgesprochen hat, lautet:

kommt in das

irdische Leben, und kommt wieder heraus, Menschenkinder!" —

Zch glaube Sie zu verstehen: wenn doch dieser Wechsel ein­ mal seyn muß, so ist kein Mensch so gesund, um auf der Erde unsterblich zu seyn, und so bleibt jene Gesundheit, welche Sie meinen, ein Ideal. Also lasse» Sie uns denn nur an die relative denken, und fragen, welcher Wechsel gerade für sie der zuträglichste sey t — „Sie haben recht, Freund, von jenen Speculationen in rmsern Wirkluigskreis herabzusieigcn. Hier nun verweise ich Sie auf die Natur. Da erscheinen uns überall krankhafte Zustände, die aber relativ zur Gesundheit gehören. Die Thiere verändern nach den Jahreszeiten Haut, Haare, Federn:c., der muntere Vogel trauert während der Mause, die Raupe erkrankt im Verpuppen, der Baum be­

moost sich im Winter und reinigt sich im Frühling, schält auch wohl die Rinde ab. So stellt sich auch bisweilen bei Menschen ein regelmäßiges Schälen der Haut ein, als eine

gesunde Krankheit, wie ich Ihnen mehrere anführen könnte. Wir wollen auch den Wechsel von Wachen und Schlafen nicht

übersehen.

Za die Erde selbst in unserer Zone erkrankt ge­

wissermaßen zu einem Winterschlaf, um im Frühling frischer aufzuleben." — So würden denn auch die Entwicklungspe­ rioden der Jugend anzusehen seyn i — „Allerdings, und darum als sehr bcachtungswerth, für den Arzt, wie für den Erzieher,

40 damit nicht eine Erscheinung als Krankheit wegcurirt werde,

die eigentlich znr Gesundheit dient,

welche man dann mit

wegcurirt." — So habe ich mir die sogenannten Flegeljahre immer gedacht, wobei mir die Kirsche einfällt, die noch grün so herb ist und doch zur süßen Frucht reift. Auch denke ich jetzt an eine Beobachtung,

die mir der Gärtner mitthcilte,

daß manche Obstarten in den ersten Jahren fast ungenießbar sind, mit dem weiteren Alter des Baumes aber köstlich wer­ den. — „Sie dürfen auch hier an den Wein denken, der nicht immer von den süßesten Trauben der geistigste wird.

Auch für die Behandlung der Kinder gibt eS da viel zu ver­ gleichen und zu bedenken.

Manches strotzt von Gesundheit,

und nach einigen Zähren erbleichen die vollen Backen, und das Kind welkt dahin.

Die Eltern trauern, der Arzt verordnet

Mittel, und nichts will Helsen.

übersah man.

Denn gerade die Hauptsache Zudem man dem Kinde zu üppige Nahrung

gab, wurde es zu einer überfüllten Blüthe getrieben, als sey

es nur zur Schönheit für den Maler bestimmt, und darum

mußte es nachmals in einen schmächtigen Zustand zurückfal­ len." — Da nun die Fäden der leiblichen und geistigen Ent­ wicklung so eng verwebt sind, setzte der Pädagoge hinzu, so sehe ich wohl, wie viel ich bis jetzt unbeachtet gelassen.

Seeleuheilung. — „Ja, liebster Freund, die Unarten der Kinder sind eS, was Zhnen eigentlich zu schaffen macht, wie dem Arzt die

Krankheiten; denn was diese sind, das sind auch jene.

Wä­

ren sie nicht in der Welt, so hätten wir beide nur den schö­

nen Beruf Gärtner zu seyn." — Also muß mir Ihre Heil­ kunde helfen. — „Wir gehen Hand in Hand, wie eben jetzt

auf diesem Spaziergang.

viel zu überlassen.

Aber ich warne Sie, mir nicht zu

Zwar kommt der Fall, daß durch ein

Wurmmittel auch Trägheit, Verdrießlichkeit und vielleicht noch schlimmere Unarten ausgetrieben werden; auch wird Zhnen mein guter Rath dienen,

das Kind nicht gerade zu reizen,

wenn sein leerer Magen etwas verlangt.

Aber ein LSrech«

44 mittel in die Näscherei geben, Welche das lüsterne Kind heim­

lich wegnehmrn soll, oder daS Mittel der Znckerbäcker verord­ nen, daß es wohl Tage lang nichts als solche Süßigkeiten

essen muß, das werden Sie keinem Arzte zumuthen.

Rat­

ten- und Mäusegift legen wir nicht und haben auch nichts mit Zaubertrankchen zu thun, um den Kopf aufzuräumen." —

Behüte! dergleichen lose Künste muthet sich selbst kein Erzie­

her zu.

Aber sollte nicht doch öfter, als es vielleicht geschieht,

durch physische Mittel die Seele geheilt werden? — „Das

läugne ich Ihnen gar nicht ab.

Das geschieht auch allerdings

wo man in dem Unterleib, in den Nerven u. s. w. den bösen Feind angreifen muß; und so kann man auch manche Unart des Kindes in diesen bei manchen Seelenkrankheiten,

Sipe» verfolgen. Allein ich bin nicht der Meinung, daß das so oft, wie man meint, der richtige Weg sey. Wahr ist es

auch, daß manchmal dem Arzt die Initiative gebührt, aber dann muß er den Freund Seelsorger cintreten lassen, und je nach Umständen ihm den Patienten allein übergeben, oder mit ihm gemeinsam heilen. Das letztere sinden Sie anwendbar bei

dem Schielen des Kindes, bei dem nächtlichen Bettbenetzen, auch bei der sonderbaren Erscheinung, wenn ein Kind in sei, nein Eigensinn sogar ohne Speise verharrt. Nur muß überall

die Geistesmacht als die oberste beachtet werden." — Aber wo ist die Gränze? — „Schwer genug ist sie zu treffen, doch nicht unmöglich. Sie würden einen beabsichtigten Selbstmord mit allen physischen Mitteln verhindern, gesetzt auch, Sie müß­ ten den, der damit umgeht, einsperren und binden: aber wür­

den Sie denn auch den, welcher den schleichenden Selbstmord in seiner geheimen Selbstschändung begeht, etwa castriren las­ sen? vielleicht kaum infibuliren. ES gibt da einen gewissen Takt, der uns in dem vorkommenden Fall die Gränze treffen läßt." Wie erwirbt man sich diesen Takt? — „Durch das­ selbe Mittel, womit man Andre heilt.

Von dem ernsten Wil­

len, von der sittlichen Gesinnung muß jede Seelenheilung aus­ gehen, sonst ist sie nicht viel besser als Seelentödtung." — Sie sagen viel, Freund, — „Vor allem: Arzt hilf dir selber."

42 Was muß der Heilkuudige wissen? Dieses letzte Geständniß war bei dem nächsten Spazier­

gang wieder das erste. „Und was uns Doctoren, Naturfor­ scher, Philosophen, Erzieher — was uns, die stolzen Men­ schenkinder, alle betrifft, so sind wir eitel arme Sünder." —

Und wissen gar nicht viel, wie unser schlichter Claudius auS

unserer Seele spricht, fuhr der Pädagoge mit den übrigen Zei­ len dieses Verses fort.

Wie wenig kenne ich noch das Kind!

wie wenig den Weg, der der richtige ist! — „Lassen Sie uns

das nicht bloß von uns persönlich bekennen, sondern auch von

unserer Wissenschaft und Kunst.

Ueberall steht sie noch im

Anfang." — Mit solcher Demuth kommt man jedoch wei­

ter. — „Aber nicht in der Welt; ihr Pädagogen so wenig als wir Medieiner. Die Welt liebt das Ihre, Schein, Ei­ telkeiten, Charlatanerien. Wenn nun gar der Arzt bei dem

kranken Kinde, statt es reichlich mit Arzneien zu mishandeln, vielmehr, wie er sollte, sich nach der Natur, Lebensweise, auch den Zllgendsünden der Eltern erkundigte, so würden sie ihn bald verabschieden." — Da müßte denn, auch der Erzieher

billig die schlechten Sitten der Eltern erkunden, um die ange­ erbten, oder eingcimpften, oder angewöhnten Unarten des lie­

ben Söhnchens oder Töchterchens zu erkennen — welcher Va­ ter würde da Beichte sitzen ? und — „Der Vater dieses Hauses gewiß," fiel der Arzt ein; „aber welche Mutter? wollten Sie

weiter fragen, da stünde es schon um das Fragen mislicher. Vielleicht ist das auch für das aufmerksame Erzicherauge nicht einmal nöthig." — Und wie umfassend muß zugleich, wie der Pädagoge urtheilte, der Blick seyn, welcher nichts aus dem Zusammenhang der Dinge herausreißen darf, das Kind schon

in seinen Eltern, diese in dem Geiste ihrer Zeit, und diesen wieder in dem großen Ganzen erkennen soll und hiernach erst

zur Heilung

Aerzte;

schreiten

kann. — „Ebendas sagen auch wir

die einzelne Erscheinung wird nicht ohne die vorher­

gehenden und begleitenden verstanden. ziur das augenblickliche Uebel, utti

Sonst vertreibt man

ein anderes hercinzuzie-

45 hm. — Nun, das ist auch schon längst dm Pädagogen an­

gedeutet worden, daß sie nicht einen Dämon durch dm andern

austreibm, wenn sie meinen, eine radikale Cur gegen eine Unart anzuwmden, die derm doch am Ende nur eine pallia­ tive ist, so daß er bald mit sieben andern wiederkommt. — Wissen Sie wohl, mein Freund, daß Sie da vor einem Raturgeheimniß stehen?

Darüber sprechen wir nächstens."

Magnetismus. Der Arzt schickte ihm mittlerweile einige Schriften über dm Magnetismus. Der Pädagoge hatte längst gewünscht,

einige Belehrungen darüber zu erhalten, und diese erhielt er auch wirklich, so daß er zu einigem Urtheile über diese ge­ heime Naturkraft gelangte, sowohl nach ihrer metallischen, als nach ihrer animalischen Richtung hin, auch mit Hindeutung

auf die Elektricität.

Er fand auch bald, daß man dabei ge­

gen jede Voreiligkeit sowohl der Phantasie als der Praxis seyn müsse, wozu uns eben immer gerne das Helldunkel versuche.

Bei den geheimen Mächten ist es, wie der gemeine Mann zu sagen pflegt, nicht recht geheuer. Wenn auch irgend einmal eine magnetische Cur geholfen hat, und manche Hellseherin sich selbst ihre Heilung vorschrieb, so sey die größte Sorgfalt

nöthig, daß der Arzt weder dem Sonnengeflechte, noch den geheimen Neigungen zu viel einräume.

Die Willensmacht

des Menschen dürfe da nicht unterliegen, der Tellurismus ziehe die niedere Natur zur Thicrheit herab.

Die Anhänglichkeit

des Hundes, und überhaupt, was wir Instinkt nennen, möchte

wohl etwas Magnetisches seyn.

Man will in der neuestm

Zeit bei dem unglücklichen Hauser die Beobachtung von einem magnetischen Gefühl gemacht haben, als er noch in seinem rohesten Zustande gleichsam nur vegetirte.

Vieles könnte man

wohl noch hieraus erklären, das wir noch nicht psychologisch

im Reinen haben, manche Erscheinungen unter wilden Völ­ kern, auch wohl die Liebe zu den heimischen Bergen, die Macht

der Sitte, den Nachahmungstrieb — wenigstens kann der Magnetismus in allem diesem zugleich mit andern Ursachen

44 einwirken.

Sc:lbft unter cultivirten Völkern finden sich manche

Tollheiten, die du:rch eine Art von Ansteckung Mehrere ergrei­ fen.

Das Tamzsteber der Tarantella in Neapel, die Verzückun­

gen einst in dem Sevennen, die Convnlsionnairs im Anfang des 18ten Jahrhunder ts zu Paris, die Jumpers in Cornwall, und insbesondere in Nordamerika gewisse Religionsversammlungen,

wo selbst die fremden Zuschauer am Ende nicht widerstehen können, und Tomsende wie durch Oberons Horn in den wun­

derlichsten Bewegungen herumgetrieben werden. Gibt es nun einen so überwach tigen Naturzug, so bewahre man die Zei­ gend vor Gesellschaften, die schon einen physisch schlimmen Ein­ fluß haben. So verbieten die Aerzte das Zusammenseyn ge­

sunder Kinder miit epileptischen; und wir wissen, daß auch geringere Krampfiibei für Mädchen ansteckend waren. Haben nicht ost selbst für die besseren Jünglinge Spiel- und Trink­

gelage und Tanzb-rlusiigungen etwas Hinreißendes? Das alles weist darauf hin, daß in der Erziehung dieses Physische be, rücksichtigt werbe, indem man das Kind nur mit edler Gesell­ schaft umgibt, mit welcher es sympathisiern lernt, und daß man es nicht mit Personen verbindet, gegen welche es eine Anti­ pathie hat. Der Gärtner gesellt nur diejenigen Pflanzen zusam­

men, welche sich b egünstigen, und auch die Thierwelt stellt uns das Bild hiervon stuf, und meist ein warnendes Bild. Wenn sich Thiere suchen oder fliehen, zusammenhalten oder verfol­ gen, und oft bas eine das Leben des andern in das seinige

verschlingt, so erinnert das an die thierische Natur des Men­ schen, welche mwi nicht aufregen, sondern für die Menschlichlichkeit beherrsch,en soll. Allerdings ist auch in dem Thierischen

manches, das den höheren Zug hervorruft. Das Küchlein unter der Gluckhenne deutet auf die mütterliche Wärme, welche in der vernüuftiigein Liebe waltet; daS Kind soll in diesem hö­ heren Zuge gedeih,en.

Lasset in der ganzen Familie die Liebe

walten, so wir!» auch das niedere Leben emporgehoben, und

daS fühlt jeder, ber in einen solchen Kreis eintritt.

Das ist

der rechte Magnetismus. — So kam der Pädagoge nach die­ sem Studium d>ar,auf zurück, daß man von dem Thierischen

43 wohl einen ärztlichen Gebrauch machen möge, aber der Erzie­ her habe nur gegen den schlimmen Einfluß desselben zu wa­ chen, den besseren aber in der veredelten Sympathie ju be­ günstige».

Sittliche Auzichuugs- und Bildungskraft. Die beiden Freunde dachten bei diesen Betrachtungen an

das glückliche Haus, worin sie lebten; denn da wurde der ge­ heime Zug,, der alle Glieder zusammen verband, überall ge­ fühlt. Man befand sich frei, und doch von gemeinsamer Ach­ tung und Liebe so angenehm an einander gebunden, daß jedes

dein andern mit zarlsimiiger Aufmerksamkeit zuvorkam.

Die

Zöglinge schlossen sich mit jedem Tage vertrauensvoller an ih­

ren Führer an.

Der Arzt nannte dieses Zusammenleben zum Scherz ein magnetisches Baquet. So wie die gegenseitige

Wahl der Ehegatten solchen Zug vorausseßen soll, so ist er auch bei der Wahl eines Hauslehrers nöthig.

Sieht man

dagegen, wie sie gewöhnlich vorgenommen wird, durch fremde Enrpfehlungen, oder durch ein sich selbst empfehlendes Aeußere, so wird man sich nicht wundern, wenn die Sache so oft mislingt.

Da tritt ein junger Weltmensch ein, äußerlich geschlif­

fen, aber seine Artigkeiten werden bald zum Ueberdruß, und

Dagegen sehen wir manch­ mal einen linkischen, oder ungehobekten jungen Mana eine Hauölehrerstelle übernehmen, er hat aber einen tüchtigen es wird von ihm wenig geleistet.

Kern in sich, und in dem edlen Tone der Familie streift sich die rauhe Schale allmählig ab. Vornehmlich möchte ich, setzte der Arzt hinzu, in jeder Schule so ein Baquet sehen, wo der

Lehrer den Ungestümere» der Knaben, zu calmiren, und alle ge­ wissermaßen moralisch zu magnetlsiren versteht. Dieser stille Zug vermag mehr als alles Moralisiren. Wenn das Tadeln,

Loben, Ermahne.» meist über den eigentlichen Lebcnspunct hin­ weggleitet, so zieht das Borangchen von seines Gleichen den Schüler nach.

Hierdurch bildet sich der gute Ton in einer

Anstalt, welcher auf jeden Neueintretenden mächtig fortwirkt. Wir kirnten eine solche Anstalt für Töchtererziehung.

Die

46 Vorsteherin sprach wenig mit Worten, sie ging in ruhiger Thä­

tigkeit unter ihren Zöglingen herum, oder saß in ihrem Kreise

immer herzlich, frohsinnig, gegen alle gleich liebevoll; und so zog sie die Herzen ihrer Mädchen so an das ihrige, daß kei­

nes etwas für sich behalten konnte, das eS nicht der mütter­

lichen Freundin vertrauensvoll eröffnet hätte; jedes hing mit

ganzer Seele an ihren Blicken. So bildete sie schon durch ihr bloßes Daseyn, wie die Sonne in ihrem Blumengarten. Warum verstehen sich so'wenige auf dieses Geheimniß der Er­ ziehung? fragte der Pädagoge seinen Freund, Und dieser erwie­

derte natürlich:

„Eben weil es ein Geheimniß ist, das nicht

jedem aufgeschlossen wird."

Das Mittel hierzu. „Den Schlüssel finden Sie leicht," sagte der Arzt, „und Sie haben-ihn schon; es ist der ernste Wille. Der ernste, sage

ich, nicht der strenge, setze vielmehr hinzu, der liebevolle. Man weiß ja, was der bei einer starken

Seele über Nerven, hy­ pochondrische und hysterische Anfälle, selbst über Schmerzen vermag^ Es.gibt einen Stoicismus, den wir sehr in Ehren halten müssen. "Sie kennen, Freund, meine Klagen über jene allzugksälligen Aerzte, welche Frauen und Kindern in ihren krankhaften Gefühlen nachzugebcn pflegen und sie so zu Sclaveo. ihres. Leichnams machen^ Nein, der Mensch ist zur Selbst­

macht bestimmt; das ist das wahre Selbstmagnetisiren. Dazu

halten.Me .Ihre Zöglinge an, und Sie werden Freude haben. Und wollen Sie sie gegen- den ewig gereizten Zustand unserer

Cultur noch von einer ander», Seite sichern,-so geben Sie ihnen Hacke und.Spate, daß sie' dieErde umwühten; ja- gehe» Sie

selbst manchmal von Zhreyl Studirzimmer in den Garten zu solcher Arbeit.

Dieser Tellarismus schadet nichts. Unsere Cul­

tur hat uns viel zu sehr von dem nächsten Umgang mit der Mutter Erde getrennt.

Auf dem Ackerfeldr wäre sogar eine

Annäherung der höheren Stände an die niederen wünschenS-

werth.

Ehre einem Cincinnatus!

Wer weiß, ob nicht eine

solche Zdee aus alter Zeit noch in jener heiligen Sitte in

47 China nachtönt, da der Kaiser selbst mit dem Pfluge die Land­ arbeit des Jahres eröffnen muß. Das alles ist gut, aber ohne jene Liebe werden wir Nicht unsern Zweck erreichen, weder bei

den Zöglingen, noch bei uns selbst, woraus doch am Ende unsere Wirksamkeit ihren Segen empfängt.

Was aber daS

ist, das uns also kräftigt, ba6 wissen Sie ebenfalls, und hof­ fentlich aus eigner Erfahrung." — Sie meinen den Umgang mit Gott, und lassen Sie mich noch ausdrücklich sagen: ein

himmelandringendes Gebet vermag auch in der Erziehung viel.

Homöopathie. Bon der magnetischen Heilungsweise kam die Unterhal­ tung auf die homoopaihische. Der Arzt gab seinem Freund

die Schriften des Erfinders selbst zu lesen, und P. gestand

ihm zu, daß er zwar den einen Hauptpunct, die große Wirk­ samkeit des llnendlichkleinen, allenfalls begreife, iiel weniger

aber den andern, die Heilung des Uebels durch Gleichartiges, Denn der erstere werde durch tausend Erfahrungen bestätigt. Der- Stich eines- kleinen Znsects kann Entzündung verursachen;

Skorpionstich, Schlangenbiß, sogar das Auge mancher- Schlan­

gen haben ost daS Schlimmste zur Folge.

Die Zunge wird

von etwas Widrigem berührt, und Ekel entsteht bis zum Er­ brechen, Die Düfte der Blumen sprechen ebenfalls für die weit reichende und anhaltende Wirkung, die doch nur, sey es nun

von unendlich kleinen Atomen oder von einer bloßen Thätig­ keit ausgeht; hierzu der Moschus, der Kampher, -und wie vie­ les in der Natur, wo man nicht einmal an Theilchen denken kann, und waS doch langehin wirksam ist.- Wollte man noch an Andres in der Ratnr und dem Menschenleben deüstn, so

ist ja jeder Keim, aus dem Großes erwächst, in seinem Be­

ginnen unendlich'klein; ein Funke zündet einen Wald an, eine FingerbewegüNg zerstört das Leben von Menschen und zernichtet Städte, und ein Wort setzt Tausende in die Bewegung zu

solchem Unheil, oder bringt auch Heil unter ganze Völker. — „Also nur daS Gleichartige macht Ihnen noch zu schaffend" fragte der Arzt. „Run, Sie werden auch das begreifen, wenn

48 ich Ihnen sage, daß das Uebel durch dasselbe in seiner Wurzel erfaßt wird, in dem tiefsten Lebenspunct, wo eS begonnen und die Lebensthätigkeit von der gesunden Richtung abgelenkt hat.

Daß man ihm gerade da beikommen müsse, um das Gleich­ gewicht wieder herzustellen, werden Sie vernünftig finden. Aber eben darum wird das homöopathische Arzneimittel so klein wie möglich gegeben, damit eS zwar dasselbe Krankheitsübel, wel­ ches schon da ist, nochmals, errege, aber so schwach, daß dir

noch vorhandene Naturkraft im Stande ist, dieses Uebel zu besiegen. Zudem man nun so fortfährt und mit dem Mittel

steigt, so ruft man auch die gesunde Kraft zu größerer Stärke hervor.

"So steigert sich im stetigen.Fortschritt diese Kraft bis

zur völligen Wiederherstellung." — Der Pädagoge fand jedoch noch manches gegen diese Meinung einzuwenden und meinte, die Allövpathie. oder vielmehr Enantiopathie gebrauche eigent­ lich diejenigen Mittel, welche die krankhafte Richtung geradezu

aufheben, und diese müßten doch wohl die kräftigsten seyn.— „Wenn sie nur auch die sichersten wären!" erwiederte der Arzt, „aber sie schaffen ja auch eine neue Krankheit, denn jede Arznei

bringt etwas Krankhaftes int gesunden Leibe hervor, und da­

her kann kein Arzt für die günstige Wirkung eines solchen Mit­ tels bürgen. Die homöopathischen lassen in ihrer so kleinen Ga.be wenigstens nicht das besorgen." — Aber gießen Sie damit nicht Del ins Feuer, das man mit Wasser löschen sollte? Den lärmenden Schulknaben gibt man wenigstens feine Trom­ mel, und der kleinen Räscherin legt man kein Bonbon hin. — „Damit widerlegen wir daS noch nicht, daß man durch Gleich­ artiges- heile," entgegnete der Arzt, „denn man verlangt da auch die Auswahl des rechten Mittels, eine enthaltsame Diät, und viele Vorsicht.

Ueberhaupt aber ist die Homöopathie noch

in ihrer Unvollkommenheit, und

ich z. B. setze die bisherige

entgegengesetzte Heilart nicht so geradehin auf die Seite. Dar­ um rathe ich Ihnen, daß Sie sich nicht in diese Theorieen

vertiefen, es gilt Ihnen ja doch nur um das, was sich davon auf die Erziehung anwenden läßt."

49 Pädagogische Anwendung. Es ist wahr, wiederholte sich der Pädagoge, dis Kleinste

wirkt oft daS Größte, und wußten wir das Kleine in der Er­ ziehung nur recht zu treffen, so könnten wir auch Großes aus­ richten.

Wenn dem Nachtwandler sein Name ins Ohr dringt,

so erwacht er plötzlich zur Besinnung: rufe man dem Züng-

ling, der auf einem Irrwege begriffen ist, nur auch zur rech­ ten Stunde das rechte Wort in die Seele, und er wird sich besinnen und umkehren.

Der Blick eines Auges kann Liebe oder Zorn entzünden: so mögen denn aus deinem Auge nur

solche Blicke ansgehen, welche so in das Herz des Kindes drin­ gen, daß es das Gute lieben, das Böse verabscheuen lerne. O, ihr Mütter, was könntet ihr schon dadurch für euer Kind seyn! ihr könntet ihm seinen Schutzengel in die Seele rufen, der es sein ganzes Leben hindurch nicht verließe.

Denn der

Eindruck in dem ersten Erwachen tönt immer fort. Oft hat schon ein Schreck, in der Kindheit empfangen, unaustilgbar bis ins Alter fortgezittert. So sind aber auch die frommen Gefühle, die in den ersten Lebensjahren gepflanzt wurden, ein

Segen für alle künftigen Jahre geworden. Ein ernster Blick der Mutter brachte noch gestern die beiden Kinder, die sich im Spielen vergessen hatten, alsobald an ihre Arbeit. Diese Seite der Homöopathie bestätigt mir, was ich immer wollte, im

Kleinen dem liebel zuvorzukommen, und besser das Samen­

korn als das ganze Gewächs in die Seele zu pflanzen. Aber wie die Unarten durch Gleichartiges zu heilen seyen, das will

mir nicht in den Sinn.

Was sollte man denn da z. B. bei

dem eigensinnigen Kinde thun? — Der Arzt, dem P. diese

Bedenklichkeiten nicht vorenthielt, erinnerte ihn daran, daß gerade die Heilung des Eigenwillens ganz homöopathisch sey, denn da setze der Erzieher seinen Willen dem Willen des ei­

gensinnigen Knaben geradezu entgegen. Er wende also etwas Gleichartiges als Mittel an. Das Gemeinsame in beiden sey

nämlich der Wille; durch den entgegengesetzten werde der Wille des Zöglings gebrochen und dann in den Erzieherwillen Hin-

Schwarz: Darstell, a. d. Gebiete d. C>;ich.

4

50 aufgehoben. „Der Erzieher läßt die lleberlegcnhcit seines Wil­ lens dem kleinen Trotzkopf fühlen, und dieser wird durch das

Gefühl seiner Schwäche au einen höheren Willen erinnert, dem

er sich unterwerfen soll.

Dieser höhere Wille ist das Gesetz,

und das Gefühl für dasselbe das sittliche, so wird denn die­

ses durch solche Heilart erregt, und hiermit die moralische Ge­

sundheit wieder hergestellt. Wenigstens ist diese Heilart die sicherste. Denn, welche Sie auch sonst anwcndcn mögen, Stra­ fen aller Art — sie werden nur erbittern, auch wohl den

Widerstand bezwingen und höchstens aus dem Kögiing einen willenlosen Sclaven machen, nicht aber ihn bessern, wozu der freie

Entschluß erfordert wird.

Dieser aber wird nur aus dem

tiefsten Lebcnspunct hervorgerufen, und bis dahin dringt eben

jenes homöopathische Heilmittel." — Glauben Sie denn nicht, entgegnete der Pädagoge, daß Vorstellungen und Beweggründe

eben so sicher wirkens — „Wenn Sie wirken; das werden Sie aber in den meisten Fällen bei dem Eigensinnigen gewiß nicht, es sey beim, daß Sie ihn auf irgend eine Weise beste­ chen, also in-sgeheim ihm doch seinen Willen thun, und dann ist der ganze Gehorsam nur eine Schauspielerei." — Ich würde es auch nur vorerst so versuchen, fuhr jener fort, und so wie ich diesen Schlangengang bei ihm bemerkte, mich wohl hüten, sei­ ner Schlauheit mich hinzugeben. Aber es gibt ja daun auch noch das andere Mittel, daß man kurz und gut auf das ei­

gensinnige Verlangen gar nicht achtet und also das Kind daran gewöhnt, daß es damit nichts ausrichtet, überhaupt es an Gehorsam gewöhnt. — „Recht gut, und Gewöhnung ist die andere Natur. Aber was nennen Sie z. B. Gewöhnung

zum Gehorsam?

Doch nicht ein Austreiben der Natur, die

dann doch wiederkehrt, wie bei der Katze, die man schon meinte mit dem Vogel befreundet zu haben? Gut gewöhnt, ist eine

herrliche Sache in der Erziehung; halten Sie nur in allem recht darauf, aber ich meine, wir reden hier von etwas An­ derem, von Heilung einer bösen Gewohnheit." — Allerdings,

und zwar von einer homöopathischen Heilung, und gegen diese

wollte ich eigentlich meine Zweifel richten, wenigstens was

M jenen Fall betrifft, gegen diesen Namen. Denn bas Heilmit­ tel, welches Sie gegen den Eigenwillen verordnet haben, und das man gewiß als das beste anerkennen muß, ist ja nicht etwas Gleichartiges mit dem kranken Willen, sondern vielmehr mit dem gesunden Wille»; es heilt durch Festhalten an das Gesetz. — „Ganz richtig heilt es so, aber faßen Sie nur den Punct in das Auge, durch welchen eS hindurchgeht, so finden Sie auch jenes andere Gleichartige. Haben wir denn nicht durch unsern Widerstand vorerst den Eigensinn herausgefor­ dert und so zu sagen den Zögling eigensinniger gemacht l Das haben wir aber gerade so gethan, daß er sich recht un­ behaglich dabei fühlte und zu der Besinnung kam, die ihm nöthig war, imi das Bessere, den Gehorsam, freiwillig zu er­ wählen." — Diese Erklärung befriedigt mich, erwiederte dank­ bar der Pädagoge, und sie gibt mir auch noch etwas weiter zu denken mit für morgen. Wie weit geht sie?

Das wurde denn auch am folgenden Tage weiter bespro­ chen. Der Pädagoge hatte diese Heilart für den Zweck der Erziehung sehr angemessen gefunden. Auch der Keim aller moralischen Krankheiten, meinte er, sey auf diesem Wege zu erfassen, indem man das Kind das Armselige seines niedern Selbst recht fühlen lasse, damit das Gefühl des höhern Selbst erwache und jenes niederschlage. So lasse sich sogar die schon verhärtete Selbstsucht besiegen und vielleicht in Selbstbeherr­ schung umwandeln, in welcher der innere Lichtmensch dem Er­ zielter die Hand reicht, um ganz heraus zu treten. Da wird denn auch die natürliche Anlage von Festigkeit zur Charakter­ stärke für das Gute erhoben. Selbst wenn sich schon Haß gegen eine Person in der Kindesseele angesetzt habe, so lasse sich dieser in einen Abscheu gegen das Böse an sich ablenken, soferne man nur die rechte Weise ausstudire, um bis auf die Wurzel einzudringen. Das könnten die Mütter am besten verstehen, denn sie wüßten dem Kinde Abscheu gegen dieses und jenes einzuflößcn, warum nicht auch gegen das Niedere 4»

32 und Böse, mit einem Bedauern der Personen, welche es an sich haben? So lasse sich auch die natürliche Furcht in die Scheu vor bösen Regungen und Handlungen verbessern. Es sey hiermit ein Weg entdeckt, wenn gleich noch nicht ganz untersucht, der die Heilung jeder Unart hoffen lasse. Wenn das die Homöopathie in der Erziehung heißen könne, so könne man sie als einen der erfreulichsten Fortschritte nur preißen. — „Besonders wenn Sie noch einen dritten Hauptpunct in jener Heilart erwägen," erinnerte der Arzt, „den Sie noch ganz über­ sehen haben, die Enthaltsamkeit von allen Reizmitteln, die Einfachheit in der Lebcnsordnung. Unterwerfen Sie den sitt­ lich kranken jungen Menschen während seiner Eur einer sittlich diätetischen Lebensweise, so wird sein innerer Mensch, der zur Ausgeburt strebt, desto leichter eine Hülle durchbrechen, welche von selbst hinwelkt, weil sie keine Nahrung erhält." — Alles recht gut, erwiederte der Pädagoge, aber gestehen muß ich im­ mer noch, daß ich das nicht so ganz in dieser Heilart finde, was ich mir unter homöopathisch aus den mitgetheilten Schrif­ ten gedacht habe. Da schien es mir vielmehr darin zu liegen, daß man dem verdorbenen Sinne nachgäbe und sich gewisser­ maßen dem unartigen Kinde gleichsteilte, oder sich dem auf schlechten Weg gerathenen Jüngling zugesellte. So wie man das Volk gewinnt, wenn man Anfangs seinen Vorurtheilen beistimmt, so könnte der Erzieher vorerst das Zutrauen des Zöglings gewinnen, und dann hat er auch bald sein Herz in seiner Gewalt. — .,,Eine Schauspielerei," entgegnete der Freund, „die sich weder mit der väterlichen Aufrichtigkeit verträgt, noch auf einen guten Erfolg hoffen läßt." — Ich könnte freilich so was auch nicht einmal über mich gewinnen, aber ich denke da an die Ironie eines Sokrates. — „Diese, Freund, ist etwas anderes, das werden Sie bald selbst finden." — Aber misbilligeu Sie denn auch das Verfahren eines berühmten Dichters, der sich einst als Führer eines Prinzen auch dadurch genial zeigte? Er machte seine muthwiiligen Streiche mit, und so wie er sich d adurch mit dem Jüngling zu einem Trei­ ben verband, so verband sich dieser auch mit seinem Führer

33 zu einer, und zwar vernünftigen Lebensweise und ergab sich ganz seiner Leitung. — „Eine heroische Cur der Homöopa­

thie, ein Wagestück, das ich keinem rathen würde!

Aber auch

daS war bei jenem vorzüglichen Geiste etwas anderes. Bei dieser Ironie mochte sogar das Wohlwollen noch sichtbarer seyn, als dort bei der sokratischen, wo es auch freilich gegen

die Sophisten nicht so groß seyn konnte. Es ist nämlich die Freundlichkeit des Gemüths, welche überall erscheinen muß, wo man heilen will. Darin lassen es die Erzieher, ja noch mehr die Väter und am meisten die Mütter fehlen.

Sie zanken

und strafen im Aerger und Verdruß, und gerade damit reißen

sie das Kindesherz von dem ihrigen los, wenn es etwa noch mit manchem Faden an das ihrige befestigt war. So geht

es von einem Tage zum andern, und die Antipathie des Kin­

des wird mit jedem verstärkt.

Sehen Sie sich nur in den

Häusern um, Freund, wo Sie störrische Kinder finden; Sie finden da in der Regel auch störrische Alte. Gesetzt auch, cs

seyen sittlich strenge Eltern, gerade diese sind in ihrer Behand­

lung der Kinder am ersten abstoßend, und indem sie meinen, die sittlichen Maximen zu befolgen, sind sie vielleicht aus der sittlichen Grundmaxime ganz herausgefallen, welche von ihnen verlangt hätte, sich mit Liebe in die Seele des Kindes hinein» zudenken. Daß die strengen Väter auf solche Weise schlechte

Erzieher ihrer Kinder sind, ist eine bekannte Erfahrung, daß aber die Mütter, welche dann gerade neben solchen Vätern sich zur größeren Nachgiebigkeit berechtigt halten, dennoch ebenfalls das Herz des Kindes abstoßen, wird gewöhnlich weniger be­

achtet, und doch ist es eine sehr natürliche Erscheinung. Denn eben die Mutter ist es, von welcher die Natur selbst jene Selbst-

verläugnung vorzugsweise verlangt, womit sie an ihrem un­ glücklichen Kinde Theil nehmen soll.

Ilnd glauben Sie mir,

jedes Kind fühlt das augenblicklich, wenn die Mutter nur aus

Egoismus Theil nimmt.

O, es ließe sich viel darin gegen Auch möchte man da in das Politische abschweifen. Die wilden Ausbrüche der Völ­ Mütter, Väter und Lehrer klagen.

ker — wie sehr erinnern sie daran, daß doch alle diejenigen,

54 welche die Gesetze in einem Staate verwalten, von jenem Wohlwollen beseelt seyen, welches sich auch in der Anwendung der Strenge nicht verbirgt, und welches allerdings auch der Person, die in dem Namen des Gesetzes steht, eigen seyn soll. Das erwirbt ihr dann auch in der Regel Achtung, Liebe und Gehorsam. — Wollen Sie das auch auf wissenschaftliches Streiten anwenden, so werden Sie ebenfalls den Grund fin­ den, warum die Wahrheit durch das Disputiren wenig ge­ winnt!"

Das Wese» dieser Wirksamkeit. Nunmehr begriff P. das Lob, welches sein Freund dieser Heilart beilegte, auch für den pädagogischen Zweck. Er glaubte, jetzt ganz zu verstehen, was er untit Homöopathie meine. Es ist ja, fand er, die Theilnahme des Heilenden an dem Er­ krankten in einer solchen Weise, daß zugleich das Persönliche des ersteren wirkt, und in dem Persönlichen das Wirksamste, das sich auf der Erde und in dem Himmel findet, die Liebe selbst, versteht sich in ihrem reinsten Wesen. Auf das Kind hat sie einen physischen, psychischen und pneumatischen Einfluß zugleich, denn Leib, Seele, Geist, d. h. der ganze Mensch, wird da in seiner Einheit für seine Besserung behandelt, so wie eS ja seyn soll. Schon das kleine Kind hält ter Natur nach das für gut, was die Mutter mit Freundlichkeit ansieht, und verabscheut das, wozu sie eine widrige Miene macht. Das ist sogar der Weg, wie Glaube oder Aberglaube, Sittliches und Unsittliches, Wahrheitsliebe und Vorurtheil auf Geschlech­ ter und Völker forterben. Ist es nun jene höhere Natur, welche die Mutter leitet, daß sie in Wort, Ton, Wink das Rechte treffe, wo sie ihrem Kinde gebieten und verbieten muß, so wird dieses höchste Mütterliche auch in die Seele des Kin­ des als ein Theil seines Wesens ausgenommen, und im Au­ genblick, wo sich hier die bösartige Neigung entgegenzusetzcn versucht, wird sie auch schon durch jene höhere Lebenskraft nie­ dergeschlagen, und das Bessere siegt. Sollte es sich nicht überall mir der Besserung so verhaltens Setzt der Arzt, der sie im

Sittliche» bewirken will, sey es nun bei der Jugend, oder bei

Erwachsenen, Selbstsucht der Selbstsucht entgegen, dann ver­ stärkt er nur die Krankheit, läßt er aber seine edle Theilnahme in

dem strengen, aber wohl abgemessenen Reizmittel empfinden, so kann er die Genesung von dem innersten Lcbensprincip er­ warten, wenn es anders nicht ganz erloschen ist. — Als P.

diese Gedanken seinem Freunde mittheilte, Lob von diesem seinem Lehrer.

erhielten sie das

„Ich will Ihnen," sagte die­

ser, „solches pädagogische Einwirken in die Worte übersetzen, wie diejenigen sagen würden, die da meinen, das Wort sey die Kraft:

Du willst ja doch ein gutes Kind seyn, so folge

mir denn auch; du willst ein guter Knabe sevn und ein bra­ ver Mann werden, so folge nur dem, was Eltern und Lebrer

dir vorschreiben; erkenne, o Jugend, die du dich zum Edelsten

bilden willst, den heiligen Willen, der aus deinen Führern zu dir spricht, und nimm ihn ganz in dein Herz auf. Solcher Worte sind ganze Bücher voll, aber was sollen Reflexionen über etwas, das der Zögling noch nicht kennt?

Besser der

lebendige Einfluß, und diesen haben Sie meines Erachtens ganz richtig in jener Heilart gedacht." — Sie würden also,

erwiederte der Pädagoge, hiermit doch nicht die lange Reihe der Erziehungsregeln verwerfen, die man gewöhnlich in den

Lehrbüchern findet, nur verlangen Sie, daß auch dieser Buch­

stabe geistiges Leben in dem Erzieher werden müsse. — „Las­

sen Sie mich das fortsetzrn," fiel der Arzt ein, „weil Sie doch von Recepten reden, denn nichts anderes sind jene Re­ geln mit allem, was dabei oft breit genug gesagt wird, z. B.

halte das Kind reinlich, gewöhne cs zur Ordnung, gib seinen wo es ihm an Willenskraft

Entschuldigungen nichts nach,

fehlte, mache ihm Einfachheit in Speise, Trank u. s. w. und

Anstrengung zur Gewohnheit, und dergleichen mehr bis ins Unendliche. Wozu das alles, wenn man es nicht anzuwenden weiß? Anwenden kann aber alle diese recht guten Vorschrif­

ten und wird sie richtig anwenden nur der, welcher den tief­ sten Grund der bildenden Lebenskraft in dem jungen Menscherr

rfaßt hat, den er bilden und heilen will; erfassen kann er sie

36 aber nur dadurch, daß er sie in sich selbst hat — nun fahren Sie, Freund, in meiner Rede weiter fort." — Das ist die Liebe, fuhr dieser augenblicklich fort, nämlich die wahre, die auch strafen kann. lind so sind wir denn auf demselben Punct

angelangt, wo schon früher. Unser magnetisches und homöo­ pathisches Heilen ist in der Wurzel eins, denn es ist die sitt­ liche Kraft des Erziehers. „Also," setzte der Freund hinzu, „gilt

auch hier, wie billig: Arzt, hilf dir selber."

Nur nicht zu sichere Hoffnung. Wir sind also in Vielem mit Euch Aerzten zu verglei­

chen, bemerkte der Pädagoge, sollten wir denn auch nicht so gut wie Ihr die Heilung von dieser oder jener moralischen

Krankheit vorausschen, ja auf den Tag bestimmen können? — „Das wären dann wahre Heiligentage in dem Hatiskalender," erwiederte jener, „aber wie wollen Sie die berechnen?" — Zeh dächte, wo man den Fortschritt im Kleinen sicht, da hat

man auch schon das mathematische Gesetz, wie er weiter er­ folgt; so wie man die weite Kometenbahn aus der kleinen

beobachteten Strecke auf das Genaueste ausmißt. — „Sie wissen doch," erinnerte der Freund, „daß auch selbst die Him­ melskörper Perturbationen und dergleichen in ihrer gemessenen Bahn erfahren, wie vielmehr die menschlichen Kräfte in ihrer Entwicklungszeit. Dafür läßt sich kein Differential crsinden, llnd es gibt keinen Exponenten, auf den sich mit Sicherheit

auch nur auf eine kleine Zeit hin rechnen ließe. Bei dem Ge­ wächse weiß man allenfalls Tag und Stunde, weil der Wachs­ thum nach dem Gesetze der Stetigkeit erfolgt, alich lassen sich öfters bei llnterrichtsgegeliständen, z. B. den mathematischen,

die Fortschritte eines Schülers voraussehen, aber die sittliche Kraft ist nicht nach Zeit und Maaß zu bestimmen. In einem

Moment kann der verdorbenste Mensch seinen Sinn ganz zum Guten umwenden, und in einem Moment kann der gutge­ sinnte aus der lichten Bahn herausfallen." — Das ist es eben, was uns überall Noth macht, setzte P. hinzu; das Böse in dem Menschen stört uns schon in dem Kinde und macht,

37 daß alle Plane des Erziehers nur auf Stückwerk hinauslaufen. Eine Gärtnerkunst ist uns nicht vergönnt, und glücklich müssen wir uns schätzen, wenn unsere Heilkunst nur etwas ausrichtet.

Die wahre Heilung. Die beiden Freunde machten einen Morgenspaziergang zu­

sammen. Die Natur war in ihrem ersten Erwachen, die Lerche stieg in die blauen Lüfte und sang über dem Mann am Pfluge, der sein Liedchen vor sich hinpfiff. — Wir aber spre­ chen unser Morgenlied, erinnerte P., und sein Freund setzte

hinzu: „und so stimmen auch wir in das Wiederaufleben der Natur ein. Hier in unserer Gegend geneset jetzt die Erde von dem Winter, die Sonne ruft jetzt ihre Kraft, die fast zum Nullpunct herabgesunken war, allmählig wieder in ihr volles

Leben." — Das alte und wahre Bild, bemerkte P., vom Heil der Menschheit, das uns beide unsern Beruf angenehm fühlen läßt. So haben Sie mich nämlich das Menschenleben ansehen Das Kind tritt nämlich mit jenem Wurm, der an der Wurzel des Baumes nagt, in das Leben herein, der Ge­ genkampf der edlen Kraft beginnt, und wohl ihr, wenn sie in gleichmäßigen Schwingungen durch die Jahre ihrer Entwick­ gelehrt.

lung fortwallt! Da geschieht es aber häufig genug, daß sie bald hier bald da angercizt wird, um in stärkeren Wellen aas-

zubransen, oder in Stockungen niederzusinke», und wenn nicht Arzt und Erzieher helfen, so ist es um das Gleichgewicht ge­ schehen. Oft erlischt da schon in der Zugendperiode die edle Kraft, im Leibe, im Geiste, oder in beiden zugleich. Die Heilmittel nun ?

Der Arzt gibt dann wohl Arzneien auf Arz­ neien und macht diese zum täglichen Brod. Der Erzieher hat auch seine Recepte von Reizmitteln zur Hand, wo denn eben­

falls eins immer das folgende nothwendig macht, denn die Natur ist nun einmal aus ihren Fugen gerückt und muß sich zu einer unnatürlichen Gesundheit bequemen. Wie ganz an­

ders verfährt die Heilung, welche den Namen verdient!

Sie

lenkt vielmehr die Natur wieder in sich selbst zurück und hilft

ihr allmählig wieder in ihren stetigen Gang zur Lebensord-

38 nung. — „Damit sagen Sie," flchr der Arzt fort, „daß die

wahre Heilkunst mit der Diätetik Eins werden muß.

