Christus: Jesus und die Anfänge der Christologie 9783666567087, 9783525567081, 9783647567082

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Christus: Jesus und die Anfänge der Christologie
 9783666567087, 9783525567081, 9783647567082

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Studium Systematische Theologie

Band 5

Vandenhoeck & Ruprecht

Gunther Wenz

Christus Jesus und die Anfänge der Christologie

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56708-1 ISBN 978-3-647-56708-2 (E-Book)

© 2011 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Satz: Text & Form, Garbsen Druck und Bindung: a Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt Einleitung ...................................................................................................

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1. Ostern als Urdatum der Christologie ..................................................

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2. Die Jesustradition als implizite Voraussetzung christlichen Osterzeugnisses ...................................................................................

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3. Ostergeschehen, irdischer Jesus und historische Forschung .................

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4. The Old Quest and the Period of ‘No Quest’: Zur Geschichte historischer Jesusforschung I ...............................................................

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5. The New Quest and the Third Quest: Zur Geschichte historischer Jesusforschung II ................................................................................ 103 6. Quellen und Grundbegebenheiten der Historie Jesu .......................... 125 7. Politische und soziokulturelle Kontexte des Lebens Jesu ..................... 142 8. Endzeitliche Bußprophetie im Horizont der Apokalyptik: Johannes der Täufer ............................................................................ 160 9. Die Botschaft von der nahenden Gottesherrschaft und eschatologische Zeichenhandlungen Jesu ............................................ 178 10. Die Gleichnisform der Botschaft Jesu und sein Messiasgeheimnis ...... 202 11. Österliche Christusprädikationen und Selbstaussagen Jesu ................. 220 12. Reich Gottes und Tora: Jesu Stellung zum jüdischen Gesetz ............... 239 13. Prozess und Kreuzestod ...................................................................... 262 14. Die Auferweckung des Gekreuzigten .................................................. 282 15. Das Kreuz des Auferstandenen ........................................................... 303 16. Die Zukunft des Gekommenen .......................................................... 325 Register ....................................................................................................... 345

Einleitung*

Athen wäre nicht, was es ist, hätte man es in München nicht so gewollt. Ohne Zutun Ludwigs München und Athen I. von Bayern, der seinen zweiten Sohn, den noch unmündigen Prinzen Otto, am 8. August 1832 von der griechischen Nationalversammlung zum König des neu gegründeten Hellenenstaates wählen ließ, wäre dessen Hauptstadt nicht von Nauplia nach Athen verlagert worden, das damals mehr einem Kuhdorf als einer Metropole glich. Glanzvoll war Athen, das seit über 2000 Jahren keine nennenswerte Rolle in der Geschichte mehr gespielt hatte, seinerzeit nur als Erinnerungsgestalt, als eine, um es in Anklang an Platon zu sagen, anamnetische Idee. Das Zauberwort, das aus den Ruinen eines heruntergekommenen Kaffs das Urbild geistiger Zivilisation erstehen ließ, hieß Klassizismus. Nach klassizistischer Auffassung ist Athen Zentrum griechischer Kultur und die griechische Kultur vorbildlich für alles, was unter okzidentalen Bedingungen diesen Namen verdient. Gedacht ist dabei allerdings von wenigen Ausnahmen abgesehen nur an das sog. klassische Zeitalter des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts. Das Übrige wird antiquarischen Interessen und dem Gedächtnis von Spezialisten überlassen. Zu jenem Rest, den man nach klassizistischer Sicht der Dinge getrost vergessen kann, gehört auch die Szene des Athener Auftritts des Apostels Paulus, wie ihn Lukas im 17. Kapitel der Apostelgeschichte schildert. Das Athen des Themistokles, Sophokles, Phidias, Aristophanes, Platon, Aristoteles oder Demosthenes gehörte längst der Vergangenheit an. Die Zentren geistigen Lebens lagen mittlerweile anderswo, in Rom oder im ägyptischen Alexandria etwa; Athen war Provinz. Immerhin: der Glanz vergangener Tage war noch zu spüren, und das Gedächtnis alter Zeiten wurde nicht erst im hiesigen Klassizismus des 19. Jahrhunderts, sondern bereits in der römischen Kaiserära kulturell gepflegt. Christen machten in dieser Hinsicht im Prinzip keine Ausnahme, auch wenn mit antihellenistischen Reserven insbesondere in einigen judenchristlichen Kreisen gerechnet werden muss. Was Paulus selbst betrifft, so hat er in seinen Briefen den Aufenthalt in Athen nur an einer einzigen Stelle und eher nebenbei erwähnt. In 1 Thess 3,1 wird berichtet, der Apostel habe in Sorge um das Wohl der jungen Thessalonichergemeinde den Gefährten Timotheus nach Makedonien zurückgeschickt, während er selbst * Für Hilfe bei der Überprüfung von Zitaten danke ich den Herren Stefan Dienstbeck und Johannes Mahr.

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bis zum Eintreffen von dortigen Nachrichten in Athen verweilte. Viele Exegeten haben daraus geschlossen, Athen sei für Paulus nur eine flüchtige Durchgangsstation auf dem Weg nach Korinth gewesen. Aber selbst wenn, wie andere meinen, mit einem längeren Aufenthalt und einem intensiven Bemühen um Gründung einer Gemeinde zu rechnen ist, blieb die Missionsarbeit des Apostels offenbar ohne Erfolg. Von einer Athener Gemeinde hören wir erstmals in einem Brief, den Dionysios von Korinth viele Jahrzehnte später an sie geschrieben hat. Die faktische Erfolglosigkeit des Paulus, von der Areopagrede 1. Kor 2,1ff. indirektes Zeugnis gibt, hinderte Lukas nicht, den Athenbesuch des Apostels als bedeutungsvollen Auftritt zu gestalten, wobei die inhaltliche Pointe, die er setzt, auch unter historischen Gesichtspunkten nicht unzutreffend ist. Paulus in Athen: die Szene, die in der Areopagrede gipfelt, steht exemplarisch für die Begegnung von christlicher Botschaft und menschlicher Weisheit. Schon bevor der lukanische Paulus zu seiner mit schriftstellerischer Meisterschaft gestalteten Rede anhebt, tritt der genius loci signifikant in Erscheinung, und die Leser der Apostelgeschichte gewinnen einen lebendigen Eindruck von der religiösen und geistigen Atmosphäre der Stadt. Da sind zunächst die vielen Tempel und Götterbilder, bei deren Anblick den Apostel heiliger Zorn ergreift. Während Juden und Christen in striktem Monotheismus einen einzigen Gott bildlos verehren und die Verehrung weiterer Götter als Götzendienst verwerfen, ist der in der Antike ansonsten geübte Kult polytheistischer Natur. Die Götter, denen im antiken Athen geopfert wurde und deren Präsenz im Inneren der Tempel durch Kultbilder sinnenfällig zur Darstellung kam, waren zahlreich und von vielfältiger Gestalt. Zwar ließ der anthropomorphe Polytheismus der Griechen Hierarchisierungen nicht nur zu, sondern setzte sie förmlich voraus. An der Spitze der Götterwelt stand, um im vorhergehenden Band Gesagtes zu wiederholen, Zeus, der Vater der Götter und Menschen, dem Hera als himmlische Gattin zur Seite gestellt war. Doch trotz der allumfassenden Macht, die dem blitzenden und donnernden Olympier schon zu Zeiten Homers zuerkannt wurde, war seine göttliche Stellung niemals einzig und absolut. Nicht nur musste er seine Herrschaft mit anderen Göttern teilen, insbesondere mit seinen Brüdern Poseidon und Hades, dem Herrn der Unterwelt; er hatte ferner die in den Moiren personifizierte Macht des Schicksals wenn nicht über, so doch neben sich. Am Los der Welt partizipierte auf seine Weise auch er. Seine weltüberlegene Transzendenz war nicht unbedingt, sondern beschränkt. Daran änderte sich grundsätzlich nichts, als aus dem griechischen Zeus der im Mythos mit ihm fast völlig identifizierte Jupiter optimus maximus wurde, dessen Heiligtum auf dem Kapitol sich zum sakralen Mittelpunkt des Imperium Romanum entwickeln sollte. Wie Zeus war auch Jupiter, wenngleich der Höchste und Beste, keine absolute Größe, sondern in seiner Souveränität vom Fatum begrenzt und im Übrigen trotz seiner herausragenden Stellung nur ein Gott unter vielen. Am griechischen Polytheismus hielten auch die Römer fest. Aus Poseidon, dem oft grollenden Herrn der

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Meere, wurde Neptun, wohingegen die unterirdischen Geschäfte, deren Verrichtung nach dem Titanenkampf Hades zugefallen war, Pluto übernahm, den die Römer auch Orcus nannten. Die dem Haupt des obersten Gottes entsprungene Schutzgöttin Athens waltete in Rom unter dem Namen der altitalischen Minerva ihres Amtes. Für den Kontrast von Hell und Dunkel, Maß und Grenzenlosigkeit, verständige Fügung und rauschhafte Leidenschaft standen die Göttergestalten des großen Ordners Apoll einerseits und des ekstatisch-orgiastischen Dionysos andererseits, der in Bacchus fortwirkte, dem römischen Gott der Fruchtbarkeit und des Weines. Zu erwähnen sind ferner Ares-Mars, der von personifizierten Gestalten des Streits, des Schreckens und der Furcht begleitete Kriegsgott, Hephaistos-Vulcanus, der Gott des Erdfeuers und der Schutzherr der Schmiede, sowie der volkstümliche Hermes-Merkur, himmlischer Bote, Gott des gesegneten Ausgangs und Eingangs und Urbild des guten Hirten, der in der hermetischen Literatur der Spätantike als Trismegistos in Verbindung mit dem altägyptischen Gott der Schrift und der Gelehrsamkeit eine auch für das Christentum wichtige Rolle als weiser Gesetzgeber spielen sollte. Unter den weiblichen Göttergestalten ragten hervor Artemis-Diana, die Herrin der freien Natur, die Altes zur Strecke bringt und aus der Zerstörung heraus Neues erschafft, sodann Demeter-Ceres, die Göttin der Vegetation und der Fruchtbarkeit sowie – last, but not least – Aphrodite-Venus, die schaumgeborene Göttin der Anmut, Schönheit und Liebe. Weitere griechisch-römische Götter und Halbgöttergestalten wie Herakles-Herkules wären aufzuführen. Außer im öffentlichen Kult wurden die meisten von ihnen auch privat, im Hauskreis der Familie oder in Kultvereinen verehrt, wie sie in hellenistisch-römischer Zeit weit verbreitet waren. Für Paulus musste all dieser polytheistische Spuk ein Gräuel und seinem Monotheismus zuwider sein. „Ich bin der Herr, dein Gott; du sollst keine anderen Götter neben mir haben.“ (Ex 20,2f., Dtn 5,6f.) So steht es geschrieben in der Tora Israels, und so wurde es als Gottes Gebot geachtet und gehalten von den frommen Juden und den Gottesfürchtigen, denen sich Paulus in Athen als ersten zuwandte. „Höre Israel, der Herr unser Gott, der Herr ist einer!“ (Dtn 6,4). Dies bekennt das Volk Gottes und jeder, der ihm zugehört, mehrmals am Tage. Es gibt nur einen Gott und keinen weiteren. Alle Formen des Polytheismus sind ausgeschlossen. Der eine Gott aber ist einzigartig und unvergleichlich. Er transzendiert alles, wovon man sich ein Bild machen kann, und ist der ganzen Welt jenseitig. Als der Eine und in seiner Gottheit Einzigartige aber ist Gott derjenige, dem allein und ungeteilt Hingabe gebührt. Ihn und ihn allein sollen wir aus ganzem Herzen und mit ganzer Seele lieben und ihm mit ganzer Kraft vertrauensvoll dienen. Der Gott Israels, den Jesus seinen Vater genannt und dessen väterliche Nähe er in seiner Reich-Gottes-Botschaft durch Wort und Tat verkündet hat, ist einer und einer allein. Der strikte Monotheismus des Gottesvolkes wurde nicht nur von Jesus selbst, sondern auch von den Christen uneingeschränkt geteilt. Die altkirchliche Trinitätslehre macht darin keine Ausnahme, wie man anmerkungsweise jetzt schon

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feststellen darf. Sie lehrt nicht etwa einen Tritheismus, wonach Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist drei Götter seien. Ein Drei-Götter-Glaube wäre eine fatale Irrlehre. Die Wahrheit hingegen ist, dass der in Jesus Christus in der Kraft seines Hl. Geistes väterlich offenbare Gott einer ist. Der Monotheismus Israels wird durch die christliche Trinitätslehre nicht aufgehoben, sondern bestätigt. Der Gott, der in Jesus Christus durch den Hl. Geist ganz für uns da ist, der Deus pro nobis, der Deus pro me, ist ungeteilt einer, wenngleich seinem Wesen nach offen für Anderes, ja aufgeschlossen selbst für den Gottlosen und den gottwidrigen Sünder. Israels Monotheismus steht, wie im vorhergeMonotheismus Israels henden Band mehrfach erwähnt, im Zentrum, aber nicht am Anfang seiner Geschichte. Anfangs ist auch die Religion Israels wie diejenige der altorientalischen Umwelt pagan und von polytheistischem Gepräge. Erst im Verlauf der ersten Hälfte des ersten Jahrtausends v.Chr. bilden sich monolatrische Tendenzen aus, also Bestrebungen, nur einen Gott zu verehren, ohne deshalb die Existenz anderer prinzipiell zu leugnen. Der verheerende Blitze, aber auch fruchtbaren Regen sendende Donnergott Jahwe nimmt im Verlauf dieser Entwicklung, die mit dem Prozess fortschreitender staatlicher Konsolidierung Israels einhergeht, soziomorphe Gestalt und den Charakter eines königlichen Kriegers an, der die Vorherrschaft über die bewohnte Erde beansprucht. Wie in der gesamten Religionsgeschichte des Alten Orients war das Wesen Jahwes, des Gottes Israels, anfangs ganz durch Macht von sei es naturhafter, sei es sozialer Art bestimmt. Doch gewährte und garantierte Jahwe in der Innensphäre seiner Herrschaft auch Recht, an dessen Maß sich alles Menschliche zu bemessen hatte. War der Eindruck willkürlichen Beliebens, das sein naturhaftes Walten hinterließ, bereits durch das verlässliche Auftreten beständiger Tag-Nacht-Abfolgen und jahreszeitlicher Zyklen gemildert, so wurde er durch die Einsicht weiter eingeschränkt, dass die Königsherrschaft Jahwes unbeschadet ihrer kämpferischen Züge vor allem auf die Allmacht der Gerechtigkeit gerichtet war. Mögen der Blitz des Wettergottes und das Schwert des göttlichen Kriegers treffen, wen immer sie wollen: die Königsherrschaft Jahwes ist nicht nur machtvoll, sondern auch gerecht, und wenn der Gott Israels seinen Thron besteigt und sich kultisch verherrlichen lässt, dann vor allem um dem Recht zur Durchsetzung zu verhelfen und zu richten nach dem Maß seiner Gerechtigkeit. Es bedurfte des Ruins der Herrschaft Israels und des Untergangs der judäischen Dynastie, um in der jüdischen Theologie nicht nur der Lehre von der universalen Schöpferallmacht, sondern auch derjenigen von der allumfassenden Gerechtigkeit des einen Gottes bleibende Geltung zu verschaffen. Das Gottesvolk ist primär nicht deshalb erwählt, um sich durch naturhafte Stärke und soziale Macht auszuzeichnen, sondern um ein Beispiel zu geben göttlicher Gerechtigkeit unter den Menschenvölkern und aller Kreatur. Kurzum: der eine und allgewaltige Gott ist gerecht; naturhafte Stärke und soziale Macht sind aufgehobene Momente göttlicher Gerechtigkeit, wie die Tora sie offenbart. Israels Monotheismus ist Toramono-

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theismus. Der Glaube an die Einzigkeit Gottes und die Einheit der weltumspannend-universalen göttlichen Gerechtigkeit gehören zusammen. Sie machen das Eigentümliche der Religion Israels unter den Heidenvölkern aus, auf das sich Christentum und Islam je auf ihre Weise bezogen wissen. Man hat neuerdings gelegentlich ein Loblied auf den Polytheismus angestimmt und ihn als Vorläufer postmoderner Liberalität gepriesen, welche Differenz anzuerkennen vermöge, ohne sie einem Einheitszwang zu unterwerfen. Im Gegensatz dazu biete der Monotheismus ein Motiv zu religiöser Gewalttat, weil er in konstitutiver Weise auf Alternativen und auf Ausgrenzung angelegt sei. Dieses Urteil ist trotz gegebener Wahrheitsmomente aufs Ganze gesehen nicht nur anachronistisch, sondern auch sachlich falsch. Der Monotheismus ist unzweifelhaft ein Fortschritt in der Religions- und Geistesgeschichte der Menschheit, jedenfalls dann, wenn er, wie in Israel der Fall, den Gedanken der Einzigkeit Gottes mit demjenigen universaler Einheit göttlicher Gerechtigkeit verbindet, die aller Kreatur ihr Recht zukommen lässt und allein das willkürliche Belieben des Unrechts ausschließt. Bedarf es eines historischen Beweises für die Überlegenheit des Monotheismus gegenüber dem Polytheismus, so ist er nachgerade in Griechenland als dem Hort und der ursprünglichen Pflanzstätte europäischen Geistes zu suchen und zu finden. Wohl ist es wahr, dass der öffentliche Kult und die Frömmigkeit des Volkes in Athen und anderwärts in der hellenistischen Welt zu Zeiten von Paulus polytheistisch geprägt waren. Aber gerade die Gebildeten unter den hellenistischen Zeitgenossen des Apostels ließ der Polytheismus religiös und gedanklich unbefriedigt. Sie hielten sich daher statt an die überkommenen Formen der überlieferten Religion lieber an die Traditionen der Philosophie, die von Anbeginn den Grund von Selbst und Welt in absolut Einem suchte, weil alles Denken, das konsequent auf Letztbegründung zielt, den Gedanken des absolut Einen ausbilden muss. Der jüdische Monotheismus war für die intellektuell wendigen Geister der hellenistischen Zeit daher ungleich attraktiver als der überkommene Polytheismus. Die Anfänge der Philosophie im Griechenland des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts, um Denken des Einen auch dieses zu repetieren und erneutem Gedächtnis anzuempfehlen, vollziehen sich zwar unabhängig, aber in einer bemerkenswerten Parallele zur Entstehung des Monotheismus im exilischen und nachexilischen Judentum. Die sog. Vorsokratiker im Anschluss an Thales suchten das Wesen der Gottheit aus der Natur des Alls zu ergründen, mit deren internem Wirkprinzip sie es identifizierten. Als göttlich galt ihnen dasjenige, was die Natur naturiert und von innen heraus einheitlich gestaltet. Der Gedanke einer wesentlichen Naturtranszendenz der Gottheit war mit diesem Ansatz schwer zu verbinden. Das änderte sich grundlegend mit Sokrates: Für ihn hörte die Physik auf, philosophische Leitwissenschaft zu sein. An ihre Stelle trat die Ethik als eine praktisch orientierte Begriffsphilosophie. War die Naturphilosophie eine naturhafte Form des Denkens insofern, als sie sich unmittelbar dem Objekt ihres Begreifens hingab, führte Sokrates die Wissenschaft über ihr anfängliches Stadium der Selbstvergessenheit hinaus,

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indem er ihren Vollzug zum reflexen Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen machte. Die Wissenschaft wurde, wenn man so will, sich selbst gegenständlich. Das sokratische Denken gestaltete sich reflexiv, um einen geklärten Begriff seines Begreifens zu erlangen. Nicht länger fand Philosophie im Wissen der Natur Befriedigung; ihr Bedürfnis ging dahin, die Natur des Wissens zu ergründen. Dieses Bedürfnis wurde umso dringender, je konsequenter die Möglichkeit wahrhafter Wissenschaft von der sophistischen Skepsis in Zweifel gezogen wurde. In ihrer skeptischen Negation unmittelbarer Gewissheit von naturhaften Gegebenheiten übte die Sophistik eine Mittlerfunktion für den sokratischen Ansatz aus. Indes erschöpfte sich dieser nicht in sophistischem Zweifel, sofern er gewisses Wissen für nicht nur möglich, sondern für unbestreitbar erachtete. Zwar kann die sinnliche Wahrnehmung des naturhaft Gegebenen keine fundierte Gewissheit vermitteln, und auch das Sein der Natur ist nicht unmittelbar gewiss. Gewiss aber ist das Gute, und das Wissen von ihm kann nicht in Abrede gestellt werden. Theologisch hat dies für Sokrates zur Folge, dass Gott zum Inbegriff des Guten erklärt wird. Vom göttlichen Guten her ist schließlich auch der Natur ihr Zweck gesetzt, der in ihr selbst nicht unmittelbar zu finden ist. Gott als Inbegriff des Guten transzendiert alles natürlich Gegebene und kann auf bloß naturhafte Weise nicht begriffen werden. Die theologische Grundthese des Sokrates wird durch Platons Ideenlehre auf eine theoretisch erweiterte Basis gestellt, im Übrigen aber einschließlich ihrer impliziten Voraussetzung bestätigt, dass mit dem Bewusstsein des Guten auch ein Wissen von Gott als der Idee der Ideen gegeben ist. Theologie ist ein transnaturales, aber nichtsdestoweniger ein vernünftiges Geschäft, sofern die Idee Gottes als Inbegriff des Guten die Welt der Vernunftideen nicht negiert, sondern vollendet. Im Wissen des Guten ist die göttliche Vernunft zur Erkenntnis gebracht und eingesehen, was in Wahrheit Gott ist. Als höchste aller Ideen ist die Idee des Guten mit derjenigen Gottes identisch, und indem sie gedacht wird, ist mit ihr auch Gott als der Grund und Zweck allen Seins erkannt, sofern das Gute nichts anderes ist als die göttliche Vernunft und die göttliche Vernunft nichts anderes als das Gute. Die Idee Gottes als des höchsten Guts und Inbegriff alles Guten sprengt den Begriff der Vernunft nicht, sondern bezeichnet den Inbegriff ihres Seins. Daran hält auch Aristoteles fest. Nicht nur, dass der aristotelische Nous als oberste Weltursache mit dem Guten konvergiert; auch der Begriff des höchsten Guts als eines Denkens, das nur sich selbst zum Inhalt hat, bestätigt den rationalen Charakter der Theologie des Aristoteles, die nicht auf der Vernunft prinzipiell Transzendentes, sondern auf deren vernünftige Vollendung angelegt ist. Als Denken des Denkens ist Gott Inbegriff der Vernunfttätigkeit. Philosophie und Theologie kommen überein; göttliche Offenbarung und Selbsterkenntnis der Vernunft koinzidieren. Die christliche Theologie hat sich bei allen kritischen Vorbehalten gegenüber der griechischen Philosophie in der Regel konstruktiv an diese These angeschlossen. Platon wurde zum philosophischen Gewährsmann der Alten Kirche, Aristoteles zum Normalphilosophen mittelalterlicher Theologie.

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Auch der lukanische Paulus hat keine Berührungsängste mit der griechischen Philosophie seiner Zeit. Er redete, wie es in Apg 17,17f. heißt, nicht nur in den Synagogen mit Juden und Gottesfürchtigen, sondern auf dem Markt jeden Tag auch zu denen, die gerade zugegen waren, wobei er sich besonders auf Diskussionen mit epikureischen und stoischen Philosophen einließ. In seiner Areopagrede nimmt er sodann ausdrücklich eine Fülle von Gedanken und Motiven spätantiker Religionsphilosophie auf, die sich bereits in vorchristlicher Zeit auf mannigfache Weise mit alttestamentlichen und mit Gedanken zeitgenössischer jüdisch-hellenistischer Theologie verbunden hatten. Gott, dessen Geist das Universum lebendig durchwaltet und den Kosmos vernünftig ordnet, bedarf weder der Tempel noch kultischer Opfer und ist in menschlichen Bildern nicht zu fassen, weil er alles Endliche unendlich transzendiert. Als der unendliche Grund alles Seienden ist er zugleich, wie mit einem stoischen Dichterzitat eigens bekräftigt wird, der Ursprung der Menschen, die er dazu bestimmt hat, ihn zu suchen und zu finden, um im Bewusstsein göttlichen Geistes zu leben. Von Jesus wird in der Areopagrede lange nicht gesprochen. Erst am Ende fällt sein Name, und die Totenauferstehung und das Kommen des Weltenrichters zum Gericht werden angekündigt, was umgehend den Spott der Hörer hervorruft. Zumindest durch den Schluss seiner Athener Rede ist der lukanische Paulus mit demjenigen Paulus verbunden, den wir aus den Briefen kennen, so sehr sich der Areopagredner ansonsten von dem Verkündiger des gekreuzigten Messias-Christus unterscheidet, der den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit ist (1. Kor 1,23). Auch wenn in der Areopagrede des lukanischen Paulus primär von religio rationalis, vernünftiger Gotteserkenntnis und einer natürlichen Anlage des Menschen auf Gott hin die Rede ist und weniger vom „Wort vom Kreuz“ als dem Zentrum paulinischer Theologie, so lassen sich doch Anklänge an die paulinische theologia crucis und an die Sätze herauslesen, die der historische Paulus im 1. Korintherbrief möglicherweise im Rückblick auf Athener Erfahrungen geschrieben hat: „Ich bin, als ich zu euch kam, nicht so gekommen, dass ich euch kraft überschwänglicher Rede oder Weisheit das Zeugnis Gottes verkündigt hätte. Denn ich beschloß, nichts unter euch zu wissen als Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten. Und ich trat in Schwachheit und Furcht und mit großem Zagen unter euch auf, und meine Rede und meine Predigt ergingen nicht in überredenden Weisheitsworten, sondern in Erweisung von Geist und Kraft.“ (1. Kor 2,1–4) Aus Gründen der Kontrastierung sei rasch die Szene gewechselt und eine Rückblende von ei- Epikureer und Stoiker nem knappen halben Jahrtausend vorgenommen, um ein anfängliches Bild zu gewinnen von einer der beiden Philosophenschulen, mit denen es der lukanische Paulus in Athen speziell zu tun bekam, nämlich den Epikureern. Dem im 5. Jahrhundert (um 435) vor Christus in der Cyrenaika geborenen, in Athen wirkenden griechischen Philosophen Aristipp haben der Überlieferung zufolge Freunde einst drei Hetären zur freien Auswahl angeboten. Statt die gewünschte Wahl zu treffen, soll der weise Mann alle drei mit der

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Bemerkung in Empfang genommen haben, es sei bereits dem sagenhaften Paris nicht gut bekommen, einer von drei Göttinnen den Vorzug zu geben. Doch die eigentliche Pointe folgt erst: Denn zu Hause angekommen, so hört man, habe Aristipp das Trio, dem beizuwohnen er eigentlich geneigt war, mit besten Empfehlungen verabschiedet und unverrichteter Dinge ziehen lassen. Als Begründung soll er angegeben haben, dass ein wahrer Hedonist nur derjenige genannt zu werden verdiene, der Herr und nicht Knecht seiner Passionen sei. Wahrer Genuss und lustvolle Freude von Dauer ließen sich nur realisieren, wenn man seinen Leidenschaften nicht triebhaft Folge leiste, sondern sie bewusst sublimiere, um einen kunstfertigen Umgang mit ihnen zu pflegen. Ein wahrer Hedonist, so Aristipp, ist kein Lüstling, der eilfertig von Begierde zu Genuss jagt, um im Genuss sofort nach erneuter Begierde zu schmachten; er ist vielmehr auf einen humanen Endzweck ausgerichtet, der in individueller Heiterkeit sich erfüllt und dabei auch das Ziel allgemeiner Erheiterung im Blick behält. Man hat den Cyrenaiker Aristipp gelegentlich einen Vorläufer Epikurs genannt, der 306 v.Chr. in einem Garten Athens eine eigene Philosophenschule eröffnete. Richtig daran ist, dass auch Epikur die sokratische Frage nach dem Guten mit Verweis auf die Freude und mit der Feststellung beantwortete, alles, was gut zu nennen sei, habe als Mittel zur Realisierung des freudigen Endzwecks zu dienen. Dabei hat er, ohne sinnliche Bedürfnisse zu vernachlässigen, noch weitaus stärker als der Hedoniker Aristipp den geistigen Charakter wahrer Freude hervorgehoben. Während Leidenschaft und üppiger Sinnengenuss den inneren Frieden zerstörten, sei die unerschütterliche Seelenruhe der Ataraxie nur durch Tugend zu erreichen, die sich in Gelassenheit, notfalls auch im Verzicht übe, um dauerhaft glückselig zu sein. Das Ideal der Ataraxie gibt nur wenig Anlass zu der Vermutung, die Schüler des Epikurs seien jene reinen Genussmenschen gewesen, als die sie insbesondere dem christlichen Mittelalter galten. Luther sprach in gewohnter Derbheit gerne von den Schweinen aus der Herde des Epikur. Doch bieten die Vertreter des genuinen Epikureismus für dieses Verdikt kaum einen Anhalt. Noch weitaus weniger trifft es auf die Stoiker zu, die das Ataraxieideal zum Ideal der Apathie steigerten. Gemeint ist damit jene sprichwörtlich gewordene stoische Seelenruhe, die ganz in sich gründet und durch keine äußeren Eindrücke – und seien sie von noch so schmerzlicher Art – zu tangieren ist. Der Stoizismus bildete neben dem Epikureismus sowie der platonischen Akademie und der aristotelischen Gemeinschaft der Peripatetiker die vierte der großen Schulen, die bis ins erste christliche Jahrhundert hinein die philosophische Szene bestimmten. Seinen Schulnamen verdankt der Stoizismus der Stoa Poikile, einer bunten Halle an der Nordseite des Marktes von Athen, die mit Wandgemälden aus der attischen Geschichte und Sagenüberlieferung ausgestaltet war. Dort lehrte um die Wende vom vierten zum dritten vorchristlichen Jahrhundert Zenon, der das stoische Lehrsystem in Grundzügen entwickelte. Im Detail entfaltet hat es später vor allem Chrysipp. Namentlich durch Cicero wurde der Stoizismus und sein Humanitätsideal sodann der römischen Welt vermittelt, um entscheidenden Ein-

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fluss zu nehmen auf die Denkungsart der damaligen Gebildeten. Die bedeutendsten Stoiker der römischen Kaiserzeit vor Marc Aurel, dem Philosophen auf dem Kaiserthron, waren Seneca und Epiktet, deren Lebensweisheit auch unter Christen viel Anklang fand. Stoiker und Epikurer waren die Repräsentanten der beiden in der römischen Kaiserzeit beliebtesten Philosophenschulen. In der interessierten Öffentlichkeit hatten sie einen hohen Bekanntheitsgrad. Wenn Lukas den Apostel Paulus daher gerade mit ihnen in eine Diskussion eintreten lässt, geschieht dies nicht ohne programmatische Absicht. Typisch ist auch, dass die Debatte auf dem Athener Marktplatz, der Agora, stattfindet. Zwar war, wie gesagt, Athen zu Zeiten des Paulus eine eher beschauliche Kleinstadt mit kaum mehr als 5000 Bürgern. Aber es lebte von seiner großen Vergangenheit und zog schon in der Antike zahlreiche philhellenische Bildungstouristen an. Auch offiziell galt Athen im römischen Reich trotz seiner äußeren Dürftigkeit als eine privilegierte Stadt. Für das Verständnis der Absicht, die Lukas mit dem Athener Philosophendiskurs des Paulus verbindet, ist all dies von zentraler Bedeutung. Das Christentum scheut die Begegnung mit dem gebildeten Publikum nicht, sondern sucht sie in offensiver Weise. Das Evangelium will öffentlich werden und nicht im Geheimen bleiben. Es zeugt von keiner mysteriösen Angelegenheit, über die sich nur hinter vorgehaltener Hand tuscheln und raunen ließe, sondern von einem offenbaren Geheimnis, das das Licht der Vernunft nicht scheut. Dies wird durch den Athener Auftritt des Paulus, wie die lukanische Apostelgeschichte ihn schildert, eigens bestätigt. Doch zeigt sich auch, dass das im auferstandenen Gekreuzigten offenbare Geheimnis Gottes der Weisheit der Welt verborgen bleibt, ja mehr noch: dass sich die Weisen der Welt die Einsicht in das göttliche Mysterium Jesu Christi durch ihre Weltweisheit förmlich verstellen. Die einen, gemeint sind wohl die Epikureer, schimpfen Paulus mit einem athenischen Spottwort einen spermologos, einen Körnerpicker, der nichts auf die Reihe bekommt und als Fasler und ausgemachter Schwätzer zu gelten hat. Die anderen, wahrscheinlich die Stoiker, erkennen nach Lukas zwar, dass Paulus eine religiöse Botschaft verkündigen will. Sie begreifen aber nicht, wovon die Rede ist, und halten die anastasis, die Paulus verkündet, für eine neben Jesus stehende Göttin, weil sie mit dem Wort von der Auferstehung des Gekreuzigten nichts anzufangen wissen. Ihre Ignoranz hindert die Diskutanten des Paulus indes nicht, den Apostel zum Areopag, dem westlich der Akropolis gelegenenen Areshügel zu schleppen, damit er sich verteidige und genauer erkläre, was das für eine neue Lehre sei, die er vortrage. „Du bringst uns“, sagen sie, „recht befremdliche Dinge zu Gehör. Wir wüssten gerne, worum es sich handelt.“ (Apg 17,20) Die lukanische Apostelgeschichte kommentiert dies mit dem Hinweis, alle Athener und dortigen Fremden täten nichts lieber als die jüngsten Neuigkeiten zu erzählen und zu hören. Der lukanische Paulus verweigert sich der Athener Neugierde nicht, die charakteristisch ist für den gesamten hellenistischen Zeitgeist; er greift sie vielmehr auf und bezieht in seiner Areopagrede die christliche Botschaft bewusst auf das Gedan-

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kengut zeitgenössischer Philosophie, um es in konstruktiver Kritik auf die Erscheinung des erstandenen Gekreuzigten hin umzubilden und eine Konversion herbeizuführen, die wirklich Neues zur Erkenntnis bringt. Zwar wenige nur, aber immerhin einige Athener ließen sich vom Evangelium Jesu Christi begeistern. Aus Überlieferungsbeständen und möglichen Quellenvorlagen wusste Lukas, dass in Athen zu apostolischen Zeiten keine größere Christengemeinde entstand, wohl aber Einzelne sich zu Christus und dem Christentum bekannten. Entsprechend heißt es in Apg 17,34 nach Abschluss der Areopagrede des Paulus: „Einige aber schlossen sich ihm an und wurden gläubig, unter ihnen auch Dionysius, der Areopagit, außerdem eine Frau namens Damaris und noch andere mit ihnen.“ Unter dem Namen des Dionysius, als Mitglied des Areopags offenbar eine hochgestellte Persönlichkeit, verfasste später ein unbekannter Autor eine Gruppe von Schriften, in der Neuplatonismus und Christentum zu einer Einheit verschmolzen wurden. Obzwar das frühestens gegen Ende des 5. Jahrhunderts entstandene Corpus Dionysiacum weder vom historischen Areopagiten stammt noch ohne weiteres mit paulinischer Theologie vereinbar ist, darf es doch als eines unter vielen Zeugnissen dafür gelten, welche großen Folgewirkungen aus den ersten Begegnungen der christlichen Botschaft mit dem griechischen Geist hervorgingen. Jerusalem und Athen gehören bei allen UnterTheorie der Gerechtigkeit schieden zusammen und stellen im Christentum eine differenzierte Einheit dar. Dies zeigt sich auch bei dem schwierigen Thema göttlicher Gerechtigkeit, welches nicht nur den Skopus der Religions- und Theologiegeschichte Israels und ein Zentrum der Theoriebildung griechisch-römischer Antike bildet, sondern als Leitthema der Theologie wenn vielleicht auch nicht des lukanischen Paulus, so doch des Apostels zu gelten hat, wie sie aus seinen Briefen bekannt ist. Der römische Jurist Domitius Ulpianus (170–228 n.Chr.), der unter Kaiser Severus maßgeblichen Einfluss auf die Leitung des Staates gewann, hat dem Wesen der Gerechtigkeit mit der Wendung „Suum cuique tribuere“ bündigen Ausdruck verliehen. Jedem das Seine zuzuteilen, ist gerecht. „Iustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi.“ In dieser Form hat Ulpians Grundsatz in die seit 1583 Corpus iuris civilis genannte Sammlung des römischen Rechts von Kaiser Justinian I. Eingang gefunden. Ulpians Definition der Gerechtigkeit, derzufolge jedem nach Maßgabe gesetzlicher Gleichbehandlung dasjenige zuzuerkennen ist, was er verdient, begegnet analog bereits bei Aristoteles. Dieser hatte im Anschluss an Platon die Gerechtigkeit zur höchsten aller Tugenden erklärt. In der Gerechtigkeit liegt jede Tugend insofern beschlossen, als sie nicht nur dem Gerechten selbst, sondern jedermann zum Vorteil gereicht. Der Vorzug der Tugend der Gerechtigkeit liegt in ihrer Universalisierbarkeit begründet, welche die Besonderheit des Individuellen mit universaler Allgemeinheit zusammenschließt und vereint. Gerechtigkeit als Inbegriff des Tugendhaften ist ein Beziehungsbegriff, der zwischen dem Einen und dem Anderen vermittelt und das Verschiedene als Verschiedenes vereint. Die Formgestalt der in

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der Tugend der Gerechtigkeit inbegriffenen Relation ist das Gesetz im Sinne der später so genannten lex naturalis, welche das Tun des Gerechten und das Unterlassen des Ungerechten gebietet. Als lex naturalis ist das gerechte Gesetz, das mit der Tugend der Gerechtigkeit koinzidiert, aller positiven Gesetzgebung vorausgesetzt. Obwohl Inbegriff aller Einzeltugenden, kann sich die Tugend der Gerechtigkeit nicht unmittelbar als iustitia universalis, sondern stets nur auf die je und je besondere Weise der iustitia particularis realisieren. Als Generaltugend hat sie daher zugleich Einzeltugend zu sein. Die eigentümliche Vermittlung von tugendhafter Allgemeinheit und Besonderheit, wie sie der Gerechtigkeit entspricht, wird nach Maßgabe des Grundsatzes der Gleichheit geleistet. Es ist das Wesen der Gerechtigkeit, jeden gleich zu behandeln. Dies geschieht dadurch, dass jedem just dasjenige zugeteilt wird, was ihm als das Seinige zukommt. Die Grundform gerechter Gleichbehandlung ist entsprechend die iustitia distributiva, der die iustitia directiva insofern korrespondiert, als sie gerechte Verbindlichkeiten entweder vertraglich festschreibt oder rechtlich einklagt, um durch Ungerechtigkeit bedingte Missverhältnisse in Form von Bestrafung oder durch vergleichbare Maßnahmen zu beseitigen und den ursprünglichen Stand der Gerechtigkeit wiederherzustellen. Austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit bilden so einen differenzierten Zusammenhang, wie er den proportionalen Regeln gemäß ist, nach denen das Gerechte geordnet ist. Detailliert entfaltet hat Aristoteles sein Konzept der Gerechtigkeit und ihrer Arten in seiner Nikomachischen Ethik. Bestimmend für die in der Tradition lateinischer Schulphilosophie iustitia universalis sive legalis genannte ganze und vollkommene Tugend der Gerechtigkeit ist das Gesetz der Alterität: „iustitia semper est ad alterum.“ Ihrer allgemeinen Bestimmung als Tugend schlechthin entspricht die Einzeltugend der Gerechtigkeit in Form der iustitia distributiva und der iustitia directiva. Die iustitia distributiva bemisst sich am Maßstab geometrischer Proportionalität, um nach Berechtigung, Anspruch und Würde jedem zuzuteilen, was das Seine ist. Die iustitia directiva schafft Ausgleich nach Maßgabe arithmetischer Proportionalität entweder in Form austauschender (iustitia commutativa) oder wiederherstellender bzw. korrektiver Gerechtigkeit (iustitia regulativa sive correctiva). Die iustitia commutativa gleicht unterschiedliche Bedürfnisse, die iustitia regulativa sive correctiva bestehende Ungerechtigkeiten aus, um den durch Unrecht verletzten Status der Gerechtigkeit und ihrer Ordnung zu restituieren. Die Basis der Konzeption bildet der Grundsatz, wonach die Tugend der Gerechtigkeit jedem nach dem gesetzlichen Prinzip der Gleichheit das Seine gibt. Entsprechend lautet die berühmte Gerechtigkeitsdefinition in der Aristotelischen Rhetorik (A, 1366b 9–11): „Die Gerechtigkeit ist eine Tugend, durch die jeder das Seine erhält und wie das Gesetz es angibt. Ungerechtigkeit hingegen ist dasjenige, wodurch einer fremdes Gut erhält und nicht nach dem Gesetz.“ Der Begriff der Gerechtigkeit als des beständigen und festen Willens, jedem das Seine zuteil werden zu lassen, findet sich nicht nur in der griechischen Philosophie und in der Tradition des römischen Rechts, sondern ist der Sache nach auch in der

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jüdisch-christlichen Überlieferung unschwer zu identifizieren, und zwar gerade in theologischer Hinsicht. Gott ist gerecht, indem er jedem das Seine zuteilt, und einen Ausgleich schafft von der Art, dass Tun und Ergehen in einem proportionalen Verhältnis stehen. Hingegen ist es dem gerechten Wesen Gottes zuwider, die Differenz von Gut und Böse zu nivellieren oder gar zu vergleichgültigen dadurch, dass er die Untat des Bösen gut sein lässt. Wer Gottes Willen gehorcht und nach seinen Geboten handelt, dem wird es wenn möglicherweise auch nicht sogleich, so doch zuletzt wohlergehen, wohingegen sich der Übeltäter durch seine Untat selbst den Untergang bereitet und im göttlichen Gericht der gerechten Strafe verfällt. Es entspricht dem Wesen der Gerechtigkeit Gottes, nach Maßgabe seines gerechten Gesetzes dem Gerechten Recht zu geben in Gestalt verdienten Lohns und den Ungerechten zu richten und derjenigen Strafe zuzuführen, die ihm gebührt. Man wird schwerlich leugnen können, dass dieser Begriff göttlicher Gerechtigkeit im biblischen Zeugnis fest begründet ist, auch wenn der Befund nicht nur in Bezug auf das Neue, sondern auch in Bezug auf das sog. Alte Testament als der Bibel Israels differenzierungsbedürftig ist. Der alttestamentliche Begriff der Gerechtigkeit Proportionalität von Tun und Gottes ist mit dem in der griechischen und lateiErgehen nischen Antike entwickelten Gerechtigkeitsbegriff zwar keineswegs einfachhin gleichzusetzen, aber gerade unter dem Aspekt einer Proportionalität von Tun und Ergehen zumindest vergleichbar. Lässt sich, wie im Folgenden ansatzweise versucht, ein Erweis dieser Annahme erbringen, dann stellt sich die Frage nur umso dringlicher, wie das Evangelium von der Rechtfertigung des gottlosen und gesetzeswidrigen Sünders zu beurteilen ist, das der Apostel Paulus verkündet. Ist dieses Evangelium gerecht und theologisch zu rechtfertigen? Kann im Ernst von einer göttlichen Gerechtigkeit die Rede sein, die um Jesu Christi willen denjenigen ins Recht setzt, der im Unrecht ist, um so die Rechtfertigung des Sünders zu bewirken? Ist diese Rede im Sinne dessen, auf den sie sich beruft? Können Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu als Begründung dafür angesehen werden, dass Gott den Sünder rechtfertigt? In Fragen dieser Art deuten sich historische und theologische Probleme an, die auf die Gesamtthematik nicht nur dieses, sondern auch des Folgebandes der Reihe zum Studium Systematischer Theologie vorausweisen, der dem pneumatologischen Prozess altkirchlicher Lehrentwicklung gewidmet ist. Man löst die angedeuteten Probleme nicht dadurch, dass man den Gedanken zuteilender Gerechtigkeit als unbiblisch verwirft und den biblischen Begriff der iustitia dei wie selbstverständlich von demjenigen der iustitia distributiva abhebt. Zwar ist es in Teilen insbesondere der alttestamentlichen Exegese üblich geworden, das hebräische Verständnis der Gottesgerechtigkeit mit Wendungen wie Erwählungs- und Gemeinschaftstreue zu umschreiben und es dem angeblich paganen Prinzip vergeltender Gerechtigkeit zu kontrastieren, indem sich der Grundsatz allgemeiner Gleichbehandlung Geltung verschafft. Eine Reihe von Neutestamentlern hat sich diese Sicht zu eigen gemacht. Danach ist das Verständnis der Gerechtigkeit Gottes als