Das

finde ich eben als den Zielpunct in dem Wesen der magneti­ schen und homöopathischen Heilart. Sie haben ganz reche, daß wir auf die Wiederherstellung des rechten Taktes in dem DaS ist die Aufgabe wie für

Lebcnspulse arbeiten müssen.

mich, so für Sie, und solcher Heilung bedarf jeder Kranke und jeder Zögling, ja die ganze Menschheit, und wir selbst.

Wir heilen gut, wenn wir an uns anfangcn und jeden zur Selbst­ heilung führen." — Wohl uns daher, sprach P. aus freudi­

gem Herzen, daß wir in dem Reiche dessen arbeiten, in wel­ chem das Heil der Welt erschieneü ist!

Ein schönes Fest des Hauses hatte auch den lieben Gärt­

ner herbeigezogrn.

Die Familie feierte den Geburtstag des

Hausvaters in dem engeren Kreise der Hausfreunde. Die Ga­ ben aus dem Winterhause der Gewächse verzierten bedeutungs­ voll den Saal. Die blühenden Kinder an den beiden Händen der glücklichen Mutter empfingen den edlen Mann, der das Auge mit Thränen der Rührung dankend zum Himmel erhob. Der Hauslehrer sah auf die Kinder mit einer Freude, die er nie empfunden, und dann mit Blicken des Dankes abwechselnd

auf den Freund aus dem Garten und auf den aus der Stadt. Dann ergriff er die Hände von beiden und führte sie zu einan­

der. Das Gespräch zwischen ihnen wurde bald traulich und gab ihm manchen neuen Gedanken. Auch ein Musiker war als Hausfreund da.

Ein frommer Choral, aus fröhlichem

Herzen gesungen, beschloß diesen reichen Tag.

59 III. Der Musiker. Ein neuer Lehrer.

Es lebte in der Stadt ein alter Organist, seiner Zeit ein vielgeehrter Mann, der die Gemeinde vor und nach der Pre­ digt erbaute, jetzt aber nicht mehr gehört, kaum noch gekannt. Denn auch dort hatte sich das Musik liebende Publicum an die Modehandlungen verkauft, und wer mit seinem Geschmack gelten sollte, mußte davon zu schwatzen wissen, was Furore mache, wir wissen iricht, ob von Rossini oder von Welchem Heros des Tages, — und mußte in den ästhetischen Theater­ phrasen einhcrtreten. Das kirchliche Publicum, klein genug in jeder Hinsicht, ließ sich gern mit einem Präludiren von ge­ sammelten Opernsiellen unterhalten, und dann baldmöglichst mit Tanzmusik von der Orgel herab zum Tempel hinausspielen. — Unser Arzt besuchte bisweilen den lieben Alten. Run war es ihm eine Angelegenheit, seinen Freund Erzieher auch mit ihm bekannt zu machen. P. spielte das Klavier ziemlich gut, er ließ sich also um so lieber zu diesem Meister führen, denn er hätte cs gern noch weiter gelernt. Zu seiner großen Freude bot ihm der ernste Mann mit seinem verklärten Angesicht seine Belehrungen im Generalbaß an. Wozu Musikunterricht?

Die Familie gehörte gerade nicht zu denen, die man im gewöhnlichen Sinne musikalisch nennt, desto mehr im höhern Sinne. Die stille Hausmutter hatte wohl als Mädchen Kla­ vier gespielt, auch manche Arie ganz gut dazu gesungen; und ihr Ehegatte hatte sie im Anfang ihres häuslichen Lebens mit seiner schönen Tenorstimme begleitet. Aber als die Reihe an die Wiegenlieder kam, so ging ihre ganze Musik allmählig in die Mütterlichkeit ein. Doch wurde ihr Pianofortc nicht ganz vergessen, auch alle Jahre einmal gestimmt. Die Auf-

60 merksamkcit ihrer beiden Kinder wurde seit diesem Winter bei

dem Spielen bemerkt; sie zeigten Gefühl für Takt und Ton, und man konnte einige musikalische Anlage bei ihnen vermu­ then. Es war also davon die Rede, ihnen Klavierunterricht ertheilen zu lassen.

Man sprach da von der Meinung, daß

die Musik den Menschen edler mache.

Der Principal bemerkte

indessen, daß er von manchem Virtuosen auf Saiten- und Blase-Instrumenten wisse, die nichts weniger als Virtuosen in

der Tugend und Sittlichkeit gewesen seyen, und die gcpr.eßensren Sängerinnen seyen bekanntlich nicht gerade als Heilige zu preißen. „Damit aber," sagte er, zu dem Hauslehrer gewendet,

„will ich keineswegs auch den moralischen Nutzen dieses Unters

richts läugnen, vielmehr halte ich darauf bei meinen Kindern,

daß sie Musik lernen. Reden sie einmal mit dem Organisten, den Sie ja schon kennen. Ich schätze diesen Mann hoch und traue ihm auch eine gute Lehrgabe für Kinder zu." Der rechte Musiklehrer.

Der liebe Alte wollte diesen Unterricht Anfangs ablehnen. Er hatte die Eitelkeit im Sinne, welche gewöhnlich solchem Lerncnlaffen zum Grunde liegt, und welcher er nie hatte die­

Da er aber horte, daß das hier nicht der Fall sey, so sagte er zu, und das um so lieber, da ihn das Ge­ spräch mit diesem Hauslehrer noch mehr von der Gesinnung dieses Hauses überzeugte. Der moralische Nutzen der Musik, nen wollen.

über welchen sie sprachen, war ihm noch unsicherer, als jenem in der Welt erfahrenen Manne.

„Damit ist es," sagte er,

„nicht besser als mit vielen andern Dingen, die an sich ganz hübsch sind, z. B. mit der Blumenliebhaberei. Wer wollte dieser den schönen Einfluß auf das Gemüth absprechen? Aber worauf nun einmal der Sinn geht, das sucht er auch, und damit

nährt er sich, mit Blumen und Tönen so gut wie mit Wein und Tanz. Da geräth man denn, ehe man es sich versieht, in

eine Leidenschaft, wie mir es einmal mit meiner Nelkenzucht

ging; aber ich ließ es noch beizeiten genug seyn. Zn den Gär­ ten, in den Treibhäusern, was ist da nicht oft für ein Luxus,

61 und doch haben die Besitzer gewöhnlich kaum einen andern Genuß davon, als daß man rühmt, sie hätten die seltensten Gewächse und die neuesten Modeblumen. Zn den Mufiksälen und an den Klavieren ist es da anders? Das Neueste ist da immer das Schönste, was wohl noch eher bei Blumen seyn mag, aber gewiß nickt in den neuesten (Kompositionen. Rau, schender Beisall folgt der modernen Künstlichkeit, die Hoheit der ächten Musik hat sich in die Stille zurückgezogen. Finger» sertigkeit, Takt, Gehör sind etwas Lobenswerthes, aber nicht mehr als jede andere Geschicklichkeit, und dienen nur leider zu oft dem eitlen Wesen. Soll die Zeigend Musik treiben oder hören, um den Sinn zu berauschen, um den Geist vom ernsten Ziele abzuziehen, um die Leidenschaften ins Spiel zu setzen? Wir sehen ja, wie meist die sogenannten musikalischen Menschen ein Leben der Zerstreuung suchen, und wie mancher sich in heftigen Begierden und groben Ausschweifungen zu Grunde richtet. Nein, dafür lassen Sie lieber Zhre Kinder Mathe­ matik lernen; die strengt doch den Kopf an und gewöhnt den Sinn an Ernst und Stille. Da muß sich der junge Mensch wohl zusammen nehmen, da darf er sich nicht so gehen lassen, wie wenn die Töne in seinen Nerven hcrumtanzen." —- Der Pädagoge erkannte das an, meinte jedoch, daß auch die Musik diesen Rußen der Mathematik erreichen könne, und vielleicht noch besser, wenn sie nur recht betrieben würde. Er berief sich dabei ans den Ilnterricht, den der Musiker selbst ertheile, und auf seine Grundsätze von Takt, Harmonie, reinen Ver­ hältnissen, wie er sie ihm schon in den bisherigen Lehrstunden klar gemacht habe. Dann versprach er ihm, von seiner Seite für diesen höheren Zweck mitzuwirkcn. Der Musiker gab seine freudige Zusage: „also für unsern gemeinsamen Zweck!" Vorerst der Takt.

Der Pädagoge fand Belehrung bei dem tiefsinncnden Manne in jeder Weise, auch in seiner Art, die Musik zu leh­ ren. Seine Methode war, lange genug bei Einübung des Taktes zu verweilen, zugleich dabei die Fingerordnung anzu-

62 fangen, dann die Fertigkeit derselben zur Hauptübung zu nia-

chen und erst später an das Notenlesen zu kommen; während dessen aber wurde das Ohr an die Unterscheidung der Töne, ihrer harmoiiischen Verhältnisse und ihrer Arten, und die Hand an

die Tonleitern gewöhnt. An den Ausdruck des Gefühls wurde natürlich noch nicht gedacht. Warum er so lange bei dem

Takt verweile,

darüber gab er dem Erzieher eine Erklärung,

welche ihm gewissermaßen eine geheime Werkstätte der Bildung aufschloß. Die Lebeusbewegung erhält sich gesund in ihrem gleichmäßigen Puls, und dieses Maaß ist der Takt.

So wie

der Takt die leibliche Thätigkeit ordnet und kräftigt, im ru­ higen Fortschreiten, im stetigen Fortströmen, und so wie er

ebenso hält er die Aufmerksamkeit fest, führt sie von Punct zu Punkt, zü­ gelt die vorspringende Einbildungskraft, hält das Denken in

Auge, Hand und Fuß zur Geschicklichkeit leitet,

sicherem Schritt, gewöhnt den Willen an Gesetz und geht unvermerkt in alle Gemüthsbewegungen über, um ihr Auf­ wallen zu mäßigen; das ganze Leben wird taktmäßig, oder

vielmehr es wird in seinem natürlichen Gange unterhalten. Was dagegen stoß - oder ruckweise und unsiät geschieht, ist im­ mer etwas Wildes, Störendes, das von der Humanität ent­ fernt. Die Natur setzt dem Thiere in allem das Maaß, der Mensch soll es in seiner Freiheit sich selbst setzen. Ebendahin führt ihn schon die Natur, indem sie das Gefühl des Taktes in ihn gelegt hat, und wenn dieses Gefühl recht geübt wird,

so gewöhnt sich das ganze Gemüth an eine natürliche Selbst­ beherrschung, worin es freier athmet. DaS innere Leben fließt

dann in einem sanfteren Wellenspiele dahin, und so erscheint es auch; daher denn auch der feine Takt in dem geselligen Leben.

Der Pädagoge fand dieses alles mit den Belehrungen

des Gärtners und des Arztes zusammenstimmend. Der Wachs­

thum gedeiht in seiner Stetigkeit, die Heilung verlangt ihren ruhigen Gang, um den Lebenspuls in seine gleichmäßigen Schwingungen zurückzuführen. Wenn ein Fußgänger durch den andern in seinem natürlichen Takt gestört wird, so erliegt

er bald der Müdigkeit, aber wenn einer den andern in seinen

65 Takt hereinzieht, welches leicht geschieht, so wandern beide fröh­ lich ihres Weges fort. Das erinnert auch an jenen magne­ tische» Rapport, und an die geheime Gewalt, weiche eine kräf­ tigere Natur auf die andere ausübt. So führe denn der Er­ zieher seinen Schüler überall nur im rechten Takt festen Schrit­ tes vorwärts; wenn der Schuler auch im Anfang schwer daran geht, so wird er allmählig schon in den rechten Gang kommen und sogar an seinen Führer sich so gewöhnen, daß er nicht mehr von ihm lassen mag. Zn dem Takt liegt eine nicht ge­ nug bemerkte bildende Thätigkeit der Natur. Weiler die Harmonie.

Indessen meinte doch der Pädagoge, man müsse dem Schü­ ler etwas geben, das ihm alsobald Lust an der Sache erwecke, denn damit gewinne man seine ganze Thätigkeit für dieselbe. Der Musiker erwiederte, daß das hier nur auf ein Klimpern binailslaufe, und daß das Vergnügen daran doch bald ver­ flogen sey, wenn der Spieler nichts rechts mit den Tönen zu machen wisse. Gesetzt auch, es finde sich dabei dieser musika­ lische Verstand ein, so könne man doch nicht genug dafür sor­ gen, daß Auge, Ohr, Hand sich erst genugsam gewöhnen, etwas gehörig fesizuhalten, bevor noch jene Art von Zersireuungssucht in diesem Spielen entstehe, welcher man das unruhige Wesen so mancher Musiker zuzuschreiben habe. Auf diese Weise sey schon mancher in seinen Lehrjahren an ein eitles Treiben ver­ kauft worden, der mit seiner Virtuosität ein Geweihter der höheren Kunst hätte werden können. — Das gilt für alle Bil­ dung, sagte unser Pädagoge; der Vogel soll nicht fliegen, be­ vor ihm die Flügel gewachsen sind, sonst wird er nicht hoch kommen, lleberall Vorübung, Gewöhnung, Begründung. Das Gewächs nimmt sich erst zusammen, um sich dann mit voller Kraft aus dem Knoten weiter zu treiben. Die Grammatik will erst eingcübt seyn, ehe der Schüler die Clasftker lesen kann; Sie haben recht, daß Sie es mit der Lehre von der Harmonie ebenso halten; so ist es Naturgesetz, und daraus allein beruht dic wahre Methode; alles andre Treiben im Unterricht, wenn

64 es auch glänzend erscheint, verschwindet am Ende in Dunst. —

Die Art insbesondere, wie dieser Meister die Verhältnisse der

Töne auch seinen kleinen Schülern begreiflich zu machen wußte, bewies das vollständig; denn sie erregte in ihnen eine gewisse stille

Sehnsucht nach dem Wohlklang.

Der Septimenaccord z. B.

wurde sehr bald von ihnen erkannt, und sie suchten dann von selbst, ihn sogleich in den reinen Schlußaccord umzusetzen. DaS ging in ihren ganzen inneren Sinn über.

Das aufsordernde

Mutterwort, dachte der Erzieher, ist schon früher der Kindes­

seele dasselbe gewesen, was der die Auflösung fordernde Dreiklang dem Ohr ist; das musikalische Gehör- soll nur diesen inneren

Gehörsinn verstärke».

Muß das nicht das ganze Gemüth rei­

ner stimmen? muß es nicht bei jeder Abweichung von dem Wohlklang daran erinnern, wieder in denselben einzulenkcn?

muß es nicht eine beständige Sehnsucht nach Harmonie in der

Seele beleben?

Man möchte fast sagen,

diese

musikalische

Schule nöthige das Gemüth zu einer schönen Gesinnung und verwandle die Gesetze der Freiheit in Gesetze der Natur.

So

hätten wir denn, rief er aus, die wahre musikalische Erzie­ hung!— „So etwas davon," erwiederte der Meister; „so etwas,

aber noch nicht die Hauptsache.

Wir wollen nicht auf dem

Klavier oder im Gespräche phantasircn, ehe wir den Grundton

und seine Ausweichungen verstehen.

Was ein Pythagoras und

ein Keppler in der Harmonie der Sphären mit ihrem überir­ dischen Ohren vernommen, das kommt so leicht nicht i» un­

sern Sinn, »nid wenn jene Harmonie in unserer Seele wieder­ tönen soll, so muß die Seele selbst,

wie sie eine Schülerin

des alten Weisen nannte, eine Harmonie seyn.

Daß sie aber

das werde, dazu gehört noch etwas ganz anderes, als was unser Ohr aufnimmt

und unser Zahlensinn

berechnet." —

Sie meinen, der rechte Grundton muß erst in unserer Seele angestinimt seyn? — „Oder sie für ihn gestimmt, und das möchte wohl eher Ihre als meine Aufgabe seyn."

63 Die Harmonie der Sphären. Zn der nächsten Abendunterhaltung theilte P. einige Stel­

len aus Cicero über die Weltharmonie mit, da schon mehr­ mals unter diesen Freunden von dieser schönen Idee der Alten die Rede gewesen war.

Zuerst las er, was der classische Rö­

mer in dem ihm Buch von den Gesetzen so trefflich über den

Borzug des Menschen und sein Verhältniß zum Weltganzen sagt.

Der Mensch hat den Vorzug vor allen lebendigen We­

sen dadurch erhalten, daß ihm Gott die Vernunft gegeben; das wahrhaft Göttliche in ihm, wodurch er zur Weisheit ge­ langen kann und in der Gemeinschaft mit Gott steht. Durch

sie lernt er das höchste Wesen kennen, und kein Volk ist so roh, dem diese Erkenntniß ganz fehle; durch sie erreicht er selbst

das Höchste, die Gottähnlichkeit.

Für seine hohe Bestimmung

ist auch sein Körper eingerichtet, der nicht wie bei dem Vieh

zur Erde niedergestreckt ist, weil dieses da sein Futter suchen muß, sondern aufgerichtet ist, damit er zum Himmel cufschaue, als zu dem Ort seiner Verwandtschaft und ehemaligen Heimath. Auch ist die Natur rings um den Menschen her zu seinem Nutzen zubereitet, nicht etwa zufällig, sondern aus Absicht. Denn das höchste Wesen will, daß dem Menschen die Gewächse und Thiere dienen, daß er selbst aber mit sei­

nem Verstände in die Geheimnisse der Natur eindringe, sie zu seiner Lehrerin wähle und von ihr seine Selbstversorgung lerne. Zn jener Zeit hat Gott das Menschengeschlecht in das Daseyn gerufen, welche gerade die rechte war, als nämlich nach vielen Umwälzungen alles für dasselbe auf der Erde zubereitet war, aus welche er es nun gepflanzt, daß sie sein Wohn­ ort sey. Zwar theilt der Mensch das sterbliche und hinfällige Wesen mit der irdischen Natur, aber er allein ist es doch, der

eine aus Gott gezeugte Seele besitzt.

Durch sie ist er gött­

lichen Geschlechts, und durch die Vernunft gehört er dem gro­

ßen Staat an, in welchem die ewigen Gesetze walten.

Denn

alles steht unter der Himmelsordnung, unter dem Verstand und der Macht Gottes, und so ist die Welt ein das All umfassen« Schwari: Darstell, a. d. Gebiete d. Erzieh.

5

66 der Staat, welchem sich die Einrichtungen in den menschlichen

Verhältnissen nachbilden, und welcher uns in der Herrlichkeit der Natur vor Augen steht. — An diese Stelle (die nur dem

Inhalt nach hier steht) schloß P. eine andere an, um zugleich zu zeigen, daß es damals doch nicht so ganz an der Kunde

von den Himmelskörpern fehlte, aus dem lteii Buch der Re­ publik, wo von den künstlichen Sphären alter Weisen die Rede ist, von der des Thales, in welcher die Bewegungen der Sonne,

des Mondes und der fünf damals bekannten Planeten ange­

geben waren, und von der des Archimedes, welche das voll­ kommener darstellte. Der Mensch aber soll, so heißt cs dort, zum Himmel hinaufschaucn, da diese ganze Welt die für ihn und die Götter gemeinsame Wohnung ist, und da droben man­

ches für die Dinge hier unten abgesehen werden kann, was die Menschen einrichten sollen. — Endlich las er noch, was ohne­ hin zu jenem Werke zu gehören schien, den Traum des Scipio

vor, um die großen Züge von der harmonischen Ordnung im

An das Fortleben der See­ len nach dem Tode, das selige Zusammenseyn derer, die Ge­

Weltall noch mehr hervorzuhebcn.

rechtigkeit gegen Alle und Frömmigkeit gegen Götter, Eltern

und Vaterland geübt, wird da vorerst erinnert, dann wird die herrliche Ordnung in den Wcltkörpern betrachtet. Die Ge­ stirne, als kugelförmige Körper, zum Theil größer als unsere

Erde, aber zugleich geistige Wesen, bewegen sich in Kreisen mit außerordentlicher Geschwindigkeit. Es sind nämlich neun

Kreise über einander. Der äußerste, welcher die andern alle umfaßt, ist Gott. Zunächst unter diesem dreht sich der Fix­ sternenhimmel, unter diesem der Kreis des Saturnus, unter die­ sem der des Jupiter, unter diesem der des Mars, dann kommt der «Kreis, der gerade der mittelste ist, und worin sich die

Weltseele, die Sonne, bewegt, die allen andern ihr Licht zu­ sendet, unter diesem der Kreis der Venus, dann der des Mon­ des, unter welchem die Erde feststeht, als der- Mittel- und Schwerpunct. lieber dem Monde ist alles ewig, unter ihm

alles vergänglich, die menschlichen Seelen ausgenommen. Dro­ ben nur hören die Seligen die lieblichste Musik, die sich durch

67 die Bewegungen der Sterne je nach den Intervallen ihrer Kreise

in verschiedenen Tönen vernehmen läßt. Es ist ein unaus­ sprechlicher Wohlklang, der aus diesen Abstufungen ertönt, in den höheren und tieferen Tönen. Denn von der schnellsten Be­ wegung des Fixsternenhimmels bis zur langsamsten des Mon­ des ist die stärkere und schwächere Geschwindigkeit dieser sieben Kreise in dem genauen Verhältniß der siebm Töne abgemessen.

Diese sind dann in der Tonleiter für Saitenspicl und Gesang von jenen geweihten Menschen nachgebildet worden, die, gleich andern hochbegabten, hierdurch den Weg zu den Wohnungen der Seligen gefunden haben.

Wir hier unten aber können

von jener Harmonie der Sphären nichts vernehmen, weil un­ sere Ohren zu betäubt von derselben find, so wenig als unsere

Augen in die Sonne zu sehen vermögen. — Die Freunde fan­ den sich durch diese Stellen wahrhaft erhoben, ohne daß es noch, wie der Arzt bemerkte, der schönen aus Platon bedurfte. Die Herleitung der Musik und alles Musikalischen im Mett,

schenleben von den ewigen Gesetzen der Harmonie in der Welt, ordnung war auch dem Musiker die richtige, denn er war mit

diesen Ideen vertraut und gehörte zu jenen Geweihten, die Cicero selig preißt. „Wenn gleich," sagte er, „die Kenntniß der Alten von dem Weltgebäude noch sehr mangelhaft und

unrichtig, und sie des Lichtes in der Gotteserkenntniß entbehr­

ten: so hatten sie doch tief in die Gesetze der Natur geschaut,

wie ihre Siebenzahl in den Tönen und ihre Harmonie des Weltalls beweist. Und beweisen nicht die Beobachtungen der sogenannten Schallfiguren, wie die reinen Töne durch die Räume

hindurch reine Formen bilden?

Wer weiß, was man noch

über das Geheimniß, das zwischen den sieben Hauptfarben

mit den sieben Haupttönen waltet, entdecken wird.' Wie viel hat unsere Naturkenntniß vor jener der Alten voraus! Aber

Eins statt Allem. Droben in dem Sternenhimmel erglänzt über uns das Reich GotteS, das auf der Erde durch das Wort errichtet ist, und dessen Laut zugleich das Licht ist, welches die Menschen erleuchtet und das rechte Leben, das wahrhaft mu­

sikalische in unS schafft.

Der Himmel, der unser Auge hürauf5'

68 zieht, bereitet den Sinn vor für jenen Himmel, in welchem unser Geist seine Heimath findet. Dahin sollen uns die Accorde unserer Musik emporschwingen." Musikalische Bilduugsart.

„Sie haben mit Recht an die Psalmen, an die Harfen

und Posaunen von Sion gedacht," setzte der Musiker seine Rede am folgenden Abend fort, „denn wo ertönt der große Weltgesang herrlicher?

Dort erklangen schon in heiliger Ah­

nung die Vortöne zu dem neuen Lied, das im Himmel gesun­ gen wurde, als die Lösung der größten Dissonanz in die reinste Harmonie begann.

Doch lassen Sie uns von unserer irdischen

Musik reden, wie sie unser leibliches Ohr vernimmt.

Wie

Luther und die großen Tonkünsiler der alten Kirche eS ver­ standen, eben in dieser die Seele zu der himmlischen zu erhe­

ben, dabei hätten es die Männer der Kirche halten sollen, statt mit ästhetischen Redensarten und aufregendem Getöne die Gemeinde zu entgeisien. Mußte doch selbst ein berühmter Ju­

rist an die Reinheit der Tonkunst unsrer Zeit erinnern.

Wie

schlecht man vollends die Zugend mit der Musik zu berathen

weiß, ist schon genug von uns beklagt worden und wird wohl bald allgemeiner beklagt werden." — „Doch will ich," fiel der Arzt ein, „noch eine Klage hinzufügen, es ist die, daß man so wenig den wohlthätigen Einfluß des sonntäglichen Kirchen - und alltäglichen Schulgesangs beachtet. Da müssen uns erst freund­ liche Ausländer aus einem andern Welttheil herüberrufen, daß wir Deutschen hierin ein Mittel für die ganze Volksbil­ dung besitzen, welches man nicht hoch genug anschlagen kann." — Unsere Erziehungsschriften, setzte der Pädagoge hinzu, reden von dem Unterricht im Singen und auf Instrumenten eben auch nicht mehr, als von Dingen, die auch ganz gut und

schön seyen: an jene höhere Wirkung denken sie kaum so weit, als die Philologen, wenn sie von einem Orpheus und Amphion

reden.

Diese erinnern doch daran, daß da mythisch die Macht

der Musik in dem rohen, wie in dem civilisirten Zustand der Menschheit vorgestellt sey, und bei dem Lykurgischen Gesetz,

69 welches keine 6te Saite der Lyra gestattete, an die Verweich­

lichung, die das Znstrumentenspiel so leicht bewirkt; auch ma­ chen sie auf die verschiedenen Wirkungen der verschiedenen Ton­ arten, auf die physische und psychische Heilkraft der Musik auf­ merksam. Aber die Pädagogen gehen neben allem dem vorbei, als sey da gar nichts weiter." Zn dem Augenblick wurden sie

durch einen Lärmen auf der Straße unterbrochen. Ein Wirths­

haus war aufgegangen, und die halbbetrunkenen, halbsingcnden, halbschreiendcn jungen Leute strömten heraus und setzten die ganze Nachbarschaft in Unruhe. Der Musiker beruhigte übrigens seine Freunde mit der Versicherung, daß das öfters so gehe, ohne daß etwas weiter erfolge. Indessen sey es doch

schlimm genug, denn da habe man das gerade Entgegengesetzte

von dem, was sie als die musikalische Ordnung im Volksleben gewünscht hätten. Wenn es mit der Schuljugend nicht anders würde, die ja jeden Tag mit lautem Schreien durch die Gas­ sen stürmte, so sey eine Verwilderung der künftigen Generation zu erwarten; man glaube nicht, wie das wilde Geschrei auf

die Seele zurückwirke, ärger als ein böser Ausschlag, der sich durch das Kleid festhält. Gerade das sollte ein Gegenstand der Polizey seyn, die schon durch die äußere Stille an einem Ort auf Jung und Alt mit einem geheimen aber wohlthätigen Scelenzwang wirke.

„Darum ist auch die Klage der Eltern, daß

die Verführung ihre Söhne hinreiße, eine gerechte Klage ge­

gen jene unterlassene Vorkehr der Obrigkeit," bemerkte hierzu der Arzt, und der Pädagoge erinnerte an die Griechen, da

selbst die Athener uns in den Maaßregeln gegen die Zügellosig­

keit der Jugend weit übertroffen hätten.

Methode des MustkerS. Er legte in einem zusammenhängenden Bortrage den Freun­ den seinen Lehrgang vor.

Die Hauptpunkte waren folgende:

Dieser Unterricht soll zum Ganzen

der Erziehung gehören;

darum werde schon frühzeitig das Kind an Takt und Maaß­ halten gewöhnt. Auch soll das Kind frühzeitig an Gesetzlich­ keit gewöhnt werden: hierzu kann die Bestimmtheit der Ver-

70 hältnisse, wie sie in den Tönen und Tonarten unmittelbar empfunden werden, ungemein dienen, weil darin eine mathe­

matische Genauigkeit statt findet.

Endlich soll auch frühzeitig

ihr Sinn auf das Reine und Schöne gerichtet werden: nichts aber ergreift denselben früher und sicherer für diese Richtung als einfache Melodieen, die sich harmonisch und leicht bewegen.

Wenn gleich vieles andere dazu mitwirkt, manches vielleicht bei diesem oder jenem Kinde noch besser wirkt, so ist doch be­ sonders auf solchen Musikunterricht für das sittliche Gefühl zu rechnen.

Das Gehör ist derjenige Sinn, welcher am tiefsten

in das geistige Leben eindringt, und die Musik bewegt die Seele nach den ewigen Gesetzen, die auch im Weltall herrschen, sie

vermag also den Menschen selbst in Einklang mit denselben zu versetzen. Aber hierzu muß sie auch, möchte ich sagen, gehei­ ligt werden.

Denn sie soll nicht aufregen, sondern beschwich­

tigen. Ilebrigens muß von jeder anderen Seite die Seele ge­ gen Leidenschaften bewahrt werden, denn sonst vermag auch

das fromme Lied in seinem ruhigen Schwünge kaum etwas.

Die Musik pflegt diejenige Leidenschaft, welche gerade Besitz

von der Seele genommen hat, stärker anzufachen; da nun in der früheren Jugend nur erst vorübergehende Affecte statt fin­ den, so muß sich der Unterricht in der Musik um so mehr

hüten, sie aufzuregen. Er wird also in der Auswahl der Stücke vorsichtig seyn, aber auch keine Triebfeder der Gefall­

sucht hercinlassen, vielmehr das reine Wohlgefallen an dem er­ hebenden Spiele der Töne zu entwickeln suchen. Diese Auf­ gabe rst nicht leicht, aber nothwendig, wenn man das Himm­ lische nicht in den Schmutz hcrabziehen will. Der Weg durch jene Einübung von Takt und Tonleiter, von dem Einfachsten und Natürlichsten ausgehend, führt den Schüler sicher, wenn der Lehrer nicht pedantisch und abstoßend ist, zu dieser Lust

an der Sache selbst.

Aber Schritt vor Schritt führt er auch,

und das bald, zu dem Verständniß der Accorde und zu dem, was man Generalbaß nennt. Es ist ein Vorurtheil, wenn man meint, der sey für Anfänger zu schwer; wie man auch meinte, die Geometrie sey noch nicht für zehnjährige Knaben.

71 Freilich nicht das System, aber doch die Einleitung in das­ selbe; so wie durch die Formenlehre der achtjährige Schüler in

das mathematische Denken kommt, er weiß nicht wie, so kann man auch in der Musik allmählig in die Auflösung der Dis­ sonanzen, in die llebergänge der Tonarten, u. dgl. einführen, so daß der Schüler bald den Contrapunct und die Fugen be­

greifen lernt, und das nicht nur, sondern auch in stiller Selbst­

beschäftigung sich gerne damit unterhält. Während dessen und hierdurch wird denn auch das musikalische Gehör auf die beste

Weise gebildet. Zn der Lust und Liebe, welche für die An­ schauung jener Gesetze der höheren Welt erweckt wird, lebt denn auch zugleich die fromme und sittliche Gesinnung. Im Emklaug mit der häuslichen Erziehung.

Das bewährte sich an den Kindern dieses Hauses.

Sie

machten zwar nur langsame Fortschritte in ihrem Klavierspie-

len, und Malchcn war immer an dem Lehrer, sie doch hübsche

Stückchen lernen zu lassen.

Er lächelte dann und wies sie

mit den Worten ganz freundlich ab: „es wird schon kommen,

Das Mädchen tanzte gern mit seinen Fingern auf dem Instrument und hatte große Freude, wern es ihr gelang, eine Melodie nach dem Gehör herauszubringrn. Ihr emsiges Treiben, das nicht ruhte, bis sie mit ihrem Geschäft

nur Geduld!"

fertig war, zeigte sich auch hier, aber es war ausfallend, wie sie seit einiger Zeit alles mit mehr Ruhe that. Ernst hatte bei seiner in sich gekehrten Natur eine gewisse Innigkeit und entwickelte ein noch schärferes musikalisches Gehör als seine Schwester; die Accorde traf er mit seinen Händchen genau und wußte von selbst die llebergänge zu sinden. Maichen liebte

die lebhafteren Melodieen, Ernst die weicheren; der Lehrer nannte sie zuweilen die große und ihn die kleine Terz.

Dir Art, wie

die stille Hausmutter ihre Kinder gewöhnte, lobte brr Musiker

unter andern darin, daß sie verstünde, den Durton in seinen verwandten Mollton, und umgekehrt diesen in jenen übergehen zu lassen, wie das die verschiedenen Naturen bedurften, damit

nicht ihr Lebenston in die Disharmonieen geriethe, die man

72 ja leider überall finde.

Eine gute Hausordnung sey wie eine

wohlgestimmte Hausorgel.

Die Kinder mußten nämlich bei

der Mutter nach dem Morgensegen ihre Tagesarbeit angeben,

und das Töchterchen sich anweisen lassen, was es nach einan­ der in den häuslichen Dingen zu thun habe.

Mit dem, was

ihm etwa unangenehm war, durste es auch nicht verschont

werden.

Dann mußte es sich manchmal nach einem beendig­

ten Geschäfte neben die Mutter ein Viertelstündchen hinsetzen,

um zur ruhigen Besinnung zu kommen und jeden Abend ein Dämmerstündchen, wie es die Mutter nannte, bei ihr halten, um die Einkehr in sich selbst zu lernen.

Da wurde denn der Tag wiederholt mit allem dem, was er gebracht und verlangt

hatte, und hierauf etwas Erbauliches vorgelesen. Am letzten Abend der Woche versammelte sich die ganze Familie zu einer

Andachtstunde, in welcher der Hausvater jedes ermunterte, über die zurückgelegten Tage Gott Rechnung abzulegen, und worauf denn ein Choral gesungen wurde. Jetzt sangen die Kinder schon mit reiner Stimme und ganzer Seele mit. — Das war

nun, wie der Musiker urtheilte, der Schluß von dein musi­ kalischen Leben der Woche, durch welchen es sich in das sym­ pathische Gefühl der häuslichen Harmonie erhob.

Die musikalische Familie. Der Pädagoge hatte das bisher schon für sich gedacht, indem er das Wohlthätige und Erhebende in diesem Hause

mit jedem Tage mehr fühlte, jetzt konnte er sich ein Ideal von solchem musikalischen Leben denken, welches in jeder Fa­ milie erscheinen sollte. Jedes Mitglied hat seine bestimmte

Thätigkeit und übt sic mit Lust; was jedes Einzelne thut, hilft für das ganze Hauswesen, denn es geschieht nach geordnetem Plane; die Seele, welche in dem Hause waltet, ist die Haus­ mutter, die auch das Kleine nicht übersieht; der Hausvater

ordnet und regiert

das Ganze und trägtdie Sorge dafür,

daß jedes Mitglied was ihm gebührt.

in seinen Verhältnissen leiste und erhalte, So geht ein Tag nach dem andern hi»;

auf die Arbeitstage folgt der Festtag, aber

alles ist in froher

75 Bewegung, die nirgends die Gränzen überschreitet.

Alle sind

gleich gestimmt.

Eben das Band, welches die Sternenivelt zur Harmonie vereinigt, halt auch die Glieder der Familie in sei­ nem geheimen Zuge zusammen. Der Grundton der Liebe, einmal angestimmt, klingt fort von einem Tage zum andern, weil er von dem Geiste des Christenthums unterhalten wird. Wo denn auch eine Dissonanz dazwischen kommt, da wird sie

bald wieder aufgelöst, denn die Grundharmonie wird verstän­

dig geleitet, und so ist auch keine Monotonie vernehmbar, son­ dern das Leben jedes Einzelnen fließt lebendig in angenehmer Abwechslung und Geselligkeit dahin. Dieses Musikalische, das sich in den schönen häuslichen Verhältnissen abbildet, ließe sich

bis in die kleinsten Züge auszeichnen.

Aber das Wichtigste

für den Erzieher ist hierbei, daß, so wie jedes im Hause, so

auch das Kind seine rechte Stelle einnehme.

So ist es frei­

lich nicht überall, und gerade in den Familien, die sich viel

mit der Erziehung ihrer Kinder zu thun machen, wird dieser

Hauptzug meist verfehlt. Da stellen sie das Kind zum Mittelpunct hin, um welches sich das ganze Haus dreht, es soll die Sonne seyn, die Eltern die Planeten, und dann folgen alle im Hause als Trabanten. Da wird schon vom ersten

Lebensalter an die Stelle der Kinder verrückt, und ihnen ein ganz falsches Selbstgefühl cingeflößt. Dieses Naturwidrige in der modernen Erziehung zeigt eben in dem jetzt herrschenden

Egoismus seine Folgen. Der Ungehorsam der Kinder, die An­ maßung der Jugend, worüber man immer lautere Klagen ver­ nimmt, warnm fährt man denn fort, sie in jener Weise zu erzeugen? Auch die Stellung des Hauslehrers ist meist ver­ fehlt. Er soll weder der Hausmeister, noch der Schulmeister, noch auch der alleinige Erzieher der Kinder seyn, sondern der

Gehülfe der Eltern in der Erziehung, welchen Gott dieses hei­

lige Geschäft auferlegt hat, und welches der Gehülfe nur in den Fällen selbst übernimmt, wo sie verhindert sind. Soll nun da kein Miston entstehen, so muß Principal und Haus­

lehrer im völligen Einverständniß leben und sich darüber ge­ genseitig alsobald und so bestimmt wie möglich erklärt haben.

74 Zwar gibt es da wohl von Zeit zu Zeit Dissonanzen, aber

ist nur einmal jener magnetische Rapport, oder, wie es besser

zu bezeichnen ist, der reine Grundton vorhanden, so lösen sie sich auch immer wieder in Einklang.

Denn die verschiedenen

Ansichten tauschen sich aus, oder widerlegen oder berichtigen sich, und man erbittet sich sogar gegenseitig offene Erinnerun­

gen ohne irgend eine zurückhaltende Scheu, weil ein gemein­

sames Interesse, wie etwa an einem Bauwerk, einen wie den andern beseelt, und die Freundschaft so rein begründet ist, daß

sie auch nicht einmal eine Spannung aufkommen läßt. Wenn nun der Geist unter allen Hausgenossen waltet, welcher jeden derselben in der Selbstverläugnung erhält und jeden antreibt, einander mit Achtung und Liebe zuvorzukommen, dann sehen

wir da eine wahrhaft musikalische Familie.

Dazu bedarf es

keiner Instrumente und Concerte, und auch die Dürftigen könn­ ten ein Leben der Art in aller Gottseligkeit ihren Hütten gön­ nen, wenn sie verstünden, was zu ihrem Frieden dient. Auch möchten wir den Gesang in keinem Hause verstummen lassen, wäre er auch nur ein Nachklang aus der Kirche und Schule.

Eine gebildete Familie wird es jedoch an jenen llnterhaltungen in der Tonkunst selbst nichtfehlen lassen. Man hörtwohl in man­ chen Häusern Kunstgesang und treffliche Symphonicen, aber ist die Stunde dieser Gesellschaft vorüber, so gehen auch die Familienglieder wieder jedes seiner Wege, und die Herzen, die nie einmüthig zusammen gewesen, wallen wieder nach wie vor in ihren störenden Leidenschaften auf; ja man hört nicht selten

nach dem geprießenen Concert des Abends noch Zank und Streit. Welche schöne Erscheinung bietet dagegen die wahrhaft musi­ kalische Familie dar!

Warum nicht ebenso im Volksleben? „Sie haben es wohl manchmal gefühlt," erinnerte der Musiker dem Pädagogen, „wie wohlthuend es ist, wenn man

Sonntags in einer sonst belebten Stadt die allgemeine Ruhe

und kirchliche Feier steht.

Selbst die Leute in ihrer sonntäg­

lichen Kleidung in den Straßen wandeln zu sehen, macht einen

73 angenehmen Eindruck." — Ich möchte hier an jene Sabbaths­ ruhe der Natur denken, wie sie einst die Rabbinen in einer

allerdings abgeschmackten Vorstellung lehrten, allein es ist doch ein Bedürfniß der Menschen, das in ihrer ganzen Natur liegt, daß sie ihre Ruhe- und Feiertage in abgemessenen Zeiten ein­ treten lassen. Sollte dieser angenehme Wechsel nicht zu dem schönen Takt in der Lebensbcwcgung gehören ? — „Gewiß,"

fuhr der liebe Alte fort, „gehört er dazu, und zwar indem der reine Grundton von Zeit zu Zeit mit vollem Accord ver­ nommen wird.

Denn der heilige Tag erhebt den Geist in

seine himmlische Heimath, damit er sich nicht in dem Weltgewühle verliere,

und weiht ihn für den alltäglichen Lebens­

gang. Wie aber durch den Tag des Herrn die ganze Woche geheiligt wird, das weiß ich noch mit Wehmuth aus meiner frühen Jugend." — Sie sagen mit Wehmuth, und ich be­

greife das. Jetzt ist das Lärmen und Schwärmen die gewöhn­ liche Sonntagsfeicr, und das ist freilich keine heilige Weihe für die Woche, wo sich dann auch das Feiern von der Arbeit und das ausschweifende Genußleben und vielleicht am meisten in den niederen Volksclassen fortzusetzen Pflegt. So ist leider Stadt und Land von der schönen Lebensweise, welche wir die

musikalische nennen, sehr weit abgewichen. Ich theile Ihre Wehmuth. Aber wie wäre zu helfen? — „Mir scheint nichts leichter zu seyn.

Vorerst strenge Aufsicht von Seiten der Po­

lizei, welche an keinem Tage ein Schreien auf der Straße und in den Wirthshäusern dulden darf; und dieses Verbot wäre so leicht zu handhaben. Dann aber auch jene Polizei von innen heraus, wie sie an einem der Brüdergemeinde zu­

gehörigen Ort einem Fremden bezeichnet wurde, der bei feinem Aufenthalt dort die Stille in allem dem lebhaften Verkehr da­ Versuche man es doch nur, und es muß gehen. Die Geistlichen, die Schullehrer, die Gebildeteren der Gemeinde dürften es nur nicht an sich und ihren Ermahnun­

selbst bewunderte.

gen fehlen lassen. Ist aber einmal eine gute Sitte begrün­ det, so bedarf cs nur der treuen Wachsamkeit, und sie erhält sich selbst. Dann lebt die Zugend herein, und wie viel ist nicht

76 damit gewonnen!

Wir wollen auch nicht das eigentliche Mu­

sikalische vergessen.

Schöne Volkslieder sollen uns belfen, die

Kinder sollen in der Schule nicht bloß Kirchenlieder lernen; ein Volk, das viel singt, wird vor Verwilderung wenigstens Wie es jetzt ist, ich muß cs wiederholen, ist es auch in unserm lieben Deutschland trauri­ ger geworden, obgleich auch schon von alten Zeiten her die

von dieser Seite sehr geschützt.

Zechgelage sammt ihren Raufereien, und das Getümmel der

Jahrmärkte eben nicht den Eindruck von einem schönen Volks­ leben machten.

Jetzt aber wird in

allem dem

unruhigen

Treiben meist gar nicht mehr ein Grundton vernommen, der uns auch nur das Gefühl gewährte, daß die Mistöne sich auflösen mögen, und wir fühlen uns nicht anders wohl, als

wenn wir uns hinaus in die freundliche Ruhe der Natur flüchten." — llnd, setzte der Pädagoge hinzu, in einen solchen

traulichen Kreis. — „Nun denn," schloß sich der Arzt au, „so stimmt uns unser lieber Musiker auch für die Kreise, in die

wir draußen eintreten."

Und warum nicht auch im Staat? in den Schulen? in dem kirchlichen Lcbeu?

Der Arzt politisirte gern ein wenige

Jene Grundsätze

bezog er auf den Staat und meinte, hier sey das, was der Musiker von dem Contrapunct sage, in allen den Bewegungen, auch der sogenannten Opposition, wohl zu befolgen. Eine weise Regierung könne das dem Gemeinwesen zu statten kom­

men lassen.

Nur müssen nicht, wie man es jetzt zu verstehen

scheine, zwei feindselige Principien wirken, und die Stände sollten jene seyn, welche die Natur angibt. Das Leben im Staat soll ja nicht ein geheimer innerer Krieg seyn, sondern die innigste Eintracht; Gerechtigkeit und Friede sollen sich nach dem schönen Bilde des heiligen Sängers überall im Lande küs­ sen.

Jenes andere Bild aus dem Alterthum, das die Ordnung

droben am Himmel auch den Staaten vorhält, sollte in den neuen Verfassungen nicht entschwinden. Mehr als alle äußere

77 Constitution sey aber die wohlgeordnete Sitte zu Hause. Gute

Väter und Mütter seyen die Gewährleistung des öffentlichen Wohlstandes, und wohlerzogene Kinder die Verheißung des

künftigen.

Wohl stehe es um die Stadt und das Land, wo

die Bewohner ihren Beruf treu erfüllen, jedes in seinem Be­

reiche.

Darum sey viel für den Staat zu fürchten, wo die

Zllgend nicht mehr das Alter ehrt, wo der Jüngling sich schon in das öffentliche Leben vordrängt, wo die Mütter ein andereInteresse ergreifen, als das für Haus, Mann und Kind; und

wenn vollends das weibliche Geschlecht in den Taumel politi­ scher Bewegungen gerissen werde, so seyen die Kinder und

Enkel zu beklagen.

So sey auch hierin, meinte er, im Ge­

gensatz gegen die Zerrüttungen von Krieg und Zwietracht, das

Ideal von einem musikalischen Leben der Staaten für sich und eines Staatenvereins auszuzeichnen. — Wer sollte nicht durch

solche Ideale begeistert werden! sagte der Pädagoge; auch soll

uns der kalte Ausruf: fromme Wünsche! nicht entgeistern. Aber vergessen dürfen wir doch nicht die Kirche und die Schule in das Bild mit aufzunehmen. Beide gehören dazu. Denn die

Jugend soll dazu gebildet werden, und der höhere Lebensquell

soll fortwährend in die Gemüther einfließen. Auch läßt sich die Volksschule selbst so einrichten, daß die Kinder in der Ord­

nung und in dem Fleiße, dabei in einem freundlichen Zusam­ menleben unter würdigen Lehrern ganz in die Harmonie des Lebens hereinwachsen. Manches Beispiel legt uns das vor Augen, so daß wir da nicht mehr von einem bloßen frommen Wunsche reden.

Und da haben wir ja zugleich einen Weg,

auch jenem Ideale näher zu kommen. Aber der sicherste Weg ist uns in der christlichen Religion eröffnet. Auch hier be­

gegnen uns manche herrliche Erfahrungen.

Ein Geistlicher,

wie dort Oberlin in seinem Steinthal wirkte, was vermag er

Das war freilich eine eigene Individualität und Lage, aber wir sehen ja auch, wie so mancher ächtchrisiliche Lehrer

nicht!

im Stillen seine Gemeinde zur Gottseligkeit erhebt, und wie

die Sonntagskirche die Woche hindurch auf dem Felde und in den Werkstätten fortdauert.

Traurig genug, daß Viele die-

78 sen ihren Hetzen Beruf verkennen, wohl gar in die Politik gerathen und damit gerade dem politischen Wohlstand ihres Gemeinwesens in den Weg treten! „Sind die Geistlichen," schloß der Arzt, „recht geistlich in Lehre und Leben, so sind sie ein Segen für das Land."

Die musikalische Stimmung.

So wäre denn das Ergebniß, wohin uns alle jene Be­ trachtungen führen, daß jeder in seinem Kreise das, wozu ihn Gott berufen hat, mit Lust und Liebe seyn solle, und daß hieraus die reine Lebensharmonie entstehe. Dieses Urtheil des Pädagogen fand die Billigung auch des Musikers, welcher das Bild noch weiter ausmalte. Zeder, meinte er, solle in dieser Harmonie ein rcingestimmter Ton seyn, die Stimmung aber komme von dem Geiste, den der Mensch in dem Umgang niit Gott empfange. Das eben sey jener einigende Geist der Liebe, welcher alle Dissonanzen, die freilich in keinem Verhältnisse auf Erden ausbleiben, immer wohlthuend löse und eS nie, bei allen den unendlich vielen Verschiedenheiten, zu einer Dishar­ monie kommen lasse. Selbst der eine Mensch, der im Dur­ ton spricht und handelt, wird mit dem andern, dessen Leben ein Mollton ist, sich auf eine Art verstehen, wie ein Wechsel dieser Töne eine Symphonie verschönern kann. Denn wie jeder seine Physiognomie hat, so hat er auch seinen Ton und seine Tonart, sowohl in seiner Stimme, als in seinem Ge­ müthe und in seinem Benehmen; und jede ist gut, wenn sie als Wahrheit eines edlen Charakters rein gehalten wird. Daß aber die diffonirenden Töne nicht disharmonisch durch einander fahren, das wird durch jenen Geist der Liebe verhütet; sie hat die Wunderkraft, alle jene Tonarten in ein harmonisches Ge« sammtleben zu verschmelzen, ohne eine eingehen zu lassen. DaS möchte man als das Musikalische im Menschenleben im Gro» ßen betrachten, welches eben jener Geist in herrlichen Fugen durchführt, wenn anders die Menschen sich mit Selbstverläugnung zu diesem Preißgesang ihres Lebens erheben wollen«

79 Allerdings aber müßten die Berufsgcschäfte, die Erholungen, die Freuden der Geselligkeit, die Studien in Kunst, insbeson­ dere im Zeichnen, und in Wissenschaften — kurz alles im Le­ ben müsse hierzu wohl geordnet und eiiigefügt seyn. — Der Arzt erinnerte hierbei an Magnetismus und Homöopathie, wie jedoch die Musik in jenem Sinne ein größeres Heil für die Menschheit verheiße; und der Pädagoge dachte an dm Garten als Borbild einer Menschenwelt, welche auf solche Weise in ihr seliges Leben erhoben werde. — „Bedenken wir aber auch, liebe Freunde," fragte der Alte in dem schönsten Herzensto», „woher unS dieses Heil kommt?" und cinmüthig, in vollem Accord, sprachen es die drei Freunde aus: „Das kommt unS nur durch das Christenthum."

Die Musik für die Zöglinge. Wei weiterem Nachdenken über die pädagogische Anwen, düng dieser Ideen erinnerte sich P. an das ungünstige Urtheil über die Musik, das der Philosoph Kant gefällt hatte, der sie tief unter die übrigen schönen Künste setzt, weil sie so ganz im Dienste der Sinnlichkeit stehe. Nach dieser Ansicht war das harte Urtheil folgerichtig, aber die Ansicht war sehr einseitig. Dieser kritische Philosoph hatte wohl die gemeine Erfahrung für sich, nach welcher alle Welt nur den Ohkcnschmauß sucht und in die Concerte eilt, wo die Kehlen und Saiten und Hörner und Flöten re. einen genußreichen Abend, wie es die Toilettensprache ausdrückt, versprechen, — jene alltägliche Erfah­ rung, daß bald rauschende, bald schmelzende Töne die Ohren kitzeln sollen, und die Seele in ihren süßen Gelüsten dann schwelgen mag. Allein das sind die wahrhaft unmusikalischen Menschen, die das suchen, und das Hohe der Tonkunst ist etwas ganz anderes; das, was den Gehörnerven berührt, ist nur das Mittel, wie es ja überall der Schönheit nur im Sinnlichen gegeben ist, hier aber, um auf den Flügeln der Töne die Seele zum Anschauen der himmlischen Urschönheit emporzutragen. Hierdurch steht die Musik in höherer Macht und Würde als

80 alle die übrigen schönen Künste.

Gelegenheitlich befragte der

Erzieher den Lehrer, ob er die Kinder in ein Concert führen

solle?

Dieser war der Meinung, daß cs für dieses Alter noch

nicht so bedenklich sey als für das etwas spätere, wo die Lei­

denschaften schon erwachten.

Jetzt sey nur das eigne Spielen

von aufregenden oder die Zerstreuungssucht nährenden Stücken weit nachtheiliger, als selbst die rauschenden Symphonieen, die auf die Kinder noch nicht anders wirken als eine türkische Musik, welche durch die Straßen zieht; im Allgemeinen werde nur die Munterkeit belebt. Er möge jedoch beobachten, was für einen Eindruck die verschiedenen Vorträge in dem Concert

auf die Kinder machten; fände er im mindesten, daß ihre Ner­

ven gereizt würden, oder ein falscher Geschmack beginnen wollte, so sey es Zeit, sie nicht mehr hinzuführen. Auf die weitere Frage, ob nicht doch das Anhören guter Stücke einen guten Geschmack frühzeitig bilden müsse? antwortete er, daß das viel

besser in dem Zimmer durch den Lehrer geschehe als durch ein Spiel, das Erwachsene unterhalten soll, und daß man nicht zu voreilig mit der Kritik bei der Jugend seyn solle. Sie gefalle sich gar zu leicht im Nachsprechen von Geschmacksur­

theilen und maße sie sich wohl gar selbst an. Ruhige Bil­ dung, die allmählig zur Reise gelangen lasse, sey auch in der

Musik die wahre.

Der Erzieher. Die schöne Jahreszeit war in ihrer ganzen Fülle erschie­

nen. Die Familie zog nunmehr wieder auf das Land. Es war. an einem Tage, wo der Frühling alle seine Herrlichkeiten aufgethan hatte; der Gottcsfrieden der Natur umwehte die Hinziehenden, und freudig wurden sie von ihren lieben Land­ bewohnern empfangen.

Aber vergnügt konnten sie auch die

Stadt verlassen, denn die Hausfreunde, der Arzt und der Mu­

siker, begleiteten sie, um den Sommer bei ihnen zuzubringen. Ein schönes Landleben! Der Meister im Garten und der Meister in den Harmoniern waren viel zusammen, denn jeder

81 fand in dem andern einen Wiederschein seiner Kunst, und noch manche Ergänzung dazu. — Wenn diese frommen Gemüther sich in einander ergießen, sagte der Pädagoge einmal dem Prin­ cipal, so weiß man nicht, ob man sich mehr in einem Pa­ radies sieht oder mehr hört. — Auch der Arzt lebte ganz in diesem Verein, lind sein näherer Freund wiederholte ihm bei jeder Gelegenheit seinen Herzensdank. Denn er habe ihn ge­ lehrt, wie die Natur der Heilung bedürfe. „Aber," erwiederte dieser, „wollen wir nicht allen diese» Dank den beiden lieben Alten gemeinsam bringen? Wenn uns der im Garten in allen den lieblichen Schöpfungen die Urbilder der Natur ent­ schleiert, so läßt uns der Mann ans der Kirche die Har­ moniern der Engel ahnen; und was wäre die Heilkunsi ohne diesen Geist, den wir von oben empfangen! Ilebrigens wollen wir unsern Maler nicht vergessen, der uns allen vieles gibt und noch mehr geben wird, da wir nächstens seinen Be­ such erwarten." — Nun so theilt euch denn, liebe Freunde, in meinen Dank, wie ihr euch doch auch gegenseitig vieles ver­ dankt; jeder aber erhält ihn von mir ganz, denn meinem Her­ zen müßt ihr sein Recht lassen. Was ich jedem schuldig bin, möge meine Berufsthätigkeit zeigen! Ihr habt den Erzieher durch diese drei Stufen dahin geführt, so daß er nun weiß, was er zu thun hat, iinb was die Bildung der Jugend ver­ langt. Ihr habt mir Ideen gegeben, die mir ein hohes Ziel zeigen und mein Streben freudig machen, und das selbst im alltäglichen Geschäft. Den» ihr habt mich auch zu der Er­ kenntniß geführt, daß der gemeine Arbeiter, der treu ist in seinem Berufe, doch mehr im Reiche Gottes leistet, als der, welcher mit seinen Ideen über die Wirklichkeit hinfiiegt. So will ich denn bei den Kindern hier als Hauslehrer mein Bestes thun und in dem ruhigen Gang fortfahren. Was die höhere Natur verlangt, dazu bietet die Heilkunde ihre Mit­ tel, aber damit das Kind im Garten Gottes zum Ebenbilde Gottes heranwachse, dazu bedarf es jener Kraft, die da wahr­ haft heilt. Was wir die musikalische Erziehung nannten, laßt es uns bei dem rechten Namen nennen, die christliche. Denn Schwarz: Darstell, a. d. Gebiete d. Ersteh.

0

82 dahin hat sich das Beste, das auch die Alten hatten, erhöht. Seht euch um, ivo ihr wollt, ihr findet nirgends anders als im Christenthum das Heil auch für die Erziehung. Lehren, zubereiten zu diesem und jenem mag man die Jugend wohl mit Glück auch auf anderem Wege, aber erziehen? Dazu gibt es nur dm einen Weg. — Hier endigen diese Mitthei­ lungen des Pädagogen.

II.

Drei Schulre-en, historisch - pädagogischen Inhalts, bei den Prüfungsfeierlichkeiten des Gymnasiums zu Frankfurt a. M. gehalten voll

Theodor Vömel, Direct. deS Gyrrm.

1

Rede *) über PH. Melanchthons Einfluß auf das Schulwesen. (Gehalten zu Frankfurt a. M. den 5. September 1825.)

§35enn kein Theil des menschlichen Strebens ohne Geschichte begonnen lind fortgesetzt werden, und die Strafe des eitlen Un­

ternehmens nicht nachfolgen soll, so ist dieß im Schulwesen ganz besonders der Fall, wo nicht Fertigseyn, Stillstehen, Ver­

sumpfen, sondern Werden, Fortschreiten, Frische und Leben zur Aufgabe gemacht ist.

Hierbei sind aber zwei Abwege zu

vermeiden: daß sich die Schule nicht den Vorwurf großer Liebe zu Neuerungen, Versuchen und Veränderungen zuziehe, denn da würde sie eine pädagogische Experimentalanstalt; und daß sie nicht eine zu große Vorliebe zum Hergebrachten, Men, Unveränderten zeige, denn da erstarrte sie in der einmal ange­

nommenen Form.

Beide Abwege vermeiden, lehrt nur die

Geschichte, indem sie uns fragen heißt und die Frage beant­

wortet, wie allgemein anerkannt große Lehrer bei dem Schaf­ fen neuer und bet der Erhaltung bestandener Einrichtungen ver­

fahren haben.

Wie diese sich in und außer der Schule be­

nommen, das wäre das Augenmerk, worauf wir beständig

sehen sollten.

Gehen wir nur durch die Zeiträume unserer

Geschichte, so finden wir weder eine bewegtere Zeit, als das

16te Jahrhundert, noch einen für daö Schulwesen thätigeren Mann, als Philipp Melanchthon.

Welchen Einfluß die­

ser große Geist als Theologe, als Philologe und als Staats­ mann gehabt, ist vielfach dargestellt und von allen Parteien **) Zwar sind diese Reden nicht ursprünglich zum Druck bestimmt, aber der Herausgeber, der fle iu obiger Beziehung gehaltreich und von nicht bloß localer Bedeutung fand, hat von dem Vers, die Erlaubniß zu dieser öffentlichen Mittheilung erhalten.

86 entschieden anerkannt.

Betrachten wir ihn jetzt in seinem Ein­

fluß auf das Schulwesen und als Lehrer, von dem wir na­

türlich den Menschen so wenig trennen können, als wir sei­

nen Bildungsgang unberührt lassen dürfen.

Alle in dieser Versammlung Anwesende bitte ich, diesem für unsere Schule wichtigen

Gegenstand ein geneigtes und

wohlwollendes Ohr zu schenken.

Und warum sollte diese Bitte

vergebens seyn, wenn ich von dem Manne reden will, der in Liebe alle so gern vereinigt hätte? von dem, welchem wir alle

und welchem unsere Kinder die jetzige Gestaltung und Grund­ form der Schulen, namentlich unserer Frankfurter Gelehrten­ schule, verdanken. Denn werfen wir nur einen Blick auf das

Schulwesen vor ihm: fahrende Schülerhorden durchzogen das

Land manchmal zum Schrecken der Bewohner.

Die vielerlei

Schulen, an denen das Mittelalter reich war, hatten aufge­ hört oder waren nur noch in unkenntlichen Schatten vorhan­ den.

Bettelmönche waren an die Stelle von Benedictinern

getreten, und auch sie hatten am Ende das Schulwesen aufgegeben; die Obrigkeit mußte und wollte der Geistlichkeit die

Schulen ganz entziehen, wodurch eine unselige Trennung her­ beigeführt ward, denn die Schulen wurden nun als Privatund Nebensache angesehen.

Besonders

waren die Städte ge­

nöthigt, herumziehende Lehrer, oft selbst noch Schüler,

als

Meister und Gesellen, Handwerks- und zunfnnäßig auf Jah­

resfristen, mit vierteljähriger Aufkündigung zu miethen.

Aben­

teurer waren es, die mit keiner Wissenschaft und keiner Kunst, mit keinem Handwerk ihr Brod verdienen konnten; sie schlu­

gen von Stadt zu Stadt ihre Schule auf.

Der Meister be­

gab sich mit seinen Gesellen in die Schule, als die ihm ange­

wiesene Werkstätte, in irgend eine sonst unbrauchbare Stube, wo in Zorn und Aerger das traurige Geschäft mit alleiniger

Hülfe deS Stocks vergeblich getrieben wurde.

Nach wenigen

Monaten liefen oft die Schüler wieder auseinander.

Der

Meister zog mit den Gesellen weiter, welche ihm so lange fech­ ten halfen, bis sie die Kunst abgesehen, selbst Schule zu hal­

ten.

Gab es einmal irgendwo, wie in Kaufbeuern (1462),

87 eine stehende Schule, so war fie für die damalige Zeit zu theuer; Kost und Unterricht belief sich jährlich auf 7 Gulden. Auch Schüler, die der obern Classen, wanderten häufig von einem Ort zum andem,

lebten von Schauspielen, Schatzgra-

ben, und, wenn sie damit nichts verdienten, vom Betteln und

Stehlen, oder vom offenen Raube.

Sie hießen auch nur die

Müßiggänger, vacantivi, woraus das Volk, sehr verzeihlich, den Ramm Bacchanten machte. Diese führten jüngere Schü­ ler mit sich, welche ihnen, als Leibeigene, Knechtsdienste lei» stm und zum Betteln, wie zum Stehlen, behülflich seyn muß­

ten.

Solche Schüßen, wie sie hießen, hatten es oft im 30sten

Jahre noch nicht über das Abc gebracht.

Das treueste Bild

dieser fahrenden Schüler findet man in Plätters Leben.

Wehe

der Stadt, wo sie ihre Schule aufschlugen: die Straßen wur­ den nicht selten unsicher; Schule, welche auf Deutsch Ruhe

bedeutet, störte auf frevelnde Weise die öffentliche Ruhe, denn war in einer Stadt schon eine andere Schule, so nahm die oft erst nach langem Kämpfen und blutigen Auftritten behauptete

Uebermacht das Schullocal ein; bis zur Entscheidung war ein

freier Platz, z. B. der. Kirchhof, der Aufenthaltsort der frem­ den Bande. Zn solche Zeit fiel MekanchthonS Zugend. Doch

bei allem dem Unheil fanden auch günstigere Umstände im Schulwesen statt. Es war schon die griechische und überhaupt classische Li­

teratur von einzelnen Männern imb von ganzen Gesellschaften in ihre Rechte eingesetzt; in Italien war das classische Alter­ thum zum zweiten Mal emporgeblüht; Universitäten waren ent­ standen; durch die von Conrad Meißel oder CeltiS gestiftete

Rheinische Gesellschaft war für die Wiedererweckung des clas­ sischen Alterthums viel geschehen; ich erinnere nur an die Schule

zu Schlettstadt; an die Erfindung der Buchdruckerkunst; an

die Hieronymianer, welche, von Geirt Groote (Gerhardus

Magnus) zu Deventer gestiftet, alles Schimpfens und Schmä­ hens der Mönche ungeachtet, vom Papste MartinuS V. be­ stätigt, sich immer mehr auSbreiteten. Sie war von der clas­ sischen Bildung und von christlichem Sinne ausgegangen; ihre

88 Lehrer, wie ein Thomas a Kempis, ein Johannes He-

gius, forderten ihre Schüler, einen Erasmus, Agricola u. a., beständig zur classischen Literatur und zu deren Studium

in Italien auf. Aber die mächtigen Gegner ruhten nicht. Es war der Kampf zwischen Barbarei und Cultur zu bestehen. Den Ausschlag für die Cultur gab Meianchthon mit seinen durch ganz Deutschland verbreiteten Freunden unter beiden Re-

ligionSpartcien.

Sein Aller erlebte den Sieg, seine Jugend

hatte redlrch gekämpft.

Das Folgende mag

darüber Auf­

schluß geben. Zu Bretten, Philipp Schwarzerds Geburtsort, war

der Meister der daselbst aufgcschlageuen Schule mit einer bös­ artigen Krankheit behaftet. Daruin ließ der verständige und fromme Vater, em tüchtiger Waffenschm'.dt, seinen kleinen Philipp von einem jungen Johannes Unger, der in Bretten wohnte, privatim unterrichten.

Unger knüpfte den Unterricht hauptsächlich an die lateinische Grammatik, durch unablässiges

Fragen und sokratischc Lehrweise den jugendlichen Geist weit

mehr aufregend und bildend, als durch trockenes Dociren. Der Knabe wurde wegen seiner lebhaften und leichten Mit­ theilung, seiner Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit der Lieb­ ling der Stadt. Kamen fremde Schüler gezogen, so wollte er sie immer zu Gesprächen veranlassen; gingen dieselben darauf ein, so setzte er ihnen stark zu, denn er hatte viel gelesen, und was er hörte und las, behielt er fest. Darin, d. h. im schnel­ len Auffassen und guten Behalten des Erlernten, zeigte er eine außerordentliche Kraft; und was er wußte, konnte er mit Klarheit und Bestimmtheit wiedergebeti. Das Erlernte mit-

zutheilen, war ihm Bedürfniß. Den lästigen Naturfehler, den er hatte, das Stammeln, unterdrückte er bald durch Aufmerk­ samkeit auf seine Aussprache. Vom Vater wurde er ernst und

fromm erzogen; dieser aber starb ihm früh in Mannheim bei Ablieferung von Waffen. Dem 10jährigen Sohne hatte er gesagt: „Vieles und Großes habe ich in der Welt erlebt; aber Größeres wird kommen. Gott leite und regiere Dich!" Dem Vater folgte der Großvater bald nach.

Die Mutter,

89 welcher ihr Mann etwas Vermögen hinterlassen hatte, that

den Sohn aus dem Privatunterricht nach Pforzheim, wo, wie eine Wundererscheinung, eine sichende Schule war, unter dem Meister G. Similer, einem trefflichen Griechen, welcher, um

das Studium der griechischen Sprache emporzubringen, dem fleißigsten Schüler noch Privatunterricht gab. Dieser fleißigste war Philipp Schwarzerd. Er wohnte in Pforzheim bei seiner Base, einer Schwester Reuchlins. Als dieser Gelehrte ein­ mal von Stuttgart kam, fand er in den Antworten des lljährigen Knaben viel Anziehendes und schenkte ihm zum Scherz einen rothen Doktorhut.

Höchst erfreut über diese Gunstbe­

zeigung studirte Melanchthon, denn so hatte Reuchlin den deutschen Namen Schwarzerd nach damaliger Sitte griechisch umgewandelt, mit seinen Genossen eine von Reuchlins lateini­

Reuchlin

schen Komödien ein und führte sie vor ihm auf.

beschäftigte sich viel mit ihm, schenkte ihm ein Buch von grie­ chischen Regeln, ein griechisches Wörterbuch und eine Bibel,

was dessen Lerneifer gewaltig entflammte.

Zm Z. 1509 ging

nun der 12jährige Melanchthon auf die Universität zu Hei­ delberg, feines Vaters Geburtsort. Hier lebte noch der Geist des eben erwähnten Agricola: Johannes Wimpfeling wurde sein Lehrer. Er wohnte in dem Haufe des Theologen Pal­ las Spangelius nicht ohne großen Nutzen.

Freundschaft offenes

Gemüth schloß sich dem

Sein der

jungen Pe­

ter Sturm an, einem Bruder des nachher so berühmten Jakob Sturm aus Straßburg.

Auch in Heidelberg glänz­

Er gab mehreren erwachsenen Studenten Unterricht, unter andern zweim ten Melanchthons große Gaben und edles Benehmen.

Grafen von Löwenstein.

Als einst ein Lehrer während des

Unterrichts unpäßlich wurde, trug dieser ihm auf, für ihn fort« zufahren.

Ein anderer Lehrer wollte etwas aus dem Grie­

chischen beantwortet wissen und fragte im öffentlichen Audito­ rium: Wo finde ich einen Griechen? Alles rief: Melanchthon! Melanchthon! So anerkannt waren seine Kenntnisse, so we­

nig beneidet durch die Bescheidenheit seines Benehmens. Vier­ zehn Zahre alt, wurde er Bakkalaureus. Die Magisterwürde,

90 um welche er bald darauf ansuchte, wurde ihm wegen seiner Jugend versagt.

Damals noch von großer Reizbarkeit, die er

erst später zu besiegen lernte, verließ er darüber Heidelberg, wo

er ohnehin häufig mit dem Fieber behaftet war. Zn der Folge billigte er selbst jene Strenge: „Es ist," schreibt er, „zuwei­ len sehr gut, wenn jungen Leuten ihre Wünsche abgeschlagen

werden. Durch die Verweigerung der Magisterwürde zu Hei­ delberg wurde ich nur desto mehr zum Fleiße ermuntert." Er bezog die Universität Tübingen, wo er diese Würde nach dem strengsten, aber glorreichsten Examen unter 11 weit älte­ ren als der Erste erhielt.

Seinem Geiste genügte nun nicht

mehr Eine Wissenschaft, er studirte alle Facultäten, doch neigte

sich sein im elterlichen Hause gepflegter, religiöser Sinn am meisten und eifrigsten zur Theologie. Ein großer, alle Ge­ müther der Professoren und Studenten bewegender Streit über

die Platonische und über die Aristotelische Philosophie schied

alle in Nominalisten und Realisten; man kämpfte in Tübin­ gen gegen einander nicht nur in öffentlichen Disputationen, sondern auch sehr oft mit den Waffen. Der Züngling ver­ söhnte die Parteien mit seiner dialektischen Kunst, mit seiner Gelehrsamkeit, mit seiner Sanftmuth, mit seiner Entschieden­

heit.

Liebe und Dankbarkeit gegen Reuchlin, welcher in diesen

Streit sehr verwickelt war, leitete ihn. Melanchthon arbeitete Tag und Nacht: er dirigirte die dortige Druckerei des Anselmus, wozu damals besonders Gelehrsamkeit und Kritik nöthig

war; er machte sich fleißig Auszüge, übte sich in lateinischen und griechischen Auszügen und Gedichten; hielt Vorlesungen über classische Schriftsteller; das griechische N. Testament, sein Lieblingsbuch, trug er immer bei sich. Dem 18jährigen Züng­

ling wird die Professur der Rhetorik übertragen.

Erasmus von ihm:

Da schreibt

„Aber, unsterblicher Gott! welche Hoff­

nungen gewährt dieser sehr junge Mensch, fast noch ein Knabe;

in beider Literatur ist er gleich hoch zu schätzen.

Welcher

Scharfsinn der Erfindung, welche Reinheit der Sprache, welche

Eleganz, welches Gedächtniß der unbekanntesten Sachen, welche Der Kurfürst von Sachsen ließ ihn 1518

reife Belesenheit!"

91 als Professor der griechischen Literatur nach Wittenberg

kommen.

Er verließ Tübingen zum Leidwesen Aller.

er auf seiner Reise kam, ward er gefeiert.

Wohin

Zn Nürnberg

knüpfte sich zwischen ihm und Pirkheimer ein engeS Band. Zn Leipzig wurde er mit großen Ehren empfangen; beim

Gastmahl daselbst schaffte er durch seinen Ernst und seine Ge­ wandtheit lächerliche Sitten ab.

Mittelpunct für Europa.

Wittenberg wurde nun der

Sein Ruhm zog Schüler aus allen

Rationen herbei, nicht allein aus Deutschland, sondern auch aus Frankreich, England, Ungarn, Siebenbürgen, Polen, Böh­

men, Dänemark, selbst aus Ztalien, wo doch der Sitz und die Quelle der Gelehrsamkeit war. Er hatte oft 2000 Zu­ hörer zu gleicher Zeit, sie drängten sich an den Fenstern hinauf. Sein Ansehen in dem Auslande erhellt unter andern aus einem

Briefe des Cardinal Sadolet, den wir in einer treuen Ab­ schrift besitzen. König Franz I. lud ihn zu sich nach Frank­

reich ein, er war ihm durch den Erzbischof von Paris empfoh­ len. Auch war er diesem Rufe nicht abgeneigt. Luther rieth zu, aber der Kurfürst verweigerte in unfreundlichen Ausdrücken

die Erlaubniß, weil er zu große Nachgiebigkeit des Vermittlers fürchtete. Heinrich VIII. hätte gern den weit berühmten Rathgeber der Fürsten nach England gezogen, aber Melanchthon fand diese Reise bedenklich. Auch kränkelte er. — So viel

von seinem Leben im Allgemeinen.

Betrachten wir nun noch insbesondere seine Wirksamkeit und seinen Einfluß auf das Schulwesen.

Abgesehen von der

unberechenbaren Bildung, welche von seiner Anleitung zur geistllchen Beredtsamkeit ausgegangen ist — denn tausende von Canzelrednern verbreiteten die Früchte derselben in ihre Heimath, wodurch er die durchgreifende Volksbildung begründete — ab­ gesehen davon, betrachten wir ihn jetzt nur in seinem Einfluß

auf das eigentliche Schulwesen.

Die classische Literatur trug

ex fortwährend mit Liebe vor und verbreitete von dieser Seite Geist und Geschmack; er weckte und bildete viele Männer, für das Schulfach, von welchem er die höchste Vorstellung hegte, so sehr er auch seine Bitterkeiten erfahren hatte, wie man auS

92 seinen Fabeln von der Schlange, vom ersäuften Hunde, vom alten Pferde sieht, und aus seiner Rede de miseriis et aerumnis paedagogorum ligkeiten der Erzieher).

(von den

Kümmernissen und Mühse­

Dennoch schreibt er in einem Briese

an seinen Freund Sturm in Straßburg: „Das Schulleben ist ewig glänzend, es macht sich um das Menschengeschlecht am meisten verdient und es ist die einzige Leuchte des Lebens." In seiner Anleitung dazu verband er beständig die classische Literatur mit der christlichen Bildung: so waren gleich seine

ersten Vorlesungen zu Wittenberg über Homer und über den

Sein überaus einnehmender Vortrag bildete seine Schüler zu Christen und zu Philologen, wodurch er der

Brief an Titus.

Stifter eines ganz neuen Schtllwesens wurde, denn dieser Geist

siegte völlig über die Bacchanten.

Luther schreibt von ihm:

„Wer Philippum nicht zum Lehrer anerkennt, der muß ein rechter ... und Bacchant seyn, den der Dünkel gebissen hat. Es ist ans Erden keiner, den die Sonne bescheint, der solche dona hätte, als Philippus."

llnb Luthers Gegner Erasmus

bezeugt, daß Melanchthon alle Lehrer verdunkeln würde. Aber verweilen wir einen Augenblick bei seiner Lehrart. Vorerst suchte er ein brennendes Verlangen nach jeder Art von Gelehrsamkeit

und Wissenschaft zu erregen; diese begründete er auf lebendig

religiösen Sinn, als worauf er alle Kräfte des Geistes wollte gerichtet wissen. Er leitete der Schüler Studien und Arbeiten. Schreib- und Rcdeübungen brachte er auf und ging darin mit dem besten Muster voran. Wenn er seine Schüler An­ deren zur Hebung Unterricht ertheilen ließ, kam er ost selbst,

setzte sich unter die Schüler und hörte zu. Dadurch wurden sie aufmerksam, und die Achtung gegen den Lehrer wuchs. Auf die Mathematik legte er einen hohen Werth, weil man nur durch sie Methode lerne. Hier hatte er aber mit großen

Schwierigkeiten zu kämpfen. Hören wir ihn selbst über seine Ansicht von der Mathematik. Zn der Vorrede zu Euklid sagt er: „Die Mathematik muß man nicht bloß wegen ihres Nutzens für das gemeine Leben treiben, sondern auch um ihrer selbst

willen.

Durch sie lernt man die wahre Methode zu studiren

95 und

zu unterweisen.

Sie bleibt nicht auf der Erde sichen,

sondern sie reißt die großen Geister mit sich zum Himmel und

erfüllt die gewöhnlichen mit Bewunderung. Ihr Jünglinge, ruft er auch wollt ihr zur wahren Ehre aus allen Kräften ge­ langen, so verschafft euch solide Gelehrsamkeit und Bildung,

erkennt den Zusammenhang aller Wissenschaften durch die Phi­ losophie, wozu die Mathematik vorbereitet. Diese Wissenschaft, fährt er fort, liegt Jahrhunderte lang vernachlässigt, unser Zeit­

alter erinnert uns aber ernst genug, wie nothwendig die ächte

Humanitätsbildung sey. Denn aus Mangel an Urtheil und aus Unfähigkeit, sich deutlich auszudrücken, kommen die fal­ schen Meinungen, die kirchlichen Streitigkeiten und Uneinig­

keiten.

Es ist dieser Uebel auch nicht eher ein Ende zu finden,

als bis man die Jugend zu der wahren und gelehrten Methode des Lernens zurückruft. Das ist der Lehrer und der Schüler

Pflicht, die von Gott auf den Posten gestellt sind, daß sie die Bildung dem Menschengeschlecht erhalte». Auch die Jüng­ linge sollen bedenken, daß ihnen Gott diese Pflicht auferlegt habe, sich eine gründliche, vollkommene Bildung zu erwerben. Darum müssen sie dieselbe andächtige Gesinnung mit in die Schule nehmen wie in die Kirche; in gemeiner und gewöhn­ licher Gemüthsstimmung befleckt man den heiligsten Tempel der Bildung.

Die Schwierigkeit der Mathematik kann nur

die abschrecken, die davon urtheilen, ohne ihre Elemente gelernt, zu haben, und die wenigstens sind nicht schwer. Die höheren Sätze aber werden durch die Entwicklung so erleichtert, daß

sie aufbören schwer zu seyn.

Die höchste Trägheit aber ist

es, eine Sache aufzugeben, ehe man sie versucht hat, und die höchste Schlaffheit, beim Studiren keine Mühe anwenden zu wollen. Und doch verlangen solche hernach Staatsämter. Au­ ßerdem noch, daß die Mathematik das Urtheil und das An­ schauungsvermögen übt, dient ihr Studium auch dazu, viele

sonst völlig dunkle Stellen in den Classikern zu verstehen, und schon das sollte die Jünglinge dazu anregen, daß sich große

Männer damit beschäftigt haben." So weit Melanchthon. Diese durchaus und in jeder Hinsicht classisch zu nennende Bil-

94 düng wurde sehr gehaßt und auf alle Weise verläumdet, ohne daß sich Melanchthon daran kehrte.

Seine Antrittsrede in

Wittenberg kündigte sogleich an, worauf er eS abgesehen habe;

und den eingeschlagenen Weg hat er nicht aus Eigensinn, son­ dern aus Ueberzeugung nicht mehr verlassen. Von Einem Punct war er ausgegangen, nach Einem Ziel strebte er.

Wie hätte

er auch sonst der Schöpfer einer neuen Ordnung, eines neuen Lebens werden können?

Lehrer und Lehrbücher, Methode und

Lust und alles mußte er unter vielen Hemmungen, die er überall fand, erst schaffen.

Die Genugthuung hatte er aber auch,

daß sein Werk gedieh.

Seine Lehrbücher wurden nach und

nach in allen Schulen beider Confessionen eingeführt.

Seine

Ideen über Erziehung und Methode schlugen überall Wurzel. Seine vielen Ausgaben klassischer Schriftsteller weckten ein clas­

sisches Leben ha, wo bisher nur ein todtes, dumpfes Wesen geherrscht hatte. zu statten.

Luthers Denkungsart kam ihm hierin sehr

„So lieb uns das Evangelium ist," schreibt die­

ser einmal, „so hart laßt uns an den Sprachen halten.

heilige Geist hat sie vom Himmel gebracht. feine, edle Gabe Gottes."

Der

Sie sind eine

Melanchthon war es auch, der

nicht eher ruhte, bis die Obrigkeiten Schulvisitationen anord­

neten, wodurch die Schulen Angelegenheit des Staats wur­ den.

Bei dem nunmehr erwachten regsamen Leben wollte man

neue Schulen errichten, von allen Orten her wandte man sich

an Melanchthon: er sollte der Schule ihre Gestalt geben, den Lehrplan entwerfen, wobei er die einfachsten Grundsätze be­

folgte; er sollte die Schulgesetze machen, welche in manchen

Ländern bis in die neuste Zeit bestanden; er sollte die Lehrer Vorschlägen, wozu er seine tüchtigsten Schüler nahm.

Eine

der ersten so von ihm gestellten Schulen war die zu Nürn­

berg *).

Die Idee ging von dem Rathsschreiber Spengler

°) Mau wird mit Vergnügen die seitdem erschienene Geschichte die­ ser durch Melanchthon gestifteten Schule Nachlesen in Fikeuscher« Abhandlung. Nürnberg. 1826: Da« Gymnasium zu Nürnberg nach seinen Schicksalen und seinem gegenwärtigen Be­ stand, nebst kurzen Eharakteristikeo der berühmtesten Mao-

95 aus- dieser gewann die beiden einflußreichsten Sematoren Mucelius und Ebner dafür. Das Werk, welches mit Begeitut, die zu seiner Gründung beigetragen halben; voraus wir Folgendes hier ansschreiben: „Zn Nuzel," sagt CamsrariuS, „lebte ein hoher und großer Geist, der von solcher Klugheit war,, daß ich Nie­ manden, so vielen Gesprächen über ihn ich auch beiwohmte, hatte be­ haupten hören, er habe je einen Manu gefunden, der ihn in bürgerli­ cher Geschäftskenutniß und Gewandtheit übertroffen hätte. Was er nach angestellter Uebevlegung für heilsam dem Gemeinwesen ersannt hatte, da­ von ließ er sich weder durch Haß, noch durch Liebe abbringen. Hatte er nichts ausrichten können und sich von der Anzahl seiner Gegner über­ stimmt gesehen, so verbarg er seinen Eifer und Vorsatz und that, waS jeder seines Geschäftes wohl kundige Manu beobachtet, so daß er die nämliche Ansicht sein Werk zu vollenden beibebielt, nicht leicht die angefaugeue Art eS zu bewerkstelligen veränderte und immer eiyeu neuen Versuch wagte. Wenn man daher schon glaubte, Nuzel habe etwas auf­ gegeben oder fallen lassen, so erfuhr ich, daß er einen günstigen Zeit­ punct ein anders Mal gefunden und unvermuthet den nämlichen Antrag durchgesetzt habe, so daß dieser in einem Beschlusse angenommen wurde. Ebner war von sanfterem Charakter und freundlicherem und ruhigerem Geiste. Seine höchste Sorge war Unbescholtenheit und Bewahrung eines guten Gewissens. So schien Gott jener Stadt das Zusammenwirken die­ ser Beiden zu ihrem Glücke geschenkt zu haben, indem sich die trefflichen Charaktere so auSglichen, daß jeder sein Verschiedenes und Eigenthüm­ liches behielt, was der Staatsverwaltung von Segen seyn mußte. Spengler endlich zeichnete sich durch Erfahrung lind feine Bildung aus, so wie durch Treue Und Fleiß, der sich in vielen schwierigen und gefährlichen Geschäften erprobt und bewahrt hatte, endlich durch eine unauslöschliche Begierde, Wahrheit und Tugend vor Gott und den Men­ schen zu behaupten und zu vertheidigen. Er kannte nichts Höheres, als die Erneuerung der wahren und reinen Religion. Weil ter aber einsah und erkannte, wie sehr die Hoffnung aller Wohlfahrt in göttllichen, mensch­ lichen und bürgerlichen Dingen in der Unterweisung der Äugend beruhe, so lag er mit Ermahnen und Treiben dem Senate an, ldaß er wissen­ schaftlich gebildete Männer finden möchte, welche sich mitt der Bildung der Jugend beschäftigten, und durch deren Verein der ihmen eine vor­ zügliche Schule eröffnet würde." Diese Ansichten theilten Nuzel und Ebner. Ihnen stimmten der Heros Wilibald Pirkheimer, der patriotische An dr eas ZmHof, der gelehrte Christoph Coler, der edeldenkende Clewen-S Volks wer bei, und vereint suchten sie ihren großen Lehrer und Freumd anzufemern.

96 sterung und Frömmigkeit unternommen war, wurde klug und

verständig ausgeführt.

Auf die dringendsten Bitten kam Me-

lanchthon nach Nürnberg und blieb ein ganzes Jahr, bis er mit der Einrichtung fertig wurde. Nichts wäre anziehender, als ihn hier im Einzelnen wirken zu sehen; aber gerade hier

ist sein Biograph Camerarius, den er zum Rector dieser Schule machte, vielleicht aus Bescheidenheit zu kurz.

Wir

wissen nur, daß er außer den philologischen Classenlehrern, worunter Eobanus Hessus war, Johann Schoner") als Lehrer der Mathematik anstcllte.

Auch auf das Frankfur­

ter Schulwesen, und namentlich auf unsere Barfüßer Schule, hatte Melanchthon Einfluß, wovon uns die höchst anziehende

Geschichte der Stadt Frankfurt belehrt.

Es war hier nicht

besser als überall. Einzelne Männer, ein Holz Hausen und ein Fürstenberg, waren für das Schulwesen warm und thätig, sie konnten aber ganz im Geiste der Zeit nur den Be­ schluß auswirken: „Man soll nach einem redlichen, gelehrten und von Mores geschickten Gesellen trachten, der die jungen Kinder in der Lehre anhalte, und demselben des Jahrs so

viel Besoldung als einem Söldner geben, doch dafür einen Söldner minder halten." Oder: „Als die Lehrer an der Bar­ füßer Schule bitten, sie des Hütens, Wachens und Frohnens frei zu lassen, soll man es ihnen abschlagen." Denn auch hier wurden Lehrer als Knechte gedungen. Am meisten aber freimüthig und einsichtsvoll, klagen die Prädicanten darüber. — Daß es nun jetzt so ganz anders ist, daß Schulen und Schul­ wesen der Obrigkeit heilige Sorge geworden, daß alles, zum Fortschreiten willig und bereit, keine Aufopferung scheut, das verdanken wir Melanchthons Streben.

Wie nämlich Al­

gesheimer, der älteste Prädicant, die Concordienformel zu Wittenberg unterschrieb und bei dieser Gelegenheit das Schul­ wesen in Frankfurt schilderte, fragte Melanchthon,

ob denn

nicht der fleißige Mann (welchen er geschickt zu haben scheint)

•) „Dessen Andenken ein Globus auf der Nürnberger Stadlbibliolhek bewahrt." Fikeuscher S. 9.

97 vom Rathe zum Unterricht bestellt worden sey? „Rein," ent­ „er hat keinen Gehalt und wird bald wieder bei Euch in Wittenberg seyn." „Das soll er nicht thun," versetzte Melanchthon unwillig, „Ihr sollt ihm vielmehr gegnete Algesheimer,

noch Gesellen dazu geben; wie kommt es doch, daß Zhr in

Kranksurt der Leute so bald müde seyd ?" — Dies wirkte. Am Ende des 16ten Jahrhunderts sehen wir die Barfüßer­ schule mit 5 Classen in guter Ordnung; und nach dieser wur­

den die andern, die deutschen Schulen, mit den nöthigen Ab­ änderungen eingerichtet.

Die von ihm und durch ihn errich­

teten Schulen visttirte Melanchthon öfter, worin der liebreiche, gewandte und einsichtsvolle Mann überaus viel Gutes wirkte»

Diese Schulvisitationen unterbrach er bei noch so vielen Ge­ schäften nie. Denn obgleich er seinen Schülern in Allem das beste Borbild war, so war er es doch vorzüglich in der Thä­ tigkeit, so wie in der Leutseligkeit.

Sein Biograph schreibt:

„Da sah man Leute beständig in seinem Hause ein» und aus»

gehen, Menschen jeden Alters und jeden Standes, ja jeder Ration, und das nicht täglich, sondern stündlich und jeden

Augenblick. Die Meisten suchten um Empfehlungsschreiben an, von keinem schrieb er aber etwas gegen seine Ueberzeugung, lieber schenkte er Geld, so viel er hatte. Andere baten, er möge ihnen eine Schrift durchsehen, eine Borrede schreiben.

Andere verlangten ein Zeugniß. Andere fragten ihn um Rath.

Andere baten um seine Verwendung.

Andere hatten ihm zu

klagen. Ein Anderer reichte ihm ein Stammbuchsblatt. Bald

mußte er eine Gelegenheitsschrift machen, bald einen Brief beantworten, und er hatte eine große Correspondenz. Seinen Schülern gab er sich oft und gern hin. Fast immer speisten einige deutsche oder ausländische Jünglinge an seinem Tische,

woran zuweilen 10 Sprachen gesprochen wurden.

„Ich kenne

nichts Schöneres," sagte er, „als junge Seelen um mich zu

sehen, die mir so nahe verwandt sind."

Auf seinen Reisen,

welche er meist zu Pferde machte, umgab ihn stets eine Beglei­ tung seiner Schüler. Scherz und Ernst verkürzten den Weg. Manchmal erzählte er ihnen-eine Geschichte oder gab ihnen Schwarz: Darstcll. a. d. Gebiete d. Erzieh.

98 Sein überaus glückliches

Räthsel und sinnreiche Säße auf.

Gedächtniß kam ihm dabei sehr zu statten, war ihm nur Erholung.

lind dieß alles

Die Zahl seiner Werke beläuft sich

auf eine unglaubliche Menge, welche er bei zeitraubenden, schwe­ ren und verdrießlichen Kämpfen und Verfolgungen, die ihn fortwährend trafen, ausgearbeitet hat.

Camerarius

erzählt

himmelschreiende Beispiele von Ungerechtigkeiten und Feindse­

ligkeiten, welche er erfahren mußte; und doch war sein Cha­ rakter so liebenswürdig, so treu, wahr und offen, so heiter und geistreich, so uneigennützig und edel, so streng gegen sich

und nachsichtig gegen Andere. Wie war es nur möglich, daß solch ein Mann Feinde hatte? Darauf antwortet der Hal­ lische Verfasser von Melanchthons Schilderung: „Er lebte in einer Zeit der Aufregung und derGährung; und man weiß ja, wie

bald Billigkeit und Gerechtigkeit schwindet, wenn religiöser oder politischer Parteigeist im Spiele ist." Kein Wunder, daß Melanchthon bei dieser angreisenden Lebensweise oft ganze Nächte

nicht schlafen konnte, zumal bei seinem schwächlichen Körperbau, dem auch manche Unfälle auf den vielen Reisen zugeftoßen wa­

ren; nur durch eine mäßige und einfache Diät brachte er sein Leben auf 63 Jahre *). Man wird leicht begreifen, wie in

°) Zoh. K eßle r, geb. in St. Gallen 1502, welcher 1522 zu Wit, tenberg ftudirte, gibt in seinem Buche Sabbatha folgende Schilderung von Melanchthon:

son,

vermeinest,

„Er ist nach Leibesform eine kleine, uuachtbare Per­ er wäre ein Knab nit über 18 Jahren, so er neben

dem Martino Luther geht; wenn sie aus innerlicher Liebe, ohne Unter­

laß,

bei einander wohnen, stehen und gehen, übertrifft ihn Martinus

nach der Länge mit ganzen Achseln.