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vergeltende Gerechtigkeit eine Fehlinterpretation nicht nur des paulinischen, sondern des biblischen Begriffs der Gottesgerechtigkeit überhaupt. Ausgebildet habe sich diese Fehlinterpretation erst im Denkhorizont griechisch-römischer Tradition, wie er seit der Alten Kirche für die christliche Theologie üblich geworden sei. Erst die interpretatio Graeca habe dazu geführt, das talio-Prinzip zum Zentrum alttestamentlicher Gerechtigkeitstheologie und den sog. Tun-Ergehen-Zusammenhang im Sinne des Grundsatzes proportionaler Vergeltung zu erklären. Es trifft zu und lässt sich nicht leugnen, dass das alttestamentliche Zeugnis von der Gerechtigkeit Gottes in hohem Maße differenziert und mit dem Begriff der Vergeltung nicht hinreichend zu umschreiben ist. Gleichwohl ist das distributive Element, wonach jedem gemäß dem Grundsatz der Gleichbehandlung das Seine zuzuteilen ist, konstitutiver Bestandteil der Gerechtigkeitstheologie des Alten Testaments, die sich zumindest darin mit Theorien der Gerechtigkeit berührt, wie sie in der antiken Philosophie begegnen und bestimmend geworden sind für den rationalen Rechtsdiskurs der abendländischen Tradition. Spätestens in der Zeit des Exils und in der nachexilischen Periode der Geschichte Israels, in der sich das religiöse Judentum formierte, hat sich unter den Frommen die feste Überzeugung ausgebildet, dass der eine Gott und Schöpfer aller Dinge gerecht ist und alle seine Macht daran setzt, dem Recht zur Durchsetzung zu verhelfen, den Unrecht Leidenden aufzurichten und denjenigen, der sich das frevlerische Recht herausnimmt, Unrecht zu tun, in Schranken zu weisen. Um seiner Gerechtigkeit willen, die er in der Schöpfung zur Herrschaft zu bringen gedenkt, lässt Gott das Böse nicht gut sein. Wie der Begriff göttlicher Schöpferallmacht und Herrschaft ist auch derjenige der Gerechtigkeit Gottes ein Beziehungsbegriff, der durch das Verhältnis bestimmt ist, in das sich Gott gemäß seiner Gottheit zu Mensch und Welt gesetzt hat. Dabei eignet dem von Gott dem Schöpfer zu Menschheit und Welt gesetzten Verhältnis selbst normativer Charakter. Sei ein gottunterschiedener Mensch unter Mitmenschen in einer gemeinsam gegebenen Welt: so lautet das göttliche Schöpfungsgebot, welches die Ordnung der Schöpfung ihrer inneren Norm gemäß expliziert. Der Schöpfungsordnung zu entsprechen ist die Bestimmung aller Kreatur, die im Falle des Menschen auf verständige und willentliche Weise zu verwirklichen ist. Gerecht ist der Mensch, wenn er mit Verstand und Willen den Ansprüchen entspricht, welche mit dem schöpfungstheologischen Grundverhältnis gesetzt sind, durch welches Gott die Gottesbeziehung, die Selbstbeziehung und die Beziehung des Menschen zum Mitmenschen und zur kreatürlichen Welt insgesamt geordnet hat. Das Unwesen der Sünde hingegen ist durch die Verkehrung des durch das Schöpferwirken des gerechten Gottes gesetzten Beziehungszusammenhangs gekennzeichnet. Die Sünde entspricht der gerechten Herrschaftsordnung des allmächtigen Schöpfers nicht nur nicht, sondern widerspricht ihr. Deshalb wird sie durch Gottes Gerechtigkeit gerichtet. Der Begriff der Gerechtigkeit Gottes, von der das Alte Testament kündet und auf welche die alttestamentlichen Frommen ihr gläubiges Vertrauen richten, ist mit

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demjenigen göttlichen Gerichts unlöslich verbunden. Dass die Annahme einer richtenden Gerechtigkeit Gottes der israelitisch-jüdischen Tradition ursprünglich fremd und wesentlich auf heidnische Einflüsse zurückzuführen sei, lässt sich nicht ernsthaft behaupten. Zwar ist es wahr, dass die göttliche Gerechtigkeit in ihrer genuinen Intention, die in Gottes Gottheit selbst ihre Ursache hat, nicht auf Strafe ausgerichtet ist. Aber in Bezug auf die Verkehrtheit der Sünde nimmt sie aus Gründen, die ihr nicht äußerlich sind, sondern mit innerer Notwendigkeit zugehören, die Form richtender Strafgerechtigkeit an. Weit davon entfernt, die Differenz von Gut und Böse zu vergleichgültigen, verschafft sich die göttliche Gerechtigkeit nachgerade dadurch Geltung, dass sie die Sünde straft. Vergeltung hat insofern durchaus als ein Bestimmungsmoment, wenn auch nicht als das Ganze des alttestamentlichen Begriffes der Gerechtigkeit Gottes zu gelten. Gottes richterliches Walten ist entschieden von der Art, dass er nach gerechtem Maß ein proportionales Verhältnis von Gesetzestreue und Lohn bzw. Gesetzeswidrigkeit und Strafe in Anschlag bringt. Anders ist der Sinn der im Einzelnen zwar differenzierungsbedürftigen, aber im Grundsatz zutreffenden Rede vom alttestamentlichen Tun-Ergehen-Zusammenhang gar nicht zu fassen. Daran ändert sich auch unter der Voraussetzung vollzogener Eschatologisierung alttestamentlicher Gerechtigkeitstheologie prinzipiell nichts. Es ist im Gegenteil so, dass die konsequente Endzeitorientierung, wie sie in der apokalyptischen Tradition statthat, wesentlich durch das religiöse Interesse bedingt ist, an der Gewissheit ausgleichender göttlicher Gerechtigkeit auch unter widrigsten Erfahrungsumständen festhalten zu können. Mag die aktuelle Wirklichkeit der Gerechtigkeit Gottes noch so sehr Hohn sprechen, zuletzt und am Ende wird sie sich durchsetzen und vollendete Realität annehmen. Gott wird richten nach Maß seiner Gerechtigkeit, die Gerechten rechtfertigen, an den Ungerechten aber die Konsequenzen ihrer Ungerechtigkeit zur Auswirkung kommen lassen. Zwar ist dem Alten Testament der Gedanke keineswegs fremd, dass Gott allgemeines Heil bezweckt und seine Gerechtigkeit ganz in den Dienst folgerichtiger Realisierung dieses Zwecks stellt. Gleichwohl bleibt es dabei, dass die Verwirklichung universalen Heilswillens Gottes ohne gerechtes Gericht über den Sünder und die ungerechten Folgen seiner Verkehrtheit theologisch nicht denkbar ist, weil sie andernfalls die Differenz zwischen Gut und Böse egalisieren würde. Auch die heilbringende Gerechtigkeit Gottes muss daher stets und notwendigerweise als richtende vorgestellt werden. Gerechtes Heil und Gericht lassen sich nicht trennen, wenn die Gerechtigkeit, wie es ihre göttliche Bestimmung ist, dem Recht dienen und denen, die im Recht sind, zu eben diesem ihrem Recht verhelfen soll. Gottes Gerechtigkeit gibt dem recht, der im Richtende Gerechtigkeit Recht ist, und richtet sich gegen die, die nicht recht haben, sondern das Recht und die Gerechten missachten und ihnen Gewalt antun. Gottes rechtfertigende Gerechtigkeit verschafft den rechtlosen Gerechten Recht und straft die Ungerechtigkeit derer, die

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tun, als hätten sie ein Recht zu ihrer Bosheit. Nicht so, als würde Gott nach Art eines fatalen Geschicks Heil oder Unheil auf willkürliche Weise verteilen; Heil und Unheil bemessen sich vielmehr allein an Entsprechung bzw. Widerspruch zu jenem geschöpflichen Beziehungszusammenhang, den Gott nach Maßgabe seiner Gerechtigkeit gesetzt und dessen Ordnung er in seinen Geboten zur Sprache gebracht hat. Kurzum und summa summarum: Zwar ist der alttestamentliche Begriff der Gerechtigkeit mit dem Vergeltungsbegriff keineswegs hinreichend erfasst; dennoch enthält er ein distributives Element in sich und zwar auf konstitutive Weise. Die Unveräußerlichkeit dieses Elements wird weder durch das Bewusstsein der jüdischen Frommen, selbst der Vergebung bedürftig zu sein, noch durch den Gedanken der Erwählung Israels in Abrede gestellt, der mit dem alttestamentlichen Begriff der Gottesgerechtigkeit untrennbar verbunden ist. Trotz ihrer Hochschätzung des gerechten und richtenden Gottes war den Frommen Israels die Diskrepanz durchaus bewusst, die zwischen dem Verhalten des Volkes bzw. einzelner seiner Glieder und den Geboten göttlicher Gerechtigkeit bestand. Die gläubige Gewissheit vergeltender Strafgerechtigkeit Gottes ist im Alten Testament mit dem Bewusstsein der Sünde durchweg aufs engste verbunden. Nicht Selbstgerechtigkeit ist das Kennzeichen des alttestamentlichen Gerechten, sondern die Einsicht, dass er beständiger Vergebung bedarf, um in Gottes Gericht bestehen zu können. Ohne Sündenvergebung gibt es keine Gerechtigkeit vor Gott. Der alttestamentliche Gerechte sucht daher seine Gerechtigkeit keineswegs unmittelbar bei sich selbst und in der Fehllosigkeit seines Verhaltens, sondern stellt sie Gott anheim, um sein Recht allein ihm anzuvertrauen. Erkenntnis und Bekenntnis der Sünde sind konstitutive Elemente der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und gehören wesentlich zum rechten Gottesverhältnis des Menschen hinzu. Insofern ist der theologische Gedanke der Rechtfertigung des Sünders dem Alten Testament nicht fremd und mit dem Begriff der richtenden und vergeltenden Gerechtigkeit Gottes durchaus verbunden. Ist dieser Begriff doch umfangen von der Verheißung göttlicher Erwählung und der Gewissheit einer Gotteskindschaft, die im Glauben an die Vaterschaft Gottes gründet. Erst unter diesen Rahmenbedingungen gewinnt der alttestamentliche Gedanke richtender göttlicher Gerechtigkeit jene Konkretheit, ohne die er als abstrakt zu beurteilen wäre. Zwar realisiert sich das Heil nicht anders als durch die richtende Gerechtigkeit Gottes, die dem Recht gegen das Unrecht zur Durchsetzung verhilft. Aber gerade deshalb kann die Rechtfertigung des Gerechten nicht anders erfolgen als dadurch, dass er sich selbst unter die richtende Gerechtigkeit Gottes beugt und, statt auf seiner Sünde zu insistieren, sich zu ihrer Schuld bekennt und um ihre Vergebung bittet. Die Gerechtigkeit des Gerechten besteht primär nicht in ihm selbst, sondern im gläubigen Vertrauen auf Gott und seine Verheißungen, von denen die Zusage der Sündenvergebung die wichtigste ist. Diese Einsicht gehört zum Ureigensten des alttestamentlichen Zeugnisses. Recht und richtig ist das Gottesverhältnis des Gerechten, weil er auf Gott und nicht etwa auf sich und seine Gerechtigkeit und vermeintliche Sündlosigkeit vertraut. Dass dem Gerechten sein Glaube zur

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Gerechtigkeit angerechnet wird, ist daher durchaus im Sinne des Alten Testaments gesagt. Die Gerechtigkeit des alttestamentlichen GeRechtfertigende Gerechtigkeit rechten besteht primär in seinem gläubigen Vertrauen auf Gott. Im Grunde seiner selbst ein Sünder wie jeder andere ist er Gott recht, weil und sofern er sich ganz auf Gott verlässt, der Verheißung göttlicher Sündenvergebung vertraut und sein Recht allein dem göttlichen Gericht anheim stellt, das ihm gegen alle Ungerechtigkeit und Rechtswidrigkeit Geltung verschaffen und zur Durchsetzung verhelfen wird wider die Feinde. Noch einmal: Der Grundsatz, dass Gott den Glauben zur Gerechtigkeit anrechnet, hat im Alten Testament nicht nur einen äußeren Anhalt, sondern ist in seinem Innersten begründet. Auch lässt sich nicht behaupten, dass dieser Grundsatz im Judentum jemals prinzipiell bestritten wurde. Der Vorwurf, die jüdische Religion ziele auf gesetzliche Selbstrechtfertigung, ist nicht nur pauschal, sondern unrichtig. Zwar kann es nach jüdischem Verständnis Gerechtigkeit vor Gott ohne Toragehorsam nicht geben. Doch das Recht der Tora ist nicht auf Selbstrechtfertigung der Söhne und Töchter Israels, sondern darauf ausgerichtet, dass sie ihrer Erwählung zur Gotteskindschaft und der Verheißung entsprechen, die in dieser Erwählung begründet liegt. Als Grundordnung seiner religiösen Verfassung weist die Tora das Volk Israel in den Bund ein, den Gott mit ihm aus der Zuwendung seiner göttlichen Liebe heraus geschlossen hat. Dabei sind die im Dekalog konzentrierten Bestimmungen mit Anweisungen über priesterliche Opfervollzüge etc. nicht deshalb verbunden, weil Gott ihrer bedürfte, sondern weil sie das Angebot möglicher Versöhnung auch bei Übertretung des göttlichen Gebotes enthalten. Weil sie im Rahmen der Erwählungszusage erfolgen, bleiben die Forderungen der Tora mit der Verheißung möglicher Sündenvergebung direkt verbunden. Die Zusage der göttlichen Rechtfertigung für den Sünder, welcher der Verheißung Gottes glaubt und auf sein Erbarmen vertraut, lässt sich nicht nur an den Rändern des Alten Testaments finden, sondern steht in seiner Mitte. Bleibt zu fragen, woher Israel und die einzelnen jüdischen Frommen die Gewissheit nahmen, dass ihnen die richtende Gerechtigkeit Gottes trotz ihrer Verfehlungen zum Heile gereichen werde. Diese Frage wird in der Regel mit dem Hinweis auf den Erwählungsgedanken begründet. Die Gewissheit der Errettung im Gericht ergebe sich aus dem Gedanken freier, allein im Willen Gottes gegründeter, zwar jeden Rechtsanspruch auf eine göttliche Pflicht ausschließender, aber die Rechtfertigung des Sünders umfassender Erwählung des Gottesvolkes und seiner Glieder. Doch bedarf diese Antwort einer Differenzierung, um nicht mit der Annahme universaler Gerechtigkeit des einen Gottes zu kollidieren, der als Gott Israels der Gott aller Menschen und Schöpfer Himmels und der Erden ist. Gerät der Erwählungsgedanke in Opposition zu dem Gedanken der Allgemeinverbindlichkeit der Tora, die universalen Gesetzesgehorsam fordert und Rechtfertigung nur unter seiner Bedingung verheißt, dann stellt er die Annahme göttlicher Gerechtigkeit selbst in Frage und setzt diese dem Verdacht willkürlichen Beliebens aus.

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Der Begriff der Erwählung leitet sich im Deutschen wie im Hebräischen von demjenigen des Wählens ab und bezeichnet den Vollzug bzw. das Resultat einer willentlichen, zielbewussten Wahl, die in der Regel mit der Vorstellung sondernder Auswahl verbunden ist. Wer oder was erwählt ist, nimmt wegen seiner Erwählung üblicherweise eine Sonderstellung ein. Im theologischen Sprachgebrauch ist Subjekt der Erwählung primär, wenn nicht ausschließlich Gott. So hat Gott nach alttestamentlichem Zeugnis Israel als sein Volk und innerhalb des Volkes Israels Einzelne in spezifischer Weise erwählt. Diese Wahl und die mit ihr verbundene Aussonderung erfolgte allein aufgrund göttlichen Ratschlusses und nicht aus Gründen, die dem Willen Gottes vorgegeben waren und die Freiheit seines Entschlusses einschränkten. Gleichwohl ist die göttliche Erwählung von willkürlichem Belieben kategorial zu unterscheiden. Dies wird u.a. daraus ersichtlich, dass die göttliche Erwählung des Volkes Israels nicht die Kontingenz seiner ethnischen Natur mit höheren Weihen versieht oder den sozialen Status sanktioniert, den es als Gemeinwesen unter den Völkern einnimmt. Israels Erwählung gründet zwar allein in der Freiheit göttlichen Willens, zielt aber zugleich auf einen notwendigen Dienst, den das erwählte Volk unter den Völkern zu verrichten hat, um die allgemeine Relevanz seiner besonderen Bedeutung zu erweisen. Der Dienst Israels, der als notwendige Konsequenz seiner Erwählung zugehört und seine spezifische Berufung ausmacht, besteht im Zeugnis der universalen Gerechtigkeit Gottes, die es in Wort und Tat zu bekennen gilt. Als erwählter Knecht seines Herrn ist Israel dazu berufen, der Gerechtigkeit Gottes dienlich zu sein, wie sie sich in der Tora manifestiert. Gottes Erwählungszusage und sein Anspruch auf Gesetzesgehorsam koinzidieren und sollen nach Gottes Willen vom Volk Israel als ein Zusammenhang wahrgenommen werden. Wo dies nicht geschieht, sind die Erwählten Gottes gegen göttliche Verwerfung nicht gefeit. Spätestens in der Exilszeit ist diese Einsicht herangereift, um des Weiteren die jüdische Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte wesentlich zu bestimmen. Die Universalität der Sendung, zu der sich das nachexilische Judentum berufen wusste, hängt mit dieser Einsicht aufs engste zusammen. Israels Erwählung ist auf das Heil der ganzen Menschheit bezogen, und die Besonderheit des Dienst der Erwählung Gottesvolkes besteht nachgerade darin, dem humanen Allgemeinen durch gehorsames Zeugnis von Gottes Gerechtigkeit zu dienen. Jahwe, der Israels zu seinem Volk erwählt hat, ist weder ein Naturgott unter anderen Naturgöttern, noch bloße Schutzgottheit einer Nation, sondern der Eine, der Himmel und Erde erschaffen hat, um seine Schöpfung in universaler Schöpferallmacht nach Maßgabe seiner Gerechtigkeit zu regieren, die er in der Tora offenbart hat. An ihr hat sich das Volk Israel auszurichten, um ein Beispiel zu geben vor den Völkern. Israel ist erwählt, um Menschheit und Welt die Wahrheit der universalen Gerechtigkeit des einen Gottes zu bezeugen, wie sie in der Tora manifest ist. Wie Gottes Gerechtigkeit zielt auch Gottes Gesetz auf allgemeine Verbindlichkeit. Es liegt daher durchaus in der Konsequenz der Sendung Israels, wenn im Frühju-

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dentum vielfältige Versuche unternommen wurden, die Tora in Konstruktion und Kritik als das für das ganze Menschengeschlecht gültige Gesetz zu erweisen und dabei raum-zeitinvariante Geltungsansprüche von solchen zu unterscheiden, die lokal und historisch beschränkt sind. Israel ist erwählt, der Welt die universale Gerechtigkeit des einen Gottes zu bekunden, der Himmel und Erde erschaffen hat. Die Frommen Israels hinwiederum sind dazu bestimmt, der Menschheit durch Toragehorsam und Gesetzestreue ein Beispiel ihrer Erwählung zu geben, nicht um ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten, sondern um Gottes Gerechtigkeit zu bezeugen vor den Völkern. Wer die jüdische Religion, aus der das Christentum hervorging, primär mit Nomismus und gesetzlicher Werk- bzw. Selbstgerechtigkeit assoziiert, der hat sie gründlich verkannt. Nicht dass es im Israel der Zeit Jesu keine Tendenzen zu einem ebenso nomistischen wie partikularistischen Gesetzesverständnis gegeben hätte; doch diese Tendenzen zu kritisieren ist ein vergleichsweise Leichtes und unter den ureigenen Bedingungen der jüdischen Religion selbst nicht nur möglich, sondern nahegelegt. Theologisch brisant wird es erst, wenn man sich in den Umkreis der Stärke des Judentums stellt und von dort her nach dem christlich-jüdischen Verhältnis fragt. Ist der paulinische Begriff der Gerechtigkeit Gottes, wie er nachgerade für die reformatorische Gestalt des Christentums, wenngleich keineswegs nur für sie bestimmend wurde, mit demjenigen der alttestamentlichen Überlieferung problemlos zu vereinen? Und wie ist Jesu im Zeichen der nahenden Gottesherrschaft erfolgte Zuwendung nachgerade zu denen zu beurteilen, die nicht nur ungesetzlich, sondern gesetzeswidrig handelten und daher nach Maßgabe der Tora als gottlose Sünder zu gelten hatten? Ist es gerecht und im Sinne des Gottes Israels, den manifest Ungerechten das eschatologische Heil zu verheißen und von einer Rechtfertigung der Gottlosen zu reden? Jesus und Paulus waren Juden. Entsprechendes gilt für fast alle Glieder der Urchristenheit. Was sind die Gründe für die allmähliche Trennung von Kirche und Synagoge? Ist sie wesentlich durch Paulus und die Entwicklungen veranlasst, für welche die Gemeindeverhältnisse in Antiochien am Orontes beispielgebend waren? Oder gibt es Hinweise, die in die Richtung künftiger Differenzierung von Judentum und Christentum deuten, schon bei Jesus selbst, der den Christen als Messias Israels und Christus der Heiden gilt? Auf letztere Frage ist im vorliegenden Band einzugehen, wohingegen erstere erst im Folgeband ausführlicher behandelt werden wird. Der systematische Problemhorizont der historischen Fragestellungen ist erkennbar durch die traditionelle Thematik von Gesetz und Evangelium bestimmt, wie sie, ohne dass dadurch ihre gesamtchristliche Bedeutung eingeschränkt würde, in je besonderer Weise die paulinische und die reformatorische Theologie charakterisiert. Es wäre unkritisch, dies in Abrede zu stellen und das mit der gegebenen Geschichtsdarstellung verbundene dogmatische Interesse zu verbergen, zumal da es für jeden Kundigen ohnehin offensichtlich ist. Unkritisch wäre es freilich ebenso, systematische und historische Perspektiven unmittelbar koinzidieren zu lassen, etwa indem man das Verhältnis von Judentum und Christentum

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undifferenziert mit demjenigen von Gesetz und Evangelium parallelisiert oder analogisiert, das selbst in hohem Maße differenzierungsbedürftig ist. Um abschließend nur auf einen, für das christliche Verständnis der Tora nicht unwesentlichen Gebot und Gesetz Differenzierungsvorschlag hinzuweisen: Es ist im Kontext reformatorischer Theologie wiederholt gefordert worden, zwischen Gebot und Gesetz terminologisch sorgsam zu unterscheiden. Der deutsche Begriff des Gesetzes bezeichne in seiner theologischen Verwendung nicht unmittelbar den göttlichen Willen für Menschheit und Welt, wie er in den Zentralgeboten der Tora, etwa im Dekalog, offenbar sei, sondern lediglich die postlapsarische Form derselben. Zum Gesetz werde das Gebot erst durch den Fall der Sünde. Zwar seien Gebot und Gesetz ihrem Gehalt nach identisch. Beide Formgestalten jedoch unterschieden sich so tiefgreifend wie der supralapsarische und der infralapsarische Status der Schöpfung. Da nun aber der realexistierende Mensch außer Jesus Christus immer schon schuldhaft in Sünde verstrickt und der Macht des Bösen erlegen sei, begegne ihm Gottes Gebot im Entscheidenden seines Daseins als Gesetz, welches nicht rette, sondern zugrunde richte, indem es dem Menschen seine verfehlte Bestimmung vorhalte, ohne neue Möglichkeiten künftiger Erfüllung zu erschließen. Zwar könne auch der gefallene Mensch nach Maßgabe des göttlichen Gebots äußerlich ehrbar leben. Aber die äußerliche Ehrbarkeit werde zwangsläufig zum falschen Schein, wenn sie sich, wozu sie unter postlapsarischen Voraussetzungen faktisch geneigt sei, mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit vor Gott versehe. Dieser Anspruch habe vor Gott keinen Bestand und werde durch das göttliche Gesetz als Form des Gebotes unter den Bedingungen seiner Verkehrung ebenso gerichtet wie diejenige innere Selbstverfallenheit des sündigen Menschen, aus der all sein böses Tun hervorgehe. Der usus theologicus legis ist der usus elenchticus. Dennoch geht nach der skizzierten Sprachregelung das Gebot in seiner gesetzlichen Funktion nicht auf. Dies zeige sich zum einen an der äußeren Ordnungsfunktion, die es seiner auch unter sündigen Bedingungen erhaltenen Ursprungsgüte gemäß infralapsarisch ausübe; das zeige sich zum anderen aber auch und vor allem an der bleibenden Geltung des Gebots für den aus Gnade um Christi willen aus dem Gericht geretteten Glauben. Zwar habe das Gesetz über denjenigen, der dem Evangelium glaube, keine Macht mehr, und an die Stelle des Gerichts sei die gratis gewährte Rettung getreten. Aber das Gebot, welches sich zum Gesetz wie eigentlicher und fremder Schöpfungswille Gottes verhalte, gelte weiterhin und inhaltlich unverändert, nun freilich in einer Form, die der Gestalt des Gesetzes nicht nur vorhergehe, sondern auch folge, womit gesagt ist: in die Form des Gebotes, wie es für den Glaubenden gilt, ist die dankbare Erinnerung an die Errettung aus dem Gericht unvergesslich eingezeichnet. Jesus Christus ist des Gesetzes, nicht aber des Gebotes Ende. Das Evangelium hebt das Gesetz in bestimmter Negation auf, um es als Gebot in sich zu bewahren und zur Erfüllung zu bringen. Der Gebotsinhalt bleibt dabei materialiter identisch

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und in seiner Allgemeinverbindlichkeit von der Differenz von Glauben und Unglauben unbetroffen. Dem Glaubenden, welcher dem Evangelium Jesu Christi folgt, ist nichts Überpflichtiges, sondern just jenes zu tun geboten, was die Gebote gebieten. Zwar ist ihre gesetzliche Form für ihn definitiv vergangen, nicht aber ihr Gehalt, den überschwänglich, nämlich in Gestalt der Liebe zu erfüllen ihn sein Glaube motivieren wird. Werde all dies angemessen bedacht, dann lasse sich die alte reformatorische Streitfrage, ob mit einem tertius usus legis zu rechnen sei oder nicht, unschwer einer einvernehmlichen Lösung zuführen. Was ist der Zweck der Erinnerung an Streitfragen längst vergangener Jahrhunderte, und warum erfolgt an dieser Stelle der Verweis auf Problemstellungen, die vielen als Quisquilien erscheinen werden? Antwort: Um vorweg einen offenen und halbwegs differenzierten Eindruck zu verschaffen von dem Traditionskontext, der den Entdeckungszusammenhang nachfolgender Darstellungen bildet. Entdeckungs- sind von Begründungszusammenhängen präzise zu unterscheiden. Nachgerade um dies zu ermöglichen, müssen sie vorweg und möglichst unumwunden benannt werden. Das Wichtigste aber ist im gegebenen Zusammenhang Folgendes: In seinem der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München gewidmeten Heft über „Jesus von Nazareth im Spiegel jüdischer Forschung“ (Berlin 2009) gelangt Rabbiner Walter Homolka zu einem Fazit, das an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt: „War Jesus aus jüdischer Sicht Pharisäer und Schriftgelehrter? Vielleicht. War er bedeutend? Ohne Zweifel. War er der Messias oder gar der Sohn Gottes? Aus jüdischem Verständnis nein.“ (74) Christlicher Glaube hingegen steht und fällt mit dem Bekenntnis zu Jesus als dem Christus und Gottessohn. Es ist ein Gebot des Respekts und der intellektuellen Redlichkeit, die Gründe für dieses Bekenntnis möglichst präzise anzugeben und von seinen gedanklichen Implikationen verantwortlich Rechenschaft zu geben. Für den jüdisch-christlichen Dialog kommt dabei der Frage besondere Bedeutung zu, wie sich die Gewissheit universaler Gerechtigkeit des einen Gottes, die für das Christentum nicht minder unaufgebbar ist wie für das Judentum, zum gläubigen Vertrauen auf das Evangelium von der Versöhnung und Rechtfertigung des Sünders aus Gnade verhält, dessen personaler Inbegriff nach christlichem Bekenntnis der auferstanden gekreuzigte Jesus von Nazareth ist.

1. Ostern als Urdatum des Christentums

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Am Anfang war Ostern. Als einer der Zwölf, Zwilling genannt (Joh 11,16; 20,24; 21,2), später Bekenntnis des Zweiflers als andere Jesusjünger zwar, aber direkter noch als diese in Berührung mit dem auferstandenen Gekreuzigten kam, da bezeugte er ihn und seine österliche Wirklichkeit mit dem Bekenntnis, über das hinaus ein größeres nicht bekannt werden kann: „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28) Daraufhin preist Jesus diejenigen selig, die an ihn glauben, auch wenn ihnen die

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Wahrnehmung seiner heilsamen Präsenz nicht sinnenfällig zuteil geworden ist wie bei Thomas, sondern auf vermittelte Weise, wie das bei den nachapostolischen Gemeinden bis zum heutigen Tage der Fall ist. Die ursprüngliche Fassung des vierten Evangeliums, der mit Joh 21 ein deuterojohanneisches Nachtragskapitel beigefügt ist, schließt mit dem Hinweis, dass alle Zeichen seiner offenbaren Herrlichkeit, die Jesus den Ursprungszeugen zukommen ließ, deshalb schriftlich dokumentiert im Buche stehen, „damit ihr glaubt, Jesus sei der Christus, Gottes Sohn, und damit ihr durch den Glauben Leben habt in seinem Namen“ (Joh 20,31). Das Osterzeugnis des Thomas vollendet das Evangelium nach Johannes, indem es den gekreuzigten Auferstandenen als offenbare Gestalt des „deus pro me“ und damit als den personalen Inbegriff des Evangeliums bestimmt. „Mein Herr und mein Gott“: Thomas erkennt im auferstandenen Gekreuzigten den der Gottheit Gottes in einiger Gemeinschaft verbundenen Gottessohn, in dem Gott selbst als „deus pro me“ offenbar ist. Die österliche Erkenntnis selbst hinwiederum, deren Thomas inne geworden ist, um sie in seinem Bekenntnis bündig auszusprechen, ist von demjenigen selbst erschlossen, der ihr Inhalt ist. Durch seine österliche Erscheinung offenbart sich Jesus Christus als der Offenbarer Gottes, der dessen Aufgeschlossenheit für uns erschließt. Zu ergänzen bleibt, dass das Christusbekenntnis des Thomas am Schluss des Johannesevangeliums den Aussagen entspricht, die im Prolog (Joh 1,1.18) über den göttlichen Logos gemacht werden, der in Jesus Christus sich und durch sich Gottes Sein für uns erschlossen hat. Dabei ist stets zu bedenken, dass die johanneische Theologie der Präexistenz und der Inkarnation des Logos in österlicher Retrospektive entfaltet wird. Das österliche Erschließungsgeschehen, in welchem der Gekreuzigte sich als der für uns zu ewigem Leben Erstandene und als Gottes Offenbarer erweist, ist daher konstitutiver Erschließungsgrund auch der Logoslehre und der ihr entsprechenden Inkarnationschristologie, für deren Verständnis wie für das Verständnis der johanneischen Christologie insgesamt die differenzierte Einheit von Erniedrigungs- und Erhöhungsaspekten entscheidend ist. Der Logos in seinem prä- und, wenn man so will, postexistenten Sein lässt sich von der Existenz Jesu Christi, der um unseretwillen erniedrigt und erhöht wurde, ebenso wenig trennen wie von der Gottheit Gottes, so differenziert die theologisch-christologischen Zusammenhänge im Übrigen auch sein mögen und tatsächlich sind. Ostern ist für die johanneische Christologie und Theologie gleichermaßen grundlegend und Ursprung der Lehre vom Logos einschließlich seiner Schöpfungsmittlerschaft und denjenigen Mittlerschaften, welche mit ihm in soteriologischer und eschatologischer Hinsicht zu verbinden sind. Fügt man fernerhin hinzu und bedenkt des Weiteren, wie untrennbar die johanneische Geistauffassung, die in den Parakletensprüchen der Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33; vgl. bes. 14,16f.; 14,26; 15,26; 16,7 sowie 16,13) charakteristischen Ausdruck findet, mit der christologisch-theologischen Konzeption des vierten Evangeliums verbunden ist, dann kann man mit Fug und Recht behaupten, dass in ihm bereits die Ergeb-

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nisse der trinitarisch-christologischen Dogmen der Alten Kirche präfiguriert sind. An Ostern erweist sich der Gekreuzigte als der Auferstandene, Jesus als der Christus und Sohn Gottes, in dem Gottes Gottheit als schlechthinnige Zuwendung, kurzum: Gott als Vater offenbar ist. Im Bekenntnis des Thomas ist diese Einsicht, welche das Zentrum des christlichen Glaubens ausmacht, auf den Punkt gebracht: „Mein Herr und mein Gott“ (Joh 20,28). Der Akzent, der wie zuvor schon bei Maria Magdalena durch das betont hervorgehobene Personalpronomen gesetzt ist, zeigt an, dass die österliche Erscheinung Jesu Christi das Ureigenste und Innerste angeht. Damit sind pneumatologische Bezüge elementar mitgesetzt, wie denn auch der johanneische Zusammenhang von Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten nicht lediglich eine chronologische Deutung zulässt, sondern eine Beziehung beinhaltet, welche Konstitutionsmomente des Offenbarungsgeschehens benennt, in welchem der christliche Glaube gründet. Ostern ist konstitutiver Grund von Christentum und Christologie. Die Richtigkeit dieses Satzes wird nicht erst und nicht nur durch das Johannesevangelium und die Theologie des johanneischen Kreises, sondern durch das christliche Zeugnis von Anbeginn bestätigt. Gegen die Auffassung, „dass es in urchristlicher Zeit kein Christentum ohne Glauben an den Auferstandenen gab“ (Becker, 273; bei B. teilweise kursiv), versuchte man gelegentlich unter Bezug namentlich auf die Logienquelle und das Thomasevangelium den Beweis für ein frühes Christentum ohne Osterbotschaft zu erbringen. Doch sind die beigebrachten Argumente nicht tragfähig (vgl. Becker, 274f.). Das Christentum steht und fällt mit dem Glauben an den auferstandenen Herrn. Diese These gilt „ausnahmslos und uneingeschränkt“ (Becker, 273). Sie differenziert zu entfalten, wird Aufgabe eines eigenen Abschnitts über die Auferweckung des Gekreuzigten sein. Die nötige Konzentration auf überlieferungsgeschichtliche Details darf dabei nicht fehlen. Doch soll zuvor, um eine methodisch bedingte Perspektivenverengung schon im Ansatz zu verhindern, in dogmatischer Thetik die Weite des Horizonts andeutungsweise umrissen werden, die durch die neutestamentliche Osterbotschaft nach Maßgabe ihrer Zeugen erschlossen wird. An Ostern geht es um nicht weniger als um das Ganze des christlichen Glaubens, dessen Bekenntnis zufolge im auferstandenen Gekreuzigten Jesus von Nazareth Gott selbst in der Kraft seines göttlichen Geistes offenbar ist. Die gesamte Botschaft des Neuen Testaments ist implizit durch das Zeugnis vom Ostergeschehen geprägt. Explizit wird dieses Zeugnis in Gestalt katechismusartiger Überlieferungsstücke, kerygmatischer und hymnischer Formeln, dogmatischer und pastoraler Reflexionen, in den Ostergeschichten der Evangelien sowie in den Reden der Apostelgeschichte. Ob nun explizit oder implizit: das Osterereignis ist Voraussetzung und wesentlicher Inhalt der neutestamentlichen Frohbotschaft. Ohne Ostern kann offenbar weder vom irdischen Jesus und seinem Kreuzestod, noch von Gott, dem allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, christlich angemessen die Rede sein. Der göttliche Geist, der alles christliche Beginnen dauerhaft bestimmt, nimmt vom Osterereignis, das er bewirkt hat, seinen beständigen Ausgang. Das Osterereignis hat sonach als das ursprüngliche und endgültige Of-

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fenbarungsgeschehen sowie als Inbegriff des Heilsmysteriums zu gelten, welches Prinzip und Wesen von Christentum und christlicher Theologie ausmacht. Was wird an Ostern offenbar? Auf diese Frage ist Trinitarische Ostertheologie im Sinne der kirchlichen Tradition eine dreieinige Antwort zu geben: An Ostern wird der allmächtige Gott, indem er ihn vom Tode erweckt, als der Vater des gekreuzigten Jesus von Nazareth offenbar. An Ostern erscheint der gekreuzigte Jesus von Nazareth als der ewige Sohn Gottes, der mit dem Vater eines göttlichen Wesens ist. An Ostern ist der schöpferische Geist der Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes manifeste Wirklichkeit, um als dritter im göttlichen Bunde einer in Sünde verkehrten und im Übel vergehenden Menschheit und Welt Anteil zu geben am göttlichen Heil. Er tut dies, indem er den Osterglauben erschließt, in welchem die österliche Gottesoffenbarung zur menschlichen Wahrnehmung gelangt, um in Liebe und Hoffnung wirksam zu werden. Was erschließt sich dem Glauben, wenn er in der Kraft des göttlichen Geistes zur Wahrnehmung der Osteroffenbarung gelangt? Auch auf diese Frage ist eine trinitarische Antwort zu geben: Osterglaube ist eschatologische Heilsgewissheit, will heißen: Gewissheit der Geistgemeinschaft mit dem allmächtigen Gott, der im Sohne Jesus Christus als unser Vater offenbar ist. Osterglaube enthält in sich die Erinnerung des Lebens und Sterbens Jesu von Nazareth, dessen österliches Gedächtnis Schöpfungsanamnese und heilsames Bewußtsein der Schuld der Sünde und ihrer üblen Folgen bewirkt. Osterglaube gründet im Versöhnungsdienst des auferstandenen Gekreuzigten und ist ausgerichtet auf die Parusie Jesu Christi, dessen Wiederkunft er in Geistepiklese und Nachfolge erwartet. Kurzum: Christliche Religion ist Osterglaube, welchem im auferstandenen Gekreuzigten der dreieinige Gott als richtender und rettender Grund von Selbst und Welt offenbar ist. Auf diesen Skopus ist christliche Theologie in der differenzierten Einheit von Gotteslehre, Christologie und Pneumatologie hingeordnet. Im auferstandenen Gekreuzigten, wie er sich den Seinen zeigt, offenbart sich Gott in der Kraft seines göttlichen Geistes als Schöpfer, Versöhner und Vollender. Von dieser Grundeinsicht her, deren Fundamente im trinitarisch-christologischen Dogma lehrmäßig bedacht sind, eröffnen sich alle protologischen, hamartiologischen, soteriologischen und eschatologischen Anschauungen des christlichen Glaubens. Mit der in der Kraft des göttlichen Geistes statthabenden Selbsterschließung Gottes im auferstandenen und zur Rechten Gottes erhöhten Gekreuzigten wird dessen irdisches Dasein als offenbarer Grund des christlichen Schöpfungsglaubens, der Kreuzestod Jesu als Indiz abgründiger Bosheit von Menschheit und Welt manifest, wohingegen das Kreuz des Auferweckten das wirksame Heilszeichen der Versöhnung des Sünders darstellt und die zu erwartende Wiederkehr des dem Glauben gegenwärtigen auferstandenen Gekreuzigten die Hoffnung auf Erlösung von allen Übeln eröffnet. Die christliche Trinitätstheologie ist kein Gebilde bloßer Gedankenspekulation, sondern lehrhafte Explikationsgestalt des österlichen Glaubens an Gottes Offenba-

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rung im auferstandenen Gekreuzigten, wie der göttliche Geist sie bezeugt (vgl. Geense). Den traditionsgeschichtlichen Beleg dieser These hat der sechste Band dieser Reihe zu erbringen, während den geplanten vier Folgeteilen die Aufgabe zufallen wird, die schöpfungstheologischen, hamartiologischen, soteriologischen und eschatologischen Implikationen des Osterereignisses systematisch zu entfalten und den österlichen Geist des Christentums in ein kritisches und konstruktives Verhältnis zu setzen zum Geist der gegenwärtigen Zeit. Im vorliegenden Band ist es primär um ein historisch orientierte Bearbeitung der Jesustradition und der überlieferungsgeschichtlichen Anfänge christologischer Lehrbildung zu tun. Doch erweist sich auch diese vergleichsweise eingeschränkte Themenstellung als komplexer und problemhaltiger, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Sollen in der thematischen Durchführung theologische Perspektiven nicht systematisch ausgeblendet bleiben, was dem geschichtlichen Gegenstand evidentermaßen unangemessen wäre, müssen sie in der historischen Analyse präsent gehalten und jedenfalls insoweit in Erwägung gezogen werden, dass der österliche Skopus in seiner Bedeutung für Gehalt und Gestalt christlicher Jesusüberlieferung im Blick bleibt. Der österliche Skopus christlicher JesustraditiErscheinungen und leeres on, der mit der Annahme himmlischer ErhöGrab hung und der Sendung des Geistes elementar verbunden ist, wird im Neuen Testament vor allem durch zwei Überlieferungsstränge namhaft gemacht, die zunächst nur skizziert und erst an späterer Stelle im Detail analysiert werden sollen: durch die Erscheinungsüberlieferung und durch die Überlieferung vom leeren Grab, die beide je auf ihre Weise bezeugen, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth auferweckt worden und auferstanden ist. Die älteste Form der Erzählung vom leeren Grab und seiner Entdeckung liegt in Mk 16,1– 8 vor. Da der noch folgende Schlussabschnitt Mk 16,9–20 nach einhelligem Urteil der Forschung einen späten Zusatz bildet, der in den alten Handschriften fehlt, wird man davon auszugehen haben, dass die Engelsbotschaft von Mk 16,6 den Endpunkt darstellt, auf den das Markusevangelium als Ganzes angelegt ist: „Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wo man ihn hingelegt hatte.“ In ihrer vormarkinischen Ursprungsgestalt dürfte die Geschichte von der Auffindung des leeren Grabes als österlicher Schluss des Passionsberichts fungiert haben, ohne bereits mit der Überlieferung von Erscheinungen des Auferstandenen verbunden gewesen zu sein. Diese Verbindung wird erst von Markus selbst andeutungsweise (vgl. Mk 16,7) hergestellt, um dann immer stärker zur Geltung gebracht zu werden: Bei Matthäus (vgl. Mt 28,9f.) erscheint Jesus den Frauen unmittelbar nach ihrem Weggang vom Grab, bei Johannes (vgl. Joh 20,11–18) gibt er sich Maria Magdalena zu erkennen, die draußen vor dem Grab stand und weinte. Ursprünglich jedoch waren die Erscheinungstraditionen und die Tradition vom leeren Grab und seiner Auffindung wahrscheinlich getrennt und unabhängig voneinander überliefert.