Nach Verstand aber, Gelehrte und

Kunst, ein großer starker Ries und Held, daß einen verwundern möcht, in einem so kleinen Lib, so einen großen unübersehlichen Berg, Kunst

und Weisheit verschlossen liegen.

Diesen Philippum hat der Churfürst

gen Wittenberg im 1518 Jahre,

seines Alters ungefähr im 26sten be­

schickt.

Allda lebt er noch in grünendem Alter, wo

ihn Mart. Luther

mit einem eheliche Span (sponsa) versehen, bei welchem er wandelt im

Segen Gottes vieler und hübscher Kinder. wegen seiner Gaben in hoher Achtung.

Ist bei allen Gelehrten von

Za es müssen Freund und Feind

99 einem solchen Streiter des Herrn die Sehnsucht nach dem Lande des Friedens zunehmen mußte. Zm Jahr 1560 ward ihm sein Wunsch erfüllt. Ostern war nahe. Er hatte, wie ge­

wöhnlich,

das Osierprogramm geschrieben, trug es in die

Druckerei und ging dann in die Kirche zum heil. Abendmahl.

Die Kürperschwäche nahm zu. So schwach er sich aber fühlte, wollte er doch noch immer seine Borlesüngett halten. Man mußte ihm sagen, die Schüler seyen Das war sein letzter Gang.

nicht gekommen,

um

den schon Wankenden zurückzuhaltcn.

So lange er die Hand noch rühren konnte, schrieb er.

End­

lich kam der rettende Todcsengel. Melanchthon sprach zu den bebenden Seinen: „Zch habe nur noch eine Sorge, ach daß die Kirche einträchtig bleibe!" Gefragt, ob er etwas verlange, erwiederte er: „Nichts, als den Himmel. Bald darauf fing er an zu beten: „Auf Dich, Herr! hab' ich gehofft; du wirst mich nicht lassen zu Schanden werden." Unter diesen Worten

ist er entschlafen. Das Beispiel eines solchen Knaben, ZünglingS und Man­ nes schwebe unserer Jugend vor!

2. Johannes Sturm. (Schulrede, gehalten zu Frankfurt a. M. am 20sten März 1826.)

Als ich das letzte Mal die Ehre hatte, hier vor Zhnen aufzutreten, sprach ich von Melanchthons Einfluß auf das Schulwesen. Die Wahl wurde nicht gemisbilligt; dieß gibt

mir den Muth, jetzt einen gleichartigen Gegenstand vorzutragen. — Sehen wir jene Helden in der Laufbahn ihres Schulsich an ihm, als einem David gegen den erschlagenen Goliath, hoch ver­ wundern.^ (Aus der Schrift von I. Fr. Franz, evaug. Pfarrer Mo.qilsberg im Toggenburg, über Keßler, Ebnat. 1824.) Anm. d. Heraus^.

100 lebens, so können wir keinen Augenblick ansiehen, zu erkennen,

daß Johannes Sturm eß sey, dem der Preis; gebühre.

Er

war vielleicht der größte Schulmann aller Zeiten und einer der wichtigsten Methodiker und Pädagogen unter allen, die

Wenn aber mein Vortrag von ihm manches zu wünschen übrig läßt, so bitte ich um Nach­

in Schriften aufgetreten sind.

sicht und beklage zugleich, daß es schwer ist, Nachrichten über diesen großen Mann auszubringen, da er noch keinen Bio­

graphen gefunden hat.

Was sollte auch daß Leben eines Still und

Schulmannes für einen besondern Reiz gewähren.

unbemerkt, eintönig, bedeutungslos und fast todt scheint sein Leben der Menge zu seyn, und die Geschichte findet nichts auf­

zuzeichnen, besonders wenn eß in eine so außerordentlich bewegte Zeit fällt, wie das 16te Jahrhundert war, reich an großen Begebenheiten, Verhandlungen, Kriegen und Empörungen an allen Orten und Enden von ganz Europa, selbst in Asien, so

daß auch das bedeutendste Leben eines Einzelnen sehr leicht mit Stillschweigen hätte übergangen werden können. Johannes Sturm war zu Schleiden, einem Städtchen in der Eifel, nicht sehr weit von Bonn, den Iten Oct. 1507 ge­

boren. Sein Vater Wilhelm Sturm, ein vermögender und kenntnißreicher Mann, war Rentmeister im Dienste deß Gra­ fen Manderscheid, zu dessen Grafschaft Schleiden gehörte, und mit dessen Söhnen der neunjährige Johannes unterrichtet wurde. Seiner Lehrer gedenkt dieser noch im späten Alter mit dem wärmsten Dank: des Johannes Neuburg, Jakob Blumendal, Anton Dalber, Gerhard Epißcopius, und äußert eine große Freude, ihren Kindern und Enkeln Freundlichkeit erzei­

gen zu können. Seine erste Jugend verlebte er in einer sehr zahlreichen Familie: mit noch 13 Geschwistern, mit Eltern rind beiderseitigen Großvätern, einer Großmutter und einer Urgroßmutter, deren er sich aller noch lebhaft erinnerte. Das väterliche Haus vertauschte er mit der Hieronymianerschule zu

Lüttich, deren wir auch früher schon einmal gedenken mußten. Drei Jahre vor dem Bauernkrieg, wie er erzählt, folglich als vier­

zehnjähriger Knabe, spielte er dort öffentlich vor der Martins-

101 capelle eine Rolle aus Terenzens Phormio, wodurch er viel lernte.

1524, 17 Jahre alt, ging er auf die Universität Lö­

wen, wo er mit seinem Landsmanne, dem nachmals so be­

rühmten Johannes Sleidanus, 3 Jahre Collegia hörte, dann selbst lehrte,

llebcrall fand er viele Freunde, sowohl unter den

Jünglingen, als auch unter den gelehrten Männern. Beson­ ders lieb gewann ihn Rudgcrus Rcscius, Pros, der griech. Literatur, mit welchem er,

weil die griechischen Bücher zu

schwer zu bekommen waren, eine Druckerei anlegte und grie­ chische Autoren herausgab. Denn bekanntlich setzten die Ge­ lehrten damals die Schriften selbst, zum größten Vortheil der Wissenschaften.

So druckte Sturm, mit nicht unbedeutender

Geldunterstützung seines Vaters, den Homer, welcher aber zu

Löwen wenig abging.

Denn gerade damals hatte in der Ge­

gend von Cöln ein Mönch gepredigt: „Da hat man eine neue Sprache erfunden, die sie die griechische heißen — das ist die Mutter aller Keßereycn.

Ich sehe in den Händen vie­

ler Menschen ein griechisches Buch, welches sie das neue Te­

stament heißen.

Aber das Buch ist voll Dornen und Gift.

DaS Hebräische aber, meine lieben Brüder! Das ist gewiß, daß alle, die eS lernen, den Augenblick Juden werden." Die­ sen Kampf der Barbarei hatte ja auch Reuchlin zu bestehen. Sturm mußte also 1529 mit seiner Ausgabe des Homer, welche sich übrigens nicht mehr findet, nach Paris gehen, um sie etwa dort zu verkaufe», was ihm auch gelang. Dort achtete man den 22jährigen Jüngling, der nun Medicin studirte, sehr hoch

wegen seiner vorzügliche» Rechtschaffenheit, Gewandtheit und Gelehrsamkeit. Am meisten bcwlmderte man schon damals seinen lateinischen Styl und seine gute Methode zu lehren. Er hielt Vorlesungen über griechische und römische Classiker und über die Logik, weiche zahlreich besucht wurden. Er nahm,

als er sich verheirathet hatte, Fremde in Kost und Wohnung; Grafen, Freiherrn, Bischöfe fanden sich in seinem Hause zu­

sammen; seine Gelehrsamkeit lockte sie, und seine Wißbegierde suchte sie auf. Wissenschaftliche, gelehrte und religiöse Ge­

spräche belebten den Ilmgang recht vielseitig.

Indeß brachte

402 ihn seine entschiedene und offene Anhänglichkeit an die Refor­ mation mehrmals in Lebensgefahr,

obgleich er den großen

W. Budäus und den berühmten Cardinal Balläus zu treuen unwandelbaren Freunden hatte. Sie hätten ihn nicht gerettet.

Was konnte ihm nun in dieser gefahrvollen Lage erwünschter kommen, als ein Ruf nach Straßburg, wohin er schon ein­

mal von Löwen aus gereift war. Sein Ruhm war in vielen Gegenden erschollen; es intecessirten sich für diesen regsamen Geist und geborenen Schul­

mann Erasmus, Melanchthon, Bucerus und sein Jugend­ freund Sleidanus, welche ihn alle theils schriftlich, theils münd­ lich dem Sondicns Zakob Stlirm von Sturmeck zu Straßburg empfohlen hatten.

Als dieser geistreiche, gerechte und energi­

sche Mann 1537 Stadtmeister und lebenslänglicher Scholarch

wurde, brachte er es bei dem Rath dahin, daß Johannes Sturm von Paris berufen wurde. Dieser erhielt beim Ab­ schied noch das medicinische Doctordiplom und viele Gunstbe­ zeigungen vom Könige und seinem Hof. Welches Denkmal hätte Zakob Sturms Consulat in diesem Zahre eines glück­ lichen Friedensschlusses schöner und dauernder verherrlichen können, als die Verbesserung einer verfallenen, oder vielmehr die Gründtmg einer neuen Schule < Am Orte seiner Lcbensbestimmung angekommen, übergab

Johannes Sturni durch Zakob Sturm dem Straßburger Rath einen aussührlichen Lehrplan, welcher genehmigt und ihm, als dem Rector der neuen Schule, zur Ausführung übertragen wurde. Zn welchem Verfall alle Schulen dieser Zeit gewesen sind, ersieht

man auch hier hinlänglich aus den deßhalb vom Straßburger Rath erlassenen Gesetzen; nichts aber erfahren wir von Sturms Arbeiten, Mühen und Schwierigkeiten. Nur einmal hören

wir ihn sagen: „Längst hätte ich wegen der Schwierigkeit der Aufgabe eine andere Laufbahn ergriffen, wenn mich nicht Gott

in dieses Amt gesetzt hätte." 1538 finden wir die Schule in vollem Gange.

Es wird für uns alle wohl nicht ohne Zn-

tereffe seyn, diesen Gang näher zu verfolgen. Hören wir einen Augenzeugen über den classischen Unter-

-103 richt in dieser Schule, den» ihre andern Zweige müsse» wir diesmal liegen lassen. „Wir gingen

in

das ehemalige Dominicancrklosier zil

Straßburg und traten in die 10tc Classe, ober, wie sie heißt,

in die 10te Curie, hörten dem Lehrer derselben zu und beob­ achteten das Treiben und Thun der vjährigen. Knaben. Abra-

hamus Frisius sah seine kleinen Schüler als die von ihm ge­ pfropften jungen Baume an, die er mit besonderem Eifer und

Liebe für die Nachwelt erzog, obgleich sie erst auf seinem Grabe

Früchte trugen. Sie lernten deutsch und lateinisch lesen; jeden einzelnen Buchstaben und mehrere zusammen mußten sie richtig

und vernehmlich aussprechen;

ihre Sprachorgane mannigfach

üben, besonders der Zunge Biegsamkeit zu geben suchen. Diese

Hebungen sollen den durch das ganze Gmnnasium hindurch gehenden Plan der antiken Beredtsamkeit beginnen. Mit jedem

ausgesprochenen Worte erhalten sie eine» anschaulichen Begriff, wobei der Lehrer alles Schwere zu vermeiden wußte.

Unters

dessen muß die mittlere Abtheilung nach gegebenen Schemata lateinische Nomina abändern, als Berstandesübung,

lind so

lernt sie ganz spielend und mit Einsicht einige lateinische De­ clinationen, gleichsam nebenbei.

Ebenso übt die oberste Abthei­

lung einige lateinische Conjugationen. Man sollte nicht glauben,

daß dieß alles in Einem Jahre von diesen Knaben gelernt werden könnte, wenn man es hier nicht ausgeführt sähe.

Mittlerweile war Sturm hereingetreten, ein ziemlich gro­ ßer,

starker Mann

von

dunkler und frischer Gesichtsfarbe,

festem und freiem Blick, fein wundersam langer Bart reichte

bis an den Gürtel, sein Gang hatte etwas Ernstes und Feier­

liches, seine Sprache war deutlich und ruhig, seine Rede ernst

und gefällig, sein ganzes Wesen eben so ehrfurchtgebieteiid als anziehend und liebenswürdig.

Die Freude über den

guten

Gang des Unterrichts hatte ihn und die Kinder froh gestimmt.

Wir hörten ihn zu Frisius in ächtem Latein sagen:

„Nicht

in Gärten und Obstwäldern werdet Ihr Eure Sprößlinge wie­

der finden, aber im Gerichtshof, im Senate, an den Höfen der Könige, wo sie Euch die Früchte der nie versiegende» Dank-

104 barfeit bringen. Es könnte kein anderer wie Ihr so gut in dieser Curie unterrichten und bilden, obwohl Zhr auch in den höheren." Wir gingen nach Nona. Was ist hier schon ein geisti­ ges reges Leben. Gerade fragten sich noch die Schüler der verschiedenen Abtheilungen die regelmäßigen lateinischen Decli­ nationen und Conjugationen einander ab, mit einem solchen Eifer- daß man glauben sollte, dieß sey die Aufgabe ihres Le­ bens. Zur Belohnung zeigte ihnen Henricus Schirner, der Lehrer dieser Curie, mehrere Sachen, die er technologisch und natur­ historisch erklärte, und benannte sie mit ihrem lateinischen Na­ men, und so bald er diesen aussprach, notirte sich ihn ein jeder in sein Tagebuch. Dann wurden in großer Freude die den Tag vorher so gelernten Wörter und Sachen hergesagt. Auf dieß alles wurde viel Zeit verwendet; allein dadurch wis­ sen auch die Kleinen schon unglaublich viele Wörter und Sa­ chen. Denn Verbal- und Realerklärung, Form und Stoff wurde nie getrennt, so daß ihnen das lateinische Wort so fest wie das der Muttersprache eingeprägt ist. Auch dieser Lehrer hielt streng auf deutliches, vernehmliches und angenehmes Re­ den, Lesen und Schreiben. Zn Oetava lernten die Schüler eigentlich nichts Neues, sondern wiederholten, was sie in den beiden untern Classen gelernt hatten; in systematische Ordnung brachten sie ihre Tage­ oder Gedächtnißbücher und ergänzten sie, verbanden die einzel­ nen gelernten Wörter in mancherlei Wendungen, nach Mu­ stersätzen, aus einer von Sturm selbst gemachte» Auswahl von Ciceros Briefen. Die obern Abtheilungen hatten diese Hebungen oder Exercitien schriftlich zu Hause gearbeitet und mitgebracht. Wir fanden diese Schüler in den Grundsätzen der alten Rhetorik schon recht geübt, ohne daß sie noch etwas von Rhetorik wußten. Zhr Urtheil über einen Saß war schon so geschärft, daß keiner einen Fehler gemacht hatte, ohne daß ihn ein anderer bemerkte und verbesserte. Zn Septima werden die Formen der lateinischen Sprache beständig wiederholt; hinzukommt aber eine Heine, doch sehr

105 klare Syntax nach der Grammatik von GoliuS, des Lehrers

von Prima.

Die Regeln werden durch gute, aus dem Kreise

des bisher Gelernten hergeuommene Beispiele erläutert und praktisch eingeübt durch Analysiren und durch eertirende Exer­ citia, welche, wie im ganzen Gymnasium, täglich gemacht wer­ den. An Ciceros Briefen, welche die Schüler ganz wörtlich

übersetzen müssen, wird ihnen der Periodenbau gezeigt, den sie nach kurzen Aufgaben nachbilden. Wir betrachteten noch die Tagebücher.

Sie waren in tabellarischer Form rubricirt, um

die Substantiv« für die Sachen und für die Personen mit

den bei Cicero gelesenen Adjectiven, so wie die Verba mit den Adverbien gehörig einzutragen und zu sondern. Darauf gingen wir nach, Sexta. Dieselbe Methode. Bewahren des Erlernten schien die Hauptsache dieser Curie.

Doch kam auch Neues hinzu. Die Schüler hatten Ciceros größere Briefe und das Volumen poeticum, eine Samm­ lung von Dichterstellen.

Der Wortvorrath wird vermehrt und

Sie wußten nicht bloß alles zu nennen, was in dem Gebäude und im Garten war, nebst in mehrere Columnen geordnet.

allen Theilen, Pflanzen, Bäumen, Mobilien; sondern überhaupt alle sinnliche Gegenstände. Hier werben längere, doch nicht ver­

wickelte Themata zur Ausarbeitung aufgegeben. Die Schüler fragten und examinirten sich selbst unter einander, wobei sich der Fragende mehr als der Gefragte in Acht zu nehmen hatte.

Wir müssen gestehen, daß nun der feste Grund gelegt ist,

auf welchem das solide Gebäude der schönsten Bildung aufgeführt werden soll. Den andern Morgen gingen wir nach Quinta, wo auch Rach dem vierstimmigen Morgenlied

das Griechische beginnt.

wurden Virgils Erlogen vorgenommen und vortrefflich erklärt. Die poetischen Ausdrücke wurden von den prosaischen genau unterschieden, in ihre eigene Rubrik der Gedächtnißbücher ein­

getragen und die prosaischen daneben gesetzt; die Sacherklärung war zweckmäßig und anschaulich; Quantität und Metrum wur­ den nicht allein theoretisch gelernt, sondern auch durch Bei­ spiele erläutert und durch metrische Uebungen ringeprägt, die

106 Stellen auswendig gelernt und bald von Einem, bald von Allen hergesagt. Auf ähnliche Weise behandeln sie Ciceros Rede pro Quintio, von deren Behandlung, wie für jeden Zweig des Unterrichts, Sturm selbst eine ausführliche Probe hat drucken lassen, aus welcher man seine Art am brßten studiren kann.

Nur bemerken wir noch, daß diese Quintaner

die wörtlich ins Deutsche übersetzten Stellen ins Lateinische zurückübersetzten und mit dem Original verglichen.

AuS dem

Redner wurden auch die rednerischen Ausdrücke unter dieser

Rubrik in die Gedächtnißbücher eingetragen; und dadurch, daß ähnliche Ausdrücke nach ihren verschiedenen Begriffen gesondert wurden, begründeten sie sich die beßte Synonymik, nach den

beiden Rubriken für allgemeinere und für speciellere Begriffe. Die mündlichen Antworten mußten schnell, bestimmt und laut erfolgen. So wurde ein guter Ilebergang zur folgenden Curie ge­ bildet.

Denn die Quartaner mußten

vcrhältnißmäßig viel

lesen, viel hören, schnell verstehen, viel auswendig lernen, her­

sagen und behalten aus dem Periodenbuch, einer Sammlung von langen und vollen Perioden, aus Clceros sechster Verrina, aus Horazens Satiren und Briesen, und aus der griechischen Beispielsammlung. Zm Style legte immer Laurentius Englerus den Schülern nach der Correctur seinen von ihm selbst

ausgearbeiteten Aussatz über das aufgegebene Thema zur Ver­ gleichung vor. Für Tertia ist die Aufgabe tiefere Einsicht in das bisher Erlernte. Zu den Schulbüchern der vorigen Curie waren fol­ gende gekommen: eine griechische poetische Beispielsammlung,

einige Bücher des Homer, leichtere Reden des Demosthenes,

nach

der antiken

wurden.

Der Styl

welche eben so wie Ciceros Reden ganz Rhetorik und Terminologie zergliedert

wird immer geübt, verbessert, gerundet; denn an den runden Numerus mußte sich Ohr und Sprache gewöhnen, was man am meisten bei ihrem Ueberscßen des Demosthenes ins Latei­ nische bewundern mußte. Denn diese llebersetzung bestand nicht

in einer kümmerlichen Wortübertragung, sondern sie war eine

407 getreue, aber in römischem Geiste gedachte Reproducirung des Originals in demselben Numerus, Effect und Ton.

Ferner

wurden Horazische und Pindarische Oden in andere VerSarten verwandelt.

Die Schüler hatten lateinische Briefe, Erzählun­

gen, Abhandlungen und Gedichte nach aufgegebenen Themen ausgearbeitet.

Die Sphäre dieser Elaffe scheint einem in gegenwärtiger Zeit schon so hoch gestellt, daß man kaum etwas für die bei­

den obersten anzugeben wüßte: Sturm wußte aus dem Schatz und aus der Vollendung seiner antiken und classischen Bildung noch vieles anzugeben. Zn Secunda wurden die griechischen Dichter lateinisch paraphrasirt, historisch erläutert und mit den Rednern, die lateinischen Dichter mit ihren griechische» Ouellen verglichen,

und beide stcllcnweis auswendig gelernt.

Demosthenes wurde,

wie in der vorigen Curie, doch auf eine gelehrtere Art fortge­

setzt,'mit Parallelstellcn des Cicero auswendig gelernt, und das Erlernte immer in die Gedächtnißbücher eingetragen. Logik, nicht spitzfindige Scholastik, Rhetorik, nicht polemisirende Sophistik, wurde nach den alten Rhetoren gelehrt, welcher Unter­ richt mit dem classischen in genauer Verbindung stand und in

den lateinischen und griechischen Swlübungen angewendet wurde. Die oberste Curie ist als eine höhere Fortsetzung von Se­

kunda anzusehen. Sie ist wie ein Markt, wo jeder seine, aber jeder eine andere Waare mitbringt, welche sie gegenseitig aus­

tauschen, und wodurch sie einen geistigen und freundlichen Ver­ kehr begründe».

Nirgends aber sahen wir mehr, fährt der Augenzeuge fort, wie die Schüler in der Welt des Alterthums lebten und zu Hause waren, als auf der Herbstprogression, wo die Ter­ tianer des Terenz Phorinio, darauf die Secundaner des Aristophanes Wolken, endlich die Primaner des Sophokles An­ tigone öffentlich aufführten. Den Preis erhielten, vielleicht wegen des Komischen ihres Stückes, die Secundaner, obgleich

sich die andern nicht weniger angestrengt hatten, worüber eine

108 wahre Eifergluth auf ihren Gesichtern lag." — So weit jener

Augenzeuge. Wir wissen indeß nicht zu sagen, ob uns dieß alterthümliche Leben in der Schule mehr anzog, oder das frische Leben

bei den körperlichen Uebungen. Viel passender, als Trotzendorf, der die römische StaatSverfassnng in seine Schule einge­ führt hat (sehr weislich behielt er sich vor, Dictator perpe-

tinis zu seyn), waren von Sturm die Schüler auf dem Gymnastikplatz in eine römische Legion organisirt. Diese Uebungen gingen von hier in die Collcgien der Jesuiten über, welche überhaupt vieles von Sturm aunahmen, das ihm denn auch

herzliche Freude machte. Blicken wir jetzt auf die allgemeinen Grundsätze der Me­ thodik, welche Sturm in seinem pädagogischen Wirken befolgte.

Die Instructionen für die Lehrer des Gymnasiums, in denen er diese Grundsätze ausspricht, wie die für die Lehrer der Uni­ versität, welche er ebenfalls gründete, und zu deren Rector er auch ernannt worden war, zeugen von großer Humanität, tie­ fer Einsicht, genauer Beobachtung und Erfahrung, und von ungeheurer Gelehrsamkeit. Sie lesen sich so angenehm, als die anziehendste Erzählung. Sie beruhen alle auf dem Ent­

schluß, den verdorbenen Geschmack vollends zu verdrängen, und die alte Beredtsamkeit im ganzen Umfange des Wortes wie­ derherzustellen. Das war sein Hauptziel. Wie er dabei die Sach- und Wortkenntniß innig mit einander verband, haben wir gehört; er ging vom Anschaulichen zum Begriff, von der Sache zu dem Wort, und durch das Wort wieder tiefer in

die Sache,

vom

Analytischen zum Synthetischen.

Er ließ

nichts auswendig lernen, was der Schüler nicht verstände,

denn Klarheit sey vor allem erforderlich. Die sich mit dem Lernen des Schülers bildenden Tage- oder Gedächtnißbücher,

welche durch die ganze Schule durchgehen sollten, erleichterten

außerordentlich diese Realformalbildung oder diese Nomenclatnrmethode. Reue Vorstellungen sollen sich immer nur an die schon vorhandenen anknüpfen, damit die Entwicklung naturgemäß,

stufenweise und organisch erfolge.

Dieß hätte aber ohne jene

109 Tagebücher, welche der Maaßstab für das Erlernte waren, üicht geschehen können.

Sie gewöhnten außerdem dm Schüler an

Aufmerksamkeit in der Schule, zum geregelten häuslichen Fleiß, zur pünctlichen Ordnung und zum logischen Denken. So war in allen seinen Einrichtungen Zusammenhang, Zweckmäßigkeit und Uebereinstimmung. Keine Regel wollte er ohne Anwen­ dung. Begreiflicherweise hielt er am meisten auf Wortreich­ thum, denn damit war auch Begriffreichthum und Sachkennt-

niß verbunden.

Ein ganz anderer Wortreichthum, als daS

alphabetische Voeabelnlernen. Darum hat er auch den Grund­ satz, daß nie genug Wiederholung statt finden könne, weil Er­ halten mehr sey, als Erwerben. Darum, weil alles zusammenhängt, soll jeder Lehrer nicht allein die Sphäre seiner Classe,

sondern einer jeden des Gymnasiums genau kennen, nament­ lich die zunächst untere, aus welcher er keine Schüler anneh­ men soll, als die er gründlich geprüft habe.

DaS vorgesteckte

Ziel war allerdings hoch; allein, sagt er, Ihr werdet es durch vereinte Kräfte erreichen.

Wählt nur immer das Nothwen­

dige aus, laßt das Ueberflnssige weg, erstrebt überall Klarheit

und wollt multum non mulia; verfahrt überall, im Fra­ gen und im Antworten methodisch, erschwert weder bas Lernen, noch macht es zu leicht, richtet Euch dabei nach der Indivi­ dualität der Schüler und ihren Kräften.

Laßt uns einer

den andern unterstützen und nach gemeinschaftlichem Plane verfahren! Doch wie sollte ich jn einzelnen Sätzen Sturms Methode schildern wollen, die zu besondern Vorlesungen reichen Stoff bieten würde, wenn man sie vollständig aus dessen Schrif­ ten auSzöge.

Wie hoch aber diese Methode zu achten sey,

darüber will nicht ich urtheilen, sondern lieber die Urtheile der kompetentesten Richter vorlegen. — Ich übergehe seine Zeitge­ nossen, welche alle, wie aus Einem Munde in ihr Lob ein­

stimmen; ich sage nichts von des Senators Strobandt Be­ mühungen um Sturms methodische Schriften; auch wol­ len wir nicht auf die Schmeicheleien hören, welche ihm an Höfen gesagt wurden, und nicht auf die Lobrede, welche ihm sein Schüler Junius am Grabe gehalten. Ganz unparteiische

HO Richter, welche Sturms Methode mit so vielen andern ver­ glichen und rein objectiv in theoretischer und praktischer Hin­ sicht geprüft haben, mögen hier auftreten. Andreas Schott setzt Sturm über alle Lehrer der alten und der neuen Zeit.

Brücker schreibt:

„Es ist zu wünschen,

daß Sturms Geschmack, Urtheil und Methode für unsere seich­ ten Zeiten wieder lebendig würden."

Und Morhof: „Alles Gute, was über Methode gesagt ist, findet sich schon bei Sturm." Schwarz sagt in seiner Geschichte der Erziehung: „Johannes Sturm besaß in hohem Grade die seltene Gabe, eine Schule

zu regieren: er wußte die Lehrer, gelehrte Männer, alle in fröhliche Thätigkeit zu setzen und den Schülern durch freund­

lichen und ordnenden Geist mit glücklichem Erfolg zu gebieten. Er steht an der Spitze aller Methodiker und hat sie alle über­ troffen. Man kann das Anstaunen neuer Methoden, als seyen sie ganz neue Erscheinungen, nicht ohne Lächeln ansehen, wenn man Sturms Methode kennen gelernt hat." Diese Urtheile kann sich der leicht vermehren, welcher die Elogiensammlungen ausschlagen will. Wir brauchen nicht mehr; denn der Erfolg seiner Methode ist das beste Lob. Die Straßburger Schule wurde unter Sturm die blü­ hendste der damaligen Welt.

Dänen und Italiener, Portu­

giesen und Polen, Spanier, Engländer, Deutsche und Fran­ zosen trafen in dieser Schule zusammen, besonders seitdem sie 1568 Maximilian II. zu einer Akademie erhoben hatte (jedoch

noch nicht mit den Privilegien einer Universität, welche ihr erst Ferdinand II. 1621 schenkte). Die Schule hatte in dem Einen

Jahr 1578 mehrere 1000 Schüler, worunter gegen 200 adelige, 24 Grafen und Barone und 3 Fürsten waren. Der Schöpfer

dieser Akademie war auch ihr Rector, auf welcher von nun an theologische, juridische, medicinische und philosophische Collegien gelesen wurden; in den deßhalb an die einzelnen Pro­ fessoren erlassenen und in der humanen Briefform abgefaßten

Instructionen entwickelte Sturm, er, der nichts zu wissen und zu leisten glaubte, eine so große Gelehrsamkeit, daß es bei jedem Briefe scheint, als habe er gerade nur das eben behan-

111 beite Fach ftubirt.

Auch diese Briefe sind so classisch und ele.

gant lateinisch geschrieben, daß er schon deßwegen den ihm all­

gemein beigelegten Namen des deutschen Cicero verdiente.

Seine Gelehrsamkeit beurkundet sich auch in seinen an­ dern zahlreichen Schriften, welche wir nur nn Allgemeinen be­

zeichnen.

Er gab viele griechische und lateinische Classiker mit

Einleitungen und Anmerkungen heraus; rhetorische und logi­ sche Schriften; pädagogische und methodische; theologische; physi­

kalische; philosophische; Lebensbeschreibungen, Reden und Briefe; er schrieb über neuere Sprachen (wie er denn namentlich der Französischen vollkommen mächtig war), und über die Noth­ wendigkeit für die Christen, beständig Krieg gegen die Türken

zu führen. Aber nicht allein auf die Straßburger Schule erstreckte sich seine Wirksamkeit: die meisten Schulen wurden nun nicht mehr durch Melanchthon, sondern von Sturm, entweder von ihm selbst oder von semen Schülern, oder doch wenigstens nach dem Mllster der Straßburger eingerichtet. Das baiersche Gym­

nasium zu Lauingen an der Donau richtete er selbst ein, des­ sen Beschreibung wir auch noch haben; so das zu Trarbach

an der Mosel, das zu Hornbach im Zweibrückischen; von seinem Schüler Schenk wurde das zu Augsburg, von seinem Schüler

Crusius das zu Memmingen eingerichtet. Die Stürmische Schulordiiutig findet man noch hie und da in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts; aber der Geist war ausgegangen, den die äußere Verfassung nicht ersetzen konnte. Doch, wie gesagt, weiter als auf das Schulwesen erstreckte sich Sturms Wirksamkeit, den« die Zeit bedurfte bei den vie­ len religiösen, politischen und ökonomischen Streitigkeiten und

Verhandlungen gelehrter, gewandter, redlicher und muthiger Männer. Er wurde 1540 mit Calvin, Capito und Bucerus zum ReUgionsgespräch nach Worms geschickt, wo seine kluge und bescheidene Art zu reden, und sein muthiger Ernst einen

gewaltigen Eindruck zurückließ.

1545 verhandelte er den Frie­

den zwischen den Königen von Frankreich und von England

und erwarb sich als Unterhändler, ein seltener Fall, beider Ent-

112 zweiten Liebe.

Sturm war bei aller Stärke ein recht auS-

gleichendcr Charakter, darlnn ward er auch von Allen verehrt. 1555 ertheilte ihm Karl V. das AdelSdiplom; Maximilian II. gab ihm Privilegien; er erfuhr Gunstbezeigungen von Frank­ reichs Königen Franz I., Heinrich II. und III.; von Däne­ marks Königen Christian III. und Friedrich II.; von den deut­

schen Kurfürsten und Fürsten; die Königin Elisabeth gab ihm einen Ehrengehalt. Alle Gelehrten suchten seine Freundschaft: die Cardinäle Sadoletus und Bembus, Erasmus, Melanchthon, Camerarius, Mauritius, Calvin, Beza und andere, welche zum

Theil schon vorhin genannt worden.

Weniger glänzend, aber wahrhaftig nicht weniger groß erscheint uns Sturm in seinem Halise. Dieß war der Zu­ fluchtsort aller Unglücklichen, und deren gab cs damals genug. Die der Pariser Bluthochzeit Entronnenen fanden bei Sturm schaarenweis Obdach und Unterhalt.

Auf Wohlthätigkeit hatte

er sein großes Vermögen ganz verwendet; und derselbe, wel­ cher mit Geld, Wissen, Erfahrung und Verwendung so vie­ len geholfen, mußte im Alter darben; diese Wendung nahm Sturms Leben. ES hatte nämlich der Graf Manderscheid, mit dessen Fa­ milie Sturm von Zugend auf verbunden war, als neuer Bi­

schof von Straßburg, nachdem er sich mit dem Rath ausge­ söhnt, seinen Einzug gehalten. Auf diese frohe Veranlassung machte Sturm ein lateinisches Gedicht, welches seinen Neidern, die lange geschwiegen, jetzt aber einen starken Anhang im Rath hatten, Gelegenheit gab zu einer ganzen Reihe von Beschul­ digungen und Verfolgungen. „Zetzt war's ja klar," meinten sie, „daß er ein Einverständniß mit den Katholiken habe."

Freilich waren aller Confessionen Gelehrte mit ihm verbunden.

„Bald war er in der Abendmahlslehre ein Calvinist." Freilich war Sturm kein Buchstäbler, und seine Ueberzeugungen hat er nie verhehlt. Aber in die polemischen Predigten und Dispu­ tationen des Lukas Oslander, Pappus und Marbach war er seit 20 Jahren nicht gegangen und wollte auch aus den Hän­ den dieser Eiferer das heil. Abendmahl nicht empfangen, son-

1!5 dem hielt sich zu anderen.

DaS war das Hauptverbrechen,

worüber viele Bände geschrieben wurden, voller Persönlich­ keiten.

Sogar seine Schulden warfen sie ihm darin vor, die

er doch in Zeit der Noth für andere gemacht und alle redlich

bezahlt hatte.

Alles Christenthum sprachen ihm diese Zeloten

ab, denen er doch Freundliches genug erwiesen hatte. Frei­ lich ließ er mit den sechsjährigen Knaben noch nicht den

lateinischen Katechismus treiben; aber man verfolge seinen Religionsunterricht in dem ganzen Gymnasium, so wird man sehen, wie er durchaus zweckmäßig und auf das Wort Got­ tes gegründet ist; man höre ihn seine Ueberzeugung ausspre­

chen r daß Religion in Bildung, Erziehung und Studium die

erste Stelle einnehme. Gerade fein christlicher Sinn hielt ihn in diesen Drangsalen aufrecht, worin er eine Heroenstärke und Große zeigte; eine, um mich Melchior AdaiW Worte zu be­ dienen, „göttliche Ausdauer und Beharrlichkeit." Es galt ja auch seinen Glauben; darum ließ er sich nicht schrecken. Er schrieb vielmehr seinen Feinden: „Und wenn ihr auch 30 Jahre

hier in

Straßburg predigtet und disputirtet, so fMinne ich

euer Gezänke zu hören. Weil ich aber bei der letzten Disputation des Pappus, welcher ich beiwohnte, ihm doch nicht,

aus der Verlegenheit helfen wollte, in die ihn sein Gegner versetzt hatte, so habe ich mir ein Ungewitter zugezogen, das

mich fast zu Boden geschlagen hätte.

Jakob Sturm, der

doch thätig genug war in Religionssachen, ist auch nicht zu euch in die Kirche gegangen, und keinem ist eingefallen, ihn

deßhalb zu verketzern.

Uebrigms habe ich Niemand, der euch hören wollte, abgehalten, wie meine Hausgenossen bezeugen

können, unter andern die zwei Enkel von Luthers Schwester." Mit rechtlichen Zeugnissen aber war ihnen eben so wenig, als

mit theologischen und historischen Beweisen gedient, denn sie waren ja mächtiger, als der einsame Greis, der wohl auch seine Vertheidiger fand, aber Zakob Sturm und ähnliche Säu­ len der Schule und der Stadt ruhten längst schon im Grabe. Da triumphirte Pappus und sein Anhang, von äußerer Gc-

walt unterstützt; Sturm wurde abgesetzt. Schwarz: Darstell. a. d. Gebiete d. Erzieh.

Allein sic lrlum8

114 phirten nicht über sein Werk; denn seine Liebe erkaltete nicht

bei allen gehässigen Unfällen.

Er bat den Rath, die Stelle

mit seinem Schüler Melchior Zunius wieder zu besetzen. Dieß

geschah, und dieser wirkte fort in Sturms Geist und Sinn. Sturm aber genoß nun noch 6 Jahre lang gemüthlicher Ruhe und Contemplation, als herrliche Vorbereitung zur ewigen Ruhe.

Seine wissenschaftliche Beschäftigung war anfangs noch

Erlernung der hebräischen Sprache, und seine Erheiterung das

Schachspiel;

auch diese sollte ihn in der höheren Vollendung

nicht mehr stören, da der größte aller Erzieher es fügte, daß

er an beiden Augen erblindete. Die ganze sichtbare Welt war ihm entzogen, damit sich ihm. die unsichtbare desto herrlicher

erschlösse.

Den treuen und gereiften Diener rief sein Herr im

82ten Jahre zu seinen Freuden ab.

Den 3ten März 1589

nach einem kurzen Fieber, als eben die Morgenröthe den bes­

seren Tag verkündete, entschlief er, von Mühen, Arbeiten und Alter ermattet, ruhig und sanft, aber mit vollen Geisteskräf­ ten, nur allein mit seinem Heilande beschäftigt, dem er seine arme Wittwe empfahl; er hatte ja in seinem Leben für manche Wittwe gesorgt. Die Verdienste des arbeitsamen, frommen, gelehrten, be­

scheidenen, muthigen und friedfertigen Mannes setzte Junius in der Grabrede, die er vor einer wogenden Menge hielt, der undankbaren Stadt aus einander.

Auf dem St. Galluskirch-

hofe ruht Sturms Hülle, deren Stätte ein einfacher Stein

bezeichnet. Seine Leiden sind vergessen, sein Werk lebt fort.

3. Die Leidenschaften sind mit den Wissenschaften unver­

träglich. — Flacius Leben. —

Gehalten Herbst 1832. Ein leidenschaftliches Treiben beherrscht in unserer Zeit Jung und Alt; eine Unruhe hat sich aller bemächtigt, die dem

Erdensohne nur das Allernothwendigste zu thun erlaubt, wie wenn der Mensch höhere Interessen gar nicht kennte. Die Künste liegen hier und da darnieder, die Gelehrsamkeit wird

verachtet, die Wissenschaft gilt wenig, das Glaubensleben ist wie verschwunden.

Diese Richtung unseres Zeitalters nöthigt

uns, unsere Schüler vor den Gefahren zu warnen, wrlche lei­ denschaftliche Bewegungen besonders für den Studirenden haben. Die Gründe wollen wir ganz kurz angeben, weil ja kein Capitel aus der Ethik abgchandclt werden soll; desto länger müssen wir bei einem Beispiele verweilen, weil wir hoffen, daß dieß für unsere Jünglinge wirksamer seyn wird. Absichtlich werden wir hierbei nicht überall nach der sonst sehr verdienstlichen Kantischen Bestimmung Begierde, Affeet und Lei­

denschaft unterscheiden, sondern, wie man im llmgangsleben

spricht, wo man in dem ersten den Keim des letzten sieht, über­

haupt von der Seclennnruhe reden, welche den Verstand mehr oder weniger afsicirt und die Besonnenheit zurückdrängt oder gänzlich aufhebt, wie auch Plato die Leidenschaft definirt. Sie

ist dem göttlichen Ebenbilde des Menschen zuwider, indem sie ihre Befriedigung ausser Gott sucht; sey sie nun eine unver­

nünftige Zuneigung oder gehässige Abneigung irdischer Gegen­ stände und folge sie einem animalischen Triebe,

oder sey sie

entstanden aus überwiegender Phantasie im Bunde mit Selbst­ sucht und heiße sie Ehrgeiz; oder sey sie lediglich an Selbst­

sucht geknechtet und werde sie Habsucht genannt: immerhin löst sie den Menschen von seinem wahren Leben los llnd schleu­

dert ihn ans seinem Centrum.

116 Kann man demnach noch mit Aristoteles fragen, ob die Leidenschaften, wenn sie nur gemäßigt wurden, nicht auch nütz­

lich seren? Für den damit Behafteten einmal gewiß nicht, wenn auch in der Hand Gottes der Erfolg zum Nutzen ge­ wendet werden kann.

Die bcßte Antwort aber gibt Seneca,

wen» er dagegen fragt: ist es gut, auch nur mäßige und leichte Anfälle von Geistesverwirrung und Wahnsinn zu haben? Doch irrt auch wieder Seneca sammt den andere» Stoi­ kern, wenn er die höchste Tugend in die Apathie setzt. Nicht

empfindungslos sollen wir seyn,

das

können wir auch gar

nicht, und ein solches Vorgeben wäre eine Unwahrheit; son­

dern wir sollen bei einer jeden Empfindung uns selbst ver-

läugnen. Ist aber jenes richtig, daß eine jede Empfindung in uns verklärt werden muß, so darf sie am wenigsten in eine Lei­ denschaft ausschlagen, denn diese bringt immer einen Zwiespalt

in dem Menschen hervor, weil sie einen Kampf zwischen zwei Elementen entspinnt. Das ist es ja gerade, daß sie den Geist fesselt, der sich beständig dieser Tyrannei widersetzt, bis er endlich zur Strafe für seine anfängliche Nachgiebigkeit wie todt in Banden geschleppt wird, bei jedem Aufwachen aber

seine alten Rechte geltend macht und einen beständigen Wi­ derstreit erregt. Ein solcher Mensch ist gleichsam zwischen zwei Seilen gespannt, die ihn hin- und herzerren. Bald reißt ihn die Leidenschaft zu einer Handlung fort, die aussicht wie Tu­ gend, bald zu einem auffallenden Laster. Er sieht sich in Thaten verwickelt, die er verabscheut; er spricht nicht einmal, was er will. So wird er immer inconscquent und kann nie Charakter behaupten; mit sich selbst zerfallen, ist er sich selbst

zur Last. lind das ist das geträumte Glück des Elenden, elend im Genusse, elender noch nach dem Genuß. Er traute den Trug­ gestalten der Tugend; Neid, Ilndankbarkeit, Schadenfreude,

Bosbeit, Grausamkeit erschienen ihm als Rechts-, Gleichheits-, als Liebe' zur Wahrheit, als Eifer für Ge­

Freihcitsgefühl,

meinwohl,

die niedrigst? Selbp.sucht als höchster Edelmuth.

117 Da liegt er jetzt enttäuscht in einem schrecklichen Kampfe und

ringt mit Verzweiflung. Er hatte es gewußt, aber nicht ge­ glaubt, daß das Glück nur in Gottseligkeit wohnt, üt hi miseri,“ sagt Cicero, „sic contra illi beati, quos nulli metus terrent, nullae aegt itudines exedunt, nullae li-

bidines iitcitant, nullae futiles laetiuae exsulrantes lan-

guidis liquefaciunt voluptatibus“ *).

Jener Unglückliche

aber irrt in Doppelgehorsam und irrt um die Wette, weil sein Wille gebunden ist. Wir wissen ja schon seit Salomo, was auch von Plato gesägt und seitdem oft wiederholt worden ist, daß der Herr seines Muthes besser ist, als der Städte gewinnt, daß sich

selbst besiegen der erste und beßte Sieg genannt wird; von sich selbst besiegt werden, unter allen Dingen das schimpflichste und schlimmste sey. Die Herrschaft über sich selbst ist aber- darum

die größte Herrschaft, weil sie außer allem CaufalNHuS'vor­ geht, also eine wahrhaft freie That und göttliche Kraft ge­ nannt werden mud und daher die größte Bewunderung ein­ flößt, während die Leidenschaft den Willen des Menschen lähmt, ihn zum Sklaven und daher verächtlich macht/ aber

auch unfähig, etwas Gutes zu lüsten. Mag die Leidenschaft still und in sich gekchtö semt oder

in Heftigkeit ausbrechen, mag sie in die menschliche Gesell­ schaft einwirken, oder sich in der Wissenschaft versuchen: so verwirrt sie immer die Vernunft und bringt den Verstand in

Irrthümer, sie zeigt überall ihre zerstörende Natur. Wagt sich der Leidenschaftliche auf den Schauplatz der Welt, so stoßt

seine Eitelkeit, sein Ehrgeiz, seine Herrsch-, Selbst- und Ge­ nußsucht überall an; ist er klug, so weiß er diese «tikdsr'n"Trieb­

federn zu verdecken, er heuchelt bessere Motive, bis ihn die nachschleichende Nemesis entlarvt. Sieht er feilte Zwecke ver­ eitelt, wird er zurückgestoßen oder zieht er sich zurück, so ver-

•) „So wie diese unglückselig sind, so dagegen sind jene selig, die keine Furcht erschreckt, keine Leidenschaft aufregt, keine niedrige Lust, die sich in erschlaffenden Genüssen ausläßt, hinschmelzt."

418 zehrt ihn Gram und Aerger. Denn eine stille Leidenschaft ist, wie eine verborgene Krankheit, desto unheilbarer. Ein jeder Widerstand dient nur dazu, seinen Sturz desto gewaltiger zu machen. Wagt er sich auf ein anderes Element, so glückt es ihm nicht besser.