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Trifft diese Annahme zu, für die sich gute exegetische Gründe beibringen lassen, obwohl sie nicht unumstritten ist, dann beinhaltet die mit Begräbnis und Grab Jesu verbundene Ostertradition offenbar altes Überlieferungsgut, was es verbietet, in ihr nur eine späte Legendenbildung zum Zwecke des apologetischen Erweises der Faktizität und Leibhaftigkeit der Auferstehung Jesu zu sehen. Ein historischer Kern ist besagter Tradition umso weniger abzusprechen, als man, wie es scheint, nicht nur auf Seiten der Jerusalemer Urgemeinde, sondern auch auf jüdischer Seite Kenntnis von der Grabesstätte Jesu und der Unauffindbarkeit seines Leichnams hatte. Die Erklärung dieser Tatsache fiel indes unterschiedlich aus: Während den Christen das leere Grab als Indiz der Auferstehung ihres Herrn galt, erzählte man sich unter den Gegnern, Jünger hätten den Leichnam Jesu heimlich aus dem Grabe entfernt und beiseite geschafft. In Mt 28,11–15 wird diese Behauptung auf böswilligen Betrug und Bestechung zurückgeführt. Doch zeigt die abschließende Bemerkung, derzufolge „dieses Gerücht bei den Juden bis heute verbreitet ist“ (Mt 28,15), dass die Leere des Grabes selbst unter der Voraussetzung ihrer historischen Tatsächlichkeit und der Annahme empirischer Ratifizierbarkeit dieser Tatsache kein unzweideutiges Indiz für die Faktizität der Auferstehung Jesu darstellt; sie ist „kein Beweis, wohl aber ein Zeichen“ (Kasper, 198). Dies belegen im Übrigen die neutestamentlichen Schriften selbst, sofern ihrem Zeugnis zufolge die Entdeckung des leeren Grabes anfangs stets Irritation und Verunsicherung bewirkte. Diese weichen erst unter dem Eindruck des Selbsterweises des Auferstandenen. In seinen Erscheinungen ist erfüllt und zur Gewissheit gebracht, worauf die Leere des Grabes verweist, ohne für sich genommen ein eindeutiges Zeichen der österlichen Wirklichkeit zu sein. Der Realitätsgehalt der Überlieferung von der Auffindung des leeren Grabes erschließt sich erst von der lebendigen Selbstmanifestation des zu Grabe Getragenen, in welcher die Einsicht in die Faktizität des Auferstehungsgeschehens inbegriffen ist, auch wenn das Geschehen selbst unbegreifliches Geheimnis bleibt und daher in den neutestamentlichen Ostererzählungen als solches nirgends geschildert wird. Einen Auferstehungsbeweis kann und will entsprechend die neutestamentliche Tradition vom leeren Grab nicht bieten. Dieser Beweis kann nur durch den Selbsterweis des Auferstandenen und durch die Offenbarung Gottes in ihm erfolgen. Dass die Offenbarung Gottes im auferstandenen Gekreuzigten dessen sinnliches Dasein umfasst und dessen leibhafte Existenz nicht dem bloßen Gewesensein und der Verwesung überlässt, dafür ist die Leere des Grabes ein Zeichen, welches der zur österlichen Erkenntnis gelangten Urchristenheit als ein Beleg für die geschichtliche Tatsächlichkeit der Auferstehung ihres Herrn galt. Ist es in Mk 16,1–8 der „angelus interpres“, der angesichts der Leere des Grabes Jesu die österliche Erkenntnis erschließt, so gibt sich in den Erscheinungsüberlieferungen der im Grabe Unauffindbare selbst als der auferstandene Gekreuzigte zu erkennen. Es ist also durchaus adäquat und von der Sache her gefordert, die Tradition von der Auffindung des leeren Grabes und die Erscheinungstraditionen zu verbinden, auch wenn sie anfangs wahrscheinlich oder doch möglicherweise ge-

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trennt überliefert worden waren. Bei dieser Trennung konnte es nicht bleiben: die Leere des Grabes wäre sonst zum bloßen Mirakel und der Verweis auf die Erscheinung zur Legitimationsformel einer Autorität herabgesetzt worden, das sinnliche Wunder zu beglaubigen und authentisch zu bezeugen. Mag sein, dass die Erscheinungstraditionen ursprünglich auf den Berufungserweis bestimmter Männer in die missionarische Führerschaft der Urchristengemeinde abgestellt waren; mag sein auch, dass Markus in der Absicht, die Jünger und allen voran Petrus als die ersten und eigentlichen Auferstehungszeugen herauszustellen, den Frauen (die nach jüdischem Recht ohnehin keinen Anspruch auf gültige Zeugenschaft hatten) die am Grabe empfangene Botschaft des Engels nicht übermitteln ließ, wie das in den späteren Evangelien der Fall ist. Wie immer man dies und den ebenso stummen wie furchtsamen Abgang der Frauen vom Grab am ursprünglichen Ende des ältesten Evangeliums zu beurteilen hat: dass die beiden anfänglich möglicherweise separaten Osterüberlieferungen vom leeren Grab und von den Erscheinungen des Auferstandenen miteinander verbunden und dass die Erscheinungstraditionen über die Förmlichkeit autoritativer Legitimation hinaus fortentwickelt und inhaltlich expliziert wurden, ist eine von der österlichen Wirklichkeit und ihrer Wahrnehmung selbst geforderte Notwendigkeit. Die Erscheinungserzählungen der Evangelien können formgeschichtlich in zwei Gruppen unterteilt werden. Während die Erzählungen von Erscheinungen vor einzelnen Jüngern wie die Emmausgeschichte (Lk 24,13–35), die Thomasgeschichte am ursprünglichen Ende des Johannesevangeliums (Joh 20,24–29) sowie die Petrusgeschichte des johanneischen Nachtragskapitels (Joh 21,15–23) Spätbildungen mit novellistischem Charakter darstellen, sind die Erzählungen von einer Erscheinung vor dem Zwölferkreis (Mt 28,16–20; Lk 24,36–53; Joh 20,19–23) vergleichsweise älter und nach einem gemeinsamen Schema strukturiert: Stehen am Anfang Furcht und Ratlosigkeit, Nichterkennen, ja förmliches Verkennen, so kommt es zur österlichen Erkenntnis der Erscheinung, sobald sich der Erscheinende in Wort und Zeichen von sich aus und als er selbst zu erkennen gibt, um seinen beständigen Beistand zu verheißen und einen konkreten Sendungsauftrag zu erteilen. Kennzeichnend ist der auf Kontrast abgestellte Widerfahrnischarakter des Geschehens. Wissen die dem Vergangenen Verhafteten anfangs nicht, wie ihnen geschieht, so wird das Osterereignis durch lebendige Selbstvergegenwärtigung des Gekreuzigten präsent, der den Zeugen zugleich jene Zukunft eröffnet, der ihre Mission gilt und zu der sie bestimmt sind. Fragt man nach dem historischen Gehalt der Erscheinungserzählungen und der in ihnen verarbeiteten Tradition, so wird man davon auszugehen haben, dass nach Jesu Kreuzestod mit außerordentlichen Wahrnehmungen bei einem bestimmten Personenkreis der Seinen tatsächlich zu rechnen ist. Welcher Art diese Wahrnehmungen waren, ist schwierig zu sagen. Klar ist jedenfalls, dass den Betroffenen mehr oder minder plötzlich unvergleichlich Neues aufging. Als der personale Inbegriff des Neuen erschien ihnen dabei der gekreuzigte Jesus, dessen Kreuzestod sie in trauriger Erinnerung hatten und der sich ihnen nun lebendig in Erinnerung brach-

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te, um als gegenwärtiges und künftiges Subjekt seines eigenen Gedächtnisses zu fungieren. Leben und Sterben Jesu traten damit nicht nur in ein neues Licht, sondern nahmen jene Sinngestalt an, die sie zwar an sich selbst hatten, ohne doch in ihrer Wahrheit wirklich wahrgenommen worden zu sein. Das Geheimnis der wahren Wirklichkeit ihres Herrn, das für sie unter dem Kreuz und den Beschränktheiten des irdischen Daseins verborgen lag, wurde den Jesusjüngern heilsam offenbar, indem sich der österlich in Erscheinung Tretende als derjenige zeigte, welcher er war, ist und sein wird. Mit dem österlichen Wandel der Beziehung zum gekreuzigten Jesus wurde zugleich das Verhältnis zu Gott, Selbst und Welt von Gott und seinem Christus her neu ausgerichtet und ein anderes, was praktisch zu erfassen und theoretisch zu begreifen von nun an Lebensbestimmung aller Osterzeugen wurde. Unter ihnen kommt dem Kreis der Zwölf mit Petrus zweifellos eine besondere Stellung zu. Wie die anderen Jünger nach ihrem möglichen Rückzug in die galiläische Heimat nach Jesu Jerusalemer Kreuzestod wird auch Kephas durch außerordentliche Schau zur österlichen Gewissheit gelangt sein. In Jerusalem, wo der Jüngerkreis bald sich wiederfindet, kam es dann offenbar zu einer Reihe weiterer Erscheinungen. Welche Bedeutung in diesem Zusammenhang der namentlichen Erwähnung des Jakobus in 1. Kor 15,7 zukommt, muss hier ebenso wenig erörtert werden wie die Frage, ob die auf einmal erfolgte Erscheinung vor den 1. Kor 15,6 erwähnten mehr als fünfhundert Brüdern im Zusammenhang steht mit den Apg 2,1ff. geschilderten Pfingstereignissen. Auch wenn man dies verneint, lässt sich die an Pfingsten erfolgte Inspiration durch den göttlichen Geist nicht ablösen von den Erscheinungen des Auferstandenen, wie denn umgekehrt diese ohne Wirken des Gottesgeistes gar nicht möglich und wirklich wären. Davon wird noch zu reden sein. Die österliche Überlieferung vom leeren Grab und seiner Entdeckung und die Erscheinungsüberlieferungen bilden einen differenzierten Zusammenhang. Sie konvergieren in dem Zeugnis, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth von Gott erweckt worden und auferstanden ist. Die metaphorische Rede von Auferwecktwerden und Auferstehen steht in einem erkennbaren Bezug zur alltäglichen Erfahrung des Gewecktwerdens und Erwachens vom Schlafe. Doch kann der Schlaf nur dann als ein ernsthaftes Gleichnis für den Tod gelten, wenn der Tod in Analogie zum Schlaf verstanden werden kann, wie das durch Ostern ermöglicht wird. Indem an Ostern der lebendige Gott den Tod als durch Jesu Sterben entmächtigt erweist, den Erniedrigten erhöht und aus dem Grab heraus zu sich selbst kommen lässt, setzt er, was empirisch nur als definitives Ende begriffen werden kann, eschatologisch zum bloßen Schlaf herab, dem ein lebendiges Erwachen folgt. Die Aussagen über Jesu Auferweckung und AufApokalyptischer erstehung stehen unzweifelhaft in einem apokaTraditionskontext lyptischen Traditionszusammenhang, ohne dass dadurch über ihren Gehalt bereits definitiv befunden wäre. Klar ist, dass sie Ostern als ein eschatologisches Ereignis bezeugen. An Ostern bricht die Endzeit an, in der Gott jenes vollendete Leben bereiten wird, das in der Auferweckung des Gekreu-

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zigten offenbar und im auferstandenen Jesus in Erscheinung getreten ist. Ostern steht selbst in dem eschatologischen Zusammenhang, den es erschließt, und ist ohne ihn und seine Hinordnung auf die Endzeit nicht angemessen zu verstehen. An Ostern geht es, indem es um Jesus geht, zugleich ums Ganze von Menschheit und Welt und mithin um einen Geschehenszusammenhang, der von der protologischen Uranfänglichkeit der Schöpfung bis zu ihrer eschatologischen Vollendung reicht, in der das Ziel erreicht ist, das in Ostern gründet. Die Auferstehung Jesu und seine Parusie gehören insofern untrennbar zusammen. Der in den österlichen Erscheinungen und im Osterzeugnis in der Kraft des Geistes präsente Jesus, dessen zeitliches Leben am Kreuz endete, ist als der Gekommene die ewige Zukunft von Menschheit und Welt. Gottes eschatologische Tat der Auferweckung Jesu ist nach urchristlichem Zeugnis ein Handeln, das Zeit und Ewigkeit wirksam vereint. Indem Gott Jesus erweckt, verewigt er dessen zeitliches Leben als zeitliches und lässt den am Kreuz endenden Jesus den zu ewigem Leben Erstandenen sein. Diese Tat Gottes bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf Gott selbst; besser gesagt, sie ist Wirkung einer inneren göttlichen Bewegung: „die Wirklichkeit der Auferstehung ist, daß Gott selber sich wirklich verändert hat – nicht ein anderer Gott, sondern anders Gott und als Gott anders geworden ist“ (Ringleben, 82). Durch den göttlichen Identifikationsakt der Auferweckung des Gekreuzigten ist die Identität Jesu Christi begründet und zwar dergestalt, dass sich der Auferstandene eins weiß mit dem gekreuzigten Jesus, um in österlicher Leiblichkeit den Seinen zu erscheinen. Der in Einheit mit Jesus in Erscheinung tretende Auferstandene lässt sich, indem er sich als Jesus sehen lässt, als derjenige identifizieren, der er ist. Auch dieses Sich-Sehenund Identifizierenlassen gehört zur Identität Jesu Christi unveräußerlich hinzu, sofern sein Sein an sich selbst Sein pro nobis ist. Die Ostererscheinungen eröffnen mithin einen Horizont, der theologische, christologische und pneumatologische Perspektiven umfasst und zu differenzierter Einheit zusammenschließt. Gott hat den gekreuzigten Jesus erweckt, damit er als der Auferstandene in Erscheinung trete. Jesus ist nicht von sich aus auferstanden. Sein Vermögen, österlich in Erscheinung zu treten, ist in Gott begründet, der ihn hat erscheinen lassen (vgl. Apg 10,40). Dabei gehören Auferweckung und Erscheinenlassen untrennbar zusammen. „Gottes Auferwecken ist Erscheinenlassen, so dass man sagen kann, Christus wurde vom Vater her in das Erscheinen auferweckt.“ (Ringleben, 60 unter Verweis auf Koch, 191) Indem der Erweckte erscheint, erscheint er zwar nicht unmittelbar von sich aus, aber gleichwohl als er selbst. Indem der Erweckte als der Auferstandene in Erscheinung tritt, zeigt er sich als der, welcher er ist, um zum Heil von Menschheit und Welt als der für uns Gestorbene und Auferweckte wahrgenommen zu werden. Indem der auferstandene Gekreuzigte als er selbst erscheint, erscheint er recht eigentlich nicht um seiner selbst, sondern um unsretwillen. „So bedeutet das aktive Sichbekunden und als er selber Kommen des Auferstandenen, dass die an ihn Glaubenden in die innergöttliche Liebesgemeinschaft des ewigen Lebens Gottes hineingezogen werden, auf dass Gott alles in allem sei (I. Kor

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15,28).“ (Ringleben, 64) Obwohl er das göttliche Leben in sich selber hat, lebt der auferstandene Gekreuzigte nicht für sich selbst, sondern als der von Gott für uns Erweckte. In der Weise seines österlichen Sichvergegenwärtigens entspricht der Auferstandene der Proexistenz, wie sie für das Leben und Sterben Jesu kennzeichnend war. Jesu vergangenes Dasein ist in den Ostererscheinungen nicht der Gewesenheit überlassen, sondern für immer präsent. Der österlich Erscheinende ist mit Jesus identisch. Die Identität des österlich Erscheinenden mit Jesus ist grundlegend für jedes christliche Osterzeugnis. Doch lässt sie sich nicht durch bloßen Verweis auf empirische Kontinuitätszusammenhänge begründen. Das österliche Leben des auferstandenen Gekreuzigten ist nicht Fortsetzung des durch den Kreuzestod lediglich zeitweise unterbrochenen Lebens Jesu. Das Leben des Auferstandenen ist von durchaus anderer Art als das Leben des irdischen Jesus. Gleichwohl ist es kein anderes Leben. Der Erstandene stellt die Identität mit Jesus, wie sie sich in den österlichen Erscheinungen darstellt, nicht dergestalt her, dass er sie förmlich aus dem Nichts erschaffen müsste. Selbst die Erweckung des gekreuzigten Jesus durch Gott kann mit der creatio ex nihilo ursprünglichen Schöpfungshandelns Gottes nicht oder nur unter Vorbehalt verglichen werden. Zwar ist die österliche Identität Jesu Christi nicht einseitig jesulogisch zu begründen. Gleichwohl sind die Erscheinungen des von Gott erweckten Auferstandenen an sich selbst durch das Bild charakteristisch geprägt, das der gekreuzigte Jesus hinterlassen hat. Dass die Osterzeugen diesen Zusammenhang nicht von sich aus, sondern erst erkennen, als er ihnen durch den Auferstandenen entdeckt worden ist, spricht nicht gegen ihn, sondern lediglich für die Tatsache, dass in der österlichen Erkenntnis die Erkenntnis des Nichterkennens, ja Verkennens der irdischen Erscheinung Jesu konstitutiv mitgesetzt ist. Die Deutung, welche der Auferstandene seinen Erscheinungen gibt, gehört konstitutiv zu ihrer Faktizität, durch welche die Tatsachen des Lebens Jesu und seiner Passion ihrerseits diejenige Bedeutung erhalten, die ihnen an sich selbst eignet, die ihnen aber ohne Ostern faktisch fehlen würde. Der auferstandene Christus lebt gegenwärtig und künftig aus seiner Jesusvergangenheit. Er schafft diese nicht erst, so sehr er sie schöpferisch gestaltet. Nicht von ungefähr erzählen die Evangelien die Jesusgeschichte in österlicher Gestalt, ohne damit die Vorstellung zu verbinden, deren Gehalt sei durch die den Erscheinungen des Auferstandenen entsprechende Darstellungsform allererst hervorgebracht worden. Ostern ist die Erscheinung der Wahrheit des Lebens und Sterbens Jesu. Die österliche Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten ist zwar einerseits konstitutiv auf das Dasein Jesu als einer auch empirisch fassbaren Gegebenheit bezogen, hebt diese aber andererseits dergestalt in sich auf, dass es nicht länger als ein partikulares Wirklichkeitsphänomen unter anderen, sondern als die eine und vollendete Wahrheit aller Wirklichkeit erscheint, als die Antizipation des Eschatons, zu dessen Realisierung die Schöpfung bestimmt ist. Nicht als ob die Auferstehungswirklichkeit ein gänzlich transzendenter Sachverhalt jenseits menschlicher Geschichte in Raum und

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Zeit wäre. Aber sie transzendiert deren Schranken und führt namentlich über jene Beschränktheit hinaus, wie sie durch die grundlose und abgründige Selbstverkehrung des Bösen gesetzt ist. „What sort of seeing was involved in seeing the risen Jesus“ (Davis, 127): „the evangelists are telling us that the witnesses enjoyed not only sight of Jesus but also and even primarily insight“ (Brown, 112). Die Visionen und Auditionen, welche den Osterzeugen durch die Erscheinungen und Selbstbekundungen des Auferstandenen zuteil wurden, sind einerseits nicht ohne Bezug auf sinnliches Sehen und Hören, genauer: nicht ohne Bezug auf dasjenige, was der irdische Jesus zu Gehör und zur Anschauung brachte. Doch spricht das Osterzeugnis andererseits klar und deutlich aus, dass das Ostergeschehen in seiner Herrlichkeit alles übersteigt, was je menschliche Augen gesehen und menschliche Ohren gehört haben. Gerade deshalb handelt es sich gemäß österlichem Zeugnis bei den Selbstdarstellungen des Auferstandenen nicht lediglich um subjektive Imaginationen oder Halluzinationen, sondern um göttliche Epiphanien in der Geschichte, die aus dieser heraus nicht hinreichend zu erklären sind. Die Mehrzahl, in der sie an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlichen Zeugen zuteil wurden, lässt ihren konstitutiven Bezug zur Geschichte und namentlich zur Historie Jesu erkennen. Gleichwohl verweisen die diversen Erscheinungen des Auferstandenen allesamt auf ihren österlichen Einheitsgrund, von dem her sie sich als Offenbarung Gottes selbst darstellen, der Jesus von den Toten auferweckt und sich eben darin in seinem göttlichen Wesen erschlossen hat. Das Osterereignis und das Ereignis des Osterglaubens der Jünger sind zwar nicht zu trennen; sie fallen aber auch nicht unmittelbar in eins. Ohne den offenbaren Grund, in dem es gründet, lässt sich das österliche Glaubensereignis nicht verstehen. Seinem Selbstverständnis nach weiß sich der Osterglaube konstitutiv auf ein Geschehen bezogen, das ihm vorausliegt und ihn allererst erschließt. Würde das vorausgesetzte Ostergeschehen nur als eine vom Osterglauben gesetzte Voraussetzung gelten, dann wäre dieser grundlos und dazu verurteilt, in haltlosen Selbstbegründungsversuchen zu vergehen. Er wäre damit das gerade Gegenteil dessen, was zu sein er bestimmt ist. Diese Grundverkehrung lässt sich auch dadurch nicht abwenden, dass man das Ostergeschehen mit dem kerygmatischen Vollzug aktueller Christusverkündigung gleichsetzt. Wenn der Osterglaube nichts anderes als „der Glaube an den heute im Kerygma der Kirche gegenwärtigen und an uns handelnden Christus ist, dann wird die Christologie nicht nur in die Soteriologie aufgelöst, die Christologie schlägt darüber hinaus geradezu in die Ekklesiologie um“ (Kasper, 205). Dies aber wäre weder christologisch, noch pneumatologisch, noch theologisch angemessen, wenn anders Jesus Christus als derjenige zu bezeugen ist, in dem Gott in der Kraft seines Hl. Geistes selbst offenbar ist. In der Person des Auferstandenen kommt das Wesen Gottes selbst zur Erscheinung, aber auf Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten differenzierte und geschichtlich vermittelte Weise. Dies wird auch durch die Vorstellung der Himmelfahrt des Auferstandenen,

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mit der seine Erscheinungen zu einem definitiven Abschluss gebracht werden, und durch die Pfingstgeschichte nicht in Abrede gestellt. Durch das Ende der Erscheinungen wird erneut deren konstitutiver Geschichtsbezug unterstrichen, der für das Ostergeschehen und sein christliches Verständnis insgesamt kennzeichnend ist. Wenn aber der Auferstandene zum Himmel fährt, damit an Pfingsten der göttliche Geist gesendet werde, dann nicht, um sich endgültig aus der Geschichte und von seinem Jesusdasein zu verabschieden, sondern um das vollendete eschatologische Perfekt des einmal Geschehenen zu ratifizieren. Im Geist wird das Ganze der Geschichte Jesu Christi in ihrer Einmaligkeit als ein für alle Mal gültig erwiesen. In der Exegese wurde nicht nur die Annahme einer ursprünglichen Einheit von Auferweckungs- und Auferstehungsaussagen und Aussagen von der himmlischen Erhöhung und Erhebung Jesu, sondern gelegentlich auch die These einer genuinen Koinzidenz des Oster- und Pfingstgeschehens vertreten. Gestützt wurde diese bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begegnende Theorie u.a. durch den Hinweis, die Christophanie vor den mehr als fünfhundert Brüdern, die in 1. Kor 15,6 erwähnt wird, sei historisch mit der Pfingstgeschichte in Apg 2,1–4 gleichzusetzen. Erst Lukas habe als einziger unter den neutestamentlichen Autoren und im Unterschied zu Paulus und Johannes infolge seiner heilsgeschichtlichen Konzeption nicht nur Ostern und Himmelfahrt, sondern auch Erkenntnis des Auferstandenen und Geistempfang zeitlich unterschieden. Wie immer man über das Recht dieser Hypothese urteilen mag, offenkundig ist, dass österliche Erscheinungen und Gabe des Geistes einen differenzierten Zusammenhang bilden. Das Ostergeschehen nötigt daher zu pneumatologischen Erwägungen, weil Christophanie und Geistausgießung unveräußerlich aufeinander bezogen sind. Antizipiert man die lehrmäßigen Konsequenzen, welche die alte Kirche aus den biblischen Befunden gezogen hat, dann lässt sich sagen, dass Ostern und Pfingsten in vergleichbar differenzierter Weise eins sind wie göttlicher Logos und göttlicher Geist. Doch darf diese Aussage, um konkret zu sein, nicht vom Prozess göttlicher Ökonomie abstrahiert werden, der sich seinerseits unter Absehung von geschichtlichen Verlaufsformen nicht erfassen lässt. Das Verhältnis von Ostern und Pfingsten beinhaltet eine Sequenz. Wenngleich ohne das Wirken des Geistes das österliche Geschehen weder als möglich noch als wirklich gelten könnte, hat Pfingsten das Osterereignis gleichwohl zur impliziten Voraussetzung insofern, als der göttliche Geist sich nachgerade darin verwirklicht, dass er den Gekreuzigten den Auferstandenen sein lässt, um seine österliche Erscheinung für Menschheit und Welt zu erschließen. Die Begründungsfunktion, die der Pneumatologie für die Christologie zukommt, hebt den Folgezusammenhang, in dem sie zu ihr steht, nicht auf, sondern hat ihn zur Konsequenz. Zeitlich ist dieser Folgezusammenhang insofern bestimmt, als die Gegenwart des Geistes die Vergangenheit des gekreuzigten Jesus voraussetzt, die zwar in der österlichen Präsenz Christi nicht länger als Präteritum bloßer Gewesenheit, sondern als ein vollendetes Perfekt erscheint, das nie vorübergeht, die aber gleichwohl nicht aufhört, Bezugspunkt erinnernden Eingedenkens zu sein.

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Aus diesem Grund kommt dem Gedächtnis derer, die Jesus raumzeitlich nahe waren und die österliche Erscheinung Christi in ihrer Verbindung mit derjenigen seines Lebens, Leidens und Sterbens wenn vielleicht auch nicht augenblicklich, so doch von einem Augenblick an zu erfassen vermochten, eine singuläre Stellung in der Christentumsgeschichte zu, wie sie durch namentliche Benennung der ersten Zeugen eigens hervorgehoben wird. Doch ist das Wirken des Geistes nicht direkt, sondern nur indirekt an die Zeugnisse der ersten Osterzeugen gebunden, da der von ihnen Bezeugte sich in der Kraft des göttlichen Geistes selbst zu bezeugen vermag. Nicht auf die formale Autorität der berufenen Erstzeugen hin wird geglaubt, sondern um des Gehaltes ihrer Botschaft willen, welche der auferstandene Gekreuzigte ist, den und dessen Heil für die Vielen zu erschließen Bestimmung des durch das Medium der Gedächtniszeichen, die von Jesus Christus dem Christentum eingestiftet sind, wirkenden Geistes ist. So gesehen markieren die über fünfhundert Brüder, die in 1. Kor 15,6 anonym erwähnt werden, den eschatologisch ausgerichteten und durch Christi Himmelfahrt vermittelten Übergang von der Oster- zur Pfingstgemeinde, wie er dem österlichen Zeugnis gemäß ist. Das apostolische Amt, das durch die Sendung der ersten Osterzeugen begründet ist, erfüllt sich im Dienst an den Vielen mit dem Ziel, dass alle in Jesus Christus kraft des göttlichen Geistes eins werden. Das Osterereignis nötigt sowohl zu christologischen als auch zu pneumatologischen Reflexionen, die im theologischen Verständnis des in der Kraft des Geistes erschlossenen Geschehens sich erfüllen. Man hat gesagt, dass das älteste Osterverständnis theologischer Natur sei und die begründete Gewissheit zum Inhalt habe, dass die Erfahrung mit dem Gott Jesu nach dessen Kreuzestod weitere Gültigkeit besitze. Die Kontinuität zwischen Jesus und nachösterlicher Gemeinde bestehe wesentlich darin, „dass die Jünger sich legitimiert wussten, Jesu Gott weiterzuverkündigen, weil dieser Gott selbst durch Jesu Auferweckung anzeigte, wie es um die Legitimität von Jesu Gottesbild bestellt war“ (Hoffmann [Hg.], 204). Vorausgesetzt wird dabei, dass Jesu Gottesverständnis erhebliche Konflikte mit sich brachte und zu tiefgreifenden Legitimationsproblemen im Judentum seiner Zeit führte. Musste unter den Bedingungen des jüdischen Toramonotheismus bzw. Bundesnomismus die Basileiaverkündigung Jesu nicht legitimerweise als illegitim bezeichnet werden? War sie nicht tatsächlich auf einen „Kollisionskurs mit dem Alten hin angelegt“ (Hoffmann [Hg.], 209), der die jüdischen Wurzeln und damit das Judentum insgesamt und mehr oder minder in allen seinen Teilen betraf? Hat Jesus der ursprünglichen Einsicht des auserwählten Volkes, das der eine Gott ein Gott der Gerechtigkeit sei, der zwischen Gut und Böse kategorisch scheidet, durch seinen Zuspruch für Gesetzeswidrige und seine Gemeinschaft mit Toraverächtern nicht eklatant zuwidergehandelt? Bestand nicht zwischen seiner Botschaft und dem Wort des in der jüdischen Tora offenbaren Gottes eine Spannung, die einen Gegensatz und einen prinzipiellen Konflikt erzeugen konnte, ja erzeugen musste? Fragen dieser Art wurden bereits in der Einleitung aufgeworfen und sie nehmen in Anbetracht des Kreuzes dramatische Form an. Was ist die Ursache der Hinrich-

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tung Jesu? Gab es nur äußere Anlässe oder auch innere Gründe von religiös-theologischer Tiefendimension? „Der Tod Jesu ist schwerlich anders motivierbar als durch Jesu Kollisionskurs mit dem Gesetz, wenn anders zwei sonst noch diskutierte Möglichkeiten ausscheiden: Prophetischer Anspruch als solcher (auch nicht messianischer) hätte das offizielle Judentum nicht veranlasst, Jesus an Rom auszuliefern. Zelotisch-aufständische Tendenzen hätten zwar eventuell dazu führen können – obwohl historische Analogien für solche Annahme nicht gerade auf der Straße liegen –, jedoch sind die Differenzen zwischen Jesus und dieser Bewegung zu groß.“ (Hoffmann [Hg.], 214f.) Man wird diese These historisch prüfen müssen. Einfachhin von der Hand weisen, wie dies seit geraumer Zeit gerne geschieht, lässt sie sich nicht. Sollte sich die Annahme, die Kreuzigung Jesu sei in ihrem tiefsten Grund auf einen das Verständnis Gottes betreffenden Konflikt zurückzuführen, als zutreffend oder jedenfalls als nicht gänzlich abwegig erweisen, dann stellt sich die Frage nach der theologischen Bedeutung Osterns nur umso dringlicher. Gefragt werden muss dann allerdings auch, ob es ostertheologisch hinreicht, von einer Legitimation des Gottesbildes Jesu durch Gott und einer entsprechenden Kontinuierung seiner Botschaft zu sprechen. Die neutestamentliche Ostertheologie sucht einerseits gezielten Anschluss an die alttestamentliche Gottestradition und die Theozentrik frühjüdischer Überlieferungen, aus deren Zusammenhang heraus sie sich artikuliert; es kann daher scheinen, als sei die Gottesthematik recht eigentlich kein Thema neutestamentlicher Reflexion von spezifischer Eigentümlichkeit. Doch dieser Schein trügt, und er verflüchtigt sich im Lichte Osterns, das den Gekreuzigten als der Gottheit Gottes unveräußerlich zugehörig erkennen lässt. Ermisst man die Bedeutung dieser Erkenntnis, dann kommt sie einer theologischen Revolution gleich, die nicht nur unterschiedliche Gottesbilder, sondern Gott selbst betrifft. Nemo contra deum nisi deus ipse: Die theologische Wahrheit dieses Satzes ist an Ostern offenbar geworden. Ihre systematische Entfaltung, die zu den Zentralaufgaben christlicher Lehre gehört, kann gleichwohl nicht umstandslos erfolgen, weil sie, um überzeugend zu sein, ein entwickeltes Bewusstsein der Strittigkeit voraussetzt, welche die wissenschaftliche Diskussion der Osterthematik seit alters bestimmt. Die österliche Wirklichkeit und die Wahrheit, die in ihr offenbar geworden ist, sind strittig, wobei der Streit Historie und Theologie gleichermaßen betrifft. Hermann Samuel Reimarus, mit dem Albert Schweitzer die Geschichte der LebenJesu-Forschung ihren Anfang nehmen lässt, war nicht der erste, welcher die Auffassung vertreten hat, das christliche Osterzeugnis beruhe auf einem ausgemachten Schwindel. Dies haben vor ihm schon andere getan. Bereits im Matthäusevangelium wird der Vorwurf thematisiert, die Jünger hätten den Leichnam Jesu heimlich aus dem Grab entwendet, um den Gekreuzigten anschließend als von Gott erweckt und von den Toten erstanden zu proklamieren. An diesen Vorwurf schloß Reimarus mit seiner Betrugsthese an, die er mit der Annahme einer grundlegenden Verfälschung der ursprünglichen Botschaft Jesu durch die Repräsentanten der frühen Ostern und Karfreitag

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Christenheit verband. Die Betrugsthese selbst, wie gesagt, war nicht neu; neu war allenfalls die Art und Weise, wie Reimarus sie zu begründen suchte. Im Unterschied zu einer lediglich ideologisch motivierten Infragestellung der durch die neutestamentlichen Zeugen überlieferten Daten war er bemüht, deren historische Glaubwürdigkeit auf der Grundlage einer detaillierten Textuntersuchung und mit Hilfe exegetisch-hermeneutischer Verfahren zu erschüttern. Darin wich er von der im Deismus üblichen Kritik ab, so sehr er sich ansonsten den Überzeugungen deistischer Religionstheologie verbunden wusste. Ihren inhaltlichen Niederschlag fand diese Abweichung u.a. darin, dass Reimarus die im englischen Deismus begegnende, im späteren theologischen Rationalismus üblich gewordene Scheintodtheorie fallen ließ, derzufolge Jesus am Kreuz nicht wirklich gestorben sei, sondern noch geraume Zeit weiter gelebt habe. Diese Theorie hält nach dem Urteil des Reimarus historischer Kritik ebenso wenig stand wie das Osterzeugnis der Jünger. Nicht minder bemerkenswert als seine radikale Ablehnung des christlichen Osterzeugnisses ist die Tatsache, dass Reimarus Jesus selbst von ihr unbetroffen sein ließ. Im Gegensatz zu seinen verlogenen Jüngern, die den Osterbetrug inszenierten, um sich in der Gestalt des Auferstandenen selbst in Szene zu setzen, seien Jesus Lug und Trug gänzlich fern gelegen. Er wird als historische Persönlichkeit von einzigartiger religiös-sittlicher Qualität gewürdigt. Anders als etwa David Friedrich Strauß, der in Jesus allenfalls den historischen Anlass einer ihrem Wesen nach ungeschichtlichen Mythenproduktion zu entdecken vermochte, ist die Jesusforschung des 19. Jahrhunderts dieser Vorgabe weithin gefolgt, auch wenn sie die Instrumente der historischen Kritik Reimarus gegenüber nicht unerheblich verfeinerte. Obzwar man die Genese des Osterglaubens in der Regel nicht mehr auf einen Betrug zurückführen oder durch eine Scheintodhypothese begründen wollte, blieb der Fixpunkt der Erörterungen die große Persönlichkeit Jesu und der erhebende Eindruck, den er auf die Seinen gemacht hatte. Vom Eindruck der Persönlichkeit Jesu her sollte sich ergeben, was es mit dem Osterereignis auf sich hat. Adolf von Harnacks Interpretation der Verklärungsgeschichte gibt für diesen Sachverhalt ein Beispiel, das, so marginal es auf den ersten Blick erscheinen mag, vom systematischen Ansatz her gesehen alles andere als randständig ist. In der exegetischen Forschung wurden die Ostererscheinungen des Auferstandenen nicht sel- Jesu Verklärung ten mit der Verklärungsgeschichte in Verbindung gebracht, wenngleich in unterschiedlicher Weise. Mehrheitlich hat man die Geschichte der Verklärung Jesu als Prolepse bzw. vordatierte Explikation österlicher Christusepiphanie interpretiert. Diese Theorie wurde erstmals von Julius Wellhausen vertreten. Sie blieb indes nicht unwidersprochen. Neben Kritik an Details, die hier keiner Beachtung bedürfen (vgl. Baltensweiler; Fletcher-Louis u.a.), fand gelegentlich auch die gegenläufige These Zuspruch, wonach die österlichen Erscheinungserzählungen aus der Verklärungstradition erwachsen und auf deren Hintergrund auszulegen seien. Beispielhaft vertreten wurde diese Annahme im Anschluss an E. Meyer von A. v. Harnack. Ihm zufolge ist die Verklärungsvision, die Petrus

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nach seinem vorangegangenen Bekenntnis der Messianität Jesu bereits zu dessen irdischen Lebzeiten erfahren habe, der konstitutive Bezugspunkt seiner österlichen Christuserscheinungen nach dem Kreuzesgeschehen geworden. „Petrus hat zwei Visionen erlebt, eine bei den irdischen Lebzeiten Jesu, die andere nach der Kreuzigung; die zweite stand mit der ersten in engstem Zusammenhang und ist durch sie hervorgerufen bzw. ermöglicht worden; denn so wunderbar es ist, einen noch lebenden Menschen in himmlischer Glorie zu schauen – doch fehlen dafür Beispiele in der Religionsgeschichte nicht –, so ist es noch viel wunderbarer, einen am Kreuz Gestorbenen in dieser Herrlichkeit zu sehen. Aber eben die erste Vision hat eine der wichtigsten Voraussetzungen für die zweite schaffen können. Beide haben sich später gewiss in der Seele des Petrus gleichsam verschmolzen, und von ihnen sind dann die Erlebnisse der anderen in Bezug auf den auferstandenen Christus ausgegangen. Aber indem man das konstatiert, darf nicht vergessen werden, dass die Anerkennung Jesu als des Messias noch in sein irdisches Leben und vor die Verklärungsvision fällt. Sie ist eine Folge des Eindrucks der Person und des Wirkens Jesu (auf Petrus u.a.) gewesen, und sie ist die tiefste Wurzel des Christentums.“ (Hoffmann [Hg.], 116f.; bei H. teilweise kursiv) Urdatum des Christentums ist nach v. Harnack die Erkenntnis und Anerkenntnis des irdischen Jesus als des himmlischen Christus infolge des Eindrucks seiner Person und seines Wirkens, wie er sich in der Verklärungsvision in verdichteter Form manifestierte, um im österlichen Erlebnis vollendete Gestalt anzunehmen. Damit ist die Osterkritik des Reimarus im Anschluss an entsprechende Ansätze, die sich schon bei ihm finden, ins Konstruktive gewendet und eine Emanzipation der christlichen Rede von der Auferweckung und der Auferstehung Jesu von supranaturalen Anteilen erreicht. Ist Ostern doch nichts anderes als das definitive Evidentwerden dessen, was Jesus immer schon und an sich selbst war. Es bedarf keiner übermäßigen Begriffsanstrengung, um zu erkennen, dass sich in dieser Position die erste Phase der Leben-Jesu-Forschung auferstehungstheologisch reflektiert. Statt vergleichbar repräsentative Exempel bezüglich der weiteren Phasen und für „the Period of ‚No Quest‘“ zu geben, soll es einstweilen beim Harnackbeispiel und dem Hinweis sein Bewenden haben, dass theologiegeschichtliches Hintergrundwissen auch für die Würdigung der aktuellen Debatte um die Auferstehung Jesu unentbehrlich ist. Was unlängst unter hoher Publikumsresonanz zum Thema gesagt wurde, ist – abstrahiert man von Polemik – keineswegs neu und von der Auffassung, die Harnack vertrat, so weit nicht entfernt. Der Osterglaube, meint G. Lüdemann (vgl. im Einzelnen: Die Auferstehung Jesu), ist Ergebnis von Visionen. „Visionen sind das visuelle Erscheinen von Personen, Dingen oder Szenen, die keine äußere Wirklichkeit haben; eine Vision erreicht ihre Empfänger(innen) nicht über die anatomischen Sinnesorgane, sondern ist Produkt der Vorstellungskraft und Phantasie.“ (Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, 28) Unbeschadet dieser Begriffsbestimmung sollen die Ostervisionen keine bloß subjektiven Einbildungen sein, da sich in ihnen in durchaus objektiv zu nennender Weise das Bild widerspie-

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gelt, das Person und Werk Jesu hinterlassen haben. Ob diese Auskunft hinreicht, dem Realitätsanspruch der Osterwirklichkeit gerecht zu werden, wird zu prüfen sein. Diese Prüfung hat nach den Regeln der exegetischen Kunst zu erfolgen. Doch darf nicht übersehen werden, dass die historisch-kritische Wissenschaft, derer sich die Exegese befleißigt, Theorieimplikationen enthält, deren Kenntnis für die theologische Würdigung ihrer Ergebnisse nicht unbedeutsam sind. Die Debatte um die Auferweckung Jesu bietet einen Beleg für diesen Sachverhalt: Die Strittigkeit Osterns hängt mit dem Streit von Theologie und Historik um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit aufs Engste zusammen (vgl. im Einzelnen Essen). Der komplexe Zusammenhang historischer und theologischer Urteilsbildung, wie er nicht nur für die neuzeitliche Osterdebatte, sondern für moderne Christologieentwürfe insgesamt kennzeichnend ist, lässt sich an der Geschichte der sog. Leben-Jesu-Forschung exemplarisch studieren. In der Abfolge ihrer Perioden reflektiert sich ein Problem, das für die gesamte Theologie und nicht nur für einen ihrer Teilbereiche relevant ist. Bevor auf Quellen und Grundbegebenheiten, politische und soziokulturelle Kontexte der Historie Jesu und auf die theologischen Zentralgehalte seiner Sendung näher einzugehen ist, soll daher auf die Problemgeschichte moderner Jesusforschung ausführlich Bezug genommen werden. Dies geschieht unter der Prämisse, dass das christliche Osterzeugnis die Jesustradition als implizite Voraussetzung enthält. Urdatum von Christentum und Christologie ist Ostern nicht ohne Jesus. Jedes Bekenntnis, das christlich zu sein beanspruchen kann, basiert auf der Identität des österlichen Christus mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth. Doch bleibt zu fragen, wie sich der Irdische, der im Lichte Osterns den Seinen erscheint, präzise zum sog. historischen Jesus verhält, den kritische Wissenschaft mit ihren Methoden konstruktiv zu erfassen sucht. An einigen exegetischen und systematischen Fallbeispielen wird die Problemhaltigkeit dieser Frage eingangs exemplarisch erörtert, um dann einer schrittweisen Antwort zugeführt zu werden, die das fragliche Problem, statt es zu beseitigen, als einen Bestimmungsfaktor ihrer selbst in sich bewahrt. Die Uneindeutigkeit, welche die historische Betrachtung Jesu im Laufe ihrer Geschichte hervorgerufen hat und nach wie vor erzeugt, ist, so lautet die Grundannahme, der christlichen Osterbotschaft nicht äußerlich. Sie gehört vielmehr als ein unveräußerliches Moment mit jener Eindeutigkeit zu ihr, die jeden doketischen Schein behebt und die Selbigkeit des österlichen Christus mit dem gekreuzigten Jesus unzweideutig als eine für die zwiespältige, ja im Widerstreit mit sich selbst liegende Existenz des Menschen erschlossene zu erkennen gibt. Die Rede vom vorösterlichen Jesus ist uneindeutig, weil sie offen lässt, ob der solchermaßen Identität Jesu Christi Bezeichnete als der Christus Jesus zu bekennen ist. Im christlichen Osterzeugnis ist diese Uneindeutigkeit behoben und mit Eindeutigkeit ausgesagt, dass Jesus der Christus ist, weil Gott den Gekreuzigten auferweckt hat, damit er als der Auferstandene den Seinen leibhaftig erscheine. Zwar erscheint der österlich verherrlichte Christus anders als er zu seinen irdischen Leb-

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zeiten erschienen ist, aber dennoch nicht als ein anderer. Der österliche Christus ist derselbe wie der gekreuzigte Jesus. Dennoch ist der Identität Jesu Christi, wie sie österlich im göttlichen Geist manifest ist, die Andersartigkeit seiner vorösterlichen Erscheinung nicht äußerlich. Die Verborgenheit des Seins Jesu in der Uneindeutigkeit seiner irdischen Erscheinung, an welche historische Kritik ihrem methodischen Wesen gemäß beharrlich erinnert, bleibt ein Bestimmungsmoment seiner österlichen Offenbarung, so wahr der Auferstandene der Gekreuzigte ist und kein anderer. Der Selbigkeit Jesu Christi, wie sie im Grundbekenntnis des Christentums in Form eines Identitätsurteils ausgesprochen wird, eignet ein konstitutives Differenzmoment, weil sie ohne Alteritätsbezug nicht, jedenfalls nicht heilsam zu erfassen ist. Nur weil die Ostererfahrung als Moment jene Uneindeutigkeit in sich birgt, die alles Historische kennzeichnet, kann sie dem Menschen, dessen Wesen in seiner Weltexistenz verborgen liegt, jene Geborgenheit vermitteln, ohne welche die christliche Glaubensgewissheit und die hoffnungsvolle Erwartung, die aus ihr hervorgeht, nicht zu denken sind. Bleibt die Uneindeutigkeit des irdischen Daseins Jesu aller österlichen Erinnerung wert, so ist das Ostergeschehen vor allem auf jenes Ereignis zu beziehen, welches das eigentliche Fragmal der jesuanischen Existenz darstellt, nämlich auf das Kreuz. Dies gilt umso mehr, als Dtn 21,22f. von jüdischer Seite wohl beizeiten nicht nur als Argument gegen das christliche Bekenntnis zur Messianität Jesu, sondern auch gegen das Zeugnis seiner Auferstehung verwendet worden sein wird. Kann ein nach Maßgabe der Tora Verfluchter der aus dem Tode zu unvergänglichem Leben erweckte Sohn Gottes sein? Man hat darauf verwiesen, dass die Lehre von der Unsterblichkeit der Seele, wie sie in antiker Philosophie seit Platons Zeiten vertreten wurde, und der Auferstehungsglaube frühjüdischer Kreise trotz einiger Berührungspunkte nachgerade deshalb „wesensmäßig verschieden“ (Cullmann, 12) seien, weil in der apokalyptischen Tradition zwischen Sünde und Tod, Gesetzesgehorsam und Leben ein Verhältnis walte, wie es etwa bei den Griechen vergleichbar nicht zu erkennen sei. Unzweifelhaft richtig ist, dass „Law and Life“ (vgl. Sprinkle) unter jüdischen Bedingungen untrennbar sind. Das „Gotteslob der Auferweckten“ (vgl. Kellermann) wird nach jüdischem Verständnis genau auf diesen Zusammenhang gerichtet sein. Ohne ihn ist das in der Glosse Jes 26,19 sowie in Ez 37,1–14 angesprochene und im Frühjudentum intensiv fortwirkende Motiv eschatologischen Jubels der Vollendeten ebensowenig zu verstehen wie das apokalyptische Traditionselement endzeitlicher Theophanie (vgl. Scriba). Wer die Weisungen und vorgeschriebenen Satzungen der Tora beachtet und einhält, der wird der Verheißung Gottes gemäß durch sie leben, wie es Lev 18,5 heißt. Die Ez 20,11.13.21 und Neh 9,29 wiederbegegnende Passage wurde einer der wirkungsgeschichtlich bedeutsamsten Belege der hebräischen Bibel für den konstitutiven Bezug von Gesetzesgehorsam und unvergänglichem Leben, der die Eschatologie der Apokalyptik durchgehend bestimmt. Befolgung der göttlichen Gebote und endzeitliches Leben stehen in unauflöslicher Verbindung zueinander. Das Christentum hatte allen Grund, sich mit diesem eschatologischen Grundsatz in-

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tensiv auseinanderzusetzen. Nicht erst Paulus hat diese Notwendigkeit erkannt, wenngleich die Erkenntnis, die der österliche Glaube an den auferstandenen Gekreuzigten erschloss, bei ihm einen Grad erreichte, wie er vorher nicht gegeben war. Unter zum Teil direkter Bezugnahme auf Lev 18,5 (vgl. Gal 3,12; Röm 10,5) legt der Apostel dar, wie sich für ihn der eschatologische Zusammenhang von Gerechtigkeit und unvergänglichem Leben darstellt. Wer sich an die gebotene Gerechtigkeit in seinem Tun hält, der wird, wie Mose sagt, durch sie leben. Das stellt Paulus nicht in Abrede. Doch wurde die Gesetzesgerechtigkeit nach seinem Urteil durch die Sünde abgründig verfehlt mit der Folge, dass durch die Tora kein ewiges Leben und Heil, sondern im Gegenteil faktisch nur Tod, Unheil und Gericht bewirkt werde und bewirkt werden könne. Rettung für Juden ebenso wie für Heiden gebe es allein im Glauben an den Herrn Jesus Christus, der durch seinen Tod und seine Auferstehung Gerechtigkeit, Heil und ewiges Leben bewirkt habe. Im Anfang war Ostern, so wurde gesagt. Als Urdatum des Christentums lässt sich der österliche Anfang nur begreifen, wenn der religiöse Skandal nicht verkannt wird, den das Kreuz Jesu von Nazareth darstellt. Zwar erfolgte, wie sich zeigen wird, die Hinrichtung Jesu in der Konsequenz eines politisch motivierten Urteils; an den religiösen Hintergründen der causa Jesu hatte der römische Prokurator kein oder nur insoweit Interesse, als sie machtpolitisch relevant waren. Doch dürfen darüber die religiösen Motive nicht übersehen werden, die den Prozess Jesu initiierten. Der Prozess Jesu ist von eminent theologischer Bedeutung. Jesu Kreuzigung „kennt eine große Zahl von Betroffenen. An erster Stelle ist hier zu nennen Gott. Weil in der Mitte der Verkündigung Jesu Gott und sein Heilswille stehen, deshalb ist die alles entscheidende und zentrale Frage, die mit dem Karfreitag sich stellt, die Frage nach Gott.“ (Oberlinner, 73) An Ostern hat Gott diese Frage nach Zeugnis christlichen Glaubens selbst beantwortet, den Sinn des Sterbens Jesu theologisch begründet und zugleich „eine radikale Überbietung, ja eine Korrektur des vorösterlichen Glaubens der Jünger“ (Oberlinner, 79) bewirkt. Für das Verständnis der Jesustradition als impliziter Voraussetzung christlichen Osterzeugnisses ist diese Einsicht fundamental.

2. Die Jesustradition als implizite Voraussetzung christlichen Osterzeugnisses

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Ostern ereignet Gott. Alle neutestamentlichen Zeugnisse begreifen das Osterereignis als ein göttliches Geschehen, das nicht nur das Erscheinungswiderfahrnis, das den Osterzeugen zuteil wurde, begründet und erschließt, sondern den Erschließungsgrund der österlichen Erscheinung Jesu selbst darstellt. Wer von Ostern spricht, muss vom Geheimnis Gottes reden. Gott ist es, der den Gekreuzigten vom Tode auferweckt hat. Jesu Auferweckung ist eine Wirklichkeit, die auf das Wirken Gottes selbst zurückzuführen ist und ohne dieses Wirken nicht zu verstehen ist, da sie alle möglichen Selbst- und Welterfahrungen transzendiert. Ostern gründet im Geheimnis Gottes, der sich im Mysterium der Auferweckung Jesu offenbart und

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eschatologisch als derjenige erschließt, welcher er ist: der göttliche Vater des Menschensohns Jesus, der am Kreuz gestorben ist. Das christliche Osterbekenntnis ist in dem Grundsatz inbegriffen, dass Gott den gekreuzigten Jesus von den Toten auferweckt hat. Gott und Gott allein hat das nach allen Maßstäben menschlicher Erfahrung unglaubliche Ereignis durch sein souveränes Handeln bewirkt. Das österliche Geschehen gründet in der Freiheit göttlicher Tat, die das Unbegreifliche zu schaffen vermag. Als unbegreifliche Gottestat bleibt das österliche Wunder allem menschlichen Zugriff entzogen und absolutes Geheimnis nachgerade im offenbaren Vollzug seines Geschehens. An keiner Stelle des Neuen Testaments wird daher behauptet, dass der Vorgang der Auferweckung selbst von Zeugen in Erfahrung gebracht worden sei. Vorausgesetzt wird im Gegenteil, dass den Grabeswächtern Hören und Sehen verging, als der Gekreuzigte durch Gott dem Tode und der Verwesung entrissen wurde. Das Osterereignis gründet im Geheimnis Gottes und in der Unbegreiflichkeit seiner Wirklich- Offenbares Geheimnis keit, die es bewirkt hat. Gleichwohl ist das österliche Gottesgeheimnis nicht verborgen geblieben, sondern in den Erscheinungen des Auferstandenen offenbar geworden. Die Ostererscheinungen können vom Ereignis der Auferweckung zwar unterschieden, nicht aber getrennt werden. Mögen die Auferweckung und das Erscheinen des Auferstandenen unter den Bedingungen menschlicher Erkenntnis auch als zwei Geschehnisse vorgestellt werden, die sich wie Grund und Folge zueinander verhalten, so sind sie doch in Wahrheit auf differenzierte Weise eins, so wahr der von Gott Erweckte zugleich der Auferstandene ist, der als er selbst lebt, um sich von sich aus den Seinen zu zeigen. Die Erscheinungen des auferstandenen Gekreuzigten stehen in einem differenzierten, aber unauflöslichen Zusammenhang mit dem Gottesgeheimnis seiner Erweckung, welches sie als Selbsterschließung Gottes offenbaren. Durch sie wird der Bezug der eschatologischen Erweckungstat Gottes zur Geschichte Jesu hergestellt, der dieser Tat nicht äußerlich ist, sondern ihr als implizite Voraussetzung zugehört. Die österliche Beziehung Gottes zur Jesusgeschichte geht zunächst den Gekreuzigten selbst an, der als der von Gott Auferweckte leiblich zu ewigem Leben erstanden ist. Zwar ist die Leiblichkeit des Auferstandenen von anderer Art als die Leiblichkeit des irdischen Jesus. Dennoch ist der Auferstandene, wie er sich in seinen Erscheinungen zeigt, kein anderer als Jesus von Nazareth. So differenziert sich der Zusammenhang zwischen dem auferstandenen und dem gekreuzigten Jesus auch darstellt, es ändert dies nichts an der personalen Selbigkeit des am Kreuz Gestorbenen und des zu Gottes ewigem Leben Erweckten und Erstandenen, wie sie in den Ostererscheinungen offenbar ist. In ihnen wird der Auferstandene als derjenige vorstellig, der mit dem am Kreuz Gestorbenen eins ist und in dessen ewigem Leben der Tod Jesu zugleich verwahrt und überwunden ist. Weder lässt der Auferstandene den Tod Jesu dergestalt hinter sich, dass er ihn ungeschehen macht; noch verewigt er ihn als Tod in sich selbst. Er vereint vielmehr den Tod Jesu mit seinem Auferstehungsleben dergestalt, dass der Tod überwunden und der Gekreuzigte als

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derjenige offenbar ist, in dessen Kreuz der Tod zugrunde gegangen ist und zwar nicht nur in seiner physischen, sondern auch und vor allem in seiner das Gericht über die Sünde betreffenden Dimension. Im Leben des auferstandenen Gekreuzigten, wie es an Ostern in Erscheinung tritt, ist das Kreuz Jesu als der Tod des Todes und als dasjenige Geschehen offenbar, in welchem das Unwesen des Bösen an sich selbst zugrunde gegangen ist. Insofern ist es richtig zu sagen, dass Ostern ganz im Zeichen des Kreuzes steht. Der historische Jesus ist am Kreuz gestorben und hat seinen Tod nicht überlebt. Aber er ist als der Gekreuzigte nicht im Tode geblieben, sondern, durch Gott erweckt, lebendig erstanden, um sich als derjenige zu erweisen, in dessen Tod der Tod getötet und das Böse definitiv überwunden ist. Bedeuten Auferweckung und Auferstehung des Gekreuzigten die definitive Überwindung von Bosheit und Tod, dann kann es nicht bei der Aussage sein Bewenden haben, durch Ostern sei dem Kreuz Jesu lediglich eine Deutung zuteil geworden, die es in einem neuen Licht erscheinen lässt, ohne dass ein von ihm zu unterscheidendes neues Faktum gesetzt wäre. Zwar ist es in der Tat so, dass das Ostergeschehen keinen solchen Zusatz über das Kreuzesereignis hinaus darstellt, der die materialen Gehalte der am Kreuz endenden Jesusgeschichte anreichern würde. Doch wird durch die Auferweckung des Gekreuzigten seine Lebens- und Sterbensgeschichte zu einer Vollendung gebracht, die nicht nur neue Deutungsperspektiven eröffnet, sondern ein Faktum schafft, das ohne Ostern nicht gegeben wäre. Dieses Faktum besteht in der in den Erscheinungen manifesten Tatsache, dass der von Gott erweckte gekreuzigte Jesus nicht im Tode geblieben, sondern zu leibhaftem Leben erstanden ist. Die Leiblichkeit des Auferstandenen unterscheidet sich einerseits von der Sinnenfälligkeit der irdischen Daseinsgestalt Jesu, steht mit dieser aber dennoch in einer unauflöslichen Beziehung, sofern die Erscheinungsgestalt des Auferstandenen seine Identität mit Jesus von Nazareth zu erkennen gibt, dessen zeitliches Leben am Kreuz endete. Dies wird von allen Osterzeugen bestätigt. Nicht als ob Jesus in seiner raumzeitlichen Existenzform einfachhin wiederbelebt worden wäre: Dass die leibliche Erscheinungsgestalt des Auferstandenen mit derjenigen des vorösterlichen Jesus nicht zu verwechseln bzw. unmittelbar gleichzusetzen ist, wird u.a. durch den in den biblischen Ostergeschichten mehrfach begegnenden Hinweis unterstrichen, dass die Osterzeugen den österlich Erscheinenden keineswegs sofort, sondern erst dann erkannten, als er sich selbst zu erkennen gab. Gab er sich aber zu erkennen, dann wurde der Auferstandene stets als Jesus erkannt. Trotz aller Differenz der Gestalt des Auferstandenen zur irdischen Daseinsform Jesu tritt dessen individuelles Charakterbild in den Ostererscheinungen leibhaftig vor Augen, so dass alle Osterzeugen mit dem Bekenntnis zu Jesus als dem Christus die personale Identität des Erhöhten und des Erniedrigten bezeugen. Zwar transzendiert die leibhafte Erscheinung des Auferstandenen die Schranken des Raumes und der Zeit, doch entzieht sie sich nicht einfachhin Raum-Zeit-Zusammenhängen, sondern bleibt auf diese bezogen, insofern Jesus es ist, als welcher der Auferstandene in Erscheinung tritt. Dabei duldet die persönliche Selbigkeit des Aufer-

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standenen mit Jesus keinen Zweifel, so dass gesagt werden kann, dass Jesus selbst als Subjekt seines Gedächtnisses fungiert, um sich von sich aus lebendig in Erinnerung zu bringen. Die Subjektivität des österlichen Herrn ist mit dem Individuum Jesus personal eins, um als leibhafter Logos vorstellig zu werden. Als Urdatum von Christentum und Christologie ist Ostern konstitutiv mit Bezugselementen verbunden, die seine implizite Voraussetzung bilden. Zum einen handelt es sich dabei um die Überlieferungen apokalyptischer Eschatologie und ihrer Erwartung einer allgemeinen Totenauferstehung zum Gericht, die den entscheidenen Traditionsrahmen der Sendung des irdischen Jesus abgeben. Ungleich wichtiger noch ist zum anderen die Jesustradition selbst, die den materialen Gehalt der Osterbotschaft ausmacht. Ohne Berücksichtigung der Worte und Taten des irdischen Jesus und namentlich seiner Kreuzigung kann von Ostern nicht sinnvoll die Rede sein, wenn anders der Auferweckte und Auferstandene der gekreuzigte Jesus von Nazareth ist. Indes gilt zugleich, dass die beiden genannten impliziten Prämissen Osterns erst durch dessen Ereignis jene Gestalt und Form annehmen, die für das Christentum grundlegend sind. So stellt der Zukunftshorizont frühchristlicher Apokalyptik zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung christlichen Osterglaubens dar. Die Erweckung des gekreuzigten Jesus durch Gott und seine Selbsterschließung in den Erscheinungen des Auferstandenen kraft seines Heiligen Geistes bestätigen nicht lediglich ein Erwartungsschema, wie es in der frühjüdischen Apokalyptik traditionell vorgegeben war; das Ostergeschehen setzt vielmehr eine Realität von eigener Valenz, die für das christliche Geschichtsund Menschenverständnis im allgemeinen und das christliche Verständnis der apokalyptischen Überlieferungen im Besonderen von konstitutiver Bedeutung ist. Entsprechendes gilt für den Sinnzusammenhang, der zwischen Ostern und dem irdischen Leben und Sterben Jesu waltet. Es genügt nicht zu sagen, dass durch Ostern die Fortsetzung des Geschehens veranlasst und bewirkt wurde, das mit dem irdischen Auftreten Jesu seinen ursprünglichen Anfang nahm. „Die ‚Sache Jesu‘ geht weiter“ (Marxsen, Problem, 29). Mit dieser und vergleichbaren Thesen lässt sich die Bedeutung Osterns für Jesu irdisches Leben, seine Botschaft und sein Handeln nicht angemessen umschreiben. Zwar veranlasst und bewirkt das Osterereignis auch eine Weiterereignung des Jesuskerygmas (vgl. Marxsen, Problem, 30). Aber das geschieht unter der Voraussetzung, dass der Verkündiger Jesus derjenige ist, der als der österliche Christus zu verkündigen ist. Es muss daher als eine Unterbestimmung der Realität Osterns bewertet werden, wenn diese auf die Fortwirkung der Sache Jesu bzw. auf sein Wirken restringiert wird, „das in sich selbst eschatologischen Anspruch erhob“ (Marxsen, Problem 36f.). Die Realität Osterns erschöpft sich nicht darin, die Fortsetzung des Wirkens des irdischen Grund des Glaubens Jesus zu verursachen oder seinen „unmittelbaren Vollmachtsanspruch“ (Marxsen, Problem 36) zu bestätigen, der diesem Wirken angeblich zugrunde lag. Sowenig Ostern lediglich ein Interpretament der Bedeutsamkeit Jesu ist, sowenig kann die Rede von der Auferweckung und Auferstehung

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Jesu Christi als bloßer Ausdruck der Bedeutsamkeit seines Kreuzes gewertet werden. Die neutestamentlichen Osteraussagen sind nicht nur Reflexions-, sondern auch und zuerst Realitätsurteile (vgl. Geyer, 96). Ostern ist nicht nur der Anlass des Glaubens an das Heilsereignis des Kreuzes, sondern der beständige Grund dieses Glaubens, als welcher der auferstandene Gekreuzigte in seinen Erscheinungen selbst vorstellig wird. Er ist es, der die Bedeutung seines Kreuzes bezeugt und beglaubigt und so in der Kraft des göttlichen Geistes den österlichen Glauben an das Heilsereignis des Kreuzes begründet. Als Grund des Osterglaubens ist der auferstandene Gekreuzigte zugleich dessen Gegenstand, dessen Gegenständlichkeit nicht lediglich in Form eines Reflexionsurteils erfasst werden kann, sondern ein Realitätsurteil erfordert. Gäbe es das Ostergeschehen nur im Akt des Glaubens, im Vollzug der Verkündigung oder in Gestalt der Kirche als des Leibes Christi, dann könnte von ihm nicht in der klassischen Form einer perfektischen Realitätsaussage die Rede sein. Der gekreuzigte Jesus wäre dann in den Glauben, in das Kerygma bzw. in die Kirche auferstanden, um durch diese zu leben, nicht aber an sich und als er selbst. Ist der auferweckte Gekreuzigte hingegen derjenige, der sich von sich aus lebendig zu bezeugen vermag, dann muss der österliche Grund des Glaubens, des Kerygmas und der Kirche vom Akt und vom Vollzug derselben unterschieden und in seiner konkreten Gegenständlichkeit ausgesagt werden. Die Transzendenz des österlichen Grundes des Osterglaubens diesem gegenüber bedeutet indes keineswegs, dass ersterer nicht konsequent auf letzteren angelegt sei. Das Gegenteil ist der Fall: Der österliche Grund des Osterglaubens ist, was er ist, ganz und vorbehaltlos für diesen. Ohne diesen Fürbezug ist er an sich selbst nicht hinreichend zu verstehen. Zwar enthält der Grund des Osterglaubens in seiner konkreten Gegenständlichkeit und perfektischen Realität auch historische Bezüge in sich, die der Kenntnisnahme durch jene notitia offenstehen, welche etwa in der altreformatorischen Dogmatik zu Recht zu einem Bestimmungsmoment der fides erklärt wurde. Aber sowenig sich die fides in notitia erschöpft, sowenig kann der Wirklichkeitsgehalt des Ostergeschehens allein durch eine vom Prinzip analoger Vergleichbarkeit beherrschte historische Erkenntnis erfasst werden. Es muss von der alles bestimmenden Wirklichkeit Gottes die Rede sein, um den Realitätsgehalt Osterns so zu erfassen, dass er Gegenstand gläubigen Vertrauens im Sinne der fiducia sein kann. Der österliche Grund des Osterglaubens ist keine von diesem gesetzte, sondern eine sich selbst voraussetzende Voraussetzung. Zur realen Independenz des Glaubensgrundes vom Glauben sowie zu ihrer Wahrnehmung gehört ein historisches Moment unveräußerlich hinzu. Dennoch erschöpft sich die vom Osterereignis geforderte perfektische Realitätsaussage nicht in einem Urteil über ein geschichtlich fassbares Praeteritum. Sie kann hinreichend nur als theologisches Urteil getroffen werden. Weder ist der Glaube geschichtsunabhängig oder gar eine gänzlich absolute Größe, noch gründet er in einem supranaturalen Mirakel, welches der historischen Beglaubigung harrt. Er findet und hat seinen Grund vielmehr allein in der Realität Gottes, der sich in der Osterwirklichkeit Jesu Christi in der Kraft seines

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Geistes auf eine Weise offenbart hat, in der geschichtliche Einmaligkeit und eschatologische Einfürallemalgeltung keinen Gegensatz darstellen, sondern sich auf differenzierte Weise vereinen. Die Frage, ob die perfektische Aussage der Realität Osterns nur als historisches Urteil möglich ist, wird in der gegenwärtigen Theologie, wie nicht anders zu erwarten, nach wie vor höchst unterschiedlich beantwortet (zur älteren Debatte vgl. zusammenfassend Geyer, 114ff.) Dabei ist unschwer zu erkennen, dass die divergierenden Antworten auf die Frage der Historizität des in der neutestamentlichen Osterüberlieferung bezeugten Geschehens wesentlich durch unterschiedliche theologische Bezugnahmen auf die Geschichtswissenschaft bestimmt sind. Hinzu kommt, dass die Geschichtswissenschaft selbst keine einheitliche Größe darstellt, sondern in Methodenwahl und Gegenstandsbestimmung erhebliche interne Differenzen aufweist. Der Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit und das Verhältnis etwa von Faktizität und Bedeutung ist in der Historik nicht minder virulent als in der Theologie, wodurch sich die Beziehungen zwischen beiden Wissenschaften weiter komplizieren. Aus diesem Grund scheint es geraten, die historische Jesusfrage mit geschichtstheoretischen Grundsatzüberlegungen und ausführlichen Erörterungen der Problematik zu verbinden, wie sich der im Osterkerygma als Christus bezeugte irdische Jesus zum sog. historischen verhält. Unbestreitbar ist, dass das christliche OsterOsterkerygma und kerygma in einer unveräußerlichen und für es Jesustradition konstitutiven Beziehung zur Jesustradition steht. Dieser vorzugsweise in systematischer Perspektive wiederholt geltend gemachte Sachverhalt ist auch historischer Hinsicht evident und offenkundig. Der Rückblick auf die Erdentage Jesu ist von Anfang an ein die urchristliche Traditionsbildung wesentlich bestimmender Faktor gewesen. Namentlich die Evangelien, deren Geschichtsschreibung eine Reihe von Parallelen zur antiken Historiographie aufweist (vgl. im Einzelnen Becker [Hg.]), enthalten viele Hinweise, „daß im Fortgang des Tradierungsprozesses Züge, die das Erdenwirken Jesu als eigenen, von der jeweiligen kirchlichen Gegenwart gesonderten Sinnzusammenhang kennzeichnen, bewußt festgehalten worden sind“ (Roloff, 47f.). Der irdische Jesus wird erinnernd vergegenwärtigt, aber als ein von der eigenen Gegenwart Unterschiedener. Das gilt nicht nur für den vormarkinischen Passionsbericht, sondern für weite Teile der synoptischen Tradition, etwa für die Überlieferungen von Sabbatkonflikten Jesu, von der Tempelreinigung, von den sog. Wundergeschichten und von den Tischund sonstigen Gemeinschaften Jesu während seiner Erdentage (vgl. im Einzelnen Roloff, 70, 95f.) Auch das Johannesevangelium macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme, „indem es einerseits Jesu Wirken in seiner Begrenztheit zeigt, andererseits aber die heilsgeschichtliche Linie andeutet, die dieses Wirken über sich selbst hinausweisen läßt – hin auf die Glaubenserfahrung der nachösterlichen Jünger“ (Roloff, 273). Konzeptionell unterscheidet sich dies nicht grundsätzlich von den synoptischen Evangelien. Auch die von ihnen tradierten Überlieferungen sind „Niederschlag eines glaubenden Verstehens, das, von Ostern herkommend, den

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sucht, den es als den Erhöhten bekennt. Es sucht ihn aber als den Irdischen an seinem Ort und in seiner Situation.“ (Ebd.) Der Unterschied zwischen der Jesuszeit und der Zeit der christlichen Ostergemeinde bleibt in den Evangelien unbeschadet des Bewusstseins der Gegenwart und zukünftigen Wiederkehr des Herrn präsent. Das Osterwiderfahrnis impliziert „seiner Struktur nach Rückerinnerung an die Erdentage Jesu“ (Roloff, 271). Dies ist der entscheidende Grund, warum historische Motive innerhalb des „Gestaltungs- und Tradierungsprozesses der Jesusgeschichte von den Anfängen an eine weit größere Rolle gespielt haben, als vielfach angenommen worden ist“ (Roloff, 270). Durch das paulinische Kerygma wird dieser Befund nicht falsizifiert, sondern bestätigt. Auch die paulinische Christologie hat die Jesusüberlieferung zur Voraussetzung. Zwischen beiden besteht ein traditionsgeschichtlicher und sachlicher Zusammenhang. Zwar wurde von Interpreten das Verhältnis von Jesustradition und Christusverkündigung bei Paulus nicht selten in einer Weise bestimmt, die deren Beziehung tendenziell auflöst oder gar zur Diastase werden lässt. Der Christus des Paulus bzw. des hellenistischen Christentums, das er repräsentiert, stellt sich dann als ein wesentlich anderer dar als der von der Tradition der palästinischen Urgemeinde überlieferte Jesus, dessen Bild sich in den synoptischen Evangelien erhalten hat. Dabei wird allerdings übersehen, dass der Christus des Glaubens auch bei Paulus identisch ist mit dem irdischen Jesus, der am Kreuz von Golgatha gestorben ist, um durch das eschatologische Gottesereignis Osterns als Gekreuzigter Inhalt der Verkündigung zu werden. Durch Ostern als den Ursprungsort christlichen Glaubens, den die Christologie bedenkt, wird der gekreuzigte Jesus, der das nahe Gottesreich verkündet hat, selbst zum bestimmenden Inhalt der gemeindlichen Verkündigung. Jesu Verkündigung und die Verkündigung Christi sind durch das eschatologische Geschehen von Kreuz und Auferstehung auf differenzierte Weise eins. Das bestätigt nicht zuletzt Paulus. Die nahe Zukunft der Gottesherrschaft, welche die Verkündigung Jesu und all sein Wirken bestimmte, hat sich nach ihm in Jesu Tod und Auferstehen geschichtlich realisiert. Was für Jesus Zukunft ist, ist für Paulus und seine Gemeinde in dem perfekten Christusereignis Osterns Gegenwart, so dass die eschatologische Erwartung des christlichen Glaubens ganz auf das Kommen des Gekommenen ausgerichtet ist. „Während bei Jesus von der Zukunft her die Gegenwart als Zeit des Heils und der Entscheidung qualifiziert wird, wird bei Paulus die Gegenwart von der Vergangenheit her für die Zukunft als Zeit der Hoffnung erschlossen. Während Jesus die ferne Zukunft des Gerichtes an die durch die nahe Zukunft der Gottesherrschaft qualifizierte Gegenwart bindet, versteht Paulus die Gegenwart vom dagewesenen Eschaton her auf die Wiederkunft Christi hin als eine Zeit zwischen den Zeiten.“ (Jüngel, 272f.) Begründet ist die Identität des irdischen Jesus, der die Zukunft des kommenden Gottesreichs in Wort und Tat geistesgegenwärtig verkündigte, mit dem verkündigten Christus des Glaubens durch die Identifikation Gottes mit dem Gekreuzigten, wie sie im Osterereignis statthat. An Ostern identifiziert Gott seine eschatologische Herrschaft mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, der das Kommen des nahen

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Gottesreiches in Wort und Tat verkündete. „Die Identifikation des Eschatons mit Jesus wiederholt das Einmal und das Einmalige der Existenz Jesu als Ein-fürallemal, so daß nun der Verkündiger für immer als Verkündigter zur Sprache kommt, und zwar auch dann, wenn er, wie in den Evangelien, wieder als Verkündiger geschildert wird.“ (Jüngel 282) Derjenige, der in seiner irdischen Vergangenheit die Zukunft des Gottesreiches verheißen hat, ist selbst als der Erfüllungsgrund dieser Verheißung und das Hoffnungsziel eschatologischer Erwartung offenbar und als solcher dem Osterglauben mit Geistesgewissheit gegenwärtig. Der Gekommene selbst ist die Zukunft Gottes, die sich in der zweiten Parusie vollenden wird. Ist der kommende Menschensohn kein unbekannter, so stellt sich auch das Eschaton nicht länger als eine ungewisse und unheimliche Größe dar. Das eschatologische Gottesreich kommt vielmehr in der Gestalt dessen auf uns zu, der mitten unter uns war und dessen bleibendes Dasein im Geiste dem Glauben eine gewisse Heimstatt gibt, die ihn das Künftige getrost und hoffnungsfroh erwarten lässt. Was kommt zuletzt auf uns zu? Die Antwort des christlichen Glaubens lautet: Derjenige, der gekommen ist, das Reich Gottes anzusagen und zu suchen und zu retten, was verloren ist. In seinem Entgegenkommen erfüllt sich schließlich auch der Ruf zur Jesusnachfolge, deren Ermöglichung dem auferstandenen Gekreuzigten zu danken ist, in dem das göttliche Eschaton mit irdischer Geschichte eins geworden ist. Die historischen Motive, wie sie sich nicht nur in der Evangelientradition, sondern auch in den paulinischen Briefen finden, stehen in keinem „Widerspruch zur Intention des Auferstehungskerygmas, sondern sind in dessen grundlegender Struktur bereits angelegt“ (Roloff, 263; bei R. kursiv). Damit ist nicht in Abrede gestellt, dass sich die Jesusüberlieferung im Geiste Osterns spezifisch gestaltete und eine Form annahm, die singulär zu nennen ist und das Prinzip der Analogie historischer Welt- und Selbsterfahrungen transzendiert. Die österliche Erinnerung Jesu vollzieht sich in der Gewissheit, dass der Auferweckte und Auferstandene in der Kraft des göttlichen Geistes selbst als Subjekt seines Gedächtnisses fungiert. Ohne Ostern wäre diese Gewissheit grundlos und Jesus nicht als derjenige erinnert und erkannt, der er in Wahrheit ist. Ja, man muss sagen, dass Jesus in Wahrheit nicht wäre, was er ist, hätte er sich nicht als der Auferweckte und Auferstandene manifestiert. Ostern transformiert die Jesusüberlieferung auf fundamentale Weise und gibt ihr eine Gestalt, die sie ohne das Auferweckungs- und Auferstehungsereignis nicht hätte, das nicht nur von retrospektiver, sondern von einer rückwirkenden Bedeutung ist, welche Realität konstituiert und als Realität zu erschließen vermag. Doch obwohl Jesus an Ostern wirklich anders erscheint als zu vorösterlichen Zeiten, erscheint er doch nicht als ein anderer, sondern als derselbe, der er von Anbeginn war, ohne als solcher definitiv offenbar zu sein. Dabei gehört die Tatsache, dass er in seiner vorösterlichen Wirklichkeit nicht als derjenige offenbar wurde, welcher er ist, sondern verborgen blieb und missverstanden und verkannt war, unveräußerlich zur Wahrheit der Osteroffenbarung hinzu, so wahr der Auferstandene der

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Gekreuzigte ist und kein anderer. In diesem Sinne betonen sowohl Markus wie Johannes, „dass die Jünger vor Ostern Jesu Wirken, Würde und Weg nicht wirklich verstanden haben“ (Hengel/Schwemer, 244). Mit dem Hinweis, dass die Niedrigkeit der irdiChristologie und historischschen Erscheinung Jesu durch Ostern nicht dem kritische Forschung Vergessen anheimgegeben, sondern im Gegenteil einem beständigen Gedächtnis zugeführt wird, ist ein wesentlicher christologischer Grund dafür benannt, warum die Jesusgestalt historischer Forschung nicht entzogen werden darf. Historisch-kritische Jesusforschung ist von materialer christologischer Bedeutung, weil der Gehalt der österlichen Jesuserinnerung kein anderer ist als derjenige der tatsächlichen Jesusgeschichte. Definitiv Abschied zu nehmen ist von der oft wiederholten Bultmannthese, durch christliche Propheten seien postösterlich in freischaffender Phantasie Jesusworte produziert und dem Irdischen in den Mund gelegt worden, wobei die Gemeinde den Unterschied zwischen diesen und überlieferten Jesusworten nicht empfunden habe, weil sie beide als authentische Aussagen des Auferstandenen empfand. Diese These darf nach allem, was von urchristlicher Prophetie und vom Traditionsbewusstsein der Gemeinde bekannt ist, als widerlegt gelten. Ostern reichert die historisch zugängliche, am Kreuz endende Jesusgeschichte materialiter nicht an. Die Ostergewissheit vermittelt kein zusätzliches Traditionswissen. Sie produziert keine Jesusgestalt über diejenige hinaus, die Gegenstand allgemeinen historischen Bewusstseins werden kann und tatsächlich geworden ist. Der Geist Osterns entbindet zwar eine produktive Einbildungskraft, die schauen und wahrnehmen lässt, was kein Auge je gesehen und kein Ohr je gehört hat. Der Ostergeist erzeugt aber keine fiktiven Gebilde, weil er strukturell an die Erinnerung der Geschichte des gekreuzigten Jesus gebunden ist, die er nicht ergänzt oder ersetzt, sondern als vollendet und ein für alle Mal gültig erschließt. Ist mithin dem materialen Gehalt nach die österliche Erinnerung Jesu von dem historischen Gedächtnis seiner irdischen Erscheinung nicht grundsätzlich unterschieden, so divergieren doch beide formaliter insofern, als das Osterkerygma den vorösterlichen Jesus unter österlichen Bedingungen erinnert, wohingegen die historisch-kritische Forschung ihn gewöhnlich unter Absehung von diesen Bedingungen ins Auge fasst. Dadurch wird die Hauptfunktion nicht in Frage gestellt, die sie für die Christologie auch und gerade dann erbringt, wenn sie keine eigenen christologischen Interessen verfolgt. Historische Jesusforschung leistet einen unverzichtbaren Beitrag zur Christologie, „indem sie die geschichtlichen Umstände seines (sc. Jesu) Auftretens und Wirkens erhellt, seine Verkündigung in ihren Grundzügen hervortreten lässt und auch den dahinter stehenden Anspruch Jesu in den Blick bringt“ (Schnackenburg, 18). Zwar haben die neutestamentlichen Schriften einschließlich der Evangelien kein isoliertes Interesse am historischen Jesus, da ihr Blick „immer schon auf den verherrlichten Christus, den bleibenden Herrn seiner Gemeinde gerichtet ist“ (Schnackenburg, 19). Doch sind die österlichen Jesusbilder dem neutestamentlichen Selbstverständnis nach „nicht Träume

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und Phantasiegebilde“ (Schnackenburg, 354), die sich der Phantasie einzelner Gläubiger oder der christlichen Gemeinde verdanken; sie setzen vielmehr den Stoff, aus dem die österlichen Jesusvorstellungen gebildet sind, als geschichtliche Überlieferungen voraus, die allgemeiner Erfahrung zugänglich und in ihrem materialen Gehalt überprüfbar sind. Im Vollzug dieser Prüfung besteht der Hauptwert historisch-kritischer Exegese für die Christologie. „Ein grundsätzlicher Verzicht auf die Frage nach der geschichtlichen Wahrheit käme einer Verflüchtigung des christlichen Glaubens in eine Ideenlehre gleich, wie sie zum erstenmal im großen und gefährlichen Stil in der frühen Gnosis auftrat.“ (Trilling, 164) Die unverzichtbare materiale Bedeutung historisch-kritischer Forschung für die Christologie hebt den förmlichen Unterschied beider nicht auf. In der christologischen Perspektive des apostolischen Kerygmas, so wurde wiederholt vermerkt (vgl. etwa Trilling), ist das Jesusgeschehen eindeutig, unter historischem Aspekt uneindeutig bzw. mehrdeutig. In der Tat schwankt das Jesusverständnis historischer Forschung nicht unerheblich. An ihrer eigenen, gerade im vergangenen Jahrhundert sehr wandlungsreichen Geschichte lässt sich dies im Einzelnen belegen: „Wohl keines der Teilgebiete der neutestamentlichen Wissenschaft hat im 20. Jahrhundert derart umwälzende Wandlungen durchgemacht wie die Jesusforschung.“ (Kümmel, 84; vgl. Weaver) Zu pluralisieren und zu relativieren sowie Absolutheitsannahmen zu problematisieren, liegt im Wesen historischer Betrachtung begründet. Darin macht die historische Jesusforschung, wie ihre Ergebnisse belegen, keine Ausnahme. Auch wenn sie Faktizität und Grundbegebenheiten der Historie Jesu zu verifizieren vermag – zu einem eindeutigen christologischen Urteil über seine Geschichte kann sie nicht gelangen. Indes ist das Bewusstsein der Uneindeutigkeit der historischen Erscheinung Jesu bzw. der Mehr-, ja der Zweideutigkeit seiner möglichen Wahrnehmung ein notwendiges Implikat jeder christologischen Urteilsbildung. Die neutestamentlichen Christologien bestätigen dies. Unbeschadet ihres bei aller internen Differenziertheit eindeutigen Bekenntnisses zum gekreuzigten Jesus als erhöhten Herrn ist ihrem österlichen Christusgedächtnis die Erinnerung an die Ambivalenz der irdischen Jesuserscheinung unvergesslich eingezeichnet. Zur jesuanischen Geschichte und ihrer Erkenntnis gehören nach christologischem Urteil des Neuen Testaments Uneindeutigkeit und Ambivalenz sowie Missverstehen bis hin zu völliger Verkennung. Abgesehen davon, dass die Historie Jesu in weltgeschichtlicher Perspektive als marginal und ziemlich bedeutungslos erschien, kennzeichnete nachgerade sein Leiden und Sterben nach menschlichen Maßstäben bemessen ein hohes Maß an Zweideutigkeit. Wenn sie es denn überhaupt zur Kenntnis nahmen, musste das Kreuzesgeschehen den Zeitgenossen entweder als selbstverschuldet oder als sinnlos bzw. sinnwidrig, jedenfalls als ein Ereignis erscheinen, das mit Messianität und göttlicher Erhabenheit zu assoziieren wenig Anlass bestand. Das Urteil „Jesus ist der Christus“ sagt die Identität von höchst Unterschiedlichem, ja Gegensätzlichem und Widersprüchlichem aus. Dies im Zeichen einer theologia crucis im Bewusstsein zu halten, gehört zu den wesent-

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lichen Aufgaben, welche historisch-kritische Jesusforschung für die Christologie wahrzunehmen hat. Die Historie Jesu, wie das neutestamentliche Osterkerygma sie wiedergibt, und der historische Jesus sind höchst different und identisch zugleich. Dies gilt es christologisch nicht im Gegensatz, sondern im differenzierten Zusammenhang mit historisch-kritischer Jesusforschung zu bedenken. Es zählt zu den Grundaufgaben moderner Christologie, die historische Jesustradition und das österliche Kerygma vom auferstandenen Gekreuzigten so in Beziehung zu setzen, dass Einheit und Differenziertheit ihres Zusammenhangs gleichermaßen zur Geltung kommen. Bezüglich dieser Aufgabenbestimmung herrscht in der Forschung weitgehendes Einvernehmen. Weniger einvernehmlich fallen dagegen die Lösungsversuche der aufgegebenen Problematik aus, was wesentlich damit zusammenhängt, dass sich in ihr exegetische und systematische Fragen auf eigentümliche Weise verschränken. An zwei ausgewählten Fallbeispielen gegenwärtiger Diskussion sei dies paradigmatisch verdeutlicht mit dem Ziel, das nötige Problembewusstsein für ein Zentralthema aktueller Christologie herzustellen oder zu fördern. In Betracht kommen mit Peter Stuhlmacher und Ulrich Wilckens vorzugsweise Repräsentanten neutestamentlicher Theologie, deren Konzeptionsansatz im dezidierten Gegensatz zu Rudolf Bultmanns Verhältnisbestimmung von Christologie und historischem Jesus ausgebildet wurde. Wenn möglicherweise auch nicht die Durchführung ihrer Konzeption einer Theologie des Neuen Testaments, so kann doch ihr Ansatz beim vorösterlichen Jesus mit grundsätzlicher Zustimmung einer Exegetenmehrheit rechnen. Während Rudolf Bultmann und seiner Schule Exegetische (vgl. Bultmann, Conzelmann etc.) die jesuaniKonzeptionsentwürfe sche Verkündigung als bloße Voraussetzung einer Theologie des Neuen Testaments galt, zählen Stuhlmacher und Wilckens sie sowie die Wirklichkeit des vorösterlichen Jesus überhaupt zu deren Fundamenten. In radikaler Form wurde die Position einer fundamentalchristologischen Bedeutung dessen, was man Jesulogie nennen könnte, von Joachim Jeremias vertreten, von dessen neutestamentlicher Theologie signifikanterweise nur ein erster, der Verkündigung Jesu gewidmeter Teil erschienen ist (vgl. Jeremias I). Basis der Theologie des Neuen Testaments ist nach Jeremias die von ihm sogenannte „viva seu ipsissima vox“ des irdischen Jesus. Sein vollmächtiger Ruf sei der Grund des gemeindlichen Zeugnisses, das ihm antworte. Primär und vor allem Jesu Wort, wie es namentlich aus den synoptischen Evangelien mit historisch-kritischen Mitteln wissenschaftlich zuverlässig erhoben werden könne, und nicht erst das Kerygma des gekreuzigten und auferstandenen Christus bilde die Basis des christlichen Glaubens und die Grundlage einer Theologie des Neuen Testaments. Der Ansatz von Joachim Jeremias blieb vereinzelt und wurde selbst von Exegeten kritisiert, die ihm konzeptionell nahe stehen, wie das aktuell etwa bei Stuhlmacher der Fall ist. Das einzige wissenschaftlich bewährte Verfahren, ein geschichtliches Dokument so zu verstehen, wie es aus sich selbst heraus verstanden werden will, ist nach Stuhlmachers Urteil die historisch-kritische Methode als ein En-

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semble von Einzelmethoden, die den von Ernst Troeltsch paradigmatisch formulierten Grundsätzen der Kritik, der Analogie und der Korrelation folgen. Dies gelte auch für das Neue Testament und die in ihm begegnende Jesustradition. Die aus den Quellen wissenschaftlich erhobene Gestalt des historischen Jesus dürfe indes theologisch nicht gleichgesetzt werden mit dem irdischen Jesus, wie er biblisch bezeugt und für die kirchliche Verkündigung maßgebend sei. Vielmehr müsse zwischen dem historischen Jesus als einer wissenschaftlichen Rekonstruktionsgestalt und dem irdischen Jesus, welchen das Neue Testament bezeuge, auch dann unterschieden werden, wenn zwischen beiden eine wesentliche Deckungsgleichheit anzunehmen sei, wie das von Stuhlmacher beansprucht wird. Im Übrigen dürfe nicht übersehen werden, dass die Osterbotschaft nicht lediglich Zeugnis von Gottes Offenbarung in Jesu irdischer Geschichte und ureigenem Wort sei. Die österliche Gottestat sei von durchaus eigener Bedeutung und gehe in der bloßen Bestätigung der irdischen Sendung Jesu nicht auf, sondern vollende und erfülle sie. Trotz seiner erklärten Ablehnung einer Reduktion von Christologie auf historisch eruierbare Traditionsbestände des irdischen Lebens Jesu ist Stuhlmachers eigene Konzeption, wie erwähnt, durch die entschiedene Annahme einer durchgehenden und weitgehend ungebrochenen Kontinuität von Jesustradition und Christuskerygma gekennzeichnet mit der Konsequenz, dass der historische mit dem kerygmatischen Jesus konvergiert. Am deutlichsten zeigt sich dies in den historischen Ausführungen zum persönlichen Vollmachts- und Hoheitsanspruch Jesu, dessen Selbstbewusstsein nach Stuhlmacher bereits von dezidiert christologischer Art ist. Konzeptionell ist dies von entscheidender Bedeutung, sofern der Kontinuitätszusammenhang zwischen Jesustradition und Christuskerygma zwar nicht ausschließlich, aber doch wesentlich durch das Sendungsbewusstsein Jesu vermittelt wird. Der irdische Jesus ist nach Stuhlmacher als geschichtliches Individuum im Grunde und auf historisch grundsätzlich erfassbare Weise der manifeste Messias-Menschensohn, und er weiß dies auch mit der in seinem singulären Sendungsbewusstsein begründeten Gewissheit, welche die Basis all seinen Redens und Wirkens ist. Dies schließe nicht aus, sondern ein, dass Jesus sich in einer gegenüber der alttestamentlich-jüdischen Menschensohn- und Messiaserwartung ganz neuartigen Weise als Repräsentant Gottes und seiner Herrschaft auf Erden gewusst habe. Die Selbstidentifikation mit dem messianischen Menschensohn-Weltenrichter, die Jesus nach Stuhlmacher infolge des Geisterlebnisses seiner Taufe durch Johannes und nach einer anschließenden Fastenzeit in der Wüste vollzogen hat, unterliegt keiner Fremdbestimmung durch vorgegebene Tradition, sondern sprengt, indem sie an sie anschließt, zugleich deren Rahmen, um sie souverän zu transformieren: Jesus ist der erwartete Messias-Menschensohn, aber er ist dieser auf ganz neuartige Weise und anders, als erwartet. Gerade darin trete die unvergleichliche Singularität und Souveränität seines Selbstbewusstseins und seines persönlichen Vollmachtsanspruchs zutage, der ihn kategorial von allen Rabbis und endzeitlichen Propheten, aber auch von seinem Täufer unterscheide.