Ohne Steuerruder, ohne Anker, ohne Leitstern

wird er in wildem Taumel und in gefährlichen Irrfahrten wie durch eine fremde und feindselige Macht da hingcschleu-

dert, wohin er nicht wollte, und scheitert am Ende vor einer

verborgenen Klippe. Oder beschäftigt er sich mit Wissenschaft, so

erinnert er

an jenen Schwan, der bei jedem Aufschwung zurücksiel, weil

ihm die Füße mit einem Seil an die Erde gebunden waren. Der Leidenschaftliche denkt nicht mit dem Kopfe, sondern mit dem Herzen, folglich verwirren die Affecte, eben weil sie ihrer Natur nach die Besonnenheit ausheben, wie das Willens- so auch das Denkvermögen. Denn die Vernunft ist nur dann im Stande, klar zu denken, wenn sie affectlos ist und die Zügel über die Leidenschaften in Händen hat; wird sie aber

von ihrem Wageiisitze heruntergeworfen, so kann sie diese nicht mehr leiten und zähmen. Sie muß dienen, wann sie sich ihrer Freiheit begibt, zu der sie bestimmt ist, indem sie dann wohl eine willkührliche Maxime als oberstes Princip setzt, von dem sie folgerecht, wie sie wähnt, ausgeht und weiter schließt; allein die Lehren und Sätze, die von einer Leidenschaft be­ gründet oder begleitet werden, sind Irrthümer, und wären sie vom größten Denker in ein System gebracht, wie Pindar singt: 0.1 ät tfqevMV naQtnkd^av x«i tov ooijov °). Die noch von Leidenschaften gefangene Vernunft darf eine Idee nicht geltend machen, wodurch sie ans der Gewalt ihrer Ty­ rannen befreit würde. Sie geräth allmählig in eine ihr ganz fremde Gegend, in welcher sie sich gar nicht zurecht finden kann, wo sie sich immer weiter verirrt; mitten in der Gesell­ schaft ihrer Gebieter fühlt sie sich einsam, sie sucht sich selbst, ) „Die Aufregung des Eeiyiich« verwirrt auch den Weisen."

119 sie wankt berauscht auf einem breiten Wege, der nicht ge­ radezu, aber unfehlbar an einen Abhang führt. Da hinuntrrgesioßcii mag sie zur Besinnung kommen. Ich will an einzelnen Fällen zeigen, was ich meine, da­ mit Ihr, liebe Schüler! Euch überzeugt, daß wahre Wissen­ schaft mit Leidenschaft unverträglich, und zu Euren Leistungen, wenn sie ersprießlich seyn sollen, Selbstverläugnung nothwen­ dig sey. So wird große Ehrlichkeit zu einer wissenschaftlichen Untersuchung erfordert. Die beßtcn Historiker werden ohne jene Tugend von der Wahrheit abgeführt. Wie oft sieht man sie Thatsachen zerarbeitcn, um sie nur einer allgemeinen Theorie anzupaffen, der zu Gefallen das Factum gestreckt und gekürzt wird, bis es paßt. Es ist nicht gerade nöthig, daß sie ganz Falsches behaupten, ein wenig Uebertreibung, eine kleine Aus­ lassung, eine nicht in Zeit und Ort begründete Zusammenstellnng, ein Seitenblick, ein witziges Beiwort, ein verändertes Eolorit macht aus Luther oder Schwenkfeld einen Tyrannen oder einen Heiligen. Wie alle Lebensvcrhältniffe, so beruht auch die Wissenschaft, die Mathematik nicht ausgenommen, auf Glauben. Z. B. cs behauptet einer so oder so in einer Urkunde gefunden, in einem Codex gelesen, diese oder jene In­ schrift gesehen, dieß oder jenes Zeugniß gehört zu haben, und sieht, hört, findet, liest die Leidenschaft mit, so wird er und durch ihn Andere in unberechenbare Irrthümer fortgeführt. Oder ich schätzte die Arbeit eines Gelehrten sehr hoch, fand Vieles ganz vortrefflich von ihm erörtert, bis er mich zufällig beleidigte, da be­ griff ich nicht, wie mir dieselbe Arbeit bedeutend vorkomnien konnte. Mit welchen Augen sehen die RcligionSverächter die Ueberlie­ ferungen unserer heiligen Urkunden an. Hcrodot steht ihnen weit höher, bis er einmal bestätigt, was Josua berichtet; dann hat er sich von den ägyptischen Priester» betrügen lassen. Ein Scholiast sagt gar nichts, bis er die Lieblingsidee eines For­ schers begünstigt, dann hat jener aus guten Quellen geschöpft. In der Medicin, in der Jurisprudenz mag es nicht anders seyn, und eine vorgefaßte Meinung leicht einen Proceß entschei­ den, wie eine Theorie über Leben und Tod.

120 Wer von Euch, meine Lieben! sollte demnach noch zwei­

feln, daß nur der in der Selbsiverläugnung Geübte in der Wissenschaft Etwas leisten könne! Besser aber, als alle Gründe, beweisen dieß die Thatsachen.

Unter den vielen sonst ausgezeichneten Männern, welche ihre Wirksamkeit durch Leidenschaftlichkeit und Selbstsucht ver­ nichteten, wähle ich das Leben des Flacius Illyriens, ob­ gleich eines der allbekannten, doch darum, weil er lange in

Frankfurt gelebt hat, wie noch viele Acten und die Briese be­ weisen, die sich im Manuscript aus unserer Stadtbibliothek

befinden.

Geboren 1520 in der damals der Republik Venedig un­ terworfenen Stadt Albona in Istrien, welches zu Illyrien ge­ rechnet wird, erhielt er den ersten Unterricht von seinem ge­ lehrten Vater,

den er frühe verlor.

Darauf brachte ihn der

kenntnißreiche Franz Ascerius von Mailand in kurzer Zeit so

weit, daß er nach Venedig geschickt werden konnte, berühmten Philologen

Baptista

Egnatins

um den zu hören. Mit

17 Jahren entschied er sich nach der frommen Regung seines Gemüthes für die Theologie und wollte ins Kloster gehen. Er bat auch den Provincial der Franziskaner, Baldo Lnpctino, seinen Verwandten, daß er ihn in seinen Orden auf­

nehmen möchte.

Dieser aber wies ihn, wenn er die Theo­

logie recht studiren wollte, nach Deutschland, und Flacius, in

der Heftigkeit seines Charakters, reift schnell ab, so verwundert und unwillig auch seine Verwandten darüber seyn mochten,

nicht einmal sein Vermögen brachte er vorher in Ordnung. In Basel nahm den hoffnungsvollen 19jährigen Jüngling in Wohnung und Kost Simon Grynäus, wo er mit unserem Landsmanne Johannes Kellner, oder, wie er sich gewöhnlich Im nächsten Jahre ging

schrieb, Cellarius, zusammenlebte.

er schon nach Tübingen, wo er mit den Studenten die grie­ chischen Classiker wiederholte, die sein Landsmann Matthias Garbitius ihnen erklärt hatte. Dadurch legte er den Grund zu seiner ausgebreiteten Bekanntschaft. Viel Umgang hatte er

damals auch mit Joachim Camerarius und mit dem Arzte

121 Leonhard Fuchs, dessen Lehre, daß die Krankheit eine Sub­

stanz sey, offenbar großen Einfluß auf die Streitigkeiten hatte,

die FlaciuS späterhin in der Theologie anfing. Nach einem Jahre (1541) reiste er nach Wittenberg, um Luther selbst kennen zu lernen. Er hörte Collegia, seine Wiß­ begierde zu befriedigen, und las Collegia, seinen Lebensunter­ halt zu verdienen; vornehme und in anderen Zweigen ausge­

zeichnete Professoren studirten unter ihm Griechisch und Hebräisch. Melanchthon war des jungen eifrigen Flaeius besonderer Wohl­ thäter und Gönner und wahrer Freund, wie er bei vielen Gelegenheiten, am unzweideutigsten aber in den drei Zähren schwerer Anfechtung, bewies, in denen Flaeius,,von heftigen

Dualen gefoltert, der völligen Verzweiflung nahe war und sich das Leben nehmen wollte. Rach diesen inneren Leiden trugen ihm die Professoren den öffentlichen Lehrstuhl der hebräi,

schen Sprache an, welchen Ruf der Kurfürst Johann Frie­ drich bestätigte.

Seines neuen Amtes wartete er mit großem

Fleiße und Eifer.

Aber der blühenden llniversität drohten

darauf in den Zähren 1546—1547 die Unglücksfälle der bei

Mühlberg vom Kaiser Karl V. gewonnenen Schlacht, in wel­

cher der Kurfürst gefangen, dann Wittenberg erobert, und die

Professoren zerstreut wurden, bis bekanntlich das Znterim erfolgte. Das war es, wodurch des Flaeius Zorn zuerst, wie eine weithin sichtbare Feuersbrunst, aufloderte, zu allererst, als das

Feuer gleichsam noch unter der Asche glimmte, heimlich, aber schon mit. großer Heftigkeit gegen Melanchthon und Zoachim

Camerarilis, welche nicht einmal Beförderer des ZnterimS wa­

ren, so sehr sie auch als friedliebende Männer eine Ausglei­ chung gewünscht hätten.

Die anonyme Schrift erreichte ihren

Zweck nicht, darum ging Flaeius von Wittenberg weg, ohne noch einmal abzuwarten, ob das Znterim wirklich angenom­

men würde. Dem Melanchthon, der gewissermaßen Rector perpetuus der Universität war, sagte er, als er ihn um die Erlaubniß bat, einem Anderen seine Vorlesungen zu übertra­

gen, daß er seiner Gesundheit wegen eine Reise machen müßte.

122

Er reifte nach Magdeburg, wo er von Einigen noch aufge­ muntert wurde, gegen das Znterim zu schreiben. Wie es bei trotzigen Charakteren geht, da wollte er nicht. Er begab sich nach Hamburg und kehrte gleich darauf nach Magdeburg zu­ rück, um gegen das Interim zu schreiben. Der Eigensinnige wollte lieber tn der mittlerweile geachteten Stadt mit Correcturen auf kümmerliche Weise sein Brod erwerben, als in dem noch freien Wittenberg seinem Amte leben und seine Familie versorgen, die er dort zurückgelassen hatte. Zn der langen Apologie an die hohe Schule zu Wittenberg ermahnte er die Professoren, daß sie Melanchthon von seinem Sinne, Frieden zu stiften, abbrtngen möchten. Diese so wenig wie Me­ lanchthon würdigten ihn einer Antwort. Deßwegen ergoß er seinen Zorn in einer Schrift über die Adiaphora. Da­ durch erkannten ihn auch diejeiiigen, welche ihn bisher für ei­ nen Verfechter des Rechts und der Wahrheit gehalten hatten, als einen ehrgeizigen, zank- und streilsüchtigen Menschen. Doch fand er auch seine Partei, natürlich am meisten unter sol­ chen, welche wegen des Interims vertrieben waren. Bei der über ein Zahr lang fortgesetzten Belagerung Magdeburgs schwebte Flacius nut seinen Anhängern in großer Gefahr; der Herzog Moriz drohte ihnen den Galgen, und es mußte in der Capitulation ent besonderer Artikel deßhalb auf­ genommen werden, llnd alle diese Anstrengungeii hatte Flaeins vergebens gemacht, denn 1551 hörte das Interim von selbst auf, zumal da der Executor desselben, der Herzog Mo­ riz, dem Kaiser den Krieg erklärt hatte. Darauf mischte sich Flacius in die Streitigkeiten seines alten Freundes Osiaiider, die ihm drei Jahre seines Lebens verkümmerten. Der Osiandrische Zank war noch nicht vorbei, als Flacius sein Bedürf­ niß, zu hadern, tn dem langwierigen Kampfe über die guten Werke mit Dr. Major und mit MeniuS von Neuem befrie­ digen konnte. Es war ihm ein Leichtes, zu gleicher Zett auch gegen die Saeramentirer zu schreiben, wie er sie nennt. Nicht genug, auch den immer noch nicht unparteiisch gewürdigten Schwenkfeld greift er an. Wie hätte er dem Streit über

425 de» Synergismus fremd bleiben dürfen; dieser gab ihm eine Gelegenheit, wieder gegen den verhaßten Melanchthon aufzu­

Zu seinen gelehrten Arbeiten, namentlich zu seinem Catalogus testiuni veritatis, erlaubte er sich eigentliche Dieb­ treten.

stähle. Noch jetzt soll man auf Bibliotheken Exemplare zei­ gen, welche der cultellus Flacii beraubte. Glaube aber den­ noch Niemand, daß nichts Gutes an ihm gewesen wäre. Der­ selbe Mann zeigt in seinen Briefen und immer, wo er nicht

persönlich gereizt ist, rin frommes Gemüth.

Wenn man seine

Briefe und Billets liest, wird man mit seinem Charakter fast ausgesöhnt. Gegen Ende deS Jahres 1558 schien ein besserer Stern über FlaciuS zu leuchten; die vielen Verdrießlichkeiten, die er sich zugezogen hatte, mochten ihn wohl dem Frieden zugäng­ licher gemacht haben. Er wandte sich wiederan Melanchthon;

dieser Friedliebende war auch geneigt,

die Hand zu reichen,

allein sein Schwiegersohn, Kaspar Peucer, rieth Vorsicht ge­

gen einen solchen Menschen. in Flacius.

Dies erregte von Neuem Groll

Glücklicherweise ging aber um jene Zeit auch in

seiner äußeren Lage eine Veränderung vor.

Die jungen Her­

zöge von Sachsen beriefen ihn auf die zu Jena kurz vorher

errichtete Ilniversirät, zu gleicher Zeit erhielt er einen Ruf nach Heidelberg, denn sein Ruhm war durch die Magdeburger Cen­ turien weit verbreitet.

Hatte er sie vollendet!

Ein Jahr lang

lebte er mit seinen College« zu Jena in Frieden.

Dann aber

machte er allerlei Chikanen und reizte mit gewohnter Heftigkeit besonders Strigels Ehrgeiz.

Seitdem schimpften beide auf dem

Katheder und auf der Kanzel gegen einander und machten sich Parteien unter den Studenten. Strigel wollte die auf Flacius Betrieb verfaßte Refutation nicht unterschreiben und

mußte darüber ins Gefängniß. Der Landgraf Philipp und andere Fürsten, selbst der Kaiser, machten dem Herzoge von Sachsen Vorstellung dagegen, indem theologische Streitigkeiten doch eher durch ein Colloquium, als durch Gefängniß entschie­

den würden. Das Colloquium kam zu Stande. Flacius wollte den scharfsinnigen Strigel widerlegen, gerieth aber, als

424 dieser zwischen Substantia und Accidens unterschied, so in

Eifer und Leidenschaft, daß er in der Hitze den Satz aus­

sprach: die Erbsünde sey kein Aceidens, sondern die. Substanz des Menschen. Die anwesenden Theologen erinnerten ihn treu­ lich, er möge diesen ärgerlichen Saß aufgeben. Flacius war taub. Seine leidenschaftliche Rechthaberei und sein stolzer Ei­ gensinn gestatteten ihm nicht, diesen unglücklichen Satz zurückSein Umgang bekam immer mehr etwas Wider­ wärtiges und Abstoßendes, und Niemand fühlte sich zu ihm zunehnten.

hingezogen. 'Wie hätte er vortheilhaft auf die Gemüther wir­ ken können? Als nun Strigel wieder in Amt und Würde

eingesetzt wurde, so hieß das, einen Flacius herausfordcrn. Dieser erklärte dem Herzog in einem Schreiben d. d. 4. Dec.

1560, daß von einer Amnestie gar keine Rede seyn könne. Der Herzog wurde ferner unwillig, daß der Superintendent Winter in Jena den Advocatcn Dürrfeld excommunicirt hatte

und bei dieser Maaßregel verharrte. Winter wurde noch kurz vor seinem Tode förmlich abgesetzt. Darüber erhob sich ein

heftiger Streit,

in welchem Flacius wieder die Hauptrolle

spielte, und dadurch fand sich der Herzog veranlaßt, die Cen­

sur einzuführen.

Die Frau des Joh. Stössel, die aus Zena

war, wollte nun Frau Superintendentin in ihrer Geburtsstadt werden; und wie ihr Mann wirklich Winters Stelle erhalten hatte, wußte er sich auch bald von einem so unangenehmen

College« wie Flacius zu befreien.

Dieser erhielt vom Her­

zoge seine Entlassung und irrte jetzt gleichsam geächtet umher. Am liebsten wäre er, wie man aus einem Briefe an Hart­ mann Beyer ersieht, d. d. 1. Januar 1562, hierher nach

Frankfurt gegangen, er zweifelte aber an einem guten Erfolge und begab sich nach Regensburg, wo ihm der Rath Schuß und Herberge gestattete, ihm auch, als einem ausgezeichneten Gelehrten, von Zeit zu Zeit ein Geschenk in Geld reichte. Er

benutzte seine Muße zu polemischen Schriften gegen die Reformirten. Zm Sommer des folgenden Jahres trieb ihn die Begierde, sein Vaterland einmal wieder zu sehen, über Vene­

dig nach Krain, Kärnthcn, Croatien und Steiermark.

Wie

I2S er nach Regensburg zurückgckehrt war, starb seine Frau, die ihn mit vielen Kindern in großer Roth zurückließ.

Dadurch scheint er mild gestimmt worden zu seyn, denn der pfälzische Rath von Kotteritz zu Zweibrücken versicherte die Straßbur­

ger, wenn sie FlaciuS als Professor der hebräischen Sprache anstellen wollten, so würde dieser nichts „moniren, disputiren,

noch etwas ohne Bewilligung der Oberen drucken lassen." Er erhielt aber doch den Ruf nicht.

Daher reiste er in der Oster-

messe 1565 nach Frankfurt, um sich nach neuen Büchern zu erkundigen und Gelehrte zu sprechen. Er traf hier seinen be­ währten Freund Heßhusius, mit dem er damals herzliche Un­ terredungen hatte. Aber wie änderte sich dieses Freundschafts­

verhältniß ! Indeß übergab Flacius 1566 auf dem Reichstage zu Augs­ burg dem Kaiser eine Schrift gegen die Katholiken^ wodurch er sich viele Verfolgungen und Gefahren zuzog.

In demsel­

ben Jahre, als Wilhelm I. von Oranien, Burggraf der Nie­ derlande, die Religionsfreiheit errungen hatte, wurde FlaciuS mit anderen Theologen als Kirchenrath nach Antwerpen be­ rufen. Zn Antwerpen brachen politische Unruhen aus, die sich

hinlänglich aus der damaligen Lage erklären lassen- indeß wer­ den sie dem Getreide des Flacius Schuld gegeben, mit wel­ chem Rechte, können wir nicht beurtheilen.

Er hat wenig­

stens früher den Gnmdsatz aufgestellt, daß man die Völker

erregen müsse, um die Fürsten in Schranken zu halten. Von Frankfurt aus, wohn, er gereist war, um seine zurückgelasse-

ncn Kinder zu holen, konnte er nicht nach Antwerpen zurück­ kehren , war wieder ohne Brod und blieb in unserer Stadt. Zm zweiten Theile feiner Clavis Scripturae, den er hier be­

endigte, regte, er den alten Streit von der Erbsünde wieder auf, obgleich ihn Heßhusius und Andere dringend baten, seine paradoxe Meinung doch endlich einmal aufzugeben. Sein Ei­ gensinn gränzte aber an Narrheit, Widerspruch reizte ihn

nur zur Beharrlichkeit; die vertrautesten Unterredungen seiner Freunde machte er mit beißendem Spott öffentlich bekannt. Da nun der Streit, in welchen er den hiesigen Predlgercon-

126 vent mit zu verflechten suchte,

so heftig wurde, so gab ihm

der Magistrat den Rath, den hiesigen Ort zu verlassen, seiner

eigenen Sicherheit wegen, weil „durch die Mächtigen in der Welt schon Einige wären in gefängliche Haft gezogen worden."

Er wandte sich mit einem guten Zeugnisse, das ihm der Rath ausstellte, und mit einem Empfehlungsschreiben an den Senior

Marbach 1567 nach Straßburg.

Da lebte er anfänglich ru­

hig, scheint auch sein Auskommen gefunden zu haben, und die Straßburger. Theologen behandelten ihn mit großer Freund­

schaft.

Bald aber schlägt der Brand in helle Flammen aus.

Ich übergehe der Kürze wegen alle die Kämpfe und Streitig­ keiten, die er dort bestand, die Verhandlungen mit dem Würtemberger Superintendenten Andreä, und Alles, wodurch er seine eifrigsten Gönner und treuesten Freunde gegen sich auf­

Selbst Kötteritz wollte nichts mehr von ihm wissen. Was kann aber der Mensch leisten ohne Freunde? brachte.

Zn der Widerwärtigkeit und in der drückenden Armuth, in welcher Flacius jetzt für sich, seine Frau, denn er hatte

wieder geheirathet, und für seine zahlreichen Kinder die noth­ wendigsten Lebensbedürfnisse nicht befriedigen konnte, schickte er seinen ältesten Sohn in seine Heimath, damit er etwa sein ansehnliches väterliches Erbgut versilbern möchte; vergebens.

Auf einmal erscheint Flacius im Mai 1570 zu Jena, nm gegen Heßhusius, Wigand und Andere seine Heterodoxie zu vertheidigen. Allein die Zenaer Theologen erklärten, es sey genug mit ihm disputirt worden; er thäte besser, seine Para­ doxie aufzugeben. Darauf ging er nach Speier, wo Maxi­ milian II. einen Reichstag hielt, und beschwerte sich bei ver­ schiedenen Fürsten über die Mishandlungen, die er erfahren

hätte, erhielt aber denselben Rath, daß er von seiner Meinung abstehen möchte, und schrieb desto mehr und desto heftiger. Auch Straßburg mußte er verlassen; in Basel konnte er nicht bleiben; alle Vorstellungen scheiterten an seinem Eigensinne,

indem er immer bezeugte, er könne Gewissens halber nicht nachgeben, und um sich Parteigänger zu erwerben, brauchte er allerlei Kunstgriffe. So schrieb er den ihm von Marbach

127 vertraulich mitgetheilten Consensus geschwind ab und schickte

ihn an das Frankfurter Ministerium mit dem Anträge, ihn zum Beweise, daß die Straßburger seiner Meinung geworden, abdrucken zu lassen; und als die Frankfurter, welche mit den Straßburgern von jeher in gutem Einverständnis; lebten, die­ sen Antrag ablehntcn, ließ er das Actenstück selbst drucken, wodurch er vollends Alles gegen sich erbitterte. Nun versuchte

er allerlei Umtriebe, um eine Synode zu Stande zu bringen,

kam auch deßhalb hierher. Es liefen aber von vielen Seiten, auch von Kotteritz, Berichte über die Unruhen ein, welche Flacius an allen Orten stiftete. Er dachte unterdessen an eine Reise, um seine Anhänger zu besuchen.

Er kam wieder nach Straß­

burg, wurde aber durch ein Rathsdecret förmlich ausgewiesen, wo er die fünfjährige Gastfreundschaft mit Undank gelohnt

hatte, der Verfechter für Recht und Wahrheit!

Zn Frank­

furt erkrankten die meisten seiner Kinder, er ließ sie krank lie­ gen, um in Fulda auf Einladung des dortigen Abtes eine Disputation mit den Jesuiten zu Hallen. Der gelehrte Abt

hoffte nach dem damaligen Geschmacke einen rechten Genuß von einem förmlichen Colloquium vor Notar

und Zeugen,

wenn zwei Gegner aufträtcn, wie Flacius und die Fuldaer Zesuiten. Es blieb aber bei gelegentlichen Gesprächen während

der Tafel. Von Fulda kehrte Flacius nach Frankfurt zurück, um gründlich gegen die Zesuiten zu schreiben, wie auch des Heßhusius Antidotum, die Reformisten und die Straßburger weitläufig zu widerlegen, während in Regensburg über ihn neue Unruhen ausbrachen. Der Senat wies ihn aus der Stadt. Ileberall, selbst von den Bauern gehaßt, welche frag­

ten, ob einer ein Accidenzianer oder ein Substanzianer sey, ging er, wie es scheint, mit seinem zweiten Sohne insgeheim nach Mansfeld, von da unter sicherem Geleite nach Berlin,

von da nach Schlesien, scüie Anhänger auffrischend und eine Synode betreibend. Endlich dachte er doch wieder daran, nach den Seinigcn zu sehen, die noch in Frankfurt waren. Sein Leben war so unstät, daß sein Sohn Matthias aus Rostock,

in einem Briefe vom Zuli 1574, bei Hartman» Beyer an-

128 fragt, ob er -nicht wisse, wo gegenwärtig sein Vater sey. Bald

darauf traf er hier ein. Durch Verwendung zweier angesehener Geistlichen,

des

oft erwähnten Beyer und des berühmten Matthias Ritter, wurde der Vertriebene wegen seiner Armuth in das Gotteshaus (h. h. Armen - und Krankenhaus) des Weisfrauenklosters aus­ genommen. Auch von hier aus zankte und eiferte er noch. Streit hatte er überall gesucht, dafür begleitete ihn, wo er

war, Elend und Jammer.

Auch jetzt kam ein übler Bericht

nach dem andern bald an das Frankfurter Ministerium, bald an den Rath, daß ihm auch hier im December 1574 Her­

berge und Schutz aufgekündigt wurde, eben zu der Zeit, als der größte Theil seiner Familie -noch krank lag.

Diesen Ilm­

stand machte er in der Bittschrift um Aufschub der Auswei­

sung geltend. Der Rath aber decretirte, daß seine Frau und Kinder bis zu ihrer Genesung bleiben könnten. Er wußte im tiefsten Elende nicht wohin, schrieb noch kurz vor Weihnachten einen jammervollen Brief an die Prediger und flehte wehmü­ thig um ihre Fürsprache bei Gott und Menschen. Auf Em­ pfehlung des Herrn von Riedesel wurde ihm noch einige Frist gestattet. Sein ganzes Leben, sein inneres und sein äußeres, war

eine ununterbrochene Kette eines leidenschaftlichen Treibens.

Daher kam es, daß vor der Zeit und in den beßten Zähren sein sonst so starker Körper auszehrte, und sein kräftiger Geist ganz gedrückt war. Dennoch polemisirte er fort. Während er öffentlich für sich beten ließ, machte er Streitschriften. Den lOten März mußte er sich legen, und weil er glaubte, seinem

Ende nahe zu seyn, so bat er Beyer und Ritter zu sich in das Gotteshaus, um eine Confession, nicht etwa über seine Sünden, sondern über seine als standhaft behauptete Lehre abzulegen, und darauf das heilige Abendmahl zu empfangen.

Der vorsichtige Beyer aber rieth, er möge seine Confession lie­

ber schriftlich machen. Dieß versprach er. Vor Schmerzen und Schwachheit siel er in einen Schlaf, aus dem er nicht mehr erwachte.

129 Richt einmal eine Leichenpredigt wollte oder getränte man sich ihm zu halten. Doch wurde ihm noch ein ehrliches Begräb-

niß zu Theil, die Stätte aber, wo er eingescharrt wurde, weiß niemand. So endigte dieser firlßige,

dieser geistreiche,

dieser ge­

wandte, dieser berühmte Mann, der mit allen seinen 189 phi­ lologischen, exegetischen, historischen, dogmatischen, deutschen

und lateinischen Werken die Wissenschaft nicht gefördert hat,

wie er berufen war, was die Magdeburger Centurien, sein Catalogus teatium veritatis und seine auch nicht vollendete

Erklärung der Bibel beweisen. Im praktischen Leben aber hat er nur Unheil gestiftet. Ein warnendes Beispiel, um zu lernen, wie ganz unser*

trägKch Leidenschaft mit Wissenschaft sey. Sie bringt den Menschen mit sich selbst in Zwiespalt, macht ihn unglücklich, vergiftet seinen Willen, verwirrt seinen Verstand, führt ihn in Irrthümer, nimmt ihm endlich alle Besonnenheit, daß man

nicht absehen kann, wie traurig er endigt.

der du jetzt mit ten, in der du ein frühes Grab, vielleicht endigst

£) könnte ich dir,

deinen Begierden spielst, die Gestalt vorhaleinst erscheinen wirst! Vielleicht sinkst du in vielleicht fällst du als ein Opfer deines Zorns, du als ein schauderhafter Bösewicht. Eins

ist gewiß: daß, wer der Wissenschaft leben will, der Leiden­ schaft entsagen muß.

Schwarz: Darsteü. a. d. Gebiet« d. Erzieh.

9

III. Die Uicht-tveihe -es Pä-agogen. Ein Brief, wie er geschrieben werden könnte, nebst vorläufiger Antwort.

Bo» dem Herausgeber.

Mein geweihter Herr Pädagoge! Die Weihe, deren Sie sich zu rühmen scheinen, hat unser

Ich will sie Ihnen auch gern lassen. Wie weit Sie damit in der Welt gekommen sind, oder noch zu kommen gedenken, dafür lasse ich Sie denn auch sorgen. einer nicht empfangen.

Mag jeder seinen Weg cinschlagen, der ihm gut dünkt! Darüber

hadere ich mit niemanden. Aber Sie sind mir auf Ihrem Wege zu achtungswerth geworden, als daß ich Ihnen nicht offen meine Meinung sagen und bekennen sollte, ich würde ihn weder

gewählt, noch jemanden angerathen haben. Auch habe ich Ilngeweihter keine Ursache, mit meinem Wege unzufrieden zu seyn. Kühn darf ich sagen: es ist mir auf demselben gelungen; ob Sie das auch sagen können? — Doch ich will Ihnen ver­ traute Mittheilungen machen, hören Sie also. Es war auch bei mir einmal die Zeit schöner Träume; da lebte ich in dem belobten Zustande, den man Begeisterung

nennt. Aber ich kam bald zur Besinnung und lachte mich dann selbst aus. Die Menschen sind nun einmal, wie sie sind —

ein Thor, der sie anders nimmt, als sie sind, ein zwiefacher Was verlangt man denn

Thor, der sie anders machen will.

von dem Erzieher?

Das lernte ich bald erkennen, denn ich

bekam eine ziemlich gute Hauslehrerstelle. Man fand mein Aeußeres empfehlend, man schätzte meine Geübtheit in einigen neueren Sprachen, man hörte mich gern von der schönen Li­

teratur reden, man bewunderte meine Urtheile (beiläufig ge­ sagt, die den Tagesblättern entlehnten), man ließ mich bis­

weilen etwas vorlescn, und kamen Fremde, so wußte ich sie zu unterhalten. So sah ich mich bald in der Würde eines Obcrhosmarschalls in dem Hause, wo es natürlich hoch her­ ging. O wie bald lernt man da von allem sprechen, was man

weiß, und noch mehr von dem, was man nicht weiß!

Der

154 junge Mann braucht ja nur die Blätter, die alle Tage frisch

auf den Literaturtisch kommen, mir flüchtigem Auge zu durch­

laufen, so kann er mit großer Zuversicht über alle diese Dinge urtheilen; und mit je größerer Keckheit er seine Urtheile aus­ spricht, um desto mehr gelten sie an dem Speisetischc und an dem Theetische.

Sie sehen damit zugleich so etwas von dem

Kreisläufe der Literatur des Tages, den sie durch die Salons macht. Herren und Damen jener feinen Welt hielten mich so­ gar für einen großen Gelehrten. Daß ich da manchmal im

Stillen lachen mußte, über sie und über mich, das trauen Sie mir wohl zu. Aber ich nahm mich wohl in Acht, von die­ sem Nimbus nichts zu verlieren, und in diesen gebildeten Krei­

sen lernt sich das auch bald.

„Aber die Zöglinge?" — Diese Frage lag Ihnen bisher schon auf der Zunge. Nun, die machten mir nicht viel zu schaffen, und hätte ich es nur früher schon so verstanden, wie

ich es nach Jahr und Tag und manchem Lehrgeld gelernt, so Denn im An­

hätten sie mir gar nichts zu schaffen gemacht.

fänge hatte ich noch die pedantische Meinung, daß die Kinder

rtwas gut, oder, wie man zu sagen Pflegt, gründlich lernen müßten.

Da wurde denn der arme Knabe geplagt, und noch ärger mühte sich der Lehrer ab, um bei einem Examen den Eltern die bewundernSwcrthen Fortschritte vor Augen zu stellen. Aber, o Himmel, waS war das für eine undankbare Arbeit! Bis der Knabe seine lateinische» Declinationen und Conjugationen hergesagt hatte, nicht ohne Stocken und Fehlen, bis er mit seinem holperichten Lesen, seinem Aussuchen auf der Land­ karte —------ doch was sage ich Ihnen das alles? Sie ken­ nen ja solche Schüler- und Lehrernoth. Mir brach mehr wie

einmal der Angstschweiß aus, vielleicht auch dem Vater, und gewiß noch mehr der schon lange um die zu große Anstrengung des Söhnchens besorgten Mutter. Was hatten nun die El­

tern von diesen schweren Stunden ? und was die erbetenen Zeugen, die Hausfreunde, die so wenigstens gelangweilt wor­ den? Nur Ein Mann war unter denselben, der in die lobende Abschiedsphrafc nicht mit einsiimmte, sondern ein verständiges

455 Urtheil sprach, wodurch er sich als Sachkundiger bewies. Dir willst dem Manne folgen, nahm ich mir vor, aber bald sah ich doch tiefer in das ganze Treiben. Wozu denn dieses Lcrnm alle? dachte ich, am Ende kommen wir damit doch nicht weiter, als daß der junge Herr in einigen Zähren eS wieder

verlernt, und wir haben indessen die schönen Zähre ihm und mir und dem ganzen Hause verdorben.

So wird es auch mit

dem kleineren Bruder gehen, und die Schwestern nehmen ohne­ hin an meinen Lehrstunden wenig Theil. Rein, das läßt sich

besser machen.

Gelernt muß freilich werden, aber so arg wol­

len wir es nicht mehr treiben, und den Kindern will ich keine Roth mehr machen. Da ersann ich denn sehr bald eine an­ dere Weise, ließ den Kindern mehr ihre Lust, doch so, daß ich sie bei guter Diät und Gewöhnung sesthielt, und auch in letzterem nahm ich es mit meinem Zögling späterhin nicht so genau, denn

Sie begreifen wohl, daß man auch hierin muß ab- und zuzuthun wissen; und glauben Sie mir, die Eltern Hütten jetzt erst Freude.

Da wurde manchmal etwas von dem Knaben

declamirt, und das Lob der ganzen Gesellschaft eingeerntet, da

wurde von mir manchmal eine Frage an ihn gerichtet auf die er vorbereitet war, und man bewunderte seine Kenntnisse; ebenso brachte ich manchmal ein Gespräch auf die Bahn, wo

er mit seinem llrtheil bei der Hand war und als Sachkenner erschien; und so wußte ich es zu machen, daß er bald frei­

müthig genug war, über alles zu sprechen, und bei manchen

für ein Genie galt.

Das läßt sich ja, wie wir Pädagogen

uns wohl im Vertrauen sagen dürfen, bei einiger Routine treff­ lich bewirken. Daß ich kurz bin, der Erfolg krönte mein Werk. Mein Zögling wurde ein gemachter Mensch. Zch begleitete ihn noch ein Zahr auf Reisen, dann kam er in ein großes Handelshaus, und ich erhielt eine hübsche Pension. WaS wol­

len Sie mehr, mein geweihter Pädagoge? Sie meinen wohl, das habe sich alles nur so glücklich gefügt, lind ui hundert Fällen werde es nicht so gehen? Sie

irren sich, mein Herr.

Zn hundert anderen Fällen wird es

eben so gehen, wenn man diese Maximen nur gehörig anzii-

136 Allenfalls will ich Ihnen noch Eins von dem Hundert für Ihre Grundsätze lassen. Ilm nur einige Fälle an­ zuführen, so kann ich Ihnen Weiler folgende Erfahrungen ver­ rocnben versteht.

traulich mittheilcn, wenn Sie anders die Geduld haben wol­

len, mich weiter anzuhören. ein ziemlich beengter Candidat der Theologie, der aber seine Schule gut gemacht hatte, unterrichtete die Knaben eini­ ger Familien, die zum Sludiren bestimmt waren und dem­

nächst auf ein Gymnasium sollten gebracht werden.

Der gute

Mann war Tag und Nacht daran, daß sie etwas lernten,

aber die wilden Bursche hatten wenig Lust, und den Eltern machte er es eben auch nicht zu Dank. Der arme Mensch härmte sich ab, verfiel in Hypochondrie und war schon daran, sich zu Tode zu ärgern.

Da klagte er mir endlich seine Noth.

„Thor, her du bist,^ rief ich ihm lachend zu, „greif es nur

anders an, so wird es anders. Kommt denn aus allem deinein Abmuhen etwas heraus? Die Welt wirst du doch nicht umkehren. Mache cs wie ich, den Stein, den ich nicht heben kann, lasse ich liegen, und — mundus vult decipi.

Man

muß sich da in manches finden, es mit vielem nicht so genau nehmen, über nichts sich ärgern. Wollen die Buben nicht

lernen, nun, so mögen sie zusehen; der Lehrer kann ihnen den­ noch leicht so einen Anstrich geben. Gesetzt aber, sie werden ernstlich geprüft und bestehen nicht, nun, so wirst man die Schuld auf dieses und jenes, läßt auch wohl an eine Bös­ willigkeit der Examinatoren denken, aber um alles darfst du sie nicht so examiniren, daß sie schlecht bestehen. Es kommt

ja dabei npr mif dich an, die Eltern und Anwesenden gut zu unterhalten und in Staunen über die großen Fortschritte zu setzen. Diese Kunst verstehst du eben noch nicht." Sie kön­ nen schon denken, was für Regeln ich ihm noch weiter mit auf den Weg gab. Der ängstliche Freund wollte anfangs den Kopf schütteln, aber er kam zu Verstand und erfuhr bald, daß mein Rath praktisch war. Jetzt ärgert er sich nicht mehr zu Tode, sondern wird seines Lebens froh und hat sich sogar schon

unentbehrlich zu machen gewußt,

Ein anderes Beispiel.

A. kam als Lehrer an eine ange­

Der war nun noch in alten Vorurtheilen be­

sehene Schule.

fangen, die im geraden Widerspruche mit dem standen,

was

die anderen Lehrer der Schule, die großes Ansehen hatten, über

Religion, Politik, Freiheit den Jünglingen eingaben.

Er nun

meinte, Gott einen Dienst damit zu thun, wenn er gegen diese Grundsätze ankämpfte.

Da brachte er denn die Lehrer, die

Schüler, die ganze Schule, ihre Eurawren, auch die Eltern,

ja die öffentliche Meinung gegen sich auf. Ein recht thörichter Kampf!

Eben als er in dem ärgsten Gedränge war, fand ich

ihn, und zwar, ich muß es ihm zugestehen, noch ganz kampf­ lustig und muthig, um bei seinen Zdeen zu leben und zu ster, ben.

„Gib deine Schwärmereien auf," rief ich ihm zu, „und

lerne die Welt kennen. Märtyrer zu werden, so Mühe verlohnt.

Oder schmeichelt es deiner Eitelkeit, werde es da, wo es sich auch der

Tritt lieber selbst auf unter dem Namen der

öffentlichen Meinung, gegen die Regierungen, gegen das Kir-

chenthum — laß dich verfolgen,

und du kannst sicher darauf

rechnen, daß du in einer Menge von Tageblättern und in gro­

ßen und kleinen Wlrthsstuben geprießen wirst." Zndessen hatte ich doch damit nicht das Rechte bei ihm getroffen, denn cs war ihm wirklich Ernst, und das Vorurtheil steckte noch zu tief in

ihm.

Ich faßte ihn von einer anderen Seite an.

„Was hast

du denn bis jetzt mit deiner Tapferkeit ausgericheet?" fragte ich ihn, „und was wirst du ausrichtcn?

Nichts, rein nichts;

und noch obendrein machst du dich selbst zu nichts, denn du richtest deine ganze künftige Wirksamkeit, die so herrlich seyn

könnte, damit nur zu Grunde.

Du bringst die Welt um einen

trefflichen Mann, ja du schadest der Sache, denn du verschul­

dest es durch deinen llnverstand, daß sie, die du für eine gute hältst, nunmehr für eine schlechte gehalten wird. Sapere aude, das heißt: gehe hin und lerne klug seyn."

nicht gleich.

Das wirkte, aber

Der junge Schulmann wllßte mir allerlei entge­

gen zu setzen, und ich hatte wirklich Respect vor ihm, gab ihn

auch fast auf.

Indessen hatte der Funke doch seinen Zunder

gefunden; Herr U. wurde allmählig gescheidt

und hat mir

138 neulich selbst gestanden, daß er jetzt auf andere Gedanken ge­

kommen sey, und es ihm jetzt recht gut gehe. Noch genug Beispiele könnte ich Ihnen anführen, wenn

Sie wollten. Nur noch eins.

Ein wackerer Lehrer, nicht mehr

ganz jung, erhielt endlich eine Stelle in einer eben nicht be­ güterten Familie auf dem Lande. Das ging denn auch im Anfänge gut.

Aber nun wollte er eine bessere Diät einführe»

und die Knaben durch Spazierengehen, Gartenarbeiten, Turnen physisch kräftigen; da war es aus. Denn die ganze liebe Fa­

milie war so verzärtelt und verweichlicht, daß sie gar keinen Sinn mehr für eine andere Lebensweise hatte. Die Folgen

waren sichtbar genug, das Arzneien hörte nicht auf, aber sie wollten mit sehenden Augen nicht sehe». Der schwache Vater wurde mit jedem Tage nur besorgter, und die Mutter meinte, man hasse ihr Kind, wenn man ihre Verhätschelung tadelte. Herr Z. unterließ diesen Tadel nicht und machte sich dadurch natürlich nicht beliebt, und ost war der Principal im Begriff, ihn fortzuschicken, da hielt ihn nur immer ein kleiner Umstand Ich Er verschmähte meinen guten Rath nicht. Von jetzt an hielt er nur seine Lehrsiunden, versteht sich, ohne die lieben Kinder viel anzustrengen, und ließ kränkeln und arzneicn, so viel die El­ tern wollten; jetzt war er ihr Mann. Sie, Herr Pädagoge, könnten mir es wohl als Eitelkeit auslegen, daß ich gern als ein kluger Rathgeber erscheine. In­ dessen werden Sic mir doch die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß ich mich nirgends aufdringe — am wenigsten Ihnen, —• und daß ich Ihnen nur sagen will, wie es ist. Ich lasse Ih­

zurück; die Paar Gulden fehlten, um ihn auszubezahlen.

hatte diesen Hauslehrer und seine Lage kennen gelernt.

nen Ihre gutmüthigen Träumereien, und Sir lassen mir mei­ nen wachen Weltverstand. Bedarf es noch eines Beleges für meine Grundsätze, so verweise ich Sie an alle Institute in und außer Deutschland, kaum einige ausgenommen. Sehen Sie nur, welche ihr Glück machen; und wodurch machen Sic es? Zeigen Sie mir doch eins, wo Ihre Gärtnerideen oder Welt-

harmoniccn irgend Lob erhalten; die Heilkunde — nun davon

159 Sie meinen es gut, ich wiederhole Ihnen meine Achtung, aber Ihre Weise kann man allenfalls noch etwas brauchen.

wird Ihnen weder Zöglinge noch Lehrjünger gewinnen, und Sie werden vielleicht zu spät zu der Erkenntniß kommen, daß Sie die Welt nicht besser machen. Alles fließt in seiner Rich­ tung fort, wir hemmen und wenden es nicht, und der ist klug, der mit dem Strom zu schwimmen weiß.

Ihnen wünschen.

Das möchte ich

Leben Sie wohl. Einer von Vielen.

Antwort. Mein weltkluger Herr! Sie haben ganz recht, und ich stimme Ihnen in Erwie­

derung Ihrer achtungSwcithen Offenheit bei, wenn Sie sagen, daß unsere Wege verschieden sind.

Der Punct, von dem wir ansgehen, und das Ziel, nach welchem wir hinstreben, sind allerdings ganz verschieden. Was Sie in Ihrer Welt- und Menschenkenntniß früher oder später gefunden haben, um diesen Stein der Weisen be­ neide ich Sie nicht. Machen Sie damit so viel Gold, als Sie können, ich begehre es nicht, mit Ihnen zu theilen; Sie wer­

den dagegen nicht mit mir theilen wollen, was ich von dem menschlichen Wesen kennen gelernt habe, und auf welche Früchte

ich hoffe.

Arm oder reich, wer von uns beiden das eine oder

das andere mehr sey, werden wir gegenseitig nicht entscheiden wollen, und so bleibt jeder für sich bei seinem Maäßstab. Ucbrigens habe ich alle Achtung vor Ihrer Klugheit, und wenn ich gleich den Rath, den Sie geben, nicht billigen kann, so weiß ich doch, daß Sie jeden Ihrer Freunde vor dem Rath

eines Mephiftophiles alles Ernstes warnen würden.

Sie mei­

nen es gewiß gut.

Auch sind Sie wirklich zu gut und zu klug, um mit Ihrem Rathgeben Eitelkeit zu treiben. Rur besorge ich, daß Ihre Regeln doch nicht so ganz vor der Klug­ heit bestehen werden.

Ich fürchte für die armen Hauslehrer,

140 die sie befolgt haben, daß sie nicht immer auf den grünen

Zweigen bleiben werden, auf welche sie dadurch gekommen sind. Hätten Sie ihnen doch nur auch Ihren Weltverstand und Ihre Gewandtheit einflößen können!