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Der Sache nach ist damit die zentrale These Stuhlmachers umschrieben und die Meinung abgewiesen, die christologischen Hoheitstitel seien im Wesentlichen erst nachösterlichen Ursprungs und nicht Ausdruck eines bereits für den irdischen Jesus gültigen Verständnisses und Selbstverständnisses. Das Christusbekenntnis der österlichen Gemeinde entspricht, so Stuhlmacher, der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu: Dieser „hat gelebt, gewirkt und gelitten als eben der Christus, den der christliche Glaube in ihm sieht und bekennt“ (Stuhlmacher I, 110; bei S. kursiv). Exegetisch belegt wird dies anhand der synoptischen Tradition, deren historischkritische Untersuchung die Annahme eines Fehlens eines titularen Selbstverständnisses Jesu eindeutig zu falsifizieren vermöge. Dieser Befund lässt sich nach Stuhlmacher aus dem Petrusbekenntnis Mk 8,29par sowie aus dem Messiasbekenntnis Jesu Mk 14,61f. ebenso erheben wie aus der Menschensohnüberlieferung des Neuen Testaments: sowohl die Worte vom gegenwärtig wirkenden und kommenden, als auch und insbesondere diejenigen vom leidenden Menschensohn haben nach seinem Urteil einen klaren Anhalt am Selbstverständnis und an der Wirklichkeit des irdischen Jesus. An der ersten Untergruppe der Menschensohnworte kann nach Stuhlmacher erwiesen werden, dass sich Jesus als der von Gott ausgesonderte und zum Repräsentanten bestimmte Mensch unter Menschen verstand, zu deren Stellvertreter vor Gott er sich zugleich berufen sah. Als der gegenwärtig wirkende Menschensohn Gottes weiß sich Jesus zugleich aufs engste verbunden mit dem kommenden Menschensohn der endzeitlichen Gottesherrschaft. Die Worte vom leidenden Menschensohn aber, deren Authentizität Stuhlmacher nachgerade dort voraussetzt, wo die Gottesknechtstradition von Jes 43,3–5 und 53,11f. aufgenommen ist, zeigen, dass die messianische Sendung nach Jesu Selbstverständnis auf sein stellvertretendes Sühneleiden für die Vielen hingeordnet ist. Dass Jesus sein gewaltsames Ende nicht nur für unvermeidlich hielt, sondern dass er nach eigenem Verständnis seinen Todes, den er in der Tradition des Prophetenmartyriums und des leidenden Gerechten deutete, als freiwilliges Opfer stellvertretender Sühne sterben sollte, lässt sich nach Stuhlmacher neben den Worten vom leidenden Menschensohn und den Logien Lk 13,31–33, Mk 9,31 (Lk 9,44b), 10,45par vor allem der Abendmahlsparadosis Mk 14,22–26 entnehmen: Durch sie interpretiert Jesus selbst in zeichenhafter Deutung die bevorstehende Faktizität seines Todes und gibt sich bereits vorösterlich als messianischer Gottesknecht zu erkennen, der stellvertretende Sühne leistet und gottmenschliche Versöhnung bewirkt. Während die jüdische Überlieferung einen leidenden Menschensohn nicht kennt und vom Leiden des Messias nur in wenigen Andeutungen gesprochen hat, will Jesus Messias nicht anders denn als leidender Menschensohn sein. Darin liegt nach Stuhlmacher die unvergleichliche Eigenart seiner Sendung und seines Sendungsbewusstseins begründet: „Während seines irdischen Wirkens wollte Jesus der messianische Menschensohn in der Weise sein, dass er als der von Gott gesandte Gottesknecht Existenzstellvertretung für ‚die Vielen‘ (d.h. Israel und die Völker) übte.“ (Stuhlmacher I, 121f.; bei St. kursiv). Jesu Leidensbereitschaft und sein

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Todesverständnis bestätigten diesen Befund. Passion und Kreuzigung haben insofern als Konsequenz der Sendung Jesu zu gelten. Sie stellen Jesu Sendung und das Bewusstsein, das er von ihr hatte, nicht in Frage, sondern sind im Gegenteil deren Erfüllung. So gesehen ist der Tod Jesu die Vollendung seiner irdischen Lebenssendung und die theologia crucis Implikat der Jesulogie. An Ostern tritt, wenn man so will, die Gottgefälligkeit der jesuanischen Kreuzeshingabe lediglich offen zutage, welche zumindest für das Selbstbewusstsein Jesu schon zu seinen irdischen Lebzeiten feststand, wenn anders er sich seiner göttlichen Sendung in der bezeichneten Weise bewusst und gewiss war. Von einem Schleier des Geheimnisses war Jesu messianisches Hoheitsbewusstsein zu seinen irdischen Lebzeiten nach Stuhlmacher freilich noch umgeben und zwar in dreifacher Weise: Jesus war zeit seines Lebens eine umstrittene Figur und zwar nicht nur bei seinen erklärten Gegnern, er sprach seinen Sendungsauftrag und sein Sendungsbewusstsein zumeist nicht offen und öffentlich, sondern im Verborgenen aus, und er wurde im Übrigen auch von den Seinen weithin und sehr oft nicht verstanden, weil die Weise, in der er sich selbst als Messias-Menschensohn wusste, in Anbetracht der traditionellen Heilsbringererwartungen umso unverständlicher werden musste, je konsequenter Jesus seine Sendung verfolgte. Spätestens am Kreuz endet alles menschliche Verstehen einschließlich desjenigen der Jünger, bei denen „sich das Verständnis für Jesu wahres geschichtliches Sein erst von den Osterereignissen her durchsetzen konnte“ (Stuhlmacher I, 125). Ist mithin für den Glauben der Jünger wie für das christliche Glaubensverständnis überhaupt das Osterereignis konstitutiv, so gilt dies für das Selbstverständnis Jesu nur insofern, als an Ostern sein bereits zu irdischen Lebzeiten gegebenes Selbstbewusstsein seine definitive göttliche Bestätigung fand. Das Innerste des Lebens Jesu, das im christologischen Bewusstsein seiner Sendung durch Gott bestand, bleibt denn auch nach Stuhlmacher vom Kreuzesleiden zumindest insofern unberührt, als von einer fundamentalen Krise des Gottesverhältnisses Jesu, in welcher sein messianisches Selbstbewusstsein zugrunde geht, ja zugrunde gerichtet wird, nicht die Rede sein kann und darf. Jesu Hinrichtung am Kreuz und sein Sterben stellen sich für Stuhlmacher als „willentlich ertragene Konsequenz seiner messianischen Sendung“ dar (Stuhlmacher I, 154; bei St. teilweise kursiv). Zwar sei der Klageruf Jesu am Kreuz, wie er Mk 15,34 auf Aramäisch wiedergegeben und anschließend wörtlich ins Griechische übersetzt worden sei, ein Ausdruck erlittener Gottferne und äußerster Einsamkeit. „Dennoch signalisiert dieses letzte Wort kein Scheitern Jesu.“ (Stuhlmacher I, 154) War der Kreuzestod für seine Anhänger ein Schreckensereignis sondergleichen, für die Gegner der von der Tora gebotene Fluchtod eines Gotteslästerers, so hat Jesus selbst ihn als Konsequenz seiner messianischen Sendung und in Bindung an die israelitische Glaubenstradition vom leidenden Gottesknecht und vom Todesgeschick der Propheten und Gerechten in Opferbereitschaft willig und willentlich auf sich genommen, um Sühne zu wirken für die Vielen durch Preisgabe seines unschuldigen Lebens. Während nach Stuhlmacher Jesus bei allem äußeren Leid in ungebrochenem

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Vollbewusstsein und in der inneren Gewissheit seiner göttlichen Sendung gestorben ist, setzt Ulrich Wilckens’ „Theologie des Neuen Testaments“ gerade in der Sterbeszene Jesu andere Akzente. Das ist umso bemerkenswerter, als das Bild, das Wilckens von der Geschichte des Wirkens Jesu in Galiläa und Jerusalem zeichnet, in entscheidenden Grundzügen mit demjenigen Stuhlmachers übereinstimmt. Die Vision, die Jesus nach Mk 1,9f. im Zusammenhang seiner Taufe durch Johannes widerfuhr, wird als Berufungs- und Offenbarungserlebnis gedeutet, „in dem Jesus sich als Sohn Gottes, seines himmlischen Vaters, erfahren und durch das er im Kreis der von Johannes Getauften eine hervorragende Bedeutung erlangt hat“ (Wilckens I/1, 109). Nach erfolgreich bestandener Versuchung durch den Teufel tritt Jesus als der endzeitliche Sohn Gottes, der sich in offenbarer Einheit mit dem Vater weiß, seine galiläische Mission an, um in Wort und Tat das nahegekommene Reich Gottes zu verkündigen. Im Verlauf des Zuges nach Jerusalem tritt das Sendungsbewusstsein Jesu in ein neues Stadium seiner Entwicklung, und es wird endgültig offenbar, wer Jesus ist bzw. wozu er sich berufen weiß. Hatte er sich schon in Galiläa mit dem göttlich bevollmächtigten Menschensohn identifiziert, der Urbild und Repräsentant der Gottesherrschaft selbst ist, so gelangte er angesichts forcierter Nachstellungen seiner Gegner unter dem Eindruck des Gottesknechtsliedes von Jes 53 zu der Einsicht, durch stellvertretendes Leiden und Sterben versöhnende Sühne zu leisten bestimmt zu sein. „Nur dadurch, dass er als der Menschensohn sein eigenes Leben ‚für die vielen‘ zum Opfer hingibt (Mk 14,24f.), werden die vielen, die sich der von ihm verkündigten Königsherrschaft Gottes verweigern, an deren Heilswirklichkeit teilhaben können.“ (Wilckens I/2, 53; bei W. teilweise kursiv) In der Bestimmung zu stellvertretendem Leiden und Sterben um der Versöhnung willen wird das Persongeheimnis Jesu, das sein Leben bestimmte und ihm innere Einheit gab, definitiv manifest. Auf dem Weg zum Kreuz wird der Menschensohn seiner messianischen Sendung vollends gewahr: das zeigen der Einzug in Jerusalem und die Aktion im Tempel, die auf das Ende des Opferkults und seine Aufhebung durch Jesu Sühnesterben vorausweist, und das zeigt das Abschiedsmahl als sühnewirkende Umstiftung des Passahmahles. Die Verbindung zwischen den Deuteworten und der Ankündigung des eschatologischen Mahles im Gottesreich lässt den Zusammenhang erkennen, der nach Urteil Jesu zwischen seiner Verkündigung der Gottesherrschaft als dem zentralen Thema seines galiläischen Wirkens und der heilsgeschichtlichen Notwendigkeit seines Sühnesterbens in Jerusalem waltet: „Hat Israel den Ruf zur Umkehr zur Gottesherrschaft großenteils verweigert und sich dadurch endgültig das Gericht zugezogen, das Jesus ‚dieser Generation‘ in aller Härte verkündigen muss, so eröffnet Gott jetzt eine ganz neue Chance der Errettung ganz Israels, indem sein Messias sein eigenes Leben stellvertretend für diese ‚vielen‘ hingibt und so eine Sühnung ihrer Sünden mit endzeitlicher Wirkung schafft, durch die alle, die durch ihr Tun und Verhalten sich selbst vom Endheil bereits ausgeschlossen haben, von dem Unheil des Gerichts befreit werden Das Fragmal des Kreuzes

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und am Heil der Königsherrschaft Gottes teilhaben dürfen. So erweist Gott seine ihm eignende Barmherzigkeit (Ex 34,6), indem er sein Volk einst aus der Sklaverei in Ägypten errettet hat, auf ganz neue Weise mit endzeitlicher Heilskraft in dem Sühnegeschehen des Todes seines Messias Jesus. Jetzt ist es die Sklaverei der Sünde, aus der er ‚die vielen‘ seines schuldig gewordenen Volkes errettet.“ (Wilckens I/2, 84f ) Der Weg von Galiläa nach Jerusalem führt immer weiter und immer konsequenter ins Zentrum der Mission Jesu, deren innerste Mitte sein Tod am Kreuz ist. Konvergiert die Geschichte des irdischen Jesus, wie die „Theologie des Neuen Testaments“ von Wilckens sie nachzeichnet, in Grundzügen mit der Darstellung, die Stuhlmachers „Biblische Theologie des Neuen Testaments“ von ihr gibt, so wird ein nicht unerheblicher, sondern für das theologische Gesamtverständnis durchaus entscheidender Unterschied dort erkennbar, wo Jesu Sendung sich nach Urteil beider Exegeten vollendet: im Kreuzesgeschehen und seinem Verständnis. Während Stuhlmacher dazu tendiert, die Faktizität des Kreuzestodes in der Deutung aufgehen zu lassen, die der sterbensbereite Jesus ihr gibt, um sie so ins Bewusstsein zu integrieren, das der Irdische von sich selbst und seiner göttlichen Sendung hat, gerät nach Wilckens das messianische Selbstbewusstsein des irdischen Jesus am Kreuz in eine Krise, die nicht nur seine äußere Existenz, sondern das Innerste seiner selbst, nämlich sein Gottesverhältnis betrifft. Zwar endet Psalm 22, dessen Anfang der Gekreuzigte in der Stunde seines Todes aus der akuten Not völliger Gottverlassenheit heraus betet, mit einem lobpreisenden Dank des Beters für seine Errettung. „Doch die Wende von der Gottverlassenheit zum Lobpreis der Errettung, die der Psalmist im zweiten Teil besingt, ist in der Situation des sterbenden Gekreuzigten auf die bloße Anrede ‚mein Gott‘ reduziert.“ (Wilckens I/2, 106) Das eschatologische Heil, das Jesus verkündete, ist an seinem Kreuz in absolute Ferne gerückt, als gänzlich abständiges, und, wenn überhaupt, nur im Modus eines alles Begreifen sprengenden Kontrastes „sub contrario“ präsent. „In dem Schrei seiner Verlassenheit von ‚seinem Gott‘ konzentriert sich alle Errettung ganz allein auf diesen selbst. Nie war Jesus so total auf Gott angewiesen wie in dieser Stunde. Nur so, auf diese zutiefst widersprüchliche Weise, ist gerade der Gekreuzigte der Repräsentant des Gottes der Königsherrschaft. Nur so bleibt er Gott auch im äußersten Elend seines Todes am Kreuz verbunden. Und das heißt: Für die Erfahrung des Gekreuzigten selbst in seiner Todesstunde ist seine Rettung und der Triumph seiner ganzen Sendung, die nach Gottes Heilswillen in der Auferstehung des Menschensohns aus seinem ihm verordneten Leiden und Tod in endzeitlicher Wirklichkeit geschehen soll (Mk 8,31; 9,31; Lk 13,32), ganz fern und unerfindlich gewesen.“ (Ebd.; bei W. teilweise kursiv) Ist Jesus am Kreuz der Grund seiner göttlichen Sendung selbst unerfindlich geworden, dann hat dies für Erkenntnis und Wesen seines irdischen Lebens rückwirkende Folgen, die weder im Hinblick auf dessen äußeres, noch gar für dasjenige Verständnis unberücksichtigt bleiben dürfen, wie es sich gewissermaßen von innen heraus darstellt und unter dem Gesichtspunkt jesuanischen Selbstverständnisses thematisch wird. Sowohl das äußere als auch und vor allem das innere, am jesua-

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nischen Selbstverständnis orientierte Verständnis des irdischen Jesus hängt entscheidend davon ab, wie man, um mit Wilckens zu reden, gewichtet, „dass jene Urverbundenheit mit Gott, in der Jesus von dem Offenbarungswiderfahrnis nach seiner Taufe an in seinem ganzen Wirken sich von Gott getragen und Gottes endzeitlich-überkommener Heilsmacht erfüllt erfahren hat, in seiner Todesstunde am Kreuz aus seiner Seele gewichen ist“ (ebd.). Vom Gewicht, das der Todeskrise Jesu beigemessen wird, hängt nicht weniger ab als der Stellenwert der theologia crucis in ihrer für das Christentum unermesslichen Bedeutung. Deshalb bedarf es konzentriertster theologischer Aufmerksamkeit, wenn der Blick auf Jesu Kreuz gerichtet wird. Von Rudolf Bultmann und anderen ist die These vertreten worden, man könne nicht wissen, wie Jesus seinen Tod verstanden und sein Sterben empfunden habe; die Möglichkeit eines Zusammenbruchs dürfe man sich nicht verschleiern. An dieser Feststellung ist mehreres zutreffend: Dass der Tod nicht nur möglicher, sondern tatsächlicher Zusammenbruch ist, kann als ein Erfahrungsdatum von ebenso allgemeiner wie äußerlicher Art gelten und ist im Begriff des Todes als der Vernichtung physischer Existenz unmittelbar enthalten. Begriffen ist der Tod damit indes keineswegs und derjenige Jesu am allerwenigsten. Zutreffend ist ebenfalls, dass das Verständnis, welches ein Mensch von sich selbst und von seinem Ende hat, empirisch allenfalls über Äußerungen, nicht aber an sich selbst und in seiner inneren Verfassung zugänglich ist. Insofern hat es mit der Warnung seine historisch-kritische Richtigkeit, bei der Erörterung der Gestalt des irdischen Jesus nicht psychologisierend nach Jesu Selbstverständnis oder Selbstbewusstsein zu fragen, weil auf diese Frage in den überlieferten Texten keine Antwort zu finden ist. Gleichwohl wird man nicht in Abrede stellen können, dass ein Verständnis, welches auf das Innere eines Personlebens ausgerichtet ist, sich nicht damit begnügen kann, Äußerungen in ihrer Äußerlichkeit zu registrieren. Es wird in ihnen vielmehr dessen inne zu werden suchen, der sich äußert, um ihn selbst und damit so zu verstehen, wie er sich selbst verstand. Von daher ist die Frage nach dem Selbstverständnis Jesu für dessen Verständnis alles andere als belanglos. Wer Jesus verstehen will, muss ihn offenbar so verstehen, wie er sich selbst verstand und zu verstehen gegeben hat. Die Art und Weise, wie sich der irdische Jesus zu verstehen gab, hatte kein eindeutiges Verständnis seiner Person zur Folge. Dieses war vielmehr strittig und blieb es bis zuletzt. Ja, man wird sagen müssen, dass der Streit um das Verständnis seiner Person immer mehr eskalierte, um am Kreuz seinen Höhepunkt und sein nach menschlichem Urteil definitives Ende zu finden. Dabei ist davon auszugehen, dass das Ende des irdischen Jesus nicht nur von den Gegnern, sondern auch von seinen Anhängern als schiere Tatsache und als faktisches Scheitern wahrgenommen wurde. Gesetzt auch, der irdische Jesus hat sein Leiden und Sterben und das Faktum seines Todes als notwendig und sinnvoll vorweg gedeutet, so half diese Deutung doch offenkundig nicht über die abgründige Krise hinweg, in welche der Tod Jesu seine Anhänger stieß. Angesichts des Kreuzestodes musste ihnen Jesus als eine der

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Verwesung preisgegebene, von Gott und den Menschen verlassene Vergangenheitsgestalt erscheinen. Selbst wenn man unterstellt, dass das letzte Wort des Gekreuzigten, indem er seine Gottverlassenheit beklagt, noch einen verborgenen Hinweis auf den Bedeutungsgehalt seiner Passion enthielt: ihr möglicher Sinn musste spätestens durch den Schrei, mit welchem der Gekreuzigte verschied, auch bei den Seinen einem Unverständnis weichen, das verständnislos zu nennen eine Verharmlosung wäre. Mit dem Verstummen Jesu musste nachgerade jenes Verständnis ans Ende gelangen, das sich an Jesu Selbstverständnis hielt und sein Leben nicht nur von außen, sondern von innen her zu verstehen trachtete. Mit dem Faktum seines Todes fiel Jesus als Deuter seiner selbst aus, und von diesem Ausfall waren alle Deutungen betroffen, die der Irdische seiner Sendung und mit ihr sich selbst hatte zuteil werden lassen. Der Eindruck konnte nicht ausgeschlossen werden, lag vielmehr nahe, dass sich für Jesus selbst der Grund, in dem er sich im Innersten gegründet wusste, nämlich Gott, und mit ihm das Ziel seiner Sendung entzogen hatten. Es ist diese Negation, die dem irdischen Jesus am Kreuz auch und gerade in Bezug auf sein Gottesverhältnis widerfuhr, die christologisch nicht unterschlagen oder auch nur eingeschränkt werden darf, wenn die theologische Bedeutung Osterns und mit ihr der Heilssinn des Kreuzes theologisch angemessen gewürdigt werden soll. Für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem irdischen Jesus, wie er im Lichte Osterns erscheint, und dem unter Absehung von Ostern mit geschichtswissenschaftlichen Mitteln erfaßbaren sog. historischen Jesus kann diese Einsicht nicht folgenlos bleiben. Nicht ein ihr äußerer Aspekt, sondern die ReKontinuität und alität des Kreuzes nötigen offenbar dazu, die Je- Diskontinuität sustradition mit dem österlichen Christuskerygma so ins Verhältnis zu setzen, dass Kontinuität und Diskontinuität zugleich zur Geltung kommen. Genau dies, so scheint es, ist das Ziel der von Wilhelm Thüsing entworfenen vierbändigen „Grundlegung“ einer Theologie des Neuen Testaments, auf die als ein herausragendes Konzeptionsbeispiel aus dem Bereich römisch-katholischer Theologie abschließend noch kurz Bezug genommen werden soll. Dass die Auferweckung des gekreuzigten Jesus einen Transformationsvorgang von erheblich umgestaltender Bedeutung darstellt, wird von Thüsing wiederholt und nachdrücklich hervorgehoben. Dennoch soll es sich bei dem österlichen Vorgang der göttlichen Erhöhung des Gekreuzigten, der zum Initialgeschehen christlichen Glaubens erklärt wird, um eine „Transformation einer und derselben Wirklichkeit (handeln) – und zwar in der Weise, dass sie trotz der Neugestaltung eine und dieselbe bleibt“ (Thüsing, 130. Bei Th. kursiv). Unbeschadet der unbestrittenen Neuheitsaspekte der nachösterlichen Christologie und Soteriologie konvergieren diese nach Thüsings Urteil mit den theologischen Strukturen, die bereits Botschaft, Wirken und Leben Jesu von Nazareth kennzeichnen. Unterteilt werden die, wie es heißt, jesuanischen Strukturkomponenten neutestamentlicher Theologie in fünf Gruppen: Sie umfassen die Eschatologie und The-

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ozentrik der Reich-Gottes-Botschaft Jesu, die seiner irdischen Sendung keimhaft innewohnende Christologie, die von ihm geforderten und gelebten religiös-ethischen Grundhaltungen, die gemeinschaftstheologischen Aspekte der österlichen Jesusbewegung sowie Jesu Stellung zu seinem Tod, die eine, wie gesagt wird, keimhafte Passionstheologie enthält. Als ein in allen Strukturen wirksames Prinzip wird dabei die „Spannungseinheit von eschatologisch-charismatischem Zur-GeltungBringen des Anspruchs Gottes und eschatologisch-charismatischem ‚Schenken von Freiheit‘“ (Thüsing, 70) geltend gemacht. In transformierter Gestalt bleibt dieses Prinzip unter österlichen Bedingungen erhalten, so dass zwischen der Reihe der jesuanischen Strukturkomponenten und jener, welche die christologischen, soteriologischen und ekklesiologischen Verkündigungsinhalte der nachösterlichen Gemeinde bestimmen, ein nach Maßgabe der Analogielehre verfasstes Entsprechungsverhältnis jenseits von bloßer Univokation und Äquivokation in Anschlag gebracht wird. Vorösterlicher Jesus und österlicher Christus bzw. Evangelium Jesu und Evangelium von Jesus als dem Christus sind weder unmittelbar identisch noch wirklich verschieden, sondern auf differenzierte Weise eins. In der Spannungseinheit von Bejahung Gottes und Bejahung des Menschen, welche nach Thüsing die zentrale Perspektive einer auf die neutestamentlichen Ursprünge zurückgehenden Theologie ausmacht, nimmt die formale Angabe inhaltliche Gestalt an, um das genuine Christentum in seiner Jesulogie und Christologie integrierenden Ganzheit theologisch, soteriologisch und ekklesiologisch zu bestimmen. Thüsings „Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments“ hat den unbestreitbaren Vorzug, zusammen mit exegetischen systematische Gesichtspunkte konsequent ins Auge zu fassen. Dass er das aufgegebene Problem bereits einer durchweg überzeugenden Lösung zugeführt hat, wird man trotzdem nicht sagen, aber möglicherweise auch nicht erwarten können, solange Exegese und Systematik in ihrem jeweiligen relativen Eigenrecht bewahrt bleiben. Unter systematischen Aspekten fällt besonders auf, dass Thüsing zwar einerseits die Transformation der Jesustradition durch Ostern und durch das österliche Kerygma der Gemeinde stark hervorhebt, dass er aber andererseits einen Bestand jesuanischer Strukturkomponenten in gleichsam substanzhafter Weise voraussetzt, der von der Neugestaltung im Kern nicht betroffen wird. Die Identität und Selbigkeit von irdischem Jesus und österlichem Christus wird damit im Wesentlichen bereits von ersterem her begründet. Sosehr die Wirklichkeit der irdischen Erscheinung Jesu durch Ostern transformiert wurde – ihr substantieller Gehalt ist von der Neugestaltung nicht wesentlich betroffen, die im Vergleich zu diesem eher akzidenteller Natur ist. Man kann daher fragen, ob Thüsings Konzept im strengen Sinn ein anderes Modell repräsentiert als dasjenige, welches das österliche Christuskerygma trotz ungeleugneter Diskontinuität in seinen maßgeblichen inhaltlichen Strukturen auf die historische Jesustradition zurückführt. Eine vergleichbare Frage ließe sich an die Konzeption des Jesusbuches von Papst Benedikt XVI. stellen (vgl. Wenz).

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Lit.: M. L. Y. Chan, Christology from Within and Ahead. Hermeneutics, Contingency and the Quest for Transcontextual Criteria in Christology, Leiden/Boston/Köln 2001. – G. Essen, Historische Vernunft und Auferweckung Jesu. Theologie und Historik im Streit um den Begriff geschichtlicher Wirklichkeit, Mainz 1995. – H.-G. Geyer, Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi, in: EvTh 33 (1973), 385–401. – M. Hengel, Studien zur Christologie (Kleine Schriften IV), hg. v. C.-J. Thornton, Tübingen 2006. – Ders./A. M. Schwemer, Jesus und das Judentum (Geschichte des frühen Christentums Bd. I), Tübingen 2007. – M. Laube, Theologische Selbstklärung im Angesicht des Historismus. Überlegungen zur theologischen Funktion der Frage nach dem historischen Jesus, in: KuD 54 (2008), 114–137. – O. G. Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Studien zur Problemgeschichte der Moderne, Göttingen 1996, 17– 40. – W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie (1964), um ein Nachwort erweiterte Auflage, Gütersloh 1976 (= Chr.). – Ders., Grundfragen Systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze. 2 Bde., Göttingen 19712/1980 (= GSTh). – Ders., Systematische Theologie. 3 Bde., Göttingen 1988, 1991, 1993 (= STh). – E. Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie, in: ders., Gesammelte Schriften. Zweiter Band: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 21922, 729–753. – G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003. – Ders., Vom apostolischen Osterzeugnis, Notizen zu Gedanken von Hans-Georg Geyer, in: D. Korsch/H. Ruddies (Hg.), Wahrheit und Versöhnung. Theologische und philosophische Beiträge zur Gotteslehre, Göttingen 1989, 167–189.

Die aus der Wahrnehmung der österlichen Epiphanie des auferstandenen Gekreuzigten heraus entstandene Christologie ist konstitutiv auf die irdische Erscheinung Jesu von Nazareth bezogen. Dieser ist es und kein Anderer, der sich an Ostern den Seinen in Erinnerung bringt, um in der Kraft des göttlichen Geistes als Bestimmungsgrund und Ziel seines Gedächtnisses zu fungieren. Dabei reichert das Osterzeugnis den Gehalt der Geschichte Jesu materialiter nicht an, sondern offenbart sie und die Gestalt, in deren Namen sie inbegriffen ist, in derjenigen Wahrheit, die ihr real, von Anbeginn und insgesamt eignet. Das Osterereignis ist die Erfüllung des Jesusgeschehens, das seine implizite Voraussetzung bildet. Reicht diese Voraussetzung hin, das Ostereignis als kontinuierliche Fortsetzung des Jesusgeschehens zu behaupten? Liegt die frühchristliche Christologie in der unmittelbaren Konsequenz der Geschichte Jesu und des jesuanischen Selbstverständnisses? Man hat die These vertreten, das nachösterliche Christuszeugnis habe ein messianisches Selbstverständnis Jesu, an das es anknüpfte, zur notwendigen Vorausset-

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zung. Nach Martin Hengel etwa sind die Anfänge christologischer Lehrbildung ohne einen Messiasanspruch des vorösterlichen Jesus weder historisch noch theologisch erklärbar. Nicht nur das Christuszeugnis der Aramäisch sprechenden Urgemeinde Jerusalems, auch dasjenige der griechischsprachigen Judenchristen Israels und Syriens habe sich in mehr oder minder direktem, jedenfalls kontinuierlichem Anschluss an das Bewusstsein ausgebildet, das Jesus von sich selbst hatte. Das messianische Selbstbewusstsein Jesu fungiert nach Hengel als Medium zwischen jüdischem Messianismus und frühchristlicher Christologie. Diskontinuitätsmomente werden in diesem Vermittlungszusammenhang durchaus registriert. Es sei keineswegs so, dass Jesus sein Selbstverständnis einer vorgegebenen jüdischen Messianologie angepasst habe. Vielmehr habe er seinen Dienst und vermittels dessen sich selbst zum Maßstab für dasjenige gesetzt, was im rechten Sinne als „messianisch“ zu gelten habe. Unter Voraussetzung dieser Setzung indes, die in Anbetracht der in hohem Maße differenzierten jüdischen Messiastradition nicht eigentlich überraschend sei, müsse das messianische Selbstbewusstsein Jesu als eine Größe in Betracht gezogen werden, welche die Bedingung der Möglichkeit nachösterlicher Christologie ausmache. Die jesuanische Christologie in Gestalt des Bewusstseins, das Jesus von sich selbst als Messias und erwähltem Gottessohn hatte, stellt nach Hengel das tragende Fundament dar, auf dem die frühchristliche Christologie basiere. Allein der messianische Anspruch, der die innere Mitte seines Wirkens gebildet habe, lasse Jesu Geschick und die urchristliche Bewegung nach Ostern als historisch und theologisch nachvollziehbar erscheinen. In der Studie „Der Sohn Gottes“ (vgl. Hengel, 74–145) sowie in zahlreichen anderen Texten zum messianischen Anspruch Jesu und zu den Anfängen der Christologie hat Hengel dies wiederholt eingeschärft. Erst jüngst hat er in dem zusammen mit Anna Maria Schwemer erarbeiteten ersten Band einer großangelegten Geschichte des frühen Christentums nicht nur die unveräußerliche Bindung von Jesus und den Urchristen an das Judentum hervorgehoben, sondern erneut und mit Nachdruck betont, dass die Behauptung einer Diskontinuität zwischen dem irdischen Jesus und dem Christus des Glaubens ohne Geltungsgrundlage sei, da die österlich offenbare Jesus-Christus-Einheit im Prinzip bereits in Gestalt des jesuanischen Messiasbewusstseins gegeben sei, das historisch infrage zu stellen kein begründeter Anlass bestehe. Alles spreche vielmehr dafür, dass mit einem messianischen Vollmachtsanspruch Jesu zu rechnen sei (vgl. Hengel/Schwemer, 461–548). Die exegetischen Voraussetzungen der Hengel’schen Basisannahme sind hier nicht zu überprüfen. Zwar wären sein Abschied von der synoptischen Zweiquellentheorie, die Hypothese mehrerer schriftlicher Logiensammlungen vor Markus, die Rückführung weiter Teile des Markus-Stoffes auf den Apostel Petrus, der ein autoritativer Vermittler von Jesusüberlieferung und dessen Schüler Johannes Markus der Autor des ältesten Evangeliums einschließlich seines Titels gewesen sei, ebenso einer eigenen Diskussion wert wie die Mittlerstellung, die Hengel dem Messianismus und österlicher Christusglaube

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„unterschätzten“ Petrus zwischen Jerusalemer Judenchristentum und Paulinismus zuweist. Doch muss es bei einer Reihe von Fragen wie diesen bleiben, nämlich ob der messianische Anspruch Jesu tatsächlich die Mitte seines Wirkens bildet, ob allein oder auch nur in erster Linie von ihm aus Jesu Geschick sowie die Entstehung der urchristlichen Bewegung historisch verstehbar sei. Sind durch das vorösterliche Vollmachtsbewusstsein Jesu und durch den Glauben an seine messianische Sendung tatsächlich die Grundlagen für das Osterzeugnis und für das Bekenntnis des urchristlichen Glaubens an Gottes Offenbarung im auferstandenen Gekreuzigten gegeben? „Nur weil Ostern vorösterliche Erfahrungen und Erinnerungen bestätigte“, so liest man, „kam es überhaupt zur Evangelienschreibung.“ (Hengel/Schwemer, 172) Ist diese These geeignet, die Krise des Kreuzes und das Neue zu ermessen, was durch das Osterereignis geschehen ist? Jesu Kreuzestod ist eine geschichtliche Realität, die als solches das Ende seines historischen Daseins bedeutet und seine Sendung nicht zuletzt in theologischer Hinsicht als zutiefst aporetisch erscheinen lässt, sofern die Hinrichtung nicht nur nach römischem Recht und Gesetz, sondern auch mit Zustimmung jüdischer Religionsautoritäten und damit unter dem Signum des Gottes Israels erfolgte, den Jesus seinen Vater nannte und in dessen Namen er auftrat. Die mit dem Kreuz, an dem es endete, gegebene Aporie des Lebens Jesu lässt sich, so will es scheinen, weder durch unmittelbaren Verweis auf eine ihm vom Tode unberührt eignende Bedeutung, noch auf mögliche Deutungen beheben, die der irdische Jesus seinem bevorstehenden Leiden und Sterben gegeben hat. Der Sinn von Leben und Tod Jesu ist offenbar nicht kontinuierlich und ungebrochen aus seiner vorösterlichen Existenz heraus, sondern nur vom Osterereignis her zu erfassen, das zwar auf die Geschichte des historischen Jesus rückbezogen ist, ohne die Diskontinuität einfachhin vergessen zu lassen, die durch den Kreuzestod zwischen dem vorösterlichen und dem nachösterlichen Leben Jesu waltet. Das Ostergeschehen ist Basis und Inbegriff aller Sinndeutungen des Lebens und Sterbens Jesu. Es beseitigt zwar nicht den Kontinuitätszusammenhänge problematisierenden Abbruch, den der Kreuzestod darstellt, löst aber die Aporie, in die er Jesus und die Seinen gebracht hat, auf erlösende Weise auf, indem es den gekreuzigten Jesus als den von Gott vom Tode erweckten Auferstandenen in Erscheinung treten lässt. Man muss also offenbar ein Doppeltes sagen: Das Osterereignis beseitigt die Aporie des Kreuzestodes nicht dergestalt, dass es diese zu einem Unwesentlichen herabsetzt; es stellt sie aber ebensowenig auf Dauer, sondern behebt sie, indem es den Gekreuzigten als in unvergänglicher Lebendigkeit der Gottheit Gottes zugehörig und sein Todesgeschick als Heil für Menschheit und Welt offenbart. Die historische Geschichte Jesu ist Prolog seiner Passionsgeschichte und kann über diese hinaus nicht ungebrochen fortgeschrieben und kontinuierlich prolongiert werden. Doch integriert die österliche Aktionsgeschichte Gottes die Geschichte Jesu und seiner Passion dergestalt, dass der Ewigkeitssinn der jesuanischen Historie an dieser selbst zutage tritt.

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Jesus wäre nicht, was er ist, ohne Ostern. Aber an Ostern wird offenbar, dass er von Ewigkeit ist und daher sein und bleiben wird, was er immer war. Die Bedeutung seines Kreuzestodes ist dadurch keineswegs abgetan oder marginalisiert, sondern im Gegenteil in einer Weise zur Geltung gebracht, die keine Steigerung mehr zu denken erlaubt. Zwar wird Jesu Leiden und Sterben nicht als solches verewigt, wohl aber als Wirkzeichen eines Lebens, in welchem Tod und Teufel zunichte geworden sind. Ostern ist das Urdatum von Christentum und Christologie: Mit dieser Ausgangsthese ist vorweg ein christologisches Verfahren problematisiert, das in unreflektierter Selbstverständlichkeit vom Inkarnationsgedanken Gebrauch macht und die Christologie „von oben“, also von den unvermittelt vorausgesetzten Prämissen der Logos- bzw. Trinitätslehre her entwickelt. Die Fixierung der Menschwerdung des göttlichen Logos, mit welchem der die Erscheinungsgestalt Jesu deutende christologische Hoheitstitel des Gottessohnes seit dem Prolog des Johannesevangeliums identifiziert wurde, auf den Augenblick von Zeugung und Geburt Jesu, wie sie sich im frühen Christentum bald schon abzeichnete, barg von Anfang an die Gefahr in sich, den traditionsgeschichtlichen Prozess in Vergessenheit geraten zu lassen, in dessen Verlauf sich die christologischen Hoheitstitel bis hin zum Titel des Gottessohnes und dessen Identifikation mit dem präexistenten Logos ausbildeten. Weit davon entfernt, punktuell auf ein momentanes Inkarnationsgeschehen fixiert zu sein, nimmt der Prozess christologischer Deutung der Erscheinungsgestalt Jesu vielmehr seinen Anfang bei dem das Leben des Gekreuzigten insgesamt umfassenden und zur Ganzheit bringenden Osterereignis. Dieses Ereignis und nicht, jedenfalls nicht primär die Geburt Jesu ist gemäß der Logik des traditionsgeschichtlichen Prozesses der Ausbildung der christologischen Hoheitsaussagen konstitutiv für die personale Einheit Gottes und des Menschen in Jesus Christus. Noch einmal deshalb: Ostern ist das Urdatum von Christentum und Christologie. Nun zeigt es sich allerdings, dass das Ostergeschehen selbst und von sich aus dazu Anlass bietet, auf das traditionelle inkarnationstheologische Thema zurückzugreifen, indem es vor die, im altkirchlichen Dogma einer klassischen Lösung zugeführte Aufgabe stellt, die menschliche Wirklichkeit des Personseins Jesu in ihrer irdischen Verlaufsgeschichte als personal identisch mit der sich in Jesu Zeitlichkeit entäußernden Wirklichkeit des ewigen Sohnes Gottes zu begreifen und zwar so zu begreifen, dass die Hingabe Jesu an seinen göttlichen Vater, wie sie sein irdisches Leben kennzeichnete, um im Kreuzestod sich zu vollenden, als die manifeste Entsprechung der Selbstentäußerung des Logos als des ewigen Sohnes des Vaters zutage tritt. Gilt dies, dann vermag deutlich zu werden, warum in vermeintlicher Gegenläufigkeit zum christologischen Traditionsprozess die Inkarnationsaussage, welche dessen geschichtlichen Zielpunkt bildet, zugleich in die Funktion der Markierung seines fundierenden Anfangs einrücken konnte. Erfordert es doch offenbar die Wahrheit des Osterereignisses, die personale Einheit Jesu mit dem Sohne Gottes nicht nur als Ergebnis einer menschlichen Entwicklungsgeschichte, sondern zugleich als deren göttlichen Grund wahrzunehmen.

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Ist damit die Differenz zwischen einer seit AlSystematische brecht Ritschl so genannten Christologie von Konzeptionsentwürfe unten und einer solchen von oben obsolet geworden? Und welche Implikationen haben mögliche Antworten für das Verhältnis von systematischer Theologie und historischer Exegese, welche letztere gleichsam von Hause aus beim Menschen Jesus und seinem Reden und Wirken, Leiden und Sterben ansetzt, um, wenn überhaupt, erst von dorther zu Aussagen über seine Gottheit und die Inkarnation des Logos zu gelangen? Im Nachwort zur 5. Auflage seiner 1964 erstmals erschienenen „Grundzüge der Christologie“ hat Wolfhart Pannenberg 1976 die von ihm verfolgte Methodik zusammenfassend als ein „Verfahren der Befragung traditionsgeschichtlicher Prozesse auf ihren systematischen Gehalt“ (Pannenberg, Chr., 415) charakterisiert. Gegenstand der Befragung sind nicht bruta facta, deren Sinn durch äußere Deutung erst zu erheben wäre, sondern Geschehensverläufe reflektierter Überlieferung, die vom Auftreten des historischen Jesus über seinen Tod und die Auferstehungsbotschaft der Apostel bis hin zur Ausbildung des christologischen Dogmas und zur gegenwärtigen christologischen Diskussion im Kontext der Gesamttheologie reichen. Angestrebt wird, aus der Sachlogik heraus, die im bezeichneten Traditionsprozess wirksam ist, die christologischen Grundaussagen zu entwickeln. Zu Beginn der Erstauflage der „Grundzüge“ findet sich der Ansatz Pannenbergs über die gegebene Kurzcharakteristik hinaus im Detail entfaltet. Im Unterschied zu Konzepten, welche die Christologie aus der Unmittelbarkeit gläubigen Selbstbewusstseins (und sei es das Selbstbewusstsein Jesu) oder aus den unhinterfragten Autoritätsgrundlagen des Gemeindekerygmas heraus entfalten, bestimmt er die christologische Aufgabe dahingehend, „aus der Geschichte Jesu die wahre Erkenntnis seiner Bedeutung zu begründen, die sich zusammenfassend durch den Ausdruck umschreiben läßt, daß in diesem Menschen Gott offenbar ist“ (Pannenberg, Chr., 23). Es liegt in der Konsequenz dieser Aufgabenbestimmung, die Christologie nicht zu einer Funktion der Soteriologie, sondern umgekehrt die Soteriologie zu einer Funktion der Christologie zu bestimmen. Denn die Erörterung der faktisch fundierten Bedeutsamkeit Jesu hat von seiner Geschichte und der in ihr impliziten soteriologischen Relevanz ihren Ausgang zu nehmen und nicht von einer Bedeutung für uns, wie sie in subjektiver Wahrnehmung erscheint oder von kirchlicher Verkündigung gegenwärtig geltend gemacht wird. Nur so kann nach Pannenberg die offenbare Gottheit Jesu als Grund seiner Heilsbedeutung ausgewiesen und von religiösen Projektionen diverser Art unterschieden werden. Analog zur konsequenten Ablehnung einer soteriologischen Funktionalisierung der Christologie geht aus der Bestimmung ihrer Aufgabe die erwähnte Methodik einer „Christologie von unten“ im Unterschied zu einer „Christologie von oben“ hervor: „Für die Christologie, die ‚von oben‘, von der Gottheit Jesu, ausgeht, steht der Inkarnationsgedanke im Mittelpunkt. Die ‚von unten‘, vom geschichtlichen Menschen Jesus zur Erkenntnis seiner Gottheit aufsteigende Christologie hingegen hält sich in erster Linie an die Botschaft und an das Geschick Jesu und kommt

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erst ganz zuletzt auf den Inkarnationsgedanken.“ (Pannenberg, Chr., 26) Trotz dieser strikten Betonung des Unterschieds einer „Christologie von unten“ und einer „Christologie von oben“ hat Pannenberg schon in der Erstauflage seiner Grundzüge zu erkennen gegeben, dass es sich bei dieser Verfahrensdifferenz nicht um eine Alternative oder gar um einen kontradiktorischen Gegensatz handeln kann. Ein relatives Recht wird der Fragestellung einer „Christologie von oben“ ebenso eingeräumt wie dem mit ihr verbundenen inkarnationstheologischen Ansatz. Diese Tendenz verstärkt sich in späteren Jahren, wobei gewisse Modifikationen des Gesamtkonzepts erkennbar werden. Belege hierfür sind der Aufsatz über „Christologie und Theologie“ von 1975, das bereits zitierte Nachwort zur 5. Auflage der Grundzüge der Christologie von 1976 sowie die christologischen Ausführungen im zweiten Band der „Systematischen Theologie“ von 1991. Bereits in dem in den zweiten Band seiner „Gesammelten Aufsätze“ (Pannenberg, GSTh II, 129–145) aufgenommenen Beitrag „Christologie und Theologie“ hatte Pannenberg auf die Gefahr einer durch Verfahrensgegensätze bedingten Abstraktion aufmerksam gemacht. Drohe eine von oben her argumentierende Inkarnationschristologie zu verkennen, dass Gottes Gottheit, welche als unmittelbare Voraussetzung der Argumentation fungiere, erst durch den historischen Menschen Jesus als dasjenige offenbar sei, was sie ist, so erliege eine „Christologie von unten“ einer Kurzschlüssigkeit für den Fall, dass sie beim Gedanken einer von Gott isolierten Menschheit bzw. beim Menschsein Jesu unter Absehung von seiner Verbundenheit mit Gott einsetze, statt das Menschsein des Menschen und nachgerade dasjenige Jesu als immer schon von Gott bestimmt zu denken. Daraus wird gefolgert, dass die Christologie ihrer theanthropologischen Aufgabe, die differenzierte Einheit von Gott und Mensch in Jesus Christus zu thematisieren, nur dann gerecht zu werden vermag, wenn sie einen abstrakten Gegensatz von Theologie und Anthropologie hinter sich lässt. Methodisch ergibt sich das nach Pannenbergs eigener Einschätzung „vielleicht überraschende Resultat“ (Pannenberg, GSTh II, 132), dass die klassische Inkarnationschristologie „von oben“ und die moderne Christologie „von unten“ an dem gemeinsamen Mangel leiden, einen anders als durch die Christologie selbst erst zu gewinnenden Gedanken der Wirklichkeit Gottes und des Menschen voraussetzen zu müssen, um ihr christologisches Geschäft überhaupt ins Werk setzen zu können. „Das bedeutet aber, daß weder das eine noch das andere Verfahren es vermag, Gott als durch Jesus von Nazareth offenbar zu denken und also die Einheit von Gott und Mensch in Jesus zu denken.“ (Ebd.) Wie der Beziehungszusammenhang von Christologie und Anthropologie, so ist auch derjenige zwischen Christologie und Theologie ein wechselseitiger, wobei die Wechselseitigkeit der Fundierungsverhältnisse und die Beziehung dieser Verhältnisse zueinander einer umfassenden trinitätstheologischen Begründung bedürfen. „Der Gott Jesu ist nur durch den Menschen Jesus zugänglich, aber auch der Mensch Jesus nur von seinem Gott her. Die Einheit Gottes und des Menschen in der Person Jesu zu deuten, vermöchte nur, wer in diesen Zirkel eindringen könnte, in welchem der Mensch Jesus und der in ihm und durch ihn gegenwärtige Gott

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einander gegenseitig bedingen, so daß Jesus selbst in Person zur Gottheit Gottes gehört. In diesen Zirkel des göttlichen Lebens aber kommt nicht hinein, wer nicht schon darin ist. ... Ohne den Geist der Gemeinschaft des Vaters und des Sohnes gibt es keine Gotteserkenntnis und keine Christuserkenntnis.“ (Pannenberg, GSTh II, 134) Im Sinne dieser Einsicht hat Pannenberg es als eine „Schranke“ (Pannenberg, Chr., 421) seiner ursprünglichen Konzeption bezeichnet, die Wirklichkeit Gottes lediglich als Voraussetzung der Christologie behandelt und nicht eigentlich in ihr thematisiert zu haben. Es genüge nicht, „Gott nur als Voraussetzung der Christologie zu denken. Vielmehr erfordern es die Aussagen, zu denen die Christologie gelangt, Gott als sich in Jesus Christus offenbarend zu denken.“ (Pannenberg, Chr., 422) Dann aber sei es nötig, die Konstitution der Person Jesu Christi von der Gottheit Gottes her zu begreifen, was nur trinitarisch möglich sei. Zwar überschreite ein solches Unternehmen die Grenzen einer monographischen Behandlung der Christologie, doch sei es der christologischen Sache nach unverzichtbar und im systematischen Gesamtkontext der Theologie auch leistbar. In welcher Form eine entsprechende Leistung zu erbringen ist, hat Pannenberg u.a. wie folgt skizziert: „Gerade wenn die ‚Christologie von unten‘ erfolgreich gezeigt hat, daß der Inkarnationsgedanke die schon der Geschichte Jesu eigene Bedeutungsstruktur zum Ausdruck bringt, stellt sich von diesem Ergebnis her die Aufgabe, die Geschichte Jesu nun auch als Handeln Gottes zu denken, und das besagt, sie als Ausdruck der Souveränität Gottes und so aus der Gottheit Gottes zu denken.“ (Ebd.) Eine argumentative Leitfunktion kommt dabei der Annahme zu, „(d)aß die Einheit Jesu mit Gott nicht als Identität schlechthin ... gedacht werden muß“ (Pannenberg, Chr., 423), sondern die Struktur einer durch Differenz vermittelten Einheit hat. Grundlegend ist dabei die Einsicht, dass Jesus nicht unmittelbar mit Gott eins ist und eins zu sein beansprucht, sondern als der Sohn Gottes und damit als der wesenseinig der Gottheit Gottes Zugehörige gerade in der Weise konsequent durchgehaltener Selbstunterscheidung vom göttlichen Vater offenbar ist. Der „These der Indirektheit der Gottessohnschaft Jesu, derzufolge das Verhältnis des Menschen Jesus zum Logos immer als vermittelt durch sein Verhältnis zum Vater gedacht werden muß“ (Pannenberg, Chr., 424), kommt für Pannenberg insofern eine argumentative Schlüsselfunktion zu, als die mittels seines Verhältnisses zum göttlichen Vater eruierte Bedeutung des Menschen Jesus zu einer Neugestaltung der traditionellen Logoschristologie führt, die es erlaubt, in der Person Jesu Christi das Verhältnis Gottes zu Selbst und Welt überhaupt zu denken. Die Erneuerung der Logoschristologie, die Pannenberg nach eigener Auskunft 1964 noch als „wenig aussichtsreich beurteilt“ (ebd.) hatte, ist charakteristisch sowohl für den Gesamtentwurf der Systematischen Theologie im Allgemeinen, als insbesondere auch für deren explizit christologischen Teile im zweiten Band. Der Logosbegriff ist anders als in den „Grundzügen der Christologie“ nachgerade auch „Thema trinitätstheologischer Reflexion im Hinblick auf die inkarnatorische Konstitution der Person Christi“ (Pannenberg, Chr., 426) geworden.