Sie wissen aber selbst, daß

überall die Halbheit das Schlimmere ist, und gegen solche kön­ nen Sie Ihre Clienten nicht schützen. Darin kann ich Ihre Klugheit in der That nicht begreifen. Denn das wußten Sie doch auch, daß man einem Schwachen nicht eine Last auflegen

muß, die er nicht tragen kann. Ich begreife nicht, warum Sie nicht lieber den guten Leuten, die Sie unberathen fanden,

den Gemeinspruch ans Herz legten: es fällt niemand unge­ Sie zwar fallen nicht aus der Ihri­ gen auf Ihrer pädagogischen Bühne, wird aber auch der An­ straft aus seiner Rolle.

dere die neue, so gut er sie auch bei Ihnen einstudirt hat, Ich zweifle, und ich sollte denken, daß Sie auch daran zweifeln. Warum lassen Sie ihm aber nicht

durchführen können?

lieber die seinige, die ihm die natürliche ist? oder warum hel­ fen Sie allenfalls ihm nicht, sich besser in sie einzufinden?

Sie erfahrener Manu haben sich den Sprachgebrauch der Weltlcute vollkommen angeeignet, wenn Sie dem Pädagogen, welcher von etwas getrieben wird, das Ihnen nicht ganz un­ bekannt ist, Schwärmerei und gutmüthige Träume beilegen.

Daß es nur für solche eine Weihe gibt, oder daß vielmehr dieser wohlverstandene innere Beruf selbst ihre Weihe ist, wer­ den Sie nicht in Abrede stellen, wenn Sie gleich von der Welt­ höhe vielleicht mitleidig auf solche Erzieher herabsehen. Geste­ hen Sie uns jenes zu, so werden Sie auch die Symbole der Gartenkunst,

Heilkunde,

Musik nicht

eben

unschicklich für

uns finden. Indessen bleiben wir aus unseren verschiedenen Wegen.

Weder ich noch Sie hemmen den Strom der Dinge, aber Einer ist über unS, der leitet alles, und der theilt jedem seine Bestimmung zu, und nur demjenigen wird es gelingen, der

ihm treulich dient. Soll ich noch der Gabe gedenken, womit Sie diesen und jenen Mann vermochten von seinem Wege abzubringcn, so sage

141 ich nur, daß sie allerdings bei dielen in jetziger Zeit ihren Zweck nicht verfehlen wird, und kein Sokrates würde dagegen helfen. Zhnen steht allerdings die Welt zur Seite, aber es gibt auch noch manchen, bei welchem Sie nichts ausrichten würden, weil er aus eine ganz andere Stimme zu hören ge­ wohnt ist. Wenngleich Ihre Beispiele durch eine überwie­ gende Mehrheit schlagen sollen, würde doch nicht auf Ihrer Seite der Sieg seyn. Auch sollen und wollen wir Erzieher weder mit dem Strom, noch gegen ihn schwimmen, sondern auf festem Boden gehen, unseres Zieles gewiß. Indem ich auch Zhnen dieses wünsche, sage ich: leben Sie wohl.

IV.

D i e Geschichte der

Erziehung

-es

Herausgebers

betreffend.

Beantwortung

einiger

Vorwürfe,

welche

dieser

gemacht worden, nebst Berichtigungen und

Nachtragen.

Geschichte

1 Antwort ans Vorwürfe.

sogleich ber Verf. schon in der Vorrede zu seinem Buche über die Schulen (1832) im Allgemeinen gegen ein un­ richtiges Ilrtheil gesprochen hat, so sieht er sich doch um der Sache willen, damit sie richtig verstanden werde, zu einer weiteren Erklärung genöthigt. Seitdem liegen ihm zwei ganz entgegengesetzte Anklagen gegen seine Geschichte der Erziehung im Allgemeinen vor. Die erste sand zu viel, die zweite zu wenig in dieselbe ausgenommen. Beide indessen sind mit Einer Antwort zu beseitigen, welche nämlich ans den Zweck dieser Ge­ schichte hinweist. Dieser ist die historisch aufzusassende Ent­ wicklung der Erziehungsidee. Hierzu mußte er den Stoff, der ihm aus der Geschichte, und zwar auü O-uellen, nicht eben ärmlich zu Gebote stand, gerade so auswählen, wie sich der Gang jener Idee, die sich in der Menschheit fortbewegt, in denselben darzulegen schien. Wohl mag manche Region nicht genug aufgehellt, auch in manche mehr hereingezogen seyn, als unmittelbar zu dieser Aufhellung nöthig war. Wer aber für jenes eine Anekdotensammlung von pädagogischen Sonder­ barkeiten, oder eine Reihenfolge von Schulmeistereien verlangt, mag seine müssigen Stunden damit ausfüllen, so etwas selbst zu sammeln; und wer dagegen meint, daß die Bildung eines Volkes oder einer Zeit, oder der vorzüglich eingreifenden Män­ ner in eine Geschichte der Erziehung nicht gehöre, mag sich zu­ erst über die Hauptbegriffe, über ihre tiefer liegende innere Einheit und über das historische Zneinandergreifen des Ganzen und Einzelnen u. s. w. besser belehren, als die hohlen Philosopheme, die man als wissenschaftliche möchte gelten lassen, oder als die flachen Ansichten darüber zu belehren pflegen. Auch lag es nicht in dem Zwecke des Verf., seine Leser mit vielen Citaten und mit historischen Ilntersuchungen zu unterhalten. Das ist die Aufgabe für den eigentlichen Geschichtsforscher: Schwarz: Darstell, a. 6. Gebiete 6. Erziel). 10

146 unsere war es, das Erforschte zu benutzen und für jenen Zweck

zusammenzustellen,

jedoch prüfend und auf die vorliegenden

Duellen zurückführend, auch möglichst aus diesen selbst un­ mittelbar darstellend.

und wem nicht?

Irrthümer begegnen uns da freilich,

Wir erkennen auch dankbar jede Zurechtwei­

sung, nur muß sie selbst richtig seyn.

Nur so kann sich eine

Geschichte der Erziehung allmählig zu ihrer Wahrheit und Voll­

ständigkeit ausbilden. Das hat der Verf. gewollt. Einen andern Vorwurf hat er hier oder da gelesen, daß er nämlich nicht aus den Duellen geschöpft. So allgemein

hingcsagt, muß er ihn als ungerecht sogleich abweisen. Nur ein oberflächliches Aburtheilen konnte so etwas aussprechen, das sich dem aufmerksamen Leser in jedem Capitel widerlegen wird. Hierzu kommt bei Manchen auch wohl das Borurtheil, insbe­

sondere bei der Geschichte der Griechen und Römer: weil der Verf. kein philologischer Schulmann sey, so spreche er da nur

aus einem ihm fremden Fache. Er sieht sich daher nothgcdrungen, hier von sich selbst zu reden und zu erklären, daß er von früher Jugend auf seine lateinischen und griechischen Classiker gelesen, und sowohl mit grammatischem Ernst, als mit wachsendem Interesse gelesen, und daß er sich diese ttnterhaltung bis auf den heutigen Tag immer noch gewährt. Da

Auch hat er manchem Jüngling in denselben schulmäßigen Unterricht er­ theilt. Ueberdieß hat er für seine pädagogischen Zwecke schon

behält man doch wohl manches aus den Duellen.

vor länger als 30 Jahren aus denselben zu epcerpiren ange­ fangen und hat so viel gesammelt, daß er sich nur Gewalt

anthuu mußte, um vieles nicht mitzutheilen. ES ist möglich, daß er nicht immer daS Zweckmäßigste ausgewählt hat, aber auszuwählen hatte er. Nun einige weitere Antworten. Mit Homer mußte er ansangen, weil er die Duellen wollte reden lassen. Die Er­ ziehungsgrundsätze der Pythagoreer gehörten allerdings in diese Geschichte, sollten sie aber richtig erkannt werden, so mußte auch der Philosoph von Samos und der Umriß seiner Lehre,

so mußten selbst manche Sagen über ihn und insbesondere die

147 Briefe der Pythagoreischen Frauen dastehen. Daß nun vollends Platon und Aristoteles in eine Geschichte der Erziehung gehö­ ren, d. h. ihre pädagogische» Lehren, bedarf keines Wortes weiter, außer etwa für ungebildetere Schulmeister, die einmal gehört haben, daß es einen Sokrates gab, und daß ina» von ihm das Katechisire» lernen müsse, und die nichts von dem Großartigen in den Erziehungslchren seiner Schüler ahnen. Aber weder diese, noch ein Aristophanes, noch irgend ein an­ derer Athener haben ihm von sonderlichen Vorzügen der Er­ ziehung in ihrer Stadt etwas gesagt, so dankbar wir auch den Römern in dem Lobe derselben (parens literarum) zustimmen. Die Reisen des jungen Anacharsis von Bar­ thel em y sollen doch wohl nicht Quelle seyn, wie ein Kri­ tiker zu meinen scheint, weil er es tadelt, daß sie nicht benutzt seyen. Benutzt! berichtigt mögen sie allenfalls seyn. Daß Hochheimers Erziehung der Griechen nicht sehr weit führt, wissen wir, und wie viel ihr schon dadurch mangelt, daß sie nicht genug die Stämme, Staaten, Zeiten sondert, wisse» wir auch. Was sollten wir nun noch aus ihr schöpfen? Nur manche Hinweisungen, und diese nahmen wir dankbar an. Die Erziehuugsgeschichte der Römer hat für ihre älteste Zeit noch manche Lücken, weil uns da wenig vorliegt, wo Livius selbst nicht mehr hat. Von Eiceros Zeiten an wird cs Heller, und wir haben auch da die Schriftsteller lieber selbst reden lassen. Die Zeiten der Kaiser geben mehr, und zwar für die höheren Bildungsanstalten; Auszüge und selbst Ilrkunden aus den Quel­ len sind von uns mitgetheilt. Wir durften in dieser Folge nichts trennen bis zum Emde des römische» Reiches, und also noch manches aus dem christlichen Zeitalter in die erste Ab­ theilung hercinnehmen. Das Eintreten des Christenthums macht allerdings mit dem vollkommensten historischen Recht die Gränze der alten und neuen Zeit. Von dem an mußte gezeigt werden, wie es allmählig in die Völker emgewirlt hat. Mmählig, sag-'» wir, und wer da sogleich von einem Schulwesen unter den Böllern, oder auch nur in den Städten h ören will, weiß nicht, was er 10’

148 will.

vom

Einzelne Schriftsteller gibt es wohl, die ans jener Zeit

Unterricht

sprechen,

aber

eine pädagogische

Literatur

konnte eS erst geben, wenn ein Volk zu einer höheren Bildungs­

stufe gelangte, worüber oft Jahrhunderte hingingen.

Vis da­

hin hatten wir nichts anderes zu thun, als aus den Kirchen­

schriftstellern die Grundsätze der Erziehung, die sie gelegenheitlich aufstellen, und die nur allzu sparsamen Nachrichten von

christlichen Lehranstalten aufzusuchen, welches wir auch meinen treulich gethan zu haben.

Zu diesem Zweck sind ganze Stel­

len z. B. aus Gregorius von Nazianz und aus Chrysostomus mitgetheilt;

Origenes.

auch manche umständlichere Notizen z. B. über Daß da noch eine reiche Nachlese zu halten sey,

wollen wir gern zugestehen und, was unS durch dieselbe für die Geschichte der Erziehung geboten wird, dankbar hinnehmen. Für

den Hauptzweck, die Art, wie die Erziehungsidee unter den Chri­ sten ihren Entwicklungsgang genommen, glauben wir nichts schul­

dig geblieben zu seyn.

Die Geschichte der sogenannten Kaiser­ schulen und ersten Universitäten ist mit allem diesem zu genau verflochten, als daß sie nicht auch hereingezogen werden mußte, so unbequem auch dieser Seitenbezirk für den Berichterstatter

seyn mußte.

Davon mußten wir Mehr sagen, weil uns davon

mehr gesagt ist.

Der Wunsch, von der häuslichen Erziehung

der Christen in den früheren Jahrhunderten mehr zu sagen,

oder vielmehr von ihr ausgehen zu können, blieb uns leider unerfüllt, weil die unS bekannt gewordenen und auch getreu­ lich angeführten Stellen aus Kirchenvätern doch immer noch

zu wenig aus dem Leben mittheilen. Der Versuchung zu dich­ ten, mußten wir, wie überall der allzu bereitwilligen Phantasie, widerstehen.

Wer aber das Durcheinanderfließcn der Dinge

nicht leiden mag, dem rathen wir die Blicke in die Begeben­

heiten ganz ab; wie der, welcher eine Naturgeschichte nach ab­

getheiltem Fachwerk will, sich in dem unendlich verschlungenen

Ganzen der Natur selbst wohl nicht behaglich finden wird. Wir kommen zu dem Mittelalter.

Daß in dem Zeitalter

Karls des Großen viel Dunkelheit herrsche, ist wahr, nämlich in dem Zeitalter selbst. Daß aber unsere Geschichte aus

149 unmittelbaren Quellen jener Zeit geschöpft, um möglichst auft

zuhellen, ist auch wahr.

Oder weiß uns jemand bessere anzu­

geben, als die Eapitularien, oder die Briefe von Karl und Alcuin? Wer sie aufmerksam durchlieft, wie sie der Verf. durchlcsen hat, der bedarf bei weitem keiner Phantasie eines Walter Scott, um sich ganz in jene Zeit einzuleben und die

bildende Wirksamkeit jener Männer gleichsam vor Augen zu sehen. Mag das Urtheil des Verfs. da wohl manchmal nicht scharf genug seyn, aber aus der Zeit selbst urtheilt er doch.

Bon der Schuldisciplin hat er vieles angeführt, man sehe nur S. 147 —195; er hat auch sogar manche Anekdoten ange­ führt, die dahin gehören, und hätte deren leicht noch mehrere

anführen können, wenn er das Buch hätte überladen wollen. Der ganze Abschnitt über Britannien ist ebenfalls nicht ohne Quellen behandelt, auch von Engländern und Irländern mit Beifall ausgenommen worden, so daß von einer Ueberseßung die Rede war. — Doch genug, um den Borwurf, daß er sich

bei der Geschichte des Mittelalters fast nur an abgeleitete Quel­ len halte, als ungerecht abzuweisen.

Sollen wir noch von der weiteren Zeit etwas zur Bertheidigung sagen?

Was die Geschichte von jenen Italienern

und Niederländern darbietet, welche die neue Zeit der europäi­

schen Bildung zunächst herbeigeführt haben, ist nicht übergan­

gen, aber hier haben wir lieber die Männer auftreten lassen,

als unsere Reflexionen; die macht am besten der Leser selbst. Der Mann, welcher seine Zeitgenossen bildet, ist zugleich der Repräsentant seiner und der nächstfolgenden Zeit; so findet es sich gerade dann am meisten, wann eine neue Zeit beginnt, und der Männer nur noch wenige sind, die bildend eingreifen.

So

ist von dem Uten Jahrhundert an bis in das 16te

die Bildung freier geworden und in Biele eingedrungen. Die Reformation hatte den wichtigsten Einfluß zunächst auf den Schulunterricht. Sie selbst muß man vorerst erken­ nen in ihrem ganzen Wirken, wenn man diesen Einfluß ver­ stehen will; sonst hat man nur etwas Abgerissenes aus der

Geschichte, nicht die Geschichte selbst.

Diesen Weg hat deßhalb

130 der Berfasser eingeschlagen, und wer ihm von S. 299 an

(2te Abtheil.) aufmerksam gefolgt ist, wird ihm die Gerechtig­ keit widerfahren lassen, daß er jene Lichtmänner zu dem Zweck dargestellt habe, um ihren Einfluß auf die Bildung der Zugend

desto gründlicher zu erkennen. Von jener Zeit an ist nun aller­ dings noch vieles in den einzelnen Schulgcschichten zu erfor­ schen und mitzuthcilcn; wir meinen besonders in Deutschland, da in dem Auslande sich wenigere historische Momente hierin darbieten. Es ist verdienstlich, über dieses Einzelne nachzufor­

schen, und hiermit den Zusammenhang der Bildung im Gan­

zen unter uns Deutschen aufzuhellen. Das lag nur gerade nicht in dem Plane des Berfassers, da er sich, wie gesagt, darauf beschränken mußte, nur den Gang hinzuzeichnen, in welchem sich die Erziehungsidee entwickelt hat.

Sammlungen von allerlei, was in diesem Bereiche geschehen ist, mag er lieber lesen als schreiben.

Dazu bietet denn nun die neue Zeit viel Stoff. Wer da auf Sammeln ausgeht, kommt mit jedem Tage reicher zu­ rück ; von etwa der Mitte des 17ten Jahrhunderts anfangend,

findet er viel Merkwürdiges in Schulgeschichten, in, Schriften,

in Sitten, und das nimmt mit der Mitte des 18teii Jahrhun­ derts so zu, daß man in Gefahr kommt, der Masse zu unter­ liegen.

Diesen Reichthum hat der Vers, verschmäht, sieht ihn

aber gern in anderen Händen. Er glaubt dafür dem Publi­ cum einen besseren Dienst mit der Uebersicht zu thun, welche die Hauptmomente in den Fortschritten der Erziehung bestimmt be­ merken läßt. Will man etwa darum auch bis dahin den Vorwurf

ausdehnen, daß er nicht auS de» Quellen schöpfe? Wie? er sollte die pädagogischen Schriftsteller, welche die Quellen sind, nicht gelesen haben?

Auf solchen Borwurf weiter zu antwor­

ten, hält er unter seiner Würde.

Wo keine Quellen sind, schweigt die Historie.

Da ist eS

denn erlaubt, zu vermuthen und auf die Gesetze der Raturcntwicklung zurückzugehen.

Die Einleitung, welche sich hierin

nach der historischen Zeit hin bewegt, wird hoffentlich diese Ge­

setze nicht übersehen und die Gränzen der Vermuthung nicht

161 überschritten haben.

Auch in der helleren Zeit, ja selbst über

das Mittelalter hinaus, kommen wir in Regionen, auf wel­ chen noch ein Dunkel ruht, und da mußte die Geschichte noth­ wendig fragmentansch bleiben, wenn man nicht eine selbst machen will.

Ein von der Phantasie gesponnenes Gewebe ist etwas viel Leichteres, als das Bekenntniß der Lücken, welche

nun zu weiterem Forschen auffordern. Zn allem aber bleibt es eine schwere Aufgabe, in dem unendlichen Wellcnspiele der menschlichen Dinge die Bahn zu verfolgen, auf welcher sich die Menschheit entwickelt hat, ohne seitwärts abzuschweifen. Der

Verfasser gesteht offen, daß eS ihm hierin nicht besser ergangen

sey, als manchem anderen, der ähnliche Aufgaben, wenn auch übrigens befriedigend, gelöst hat. Einen anderen Vorwurf muß er sich aus gutem Grunde ebenfalls verbitten. Es ist der, daß seine Theologie zu viel Einfluß auf seine Pädagogik gehabt habe. und glaubhaft sagen.

Das läßt sich so leichthin

Vielleicht konnte man den Vorwurf,

denn das soll es doch seyn, auch umkehren: seine Pädagogik

hat auf seine Theologie zu viel Einfluß gehabt.

Die Wahr­

heit aber wäre eS, wenn das Urtheil so lautete: das Christen­ thum hat ihn wie in die Theologie so in die Pädagogik cingesührt.

Er hätte die erstere längst aufgegeben, hätte sie ihn»

nicht die Tiefe unserer ehristlichen Religion mehr aufgeschlossen,

und er hätte nicht mit vermehrtem Eifer fortfahren können, über Erziehung zu lehren, wäre ihm nicht der Geist derselben in eben dieser Religion erschienen.

Verzeihung, lieber Leser!

Von sich selbst zu reden, ist

manchmal Pflicht, auch wegen der Sache.

Sah sich doch der

Verfasser hierbei auch noch dazu nothgedrungen, daß er eini­ ges aus der Vorrede zu seinem Buche über die Schulen für

diesen Zweck nochmals sagen mußte.

Und nun »miß er auf

einige Vorwürfe von einem Gelehrten kommen, der zugleich als Bearbeiter desselben Gegenstandes aufgetreten ist, hierbei jedoch

im Ganzen nicht unfreundlich unserer Arbeiten gedenkt. Buch, »velches wir vor uns haben,

ist:

Das

Geschichte der

Erziehung und des Unterrichts in welthistorischer

152 Entwickelung von Dr. Friedrich Cramer, Subrect. Erster Band. (Gesch. d. E.

am Gymn. zu Stralsund.

u. d. U. im Alterthume. — Praktische Erziehung.

Von den ältesten Zeiten bis auf das Christenthum, oder bis zum Hervortreten des germanischen Le­ bens.) Elberfeld, bei C. Z. Becker. 1832.

Daß dieses Werk einen ganz andern Gesichtspunct hat, als das unsrige, erhellt schon aus dem Titel. Denn dieser hebt vorerst die welthistorische Entwicklung, sodann das ger­

manische Leben hervor. Die unsrige hat den Zielpunct dieser Entwicklung, und das Leben der Menschheit, wel­ ches sich in allen Nationen ausbilden will, vor Augen. Doch wir müssen uns deutlicher erklären und hiermit auf das

in

jenem Buche antworten, was es über unsere Behandlung sagt.

Es gesteht in der Vorrede (S. XI.) der unsrigen zu, daß sie

eigentlich die Bahn gebrochen, und urtheilt, daß nur einzelne Theile besonders gelungen seyen, namentlich die jüdische Erzie­

hung, „wo man es," wie das llrtheil weiter lautet, „der ganzen Darstellung des Verfassers ansieht, daß er auf einem ihm be­ kannten Boden sey." Soll damit gesagt seyn, daß er sich sonst überall auf einem ihm nicht bekannten Boden befinde, so wäre das llrtheil ungerecht, wie er bereits oben erklärt hat. Er kennt den Homer und Herodot so gut wie Mosen und die Propheten, u. s. w., oder wenn man will, nicht besser, als jeder ächte Leser der alten Schriften gern sich bescheiden wird. Hr. Dr. Er. hat sich zum Zweck seiner Geschichte gemacht (Vorr. S. XX.), das Einzelne, was über Erziehung vor­ kommt, zu erforschen. Der Zweck für die unsrige war, das

Ganze, worin sich die Thätigkeit, welche die Zugend bildet, theils in einzelnen Völkern, theils in den verschiedenen Zeiten bewegt, so ausgusassen, wie man darin den Bildungsgang der Menschheit bemerken kann. Richt alles Einzelne dient zu die­ ser Darstellung, aber dem Schriftsteller kann es dienen,

und

darum benutzt er, wie oben bemerkt, dankbar das, was an­ dere aus dem Schacht gefördert, und grabt auch wohl selbst

hier und da nach. Jene Mittheilungen auö Reisebeschreibungen

155 und mancherlei Notizen, was bei rohen Völkern mit Kindern vorgeht, wie sic jenes Buch gleich auf den ersten Blättern mittheilt, wobei es jedoch das llusichcre solcher Nachrichten nicht übersieht, lagen nicht aus unserem Wege, und es genügte uns, nur durch wenige auf das hinziideuten, was überall auf jener niederen Stufe vorkommt, und worin sich die Geschichte nur immer wiederholt, wie die Kindheit in jedem Kinde. Wir könnten da einen ganzen Vorrath zum Besen geben, verweisen aber lieber jeden Pädagogen auf Land und Stadt umher, daß er dergleichen selbst beobachte. Wir wollten unsern Zweck ge­ nau fesrhaltcn, zu sehen, wie sich unter den cultivirten Völ­ kern die Menschheit durch die Erziehung bis auf heute ent­ wickelt hat, damit den Erzieher die jetzige Zeit und ihre For­ derungen, hiermit seinen Beruf recht verstehen lerne. Die Geschichte soll in den Begriff cinleiten. Zwar lassen sich Begriffe voranstellen, wie auch jenes Buch die von Erziehung und Unterricht vorangesrellt hat. Ob sie aber mehr seyen, als Wortbegriffe, oder ob sie da, wo sic die Sache aussprechen wollen, mehr geben, als bloße Vorstellun­ gen, die ihren Anklang allenfalls in einem natürlichen Gefühle finden, lassen wir hier dahingestellt seyn. Dunkel gefühlt wird wohl etwas vom Verhältniß der Erziehung und des Unterrichts, wenn wir das lesen, was die erste Seite jener Einleitung darüber sagt, aber ob das Wesen hieraus erkannt und begriffen werde? Die bildliche Angabe vermag wenigstens nicht, das 511 bewir­ ken. Denn daß dort der Erziehung nur das Ausrotten des Bösen und Besonderen, dem llnterricht dagegen nur das Einpflanzcn des Guten und Gemeinsamen zngeschicden wird, kann doch nicht als Machtsprnch gegen die Ratnr gelten, die das Negative und Positive nirgends auseinanderreißt, am wenigsten in dem Einfluß auf Wachsthum und Bildung. Nicht einmal vorzugsweise kann der Pädagoge diese als Hälf­ ten in jene beiden Begriffe theilen. Die Wahrheit der Sache erkennt vielmehr in jedem das Ganze, nur in dem verschie­ denen Verhältniß, in welchem die einzelnen Thätigkeiten flehen. Ueberdieß sind die Vorstellungen von Gut und Bös, so allge-

154 mein auch das sittliche Gefühl von diesen Worten angesprochen wird, so schwankend, daß man in dem einen Volke bei den

Kindern das für etwas Gutes hält, was bei dem andern als

Böses gilt. Sogar unter uns sind die Ansichten darüber so verschiede», daß man durchaus hierin deutlicher Grundbegriffe bedarf. Wo aber findet sie der Erzieher? Nicht in einem zu­ fälligen Gefühl, auch nicht in jugendlicher Begeisterung; die heilige Wahrheit will aus ihrem llrbvrn geschöpft seyn. „Die Geschichte die Prophetin der Wahrheit;" diesen Aus­ spruch eines griechischen Historikers setzten wir darum nicht bloß

so obenhin an den Eingang der unsrigen. Die welthistorische Ansicht des Vers, über die christliche Religion ist freilich nicht die unsrige. Er sicht in allen Religionen Offenbarungen der Gottheit (S. XXIII.), unter welchen er übrigens doch der christlichen den Vorzug gibt: wir sehen in allen anderen vielmehr Abirrungen von der Offenba­

rung, und nur in der christlichen, durch jenes Offenbarungs­

volk vorbereiteten, die eigentliche geoffenbarte Religion. Wir — ich rede aus dem Herzen Mehrerer — erkennen in dieser die Religion aller Religionen, das Wesen, das in allen übrigen nur in einzelnen Lichtpuncten matt hindurchschimmert. Hier­ mit erkennen wir sie als die einzige wahre und göttliche und können sie daher nicht mit den andern neben einander reihen, wenn ihr auch die erste Stelle gefällig zugestanden würde, son­ dern müssen sie über alle andere setzen, so daß diese nur in

dem Meere der menschlichen Dinge fluchen, sie aber als die Sonne über der Tiefe leuchtet. Die christliche Religion ist das Grundverhältniß der Menschheit zur Gottheit, welches in an­ deren Religionen wohl gefühlt, dunkel geahnt wird, in Chri­

stus aber völlig aufgeschlossen und zur Hellesien Aufklärung ge­ bracht worden. Das erkennen wir vermöge des Glaubens an ihre Göttlichkeit, dieser Glaube aber beruht auf jener festen Ueberzeugung, welche unmittelbare Gewißheit gewährt. Wer in diese Würdigung des Christenthums mit einstimmt, kann unmöglich die Geschichte der Menschheit, insbesondere die der Erziehung, anders als aus dem Gesichtspuncte, den unsere

133 Religion uns anweist, betrachten und muß also alle die an­ deren Religionen nur als vorüberziehende Erscheinungen in der Evolution der Menschheit erblicken. Ss ist uns aber unmög­ lich, zugleich in und über dem Christenthum zu stehen, so wenig, als daS Zch zwei Personen seyn kann, und wir Hallen es für eine begreifliche Täuschung, wenn derjenige, der wirk­ lich in dem Christenthum steht, meint, sich über dasselbe zu stellen. Wir halten also folgerichtig und in offenem Geständniß diesen unseren Standpunct in unserer Geschichte der Er­ ziehung fest. Wenn nun der Vcrf. jener Geschichte weiter (S. XXIV.) Religion und Gesetzgebung als die Pole des geistigen Lebens ansieht, so finden wir dieses wohl auf dem Standpuncte au­ ßerhalb annehmbar, aber in dem des Christenthums erkennen wir, daß die Religion das geistige Lebenspnncip selbst sey, wel­ ches als das Herz der Menschheit auf Sitte und Gesetz hin­ treibt, welches sucht und strebt, bis ihm das rechte Licht auf­ gegangen ist; und da wir Christen uns dessen erfreuen, so fin­ den wir in der Religion nicht etwa den einen Pol, sondern das Innerste der Lebenskraft, welche die äußeren Verhältnisse durchaus bildet. Daher müssen wir auch den unmittelbaren Nutzen einer Geschichte der Erziehung noch höher stellen, als „das Wissen lind tz'rkeniien, wie die Menschheit erzogen hat und wie sie erzogen ist — und wie sich die göttliche Idee, das Men­ schengeschlecht dem Ziele der Vollendung immer näher zu brin­ gen, entwickelt und fortschreitend geoffenbart hat." Denn die­ ses bestimmt sich uns dadurch höher, daß wir diese göttliche Zdee, dieses Ziel der Vollendung, einzig und allein durch das Chri­ stenthum deutlich kennen gelernt haben und also erst von die­ ser Offenbarung aus alle Fortschritte zu beurtheilen im Stande sind, hiermit denn auch richtig erkennen, welche Wirksamkeit der Erziehung in jetziger Zeit angewiesen ist. Ferner findet sich zwischen jener Geschichte und der unsrigen auch in Absicht des Zieles ein wesentlicher Unterschied. Jene nimmt zwei solcher Ziele an, das Christenthum und das ger­ manische Volk (S. XXVI. fg.): die unsrige sieht nur auf das

186 Eine Ziel hin, das in dem Christenthum vorgesicckt ist; denn wir glauben, daß allen Menschen das Heil zugcdacht sey, und daß sie alle zur Erkenntniß der Wahrheit kommen. Deutsche scheint ein geborener Christ zu seyn."

„Der Diese Worte

unseres I. P. Richter, die hierbei angeführt sind, sollen doch nicht ein so einseitiges Deutschthum meinen, welches uns ge­

radezu auS dem Christenthum herausführen

würde?

Denn

darin besteht ja eben das Christliche, daß wir in Demuth und

Bescheidenheit uns keinen Vorzug hierin und kein Vorrecht bei­

legen. Irgend ein Volk zum Endpunct der Geschichte, oder, wenn man es lieber so ausdrücken wollte, zum Hauptzweck der Vorsehung zu machen, wäre eine Ansicht der Menschengcschichte, ungefähr wie die, welche Sonne, Mond und Sterne nur um der Erde willen da seyn läßt. Jenen zweiten Endpunct halten wir für eine zwar gutgemeinte, aber durchaus irreführende Täuschung. Wir bleiben also mit gutem Grunde, dir nie wird

erschüttert werden,

bei unserer Gränzscheide der alten und

neuen Zeit. Hiermit sey alles beantwortet, was aus dem Standpunct, welchen jene Darstellung genommen hat, unserer Geschichte enk-

gegnet wird.

DäS Phantasiebild, welches dort mit ziemlich

lebhaften Farben ausgemalt ist, wollen wir dem Verfasser und

jedem, der es mit ihm halt, zur unverkümmerten Behauptung überlassen. Die Volker repräsenliren da die Lebensalter.

China ist „das Land der beginnenden geistigen Erziehung des Kindes;" die Inder sind das Kind, welches eben in das gei­

stige Leben der Traum- und Mährchenwelt eintritt (obwohl nebenbei ihnen mehr Dogmatik als Moral beigelegt wird); die

alten Perser das Kind, welches der Mutter nicht mehr so ganz folgt, aber noch nicht in die Schule geht (das alles theilen auch die Mager und selbst der Zend-Avesta mit denen, von

welchen Lenophon und andere Griechen reden); das Zudem thum ist der Gipfel des asiatischen Lebens, und „das jüdische Volk der einzige Sohn eines liebenden Vaters, zwar von kind­ lichem Gehorsam durchdrungen, der aber keine gute Früchte von sich erwarten läßt und daher hinausgeschickt wird in die weite

137 Welt, - nm im Umgang mit anderen Menschen re. allerdings etwas zu lernen" (und was!); die Aegypter „der Knabe, der in den Elementen unterrichtet wird" (darum mußte freilich

unsere Meinung von einer durchgreifenden Nationalerziehung

dieser mehr als tausendjährigen Nation von dem Vers, zwei Ansrufnngszeichen erhalten, die wir nur mit einem Fragezei­ chen beantworten); in Griechenland erscheint endlich der „hei­ tere ,

liebliche

Knabe,

dem

im

jugendlichen Wohlgenusse

das Lebe» erblüht re. ic. Wir haben über alles das weiter nichts zu sagen. Ist das etwa das Welthistorische? wenigstens ist es etwas anderes, als das wir als das Historische kennen. Allenfalls könnten wir zu ähnlichen poclisirenden Nachbildun­ gen versucht werden; wir ließen die Kindheit des Menschengeschlechts anfangen am Nordkap, oder in Peru, oder im Sü­

den, und da könnte uns sogar das alte Bild in den Schulen einfallen, Europa, die sitzende Jungfrau. — Doch schon zu viel davon. Wir müssen gestehen, daß uns auch übrigens jene Ge­ schichte weder durch neue Quellen, noch durch neue Ausschlüsse eine Berichtigung zugeführt hat.

Doch müssen wir auS Ach­

tung für die Sache and den Verfasser noch auf einen Punct

kommen, weil wir es für einen Misverstand halten, wenn er

uns einen Vorwurf daraus macht,

daß wir gesagt haben,

Maria, die Mutter Jesu, sey das Zdeal der herrlichsten Weib­ lichkeit für die ganze Nachwelt geworden, und daß wir die Frauen gerühmt haben, die das Evangelium rühmt. Wir fragen: ist es denn anders? sagt es die Geschichte anders? Wir hören da weiter den Borwurf: „und hat denn Schwarz

nicht an ein wesentliches Element des germanischen Charakters gedacht, der gerade in der tiefen Innerlichkeit und Weiblich­

keit beruht, nm nicht auch Beispiele weiblicher Hoheit aus der römischen Welt zu entlehnen?"

Wohl hat er daran gedacht,

wie der Kritiker an den gehörigen Orten deutlich lesen konnte,

und wo er auch das Lob einer Arria und anderer römischen Frauen nicht vermissen wird. Gewiß aber wird sich keine Frau

von deutschem Gemüth über das Zdeal jener Frauen in der

heiligen Geschichte erheben; vielmehr fragen wir, was denn

wohl seit der christlichen Zeit der germanischen Völker ans die

Weiblichkeit einen vorzüglich bildenden Einfluß hatte?

Daß

übrigens die Geschmacklosigkeit der Rabbinen bloß aus der ver­ sagten Geistesunterhaltung mit dem weiblichen Geschlecht herzu­

leiten sey, haben wir nicht gesagt, wie ein anderer Satz jenes Vorwurfs in den Worten zu sagen scheint: „sie beruhte viel­

mehr auf ganz anderen Gründen." Wir machten nur (Abth. I.

186.) darauf aufmerksam, wie sich hier zeige, daß der Ein­ fluß gebildeter Frauen für den Geschmack und das religiöse Le­ ben im Volke wichtig sey.

Wir möchten überhaupt den Leser

bitten, diese und alle angefochtenen Stellen ganz nachzulesen

und dann zu urtheilen.

Auch bei dem, was über die Juden gesagt ist, haben wir

in der Geschichte, welche von jenen alten Völkern redet, nichts gefunden, was wir zur Berichtigung oder zu Nachträgen für unsere Geschichte dienlich Hallen, oder was uns unsere Anord­ nung verändern könnte, obgleich auch da einige Notizen, die ihr Interesse haben, und wofür man dem Vcrf. Dank schul­

dig ist.

Bei den Griechen wollen wir vorjeßt nicht verweilen,

ob wir gleich nicht in Abrede stellen, daß sich da mancher Bei­ trag zur Erweiterung der Kunde von ihrer Erziehung findet

und besonders in dem versprochenen folgenden Bande, der für

das Literärische bestimmt ist, finden wird. Wir erhalten von den Philologen immer etwas, das zur bestimmteren Ausfüh­ rung des Einzelnen dient. Darum gaben wir das Wesent­ liche der Erziehung nach den verschiedenen Zeiten und Völkern Griechenlands an und verwiesen übrigens an die Alterthums­ forscher, welche das innere Leben in jenem Bildungsvolke mehr und mehr aufhellen. Auch das vorliegende Buch wird hierbei mit Nutzen zu Rathe gezogen, so z. B., um das Genauere über den Leseunterricht der Athenischen Schulen zu erfahren, die

deutliche Stelle aus Dionysius von Halikarnaß. Dasselbe Ver­ dienst müssen wir auch in der Geschichte der Erziehling bei den

Römern anerkennen, und es ist dadurch erhöht, daß der Vers, das Wenige, was er über die Bildung und Erziehung der

139 Etrusker sagt, vorauSschickt.

lieber die BildmiHsanstalten in

Gallien, Spanien u. s. w., und was im Römiischen Reiche für die Armen- und Waisenpflege geschehen, saigt er Einiges zum Schluß.

2. Berichtigungen und Nachlräge. 1) Bei der Geschichte der Schulen unter den alten Per­

sern kommt in der Anmerkung ein Fehler der Berechnung vor,

welchen uns ein junger Holländischer Gelehrter, Hr. Elix, in

seiner Dissertation, Amsterdam 1830 bemerkt hat.

Zn unserer

Geschichte der Erzieh. (Abth. 1. S. 115. Anni.) steht: „Wenn

hier unter den 12 Myriaden — 1,200,000 bloß die Männer

gemeint sind" w.

Dieses ist irrig und überall um eine Null

zu viel gerechnet.

Denn die MyriaS macht nur 10,000; wir

müssen also

jene

Zahlen reducircn aus

120,000

Männer,

die Nation hiernach statt auf 6 Millionen vielmehr nur auf 6 Hunderttausend, und die Knaben ungefähr auf 60,000 be­

rechnen.

Auf einige andere Einwürfe, welche Hr. E. gegen

die Ansicht Heerens von einer Hofcrziehung, und zugleich ge­

gen unsere Meinungen macht,

können wir gerade kein Ge­

wicht legen.

2) Zn der Geschichte der Zsraeliten könnerl wir noch man­ ches aus den Lehren der Rabbincn nachtrage», aber wozu dient

es uns? Was wir zum Belege für unsern Zweck nöthig fan­

den, haben wir mitgetheilt.

Wenn wir nun z. B. aus dem

Talmud, zunächst der Mischna, alles zusammenbringen woll­ ten, waö nur irgend die Erziehung berühren könnte, so wür­

den wir doch nicht mehr finden, als was schon genugsam be­

legt ist,

wäre

es

und wir würden nichts Bedeutendes finden. auch,

wenn wir z. B. aus

dcni

Was

Tractat Pirke

Aboth (Cap. 5.) an seinem Ort die Anmerkung hinzufügten, daß ein Rabbi zu sagen pflegte, der 5jährige Knabe soll die

h. Schrift (lesen?) lernen, der 10jährige die Mischna, mit 13 Zähren soll er Las Gesetz befolgen, mit 15 I. den Talmud (die

160 Gemara) lernen, 18 Z. alt möge er heurathen, 20 Z. alt seine Nahrung durch ein Gewerbe suchen; worauf denn dieser Lehrer ein Klimakterium bis zum Alter von hundert Zähren

ausstellt,

llnd das wäre doch noch von einiger Bedeutung;

was wir sonst gefunden haben, viel weniger.

Die Gemara

enthält zwar noch manche Rabbincn-Aussprüche, die einiges Interesse in der Geschichte der Erziehung haben können, indes­ sen doch nur so weit, als man solche Sprüche liebt. Wir

haben gern einige auch von jenen Lehrern angeführt, wozu mehrere?

aber

Etwas anderes ist es in der Geschichte bei

den Griechen und Römern, deren pädagogische Lehren bestimm­ ter in das Leben eingreifen, und die wir deßhalb nicht gerade sparsam mittheilten. Da läßt sich auch immer noch eine reiche Nachlese halten. 3) Herr Bibliothekar Dodt zu Utrecht hat die Güte ge­

habt, mir Folgendes niitzutheilen, was einige Puncte in der Geschichte des Mittelalters betrifft und theils berichtigende, theils erweiternde Notizen gibt. Wir nehmen sie dankbar von

diesem sorgfältigen Literator an und erkennen es mit ihm, wie für den Geschichtsforscher gerade jene Zeit einen großen Reiz hat, weil solcher, wie dieser Gelehrte sich äußert, mit der größeren Ungewißheit steigt. Das fühlt wohl der am meisten, der sich ganz des Geistes seiner Zeit entschlagen möchte, um sich mit

reinem Blicke in jene düstere Zeit zu versetzen und das Erziehungswesen möglichst herauszusehen.

a. Unsere Anm. zu Seite 252. legt dem Rudolph Agricola die Sammlung deutscher Sprüchwörter bei, die viel­ mehr nach Hrn. Ds. Bemerkung dem Johannes Agricola bcigclegr werden muß, wobei über diesen Job. Agr. Islebiensis auf Küster, Altes und Neues (Berlin), I, 94., Schellhorn, A. L. I. 84. II. 74., und Kordes, Zoh. Agricolas Leben u. Schriften, verwiesen wird.

b. Wir sagten S. 271. unrichtig ausgedrückt: „Das gibt im elegischen Vers­

Bücdelchen de civilhate morum

maaße Regeln über das Schickliche in Manier" :c., da doch diese Schrift des Erasmus, wie Hr. D. hiergegen richtig erin-

161 nert, in Prosa geschrieben ist.

Unsere Angabe ist durch Ab»

kürzung dessen, was sie sagen sollte, fehlerhaft geworden; sie muß nämlich heißen: „welches im elegischen Versmaaße für

den Schulgcbrauch bearbeitet worden." Ich besitze dieses Büch­

lein und setze den Titel hierher: D. Erasmi R. de civilitate morum puerilium libellus, elegiaco carmine redditur, Ioan ne Plouvier, Flandro, Sacratissimae Rom. Cae-

■areae Majest. pueris symphoniacis ab institutionibus Grammalicis, autore etc. Aug. Vindel. Ph. Ulhardus excudebat (ohne Zahrzahl). c. Zu S. 107 fg. bemerkt mir Hr. D. „Die Gothen scheinen mir mehr Sorge- als Sie meinen, dafür getragen zu haben, die Schulen zu Rom, die wohl zu sinken beginnen mochten, bei ihrem früheren Glanz zu erhalten.

Dieß scheint

aus mehreren Stellen beim Cassiodor nicht undeutlich her­

vorzugehen. Vgl. 2, 39. und 4, 6. seiner Briefe, besonderdie letzte Stelle: Spectabilis itaque etc. Ferner waS Cassiodor den Theodat sagen läßt, 10, 7. Perpetua sruitur etc. So rühmt auch Ennodius in ftincn Panegyricis den Theoderich rücksichtlich seiner Sorge für die Beförderung der

Wissenschaften: Par fuit, ut etiam etc.

Ihre eigenen Kin­

der ließen die Gothischen Fürsten nicht ohne Römische Bit«

düng. Außer Procopius zeugen davon, was die Amalasuntha angeht, Suidas an mehr als einer Stelle. Sehr merkwürdig scheint mir, was Orosius 7, 43. vom König Ataulph erzählt.

Richt nur in literis liberalioribus, auch

in sacris disciplinis waren die Gothischen Großen bemüht

ihre Kinder unterrichten zu lassen.

Dieß leuchtet hetvor aus

einetn Schreiben der genannten Atnalafuntha beim Cassiodor

5, 3., worin sie an die Stelle des Athalarich den Theodat empfiehlt: Resecravimus etc. Auch das weibliche Geschlecht

war oder blieb nicht ohne einige Bildung. Von der Amala. suntha war schon die Rede. Man vergleiche ihren Brief an

die berüchtigte Theodora, Justinians Gemahlin (Cassiod. 10,10.). Vorzügliches Lob ertheilt derselbe Cassiodor dieser Dame an

einer anderen Stelle, wo er sie dem Römischen Senat empfiehlt: Schwarz: Darstell. a. 6. Gebiete t>. Erzieh.

11

162 Hane dignissime etc. Aehnliches schreibt Theuderich an Hermanfried von der Amalaberga (Cassiod. 4, 1.); und von der

Brunehild, der Gattin Sigberts, Königs der Franken, Gre-

goriuS Turon, 4, 27. Wie viel Theoderich auf weibliche Bildung hielt, geht besonders daraus hervor, daß er bei Besetzung von Aemtern auch Weiber linguae latinae peritiores anderen vorzog, Cassiod. 3, 2. u. 11.

Dieser Schrift­

steller selbst wurde von Theoderich seiner Kenntnisse wegen ad gradum patriciae dignitatis erhoben, Cassiod. 1,3. u. 4. *). So auch Boöthius, 1, 10. u. 45. — So viel für dießmal über die Gothen." Wir haben diese und einige andere Stellen nachgesehen

und wollen vorerst den gleichzeitigen Historiker Procopius noch einmal hören. Es ist im Auf. des 2ten Cap. des Iten Buchs vom Gothischen Kriege, wo er von der Königin Amalasuntha be­

richtet, wie sie ihren Sohn Athalarich erzogen. Wir geben den Bericht hier vollständig in folgender Übersetzung. „Nach dem Tode Theuderichs (gr. folgte sein Enkel Athalarich, der Sohn seiner Tochter, der damals acht Jahre alt war und

von seiner Mutter Amalasuntha erzogen wurde, denn sein Vater war damals nicht mehr am Leben. ES war aber zu jener Zeit, als kurz darauf Zusiinianus das Byzantinische Reich übernommen hatte.

Amalasuntha nun verwaltete als Vor­

münderin ihres Sohnes die Regierung.