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Hatte Pannenberg 1964 die Inkarnationsvorstellung „ausschließlich auf den Anfang des irdischen Weges Jesu als Grundlegung seiner individuellen Lebensgeschichte“ bezogen und daraus gefolgert, „daß die Christologie nicht mit dem Inkarnationsgedanken beginnen dürfe“, weil dieser erst durch den von der irdischen Erscheinungsgestalt Jesu Christi ausgehenden traditionsgeschichtlichen Prozess vermittelt sei, so wird nun gemäß der dem Inkarnationsgedanken internen Logik der ewige Sohn als der beständig wirksame Grund des irdischen Daseins Jesu und damit die Inkarnation selbst als konstitutiv für dasselbe gedacht. „Das kann aber“, wie Pannenberg im Zusammenhang der zitierten und trotz ihres Anmerkungscharakters konzeptionell höchst bemerkenswerten Stelle (Pannenberg, STh II, 428f. Anm. 173) zu bedenken gibt, „nur dann ohne Beeinträchtigung der kreatürlichen Selbständigkeit Jesu in seiner irdischen Geschichte geschehen, wenn diese Geschichte nicht von einem an ihrem Anfang stehenden Inkarnationsgeschehen vorweg determiniert ist. Gerade die kreatürliche Selbständigkeit der menschlichen Geschichte Jesu muß als Medium der Inkarnation gedacht werden, aber so, daß die Konstitution der Person Jesu sich im ganzen Prozeß dieser Geschichte vollzieht: Sonst wäre Jesus ja zuerst bloßer Mensch und würde erst später zum Sohne Gottes durch Vereinigung seiner menschlichen Person mit ihm.“ Bezüglich des christologischen Verfahrens ist damit gesagt, dass „sich eine ‚von unten‘ ansetzende Christologie nicht als schlechthin ausschließend gegenüber der klassischen Inkarnationschristologie verstehen (darf ). Sie rekonstruiert lediglich die offenbarungsgeschichtliche Basis, die die klassische Christologie faktisch immer schon vorausgesetzt hat, ohne sie eigens zu explizieren. Nur unter methodischem Gesichtspunkt kommt der Argumentation ‚von unten‘ ein Vorrang zu, – vorausgesetzt natürlich, dieses Verfahren führt zu dem Ergebnis, daß der Inkarnationsgedanke nicht eine Verfälschung, sondern eine sachgemäße Entfaltung der schon dem Auftreten und der Geschichte Jesu implizit eigenen Bedeutung ist. Dann gilt: Den sachlichen Primat hat der ewige Sohn, der durch seine Inkarnation in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist.“ (Pannenberg, STh II, 327) „Christology from within and ahead“ (vgl. Chan): Als methodische Quintessenz für das im zweiten Band der Systematischen Theologie Pannenbergs geübte christologische Verfahren ergibt sich das Resultat, dass „die beiden Argumentationsrichtungen ‚von oben‘ und ‚von unten‘, richtig verstanden komplementär im Verhältnis zueinander (sind)“ (ebd.). In der Aufgabe einer „Theorie der christologischen Tradition“ (Pannenberg, STh II, 320), die als historische Darstellung ohnehin von Anfang an systematischen Charakter hat, da sie den der faktischen Erscheinung Jesu Christi innewohnenden Bedeutungsgehalt explizieren soll, ist die andere mitgesetzt, „die Geschichte Jesu nun auch als Tat Gottes und folglich in ihrer Begründung von Gott her zu denken“ (Pannenberg, STh II, 327). Hinzuzufügen ist, dass an der Schnittstelle der beiden Bewegungsrichtungen einer Christologie von unten und von oben das Ereignis der Auferweckung und Auferstehung des Gekreuzigten steht. Zwar rechnet Pannenberg die Auferweckung Jesu ausdrücklich zur geschichtlichen Basis einer „Christologie von unten“ (vgl. Pannen-

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berg, STh II, 322), weil deren Begründungsfunktion für den Glauben sich nicht ablösen lässt von ihrer realen Faktizität und damit von der Historizität dieses Ereignisses. Andererseits folgt aus der Tatsache, dass sich nach Pannenberg im Ostergeschehen auf proleptisch-antizipatorische Weise das Ende der Geschichte ereignet hat, der dezidiert „von oben“ kommende, allein als offenbare Gotteswirkung und -wirklichkeit sich verwirklichende und erschließende Charakter dieses Ereignisses. Genau in dieser seiner zweifach-einen Bedeutung ist Ostern das Urdatum einer theanthropologisch verfassten und zu erfassenden Christologie. Dies wird durch den Hinweis auf die nicht nur retrospektive, sondern auch retroaktive Bedeutung des Osterereignisses unterstrichen, der für den christologischen Status der Rückfrage nach dem historischen Jesus in hohem Maße relevant ist. Wäre doch dieser nach Pannenberg nicht, was er ist, hätte ihn Gott nicht auferweckt. Eine von der Auferstehung des Gekreuzigten abstrahierende Betrachtung erkennt den christologischen Status des historischen Jesus mithin nicht nur nicht, sondern muss ihn zwangsläufig verkennen. Ist die österliche Erscheinung des von Gott von den Toten auferweckten Jesus die Bedingung Realität und Historizität der Möglichkeit seiner rechten Erkenntnis, ja die conditio sine qua non seines Wesens, so stellt sich in gesteigerter Dringlichkeit noch einmal die bereits angesprochene Frage, welcher Wirklichkeitsstatus dem Ostergeschehen zukommt, von dem Pannenberg sagt, es sei ein historisches Ereignis in Zeit und Raum, welches zugleich in proleptischer Weise das Ende der gesamten Geschichte antizipiert und retroaktiv auf das Sein Jesu zurückwirkt, um es zu dem zu machen und dies werden zu lassen, was es ist. Geht man davon aus, dass es sich bei der österlichen Aussage, Jesu sei auferweckt worden und auferstanden, nicht lediglich um ein Reflexionsurteil des Glaubens, sondern um eine perfektische Realitätsaussage handelt, welche auf den Grund des Glaubens ausgerichtet ist und nicht nur dessen aktuellen Vollzug im Zusammenhang eines kerygmatischen Geschehens meint, dann scheint die Annahme der Historizität der Auferweckung bzw. der Auferstehung Jesu alternativlos zu sein. Allerdings setzt diese Annahme, der es um die konkrete Gegenständlichkeit des Osterereignisses zu tun ist, einen Begriff der Historizität voraus, der von dem in der üblichen historisch-kritischen Forschung in Gebrauch befindlichen erheblich abweicht. Dies hat Pannenberg in einer Vielzahl von Beiträgen über historische und theologische Hermeneutik deutlich gemacht (vgl. im Einzelnen Pannenberg, STh I sowie Wenz, Einführender Bericht). Pannenbergs geschichtstheologische Kritik richtet sich insbesondere gegen die allgemeine Prädominanz des Analogieprinzips in der historischen Wissenschaft, demzufolge dem Analogielos-Singulären ein möglicher Anspruch auf Historizität vorweg und grundsätzlich zu bestreiten sei. Es zeigt sich, dass der Streit um die Historizität der Auferstehung stets auch ein Streit um den Begriff von Historizität ist. Kann ein Ereignis, das proleptisch das zukünftige Ende der Geschichte antizipiert und auf Vergangenes retroaktiv zurückwirkt, historisch genannt werden?

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Pannenberg bejaht dies, die Mehrzahl der historisch-kritisch arbeitenden Exegeten stellt es in Abrede, ohne daraus die Konsequenz einer generellen Bestreitung des Realitätsstatus des Ostergeschehens zu ziehen, die unter Pannenbergs Argumentationsbedingungen als zwangsläufig erscheinen muss. Dieser zunächst nur äußerlich zu registrierende Befund belegt ein weiteres Mal die Wechselwirkung, die zwischen historisch-kritischen Selbstverständigungsdebatten und theologischen Theoriebildungen waltet, ohne in ihrer systematischen Relevanz stets hinreichend erkannt zu werden. Von dieser Wechselwirkung sind selbstverständlich auch die historische Jesusforschung im allgemeinen und insbesondere die Frage betroffen, wie sich der irdische Jesus, von dem das Osterkerygma kündet, zu jenem sog. historischen verhält, der als eine gewissermaßen vorösterliche Größe in Betracht gezogen werden soll. Dass es eine Christologie ohne Jesus unter christlichen Bedingungen nicht geben kann, dürfte common sense sein. Aber wie ist die Identität Jesu Christi, die das österliche Zeugnis bekundet, zu denken? Muss zwischen einem historischen Jesus, der den kerygmatischen Christus nicht oder noch nicht impliziert, und einem irdischen Jesus, den der kerygmatische Christus impliziert, unterschieden werden, wie das beispielsweise H.-G. Geyer in seinen „Rohgedanken über das Problem der Identität Jesu Christi“ vorgeschlagen hat? Diese Differenz, sagt Geyer, betrifft „nicht primär das Materiale der Erinnerung an Jesus, sondern das Formale dieser Erinnerung: Der ‚historische‘ und der ‚irdische Jesus‘ sind gewissermaßen aus demselben ‚Stoff ’ des Lebens und Sterbens Jesu. Aber in ihrer Form sind sie höchst unterschiedlich bis völlig gegensätzlich.“ (Geyer, 398) Auch wenn die genaue Verhältnisbestimmung von Form und Materie bzw. die mit dieser Differenzierung verbundene kerygmachristologisch begründete Unterscheidung von historischem und irdischem Jesus noch eine Reihe von ungelösten Fragen auf sich zieht, leuchtet die Beschreibung zumindest unter dem Aspekt einer Genealogie des apostolischen Zeugenbewusstseins durchaus ein: Denn einerseits nimmt das Ostergeschehen tatsächlich in elementarer Weise Bezug auf die gegebene Erinnerung der Zeugen des irdischen Lebens und Sterbens Jesu; ja, es ist so, dass Ostern der gegebenen Erinnerung der Lebenszeugen des irdischen Jesus materialiter eigentlich nichts hinzufügt. Andererseits befreit es diese Erinnerung, ohne sie substantiell zu komplettieren, aus trauernder Retrospektive, indem es das Vergänglichkeitsgesetz des alten Äons aufhebt und zu der evangelischen Einsicht führt, dass an Ostern Jesus in der Kraft des göttlichen Geistes sich selbst als Christus zu Bewusstsein zu bringen und als Subjekt seines Gedächtnisses zu fungieren vermag. In diesem Sinn besteht dann allerdings eine elementare Formdifferenz zwischen einem „historischen Jesus“, der nur durch das Werk nachfolgender Gedächtnisleistungen in Erinnerung zu bringen oder durch Anstrengungen von Imitatoren zu vergegenwärtigen ist, und jenem Jesus, dem nach österlichem Urteil die Subjektstellung im Bekenntnis seiner Zeugen zukommt, weil er als der zu bezeugen ist, der sich als der im Zeugnis Bezeugte selbst und von sich aus überzeugend zu bezeugen vermag. Indes betreffen, um es zu wiederholen, die angezeigten Differenzierungen

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zunächst das apostolische Zeugenbewusstsein. Sie machen deutlich, dass die Kluft zwischen der Erfahrung des Karfreitags und derjenigen von Ostern so grundstürzend ist, dass sie nicht auf der vermeintlich selbstverständlichen Basis eines identisch sich durchhaltenden Zeugenbewusstseins zu überbrücken ist, dass vielmehr mit der Kontinuität eines solchen Zeugenbewusstseins nur insofern zu rechnen ist, als Kontinuität in dem Vollzug einer noch so gründlichen bzw. abgründigen Wandlung mitgesetzt werden muss, damit von Wandlung überhaupt sinnvoll die Rede sein kann. Zwar weiß das österliche Zeugenbewusstsein die Gedächtnisgehalte, die sich im Jesusnamen zusammenfassen, vor und nach Ostern als materialiter identisch, welches Wissen ein identisches Sich-Wissen voraussetzt; aber es weiß durch Ostern auch dies, dass Identitätsgarant sowohl des Objekts als auch des Subjekts christlicher Zeugenschaft nicht der Zeuge selbst, sondern der im Zeugnis bezeugte Jesus Christus ist. Ob auch dessen Identität noch – oder anders gesagt: ob auch das Selbstbewusstsein des auferstandenen Gekreuzigten, von dem zu schweigen mit der Rede vom österlichen Leben Jesu Christi schwer verträglich sein dürfte, von entsprechenden Differenzierungen betroffen ist, ist eine andere Frage, die mit dem Problem der Verfassung des apostolischen Zeugenbewusstseins zwar verbunden, gleichwohl von diesem auch wieder sorgfältig zu unterscheiden ist. Der angezeigte Fragenzusammenhang ist hier nicht im Einzelnen zu beantworten (zu einem Antwortversuch vgl. Wenz, Vom apostolischen Osterzeugnis), sondern lediglich mit dem Hinweis zu versehen, dass jede denkbare Beantwortung untrennbar verbunden ist mit der jeweils in Anschlag gebrachten Verhältnisbestimmung historischer und theologischer Urteilsbildung. Da diese Verhältnisbestimmung häufig unreflektiert vorgenommen wird und daher undurchsichtig bleibt, ergeben sich eine Vielzahl von Folgeproblemen, die der Aufklärung harren. Schon terminologisch ist die Debatte um Christologie und historischen Jesus mit einem Problem notorisch belastet, insofern insbesondere in der exegetischen Diskussion häufig unklar bleibt, was mit der Rede vom historischen Jesus präzise gemeint ist. Diese Unklarheit ist Folge der Unbestimmtheit, mit welcher der Begriff des Historischen im Allgemeinen Verwendung findet. Führt man ihn einer präzisen Bestimmung zu, dann ergeben sich für seine Verwendung systematische Konsequenzen, die für das Verständnis des historischen Jesus von erheblicher Bedeutung sind. Um es am Beispiel Pannenbergs und Geyers ansatzweise zu exemplifizieren: es macht einen grundlegenden Unterschied, ob der Begriff des Historischen, wie bei Pannenberg, in Kritik des in der Regel mit ihm assoziierten Prinzips analoger Vergleichbarkeit geschichtstheologisch auch auf die unvergleichliche Kontingenz des Osterereignisses angewendet oder ob dieses Ereignis, wie bei Geyer, mit der Begründung, es überschreite mit der Grenze des Todes auch diejenige der Geschichte, dezidiert dem historischen Zugriff entzogen wird. Grundlegend ist der besagte Unterschied nicht zuletzt deshalb, weil durch ihn der Gesamtzusammenhang der Dogmatik einschließlich der Verhältnisbestimmung von Theologie und Metaphysik bzw. Geschichtsphilosophie betroffen ist. Während sich Geyer im Anschluss an die Dialektische Theologie in kritischer

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Distanz zu universalgeschichtlichem Denken positioniert, sucht Pannenberg die Grundkonstellationen abendländischer Geschichtsmetaphysik in sein System zu integrieren. Relativierungen der Konzeptionsdifferenzen ergeben sich allenfalls dadurch, dass einerseits Pannenberg die nach seinem Urteil gebotene Behauptung der Historizität des – das Ende der Geschichte antizipierenden und sie zur Ganzheit führenden – österlichen Geschehens als wissenschaftstheoretische Hypothese qualifiziert, die der Strittigkeit unter gegebenen Bedingungen ebenso wenig entzogen ist wie das am Kreuz endende Leben des historischen Jesus, während andererseits Geyer nicht umhin kann, das von ihm zwar als transhistorisch, gleichwohl aber als real in Anschlag gebrachte Ostergeschehen in Beziehung zu setzen zur Historizität des Lebens und Sterbens des irdischen Jesus. Auch bei ihm ist die österliche Bedeutung der historischen Faktizität des Lebens und Sterbens Jesu nicht einfach äußerlich. Der österliche Christus ist auch nach Geyer mit dem irdischen Jesus identisch – freilich so, dass durch die österliche Jesus-Christus-Identität der Unterschied zwischen dem österlichen Christus, der den irdischen Jesus impliziert, und dem vorösterlich-historischen Jesus, der, wie es heißt, den kerygmatischen Christus nicht impliziert, nicht aufgehoben, sondern im Gegenteil bestätigt wird. Zwar ist nach Geyer die Differenz zwischen dem den irdischen Jesus implizierenden österlichen Christus und dem historischen Jesus, wie er sich unter Absehung vom Osterereignis darstellt, nicht – jedenfalls nicht primär – materialer Art. Die Stoffe, aus denen das österliche Evangelium von Leben und Sterben Jesu gestaltet ist, sind materialiter im Wesentlichen eins mit den geschichtlichen Gehalten, die sich nach Maßgabe des Gesetzes historischer Erinnerung von Jesus in Erfahrung bringen lassen. Formal aber ist die Geschichte Jesu höchst different, ja gegensätzlich, je nachdem, ob dessen Leben und Sterben unter österlicher Prämisse oder unter Absehung von Ostern in Betracht kommt. Es wäre reizvoll zu fragen, wie sich diese These zur Pannenberg’schen Annahme einer nicht nur retrospektiven, sondern retroaktiven Relevanz Osterns für den historischen Jesus verhält. Doch sei stattdessen eine vorläufige systematische Antwort auf die Frage versucht, worin der harte Kern und die unverzichtbare christologische Bedeutung einer historischen Rückfrage nach Jesus besteht. Obwohl im Zentrum der neutestamentlichen Schriften der auferweckte Gekreuzigte und das Kreuz des Auferstandenen stehen, wird in den Evangelien und nicht nur in ihnen entschieden auf das irdische Leben und Sterben Jesu Bezug genommen. In der narrativen Abfolge der evangelischen Geschichte sind Leben und Sterben Jesu dem Osterereignis vorausgesetzt. Andererseits haben die evangelischen Jesusperikopen, wie unschwer zu erkennen ist, Ostern zu ihrer konstitutiven Voraussetzung. Der vorösterliche Jesus ist in den Evangelien eine österliche Gestalt, ohne deshalb seine Vorösterlichkeit einzubüßen. Der Irdische ist vorausgesetztes Implikat des Kerygmas, welches dessen Leben und Sterben von Ostern her rekapituliert in der Gewissheit, dass der Gekreuzigte ohne Ostern nicht wäre, was er ist, an Ostern aber als derjenige in Erscheinung tritt, welcher er immer schon war und in Ewigkeit sein wird.

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In ihrer Rekapitulation des durch Ostern, Rekapitulierende wenn man so will, transfinalisierten Lebens und Transfinalisation Sterbens Jesu schließt das evangelische Kerygma narrativ an materiale Erinnerungsbestände an, deren durch Ostern erschlossener Sinn zwar der Masse der Zeitgenossen weithin verborgen blieb, auch von den Jüngern vielfach verkannt wurde, ja möglicherweise selbst für Jesus nicht durchweg zweifelsfrei feststand, die aber gleichwohl ein virtuelles Gut allgemeiner Erfahrung darstellen und deshalb auf dem Wege historischer Rekonstruktion grundsätzlich fassbar sind. Kurzum: die neutestamentliche Kunde von Jesus enthält Kenntnisse, die prinzipiell auch denjenigen zugänglich sind, die das Osterereignis nicht nur nicht teilen, sondern leugnen und die Wirklichkeit des besagten Ostergeschehens für nicht gegeben, ja für unmöglich erachten. Die unterschiedlichen Gründe solcher Bestreitung sind hier nicht eigens zu thematisieren. Festgehalten werden soll nur, dass historische Kenntnisse vom irdischen Jesus auch unter Absehung vom Ostergeschehen, ja selbst im Falle strikter Leugnung seiner Realität und Möglichkeit gewonnen werden können. Zwar wird nach christlichem Urteil das Wesen der Existenz des irdischen Jesus verkannt, wo dieser ausschließlich als historische Vergangenheitsgestalt in Betracht kommt, deren Leben im Tode endete, um definitiv einem Gewesenen anheim zu fallen, welches mit dem Leben zugleich dessen Transzendenzbezug negiert und falsifiziert. Gleichwohl ist auch unter den Bedingungen christologischer Verkennung des irdischen Jesus ein Wissen von ihm im Sinne äußerer Notiznahme möglich und tatsächlich zu erwerben, welches mit den vom Osterglauben vorausgesetzten Kenntnissen äußerlich übereinstimmt. Der dogmatische Grund hierfür ist vor allem in der Tatsache zu suchen, dass die Differenz zwischen Christ und Nichtchrist die Gemeinsamkeit des Menschseins ebenso wenig aufhebt, wie der Widerstreit der Sünde die kreatürliche Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit zu beseitigen vermag. Was für die lex naturalis generell gilt, gilt daher auch für das Gesetz der Historie: es steht unbeschadet des unvergleichlichen Wandels, welchen das Evangelium in Bezug auf seine Stellung bewirkt, für Christen und Nichtchristen, Zeugen und Leugner Osterns gleichermaßen in Geltung. Indem die traditionelle Dogmatik die notitia zu einem unverzichtbaren Bestimmungsmoment der fiducia erklärte, hat sie indirekt deutlich gemacht, dass die Allgemeinheit der lex und mit ihr das Gesetz generellen Wissenkönnens einschließlich historischer Kenntnisnahme durch die Differenz von Glauben und Unglauben nicht erledigt ist. So elementar der Unterschied zwischen beiden auch ist: die dem Glauben eigene notitia Jesu ist nicht diesem vorbehalten, sondern potentielles Gemeingut, das aktuell von jedermann in Erfahrung gebracht werden kann. Wird das irdische Dasein Jesu, was der Fall ist, als empirisches Datum in Raum und Zeit behauptet, dann ist mit solcher Behauptung notwendig ein Moment der Selbigkeit zwischen glaubenslosem, ja ungläubigem und gläubigem Wissen in Anschlag zu bringen. Kurzum: die notitia ist von der fiducia zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen; die notitia Jesu verhält

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sich, wenn man so will, zur Differenz von Glaube und Unglaube momentan indifferent. Damit ist ein höchst komplexer und spannungsvoller Sachverhalt benannt, der nicht unbedacht bleiben darf, wenn das Verhältnis von Christologie und historischem Jesus angemessen bestimmt werden soll. Einerseits hat dogmatisch zu gelten, dass eine bloße Kenntnisnahme Jesu im Sinne isolierter notitia eine Abstraktion darstellt, die nach Urteil des Glaubens auf eine radikale Verkennung ihres Gegenstandes gerade dann hinausläuft und hinauslaufen muss, wenn sie sich den Anschein der Konkretion gibt. Andererseits bleibt davon die Tatsache unberührt, dass die Inhalte äußerer notitia Jesu für Glaube und Unglaube momentan identisch sind, mit dem Unterschied freilich, dass der Glaube die Zweideutigkeit bloßer Kenntnisnahme eindeutig erkennt, wohingegen der Unglaube ihre Ambivalenz missachtet und eben dadurch geneigt ist, ihre Bedeutung zu verkennen. Als Gegenstand der notitia ist der historische Jesus eine ebenso unverzichtbare wie fragwürdige Gestalt: spätestens an seinem Kreuz scheiden sich die Geister. Das will bedacht sein, wenn nach den folgenden Erörterungen zur Geschichte der historischen Jesusforschung der äußere Verlauf des Lebens Jesu im zeitgenössischen Kontext in Grundzügen skizziert wird. Es wäre in hohem Maße abstrakt, wollte man die in diesem Zusammenhang zu erlangenden historischen Ergebnisse christologisch für konkret erachten. In den Ausführungen über Historismus und Antihistorismus im 9. Kapitel des zweiten Bandes dieser Reihe ist gezeigt worden, dass und wie sich die Historik im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer eigenständigen, von Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie emanzipierten Erfahrungswissenschaft entwickelt hat, die sich trotz ihrer empirischen Orientierung charakteristisch von naturwissenschaftlichen Denkweisen und Erkenntniszielen unterschieden wusste. Mit der Etablierung von Geschichte als einem eigenen Wissenschaftsfach mit entsprechenden institutionellen Professionalitätsstandards war der Selbstverständigungsprozess der Historik indes keineswegs abgeschlossen. Das Problem ihrer Theoriefähigkeit als historische Erfahrungswissenschaft war durch die vollzogene Abkehr von den geschichtsphilosophischen Konzeptionen des Deutschen Idealismus eigentlich erst gestellt. Es wäre Aufgabe einer Geschichte der wissenschaftlichen Historik, den Verlauf ihrer Selbstverständigungsdebatten nachzuzeichnen, die bis heute anhalten und der internen Logik des historischen Bewusstseins gemäß bisher zu keinem Abschluss gelangt sind. Von besonderem theologischen Interesse sind dabei die verschiedenen historistischen Synthesen von Systematischem und Historischem und ihr jeweiliger Zerfall, weil in diesem Zusammenhang die Dringlichkeit und Komplexität methodischer und hermeneutischer Reflexionen besonders zutage treten. Welcher Methodik und welcher Hermeneutik hat sich ein geschichtsbezogenes Denken zu befleißigen, für das die Annahme eines umfassenden Zusammenhangs geistigen Lebens, der Einmaligkeit individueller Erscheinungen und eines unaufhörlichen und unbegrenzten Geschehensfortgangs gleichermaßen kennzeichnend ist? Fragen dieser Art haben die Geschichtswissenschaften, die sich nicht mit posi-

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tivistischer Faktographie zufrieden geben, sondern zu einem reflektierten Bewusstsein ihrer selbst gelangen wollte, seit ihren Anfängen intensiv beschäftigt. Die unterschiedlichen Antworten auf diese Fragen haben auf die übrigen sog. Geisteswissenschaften eingewirkt, sind aber auch ihrerseits nicht unerheblich durch philosophische Vorentscheidungen namentlich erkenntnistheoretischer Art mitbestimmt worden. Ist der geschichtliche Gegenstand dem Subjekt seiner Erkenntnis objektiv dergestalt vorgegeben, dass dieses ihn lediglich zu rezipieren hat? Gibt es ein materiales Substrat, das seine Objektivität vor aller Erkenntnis gewährleistet? Oder ist nicht der geschichtliche Gegenstand selbst immer schon durch einen Bedeutungskontext mitkonstitutiert, der sich nicht ohne umfassende Sinnwahrnehmungen erfassen lässt? Kann daraus gefolgert werden, dass die historische Gegenstandskonstitution konsequent als Sinnbildungsleistung in Erinnerung begriffener Subjektivität zu verstehen ist, wie dies eine transzendentale Historik im Anschluss an die Neukantianer Windelband und Rickert nahelegt? Sind die Möglichkeitsbedingungen von Historik durch transzendentale Reflexionen hinreichend zu erschließen, oder bedarf es einer Transzendierung transzendentaler Logik, wie etwa Hegel sie einst forderte, um den materialen Gehalt von Geschichte und ihren Sinnzusammenhang angemessen in den Blick zu bekommen? Die Analysen zur historischen Hermeneutik von Droysen und namentlich von Dilthey sind diesbezüglich von nach wie vor aktuellem Interesse. Auch ihre Konzeptionen bestätigen je auf ihre Weise, dass Geschichtswissenschaft einer reflektierten Theorie ihrer möglichen Gegenstände bedarf, um ihre Forschungen methodisch entsprechend regeln zu können; doch werden die Möglichkeitsbedingungen der Historik anders bestimmt als im Neokantianismus. Der Theoriestatus der Historik ist komplizierter, als es auf den ersten Blick erscheinen mag, Theoriestatus der Historik und er gestaltet sich desto komplexer, je konsequenter die Geschichtswissenschaft auf dem Weg ihrer Selbstreflexion fortschreitet. Den Schatten der Geschichtsphilosophie, von der sie sich im 19. Jahrhundert zu emanzipieren trachtete, ist sie bis heute gerade dort nicht losgeworden, wo sie auf theoretisch anspruchsvolle Weise und nicht naiv betrieben wird. Gleichwohl ist nicht zu erwarten, dass sich die Historik demnächst geschichtsphilosophisch einholen und um ihren in einem mühsamen Emanzipationsprozess erlangten wissenschaftlichen Eigenstatus bringen lässt. Dies ist von der Theologie zunächst als ein historisches Faktum zu registrieren, das ihr durch ihre eigene akademische Verfassung bestätigt wird. Eine Redogmatisierung der historischen Disziplinen der Theologie ist in absehbarer Zeit nicht zu erwarten und aus vielerlei Gründen auch nicht wünschenswert. Der wichtigste dieser Gründe betrifft die nötige Anschlussfähigkeit der Theologie an das allgemeine Bewusstsein der Zeit, das ungeachtet aller differenzierten Theoriedebatten innerhalb der wissenschaftlichen Historik durch das gerade in seiner Vagheit charakteristische Empfinden geprägt ist, dass alles und jedes irgendwie geschichtlich geworden und in geschichtlicher Weise miteinander vermittelt ist.

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Verbunden mit der Annahme, dass das historisch Mögliche auf das Menschenmögliche festgelegt ist, ist das Empfinden bzw. mehr oder minder klar entwickelte Bewusstsein einer historischen Relativität und Zeitbedingtheit alles menschlichen Denkens und Handelns zu einem konstitutiven Kennzeichen nicht nur der Gegenwart, sondern der Moderne überhaupt geworden. So gesehen hat der Historismus nicht nur Schule gemacht, sondern ein Zeitalter bestimmt, das auch unter postmodernen Bedingungen anhält, sofern die Postmoderne, anders als ihr Name dies nahelegt, nicht das Ende der Neuzeit zur Voraussetzung hat, sondern diese nach Phasen der Reaktion in Form gesteigerter Modernität fortsetzt. Man kann das auch so sagen: der postmoderne Historismus der Gegenwart ist historistischer als der Historismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts, sofern die von diesem eingeleitete Historisierung und Selbsthistorisierung des historischen Bewusstseins allen Krisen des Historismus zum Trotz weiter fortgeschritten ist und im Vergleich zu den Anfängen einen gesteigerten Grad erreicht hat. Der Historismusbegriff wird unterschiedlich verwendet. Sein spezifisches Profil erhält er, wenn man ihn auf die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beginnende Phase manifester Selbsthistorisierung des historischen Bewusstseins konzentriert und in dem Sinne versteht, wie er in Ernst Troeltschs 1922 publiziertem Band über den „Historismus und seine Probleme“ beispielhaft verstanden wurde. Danach ist der Historismus nicht lediglich eine Form historischen Denkens, sondern dessen selbstbezügliche Reflexionsgestalt, die Einsicht in die eigene Historizität und damit in die historische Relativität allen Denkens einschließlich des historischen genommen hat. Individualisierung, Differenzierung und Pluralisierung sind charakteristische Kennzeichen des so verstandenen Historismus (vgl. Oexle). Zwar versuchte Troeltsch auf seine Weise noch einmal zu einer normativen Kultursynthese zu gelangen, was mit einer tendenziellen Retheologisierung seines Historismusbegriffs einherging. Doch richtete diese längerfristig nichts gegen die ursprüngliche Einsicht grundsätzlicher geschichtlicher Relativität auch des eigenen Standorts aus, mit dem Troeltsch sich jede Rückzugsmöglichkeit auf einen letzten, absoluten Grund verstellte. Zwar setzt jede historische Beobachtung und Urteilsbildung einen festen Standort voraus, aber diesem positionellen Standort ist der theologisch-metaphysische Boden insofern entzogen, als er sich selbst als geschichtsbedingt und grundsätzlich relativ zu erkennen gibt. Zugleich gilt, dass die Pluralität divergenter Beobachtungsperspektiven irreduzibel ist. Es liegt daher in der Konsequenz des Historismus, normativem Einheitsstreben durch beständiges Geltendmachen von Differenzen Einhalt zu gebieten und jedweden Versuch verbindlicher Lösung geschichtlich gestellter Probleme historisch zu reproblematisieren. Der wesentliche Sinn wertfreier Wissenschaft besteht daher gemäß Max Weber nicht darin, Probleme zu entproblematisieren und endgültigen Lösungen zuzuführen, sondern aproblematisch gewordene Lösungen durch ihre reflexive Historisierung erneut zum Problem werden zu lassen. Durch Einsicht in die irreduzible Perspektivität aller historisch möglichen Positionen ergibt sich ihre permanente Korrigibilität von selbst. Wenn der Historismus

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ein Dogma vertritt, dann das einer universalen Fallibilität. Erste Aufgabe einer dem Historismus verpflichteten Wissenschaft ist es nicht, Normen zu setzen, sondern gesetzte Normen mittels Historisierung zu reflektieren und zu problematisieren. Hat eine auf Reproblematisierungsstrategien im Sinne des Historismus abgestellte Wissenschaft einen Wert, auf den auch die Theologie nicht verzichten kann? Oder ist die im Zuge des Historismus beanspruchte Wertfreiheit der Wissenschaft ein Indiz ihrer theologischen Wertlosigkeit? Letzteres wäre dann der Fall, wenn die historistische Reproblematisierungsstrategie unter der aproblematischen Voraussetzung eines abstrakten Relativismus betrieben würde, der zwangsläufig auf die „normative“ Entwertung aller Werte hinausliefe. Wesentlich anders stellt sich die Angelegenheit dar, wenn die vom Historismus initiierte historische Reflexivität eine wissenschaftliche Selbstbescheidung bewirkt, die diesen selbst umfasst. Denn einer Selbstbescheidung dieser Art kann auch die theologische Wissenschaft nachgerade in ihrer dogmatischen Gestalt nicht entbehren. Es ist im Gegenteil so, dass die Theologie von ihrem eigenen Prinzip her zu einer solchen Selbstbescheidung angehalten ist, die jeden dogmatistischen Totalitarismus definitiv ausschließt. Wissenschaftliche Theologie gibt es nicht ohne das Bewusstsein, das eine Ganze, von dem sie handelt, nicht selbst zu sein. Daran wird sie durch die historischen Wissenschaften mit Recht erinnert; diese gehören in Form entsprechender Disziplinen unter neuzeitlichen Bedingungen unveräußerlich zu ihrem Bestand, wobei hinzuzufügen ist, dass die historischen Disziplinen der Dogmatik und der gesamten Theologie am ehesten dadurch dienen, dass sie sich jeder dogmatistischen Funktionalisierung entziehen und ihr Geschäft just in dieser Weise betreiben, wie sie für einen zum entwickelten Bewusstsein seiner selbst gelangten Historismus kennzeichnend ist. Die abstrakte Entgegensetzung von historischer und dogmatischer Methode, von der auch Troeltschs programmatische Studie zum Thema noch nicht frei ist und die, wie zu erörtern sein wird, in der neuesten Phase der Leben-Jesu-Forschung mit zuweilen „erschreckender Naivität“ (Laube, 117) wieder auflebt, wird sich dann zu einem „Wechselverhältnis von historischer Kritik und systematischer Konstruktion“ (Laube, 136) entwickeln, die beiden Teilen zugute kommt. Der Text „Über historische und dogmatische Historische und dogmatische Methode“, den Troeltsch um die Wende vom 19. Methode zum 20. Jahrhundert publiziert hat, darf trotz des geäußerten Vorbehalts als epochal gelten, insofern er methodische Standards historisch-kritischer Forschung formuliert, die für das exegetische Durchschnittsbewusstsein nach wie vor prägend sind. Die dogmatische Methode geht nach Troeltsch „von einem festen, der Historie und ihrer Relativität völlig entrückten Ausgangspunkt“ (Troeltsch, 740) aus, um „unbedingt sichere Sätze“ (ebd.) zu gewinnen, die ihrem genuinen Wesen nach strikt axiomatisch sind und höchstens nachträglich mit Erkenntnissen der üblichen Erfahrungswelt in Verbindung gebracht werden. Wenn Dogmatik von Geschichte handle, dann nicht auf historische, sondern auf supranatural-transgeschichtliche Weise, die auf den Wunderbe-

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weis ihrer Übernatürlichkeit angelegt sei. Kurzum: Was Dogmatik Heilsgeschichte oder ähnlich nenne, sei recht eigentlich „keine Geschichte ..., sondern das Gegenteil“ (Troeltsch, 742). Troeltsch wäre geneigt, die dogmatische Methode die römisch-katholische zu nennen, wüsste er nicht, dass sich ihre Vorgehensweise auch unter reformatorischen Theologen bleibender Beliebtheit erfreut. Die Reformation des 16. Jahrhunderts und der an sie anschließende Altprotestantismus sei von einer historischen Denkungsart ohnehin noch meilenweit entfernt gewesen. Diese habe sich erst im Aufklärungszeitalter ausgebildet, um im Neuprotestantismus theologisch wirksam zu werden. Wichtiger als die nicht unplakative Charakteristik der dogmatischen ist die Kennzeichnung, die Troeltsch der historischen Methode zuteil werden lässt. Diese unterscheide sich von jener wesentlich dadurch, dass sie erstens nur Wahrscheinlichkeitsurteile erlaube, zweitens einem Analogieverfahren folge, das bei aller Unterschiedlichkeit der Einzelphänomene von einer prinzipiellen Gleichartigkeit alles geschichtlichen Geschehens ausgehe, und drittens eine zwischen allen historischen Vorgängen stattfindende Wechselwirkung und Korrelation annehme. Diese Bestimmung der historischen Methode ist, wie am Beispiel Wolfhart Pannenbergs gezeigt, mit Gründen kritisiert worden, die nicht lediglich Verfahrensprobleme, sondern den Begriff der Historizität selbst und alle Probleme betreffen, die Gegenstand der eingangs skizzierten Selbstverständigungsdebatten der Historik waren und noch sind. Auch wenn man der Kritik am Troeltschen Verständnis historischer Methodik ein geschichtstheologisches Recht nicht bestreitet, wird man doch einräumen müssen, dass sie das faktische Verfahren in weiten Teilen der historischkritischen Forschung außerhalb und innerhalb der Theologie nach wie vor durchaus zutreffend charakterisiert. Hält man sich an die Devise, dass historischkritische Forschung dasjenige ist, was historisch-kritische Forscher in aller Regel darunter verstehen, dann kann die Troeltsch’sche Kennzeichnung im Wesentlichen auch heute noch Anspruch auf relative Allgemeingeltung beanspruchen. Mehr steht nach Troeltsch unter historischen Bedingungen ohnehin nicht zu erwarten. Unabhängig von der Frage ihrer Bewertung belegt Troeltschs Bestimmung der historischen Methode in ihrem Unterschied zur dogmatischen ein weiteres Mal, dass Methodenentscheidungen eine erhebliche inhaltliche Relevanz haben. Dies zeigt sich in signifikanter Weise auch an der historischen Jesusforschung, deren christologische Bedeutung in der modernen Theologiegeschichte nicht von ungefähr notorisch strittig war. Nicht nur im Hinblick auf das Ostergeschehen, auch hinsichtlich der vorösterlichen Historie Jesu gilt, dass die unterschiedlichen theologischen Bezugnahmen auf die Geschichtswissenschaft eine „präjudizierende Rückwirkung“ (Essen, 450) auf die exegetische Urteilsbildung und auf die Bestimmung des Wirklichkeitsstatus der Überlieferungsbestände haben, die der Exegese zur Untersuchung aufgegeben sind. Zu einem reflektierten Urteil über die Ergebnisse der historischen Jesusforschung wird man am sichersten dann gelangen, wenn man Grundzüge ihrer Geschichte kennt. Diese Kenntnis ist nachgerade für eine theologische Bewertung unentbehrlich, die am differenzierten Zusammen-

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hang von Genese und Geltung interessiert und an der Frage orientiert ist, welche christologische Bedeutung dem sog. historischen Jesus und der ihm gewidmeten historischen Forschung zukommt. Es erscheint daher gerade unter theologischen Gesichtspunkten als angemessen, der Geschichte der historischen Jesusforschung konzentrierte Aufmerksamkeit zuzuwenden, bevor man zentrale Aspekte ihrer Ergebnisse thematisiert.

4. The Old Quest and the Period of „No Quest“: Zur Geschichte historischer Jesusforschung I

Lit.: B. Bauer, Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker und des Johannes. Dritter und letzter Band, Braunschweig 1842. – R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 1921. – Ders., Jesus, Berlin 1926. – Ders., Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 31958. – D. L. Denton, Jr., Historiography and Hermeneutics in Jesus Studies. An Examination on the Work of John Dominic Crossan and Ben F. Meyer, London/ New York 2004. – F. Engels/K. Marx, Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Consorten (1845), in: K. Marx/F. Engels, Werke. Bd. 2, Berlin 1972, 5–223. – F. W. Graf, Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne, München 2009. – G. Hornig, Die Anfänge der historisch-kritischen Theologie. Johann Salomo Semlers Schriftverständnis und seine Stellung zu Luther, Göttingen 1961. – E. Jüngel, Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus, in: ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen III, München 1990, 214–242. – M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, neu hg. v. E. Wolf, München 21956. – D. Klein, Hermann Samuel Reimarus [1694–1768]. Das theologische Werk, Tübingen 2009. – K. Marx, Luther als Schiedsrichter zwischen Strauß und Feuerbach, 1842, in: K. Marx/F. Engels, Werke. Bd. 1, Berlin 1972, 26f. – G. S. Oegema, Der historische Jesus und das Judentum, in: U. H. J. Körtner (Hg.), Jesus im 21. Jahrhundert. Bultmanns Jesusbuch und die heutige Jesusforschung, Neukirchen 2001. – H. S. Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, 2 Bde., hg. v. G. Alexander, Frankfurt a.M. 1972. – A. Schweitzer, Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 3: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, München 1974. – Ders., Die psychiatrische Beurteilung Jesu, Tübingen 21933. – R. Slenczka, Geschichtlichkeit und Personsein Jesu Christi, Göttingen 1967. – W. Stegemann, Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010. – D. F. Strauß, Das Leben Jesu, Kritisch bearbeitet. 2 Bde., Tübingen 1835/36. – Ders., Hermann Samuel Reimarus und seine Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, Leipzig 1862. – G. Theißen, Jesus als historische Gestalt. Beiträge zur Jesusforschung, Göttingen 2003. – P. Tillich, Main Works/Hauptwerke (= MW), Berlin/New York 1988ff. – Ders., Gesammelte Werke (= GW), Stuttgart 1959ff. – Ders., Ergänzungs- und Nachlassbände zu den GW (= EGW), Stuttgart 1971ff. – F. Wagner, Systematisch-theologische Erwägungen zur neuen Frage nach dem historischen Jesus, in: KuD 19 (1973), 287–304. – G. Wenz, Theologie ohne Jesus? Anmerkungen zu Paul Tillich, in: KuD 26 (1980), 128–139. Historiographische Periodisierung

Historiographie kommt ohne periodisierende Unterscheidungen nicht aus. Das gilt auch in Bezug auf die Geschichte der historischen Jesus-

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forschung. „The standard grand narrative of the history of Jesus studies divides it into phases, traditionally named the Old Quest, the New Quest and the Third Quest.“ (Denton, 3) Die erste Phase ist durch Albert Schweitzers Werk „Von Reimarus zu Wrede“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts beschrieben, auf einen eigentümlichen Begriff und zu einem vorläufigen Abschluss gebracht worden. Die zweite Phase hat Mitte des 20. Jahrhunderts Ernst Käsemann initiiert und entscheidend geprägt. Eine dritte Phase nahm zwei Jahrzehnte vor der Jahrtausendwende ihren Anfang und erstreckt sich bis zur Gegenwart. Allerdings ist vorgeschlagen worden, „The Third Quest“ besser die „‚zweiundeinhalbste‘ Frage“ (Oegema, 88) zu nennen, weil sie „teilweise auf die Forschungsergebnisse der zweiten Frage aufbaut ... und erst auf dem halben Weg ist“ (ebd., Anm. 104). Gegenläufig zur Tendenz einer Halbierung der von der dritten zurückgelegten Wegstrecke ist neuerdings gelegentlich schon der Ruf nach einer vierten Suche nach dem historischen Jesus erhoben worden. Dieser Ruf ist mit der methodischen Forderung verbunden, das übliche Religionsmodell des Judentums des 1. Jahrhunderts n.Chr. auf ein Ethnizitätsmodell umzustellen. Im deutschsprachigen Bereich hat dafür Wolfgang Stegemann mit seiner jüngst erschienenen Monographie über „Jesus und seine Zeit“ ein charakteristisches Beispiel gegeben. Stegemann schließt zwar im Wesentlichen an die Ergebnisse des „Third Quest“ an, die er ausführlich darstellt, versucht diese aber dadurch folgerichtiger zur Geltung zu bringen, dass er das antike Judentum weniger als Religion denn als Ethnie kategorisiert, um so die – nach seinem und dem Urteil der Vertreter der dritten Phase der Leben-Jesu-Forschung – ohnehin sehr wenigen Besonderheiten der Praxis und Verkündigung Jesu noch problemloser in den Rahmen der jüdäischen Identitätskonstruktionen der Zeit einordnen zu können. „D.h., was immer in historischen Diskuren über Jesus sozusagen als ‚jesuanisch‘ verstanden wird, ist eben in der Konsequenz des Ethnizitätsmodells nicht ‚christlich‘ (oder auch: ‚prae-christlich‘), sondern es bleibt ‚jüdisch‘ (oder ‚judäisch‘).“ (Stegemann, 432) In historischen Jesusdiskursen reflektiert sich, wie nicht anders zu erwarten, immer auch das aktuelle Bewusstsein derer, die den Diskurs führen. Um darüber Klarheit zu erreichen, empfiehlt es sich, die jeweiligen Jesusdiskurse ihrerseits zu historisieren und sie in eine Verlaufsgeschichte historischer Jesusforschung einzuordnen. Geschieht dies, dann wird schnell ersichtlich, dass weder die dritte noch eine eventuelle vierte Phase historischer Jesusforschunge ohne Kenntnis der beiden vorrangegangenen verstanden werden kann. Zum Verständnis der ersten und zweiten Phase hinwiederum bedarf es der Kenntnis der Krise, die beide voneinander schied und dazu führte, „that the Old Quest was followed by a period of ‚no quest‘, in which historical investigation of Jesus was neglected because it was considered historically impossible and theologically illegitimate“ (Denton, 3). Karl Barth soll auf die Frage nach dem historischen Jesus geantwortet haben: „Ich kenne diesen Period of „No Quest“ Herrn nicht.“ (Zit. n. Jüngel, 218) Auf lapidare

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Weise hat er damit zum Ausdruck gebracht, dass Christologie, welche die Möglichkeit gegenwärtigen Christusglaubens und ihren aktualen Wirklichkeitsgrund zur Geltung zu bringen hat, mit dem Menschen Jesus, wie er historischer Forschung zugänglich ist, seiner Meinung nach wenig gemein hat. Der historische Jesus muss nach Karl Barth, wenn man so will, christologisch nicht einmal ignoriert werden. In dieser Haltung reflektiert sich in radikalisierter Form die Kritik, wie sie Martin Kähler, Wilhelm Hermann u.a. an der „Position einer den Glauben an Jesus Christus auf historische Tatsachen und also auf historische Erkenntnisse begründenden Theologie“ (Jüngel, 217) geübt haben. Radikale Kritik an der christologischen Relevanz historischen Wissens und der in ihm gewussten Tatsachen haben auf ihre Weise auch Rudolf Bultmann und Paul Tillich geübt. Drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs legte Tillich einer Gruppe befreundeter Theologen eine Thesenreihe vor zu dem Thema „Die christliche Gewißheit und der historische Jesus“ (vgl. Tillich, MW VI, 21–37). Sie hatte nach des Autors eigenem Bekunden zur Folge, dass er „in Deutschland als radikaler Theologe angesehen wurde“ (Tillich, GW XII, 33). Ausgangspunkt der Überlegungen war die brisante Frage, „wie die christliche Lehre zu verstehen wäre, wenn die Nichtexistenz des historischen Jesus historisch wahrscheinlich würde“ (Tillich, GW XII, 32). Für die Kontextualisierung der Thesenreihe mag neben der Vergegenwärtigung Schelling’scher Problemkonstellationen, die seit geraumer Zeit prägend waren, der Hinweis nützlich sein, dass die theologische Konferenz auf der Kassler Wilhelmshöhe, anlässlich derer die Thesen vorgetragen wurden, von Hermann Schafft arrangiert worden war, der Tillich nach eigenem Bekunden den Geist Martin Kählers „vielleicht mehr (vermittelte), als dessen Vorlesungen es taten“ (Tillich, EGW V, 28). Kähler war 1892 (2. Auflage 1896) mit einer Schrift an die Öffentlichkeit getreten, deren Grundthese bereits durch ihren Titel bündig umschrieben war: „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus“. Der Text will zeigen, dass der in der Geschichte wirksame Christus der in der Bibel als der Urkunde des Glaubens österlich verkündigte Gekreuzigte und nicht ein hinter dem Kerygma aufzusuchender historischer Jesus sei, bei dem es sich vielmehr um ein Konstrukt subjektiver Projektion handle. Kählers Verdikt lautet: „Der historische Jesus der modernen Schriftsteller verdeckt uns den lebendigen Christus.“ (Kähler, 16. Bei K. gesperrt.) Zwar sei die Leben-Jesu-Bewegung im Recht, „sofern sie Bibel wider abstrakten Dogmatismus setzt“ (Kähler, 18); indem sie die Bibel indes im Interesse unmittelbarer religiöser Selbstvergewisserung hintergehe, beraube sie sich zugleich der offenbaren Basis, durch welche allein das menschliche Subjekt Grund zu finden und zu sich selbst zu kommen vermöge. Diese Basis ist das evangelische Kerygma vom auferstandenen Gekreuzigten, in welchem der Glaube den lebendigen Gott wirksam weiß. Dieser Glaube hat zugleich als die wichtigste Wirkung zu gelten, welche von Jesus geschichtlich hinterlassen wurde. Davon theologisch zu abstrahieren, hieße daher zwangsläufig, den Grund der Glaubenswirkung zu verkennen: „der wirkliche Christus ist der gepredigte Chris-

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tus. Der gepredigte Christus, das ist aber der geglaubte“ (Kähler, 44; bei K. teilweise gesperrt). Dem naheliegenden Einwand, im geglaubten Christus spiegle sich lediglich der Glaube selbst wieder, begegnet Kähler mit dem Hinweis, daß das Glaubens-Ich im Unterschied zu dem Subjekt, das im historischen Jesus unmittelbar sich selbst zu entdecken gewillt ist, seiner selbst gänzlich unsicher und allein der Wirklichkeit des gepredigten Christus gewiss sei, auf den es sich verlasse und in dem es gründe. Nicht der Glaube gilt ihm daher als Urheber des biblischen Bildes Christi; „er selbst ist der Urheber dieses Bildes.“ (Kähler, 68; bei K. gesperrt.) Seine geschichtliche Tatsächlichkeit aber erschließt sich nicht, jedenfalls nicht primär historischer Rekonstruktion, sondern der Wahrnehmung heilvoller Wirkungen, die von Jesus Christus ausgehen. Christologie ist für Kähler wie schließlich auch für seinen Schüler Paul Tillich eine Funktion der Soteriologie. Vergleichbares lässt sich im Hinblick auf Rudolf Bultmann geltend machen. In seiner berühmten „Theologie des Neuen Testaments“ werden der irdische Jesus und seine Verkündigung bemerkenswerterweise nicht zur neutestamentlichen Theologie selbst, sondern zu deren Voraussetzungen und Motiven gerechnet. „Denn die Theologie des NT“, so Bultmann, „besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert. Christlichen Glauben aber gibt es erst, seit es ein christliches Kerygma gibt, d.h.ein Kerygma, das Jesus Christus als Gottes eschatologische Heilstat verkündigt, und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Das geschieht erst im Kerygma der Gemeinde, nicht schon in der Verkündigung des geschichtlichen Jesus, wenngleich die Gemeinde in den Bericht über diese vielfach Motive ihres eigenen Kerygmas eingetragen hat. Erst mit dem Kerygma der Urgemeinde also beginnt das theologische Denken, beginnt die Theologie des NT.“ (Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 2) Zu einem ähnlichen Befund war Bultmann bereits in seinem Jesus-Buch gekommen, das 1926 fünf Jahre nach Erscheinen der „Geschichte der synoptischen Tradition“ publiziert worden ist. Von Anfang an tritt die Titelgestalt ganz hinter ihre Botschaft zurück, die prinzipiell dazu bestimmt ist, sich von ihrem historischen Subjekt zu lösen und kerygmatisch ins Wort vom Kreuz einzugehen, welches allein dauerhafte Geltung beanspruchen kann. Wichtig ist allein die Botschaft, nicht der Bote. Würde sich herausstellen, daß als Träger der jesuanischen Botschaft nicht ein Mann namens Jesus, sondern ein anderer fungierte, würde sich dadurch nach Bultmanns Urteil in keiner Weise etwas ändern. Wer den Jesusnamen und mit ihm den Bultmann’schen Buchtitel daher „immer in Anführungszeichen setzen und nur als abkürzende Bezeichnung für das geschichtliche Phänomen gelten lassen will, um das wir uns bemühen, dem ist es unbenommen“ (Bultmann, Jesus, 14). Der traditionellen Preisgabe Jesu zugunsten seiner Botschaft korrespondiert die Annahme Bultmanns, dass der christliche Glaube nur als Selbsthingabe des Subjekts an das geschichtswirksame Kerygma zu realisieren sei. Die Pointe des theolo-

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gischen Verdikts einer Rückfrage nach dem historischen Jesus, das sich weniger aus historischen Problemen, als aus einer systematischen Entscheidung heraus ergibt, besteht sonach in der kritischen Negation selbstmächtiger und unmittelbar selbstbestimmender Subjektivität, auf welche das Kerygma bezogen ist. Indes erschöpft sich das Kerygma nach Bultmann nicht in kritischer Negation, sondern erfüllt sich und seine Botschaft darin, dass es das Subjekt von sich selbst zu sich selbst befreit. Die kerygmatische Negation des unmittelbar selbstbestimmenden Subjekts zielt „nicht auf die Suspendierung des Selbst überhaupt, sondern sie ist der Durchgang zur Befreiung der menschlichen Existenz zu sich selbst, nämlich zur Freiheit, die nicht mehr unter dem Zwang unmittelbarer Selbstverwirklichung steht“ (Wagner, 292). Indem „die Existenz ihr durch das Wort von Kreuz und Auferstehung Christi proklamiertes Anerkanntsein in Hingabe und Anerkennung, also im Glauben ergreift, wird sie in Negation ihrer Selbstbestimmung frei.“ (Ebd.) Vergleichbare Argumentationsfiguren finden Das Beispiel Tillichs sich bereits in der eingangs erwähnten Thesenreihe Paul Tillichs (vgl. im Einzelnen Wenz). Nach Tillichs Urteil war sein und Bultmanns Lehrer Martin Kähler einer der ersten, der das durch die historische Kritik gestellte christologische Problem in seiner ganzen Radikalität erkannt hatte. Gleichwohl vermisste er selbst bei diesem noch eine letzte Konsequenz wissenschaftlicher Ehrlichkeit und konstatierte eine latente Tendenz, die kritische Methode profaner Geschichtswissenschaft biblizistisch zu unterminieren. In der historischen Jesusfrage empfand Tillich deshalb die wissenschaftliche Überlegenheit eines Ritschl, Harnack und Troeltsch als unbestreitbar, wenngleich es ihm und seinen Freunden unmöglich war, die theologische Position der Liberalen zu übernehmen, da man fand, „die konservative Tradition (habe) mehr von einem wahren Verständnis der menschlichen Natur und der Tragik der Existenz bewahrt ... als die liberale fortschrittlich-bürgerliche Ideologie“ (Tillich, GW XIII, 24). Nach eigenen Angaben machte Tillich daher eine Krise durch, als – um ihn selbst zu zitieren – „ich die Universität Halle, auf der der Biblizismus herrschte, verließ und mich dem Studium der Bibelkritik zuwandte. Besonders Albert Schweitzers ‚Geschichte der Leben-Jesu-Forschung‘ (1906) überzeugte mich von der Unzulänglichkeit eines Biblizismus, der die historischen Fragen nicht ernst nimmt.“ (Tillich, EGW II, 185f.) Daneben war es „die Wellhausensche, dann die Gunkelsche, im engeren Sinne religionsgeschichtliche Interpretation des Alten Testaments“ (Tillich, GW XII, 32), die Tillich faszinierte und ihm die theologische Unabweisbarkeit der historisch-kritischen Methode verdeutlichte. An diesem Punkte trennte er sich deshalb, wie er sagt, „sehr bald von den Hallensern“, um sich endgültig „von allen vermittlungstheologischen und apologetischen Resten“ (ebd.) zu befreien. Das Ergebnis der Kritik des historischen Beweises (Thesen 9–28), mit dem der erste Teil der Thesenreihe beginnt, fällt entsprechend radikal aus: als wissenschaftlicher Tatbestand, der aus dem Kampf der Schulen resultiere und durch die Gesetze

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der historischen Anschauung bestätigt werde, steht für Tillich fest, „daß auf historischem Wege eine Gewißheit über den historischen Jesus nicht zu erreichen ist“ (These 28). Genauer müsste möglicherweise gesagt werden, dass auf historischem Wege eine christologische und glaubensrelevante Gewissheit über den historischen Jesus nicht zu erreichen ist. Mag die Historizität eines am Kreuz gestorbenen Mannes namens Jesus von Nazareth auch mit Wahrscheinlichkeitsgründen plausibilisierbar sein: dass dieser Mensch Christus gewesen und mithin Christus als Jesus historisch existiert habe, lässt sich historisch nach Tillich nicht beweisen. Auch dogmatisch (Thesen 29–80) kann ein gewissheitsbegründender Beweis, dass der vom Glauben bezeugte Christus Jesus historisch und damit auf empirisch fassbare Weise existiert habe, nach Tillichs Auffassung nicht geführt werden. Denn aus der Glaubensgewissheit, dass der gekreuzigte Jesus der Christus sei, kann nicht mit Gewissheit gefolgert werden, Jesus als der Christus habe empirisch-realhistorisch existiert. Der historische und der dogmatische Beweis der empirischen Faktizität der für die Glaubensgewissheit signifikanten christologischen Gleichung, derzufolge Jesus und Christus identisch seien, scheitert nach Tillich und endet bzw. vollendet sich in der aporetischen Einsicht, dass die Empirizität der Jesus-ChristusIdentität des christologischen Subjekts tatsächlich ungewiss ist und faktisch nicht zur Gewissheit gebracht werden kann. Die eigentliche Pointe der Tillich’schen Thesenreihe ist damit allerdings noch nicht erreicht. Sie wird erst in deren zweiten Teil (81–128) ausgesprochen. Die Grundgleichung des christlichen Glaubensbekenntnisses, demzufolge Jesus der Christus und Christus Jesus sei, und damit die Identität des Subjektes und Gegenstandes christologischer Lehrbildung ist nach Tillich historisch-empirisch nicht nur faktisch, sondern notwendigerweise ungewiss. Anders formuliert: Die Wahrheit des christologischen Subjekts muss am Ort historisch-empirischer Individualität mit Notwendigkeit ungewiss bleiben. Als realexistierendes Individuum vorgestellt ist die Jesus-Christus-Identität nicht nur ungewiss, sie muss es auch sein. Erst mit dieser Annahme ist der Skopus der Thesenreihe Tillichs von 1911 formuliert. Er bildet den Bezugspunkt des ersten konstruktiven Christologieentwurfs, den Tillich in seiner Systematischen Theologie von 1913 (Tillich, EGW IX, 273–434) vorgelegt hat. Die Identität göttlichen und menschlichen Seins lässt sich nicht in der Gestalt historischer Individualität zur Gewissheit bringen. Unter Bedingungen historischer Individualität bleibt die Jesus-Christus-Einheit im Gegenteil nicht nur faktisch, sondern notwendigerweise ungewiss. Dass der gekreuzigte Jesus der Christus Gottes ist, erschließt sich nur von dessen Selbstoffenbarung her, die alles historische und gedankliche Begreifen transzendiert. Gleichwohl bleibt die absolute Positivität ihrer Transzendenz auf die Negativität immanenter Ungewissheitserfahrung dadurch bezogen, dass sie diese behebt. Insofern ist die faktische und notwendige Ungewissheit der Gott-Mensch-Identität die implizite Voraussetzung ihrer durch Offenbarung erschlossenen Gewissheit. Mit dieser Argumentationsfigur, durch die er seinem System die traditionelle Gesetz-Evangeliums-Thematik anverwandelt, gewinnt Tillich nicht nur Anschluss

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an die negative und positive Philosophie des späten Schelling, dem seine ersten akademischen Qualifikationsarbeiten gewidmet waren; sie nimmt zugleich strukturell die Methode der Korrelation vorweg, die sein entwickeltes Systemdenken bestimmt. Im Übrigen zeigt die komplexe Problemlage, mit welchen Schwierigkeiten die Thematik von Christologie und historischem Jesus verbunden ist, wenn sie systematisch bedacht wird. Eine Problemskizze der ersten Phase der Geschichte historischer Jesusforschung wird dies bestätigen. „The Old Quest“, die erste Entwicklungsphase historischer Jesusforschung wurde durch Albert The Old Quest und mehr Schweitzer einer Analyse zugeführt, die bis heute als klassisch gilt. Sie ist in einer Erstfassung 1906 unter dem Titel „Von Reimarus zu Wrede“ erschienen und Jahre später in einer um die Hälfte des Umfangs erweiterten Zweitfassung als „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ erneut aufgelegt worden. Bevor die Anlage dieses Werkes erkundet und sein Ergebnis referiert werden soll, sei auf einige seiner Protagonisten in gesonderten Fallstudien eigens eingegangen, nämlich erstens auf Hermann Samuel Reimarus, mit dem Schweitzer die Geschichte der modernen Leben-Jesu-Forschung beginnen lässt, und zweitens auf David Friedrich Strauß, dessen 1835/36 erstmals erschienenes Leben Jesu nach Schweitzers Urteil Mitte und Grenzscheide des von ihm beschriebenen Entwicklungsprozesses markiert. Schließlich soll drittens auf die Auseinandersetzung des von Schweitzer ebenfalls mit Prominentenstatus versehenen Bruno Bauer mit Strauß und auf die Deutung Bezug genommen werden, die Karl Marx und Friedrich Engels dem Streit beider haben zuteil werden lassen. Die jesulogisch-christologischen Debatten der Zeit sind mit deren geistig-theoriegeschichtlicher Gesamtentwicklung untrennbar verbunden. Dies verweist auf die Notwendigkeit, den Problemhorizont über diejenigen Perspektiven hinaus zu erweitern, die Schweitzer erschlossen hat. Dieser hatte primär historische Fragestellungen ins Auge gefasst und die mit ihnen verbundenen theologisch-philosophischen Erwägungen tendenziell ausgeblendet. Dadurch konnte der Eindruck entstehen, als sei durch die Leben-Jesu-Forschung ein im Vergleich zur dogmatischen Christologie und ihren systematischen Gehalten gänzlich neues Kapitel aufgeschlagen worden. Doch lässt sich am konkreten Verlauf der Debatten unschwer zeigen, „dass die sogenannte ‚Leben-Jesu-Forschung‘ keineswegs in dem Bemühen um eine biographische Rekonstruktion eines Lebens Jesu aufgeht, und zwar weder historisch noch theologisch“ (Slenczka, 63). Eine historische Substitution dogmatischer Christologie zu leisten war gewiss in Teilen moderner Jesusforschung intendiert. Aber ihre Geschichte erschöpft sich weder in der ersten noch in den darauffolgenden Phasen in der Realisierung dieser Absicht, weil in ihr stets Tendenzen anderer Art mitverfolgt wurden, ohne dass diese mit Bestimmtheit auf den Begriff gebracht werden könnten. „Die sog. Leben-Jesu-Forschung ist viel weniger ein festes Programm als ein Problem.“ (Slenczka, 22) Albert Schweitzer hat Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) an den Anfang seiner Geschichte der Leben-Jesu-Forschung gestellt. Dafür gibt es gute Gründe.

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War es doch Reimarus, der bis heute relevante Grundfragen historischer Jesusforschung zu Bewusstsein gebracht hat (vgl. Theißen, 4ff.). Er entdeckte den Unterschied zwischen dem historischen und dem von den Aposteln verkündeten, kerygmatischen Jesus, er versuchte den historischen Jesus ganz aus seinem jüdischen Kontext heraus zu verstehen und zwar als einen revolutionären Eschatologen, dessen Zukunftserwartungen durchaus politische Implikationen gehabt haben sollen und erst nach dessen Kreuzestod in eine rein geistige Botschaft transformiert worden seien. Als endzeitlicher Prophet des kommenden Reiches Gottes, das den Juden Befreiung von der Römerherrschaft bringen sollte, kam Jesus für Reimarus zwar als politischer Messias, nicht aber als unpolitische Erlösergestalt in Betracht, die er erst nach dem österlichen Jüngerbetrug geworden sei. Reimarus hat Problemzusammenhänge benannt, die in der historischen Jesusforschung auch heute noch virulent sind: Wie jüdisch (vgl. Theißen, 13ff.; 33ff.), wie politisch bzw. rebellisch (vgl. Theißen, 17ff.; 133ff.), wie eschatologisch (vgl. Theißen, 22ff.; 195ff.), wie christologisch (Theißen, 26ff.; 283ff.) war der historische Jesus? Eine weitere Grundfrage, die unmittelbar auf die Historizität des historischen Jesus bzw. Jesusbildes gerichtet ist, trat erst nach Reimarus klar ins Bewusstsein: „Wie fremd ist der historische Jesus? Oder umgekehrt formuliert: Wie sehr sind die historischen Rekonstruktionen seines Wirkens und seiner Verkündigung anachronistische ‚Modernisierungen‘ Jesu? Reimarus selbst war Deist, d.h.Anhänger einer Vernunftreligion; er war überzeugt, dass der Kern der Lehre Jesu dieser vernünftigen Religion entspreche, auch wenn er mit den Jesus zugeschriebenen politisch-messianischen Intentionen dessen Bild faktisch historisch ‚verfremdete‘. Aber erst nach einer längeren Phase historisch-kritischer Arbeit an der Jesusüberlieferung konnte die Gefahr der unbewussten ‚Modernisierung‘ Jesu in ihr bewusst werden, nämlich mit der sog. ‚konsequent-eschatologischen‘ Auffassung von Jesu Wirken“ (Theißen, 6; vgl. ferner 285ff.): der Geschichtsschreiber der Leben-JesuForschung, Albert Schweitzer, hat für diese Auffassung selbst ein hervorragendes Beispiel gegeben. Auch wenn Schweitzers Annahme nicht zutrifft, dass Reimarus für seine Zeitgenossen inexistent gewesen sei, so ist er als Vertreter historischer Bibelkritik und Jesusforschung einer größeren Öffentlichkeit doch erst infolge der von Gotthold Ephraim Lessing seit 1774 veranstalteten posthumen Veröffentlichung von Auszügen aus seiner „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ bekannt geworden. Das übrige theologische Werk, also insbesondere die über die von Lessing publizierten Fragmente hinausreichenden Teile der mehr als zweitausend Druckseiten umfassenden „Apologie“ sowie die religionsphilosophische Schrift über „Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion“, blieb bis zum heutigen Tage zumeist der Kenntnis einiger Experten überlassen. Gleichwohl ist die vollständige Wahrnehmung zumindest der beiden theologischen Hauptschriften des Reimarus die Voraussetzung einer angemessenen Würdigung seines Beitrags zur historisch-kritischen Jesusforschung. Die in den 1730er Jahren begonnene, sorgsam geheim gehaltene Arbeit an der

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„Apologie“ erstreckte sich über ungefähr dreißig Jahre, bis die Endfassung vorlag, die 1972 erstmals vollständig ediert wurde (vgl. Reimarus). Das Werk ist maßgeblich vom englischen Deismus beeinflusst, aber u.a. auch durch die radikalpietistische Kritik der traditionellen Versöhnungslehre vonseiten Johann Konrad Dippels geprägt. Impulse aus dem Hamburger Aufklärungsmilieu kommen hinzu. Nicht minder wichtig für die geistige Entwicklung von Reimarus waren die ihm zeitig vertraute lutherische Philologie und Exegese, die orthodoxe Apologetik samt ihrer Bezugsgegenstände, die Dogmatik seines Jenaer Lehrers Johann Franz Buddeus (1667–1729) sowie die Beschäftigung mit der Physikotheologie seines Schwiegervaters, des Latinisten und Gräzisten Johann Albert Fabricius (1868–1736), Professor am Hamburger Gymnasium und zeitweilig Rektor des Johanneums. Auch Grundkenntnisse der zeitgenössischen Schulphilosophie müssen selbstverständlich vorausgesetzt werden. Einzelheiten zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund sind in einer Münchener Studie über das theologische Werk des Reimarus jüngst ausgeführt worden, in der sich zudem eine chronologische Übersicht der Vorarbeiten und Vorstufen zur „Apologie“ findet, gegen deren Veröffentlichung sich ihr Verfasser bewusst entschied, obwohl er „das Programm einer Verteidigung der vernünftigen Verehrer Gottes innerhalb des Christentums für gut begründet“ (Klein, 68) hielt. Als Kriterium der Beurteilung der religiösen Überlieferungsbestände des Alten und des Neuen Testaments sowie der Dogmengeschichte des Christentums, die Reimarus in seiner mit dem „Anhang einer Historiae Criticae Canonis Novi Testamenti“ versehenen „Apologie“ ausführlichst behandelt, gilt deren programmatischem Titel gemäß die dem Menschen von Natur aus kraft seines Vernunftvermögens gegebene religio rationalis. Sich an sie und nicht an angeblich suprarationale Offenbarungsinstruktionen zu halten, sei durch keinen Geringeren als durch Jesus selbst nahegelegt und empfohlen, der in seiner Eigenschaft als politischer Messias, der das gesetzlich erstarkte Judentum durch Liebesgebot und vernünftige Moralreligion zu reformieren suchte, nichts anderes gelehrt habe als die erst im Verlauf der Christentumsgeschichte dogmatisch verstellte vernünftige Religion. Den entscheidenden Anfang zum Schlechten hin machten nach Reimarus bereits die Apostel, indem sie den Gekreuzigten, der zu seinen Lebzeiten nichts als vernünftige Religion gelehrt und praktiziert habe, um der Kompensation ihrer Enttäuschung willen, die seine Kreuzigung ihnen bereitet hatte, auf wundersame, in Wahrheit betrügerische Weise zum Auferstandenen und alsbald vom Himmel her Wiederkommenden verklärten. Die vernünftige Religion Jesu wurde infolge dieser Ursprungsverkehrung fortschreitend in das Gegenteil ihrer selbst, nämlich in einen irrationalen Wunderglauben transformiert, wie er die Geschichte des Christentums über weite Strecken bestimmt habe. Nach Reimarus war es die Macht des Betrugs, die sich bereits im Alten Testament ankündigte und in der neutestamentlichen Osterlüge auf die Spitze getrieben wurde, von der das Christentum in Abwendung von Jesus seinen Ausgang nahm, um sich zu jenem unvernünftigen, ja vernunftwidrigen Lehrsystem zu verfestigen, gegen das er mit seiner Schrift unter polemischer Kon-

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zentration auf Trinitäts-, Zwei-Naturen- sowie Sünden- und Versöhnungslehre im Interesse vernünftiger Gottesverehrung zu kämpfen sich anschickte. Dient seine „Apologie“ vornehmlich der kritischen Destruktion religiöser Unvernunft im Christentum, so ist das zweite religionsphilosophisch-theologische Hauptwerk des Reimarus vor allem darauf ausgerichtet, seinem Titel gemäß „Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion“ konstruktiv zu affirmieren. Atheismus und Materialismus werden dezidiert abgewiesen, Gott, Welt und Mensch unter Verzicht auf übernatürliche Offenbarungsanleihen auf der Basis einer im Wesentlichen physikotheologisch argumentierenden metaphysica specialis in ein der Vernunftnatur entsprechendes Verhältnis gesetzt. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass das Erscheinen der „Vornehmsten Wahrheiten“ „den Zenit der öffentlichen Reputation“ (Klein, 262) des Reimarus markiert. Die Schrift, die von den meisten als Dokument der Orthodoxie und von nur wenigen unter dem Verdacht potentieller Heterodoxie gelesen wurde, traf den Nerv der Zeit und erfreute sich nicht nur unter professionellen Philosophen und Theologen, sondern auch in Laienkreisen großer Beliebtheit. Einen zwiespältigen Eindruck hat sie auf die Mehrheit der Zeitgenossen nicht gemacht. Er konnte sich für das große Publikum erst zu dem Zeitpunkt einstellen, als durch Lessing die Möglichkeit eines zumindest partiellen Vergleichs der publizierten „Vornehmsten Wahrheiten“ mit der bisher zur Gänze unveröffentlichten „Apologie“ eröffnet wurde. Doch wird man sehen müssen, dass beide Schriften nicht nur einen identischen Verfasser haben, sondern auch inhaltlich übereinstimmen und zwei Seiten einer Medaille darstellen, die sich lediglich dadurch unterscheiden, dass die eine zu Zeiten des Reimarus öffentlich zur Schau gestellt, die dazugehörige Kehrseite hingegen bewusst und aus nicht unverständlichen Gründen der Opportunität im Verborgenen gehalten wurde, um nicht exoterisch, sondern nur esoterisch und im kleinen Kreise zu wirken. Als Lessing in den Jahren 1774 bis 1778 eine Fragmentenstreit und Frühfassung der „Apologie“ in Teilen, die mit ei- Straußens Leben Jesu nigen Abstrichen durchaus für das Ganze stehen konnten, ans Licht brachte, wurde dies zum Anlass der größten theologischen Auseinandersetzung des 18. Jahrhunderts seit dem Streit um die Wertheimer Bibel (1735), eine von rationalistischen Grundsätzen geleitete Übersetzung, in der viele den Urtext der Hl. Schrift nicht mehr zu erkennen vermochten. Die heftigsten Kontroversen verursachte das fünfte Fragment „Über die Auferstehungsgeschichte“, in dem Widersprüche innerhalb der Osterberichte der Evangelien aufgewiesen und die Realität der Auferstehung infrage gestellt wurden, sowie das 1778 nachgereichte letzte Fragment „Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger“, in dem Reimarus Betrachtungen zur Geschichte Jesu, der Jünger und des Neuen Testaments im Allgemeinen anstellte. Der Verlauf des Fragmentenstreits und die Rollen, die Lessing und der Hamburger Hauptpastor an St. Katharinen und Senior der Hamburger Geistlichkeit Johann Melchior Goeze in ihm spielten, haben das Überlieferungsbild des Reimarus

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entscheidend geprägt. Für seine Nachwirkung als Leben-Jesu-Forscher von nicht geringerer Wichtigkeit war die Rezeption, die seine „Apologie“ durch den Linkshegelianer David Friedrich Strauß erfuhr, der in dem Wolfenbüttler Fragmentisten nicht nur „das freie vernünftige Denken in Sachen der Religion zum Charakter geworden“ (Strauß, Reimarus, Vf.) sah, sondern zugleich die von ihm mit der Radikalität des geheimen Anfängers geleistete historische Kritik zur unverzichtbaren Konstitutionsbedingung konstruktiver Aufbauarbeit erklärte. An diesem emphatischen Votum ändern Detaileinwände, die Strauß gegen die historische Sicht des Reimarus vorträgt, ebensowenig etwas wie die Tatsache, dass er den Geltungsgehalt des Christentums nicht im Sinne traditioneller religio naturalis, sondern durch spekulative Rekonstruktion und vernünftige Aufhebung der urchristlichen Mythenbildung zu leisten suchte, wie sie nach seinem Urteil aus der produktiven Einbildungskraft der Gemeinde und der ihre Überlieferungen phantasiereich verarbeitenden biblischen Schriftsteller resultierte. Zwar kann Strauß auf den von Reimarus gegen die ersten Christen (wie zuvor schon gegen Repräsentanten der mosaischen Religion) erhobenen Vorwurf des Betrugs getrost verzichten; aber dieser Verzicht ist nicht etwa einer Abmilderung der von Reimarus initiierten Kritik der historischen Grundlagen geschuldet, sondern einer konsequenten Ablösung der christlichen Geltungsansprüche von jedweder historischen Basis. In den beiden Bänden über „Das Leben Jesu“ von 1835/36 hat Strauß die evangelische Geschichte nach den Urkunden christlicher Religion vom mythischen Standpunkt aus zur Darstellung gebracht, nachdem er einleitend die Entstehung der mythischen Auffassungsweise der heiligen Historie im Rahmen einer Geschichte diverser Auslegungsarten religiöser Texte geschildert hatte. Die mythische Auslegung schließt wie die Philosophie, deren Gedankensystem ihr zugrunde liegt, an Kants moralische Interpretation an, um sie ideengeschichtlich fortzubilden. Mythos ist nach Strauß Idee bzw. Ideensystem im Modus der Vorstellung. Nach Maßgabe mythischer Interpretation ist demnach die evangelische Geschichte eine Sammlung „heiliger Erzählungen, durch welche man die ganze Masse neuer, durch Jesu angeregter, so wie alter, auf ihn übertragener Ideen als einzelne Momente seines Lebens sich zur Anschauung brachte. Das einfache historische Gerüste des Lebens Jesu, dass er zu Nazaret aufgewachsen sei, von Johannes sich habe taufen lassen, Jünger gesammelt habe, im jüdischen Lande lehrend umhergezogen sei, überall dem Pharisäismus sich entgegengestellt und zum Messiasreiche eingeladen habe, dass er aber am Ende dem Hass und Neid der pharisäischen Partei erlegen, und am Kreuze gestorben sei: – dieses Gerüste wurde mit den manchfaltigsten und sinnvollsten Gewinden frommer Reflexionen und Phantasieen umgeben, indem alle Ideen, welche die erste Christenheit über ihren entrissenen Meister hatte, in Thatsachen verwandelt, seinem Lebenslaufe eingewoben wurden.“ (Strauß I, 72) Jesu äußerer Lebenslauf und die in ihm eingewobenen idealen Anschauungen hat Strauß in drei Abschnitten entfaltet. Ein erster Abschnitt handelt von der Geschichte der Geburt und Kindheit Jesu, ein zweiter von der Geschichte seines öf-

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fentlichen Lebens seit der Begegnung mit Johannes dem Täufer bis hin zur letzten Reise nach Jerusalem, ein dritter schließlich von der Geschichte des Leidens, des Todes und der Auferstehung Jesu. „Vita Jesu Christi scribi nequit“: Adolf von Harnacks berühmte Habilitationsdisputationsthese lässt sich der Sache nach bereits bei Strauß finden. Eine Biographie Jesu zu schreiben war nicht seine Absicht, obwohl er keineswegs in Abrede stellte, dass dem Leben Jesu, wie es die christlichen Religionsurkunden schildern, historische Rahmendaten zugrunde liegen. Doch nicht primär auf sie, sondern auf die mit den historischen Grunddaten in Verbindung gebrachte Ideengeschichte ist die mythische Interpretation ausgerichtet. Sie sucht den Geist zu erheben, der sich in den Ausschmückungen und Verzierungen des Lebens Jesu, für welche namentlich die alttestamentliche Tradition reichlichen Stoff bot, in Form phantastischer Vorstellungen Ausdruck verschaffte. Nicht den bruta facta äußerer Historie gilt die vorrangige Aufmerksamkeit, sondern den Gestaltungen produktiver Einbildungskraft, welche die äußere Erscheinung lediglich zum Anlass nimmt, ihr eine Welt von Ideen einzubilden. Dabei fungiert als Subjekt der Mythenbildung nach Strauß nicht ein Individuum, das als bewusster Autor tätig ist. Mythen werden vielmehr präreflexiv und gattungsmäßig erzeugt. „Sagen eines Volks oder einer Religionspartei sind ihren ächten Grundbestandtheilen nach nie das Werk eines Einzelnen, sondern des allgemeinen Individuums jener Gesellschaft, ebendaher auch nicht bewusst und absichtlich entstanden. Ein solches unmerkliches gemeinsames Produciren wird dadurch möglich, dass dabei die mündliche Ueberlieferung das Medium der Mittheilung ist; denn während durch die Aufzeichnung das Wachsthum der Sage sistirt, oder doch nachweisbar gemacht wird, wie viel jedem folgenden Schreiber Antheil an den Zuthaten gebühre: so kommt bei mündlicher Ueberlieferung die Sache so zu stehen, dass das Ueberlieferte im zweiten Munde vielleicht nur um Weniges anders sich gestaltet als im ersten, im dritten ebenfalls nur Weniges hinzukommt im Verhältniß zum zweiten, auch im vierten dem dritten gegenüber nichts Wesentliches geändert wird: und doch kann im dritten und vierten Munde der Gegenstand ein ganz andrer geworden sein, als er im ersten war, ohne dass irgend ein einzelner Erzähler diese Änderung auf bewusste Weise vorgenommen hätte, sondern sie kommt auf Rechnung aller zusammen, und entzieht sich eben um dieser Allmählichkeit willen dem Bewusstsein“ (Strauß I, 74). Nach erfolgter Anwendung mythischer Auslegung auf den Gesamtzusammenhang der evangelischen Geschichte hat Strauß in einer beigefügten Schlussabhandlung die dogmatische Bedeutung des Lebens Jesu zu erheben und zu zeigen versucht, dass auch das (trinitarisch-)christologische Dogma der Alten Kirche und das orthodoxe Lehrbekenntnis mythisch zu verstehen seien. Dogmen und Bekenntnisse sind nach seinem Urteil wie das evangelische Leben Jesu Gebilde idealer Anschauung, nun aber nicht im Modus unmittelbar vorgestellter, sondern in sich reflektierter Geschichte. Ihr Sinn ist daher leichter zu erheben als derjenige der biblischen Geschichte. Was die Lehre von der Einheit göttlicher und menschlicher

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Natur in der Person Jesu Christi betrifft, so macht sie nach Strauß die vermittelte Identität von Endlichem und Unendlichem, die schon Thema des Evangeliums war, auf eine Weise vorstellig, die bereits in hohem Maße reflexionshaltig ist und zu ihrer endgültigen Entschlüsselung nur noch der Einsicht bedarf, „dass als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee ... gesetzt wird“ (Strauß II, 734) und zwar, wie Strauß sagt, eine reale, nämlich diejenige der Menschheit. „In einem Individuum, einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Eigenschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie zusammen. Die Menschheit ist die Vereinigung der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der zur Endlichkeit entäusserte unendliche, und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters: des Geistes und der Natur; sie ist der Wunderthäter: sofern im Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer vollständiger der Natur bemächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material seiner Thätigkeit heruntergesezt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang ihrer Entwicklung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist; sie ist der Sterbende, Auferstehende und gen Himmel Fahrende: sofern ihr aus der Negation ihrer Natürlichkeit immer höheres geistiges Leben, aus der Aufhebung ihrer Endlichkeit als persönlichen, nationalen und weltlichen Geistes ihre Einigkeit mit dem unendlichen Geiste des Himmels hervorgeht. Durch den Glauben an diesen Christus, namentlich an seinen Tod und seine Auferstehung, wird der Mensch vor Gott gerecht: d.h.durch die Belebung der Idee der Menschheit in sich, namentlich nach dem Momente, daß die Negation der Natürlichkeit, welche selbst schon Negation des Geistes ist, also die Negation der Negation, der einzige Weg zum wahren geistigen Leben für den Menschen sei, wird auch der einzelne des gottmenschlichen Lebens der Gattung theilhaftig.“ (Strauß II, 734f.) Damit ist nach Strauß der absolute Inhalt der Gattungschristologie und Christologie erfasst. Seine Bindung an Person Christologie unendlichen und Geschichte eines Individuums ist neben dem Selbstbewusstseins äußeren Grund, dass ein Einzelner zum Anlass seiner Wahrnehmung und Erhebung ins allgemeine Bewusstsein geworden ist, lediglich dem Bedürfnis eines noch kindlichen und unentwickelten Geistes geschuldet, der die Menschheit nur in der konkreten Gestalt eines einzelnen Menschen anzuschauen vermochte. Einem erwachsenen und zum entwickelten Bewusstsein seiner selbst gelangten Geist hingegen werde unmittelbar einleuchten, was Strauß in einem berühmt gewordenen Satz so gesagt hat: „Das ist ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle andern zu geizen, sondern in einer Manchfaltigkeit von Exemplaren, die sich gegenseitig ergänzen, im Wechsel sich setzender und wiederaufhebender Individuen, liebt sie ihren Reichthum auszubreiten.“ (Strauß II, 734) Straußens Christologie ist an der Menschheitsgattung interessiert und am Individuum

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Jesu nur insoweit, als Jesus den historischen Anlass zu jener Gattungschristologie gegeben hat, als deren aufgehobenes Moment er zu betrachten ist. Dass es nach seinem Urteil auf die historische Individualität Jesu christologisch nicht ankommt, wird durch die bei Strauß zum ersten Mal begegnende Vermutung bekräftigt, „daß der in der Vorstellungswelt des Buches Daniel und der spätjüdischen Apokalyptik lebende und sich für den bald in überirdischer Glorie erscheinenden ‚Menschensohn‘ und ‚Messias‘ haltende Jesus irgendwie psychopathisch zu beurteilen sei“ (Schweitzer, Psychiatrische Beurteilung, V). Albert Schweitzer hat diese auch nach Strauß wiederholt geäußerte Vermutung einer eingehenden Prüfung unterzogen mit dem Ergebnis, dass dem Mediziner die apokalyptische Gedankenwelt durchaus nicht als krankhaft erscheinen müsse. Die Annahme eines Wahns Jesu sei lediglich von der Fremdartigkeit seiner Anschauungen hervorgerufen, die vom gegenwärtigen Bewusstsein als befremdlich, ja als verrückt empfunden würden. Unter den zahlreichen Kritiken, die Straußens „Leben Jesu“ auf sich gezogen hat (vgl. Strauß, Streitschriften), verdient diejenige von Bruno Bauer besondere Aufmerksamkeit und das umso mehr, als sie ihrerseits Gegenstand einer erhellenden Metakritik von Karl Marx und Friedrich Engels geworden ist. Der in seinen Anfängen den sog. Rechtshegelianern zugerechnete Bauer ging in seiner „Kritik der Geschichte der Offenbarung“ von 1838, in der er in zwei Bänden die alttestamentliche Religion in der geschichtlichen Entwicklung ihrer Prinzipien darzustellen suchte, von der Annahme aus, dass die Traditionsbestände biblischer Geschichte historisch notwendige Momente der Genese des Begriffs seien, durch welche die Vernunft zu sich selbst gelange. Der Schwenk zum linken Flügel der Hegelschule ist durch die „Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker und des Johannes“ vollzogen, die 1841/42 in drei Bänden in Leipzig erschien und 1852 durch einen weiteren Band über „Die theologische Erklärung der Evangelien“ ergänzt wurde. In einem „Ultimatum“ genannten Text ließ Bauer 1841 ferner „Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen“ erschallen. Nun leugnete Bauer jede Angewiesenheit des Begriffs auf historische Vermittlung und deutete die biblische Überlieferung als in Form und Inhalt verkehrte Objektivierung von Bewusstseinsinhalten, die es im Interesse von Emanzipation und Freiheit menschlichen Selbstbewusstseins zu kritisieren gelte. Bauer suchte die erforderliche Kritik durch Rückführung der neutestamentlichen Tradition auf die produktive Einbildungskraft ihrer Tradenten zu leisten, um auf diese Weise die Vorstellung einer ihr zugrunde liegenden historischen, in Seinsaussagen zu fassenden Substanz zum Verschwinden zu bringen, die nach seinem Urteil freier Subjektivität als formal und inhaltlich widerlich, nämlich als Indiz von Ichentfremdung erscheinen müsse. Mit Bauers eigenen Worten: „Der evangelische Christus als eine wirkliche, geschichtliche Erscheinung gedacht, wäre eine Erscheinung, vor welcher der Menschheit grauen müsste, eine Gestalt, die nur Schrecken und Entsetzen einflößen könnte.“ (Bauer, 315) Zum Heil gereichen könne Christus der Menschheit nur, wenn er als Idee begriffen und auf die Freiheit selbsttätiger

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Subjektivität zurückgeführt werde, die Grund und Inbegriff alles Idealen sei. „Das Selbstbewußtseyn hatte es in den Evangelien mit sich selbst, wenn auch mit sich selbst in seiner Entfremdung, also mit einer fürchterlichen Parodie seiner selbst, aber doch mit sich selbst zu thun: daher jener Zauber, der die Menschheit anzog, fesselte und sie so lange, als sie sich noch nicht selbst gefunden hatte, Alles aufzubieten zwang, um ihr Abbild sich zu erhalten, ja, es Allem andern vorzuziehen und Alles Andere, wie der Apostel that, im Vergleich mit ihm Dreck zu nennen. In der Knechtschaft unter ihrem Abbilde wurde die Menschheit erzogen, damit sie desto gründlicher die Freiheit vorbereite und diese um so inniger und feuriger umfasse, wenn sie endlich gewonnen ist. Die tieffste und fürchterlichste Entfremdung sollte die Freiheit, die für alle Zeiten gewonnen wird, vermitteln, vorbereiten und theuer machen, vielleicht auch für den Kampf theuer machen, den die Knechtschaft und Dummheit gegen sie führen wird.“ (Bauer, 311f.) Exegetisch will Bauer sein kritisches Programm dadurch einlösen, dass er das Evangelium aus einem rein schriftstellerischen Ursprung und damit aus der Produktivität und Autorenschaft reinen menschlichen Selbstbewusstseins heraus zu erklären sucht. Schon das älteste Evangelium nach Markus sei eine künstlerischkünstliche Komposition, die ihre Form und ihren Inhalt selbst geschaffen habe. Gehalt und Gestalt seien freie Schöpfung schöpferischen Selbstbewusstseins. Die These reiner Produktion tritt an die Stelle von traditionsgeschichtlichen, formgeschichtlichen oder anderweitigen Hypothesen. Substanz hat restlos und definitiv Subjekt zu werden. Diese Maxime wendet Bauer auch gegen Strauß, der die evangelische Geschichte unter der Voraussetzung rekonstruiert habe, dass die Substanz das Absolute, die reale Erscheinungsgestalt absoluter Substanz hinwiederum die Menschheitsgattung sei, welche im Zusammenhang des Lebens Jesu durch die Gemeinde repräsentiert werde. Sie und ihre Traditionsproduktion seien Wirkprinzip der Jesusgeschichte, als deren resultierender Wesensgehalt nur scheinbar ein Individuum gelten könne. Denn in Wahrheit ist Jesus nach Strauß eine Reflexionsgestalt christlicher Gemeinde bzw. die vorstellungshafte Inkarnation des allgemein Menschlichen. Bauer will die Strauß’sche Kritik nicht rückgängig machen, sondern dadurch, dass er sie in der Weise kritischer Kritik auf sich selbst anwendet und gegen sich selbst richtet, fortentwickeln, um die mysteriöse Strauß’sche Substantialität dahin aufzulösen, wohin die Entwicklung der Substanz nach Maßgabe des Hegel’schen Systems treibe, nämlich zum unendlichen Selbstbewusstsein. Subjekt des Lebens Jesu ist nach Bauer kein Individuum, freilich auch nicht die nach Maßgabe der Substanzkategorie vorstellig gemachte und als Gemeinde realexistierende Menschheitsgattung, sondern das absolute Selbstbewusstsein in seiner unendlichen Tätigkeit. Den Hintergrund der Auseinandersetzung Bauers mit Strauß bilden, wie unschwer zu erkennen, unterschiedlichen Rezeptionsweisen des Hegel’schen Systems, dessen genetische Momente nach erfolgter Aufhebung erneut auseinandertreten. Dies haben Karl Marx und Friedrich Engels in ihrer an Bruno Bauer und Konsorten adressierten Kritik der kritischen Kritik scharfsinnig erkannt, wie sie in