Sie war eine Frau, die sich durch Verstand und Gerechtigkeit auszeichnete und einen überaus männlichen Charakter darlegte. So lange sie dem Staate vorstand, verhängte sie über keinen Römer irgend eine Leibes- oder Geldstrafe; und den Gothen gestattete sie durch­ aus nicht, daß sie gegen die Römer sich in ein llnrecht aus­ ließen, ja sie gab den Kindern des Symmachus und BoethiuS ihr Vermögen zurück. Diese Amalasuntha nun wollte ihren Sohn gleich den Söhnen der vornehmen Römer und in der­ selben Weise erziehen lassen und nöthigte ihn, nun auch die

) Wir fügen 3, 28. hinzu.

163 Schule eines Grammatikers zu besuchen").

Auch wählte sie

drei von den Gothischen Aeltesien, denen sie besonders viel Ver­ stand und Sanftheit zutraute, daß sie mit dem Athalarich Zu­ sammenleben mußten.

gar nicht.

Das gefiel nun den Gothen ganz und

Denn sie wollten, daß er sie in ihrer Roheit**)

und nach Herzenslust gegen die Unterworfenen (Römer) möge

gehen lassen.

Da trug es sich

einmal

zu, daß

die

Mut­

ter den Knaben in seinem Gemach über einem Vergehe»***)

fand und ihm eine Ohrfeige gab, er aber weinend in das

Männerzimmer t) wcglief.

Die Gothen, welche ihm begeg­

neten, wurden darüber ausgebracht, schimpften auf die Amalasuntha und warfen ihr vor, sie wolle ihren Sohn nur bald­

möglichst aus der Welt schaffen, damit sie wieder einen Mann nehmen und mit demselben über die Gothen und Italiener

herrschen könne.

Die Angesehenen unter ihnen traten npn

zusammen, gingen zu ihr und klagten, daß der König nicht

so erzogen werde, wie es ihnen und ihr zuträglich sey; die

Wissenschaften

stünde» sehr weit von der Mannhaftigkeit ab,

und die Belehrung durch Greise führte meist nur zu einem

furchtsamen und untergebenen Wesen; der aber, welcher ein zu

Unternehmungen beherzter und ruhmvoller Mann werden solle,

müsse von der Furcht vor Lehrern srrigcmacht und dafür in den Waffen geübt werden.

Sie fügten hinzu, daß auch Theude­

rich nie den Gothen erlaubt habe, ihre Knaben in die Schule eines Grammatisten zu schicken, und er habe allen gesagt, daß, wenn einmal die Furcht vor der Peitsche tf) in sie gekommen

wäre, sie nimmermehr Schwerd >und Spieß würden verachten lernen. Sie wollten ihr auch zu bedenken geben, daß in Theu­ derich ihr ein Mann gestorben sey), welcher der Herr von einem so großen Land geworden, indem» er ein Reich erobert, das

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xu-

164 ihm nicht angehört habe, und gleichwohl habe er nicht das

Mindeste von Wissenschaften in seine Ohren kommen lassen *). Also, Gebieterin, — sprachen sie, — entlaß jetzt solche Er­

zieher**) und gib dem Athalarich einige Genossen seines Al­ ters, die mit ihm leben und als kräftige Knaben ihn zur Re­ gierung nach der Weise der Barbaren (Gothen) anfrischen."

Diese Stelle habe ich in der Gesch. d. Erz. II. S. 207 zum Belege angeführt, nur dort nicht aus dem Original. Sie

dient allerdings zum Beweise, daß die Gothen die wissenschaft­ liche oder geistige Bildung nicht liebten und lieber in ihrer Roh­

heit geblieben wären, womit sie das überwundene Volk be­

herrschten. Auch erhellt daraus, daß sie um dieses politischen

Zweckes willen über die edlere Erziehung ihres künftigen Kö­ nigs und über dessen Mutter unzufrieden waren. Daß Amalasuntha eine bessere Ordnung der Dinge Herstellen wollte und dem unterdrückten Römischen Volke günstig war, liegt ebenfalls klar vor, wenn wir gleich darum noch nicht wissen, was sie

für geheime Absichten bei allem dem gehabt haben mag. Als eine große Frau erscheint sie, so wie ihr Vater Theoderich als

ein Herrscher, wie denn jener Schriftsteller im Iten Cap. von ihm manches berichtet. Denn ob er gleich von ihm sagt: „Theuderich war mehr dem Wort nach ein Tyrann, der That nach war er ein wahrhafter König," so führt doch eben dieser Procopius wahrhaft tyrannische Züge von ihm an, unter an­ dern, wie er sich durch verläumderische Angabe habe verleiten lassen, zwei der edelsten Männer in Rom, den Symmachus und Boö'thius hinrichten und ihre Güter einzichen zu lassen.

Doch fügt er auch noch hinzu, wie sein Gewissen bald hernach so aufgeschreckt worden, daß er in eine tödtliche Krankheit ver­ fallen und sein Verbrechen vor seinem Tode bitter bereut habe,

und sagt, daß das die erste und letzte Ungerechtigkeit gewesen

sey, deren er sich gegen seine Unterthanen schuldig gemacht, und das bloß, weil er gegen seine Gewohnheit ohne Erkennt-

#) — Kcct irtgt yQa(xp,ciT(i)v ou zugleich

als Zugabe zu den am Schluß unserer Erziehungs - und Uns terrichtsl. angehängten Beispielen, weil wir von der Wichtig­ keit solcher biographischen Veuräge für die Bildung des Er­ ziehers mehr überzeugt sind als von allen jenen Formeln ei­ ner sogenannten wissenschaftlichen Pädagogik.

Der berühmte Chemiker Davy (vor einigen Zähren in Genf verstorben) sah in dem kritischen Moment der Todesge­

fahr, als er an einem tödtlichen Fieber darniederlag, ein schö­

nes jungfräuliches Wesen in seiner Phantasie, und hierauf

289 erfolgte seine Genesung.

Er kannte in der umgebenden Ge­

genwart keine ähnliche Gestalt, und seine Neigung war auf

ein ganz verschiedenes Wesen gerichtet.

Erst 10 Zahre nach,

her begegnete ihm im Ausland diese Gestalt in der Wirklich,

keit, und dieses Frauenzimmer wurde nach weitern 10 Jah­ ren, als er wieder dem Tode nahe war, seine Pflegerin, und

er genas auch jetzt wieder.

„Die innern Lebenskräfte des

schon ersterbenden Davn's kehren Erscheinung eint Fülle von

über seine Seele ergießt.

wieder, sobald die liebliche

tröstenden,

nährenden Gefühlen

Bei der leiblichen Erscheinung er­

wachen von neuem jene Gefühle, welche der Seele die Kraft Diese Erzählung des

zum Leben und Wirken zurückgeben.

trefflichen Davy, man nehme sie wofür man wolle, zeigt uns die Idealität des psychischen Stoffes, der unsern Gefühlen zum Grunde liegt, und ihre Kraft und Bedeutung für das Leben

der Seele.

Für sie ist die Region der Gefühle das, was für

den Leib und seine Erhaltung Speisen und Getränke." Der Musiker Z o se p h H ay d n, der weiter als Beleg ange­

führt wird (wir möchten das, was hier von ihm berichtet wird, jenem Anhang

S. 373 einstigen),

empfing die

erste

und

von da an gewöhnliche Nahrung seiner Seele in jenem Ge­ fühl, das der Gesang seiner beiden Eltern, besonders die lieb­

liche Stimme der Mutter, in dem kaum lallenden Kinde ge­ weckt hatte.

Zn seinem reifen Leben stärkte sich dieser Ton­

künstler auf ganz andere Weise als manche andere.

Wenn

diese im Champagner oder in Gesellschaften sich wieder zu be­

leben suchten, ging Haydn, wenn er sich ermattet fühlte,

in

seine HauScapelle und betete, und dieses Mittel verfehlte nie­

mals, wie er versicherte, seine stärkende Wirkung.

„Er em­

pfing neue Kraft und Fülle der Gedanken, sobald er die matte

und diese

Seele durch die Gefühle der Andacht genährt; Erfahrung von solcher seelensiärkenden Kraft

hat gewiß jeder

selbtstbätige Geist öfter in seinem Leben gemacht, wenn er im

Drange des äußern Wirkens oder der innern geistigen Thä­ tigkeit sich ermattet und gänzlich verarmt fühlte."

Wir möchten hier sogleich an unsere obige llnterscheidung

Schwarz: Darstell, a. 6. Gebiet« d. Erzieh.

19

290 zwischen der alltäglichen und außerordentlich stärkenden See­ lenspeise erinnern.

Zene verlangt die natürlichen und reinen

Gefühle des Lebens in der Familie, in den Geschäften, in der Pflichttreue, in der edlen Sitte, in der tugendhaften Gesin­ nung und im Wandel vor Gott als die gesunde Nahrung unserer Seele zum Wohlbehagen und Gedeihen in unserm

täglichen Leben.

Die stärkende aber

bedarf sie in einzelnen

Momenten, wie sie im vorstehenden Beispiele bezeichnet find,

und diese ist dann das Wort des Trostes, oder der Mahnung, oder der frohen Theilnahme aus liebevollem Munde, ein Spruch der heiligen Schrift, ein Ergehen in der freien Na­ tur, eine erheiternde Gesellschaft, ein schönes Gedicht, eine ermunternde eigne Beschäftigung u. dgl., vor allem aber die

Andacht, oder bestimmter das Gebet. Man hat oft genug den psychologischen Nutzen des Gebets hervorgehoben und doch nicht genug an jene herrliche Stärkung gedacht, welche der

Geist empfängt, wenn er fich auf den Flügeln der Andacht zu dem ewigen Urquell emporschwingt und von seiner Zwie­ sprache mit Gott selbst sein ewiges Leben wie neu geschaffen

in das irdische zurückbringt. Wir wollen hier nicht entfern­ ter Weise uns jener Entweihung des Heiligsten, das der Seele vergönnt ist, theilhaftig machen, welche das Gebet nur als ein Gesundhcitsmittcl der Seele betrachtet, aber wir wollen dar­ auf Hinweisen, daß es eben dann, wenn es geheiligtes Gebet ist, auch den tiefsten Gesundheilsquell für das Seelenleben of­ fen erhält. Dieser nämlich ist der beständige Aufblick auf Gott

in dem Wandel vor ihm, nnb so welches Augustinus schön bezeichnet Eine symbolische Bezeichnung, die sen kann. Er erhebt sich zu dem

ist es das beständige Gebet, als das Athmen der Seele. man jetzt noch tiefer erfas­ Gebet, dem Gespräch des

gläubigen Herzens mit Gott, in den Momenten,

wonn die

Seele der Stärkung bedarf. Diese aber bedarf sie ebenfalls alltäglich, und zwar so, daß ihre Lebensspeise des beständigen

Athmens und ihrer gewöhnlichen Nahrung aus dem geistigen Quell ihre wahre gedeihliche Kraft erhalte.

besondere die Morgcnandacht.

Dazu dient ins­

Man weiß nicht, was man

291 den Kindern entzieht, wenn man sie nicht gewöhnt, des Mor­ gens sogleich nach dem Erwachen zu beten.

Die moderne Er­

ziehung weiß freilich davon nicht viel, aber wer die christliche kennt, weiß gar wohl, was für ein Segen darin liegt, daß vom frühesten an das Kmd beten lerne, im rechten Sinne

des Worts beten. Ein Beispiel eines andern Tonkünstlers, das der Berf. anführt, ist das von Z. A. Hiller. „Als fünfjähriger Knabe hörte er das Sterbelied am Sarge seines Batxrs, und hier­

mit wurde der melodische Gesang zur ersten und bald zur Lieb­ lings-Nahrung seiner Seele, welche dadurch zur Meisterschaft in der Kunst der Töne erwächst.

Eine tausmdfache äußere

Roth und Armuth kann die Kraft und Wirkung dieser See­

lenspeise der Kindheit nicht mehr zerstören, aus dem ernste Ge­ sänge liebenden Kmde wird der treffliche Hiller." „Der große Heid Eugen war ein schwächlicher Knabe

und zum geistlichen Stande bestimmt, aber die Gefühle, welche seine Seele in dem Lesen von Kriegsthaten empfing, ergossen so ungewöhnliche Kräfte in dieses zarte Gefäß, daß der nach Thaten verlangende Geist hindurchbrach und in ihm der Ret­

ter von Europa wurde." Zu dem Beispiel von dem mächtigen Gefühl jmeS Blinden, den Chesclden operirte und beschrieben hat, wel­ der Verfasser anführt, erinnern wir an das in unserer Erziehungsl. (S. 225) angeführte, wo ein from­ mer Züngling alsbald, wie die verfinsternde Smarlinse glück­

ches

lich aus dem Auge genommen war, entzückt ausrief: „Ich sehe die Majestät Gottes!" Auch das Beispiel von dem Bo­

taniker Kinne (das der Vers, anführt, und das sich auch in der Erziehungslehre findet), dessen Wiege sein Vater mit Blumen bestreute, gehört hierher. So könnten wir noch die gerade hierher gehörigen Beispiele vermehren, wenn es nöthig wäre. Wir denken z. B. an den berühmten Geschichtschreiber Zohannes v. Müller, der als Knabe im elterlichen Hause sich von den alten Schlössern und Begebenheiten mit einer Art Hunger erzählen ließ.

Auch könnten wir aus eigner Bekannt19«

292 schäft von mchrern Malern schreiben,

z. B. von ein Paar

ausgezeichneten Historienmalern, welche als Knaben

die erste

Nahrung hierzu von der Mutter des einen in ihren mündli­ chen Darstellungen erhielten.

Und würden wir nicht in dem

Leben eines jeden Menschen dergleichen erste Anregungen auf­

finden ?

Bei

den ausgezeichneten Männern hört man wohl

manches der Art, aber man sollte bei jedem Kinde, und zwar besonders auch bei dem weiblichen Geschlecht, die ersten Ein­

drücke und Gefühle,

diese Seelennahrung, als folgereich für

das ganze Leben ansehen. Unser Verf. vergleicht hiernach das Entstehen der Gefühle

dem

der

polarisch

leiblichen

Ernährung,

Geschiedenes

indem sie

aufnehmen,

zwar Fremdes,

aber durch

selbstthätige

Kraft sich dasselbe aneignen, zugleich auch ein bisheriges eig­

nes,

jetzt absterbendes Element ausscheiden.

So wird

die

Seele durch den beständigen Austausch der von außen erreg, ten und der von innen gewirkten Gefühle ernährt und gestal­

tet. Es ist eine innere Zeugung, wodurch das Leben der Seele immer neu geboren wird, aber durch ein Sterben hindurch­ gehend.

„Die Gefühle sind ein Gebilde,

welches durch die

selbstthätige Kraft der Seele aus einem von außen aufgenom­ menen psychischen Element geschaffen wird;

gleich dem Honig

der Bienen, welcher im Innern ihres Leibes aus dem von au­

ßen aufgenommenen Nektar der Blumen gebildet worden. —

Das Geschäft der naturgemäßen Aussonderung

des Eignen

rind Alten hängt im gesunden Verlauf des Lebens so genau mit jenem der Aneignung und Aufnahme des Neuen zusam­

men, daß keines ohne das andere möglich ist; und so werden die Gefühle erst durch jene innere Kraft unser Eigenthum, welche verwandelnd und schaffend wirkt.

Diese Kraft ist aber

in einem gewissen Kreise schon die Sprache, welche,

wenn

sie dem äußern Eindruck durch das entsprechende Wort das

Gepräge ihrer geistigen Natur gegeben, denselben nun bleibend und feststehend für die Seele macht.

geistigsten Gefühle werden erst

durch

Selbst unsere höchsten,

das erleuchtende Wort

295 von innen, mehr noch aber durch die Thal des Willens zur heilsamen Nahrung." Wenn also bisher nur von Gefühlen die Rede war, so

ist damit nur eben das unmittelbare Erzcugniß bezeichnet, wel­ ches aber nicht gerade Gefühl bleibt, sondern, wie so eben be­

merkt worden, alsbald in ein Denken und Wollen übergeht. Auf diese Weise wird uns von jeder Seite klar, wie viel auf die frühesten Gefühle ankommt;

in ihnen liegen die Keime

für den künftigen Charakter, so wie für die Richtung im Den­ ken und die Empfänglichkeit im Wissen. Deßhalb haben wir auch

in

der Erziehungslehre gehörigen Orts diesen Grundsatz fest­

gehalten.

Nur dürfen wir nicht übersehen, daß auch schon

die frühesten Eindrücke von der Natur der Seele selbst gebil­ det werden,

wie unser Sters, in einer vorhergehenden Stelle

(rnen, wor­

auf wir hiermit hnideuten.

Mag man noch manche soge­

nannte philosophische Lehrgebäude

der Pädagogik

versuchen,

mag man allch eine Zeit lang dem Treiben einer sogenannten Schwarz Darft. a. d (Lebien- d Ln et). 21

522 öffentlich«, Meinung folgen: man wird auf jenen angrdenteten Punct zurückkommen, und das zum Segen der Kinder und der Eltern. Da werden diese keiner Künficleien bedürfen, weil sie dann in den Geist eingctaucht sind,

wahr? Weihe der Erziehung ertheilt.

der ihnen die

Aber eben dieser Geist

verlangt ein ernstes Studium zur Vorbereitung und zur Aus­

bildung.

Naturell; Temperament; Gemüthsart; Charakter. Die Erziehungsthätigkeit bewegt sich von der Naturan­ lage zu dem Urbild, um den Menschen von der Geburt an bis zur Reife zu dieser seiner LebenSidee zu bilden. Wir ha­

ben daher die Erforschung der Naturanlage zu einer Haupt­ bedingung gemacht und hierzu eine Theorie über die Ratur­ arten in der Erziehungslehre aufgestellt, die man tu den Vorbegr. II. 7. 8. 18. 25.; III. 23 — 29.; dann ausführlicher S. 231 — 238. 321 ff. findet. Wir suchten da die alte Lemperamentslehre als unstatthaft zu zeigen,

und an die Stelle

derselben die Eintheilung in die Naturelle zu setzen, wobei wir zugleich auf die immer wiederholten Versuche, auch die der neuesten Physiologen, die Temperamente zu bestimmen, als nicht befriedigend hingewiesen haben. Hierin nun gehen wir auch von unserm Schubert ab. Zn seiner Gesch. d. S. handelt der §. 32 von dem Tempe­ rament und Charakter. Der Begriff von Naturell wird daselbst S. 485 verschieden von dem unsrigen angenommen. „Das, waS wir Naturell nennen, pflegt der gewöhnliche Aus­ druck öfters mit dem selbstständiger erworbenen Eigenthlim un­

sers Wesens, mit dem Charakter zu verwechseln. Es hangt baS anfänglich Empfangene der Gemüthsart nicht von unserm Wollen ab, sondern nur das Beherrschen und Beschränken.

Das Naturell erscheint wie angeboren oder wie etwas von außen Gekommenes, gleich jenen eigenthümlichen Gestaltungen oder Misbildungen der Knochen, wozu die Anlage von den Eltern ererbt wurde, oder durch einen übermächtigen Einfluß von außen kam."

525 Hiernach ist das, was wir Gemüthsart nennen, schon in den Begriff von Naturell verwebt, welches wir dagegen vor­ erst aus einander geschieden halten, um in dem Naturell die

reine Raturart zu denken, welche jedes Kind nur erst als in«

dividualisirte Anlage mit auf die Welt bringt. Die Gemüths­

art ist schon etwas Gewordenes, nämlich im innern Leben; sie beginnt mit dem Werden, und von Anfang an fließt die Zn dem Kinde selbst läßt sich daher eins von dem andern schwer unterscheiden, weil schon in dem Her»

Freithätigkeit ein.

vorbrechen der Anlagen das Einwirken des Geistes beginnt, und die Gestaltung der Seele, so früh sie nur erscheint, schon durch jene aufnehmende und diese einbildende Kraft — beide

indessen nicht zwei, sondern nur Eine — erzeugt worden. Da­ her mußten wir von einer Entwickelungsstufe zur andern die Spuren des Ursprünglichen aufsuchen.

daß

Daß nun dieses bei jedem Kinde ei» Bestimmtes sey, und es so viele Raturarten als Kinder gebe, bedarf keines

Beweises mehr. Doch rathen wir nachzulesen, was unser Vers, in mehrern Stellen mit seinen geistreichen und umschauen­

den Blicken darüber sagt: Verschiedenheiten gibt es im Kno­ chen-, Adern-, Muskel-, Nerven-System u. s. w.; selbst in dem Gehirn, das in seinem Bau viel beständiger erscheint, fin­

den sich Abänderungen, wenn auch ungleich wenigere als in allen innern und äußern Theilen des Leibes; die Zahl der Schichten oder Blätter des kleinen Gehirns variirt zwischen 500 und 800; auch finden manche Varietäten in den Ver­ hältnissen der Nerven zum Hirn statt (S. 197 ff.). Der ganze Körperbau und die Physiognomie des Menschen spricht diese ins Unendliche gehenden Verschiedenheiten der Naturar­

ten aus;

und selbst bei Thieren bemerkt man Individuelles

nicht nur in äußern Bildungen, sondern auch in innern An­ lagen, z. B. bei Hunden, und man wird versucht, ihnen so­ gar ein Analogon der verschiedenen Gemüthsarten beizulegen

(S. 486, 500 ff., 516, 531, 547, 568, 585 ff., 663). Nach unserer Bezeichnung der Naturart zum Unterschied von der Gemüthsart fällt nun der ganze Begriff von Tempe-

21'

524 rament weg. Denn was man damit etwa als Mischung der Säfte im menschlichen Leibe bezeichnen will, fällt theils der Anlage, theils der Lebensweise zu, läßt beides in einander übergehen und kann daher nur znm Aufspüren des verborge­ nen Natlirganges bienen, auf welchem die Anlage zur See­

lenbeschaffenheit erwächst. Schubert nimmt mit den alten Benennungen die vier Temperamente an, erklärt sie aber nach der neuesten Natur­

kunde (S. 478ff.): „Die Allen verglichen die Temperamente mit den Elementen der sichtbaren Natur. Wäre uns ein ähn­

licher Vergleich erlaubt,

so würden wir bei denselben an die

vier Hauptclemente des Knochens erinnern. Es kann am Kno­ chen die Gallerte oder die erdige Masse vorherrschen, und der­ selbe wird im ersten Falle beugsamer und leichter verschiebbar,

im andern spröder und brüchiger seyn. Das dem cholerischen Temperament entsprechende Element wäre jedoch die Phosphor­ säure; dem melancholischen wäre die hiermit nahe verwandte und verbundene Kalkerbe vergleichbar, während das sanguini­ sche und phlegmatische Temperament an den thierischen Leim und das Wasser der Gallerte erinnern." — Durch diese Er­ klärung ist wenigstens das gewonnen, daß nicht, wie die al­ ten Namen Anbeuten, krankhafte Dispositionen in jener Vier­ zahl erscheinen, sondern nur viererlei Formen gesunder Mi­ schung. Eben darum verwerfen wir jene Namen als irre lei­ tend und finden in der Schubertschen Angabe, welche sich

auf seine sinnreiche Ansicht der Knochen bezieht, als „desBebarrlichen, welchem die bildende Lebenskraft am bleibendsten ihre eigenthümliche Form einprägt," nur die physiologische

Seite von dem, was wir Naturell nennen, zur weitern Aus­ führung dieses Begriffes aufgezeigt. Die Anwendung auf die Seelenformen finden wir folgen­ dermaßen (S. 479 ff.): „Das sanguinische Temperament ist voll lebendiger Beweglichkeit, gleich der zarten thierischen Fa­ ser nachgiebig und bildsam, empfindlich und reizbar, zum Auf­ nehmen geschickt, doch ohne feste Kraft des Widerstrebens und der Selbstthätigkeit re. —

Es steht diesem das phlegmatische

525 Temperament gegenüber k. Wo sich das Phlegma während der sonst kräftigern Zeit deS Lebens zur bleibenden, vorherr­ schenden Form der Seele erhebt, läßt es diese Form als die niedrigste, armseligste unter allen den andern erscheinen. — Das cholerische Temperament ist feurig und mächtig in seinem Empfinden, rasch und heftig in seinem Bewegen. — Das melancholische gleicht demselben an Tieft und Stärke des Em­ pfindens, ja es übertrifft dasselbe vielleicht noch hierin; dage­ gen steht es der cholerischen Form an abwehrender und zurück­ wirkender Kraft der Seele nach. Es ist da, wo es bis zu seinem fernsten Extrem sich gestaltet, einem Ange ähnlich, wel­ ches zwar vom Gehirn aus einen starken Nerven empfangen von derselben Natur und Art wie die zu dem kräftigen Kinn­ backen gehenden, aber die Wirksamkeit jenes Nerven ist eine tief verborgene, innere, welche sich der äußern Beobachtung öfters nur als stille Thräne kund macht. — Jener Weise und natürlichen Aeußerung des Sehnens unsers Geistes (nach ei­ nem Hähern Etwas von seinem Erwachen an) ist dann die Form der Seele, welche wir die melancholische nennen, am nächsten befreundet." — Auch in dieser sorgfältigen Eharaktcrisirung entwickelt sich unser Begriff von den Naturellen noch bestimmter, allein nicht alle Züge, welche der Vers, hinzeich­ net, können wir unter die Kategorieen der reinen Raturarten stellen. Denn er giebt der frühern Jugend vorzugsweise das sanguinische, dem höher» Alter das phlegmatische Tempera­ ment. Insoweit aber würde cs aufhören, Naturanlage fürs ganze Leben zu seyn, und vielmehr als der LebenSproceß in den Altcrsveränderungcn dasieben. Nebrigens ist hiermit eine Verwandtschaft jener beiden von einander entlegensten Lebens­ perioden mit jenen einander gegenüberstehenden Naturellen sehr interessant bemerkbar gemacht, und was der Berf. in dem ju­ gendlichen Organismus aufzeigt, soll der Pädagoge nicht über­ sehen. Er fahrt nämlich von dein sanguinischen Temperament fort, „daß es nothwendig zu dem Zustande eines beständigen Werdens und innern Gestaltens gehöre. Wie der Leib in sei­ nem ersten Wachsthum am öftersten Nahrung bedarf, diese

526 aber von leichter Natur semi muß, so bewegt sich in dem reiz­ baren

sanguinlschcn Wesen ein beständiger Strom

der wech­

selnden Gefühle, diese sind jedoch weder von bedeutender Tiefe

noch von Dauer, sondern es verlöscht der Zudrang der neuen Welle den Eindruck, welchen die vorhergehende empfing." —

Hier bieten sich uns manche pädagogische Winke dar, wonach wir die Gedanken des vorstehenden Aufsatzes über die Beach­

tung der Gefühle und ihres Wechsels noch erweitern möchten,

eS aber dem denkenden Erzieher überlassen. — „ Leichtbeweg-

lich erscheint diese Form, gleich dem flüssigen Element, denn das Schwere, Feste übt an ihm noch nicht seinen hinabwärts

gehenden Zug aus, gibt ihm aber auch noch nicht jenen Nach­ druck und zenes Gewicht,

wodurch jede Bewegung erst nach

außen recht eingreifend und wirksam wird.

Es sind daher

hei dem sanguinischen Sinne die Bewegungen des Willens und Begehrens ungleich schneller zu erregen und wechseln viel

oster, aber sie sind von geringerer Kraft

und werden selten

oder nienials zur Leidenschafl." — Wird

indessen nicht das,

was der Jugend als solcher

angehort,

von

dem eigentlichen

Naturell unterschieden, das so etwas in der leichten Empfäng­ lichkeit mit dem frühern Alter gemein hat: so geht auch der

Pädagoge nicht sicher, wenn er sich darnach richten will. Auch

gibt es viele Knaben und Mädchen,

Die jener Beweglichkeit

ihres Alters etwas Festes und Widerstrebendes zunnschen. Daß jene Sinnesart auch öfters dem spätern Lebensalter ihre Be­

weglichkeit und Heiterkeit yiittheilt, und daß auch bei ganzen Völkern eine vorherrschende weichere Beschaffenheit der Kno­

chen gefunden wird, führt eben darauf hin, da unter diesem Letzter» doch nichts Krankhaftes gemeint seyn kann, daß die Naturanlage von allem in der Sinnes-, Gemüths- und Le­

bensart Gewordenen wohl unterschieden werden muß.

Das

cholerische Temperament wird denn aus ähnliche Weise als die vorwaltende Sinnesart des Jünglings - und angehenden Man­

sies-Alters angesehen.")

*)

Zudem aber hiuzugesügt wird, daß

Freilich m ganz auderm Sinus, als la Rochefoucauld ui

327 dieses die Sinnesart sey, „welche auch nu Verlauf des spä­ tern Lebens ein heldenmütbiges Streben und das Geschäft des Herrschers erleichtert und nicht selten die Form ist, in welcher jene Geister sich bewegen, die zur Geißel der Völker, zu Zerstörern des lange Bestandenen, aber auch zum Begründen einer neuen Periode der äußern Entwickelungsgeschichte bestimmt sind und verheerend aber auch wohlthätig renngcnd und erfrischend wie der Fittich des Sturmwindes durch die Zeit gehen:" so wzrd auch hier auf das eigentliche Naturell hingewiesen, und auch hier müssen wir ernmern, daß das Feuer des Jünglings, das öfters bald verlischt, nicht mit der Richtung seiner Seele zur gewaltigen Thatkraft verwechselt werden dürfe. Bei der me­ lancholischen Seelenform ist am bestimmtesten die Naturanlage hingezeichnet, daß sie da, wo sie ihre höchste Entwickelung fin­ det, die Welt der Empfindungen in der Ferne wie die abge­ legenen Gebirge oder die Gestirne erblickt. „Die Kraft der Rückwirkung fühlt sich gegen eine solche Welt wie gebunden und gelähmt, wenn sie sich aber endlich aufmacht, da erscheint sie riesenhafter, ausdauernder, tiefer greifend als selbst die rückwirkende Kraft des Cholerischen." Diese Scclcnform wird weiter geschildert als reich sowohl an tiefgefühlten Freuden, wie an sclbstgeschaffnen innern L-ualeu, und als die Sehnsucht nach der ewigen Heimath des Geistes in sich tragend. „Es ist die herrschende Seelenform der meisten und erhabensten Dichter und Künstler, der tiefsten Denker, der reichsten und größten Erfinder, der Gesetzgeber, vor allen aber jener Geister gewesen, welche ihrer Zeit und ihrem Volk den Zugang zu emer obern, seligen Welt des Göttlichen eröffnet, nach welcher sie selber ein innerer Zug des uiistilibaren Heimwehs empor­ getragen." Ein tiefer Scelcnblick! Sollten wir indessen das, was dem Naturell zugehört, von dem ausscheiden, was als Genie in jeder Naturart Vorkommen kann, und was ebenfalls in jeder als Geistesgröße gefunden wird: so würden wir die feine« Marimen da« Jünglingsalter ächi französisch schildert: La jeunesse est une ivre§se continuelle; c est la iievre de la raison.

528 angegebenen Ideale gerade so in jenes Bierfache »ertheilen, als wir es in der Erziehungslehre S. 413 versucht. Denn gewiß war die Naturart eines Lykurgus und Karls des Gro­ ßen sehr verschieden von der eines Homerus lind Phidias und Raphael und Handel, und von diesen wieder verschieden die

eines Platon und Kepler,

und verschieden die eines Sokra­

tes, Zoroaster, und jene mehreres vereinigende Natur eines Moses. Waren doch selbst die beiden geheiligten Hanptlehrer

des Evangeliums, Johannes und Paulus, zwei sehr verschie­ dene Naturen. Auch der klimatischen und der mit den Jahreszeiten wech­

selnden Temperatur theilt der Vers. (S. 735) die Tempera­ mente zu.

„Der Mensch der wärmer» temperirten Zone ist

leicht beweglich und kräftig;

den Sinnen wohnt ein hohes Die

Maaß der eindringenden Schärfe mit Sicherheit bei.

kältere temperirte Zone hat mit den hochstämmigen Eichen zu­ gleich die kräftigste Menschenform

entwickelt.

Es gibt das

Scheiden der kurzen wärmern Zeit der Natur dieser Zone, so

wie vielleicht auch den Menschen jenen stillen, tiefen Ernst, je­ nen Zug der Melancholie, welcher die ediern Völker dieses Erd­ strichs vor andern bezeichnet." Im Sommer der wärmern temperirten Zone findet mehr Beweglichkeit statt, wie sie sich mehr km sanguinischen Temperament findet. Merkwürdig ist hierbei, daß man immer auf eine Vier­

zahl kommt, wie bei den Alten so in der neuesten Anthropo­ logie, und hierin wenigstens treffen unsere Naturelle mit je­ nen Temperamenten zusammen. Aber woher diese Vierzahl? Und welches ist das Princip, von welcher wir sie ableiten?

Doch nicht die vier Elemente der Alten ? Auch wohl nicht die vier Grundstoffe nach der neuen Naturkunde? Eher etwa ein gemeinsames Princip für diese, wie für jene. Vielleicht, daß

sich so etwas bei weitern Fortschrirten in der Natur Nachwei­ sen läßt. Da wir indessen die höhere Natur des Menschen anerkennen, so glauben wir das Princip auch nirgends als in der Menschcntraft suchen zu dürfen, und wenn gleich bei Thie­

ren eine ähnliche Verschiedenheit hier

und da vorkommt, so

529 ist es da bloß Naturzweck, bei deg Menschen aber die Bestim­ mung, welche das Bernunstwesen auf der Erde hat. Diese aber ist die Vereinigung des Einzelnen mit der Gesellschaft in einem Gemeinwesen, worin jeder seine Vollkommenheit in Wechselwirkung mit der des Ganzen entwickeln möge. Jeder Mensch hat hierzu seinen göttlichen Beruf und sein Ideal; zu der Erkenntniß von beiden gelangt er durch die Erziehung. Sonach fragen wir nicht bloß nach der Naturanlage, sondern auch nach dem Urbild des Zöglings, und können der weisen Natureinrichtung das zutrauen, daß beides in einem tiefen Zusammenhänge stehe, ja daß es endlich hierin dem Anthro­ pologen glücken möge, den Einheitspunct in dem Physischen und Psychischen zu ergründen. Gewiß war es nicht ein blo­ ßer Einfall von einem Platon, daß er vier Ideale der mensch­ lichen Vollkommenheit aufstellte (Gesch. d. Erz. I. S. 399), und so finden sich auch bei Andern ähnliche Gedanken. Al­ lerdings ist unter den wirklichen Menschen eine unendliche Ver­ schiedenheit, aber wir suchen eine Classification; ist ja doch bei den Taufenden der Pstanzenarten eine solche Eiutheiluug ge­ funden worden, welche alle in guter Uebersicht befaßt. Die Vierfachhcit der Naturelle macht es uns noch leichter, die un­ endlich vielen Abstufungen und Mischungen zu ordnen, und je­ den Menschen schon in seinen jünger» Jahren unter seiner Hauptclasse zu erkennen. Das Princip aber, das uns gerade zu jenem Vierfachen führt, das feste, das lebhafte, das wei­ che, das innige Naturell, hat sich uns in der Natur selbst dargcbotcn, deren Gesetz wir auf die Menschenkraft anweuden, es ist das Vorherrschen bald im Streben nach außen, bald in dem Streben nach innen, lind in jedem entweder die Einwir­ kung oder die Gegenwirkung überwiegend. So sehen wir jene zwei Hauptrichtungen, das Herauswirken und das Jnsichaufnehmcn, in den aufgeweckten und in den insichgekehrten Mcnschennaturcn, und bei den erster» die zwei Arten: die eine, die sich durch feste Wirksamkeit auszeichnet, welche schöpferisch aus sich selbst hervorgeht, um etwas kräftig hinzustellcn; die andere, die als bewegliche Thätigkeit von den Eindrücken leicht

530 aufgeregt wird und also mehr von außen abhängt. jene erste zu dem Ideale führt,

Daß

welches in der menschlichen

Gesellschaft Ordnung, Recht, Gesetz geltend macht, fällt schon

in die Augen.

Daß die andere Naturart den Beruf gebe,

unter den Menschen an

den gemeinsamen Zwecken Theil zu

nehmen und alles, was dahin dient, sich zu Herzen gehen zu

lassen, um in der Geselligkeit nach der Ordnung, welcher man sich frei untergibt, das Beste Anderer zu befördern, läßt sich

und wird sie nun

bei einigem Nachdenken ebenfalls emsehen;

in höherer Weise erfaßt,, so daß eine Idee den Menschen be­ geistert,

so ist es das Ideal des Lehrers,

des Gottbegeisterten. der Lehrer

in höchster Weise

Denn der Gesetzgeber ist mehr gebend,

muß aber das empfangen,

was er dem Schüler

gibt, theils von diesem gegenseitig belebt werden. Hauptrichtung,

Die zweite

welche in denjenigen Naturen sich findet, die

man schon als die in sich gekehrten Kinder zu bezeichnen pflegt, ist theils mehr ausnehmend mit einem ruhigen Entgegenkom­ men, theils mehr in sich zurückgezogen und das innerlich Ge­ gebene in sich verarbeitend.

Für das gewöhnliche Leben fin­

den wir zu der erstem Classe gehörig alle die treuen Arbeiter­

in den aufgegebenen Geschäften,

insbesondere die Hausfrauen

in ihrer ordnenden und das Leben der Familie bildenden und verschönernden Thätigkeit; höher hinauf geht hieraus das Ideal der Künstler in den verschiedenen Zweigen

stellungen hervor.

der schönen Dar­

Zu der zweiten Classe gehören alle diejeni­

gen, welche sich wehr für sich beschäftigen, und für das hö­

here Geistesleben steht uns hierin das Ideal vor.

des Philosophen

Denn der Philosoph bildet nur in sich seine Welt, und

nur, wenn er zugleich den Lehrerberuf fühlt, stellt er sein Sy­ stem auch Andern zum Durchdenken hin.

lich nicht übersehen,

Wir dürfen näm­

daß in dem wirklichen Leben schon ur­

sprünglich die Naturarten ihre llebergänge haben,

mehr aber

noch durch die Cultur bald in diese, bald in jene Verbindung mit einander gesetzt sind.

Ilcberhaupt gestehen wir gern, daß

das Hinüberführen der Naturelle in die Ideale uns bei jedem

Versuche neue Schwierigkeiten darbietet,

welche wohl Haupt-

551 sächlich darin liegen, daß die Menschenwelt, wie sie nun ein.

mal ist, sich in vielfachen Abweichungen von der reinen Na­ tur befindet. Daher sey das nur einer von mehren, Versu­

chen, wobei wir uns auf unsere Erinnerung Erziehungsl. S.

322 beziehen. Die Genialität erhebt die Anlage zur begeisternden Idee, welche dann schöpferisch wirkt.

So ist es ein Genius, der in

dem Gesetzgeber oder Kriegshelden, der in dem trefflichen Leh­

rer, der in einem Poeten und jedem andern ächten Künstler, der in dem wahren Philosophen erscheint. Indessen zeigen sich auch da wieder Schwierigkeiten,

wenn man die Anwendung

des Genies, dem durch die Anlage auch das ihm zukommende

Talent zugetheilt seyn müßte, auf das Naturell versucht. Denn

warum schrieb schon Aristoteles, wie wir Erziehungsl. S. 237 bemerkt haben, vorzüglichen Männern, wie Herkules, Sokra­

tes, Platon, das melancholische Temperament zu? Und Aehnliches finden wir in der Ansicht von Schubert. Ist etwa das erste Naturell nach einer weisen Vertheilung das seltenste, das letzte das seltnere,

die beiden mittlern die häufigsten?

Ilnd

sind dann vielleicht die hohen Gaben nur dem ersten und mehr noch dem letzten zugetheilt? Oder ist eine Verbindung dieser

beiden, des festen und innigen Naturells, nothwendig, um ge­ niale Männer hervorzubringen, die, je nachdem das eine oder das andere vorherrscht, mehr außer sich oder mehr m sich bil­ den und darstellen? Ist nicht auch eine Verschiedenheit der Nationen hierin anzunehmen? Aber wer beseitigt das, was sich uns auch hier entgcgenstellt, wenn wir dieses auszuführen versuchen wollten? Unser Vers, führt an „als Beispiel des

phlegmatischen Temperaments den Kaiser Wenzel, des sangui­

nischen mehrere französische Könige und Künstler, des choleri­ schen Michel Angelo, des melancholischen Dante und mehrere große Dichter und wissenschaftlich tiefe Forscher." Leichter läßt sich der Ilebergang der Anlagen in die Ge­ müthsart zeigen, und es bedarf nur eines einigermaßen geüb­ ten pädagogischen Blickes,

um an dem Kinde zu bemerken,

wie die Natur und die Freiheit hierzu zusammenwirken, und

552 wie das Ursprüngliche und Gewordene wechselseitig in einan­

der einfließen.

So ist es auch weiter mit der Entwickelung

des Charakters, welcher das Beharrliche und Eigenthümliche

des freien Wesens ist und also erst mit dem Freiwerden, mit

der letzten Zugendperiode hervordringt. Wir stimmen ganz unserm Vers, bei, wenn er (S. 487ff.) sagt: „Der Charak­ ter ist jene Gestalt der wirkenden und erkennenden Seele, welche

durch ein öfters andauerndes Bewegen des innern Wollens

nach einer gewißen Richtung hin begründet und ausgebildet wird.

Diese Gestalt wird sich um so edler und vollkommener

zeigen, je mehr die Kraft des Wollens und Wirkens auf et­ was Geistiges, Innerliches ausgcht."

Auch stimmen wir völ­

lig bei, „daß das von außen empfangene Naturell einen rück­ wirkenden Einfluß auf den Charakter habe, ohne ihn jedoch von sich (und dem Temperament) abhängig zu machen, son­

dern von dem freien Geiste des Menschen ausgeht und als geistig schaffende und verwandelnde Kraft das gegebene Mate­

rial der Seelenformen nach ihrem Willen veredelt und aus­

bildet." — Daß dieses geschehe, das eben ist die große Auf­ gabe der Erziehung, und wir nennen die Erziehung die hö­ here, welche sie löst; und daß das nicht bloß auf den einzel­ nen Zögling, sondern auch auf Nationen geht, sey hier nur

in Erinnerung gebracht.

IX. Epilog.

Gespräch des Verfassers mit einem Gegner.

Gegner.

Was wollen Sie mit Ihrer hohem Erziehung?

Verf. G. V.

Was das Wort sagt.

Es liegt darin etwas Anmaßendes. Nicht mehr, als wenn Sie von einer hohem Bil­

dung riden. G. Ich dächte, Sie ließen es bei der gemeinen Erzie­

hung

und verwendeten Ihre Erfahrungskemttnisse auf das,

was man im Hause und in der Schule alltäglich braucht.

Bleiben wir bei der Hausmannskost! V. Damit wir dabei bleiben, müssen wir sie haben. G.

Aber was sollen denn Ihre Künsteleien?

B.

Wie soll ich das Wort verstehen?

G.

Nun, das fragen Sie wohl nicht im Ernst. Denn

Sie wissen wohl, was Sie alles von dem Erzieher verlangen. Der soll da einen Ideal- oder Licht-Menschen, oder wie sie das Wesen nennen, einen Grundton in ihm, eine ganze Ho­ möopathie oder Allöopathie, eine ganze Heil- und GärtnerKunst, und Gott weiß was noch alles sonst, einstndiren und

Hand und Fuß und Kopf und Mund darnach allaugenblicklich in Bewegung setzen.

B. Ich stimme ganz bei. G. Aber ums Himmelswillen, was für ein gekünsteltes Geschäft »st da die Erziehung! V.

Nicht mehr, wie die Kunst des Malers oder Poe­

ten, und vielleicht noch einfacher als jede andere Kunst aus dem hohen Gebiete.

G.

Künstler? geboren.

lind wenn Sie denn so wollen, wo finden Sie den

Der Poet wird cs nicht in der Schiile, er wird

556 V.

Zur Erziehung des Kindes ist jeder Vater und jede

Mutter geboren. G. Nun, was wollen Sie denn noch jeden Vater und jede Mutter, und wer sich sonst mit pädagogischen Dingen ab­ gibt, besonders belehren?

V.

Müssen wir nicht alle lernen, wozu wir geboren sind?

Oder soll das Lehren unter den Menschen darum aufhören,

weil sie Anlagen haben?

G.

Daß die Anlagen entwickelt werden, versteht sich von

selbst; aber das sind die gemeinen, nethalben Erziehungslehren geben,

und da mögen Sie mei­ wie

so viel und so gut

die Schriftsteller vor und mit Ihnen. Was wollen Sie aber mit der Künstleranlage, wie sie eine für den Pädagogen anzunehmcn belieben? V. G.

Sie entwickeln. Das Genie entwickelt sich selbst, und die Künstler­

anlage ist das Genie. V. Damit sagen Sie vorn herein etwas ganz Neues, und hierauf etwas, das keiner Antwort bedarf; und wie Sie mit Ihrer neuen Lehre fertig werden, überlasse ich Ihnen selbst. Ich meines Orts halte cs mit vielen Leuten, die das Genie

kannten, z. B. Cicero, und der Meinung waren,

daß eben

da gerade durch die Belehrung das Vortreffliche herauskomme. G. Am Ende kommt höchstens Mittelmäßiges in allen dem Abrichten und Zurichten und Schulen heraus, wofür ich Ihnen ebenfalls Autoritäten anführen konnte.

V. Und ich wende auch gar nichts gegen das ein, was Sie da meinen. Sie haben ganz recht, was die Erziehung

so gemeinhin leistet, ist nichts Besseres, als daß sie der lieben Jugend die Köpfe zurecht setzt und sie an ei» gebührliches Mittelmaaß gewöhnt. G. Ich dächte, damit könnten wir zufrieden seyn. V.

Daß Sie es sind, und die Menge mit Ihnen, lasse

ich mir gefallen. G. Der öffentlichen Meinung können Sie freilich nichts anhaben. Da lobe »ch mit die braven Lehrer, die es so be-

337

treiben; die richten doch mehr aus, als Sie mit Ihrer hohem Erziehung. V. Die lobe ich auch, und ich freue mich, daß es recht viele solcher Leute gibt, welche lehren und erziehen, wie man es im gemeinen Leben verlangt. Denn was halten wir sonst! G. Da sehen Sie ja. V. Was soll ich sehen? G. Daß die gemeine Erziehung die geschcidteste ist; es wird doch etwas mit ihr ausgerichtet. V. Ganz recht: die gescheidteste, mit welcher doch etwas ausgcrichtet wird, nämlich das Mittelmäßige, wie Sie selbst sagen. G. Was wollen Sie denn mehr? V. Vorerst das, dann das Bessere, für beides die Er­ kenntniß des Hohern. G. Ich glaube, Sie zu verstehen, bitte aber doch, daß Sie sich deutlicher erklären. V. Das Mittelmäßige sinkt bald unter Null herab, wenn man von nichts Besserem weiß; wie soll man aber wis­ sen, was das Bessere sey, wenn man nichts kennt, das man höher achtet? Das werden Sie sich selbst beantworten. G. Sie denken da wohl an Ihre Ideen und Ideale, denn die sollen das Höchste vor Augen stellen. Aber was kön­ nen wir mit ihnen in der Erziehung anfangen? Da müssen wir am Ende doch alles bei dem Gleichen lassen. B. Was meinen Sie, daß am Ende aus uns würde ohne Ideale? G. Wir reden von dem Kinde und seiner Erziehung, lassen Sie uns nicht abschweifen. Ich meine, daß daS Kind ohne sein Ideal erzogen werben kann. V. Sie meinen also, daß sein Erzieher kein Ideal vor sich habe, wornach oder wozu er dasselbe erziehe? G. Run ja, wenn Sie so wollen. Er bessert bald hier bald da, er weist zurecht, er gewöhnt zu guten Sitten, er lehrt Gutes — und so weiter — V. Das „und so weiter" hat freilich so manches hin. Schwarz Darstell, a. i> ©entere 6. Erzieh. 22

558 ter sich, daß Sie damit vielleicht in einige Verlegenheit gerieIndessen könnte ich Sic schon bei den kleinen Wört­

thcn.

chen „bessern, Gutes" fcsthalten, wenn wir noch so in das

Allgemeine hin reden wollten. Lieber erinnere ich Sie an et­ was Einzelnes, dessen Sie vorhin gedachten, und frage Sie, was soll der Erzieher thun, daß er das Genie, oder auch mei­ nethalben schon bloß das Talent, nicht zurückdrücke oder gar

in die Mittelmäßigkeit einspanne? G.

Das Genie Hilst sich selbst.

V.

Aber der Erzieher weiß ja noch nicht, ob es da ist,

und so lange, bis er eS weiß, kann er vieles verderben. Wol­ len Sie ihm das frei stellen? Die Knospe drücken und wen­ den, bis die Rose, welche die schönste werden konnte, halb er­

stickt und sehr entstellt an das Tageslicht kommt? G. Da beginge er ein Verbrechen an der Menschheit. Er soll die göttliche Anlage schonen; soll lieber nichts thun.

B.

Lieber nichts thun — das heißt:

lieber nicht erzie­

hen. Ilnd weil doch keine Eltern wissen, ob nicht in ihrem Kind ein Genie auflebe, und sie vielmehr gar gern eins in ihm erwarten, so sollen sie ihr Kind nicht erziehen, und so soll die liebe Jugend sämmtlich verwildern, damit doch hier und da ein Genie aufsprossen könne, freilich in der Wildniß, unter Dornen und Disteln, und — G. So nicht! Welche Auslegung!

Ich sagte ja aus­

drücklich: er soll die göttliche Anlage schonen. B. Ich habe Sie wohl verstanden und bin sogar Ihrer Meinung. Aber wie kann er sie schonen, ohne sie erst zu er­ kennen? G. V.

Er soll sie erkennen. Also seinen Zögling kennen lernen? schon das Kind

kennen lernen? seine Anlagen recht kennen lernen?

G. B.

Allerdings. Run, da haben Sie mir wenigstens so viel zuge-

standen, daß Sie mir nicht mehr die Erforschung des Natu­ rells zum Vorwurf machen dürfen.

auch das zugestehen,

Sie werden mir aber

daß man das Kind nur

dann recht

559 kenne, wenn man weiß, was aus ihm werden oder nicht wer­ den kann? G. Wer wird das läugnen.

damit? V.

DaS Ideal.

Aber was wollen Sie

Was das Kind werden kann, ist sein

Ideal. G. Run wohl, da hätten wir denn.das Höhere, wo­ von Sie sprachen. Allein ich wiederhole nur: Lassen wir es bei dem Gleichen, und nur bei außerordentlichen Anlagen, z. B. zum großen Geist oder großen Künstler, gestehe ich Ihnen

Ideale zu. B. lind ich wiederhole, daß wir alle unsere Kinder müs­ sen kennen lernen, also kennen lernen, was aus jedem werden kann, um das seltene Schooßkind der Natur herauszufinden. Dazu müßte doch wohl der Erzieher selbst mit allen jenen

Ideen ausgestattet seyn? G. Das muß ich Ihnen wohlzugeben; halten Sie mich nicht für einen, der nur widerspricht, um zu widersprechen;

ich will die Wahrheit klar sehen und Haffe die Schwärmerei; und zu dieser verführen die Ideen zu leicht. V. llnd doch sind Sie näher an einer Schwärmerei, als Sie meinen, an einer der ärgsten, worüber Ihr Liberali­ smus erschrecken würde. Was fällt Ihnen ein? Wir redeten doch zunächst vom Genie, und Sie ge­

G.

V.

stehen nur den Kindern von außerordentlichen Anlagen Ideale zu; nur für diese darf der Erzieher Ideen haben: die andern gemeinen Menschenkinder mögen sehen, wohin sie komme»,

wir halten sie in ihrer Mittelmäßigkeit; aus ihnen werden we­ der Homerische Helden noch Homere, noch auch Platone oder

Das Volk der Erde wird ja sehen, was es wer­

so etwas.

den kann, wenn man es nur in seiner Mittelmäßigkeit läßt, für seine Bildung dient daS Bett des Prokrustes — — G. Sie legen mir doch nicht diese Grundsätze bei? V.

Behüte!

es wollen,

Sie wollen das nicht, aber Sie müßten

wenn Sie dem Erzieher nicht dasselbe für jedes

22«

540 Jtinb zugestünden, was Sie vorhin für jene Günstlinge znge-

standen haben. G.

Ich will keine Günstlinge; jeder soll ein freier und

guter Mensch werden.

Nun wohl, das wollen wir beide.

Bedenken Sie,

was diese zwei inhaltschweren Worte sagen,

so wird es kei­

V.

ner weitern Erörterung zwischen uns bediirfen. Jeder Mensch wird mit Anlagen geboren, jeder kann etwas werden, daß er ein guter und nach

seinen Anlagen trefflicher Mensch werde,

für jeden giebt es eine Idee, wozu er soll erzogen werden, für jeden muß man sie dem Erzieher zugestehen —

G.

Genug, genug — das alles gestehe ich Ihnen gern

zu, in diesem Sinne. Rur wollen wir nicht in jedem Kinde

ein Ideal erschauen — V.

Warum denn nicht?

Ems ist so gut als das an­

dere; eins hat das Recht wie das andere, das zu werden, was

Gott in dasselbe gelegt hat — und wie wollten wir das an­ ders nennen als mit eben jenem Wort? G.

Renne» Sie es denn meinethalben

immer Ideal,

wenn Sie nur nicht ;edes Kind über das alltägliche Leben Lassen wir es 1111 Allgemeinen dabei,

hinaufschrauben wollen.

daß jedes Kind, wenn es möglich ist, zu einem guten, freien

Menschen erzogen werde.

B.

Gut!

Das will ich eben, und darum verlange ich

von dem Erzieher, daß er das Kmd zu semem Ilrb-id erziehe. Oder soll ich Ihnen noch alles lang und breit wiederholen?

G.

Schon zu viel!

Ich versiehe Sie ja.

In Ibrcm

Sinne lasse ich das gelten, was Sie von Urbildern und Na­ turellen und dgl. sagen, nur will ich nicht, daß Sie aus Ih­ rem Erzieher einen großen Kunsiler machen.

V.

Wen Gott nicht dazu gemacht hat, den können wir

nicht dazu machen.

Aber ich habe Ihnen ja gesagt, daß Gott

jeden Vater und jede Mutter dazu gemacht hat, um ihre Kin­ der zu kennen und zu erziehen. Dazu hat er auch noch man­

che Menschen berufen,

denen er besondere Gaben für diesen

Zweck verliehen hat, und so mag es manche treffliche Erzie-

541 her gebe», wenn gleich keiner sich für einen großen Künstler

halten kann. G. Was wollen Sie denn mit Ihren Lehren? V.

Was inan mit jeder Lehre will; soll ich Ihne» auch

das wiederholend G. Ich begreife Sie; das Studium erweckt den Geist und bilbet ihn weiter. Nur, meine ich, wäre eben so kein Studium mit allen den Umschweifen nöthig,

um das Kind

zu einem freien, guten Menschen zu erziehen. V.

Da haben wir wieder die zwei inhaltschweren Worte!

Eie reden gewiß nicht einer Freiheit das Wort, welche der jetzige Zeitgeist will; frei von Obrigkeit, frei von allem Be­

stehenden , frei von Gott, frei von Gewissen, frei von Gehor­ sam, frei von Kindesliebe —

G. Das will weder ich, noch wollen das Andere, an die Sie vielleicht denken; wer will denn so etwas Unvernünf­ tiges ? B.

Sw können noch fragens

Ich kann Ihnen Satz

für Satz belegen, daß nicht nur in manchen Tagcsblättern, den traurigen Zeugnissen unserer Zeit, sondern auch in belob­ ten Büchern alles dieses ist behauptet worden. Doch was hal­ ten wir uns damit aus! Sie wollen also, daß der Zögling zu seiner wahren Freiheit gelange? G. V.

Versieht sich. Also zu seinem wahren Selbst? und darüber brau­

chen wir uns auch wohl nicht weiter zu verständigen? G.

Kommen Sie nur weiter zur Sache.

V. Da sind wir schon. Sie geben mit also den Licht­ menschen zu, welcher hervorbrechen soll als der wahrhaft freie —

G.

Darüber wollen wir nicht mehr streiten.

V.

Und daß der wahrhaft freie Mensch anch der gute

sey, und der gute der frc.e, darüber wohl auch nicht?

G.

Nennen Sie meinethalben beides als Eins, nennen

Sie ihn den Lichtmenschen;

die der Praxis zu hoch sind!

nur nicht in Regionen fliegen,

342 V. Sind die zu hoch, die jedem Menschen sein Ideal vorhalten?

G.

Das nicht; aber der Erzieher —

B. Soll das Ideal erschauen, um seinen Zögling durch dasselbe frei und gut werden zu lassen, wie Sie mir schon zu­

gestanden haben. G. Ich will es Ihnen sogar mit Ihrer Vergleichung wiederholen: wie der Porträtmaler das höhere Selbst in dem

Angesicht, welches er darstellt. V. nennen? G.

Und dürfen wir das nicht eine

höhere Erziehung

Auch das gebe ich Ihnen zu; nur sollen Sie damit

nicht hie gemeine Erziehung herabseßen. V.

Gerade umgekehrt, hinaufheben möchte ich sie.

Das kann ich nicht anders verstehen, als die ge­ meine, wie Sie doch nun einmal die gewöhnliche anzusehen belieben, in Ihre sogenannte höhere verwandeln.

G.

B.

Nicht ganz so; denn die wirklich höhere ist nicht die,

oder bei irgend einem Pädagogen sehen. Es ist die Idee, welcher alle Erziehung nachstreben soll. Oder glauben Sie, daß die jetzige die vollkommene sey?

welche wir um uns her,

G.

Vielmehr gebe ich denen recht, die da sagen, daß die

Erziehung doch bei weitem nicht leiste, was sie verspricht,

V.

Gleichwohl werden wir sie doch nicht gar aufgeben.

G. B.

-Ich läugne damit nicht ihre Nothwendigkeit.

Sie »erben auch ihre möglichen Fortschritte nicht

läugnen.

G. B.

Keineswegs. Auch werden Sie das Mislingen ihrer Versprechun­

gen in ihren Mängeln finden? G. B.

Worin anders! lind so werden Sie auch hier in der Erkenntniß der

Mängel die halbe Besserung zugeben.

G. V.

Auch das, Nun bitte ich Sie, den Maaßstab zu bedenken, wor-

343 nach wir überall die Mängel der Wirklichkeit abmeffen, z. B.

in einem Kunstwerk —

G.

Zch komme Ihnen zuvor, Sie meinen das Ideal.

V.

Wohl denn!

Ohne Idee, die unserm Thun voran­

zieht, was wäre dann unser Thun?

Weniger als Tagelöh­

ners Arbeit. G. Ist aber die Arbeit des Mannes mit der Hacke, oder

des Mannes mit dem Hobel nicht im Ganzen nützlicher, als die des Philosophen und Poeten? V. Wollte ich Ihnen das arg deuten, so würde ich Ih­

nen jenes bekannte Urtheil von Campe unterlegen, oder Sie an das Wort einer geistreichen Frau von Stael erinnern: daß ohne Begeisterung nichts übrig bleibt, als das Geld und die äußere Gewalt. Aber so meinen Sie cs nicht; Sie kommen nur auf Ihr Voriges zurück, das ich Ihnen gar nicht abstreite: wir wollen die gemeine Erziehung nicht herabsetzen.

G. Und damit kommen Sie auf rhr Voriges zurück: vielmehr sie hinaufheben. V. Nämlich dadurch, daß wir den Erzieher an die Idee erinnern, die in ihm Leben, Klarheit und Kraft gewinnen soll. G. Können Sie ihm diese geben? V. Soll ich es Ihnen wiederholen, daß ich die Anlage voraussctze, aber die Bildung derselben durch Studien verlange?

G.

Wohl denn!

Das wäre für den einzelnen Päda­

gogen, und hier oder da für seltne Mütter und Väter — V.

Alles Treffliche erscheint einzeln, aber es theilt sich

mit, und so kann es sich verbreiten. G. Hoffen Sie wirklich aufsolche Fortschritte der Erziehung?

V.

Nicht bloß hoffe ich darauf, sondern ich erwarte sie

auch mit Zuversicht. G. Ich beneide Sie um Ihren Glauben, aber —

V.

Dieses Aber deute ich Ihnen besser, als Sie denken.

Die Ueberzeugung »st Ihnen noch nicht geworden, aber — G. Nun dieses Aber? V.

— sie wird Ihnen werden, wenn Sie unbefangen

über die Idee der Erziehung weiter nachdenken.

Dann wer-

544 den Sie mich auch verstehen, warum ich die Erziehung als die in der Zeit sich entwickelnde Menschheit bezeichnet habe, und somit als etwas, das in einem Fortschreiten zum Hähern be­

griffen ist. G. Ich verstehe Sie und bin kein unfreundlicher Gegner. V.

Dafür sage ich Ihnen meinen Dank.

ner, der nicht befangen ist,

Dem Geg­

stehe ich gern Rede, die andern

laffe ich ihres Weges gehen. G. Die Idee einer Hähern Erziehung wird immer ihre Gegner finden.

B.

Wie jede Idee; auch wollen wir gerade darum nicht

klagen. Die Wahrheit muß sich läutern. G. Nun wohl; die Zukunft wird entscheiden. Ich dächte also, wir ließen der Sache ihren natürlichen Lauf und grif­ fen nicht vor.

Es ist ja doch die Geschichte unsers Geschlechts,

welche wegnimmt, herbcifuhrt, verändert, und die ganze Er­ ziehung hängt am Ende doch davon ab. V. Sie sagen gerade das, was ich eben sagen wollte.

Kein Mensch erwächst losgeriffen von dem Ganzen, und die Menschheit steht in Verbindung mit der Geschichte unsers Pla­ neten. Die Erziehungsidee selbst entfaltet sich mit der fort­ schreitenden Cultur. Folgt denn aber daraus, daß wir un­ thätig für die Zugendbildung bleiben? für das einzelne Kind nicht nur, sondern für das ganze Volk? für die Nachwelt? G. Das nicht; wir sollen nur thun, was an der Zeit ist. V.

Wie aber, wenn eben jetzt eine solche Periode an

der Zeit wäre? G. Die Leute haben jetzt mit viel wichtigern Dingen

zu thun. V. Das ist wohl ironisch gesagt, und darauf antworte ich Ihnen aus meinem Glauben,

den Sie ja nicht tadeln:

Die Gewässer der Aufregung werden sich verlaufen, von dem Sklavendicnst des Zeitgeistes werden dann die Lehrer befreit,

und dann wird man besser verstehen, was Erziehung heißt, als es zetzt noch begreiflich gemacht werden kann.

X Ueber die neuen Methoden,

fremde Sprachen zn 'lehren, welche

Hamilton und Jacotot angegeben. Von Dr. Kröger, Katecheten am Waiseuhausc zu Hamburg.

Der Sprachunterricht,

besonders nach Hamiltons und Jacotots Methode").

Die Sprache ist das Werkzeug, durch welches wir unsere Ge­ danken und Empfindungen ausdrücken und gleichsam verkör­ pern: sie ist das Hauptmittel der gegenseitigen Mittheilung und darum auch das vorzüglichste Band der menschlichen Ge­

sellschaft; sie ist zwar durch körperliche Organe bedingt, aber doch eigentlich ein Product des Geistes, lind steht mit der Ver­ nunft in so unzertrennlicher Verbindung,

daß ihre Entwicke­

lung und die Bildung dieses Vermögens stets gleichen Schritt

halten und wechselseitig auf einander einwirken.

Ze unvoll­

kommener daher die Sprache eines Volks ist, desto tiefer steht

es in der Geistescultur unter denjenigen, welche eine reichere und vollkommnere Sprache besitzen. Die wilden Völker, z. B. die Feuerländer, Samojeden u. a., haben nur Benennungen für dre ersten, sinnlichen Bedürfnisse, und weiter erstreckt sich auch ihre Erkenntniß nicht; je mehr jedoch sich ihre Sprache herausbildet, desto mehr sind sie aus dem Zustande der Roh­

heit hervorgegangen; und umgekehrt: je mehr ihre Begriffe

•) Diese Darstellung eines trefflichen und unbefangenen Schulman­ ne« wird uns« Publicum iuteresstreo. Sie stellt jene Methoden, vor­ nehmlich die Hamiltouschr, in ein günstigere« Licht, al« sie dem Unter­ zeichneten erscheint, der zwar der Hamiltouscheu einen verbessernden Ein­ fluß auf die hergebrachte schlechte Methode in England zutrauk, aber kaum etwa« mehr Bestehen al« der seltsamen Jacototschen. Sie sieht al« naturgemäß au«, aber nicht lange kann der Schein da« wahrhaft Naturgemäße liberscheinen. Sinnt, de« Herau-gcb.

348 anwachscn, je mehr sie von dem Besondern zum Allgemeinen sich erheben,

bloßen Anschauen und Genießen zum ei­

vom

gentlichen Denken

übergehen:

desto reicher wird

auch

ihre

Sprache. Die Taubstummen entwickeln sich sehr langsam und nur in dem Grade, als sie die Lonsprache erlernen, oder diese

durch Geberdensprache einigermaßen zu ersetzen vermögen; Kin­ der lernen sprechen, sobald sie zu klaren Vorstellungen gelan­

gen, «ind je mehr der Kreis ihrer Erkenntnisse sich erweitert,

der Verstand sich entwickelt,

desto mehr gewinnt

Sprache an Umfang und Ausbildung.

auch ihre

Die Sprache ist zu­

gleich das Magazin, in welchem jeder Erwerb des menschlichen Geistes,

jede Erfahrung früherer Jahrhunderte eines Volks

niedcrgclegt worden ist; es muß daher Jedem darum zu thun seyn, diesen Schaß zu finden, zu heben und sich seiner zu be­ mächtigen. Daher nimmt der Sprachunterricht mit Recht eine bedeu­

tende Stelle unter den Lehrgegenständen, welche die Menschen­ bildung bezwecken,

Muttersprache. Doch auch

ein,

vorzüglich aber der Unterricht in der

das Studium der Sprache

eines

fremden

Volks, mit welchem wir entweder in bürgerlichem oder geisti­ gem Verkehr stehen,

gewährt für die Geistesbildung und für

die Cultur der Muttersprache mannigfaltige Vortheile, beson­ ders wenn dieses Volk sich durch Geist und Charakter auszeich­

net, also seine Sprache zu den vollkommneren gehört.

Denn

wir bemeistern uns dadurch nicht allein aller Schätze, welche

sie sowohl in Bezug aus ihren Inhalt,

als ihre Form ent­

hält, lernen den Entwickelungsgang jener Nation richtiger ken­

nen, sondern sind auch beständig genöthigt, auf unsere Mut­ tersprache zurückzugehen, indem wir sie mit der fremden ver­

gleichen, dadurch zugleich unsere Urtheils- und Schluß-Kraft üben und eine Art praktischer Logik durchmachen.

Dieser formelle und materielle Gewinn, den das Erler­

nen fremder Sprachen gewährt, ist auch zur Genüge ins Licht gestellt worden.

Unser Volk hat von jeher den Ruhm der

Sprachliebe und des Sprachsteißes genossen, daß man es nicht

349 selten einer Uebertreibung beschuldigte und die Ansicht aufsiellte,

es werde auf unsern gelehrten Schulen den physikalischen, ma­ thematischen und andern Wissenschaften keine gleiche genügende

Aufmerksamkeit

geschenkt.

(Bergt, meine Ilebcrsetzung

von

Cousins Berichte über das deutsche Schulwesen, Th. I.) Daß

manches Wahre in der Behauptung liegt, läßt sich nicht in Abrede stellen. Die Kenntniß der fremden Sprachen, nament­ lich der alten, und ihrer Literatur nimmt jedoch so viel Zeit in Anspruch, daß man ihr nicht viel entziehen kann, wofern

anders

diese Ilcberlegenheit in sprachlicher Hinsicht behauptet

werden soll. Es fragt sich daher nur, ob nicht, unbeschadet der Gründlichkeit dieses Studiums, die Jugend zu demselben Ziele in kürzerer Zeit geführt werden könne; ob nicht vielleicht die gewöhnliche ilnterrichtsweise ein Umweg sey, der eben die

Schuld jener Zeitvcrschwendung und der Hindernisse, welche der Erreichung deö Ziels entgrgeusiehen, trage, und ob nicht

auf einem nähern, natürlichern Wege (Methode) jene Zeit er­ spart und diese Hindernisse hinweggeräumt werden können. Nach dem alten, gewöhnlichen Gange des Sprachunter­ richts, der, so viele rühmliche Ausnahmen cs auch davon ge­

ben mag, noch vielfach betreten wird, gibt man dem Schüler eine Grammatik in die Hand, läßj ihn Bocabeln, Declina­ tionen,

Conjugationen, Regeln (wohl gar sogleich mit einer

Menge von Ausnahmen, welche die Regeln umzustoßen schei­ nen)- auswendig lernen, Uebersetzungen und Ausarbeitungen machen :c., und nach 7—8 Schuljahren » 1000 Sprachstun­

den, die ihm „unsäglichen Zammcr" bereiten, hat er einige Elementarbücher und zwei, drei oder vier Schriftsteller fra­ gmentarisch gelesen, ist ost nicht im Stande, einen Aufsatz feh­ lerfrei, geschweige zierlich in die fremde Sprache zu übersetzen,

einen Historiker oder leichten Dichter ohne Schwierigkeiten zu

lesen, und hat für die Kenntniß der Vorzeit wenig oder gar nichts gewonnen.

Ilnd eben so wenig kann diese Beschäfti­

gung mit todten Wörtern und Formen, diese ermüdenden Ge­ dächtnißübungen, dieses blinde Herumtappen und leere Brü­ ten über Sätze, deren Auflösung die Kraft des Kindes über-

550 steigt, zur GeisteSeultur bedeutend beitragen, Gewandtheit im

Denken und Vielseitigkeit im Urtheilen erzeugen; vielmehr ist Unlust zum Lernen, Dumpfheit des Geistes nicht selten die Frucht eines Uilterrichts, der bei einer naturgemäßen Methode

so bedeutenden Gewinn für die Gesammtbildung hervorbringen kann. Naturgemäß kann aber der grammatische Weg, d. h.

wo man mit Erlernung des ungeregelten Materials, der Vo­ kabeln, oder mit der Vorausschickung der Regeln anfängt,

nicht genannt werden. Denn die Muttersprache erlernen wir nicht durch die Grammatik, sondern machen unS mit ihr erst dann bekannt, wenn wir die Sprache, die ja überall eher war

als die Grammatik, bereits erlernt haben, sie verstehm und

sprechen können; wollen uns durch die Grammatik nur in der­ selben orientiren, und jede fremde, lebende Sprache läßt sich ebenfalls leichter durch Uebung und Gebrauch, als nach der

Grammatik und aus den Regeln erlernen.

Eben so wenig

ist diese Methode der kindlichen Natur angemessen, denn das

Kind findet keinen Gefallen an der grammatikalischen Bedentung des Worts, es ist ihm die Form desselben gleichgültig, z. B. in welchem Casus das Wort Caesar steht; es geht auf den Sachinhält und fragt, was Cäsar gethan hat. Sie ist auch nicht dem Zweck des Sprechenerlernens angemessen. Der

Zweck dieses Unterrichts ist zuerst das Verstehen der fremden Sprache, verbunden mit der Kenntniß des Alterthums re. sma-

terieller Zweck), und die Uebung deS Gedächtnisses, Verstandes, der Urtheilskraft,

die Bildung

des Geschmacks rc.

(formeller

Zweck). Beide Zwecke muffen beim Unterricht vereint, und der letzte darf bei keinem Lehrgegenstande, also auch nicht bei Erlernung der Sprache, vernachlässigt werden.

aber ihn voranstellen,

Wollte man

so könnte dazu mit gleichem Fug und

Recht auch das Arabische oder die Sanskritsprache in den Schu­ len benutzt werden. Der grammatische Weg allein bildet überdieß mehr das Gedächtniß, als den Verstand, führt nicht

zum Gefühl der Schönheit einer Schrift, denn die Schönheit beruht auf der Totalität und dem Verhältniß der Theile zu einander und zum Ganzen.

Einen menschlichen Körper daher

551 wird niemand mehr schön finden, wenn er zergliedert worden

ist, man mag auch die einzelnen Knochen, Muskeln, Fasern und Nerven in der besten Ordnung vorzeigen. Frauenzimmer und andere Personen, welche mit der Grammatik ihrer Mut­ tersprache eben nicht besonders vertraut sind, können doch nicht allein den Sinn, sondern auch die Schönheit eines Buches fühlen, so wie ein jeder die Schönheit eines Gebäudes, ohne

eben mit den Regeln der Baukunst bekannt zu seyn; und wie man beim Lesen selten an den Laut und Namen des Buch­

staben, oder an die einzelnen sprachlchrigen Beziehungen denkt, so verwischt sogar ein Uebcrstuß von grammatischen und ar­ chäologischen Bemerkungen den Totaleindruck eines Gedichts re.

Aber auch zum Verstehen trägt die Grammatik an sich

Wer zu uns spricht, schriftlich oder mündlich, der drückt seine Gedanken und Empfindungen durch sichtbare oder hörbare Zeichen aus; wir verstehen ihn, wenn wir in seinen wenig bei.

Worten den Sinn aufsassen, und so Gedanken in

weckt werden.

uns er­

Bei ihm sind die Worte die Wirkung seiner

Gedanken, bei »nS die Ilrsache.

Die Auffassung des Sinnes

ist die Hauptsache; die Kenntniß der Wörter verhält sich dazu wie das Mittel zum Zwecke, wie der Körper zu dem Geiste, der ihn belebt.

Nun sprechen wir aber nicht, wenn wir ein­

zelne abgerissene Wörter (Vocabeln) hersagen,

denn diese,

z. B. die Wörter: studiorum, est, repetitio, inatcr, drü­

cken keinen Gedanken aus, sondern in Worten, d. h. in zu­ sammenhängenden Sätzen, und erst die rechte Verbindung und

Ordnung jener Wörter gibt einen Sinn.

Um diesen zu er­

mitteln , muß man freilich die Wörter verstehen, aber das geschieht wieder nicht durch grammatische Erörterungen. Denn

wenn dem Schüler auch gesagt wird: repetitio ist ein weib­ liches Hauptwort, steht im Singular und hat im Genitiv

repetitionis;

est ist 3. P. s. praes. Ind. a verbo snm, hat er nun den

fui, esse; inater: subst. fern. u. s. w.;

Sinn des Satzes begriffen? Bedeutung der Wörter:

Oder lernt er die verschiedene

Vernunft und

Verstand, wenn er

hört, daß jenes ein weibliches, dieses ein männliches Haupt-

332 wort ist, und beide bloß im Singular gebraucht werden? Ge­ wiß nicht!

Durch Theorie und Regeln allein lernen die Kin­

der eben so wenig eine Sprache, als durch die Theorie des

Gleichgewichts das Gehen, und durch die Regeln der Optik

das Sehen.

Dagegen lehrt die Erfahrung, daß es Leute ge­

geben hat und noch gibt, welche den Livius, Voltaire re. ver­

stehen, ohne eben sich der Declinations- und Conjugations­ formen nach den Sprachregeln bewußt zu seyn, ein Fall, der

bei der Muttersprache Tausenden begegnet. Der natürliche Weg zur Erlernung einer fremden Sprache bleibt daher immer die Uebung im Sprechen.

Allein er läßt

sich bei todten Sprachen nicht wohl anwenden, da sich wenig deren finden würden, welche sie mit der nöthigen Geläufig­

keit und Reinheit zu reden im Stande sind, und es jetzt manche Dinge und Begriffe gibt, welche die Alten nicht kann­

ten, wofür folglich ihre Sprache auch keine Wörter hat*). Wenn wir aber eine fremde Sprache künstlich erlernen wollen, so müssen wir die Eindrücke wirklicher Dinge, die auf jenem Wege die Ursachen unserer Worte sind, durch Eindrücke ähn­

licher Gegenstände ersetzen, folglich die verschiedenen Theile ei­

nes Satzes in fremder Sprache zerlegen, um erst die einfa­ che», dann die zusammengesetzten Eindrücke zu gewinnen, und zugleich die Zeichen, wodurch sie ausgedrückt werden, d. h. so­ wohl den Laut der ausgesprochenen, als die Figur der ge­ schriebenen Wörter, und die Ordnung derselben aufzusaffen. Dieß analytische Verfahren ist das einzige Mittel, um in der fremden Sprache zu denken und sie verstehen zu lernen. Wie das Verstehen die erste Stufe ist, auf welche der Schü­ ler sich erheben soll, so ist das Ausdrücken, das Schreiben und Sprechen in derselben die zweite. Der Schüler muß da­

her die sichtbaren oder hörbaren Zeichen (Wörter) zusammen­

setzen lernen, um dadurch seine Gedanken auszudrücken.

Hat

•) Ueber die verschiedene Methode, eine todte und eine lebende Sprache zu lehren, spricht m. Unterrichtslehre S. 201 ff. Anw. de« Herausgeb.

555 er durch die Analysis, der ersten und wichtigsten Sprachübung, sich gehörig vorbereitet, so wird ihm diese Synthesis nicht

schwer werden.

Gedanke und Wort stehen mit einander in

so genauer Verbindung, daß eins das andere hervorruft. Ei­ nige Uebung wird genügen, um die Sprachorgane rc. zu be­ fähigen, die rechten Laute oder Schriktzeichen hervorzurufen. Solche Compositionen sind aber erst dann möglich, wenn man

die Zdeen und Materialien besitzt, welche zusammengesetzt wer­

den sollen. Daher muß der Unterricht nicht die Sache um­ kehren und das Sprachstudium mit Einlernen der Regeln, welche das Resultat,

die allgemeinen Reflexionen enthalten,

beginnen lassen, sondern mit der Analysis, welche die Ma­ terialien gibt, die man zur Hervorbringung eines Ganzen be­

nutzen muß; und ihn endigen mit der Synthesis, welche die Kenntniß der Regeln, die auf dem ersten Wege abgeleitet worden sind, voraussetzt, wenn ein Ganzes (Satz, Rede rc.) zusammengesetzt werden soll.

Die Sprache ist eine praktische

Kunst und muß daher nicht wie eine Wissenschaft siudirt werden, sondern wie eine Kunst, und dazu dient die analy­ tische Methode, welche die scientivische ausschließt. Sie ist im

Stande, alle Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen und die Sprachen ohne vorherige Einübung der Regeln zu lehren. Die Sprachen, welche wir erlernen, sind entweder le­ bende oder todle, sie werden entweder gesprochen oder geschrie­

ben.

Zm erster» Falle müssen articulirte Laute, im letztem

geschriebene Zeichen behalten werden; in beiden kommt eö auf die grammatischen Beziehungen und die Wortconstruction an.

Durch die Analysis erlernen wir nicht allein die Wörter mit ihren verschiedenen Veränderungen, nicht allein die Regeln der fremden Sprache, sondern auch ihre praktische Anwendung,

die Aussprache wie die Orthographie. Sie reicht ebenfalls aus, um die Wortconstruction kennen zu lernen.

Denn wie ein

Kind, auch ohne die Regeln des Syntax zu kennen, die Construction der Muttersprache erlernt und keine Gallicismen und Anglicismen macht; wie man die Wörter, oder die Ordnung der Buchstaben in Sylben, woraus sie bestehen, leicht behält:

Schwarz: Darstell, a. d. Gebiete d. Erzieh.

23

334 so faßt man auch leicht die Ordnung der einzelnen Wörter

eines Satzes auf und betrachtet sie gleichsam wie ein Wort

aus einer großen Zahl von Sylben. Die Regeln einer Sprache

erleiden oft eine Menge von Ausnahmen, deren Erlernung den Schüler oft in einer Ungewißheit läßt, welche ärger ist, als eine völlige Unwissenheit. Dlirch die analytische Methode faßt der Schüler sie viel leichter auf, weil sie ihm aus der Sache selber hervorzngehen scheinen und mittelst der Zdeenver-

bindung sich fester einpräge».

Der analytische Weg erleichtert also auch dem Schüler

die Fortschritte. Wir sind keineswegs der süßlichen Erziehungs­ theorie hold,

welche dem Kinde jede Mühe ersparen,

;edeS

Hinderniß aus dem Wege räumen, jede Schwierigkeit erleich­

tern will. Der Unterricht ist und muß kein Spiel semi, er soll die Kraft entwickeln, die Kraft möglichst allsenig heraus­ bilden.

Kraft erstarkt aber nur im Kampfe mit Hindernissen,

in Besiegung von Schwierigkeiten, und wenn Milo täglich ein anderes Kalb getragen hätte, er würde es nimmer zum Ochsentragen gebracht haben. Auch beweist die Erfahrung,

daß oft. diejenigen die schärfsten Denker, die sinnreichsten Künst­

ler werden, welche in ihrer Zugend mit vielfachen Hindernis­ sen ihrer Ausbildung zu kämpfen halten. Aber nicht alle Men­ schen haben solche hervorragende, nicht zu unterdrückende An­ lagen, und es gibt Schwierigkeiten, welche das verliehene Maaß von Gaben wirklich übersteigen; Hindernisse, an denen die Kraft sich bricht; Umstände, welche es dem fähigen Kopf unmöglich machen, die Bahn des Künstlers oder Gelehrten zu betreten; und Milos Kraft würde gebrochen worden seyn, wenn sie gleich Anfangs sich an der Last eines Ochsen über­ laden hätte. Der Sprachunterricht muß daher in einem stu­ fenweisen Gang vom Leichtern zum Schwerern fortschreiten,

indem er sich genau an die individuellen Fähigkeiten der Kin­ der anschließt, nur so weit erleichtert, daß sie bei gehöriger Anstrengung ihrer Kraft selbstthätig von einer Stiise zur an­ dern steigen können,

aber auch nicht durch Anhäufung von

Schwierigkeiten ihre Fortschritte aufhält, sie entmuthigt und

33A verdrossen macht.

Die gewöhnliche Weise dieses Unterrichts

verlangt aber auf einmal zu viel, der Schüler soll zuerst die Wortform und dann den Inhalt der Sprache auffaffen, die

gegebenen Wörter logisch construircn und das Construirte zu­ gleich rein deutsch ausdrücken lernen u. s. w. Von diesen Schwierigkeiten nimmt die Hamiltonsche Analysirmethode die Hälfte weg. Aber auch jenem Nützlichkeitsprincipe sind wir von Her­

zen abgeneigt, welches die Erlernung jeder Kenntniß und je­ der Wissenschaft für unnöthig erklärt, wofern sich nicht ma­ thematisch gewiß nachweifen läßt, daß die Kinder einst im Le­

ben einen vortheilhaften Gebrauch davon machen können, und alles für unnütz erklärt, was mcht unmittelbar Geld in den Beutel bringt. Wir halten die intensive Bildung sogar für viel wichtiger als die crtensive, und wünschen, daß jeder Unterrlchtsgegenstand eine möglichst vielseitige und harmonische Ausbildung aller geistigen Kräfte befördere; aber darum wün­ schen wir auch, daß diejenigen Kenntnisse, welche gedächtnißmäßig aufgefaßt werden oder nur einen relativen Werth zur

Gewinnung anderer Kenntnisse habe», mit möglichst geringem Zeitaufwande angeeignet, und für wichtigere mehr Spielraum gewonnen, daß dem Schuler der untern Classen nicht der Sprachunterricht durch Grammatik verleidet, daß durch emen

bessern Lehrgang die Erlangung des Ziels: vertrautere Be­ kanntschaft mit der Literatur des Alterthums, gewonnen, und dadurch die Geisteskräfte zugleich allseitiger angeregt werden mögen. Von jedem Unterricht fordern wir mit Recht,

daß er

gründlich in die zu erlernende Wissenschaft einführe, denn un­ gründliches Wissen ist ost schlimmer als Nichtwissen.

Wir

sind darum auch jenem EncyklopädismuS und jener Polyhistorie feind, welche sich mit der Schaale begnügt, ohne zum

Kern zu dringen, auf der Oberfläche herumschwimmt und nicht bis auf den Grund zu kommen trachtet. Diese Oberflächlich­

keit erzeugt nur Vielwisser, deren Meinungen herumfahrcnden Inseln gleichen, die mit nichts zusammenhängcn als mit der

23-

556 Eitelkeit; deren Kenntnisse auf Sand gebauten Häusern äh­ neln, welche jedem Windstoß einer tiefern Beurtheilung wei­ chen, weil das felsenfeste Fundament fehlt.

Aber ein Funda­

ment kann auch so regellos angelegt werden, daß kein Gebäude darauf ruhen mag, und die Anlegung einer riesenhaften Grund­ lage -vürde doch lächerlich erscheinen, wenn die Arbeiter darü­ ber gar nicht zum eigentlichen Bau kämen oder sich mit der

Aufführung einer Hütte begnügten. Wir wollen darum kei­ neswegs den Unterricht in der Grammatik verwerfen, halten das Studium derselben vielmehr für sehr nöthig; nur möch­ ten wir die Bekanntschaft derselben nicht zur Grundlage des Sprachunterrichts, weil manches Kind darüber nicht zlim Ver­ stehen der Sprache selbst gelangt, und die eigentlichen, feinern

classischen Studien mehr für den Jüngling gehören und dem

Knaben nicht klar werden. Bei der Hamiltonschen Methode wird aber der Schüler genöthigt, jedes Wort genau zu über­ setzen, in den Wortsinn einzugehen, also eine gründliche Sprach-

kenntniß zu gewinnen, während das gewöhnliche freiere lieber­

setzen Ungenauigkeit und Unklarheit zuläßt.

Wir wollen die derselben kurz auseinandersetzen, um die Auf­ merksamkeit auf dieselbe hinzuleiten, damit Versuche gemacht, Erfahrungen gesammelt, und dadurch über ihren Werth oder

Grundsätze

Unwerth entschieden werden könne. Hamiltons und Zacotots Methoden gehen von dem Grund­ satz aus, daß es verkehrt sey, den Unterricht in einer Sprache

mit der Grammatik zu beginnen.

Dieser Grundsatz ist nicht

neu, sondern mehr oder weniger klar schon in frühern Zeiten

aufgestellt worden, und einsichtsvolle Sprachlehrer haben eifrig an der Umgestaltung des alten Schulschlcndrians gearbeitet"). Basedow in seinem Meihodenbuche, Trapp und Campe in dem

Revisionswerk wollen, obgleich zu seht in dem Nützlichkeits­ principe befangen, die fremden Sprachen wie die Muttersprache •) Auch zeigen die Jesuiten, wie auch Statich und Cowenius schou gewissermaßen etwa« von dieser Methode. S. bi. Gesch. d. Erz. II. S. 337. 388 - 402.

Anm. des Herausged.

557 durch Umgang erlernt wissen, und erst später solle die Gram­

matik hinzutreten. Wenn der Schüler auch Anfangs gegen den Aecent fehlt, so könne es einem Deutschen bei verständigen Leuten nicht zum Nachtheil gereichen, in seinem Reden und

Leben zu scheinen, was er ist, und wenn auch z. B. das La» tritt nicht zierlich sey, so würde dieser Fehler wenigstens nicht schwerer zu heben seyn, als die Entwöhnung von den lexika­ lischen Sünden,

welche bei den gewöhnlichen Exercitien ge­

macht werden, und der Schüler doch die Fertigkeit gewinnen, schlechtes und gutes Latein wie die Muttersprache zu verstehen. Der grammatikalische Unterricht müsse verschoben werden,

bis die Kinder die allgemeinen Eigenschaften und Unterschiede der Dinge, der geistigen Handlungen und Zustände der Seele sich auf eine abstrakte Weise vorstellen können; ehe dieß der Fall sey, bleiben Etymologie und Svntax eine Sammlung von Tönen ohne Bedeutung und Nutzen; immer müsse die Gram­

matik der Muttersprache jeder andern vorausgehen. Gcsner sagt in der Vorrede zu Cellarius Grammatik: Die Sprache ist eher als die Grammatik; so ist es auch leichter, eine Sprache durch Gebrauch und Uebung ohne Grammatik zu

lernen, als ohne Uebung und Gebrauch allein aus der Gram­ matik. Das erste geschieht täglich von Millionen Menschen in Ansehung ihrer Muttersprache, lmd von vielen Hunderten Das letzte ist unmöglich. So ist der, welcher Sprachen durch Uebung obne Grainmatik lernt, besser

in fremden Sprachen.

daran, als wer aus Mangel an Uebung weder etwas in die­ sen Sprachen Geschriebenes gründlich versteht, noch sich selbst darin gründlich ausdrücken kann. Das nach der Ordnung vor­

genommene Auswendiglernen der Paradigmatum nennt er ungereimt und ungeschickt.

Weil sich aber selten Lehrer finden, welche die eilten Spra­

chen mit Geläufigkeit und Eleganz reden, so suchte man ei­

nen andern Weg. Reimarus verlangt in seiner „Vernunft­ lehre " solche Uebungen, welche der niündlicheii Unterredung möglichst nahe kommen.

Er will, daß der Lehrer sich kurze

Sätze und Sprüche von bekannten Dingen m natürlicher Wort-

36tt folge sammle, sie dem Schüler oft vorsage, sie nachschreiben

und nachsprechen lasse und. dann auf eben die Weise zu klei­

nen Erzählungen, Fabeln und Briefen übergehe. Mairotto versucht in seiner lateinischen Grammatik, mit­

telst einer Sammlung von Beispielen über ähnliche Fälle, die er »eben einander stellt, die Knaben anzuleiten, daß sie sich

bei einiger Aufmerksamkeit die Regeln selbst abstrahircn. Seidcnstücker will in seinen französischen, lateinischen und griechi­ schen Elementarbüchern „den Gang der Natur nachahmen und den Knaben das Material der Sprache ohne Regeln, jedoch nach Regeln und zum Abstrahircn der Regeln geeignet und einladend, mittheilen, weil die gewöhnliche Methode, die lexi,

kalische, welche mit Erlernung des ungeregelten Materials oder der Vocabeln ansängt, und die grammatikalische, welche Re­

geln voranöschickt, gleich trocken, von der Spracherlernung zu«

rückschreckeud und nur langsam fördernd sind." Leibniß, Eras­ mus, Scaliger u. a.") erklären sich gleichfalls gegen die ge, meine grammatische Methode, und Broder, Jacobs, Döring, Pöhlmann, Schulze u. a. schlagen einen mehr oder minder abweichenden Weg ein. thode schon ganz nahe.

Locke kommt der Hamiltonschen Me­ Er sagt in seinem Werke: ,,8oino

thoughts concerning educatioii“, H. 164: Wenn das Kind

auf die Welt komme, so sey ihm bas Latein durchaus unbekannter als das Englische (als die Muttersprache), doch lerne es englisch ohne Sprachmeister, ohne Regeln Grammatik. So könne es auch das Lateinische lernen,

nicht und und wie

Cicero es auch so gelernt habe, wenn nur immer einer da wäre, der es ihm vorspräche, und so lehre eine Französinn den englischen Mädchen in einem bis zwei Zähren fertig fran­

zösisch. Weil aber, fügt er §. 167 hinzu, ein solcher Mann schwer zu haben sey, der gut lateinisch spreche, so müsse mau •) Montaigne hatte nicht nur den Grundsatz, die lateinische Sprache als eine lebendige durch Sprechen zn lehren, sondern hatte ste auch selbst fp durch mühsame.Veranstaltung seines BalerS erlernt. S. Gessch. d. ifij. !!. S. -104. Au IN. des Her