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der 1845 publizierten Schrift „Die heilige Familie“ vorgetragen wird. „Der Kampf zwischen Strauß und Bauer über die Substanz und das Selbstbewusstsein ist ein Kampf innerhalb der Hegelschen Spekulationen. In Hegel sind drei Elemente, die spinozistische Substanz, das Fichtesche Selbstbewusstsein, die Hegelsche notwendig-widerspruchsvolle Einheit von beiden, der absolute Geist.“ (Engels/Marx, 147; bei E. und M. teilweise kursiv) Weil nach Urteil von Marx und Engels die Einheit von absoluter Substanz und unendlichem Selbstbewusstsein bei Hegel nur abstrakt gegeben und die Aufhebung ihrer dialektischen Differenz nur in der Idee und nicht in Wirklichkeit geleistet worden sei, mussten die Bestimmungsmomente des absoluten Geistes sich im Fortgang realer Geschichte sondern und als gesonderte ins Dasein treten. „Strauß führt den Hegel auf spinozistischem Standpunkt, Bauer den Hegel auf Fichteschem Standpunkt innerhalb des theologischen Gebietes konsequent durch. Beide kritisierten Hegel, insofern bei ihnen jedes der beiden Elemente durch das andere verfälscht wird, während sie jedes derselben zu seiner einseitigen, also konsequenten Ausführung entwickelten.“ (Ebd.; bei E. und M. teilweise gesperrt) Damit ist gesagt, dass Strauß und Bauer Hegel Posthegelianischer Spinogegenüber Fortschritt und Rückschritt in einem zismus bzw. Fichteanismus personifizieren. Strauß und seine Gattungschristologie stehen für einen posthegelianischen Spinozismus, Bauer und seine Christologie unendlichen Selbstbewusstseins für einen posthegelianischen Fichteanismus. Als führende Repräsentationsgestalten einer „als Karikatur sich reproduzierender Spekulation“ (Engels/Marx, 7) weisen sie über diese nach Urteil von Marx und Engels einerseits hinaus, ohne sie doch realiter zu überwinden. Erst Feuerbach habe diese Überwindung in Kritik und Konstruktion geleistet, indem er den absoluten Geist der Metaphysik zum wirklichen Menschen auf der Grundlage seiner Physis kehrte und damit den Hegel’schen Standpunkt durch reale Aufhebung vollendete. Feuerbach lasse die Dinge nicht so sehen, wie sie einer idealistischen Sicht erscheinen, sondern wie sie realiter sind: „es gibt keinen andern Weg ... zur Wahrheit und Freiheit, als durch den Feuer-bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium der Gegenwart.“ (Marx, Luther, 27; bei M. teilweise kursiv.) Über das Recht dieser Annahme und über die von Marx und Engels für nötig erachtete Fortentwicklung der Feuerbach’schen Position ist hier nicht zu urteilen und zu handeln. Festzuhalten ist lediglich, dass durch die kritische Analyse der kritischen Kritik die Position sowohl von Bauer als auch von Strauß mitsamt dem Gegensatz, in dem sie sich zueinander befinden, treffend auf den Punkt gebracht worden ist. Strauß ist hegelianischer Spinozist, dem das Einzelseiende nur als Modus des Allgemeinen gilt: Jesus verdankt sein Dasein demnach im Wesentlichen gemeindlicher Produktion, und Thema der Christologie ist kein individueller Mensch, sondern die menschliche Gattung. Bauer dagegen vertritt einen hegelianischen Fichteanismus, der in allem das absolute Selbstbewusstsein in seiner unendlichen Tätigkeit am Werke sieht: der Bauer’sche Jesus ist entsprechend ein Produkt des reinen Geistes, seine Wirklichkeit eine absolut spirituelle Größe, ohne

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jeden Bezug zu einer denkexternen Realität. Ist doch der Geist alles in allem und außerdem nichts. Lässt man sich diesen Grundsatz nicht gefallen, dann liegt es nahe, mit Marx und Engels zu sagen, dass „dieser fleischlose Geist nur in seiner Einbildung Geist hat“ (Engels/Marx, 7) und im Übrigen eine ebensolche Scheingröße ist wie Bauers doketischer Jesus, der seine Existenz allein der produktiven Einbildungskraft wenn nicht Bauers selbst, so doch dem Autorensubjekt eines vermeintlichen Urevangelisten verdankt, auf dessen Werk die Kritik der synoptischen Evangelien rückbezogen wird. Während Strauß, um noch einmal in Anklang an Marx und Engels zu reden, Jesus zum Eigentum der Gemeinde erklärt und geistlich vergesellschaftet, entzieht ihn Bauer der Masse, um ihn in den Privatbesitz des Einzelnen zu überführen, als dessen Geistprodukt oder, wenn man so will, Hirngespinst er zu gelten hat. Die Fallstudien zu Reimarus, Strauß und Bauer haben gezeigt, dass die Darstellung, die Albert Schweitzer in seinem gleichnamigen Buch von der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ gegeben hat, ergänzungs- und – in ihrer Gesamtanlage – auch revisionsbedürftig ist. Der Horizont der mit dem Kürzel „The Old Quest“ bezeichneten Debatte reicht weit über den Problemkreis von historischen Rekonstruktionsversuchen einer Jesusbiographie hinaus. Dies ändert indes nichts an der überragenden Bedeutung der Schweitzer’schen Schrift, die vor allem wirkungsgeschichtlich bedingt ist, sofern ihre Grundthese zum Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung wurde. Ihr wesentlicher Inhalt lässt sich dahingehend umschreiben, dass die Orientierung am historischen Jesus ihrer primären Intention gemäß dazu dienen sollte, den zeitinvarianten Geltungsanspruch des christologischen Dogmas durch Historisierung nicht nur seiner Genese, sondern auch und vor allem seines zentralen Gegenstandes in Frage zu stellen. Darf, um es mit David Friedrich Strauß zu sagen, die Geschichte des Dogmas als seine Kritik gelten, die den Anspruch auf zeitüberlegene Bedeutung unterläuft, so wird die traditionelle Lehre von der Person des Gottmenschen und seinem gottmenschlichen Werk am effektivsten dadurch problematisiert, dass man Jesus Christus in einer Perspektive in Betracht zieht, die durch Historisierung seiner Erscheinungsgestalt deren theologische Relevanz zwar keineswegs einfachhin bestreitet, aber doch insofern relativiert, als mit Vergleichbarkeit die Grundregel alles historisch Fassbaren in Anschlag gebracht wird. Systematisch führt das zu der Konsequenz, die von reflektierten Leben-Jesu-Forschern auch folgerichtig gezogen wurde, dass im historischen Jesus das religiöse Subjekt des exemplarischen Prototyps seiner aktuellen Verfassung ansichtig wird. Die Vorbildfunktion des historischen Jesus tritt an die Stelle des christologischen Dogmas und seiner Lehre von der Union göttlicher und menschlicher Natur in der schlechterdings singulären und unvergleichlichen Person des Gottmenschen Jesus Christus. Statt als einzigartiges Sakrament und als konstitutiver Mittler der Beziehung von Gott und Mensch zu fungieren, nimmt das zum historischen Jesus transfigurierte christologische Subjekt die Stellung eines idealen Exempels ein, in welchem religiöse Subjektivität unabhängig von Auflagen kirchlicher Autorität sich

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selbst auf urbildliche Weise vorzufinden und zu erkennen vermag. Insbesondere die Anfänge der historisch-kritischen Theologie, wie sie in Deutschland namentlich bei Johann Salomo Semler zu beobachten sind, lassen unschwer erkennen, wie eng die Ablösung der Gestalt des historischen Jesus vom christologischen Dogma mit der religiösen Emanzipation des individuellen Subjekts und seiner Gemeinschaftsformen von kirchlicher Autorität verbunden ist. Während andere Semler „zum Begründer der historisch-kritischen Theologie des Protestantis- Schweitzers Geschichte mus“ (Hornig, 11) erklären, lässt Schweitzer seine „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“, wie gesagt, mit Reimarus beginnen, von dessen radikalkritischen Thesen sich ein moderater Neologe wie Semler ausdrücklich abzusetzen trachtete (vgl. im Einzelnen Hornig). Reimarus, so Schweitzer, war nicht nur der erste, der das Leben Jesu historisch zu erfassen suchte, sondern zugleich derjenige, an dessen elementarer Erkenntnis gemessen die ganze einschlägige Forschung bis hin zu Johannes Weiß als Rückschritt zu betrachten sei, da diese die entscheidende Grundeinsicht verkannt oder verdunkelt habe, dass die historische Persönlichkeit Jesu nicht so sehr den Anfang einer neuen religiösen Bewegung, sondern die Enderscheinung des eschatologisch-apokalyptischen Frühjudentums darstelle. „Jeder Satz von Johannes Weißens ‚Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes‘, 1892, ist eine Rechtfertigung, eine Rehabilitierung des Historikers Reimarus.“ (Schweitzer, 74) Markiert sonach Reimarus nicht nur einen Anfang, sondern auch den nach Schweitzer entscheidenden Fluchtpunkt der darzustellenden Entwicklung, so ist deren zweite Grenzmarkierung vor allem durch die Tatsache bestimmt, dass William Wrede alles, was mit dem Messianitätsanspruch Jesu zusammenhängt, auf spätere Redaktionen zurückführte. Indem er wie zuvor schon Bruno Bauer alles Messianische aus dem Leben Jesu eliminierte, zog er die definitive Konsequenz eines Forschungsprozesses, der sich zum Ziel gesetzt hatte, Jesus nicht als gottmenschliches Wesen zu betrachten, dessen Person als die zweite der trinitarischen Gottheit zu gelten habe. Infrage kam er nur noch als ein – wenngleich vorbildlicher – Mensch unter Menschen in einer durch Analogien erschließbaren geschichtlichen Lebenswelt. Dass der Prozess der Leben-Jesu-Forschung entscheidend motiviert war von dem Wunsch, sich religiös von dogmatischer Autorität und Bevormundung zugunsten allgemeiner Humanität zu emanzipieren, hat Schweitzer wiederholt ausgesprochen: „Die geschichtliche Erforschung des Lebens Jesu ging nicht von dem rein geschichtlichen Interesse aus, sondern sie suchte den Jesus der Geschichte als Helfer im Befreiungskampf vom Dogma.“ (Schweitzer, 47) Dabei konnte es nicht ausbleiben, dass das gegenwärtige Interesse die Erkenntnis des historischen Jesus grundlegend bestimmte mit der Folge, dass jede theologische Epoche ihre Gedanken in Jesus wiederfand. „Und nicht nur die Epochen fanden sich in ihm wieder: jeder einzelne schuf ihn nach seiner eigenen Persönlichkeit. Es gibt kein persönlicheres historisches Unternehmen, als ein Leben-Jesu zu schreiben.“ (Schweitzer, 47f.) Man kann dies dann auch so sagen: „Dient die geschichtliche Erforschung des

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Lebens Jesu der Emanzipation von der Tradition und gründet diese Emanzipation in der selbstbestimmenden und so ihrer selbst bewussten Subjektivität, so kann die Leben-Jesu-Forschung in dem Sinne als ein Vehikel zur Selbstvergewisserung der Subjektivität angesehen werden, dass diese in der Darstellung des Lebens Jesu sich selbst gegenständlich wird.“ (Wagner, 288) Damit ist der entscheidende Grund für „den hochgradig konstruktiven, projektiven Charakter der jeweils entworfenen Jesusbilder“ (Graf, 71) benannt, die Schweitzer untersuchte. Obwohl Albert Schweitzer bereits im Vorwort der ersten Auflage seines Werkes das „Irrewerden an dem historischen Jesus, wie ihn die moderne Theologie zeichnet“ (Schweitzer, 41), als das wichtigste „Resultat des Einblicks in den gesamten Verlauf der Leben-Jesu-Forschung“ (Schweitzer, 42) angab, blieb doch auch er deren Konstruktionsprinzip noch insofern verhaftet, als er den auf eschatologische Weltvollendung abzielenden Willen des historischen Jesus in der ihm eigenen, seine gesamte Person bestimmenden Entschiedenheit für zeitlos gültig und jenseits aller zeitgebundenen apokalyptischen Vorstellungswelten für absolut verbindlich erklärte. Rechtes Verständnis Jesu ist „ein Verstehen von Wille zu Wille, bei dem das Wesentliche der Weltanschauung unmittelbar gegeben ist“ (Schweitzer, 883): „Daß er eine übernatürlich sich realisierende Endvollendung erwartet, während wir sie nur als Resultat der sittlichen Arbeit begreifen können, ist mit dem Wandel in dem Vorstellungsmaterial gegeben. Man versuche nicht, durch Künste der Auslegung unsern ‚Entwicklungsgedanken‘ in Jesu Worten angedeutet zu finden. Nur darauf kommt es an, daß wir den Gedanken des durch sittliche Arbeit zu schaffenden Reiches mit der selben Vehemenz denken, mit der er den von göttlicher Intervention zu erwartenden in sich bewegte, und miteinander wissen, daß wir imstande sein müssen, alles dafür hinzugeben.“ (Ebd.) Es ist der radikale Wille absoluter Entschiedenheit zu sittlicher Weltvollendung, indem sich Schweitzer mystisch, wie er sagt, mit Jesus verbunden weiß: „Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. Keine Persönlichkeit der Vergangenheit kann durch geschichtliche Betrachtung oder durch Erwägungen über ihre autoritative Bedeutung lebendig in die Gegenwart hineingestellt werden. Eine Beziehung zu ihr gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines gemeinsamen Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung, Bereicherung und Belebung unseres Willens in dem ihrigen erfahren und uns selbst in ihr wiederfinden.“ (Schweitzer, 886) In der unmittelbaren Selbstgewissheit entschiedenen Wollens weiß sich Schweitzer mystisch mit Jesus vereint. Durch mystische Aneignung radikaler Eschatologie vereint Schweitzer theologisch, was historisch als unvereinbar erscheinen muss. Mittels dieses Kunststücks verbindet er in Kontrastharmonie konsequente Kritik und systematische Konstruktion und weist sich zuletzt selbst eine eigentümliche Stellung in der Geschichte der Jesu-Leben-Forschung zu, deren Ende er beschreibt.

5. The New Quest and the Third Quest: Zur Geschichte historischer Jesusforschung II

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Mit Albert Schweitzer ist die erste Phase der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung zu ihrem Ende gelangt. Das Kapitel „Jesus im neunzehnten Jahrhundert“ (vgl. Weinel) schien definitiv zum Abschluss gebracht. Schweitzer hatte es Anfang 1906 in der ersten Auflage seines Werkes im Vorwort selbst zu Protokoll gegeben: „Dieses Buch kann zuletzt nicht anders, als dem Irrewerden an dem historischen Jesus, wie ihn die moderne Theologie zeichnet, Ausdruck zu geben, weil dieses Irrewerden ein Resultat des Einblicks in den gesamten Verlauf der Leben-Jesu-Forschung ist.“ (Schweitzer, VIII) Was bleibt, ist die Erschütterung des Dogmas durch die historische Jesusforschung. Dass Jesus „etwa anderes ist als der Jesus-Christus der Zweinaturenlehre, scheint uns heute etwas Selbstverständliches. Wir können es kaum mehr begreifen, in welch langen Wehen die historische Anschauung des Lebens Jesu geboren wurde.“ (Schweitzer, 3) Als man sich von den Fesseln des Dogmas allmählich befreit sah, suchte man Jesus, der als Helfer im Befreiungskampf diente, in seiner geschichtlichen Wirklichkeit und Historizität an sich selbst zu erfassen und fand in ihm doch nur, was der jeweiligen Zeit verständlich war. „Für Bahrdt und Venturini ist er das Werkzeug eines geheimen Ordens. Sie schreiben beide unter dem Eindruck des großartigen Wirkens des Illuminatenordens am Ende des XVIII. Jahrhunderts. Für Reinhard, Heß, Paulus und die übrigen rationalistischen Darsteller ist er der wunderbare Offenbarer der wahren Tugend, die mit der Vernunft übereinstimmt. So fand jede folgende Epoche der Theologie ihre Gedanken in Jesus, und anders konnte sie ihn nicht beleben. Und nicht nur die Epochen fanden sich in ihm wieder: jeder Einzelne schuf ihn nach seiner eigenen Persönlichkeit. Es gibt kein persönlicheres historisches Unternehmen, als ein Leben-Jesu zu schreiben. Kein Leben kommt in die Gestalt, oder man haucht ihr den ganzen Haß oder die ganze Liebe ein, deren man fähig ist. Je stärker die Liebe, je stärker der Haß, desto lebendiger die Gestalt, die ersteht. Denn auch mit Haß kann man Leben-Jesu schreiben – und die großartigsten sind mit Haß geschrieben: das des Reimarus, des Wolfenbüttler Fragmentisten, und das von David Friedrich Strauß. Es war nicht so sehr ein Haß gegen die Person, als gegen den übernatürlichen Nimbus, mit dem sie sich umgeben ließ und mit dem sie umgeben wurde. Sie wollten ihn darstellen als einen einfachen Menschen, ihm die Prachtgewänder, mit denen er angetan war, herunterreißen und ihm die Lumpen wieder umwerfen, in denen er in Galiläa gewandelt hatte.“ (Schweitzer, 4) Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, wie Schweitzer sie beschreibt, beForschungskrise und „The New Quest“

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legt, dass ihre Ergebnisse mehr über die jeweiligen Forscher und ihre Zeit als über den historischen Jesus und seine Geschichte verrieten. „Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann wie er ist als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück.“ (Schweitzer, 397) Kurzum: „Es gibt nichts Negativeres als das Ergebnis der Leben-Jesu-Forschung.“ (Schweitzer, 396) Dieses Schlussurteil wird auch durch die Folgeauflagen des Werkes „Von Reimarus zu Wrede“ nicht widerlegt, sondern bestätigt. Zwar sieht Schweitzer das geschichtliche Problem des Lebens Jesu durch die aus der frühjüdischen Eschatologie gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse vom endzeitlichen Charakter seines Redens und Handelns im Wesentlichen als gelöst an. Auch gegen diverse Theorien der Ungeschichtlichkeit Jesu spricht er sich dezidiert aus. Dies ändert indes nichts an dem prinzipiellen Verdikt über die Resultate der Leben-Jesu-Forschung. Denn als die geschichtliche Gestalt, als die man sich ihn um der eigenen Selbstverständigung willen zu vergegenwärtigen suchte, ist Jesus definitiv vergangen, was nachgerade dann klar wird, wenn man ihn historisch als denjenigen erfasst, der er zu seiner Zeit war. Wozu auch immer sie ansonsten gut sein mag: der Erbauung aktuellen Glaubens vermag die Rückfrage nach dem historischen Jesus nicht zu dienen. Darin ist Schweitzer mit Kähler, Bultmann, Tillich und allen Vertretern der „Period of ‚No Quest‘“ einig, so sehr er sich ansonsten von ihnen unterscheidet. Von seiner systematischen Transformation konsequenter Eschatologie in radikale Mystik war bereits die Rede. Bleibt zu fragen, warum nach der von Albert Schweitzer wirkungsmächtig angezeigten und initiierten Krise der Leben-Jesu-Forschung, die jahrzehntelang anhielt und jede Rückfrage nach dem historischen Jesus zumindest in weiten Teilen der deutschsprachigen Theologie als obsolet erscheinen ließ, mit dem sog. New Quest eine neue Phase historischer Jesusforschung begann (vgl. im Einzelnen Kümmel, 1ff.). Diese Frage gewinnt durch die Beobachtung an Schärfe, dass es nachgerade Schüler Bultmanns waren, die trotz des ausgesprochenen Verbots und bleibenden Widerstands ihres Lehrers erneut hinter das Kerygma zurückgingen und auf den historischen Jesus Bezug nahmen. Als Beweggrund hierfür kommt zum einen das Interesse an historischer Kontinuität zwischen dem irdischen Jesus und dem urchristlichen Kerygma in Betracht. Indes ist dieses Interesse zugleich durch einen systematischen Grund motiviert. Dieser Grund besteht im Wesentlichen in der Annahme, dass das Kerygma ohne Anhalt an konkreter Personalität seine Funktion, das glaubende Subjekt von sich selbst zu sich selbst zu befreien, nicht erfüllen könne, sondern zur bloßen Projektion und religiösen Ideologie verkommen müsste. Diese Folge lasse sich nur dann verhindern, wenn das Kerygma nicht lediglich auf das bloße Dass des Gekommenseins Jesu Christi bezogen werde, sondern in

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dessen lebendigem Personsein selbst gründe. Christologisch komme mithin alles darauf an, den auferstandenen Gekreuzigten, welchen das österliche Kerygma urchristlichen Glaubens bezeugt, als lebendige Person zu denken, was realiter nur möglich sei, wenn der österlichen Wirklichkeit das irdische Leben Jesu nicht äußerlich bleibe. Paradigmatisch erläutern lassen sich die Überlegungen, die zur sog. neuen Rückfrage nach dem Käsemanns Rückfrage historischen Jesus führten, an einem Text des Bultmannschülers Ernst Käsemann über „Das Problem des historischen Jesus“, den dieser auf der Tagung alter Marburger im Herbst 1953 vorgetragen hat; er gilt „als Eröffnungstext der ‚neuen‘ oder ‚zweiten‘ Frage nach dem historischen Jesus“ (Lindemann, 9). Bemerkenswert ist bereits die theologiegeschichtliche Eingangsthese, wonach Bultmann auf seine Weise nur die Grundannahmen der Kähler’schen Studie zum Thema „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“ untermauert und präzisiert habe. Käsemann teilt mit Kähler und Bultmann die Auffassung, daß vom historischen Jesus christologisch angemessen nicht unter Abstraktion vom österlichen Kerygma die Rede sein könne. Inbegriff der Christologie sei und bleibe der auferstandene Gekreuzigte. Der – auf das im Lichte Osterns soteriologisch als wesentlich Erscheinende – reduzierte Umgang mit der Historie Jesu nicht nur in den Paulinen und Deuteropaulinen, sondern auch in den Evangelien sei dafür ein Beleg. Unter solchen Umständen hält es auch Käsemann für fraglich, „ob die Formel ‚der historische Jesus‘ überhaupt geeignet und statthaft genannt werden kann, weil sie fast zwangsläufig die Illusion einer möglichen und befriedigenden Reproduktion seines Bios weckt und nährt“ (Käsemann, 194). Den Weg der alten Leben-Jesu-Forschung will er deshalb nicht erneut einschlagen. Gerade unter der Bedingung der vom neutestamentlichen Zeugnis dezidiert behaupteten Identität des Erhöhten mit dem Irdischen müsse eine allein auf den historischen Jesus gerichtete Fragestellung als Abstraktion erscheinen. Auf der anderen Seite erlaubt es die entschiedene Annahme einer untrennbaren Einheit des Erhöhten und des Irdischen nach Käsemann ebenso wenig, vom historischen Jesus einfachhin abzusehen: „Wenn die Urchristenheit“, so heißt es, „den erniedrigten mit dem erhöhten Herrn identifiziert, so bekundet sie damit zwar, daß sie nicht fähig ist, bei der Darstellung seiner Geschichte von ihrem Glauben zu abstrahieren. Gleichzeitig bekundet sie jedoch damit, daß sie nicht willens ist, einen Mythos an die Stelle der Geschichte, ein Himmelswesen an die Stelle des Nazareners treten zu lassen. Schon sie kämpft faktisch ebenso gegen einen schwärmerischen Doketismus wie gegen eine historische Kenosislehre. Offensichtlich ist sie der Meinung, daß man den irdischen Jesus nicht anders als von Ostern her und also in seiner Würde als Herr der Gemeinde verstehen kann und daß man umgekehrt Ostern nicht adäquat zu begreifen vermag, wenn man vom irdischen Jesus absieht.“ (Käsemann, 196) Letzteres ist deshalb nicht möglich, weil das christliche Kerygma stets und untrennbar mit der Person des auferstandenen Gekreuzigten

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verbunden ist, dessen Personalität ohne das Gedächtnis des Irdischen in seiner spezifischen Geschichte, die im Lichte Osterns als der Kairos schlechthin erscheint, nicht identifizierbar wäre. Mag sich die Predigt der Kirche notfalls anonym vollziehen, das Evangelium an sich selbst ist niemals anonym, sondern mit dem Namen Jesu Christi eins, der das Kerygma in Person ist. Von daher versteht es sich, daß und warum die Evangelien einschließlich des vierten „die Geschichte des erhöhten Herrn als die des irdischen beschreiben“ (Käsemann, 201). Auch am Johannesevangelium findet Käsemann im Unterschied zu seinem Lehrer Bultmann diesen Befund im Grundsatz bestätigt und zwar unbeschadet aller Bedenken, die er gegen vermeintliche oder tatsächliche Doketismustendenzen der Ursprungsversion des vierten Evangeliums vorgetragen hat. Denn auch bei diesem Evangelium erfolge ein kerygmatischer Rückgriff auf die Form des Berichts, der den irdischen Jesus als implizite Voraussetzung und bleibenden Inhalt der österlichen Botschaft von der Auferweckung des Gekreuzigten zu erkennen gebe. Was Bultmann betrifft, so ließ er sich Käsemanns Sicht der Dinge nicht gefallen. Bereits Bultmanns Nein Ende der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte er die Auffassung vertreten, dass ein Rückgang hinter das Kerygma unstatthaft sei, da Christus in seiner sarkischen Erscheinungsgestalt den Glauben nichts anzugehen habe. An dieser These hat er auch nach dem Einspruch Käsemanns dezidiert festgehalten. In einem Vortrag vor der Heidelberger Akademie der Wissenschaften von 1960 wurde die neue Rückfrage nach dem historischen Jesus bzw. nach einem historisch fassbaren Kontinuitätszusammenhang der jesuanischen Existenz mit dem kerygmatischen Christus schlichtweg als Irrweg bezeichnet. Zwar setze das Kerygma die Gestalt des historischen Jesus voraus, doch lediglich im schieren Dass seines Gekommenseins und ohne auf objektivierbare Übereinstimmungen zwischen Christusverkündigung und Verkündigung Jesu bzw. Personsein Christi und individueller Persönlichkeit Jesu Wert zu legen. Alle Versuche, Gehalt und Gestalt des Kerygmas historisch zu vergegenständlichen, seien strikt abzulehnen. Eine Koinzidenz von Jesus und Christuskerygma sei ausschließlich im unmittelbaren und keiner objektiven Absicherung zugänglichen Ruf zur Glaubensentscheidung gegeben, dessen eschatologische Dringlichkeit und Aktualität keine historischen Distanzierungen und keine geschichtliche Zuschauerhaltung erlaube. Zu Beginn seines erwähnten Akademievortrags über „Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus“ wies Bultmann darauf hin, dass im Unterschied zu vormaligen Zeiten, in denen man mit Vorliebe eine Differenz zwischen Jesus und dem Kerygma konstatiert habe, nun das Interesse auf den Aufweis eines kontinuierlichen Zusammenhangs konzentriert sei. Auch Bultmann leugnet historische und gewisse sachliche Kontinuitäten zwischen dem Wirken des historischen Jesus und dem Kerygma der urchristlichen Gemeinde nicht. Von einer Identität zwischen Jesus als einer historischen Gestalt mit dem Christus des Kerygmas könne dennoch keine Rede sein. Denn an die Stelle der historischen

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Person Jesu sei im Kerygma die transzendente Gestalt des Sohnes Gottes getreten, der stellvertretend für die Sünde der Menschen gestorben und auf wundersame Weise zu ihrem Heil erweckt worden sei. Habe Jesus die eschatologische Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft verkündet und zu radikalem Gehorsam gegenüber dem Liebeswirken Gottes aufgerufen, werde im Kerygma der Kirche aus dem Verkündiger der Verkündigte und die ethische Paränese im Zeichen der Endzeit zu einem aufgehobenen Moment zugesagter Christuspräsenz. Der Christus des Kerygmas ist nach Bultmann keine historische Erscheinung, die mit dem Jesus der Geschichte in Kontinuität steht und stehen könnte. Der historische Jesus war ein Jude und kein Christ. Der kerygmatische Christus ist Ursache und Grund des vom Judentum geschiedenen Christentums. Zwar gibt es zwischen historischem Jesus und christlichem Kerygma auch nach Bultmann historisch vermittelte Zusammenhänge wie im Falle des Verhältnisses von Frühjudentum und Urchristentum. Aber im Grundsatz und der Sache nach beschränkt sich dieser Vermittlungszusammenhang auf ein reines Dass, ohne von weiterreichender Bedeutung zu sein. Wenn das Christuskerygma auf die Geschichte Jesu bezogen wird, wie namentlich in der synoptischen Tradition, dann geschieht dies nach Bultmann nicht im Interesse historischer Legitimation. Es sei vielmehr umgekehrt so, dass die Jesusgeschichte erst vom Kerygma her theologisch legitimiert werde und ihren christologischen Sinn erhalte. Denn historisch betrachtet endet Jesus am Kreuz und im Tod als dem äußersten Wirkzeichen historischer Diskontinuität. Wie Jesus sein Ende verstanden habe, lasse sich nicht in Erfahrung bringen und wissen. Auch könne seine Hinrichtung schwerlich „als die innerlich notwendige Konsequenz seines Wirkens verstanden werden; sie geschah vielmehr aufgrund eines Missverständnisses seines Wirkens als eines politischen. Sie wäre dann – historisch gesprochen – ein sinnloses Schickal. Ob oder wie Jesus in ihm einen Sinn gefunden hat, können wir nicht wissen. Die Möglichkeit, dass er zusammengebrochen ist, darf man sich nicht verschleiern.“ (Bultmann, 453) Lasse schon das schiere Faktum seines Kreuzestodes keine kontinuierliche Vermittlung des historischen Jesus mit dem Christuskerygma zu, so kann der Zusammenhang und die Einheit zwischen Christus und Jesus, zu der sich der christliche Glaube bekennt, nach Bultmann nur kerygmatisch und auf österlicher Basis begründet werden. Das Osterkerygma ist der Ursprung des Glaubens. Aus der Wahrnehmung des Historischen entspringt der christliche Glaube hingegen „gerade nicht“ (Bultmann, 453), sodass der Versuch einer historischen Legitimation des österlichen Kerygmas ein ebenso vergebliches wie unnötiges und unsachgemäßes Bemühen bleiben muss. Allenfalls dies ist Bultmann zu konzedieren bereit, dass zwischen dem Kerygma Jesu, also seiner endzeitlichen Verkündigung, und dem Christuskerygma eine Sachbeziehung insofern besteht, als beide im eschatologischen Entscheidungsruf ihre Pointe haben. Mehr und anderes als ein bloßes „Dass“ ihres Zusammenhangs ist freilich auch damit nicht zugestanden. Ansonsten bleibt es bei der Betonung des grundsätzlichen Unterschieds zwischen dem historischen Jesus und seiner Verkündigung und dem Christuskerygma der urchristlichen Gemein-

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de, in welches Jesus, wie Bultmann sagt, auferstanden ist. Summa summarum: Den angeblichen „New Quest“ nach dem historischen Jesus in seiner Schule (vgl. im Einzelnen Schulze) hielt Bultmann für ein reaktionäres Unternehmen, das nach seinem Urteil nur alte, längst überwundene Fragestellungen reproduzierte. Bultmann blieb mit dieser Auffassung nicht allein. In der Fortführung existentialer Interpretation unterstrich beispielsweise Herbert Braun, dass eine Begegnung mit Jesus und seiner „im Vollzuge des Gehorsams und der Demut“ (Braun, 161) begründeten Gottesauslegung, „nur durch das Hören auf das Kerygma möglich ist, in dem mir nicht der vergangene, sondern der präsente Christus begegnet“ (Kümmel, 15). „Wie neu ist die ‚Neue Frage nach dem historischen Jesus‘?“, fragten V. A. Harvey und Schubert M. Ogden in einem gleichnamigen Artikel aus Anlass der Abhandlung von James M. Robinson über „A New Quest of the Historical Jesus“ (London 1959), um zur Antwort zu gelangen, „daß alt und neu mehr miteinander gemein haben als Robinson zuzugeben bereit ist“ (Harvey/Ogden, 86). Das ist in der Tat der Fall. Neu an der neuen Rückfrage nach dem historischen Jesus ist nicht diese selbst, sondern die Tatsache, dass sie nicht mehr unmittelbar wie die anfängliche und nunmehr als alt bestimmte, sondern auf reflektiert-vermittelte Weise vollzogen wird. Neu an der neuen Rückfrage nach dem historischen Jesus ist das in sie eingegangene Bewusstsein der Krise der alten. Zwar soll die Krise nicht im Sinne eines kerygmatheologischen Verbots der Rückfrage vom biblischen Christus auf den historischen Jesus auf Dauer gestellt, sondern ins Konstruktive gewendet werden. Aber diese konstruktive Wende erledigt nicht die Krise, um unmittelbar auf den historischen Jesus zurückzukommen. Sie greift im Gegenteil nur im Bewusstsein der Krise der ursprünglichen Leben-Jesu-Forschung und insofern unter kerygmatheologischen Voraussetzungen auf ihn zurück. Durch dieses Vorgehen wird zugleich das Verhältnis von dogmatischer Christologie und historischer Jesusfrage in ein neues Licht gerückt, in dem es nicht länger als Gegensatz, sondern als differenzierter Zusammenhang erscheint. Die unauflösliche Korrelation zwischen historischem Urteil und theologischer Motivation wird im Vollzug reflektierter Rückfrage nach dem historischen Jesus an dieser selbst manifest mit der Folge, dass die dogmatischen Implikationen der historischen Jesusfrage zutage treten. Indem die neue Rückfrage nach dem historischen Jesus die Krise der alten ernst nimmt, nimmt sie, wenn man so will, dogmatisch ernst, dass der irdische Jesus gestorben ist und für die historische Erinnerung nicht mehr sein kann als eine gegebenenfalls exemplarische und idealtypische, aber in jedem Fall tote Vergangenheitsgestalt. Wenn sie daraus gleichwohl nicht die Konsequenz zieht, vom gekreuzigten Jesus nichts weiter wissen zu wollen als sein Kreuz und das schiere Dass seines Gekommenseins, dann geschieht dies aus der österlichen Einsicht heraus, dass der leibhaft erstandene Gekreuzigte für das neutestamentliche Kerygma kein anderer ist als Jesus von Nazareth, sondern dieser selbst. Die personale Identität zwischen dem Erhöhten und dem Irdischen, wie sie im Neuen Testament durchgängig vorausgesetzt wird, als real anzunehmen, ist, so

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scheint es, systematisch geurteilt der Sinn und Zweck der neuen Rückfrage nach dem historischen Jesus, deren Grundthese sich dogmatisch etwa so formulieren ließe: „es gibt keine Alternative zwischen irdischer Existenz und Auferstehung, zwischen der vorösterlichen und der nachösterlichen Situation. Die Verbindung von beiden ist in der Einheit der Person (sc. Jesu Christi) vorgegeben und vollzogen.“ (Slenczka, 341) Doch welchen Status hat dieses Urteil? Ist es ein dogmatisches oder ein historisches oder beides zugleich? Mit diesen Fragen ist das im gegebenen ZusamWie neu ist „The New menhang entscheidende, schon mehrfach angeQuest“? sprochene Problem angezeigt, wie sich der irdische Jesus, den der kerygmatische Christus impliziert, zu dem vom Zeugnis des Osterkerygma abgehobenen, historisch-kritisch rekonstruierten, kurzum: zum historischen Jesus verhält, der den kerygmatischen Christus nicht, jedenfalls nicht ohne weiteres impliziert. Um diese Frage angemessen zu beantworten, hat man sich zunächst noch einmal des systematischen Resultats zu versichern, das sich aus dem theologiehistorischen Gang durch die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung und ihre Krise über die sog. kerygmatische Christologie hin zur neuen Rückfrage nach Jesus in den beginnenden 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ergibt. Die epochale Bedeutung der Leben-Jesu-Forschung, die auch durch ihre Krise nicht falsifiziert wird, weil sie für jede neuzeitliche Gestalt der Christologie grundlegend ist und bleibt, besteht in der Einsicht, dass sich die Realität dessen, was Christologie objektiv wahrzunehmen und zu bedenken hat, nicht unter Absehung von Subjektivität, sondern nur im Zusammenhang mit subjektiver Selbstwahrnehmung zur Geltung bringen lässt. Die christologische Wirklichkeit kann unter modernitätsspezifischen Bedingungen nicht im Sinne subjektloser Objektivität erfasst werden. Hinter diese christologische Grundeinsicht der Moderne zurückgehen zu wollen, würde, so lässt sich konstatieren, keinen Fortschritt, sondern einen Rückschritt der Leben-Jesu-Forschung gegenüber bedeuten. Ihr christologisches Defizit besteht sonach nicht in ihrem subjektrelativen Charakter als solchem, sondern darin, dass sie den Gehalt der Christologie nur in Gestalt subjektiver Selbstvergewisserung bzw. als deren Funktion zur Geltung brachte. Es ist der unbestreitbare Vorzug der sog. kerygmatischen Christologie gegenüber der vormaligen Leben-Jesu-Forschung, diesen Sachverhalt erkannt und kritisiert zu haben. Die Konstruktivität dieser Kritik besteht vor allem in der Einsicht, dass der, wenn man so sagen darf, christologische Gegenstand jedwede Objektivität verliert, wenn er zum bloßen Vehikel subjektiver Selbstvergewisserung herabgesetzt wird, wobei nach dem Urteil kerygmatischer Christologie die irrige Ansicht waltet, als sei das Subjekt unmittelbar seiner selbst gewiss. Genau das aber ist mitnichten der Fall. Anstelle des unmittelbar selbstgewissen und selbstbestimmten Subjekts, das sich in der Leben-Jesu-Forschung als Konstruktionsprinzip erweist, bildet daher in der kerygmatischen Christologie das seiner selbst ungewisse, an sich selbst zugrunde gehende Subjekt den Bezugspunkt der christologischen Argumentation. In diesem präzisen Sinne hat die kerygmatische Christologie als die mani-

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feste Krise der Leben-Jesu-Forschung zu gelten. Indes droht in ihr in Konsequenz strikten Verbots, vom Kerygma auf Jesus und mit ihm auf das in der Leben-JesuForschung wirksame Prinzip der Subjektivität zu rekurrieren, der christologische Gegenstand entweder den Charakter einer bloß autoritativen Setzung anzunehmen oder sich zu leeren Chiffren wie derjenigen vom „reinen Daß des Gekommenseins“ zu verflüchtigen. Hier setzt die neue Rückfrage nach dem historischen Jesus ein. Ihr systematisches Recht besteht im Wesentlichen darin, auf ein konstruktives Defizit kerygmatischer Kritik an der Leben-Jesu-Forschung aufmerksam gemacht zu haben. Indes wäre die neue Rückfrage nach dem historischen Jesus ihrerseits in hohem Maße defizitär und nichts anderes als ein rückwärtsgewandtes Unternehmen, würde sie sich als Reproduktion der ursprünglichen Leben-Jesu-Forschung präsentieren. Ihre produktive Funktion kann sie nur in dem Maße erfüllen, als sie mit den Aporien der kerygmatischen Christologie zugleich die von dieser zurecht monierten Aporien der Leben-Jesu-Forschung zu beheben vermag. Dazu ist es vor allem nötig, den „christologischen Gegenstand“ in der differenzierten Einheit von kerygmatischem Christus und geschichtlichem Jesus und damit so zur Geltung zu bringen, dass er in seiner Objektivität auf das Prinzip von Subjektivität in Kritik und Konstruktion zugleich bezogen ist, damit im Vollzug christologischen Zugrundegehens unmittelbarer Selbstbestimmung das wahre Wesen des Subjekts mit bestimmter Gewissheit auf vermittelte Weise hervorgehe. Die christologische Aufgabe, die der mit der Wendung „Neue Rückfrage nach dem historischen Jesus“ nur höchst unzulänglich und missverständlich bezeichneten theologischen Forschungsrichtung gestellt ist, besteht mithin im Wesentlichen darin, die personale Realität bzw. das reale Personsein des auferstandenen Gekreuzigten als richtenden und rettenden Grund von Selbst und Welt zu erfassen. Nur so nämlich lässt sich der „christologische Gegenstand“ wie er in der differenzierten Einheit von österlichem Christus und historischem Jesus gegeben ist, angemessen und dem apostolischen Urzeugnis „Jesus Christus“ gemäß zur Geltung bringen. Dabei ist davon auszugehen, dass die differenzierte Einheit, welche die Wendung „Jesus Christus“ benennt, keine Selbstverständlichkeit, keine menschliche Stiftung, auch keine als invariantes Universalprinzip in Anschlag zu bringende ontologische Konstante darstellt, vielmehr unablösbar an der Singularität der Person des auferstandenen Gekreuzigten hängt, von dessen Wirklichkeit apostolisches Zeugnis folgerichtig seine eigene Wahrheit schlechterdings abhängig weiß. Das Verhältnis von Ostern und apostolischem Zeugnis darf demzufolge nicht etwa als das von Faktum und nachfolgender externer Sinndeutung vorgestellt werden, vielmehr ist der österliche Herr in der Einheit von Faktizität und Bedeutung als Wirksubjekt und objektiver Ermöglichungsgrund allen rechten Glaubens an ihn und jedweden angemessenen Zeugnisses von ihm zu denken. Besteht die christologische Aufgabe wesentlich darin, die personale Realität bzw. das reale Personsein des auferstandenen Gekreuzigten als den objektiven Konstitutionsgrund seiner Wirklichkeitkeitswahrnehmung zu erfassen, dann lässt sich die

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Erinnerung Jesu Christi nicht von der christologischen Einsicht trennen, dass er selbst als Subjekt seines Gedächtnisses fungiert. Indes wird durch diese Einsicht der historische Vollzug konkreter Erinnerung durch empirische Subjekte christologisch keineswegs überflüssig. Im Gegenteil: Soll der in der österlichen Wirklichkeit Jesu Christi bleibend aufgehobene Jesusname nicht nichts, sondern etwas Bestimmtes bedeuten, so setzt dies notwendig ein positives Wissen von ihm und seiner Geschichte voraus. Ein solches, über historische Erinnerungsleistungen und Traditionskontinuen auch gegenwärtig noch zugängliches und intersubjektiv überprüfbares Wissen generell in Abrede zu stellen oder für unnötig zu erklären müsste zwangsläufig die Konsequenz nach sich ziehen, auf den Jesusnamen selbst zu verzichten. Die Christologie muss daher ein materiales Geschichtswissen von einer real existierenden Gestalt namens Jesus faktisch und notwendig in Anspruch nehmen, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden. Auch in christologischer Hinsicht gilt, dass ohne notitia weder assensus noch fiducia zu erlangen sind. Zur historischen Kenntnis des Lebens Jesu gehört nun allerdings auch das Wissen um die Tatsache seines Todes, angesichts dessen Jesus offenbar nur noch als eine historische Vergangenheitsgestalt in Betracht kommen kann, die an sich selbst dem Gewesensein preisgegeben ist, während sie gegenwärtig sein und Zukunftsmacht entfalten, kurzum: lebendig sein kann nur kraft selbsttätiger Gedächtnisleistung derer, die sich an sie erinnern. Gilt diese Annahme, unter deren Voraussetzung sich eine vom Analogieprinzip genereller Verallgemeinerbarkeit des üblichen Erfahrungswissens geleitete historische Forschung stillschweigend zu stellen pflegt, so ist klar, dass zwischen einem solchermaßen verstandenen ‚historischen Jesus‘ und dem ‚kerygmatischen Christus‘ apostolischen Zeugnisses eben jener Gegensatz waltet, welchen kerygmatische Christologie gegenüber der Leben-Jesu-Forschung namhaft machte. Zu bedenken ist indes, dass die Wendung ‚historischer Jesus‘ im entwickelten Argumentationszusammenhang einen durch Erinnerungsleistung vergegenwärtigten Bewusstseinsgegenstand der Zeugen des Lebens und Sterbens des irdischen Jesus bezeichnet, der mit dem Sein des irdischen Jesus an sich selbst nicht ohne weiteres gleichzusetzen ist. So schwierig es ist, die damit angesagte Differenz genau zu bestimmen, sie vorschnell einzuziehen dürfte ebenso wenig eine Lösung sein. Insofern erscheint es als problematisch, die Aporie des vorösterlichen Jüngerbewusstseins angesichts des Kreuzestodes mit der Aporie des historischen Jesus in seinem Tode am Kreuz unmittelbar gleichzusetzen und die geschichtliche Erscheinungsgestalt Jesu aus Gründen genereller Sterblichkeit des realexistierenden Menschengeschlechts sozusagen aus Prinzip zu einer Vergangenheitsgestalt zu erklären. Durch diese Vorbehalte ist indes nicht in Abrede gestellt, dass Ostern die Bedingung der Möglichkeit einer christologisch angemessenen Wahrnehmung der Geschichte Jesu darstellt. Nicht nur setzt jede Betrachtung des irdischen Lebens und Sterbens Jesu, soll sie theologisch angemessen und soteriologisch hilfreich sein, den österlichen Perspektivenwandel grundsätzlich voraus. In bestimmter Weise kann, um es zu wiederholen, sogar gesagt werden, dass Jesus ohne Ostern gar nicht wäre,

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was er ist. Indes wird man sogleich hinzuzufügen haben, dass das Osterereignis unbeschadet seines nicht bloß noetisch-retrospektiven, sondern gewissermaßen ontisch-wirksamen, retroaktiven Charakters Jesus nicht einfach zu etwas macht, was er vorher nicht gewesen ist, sondern ihn als den vorstellt, der er war, ist und sein wird. Damit ist in zugespitzter Form noch einmal die Frage gestellt, wie sich der sog. vorösterliche Jesus zum österlichen Herrn und damit zur differenzierten Personeinheit Jesu Christi verhält, welche den eigentlichen „christologischen Gegenstand“ ausmacht. Dass hier ein Unterschied in Anschlag zu bringen ist, liegt im Begriffe des vorösterlichen Jesus selbst begründet, wobei zu fragen ist, ob sich das „vor“ auf eine lediglich zeitliche Bestimmung restringieren lässt. Solche und ähnliche Fragen zu stellen, ist für eine theologisch orientierte Jesusforschung obligat; doch gibt es daneben auch Ansätze zu registrieren, welche jede Form der Orientierung an Geltungsfragen der Theologie als hinderlich für die historische Forschung im Allgemeinen und für die historische Jesusforschung im Besonderen erachten. Tendenzen dieser Art gab es seit Beginn der Emanzipation historischer Wissenschaften immer wieder. In jüngster Zeit sind sie erneut und in verstärktem Maße virulent geworden, wie sich an der Phase der sog. dritten Frage nach dem historischen Jesus belegen lässt. Die im englischsprachigen Wissenschaftsraum üblicherweise als „The New Quest“ bezeichnete The Third Quest Debatte, die sich in den fünfziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Kontext der Auseinandersetzungen namentlich zwischen Bultmann und Käsemann entwickelte, war wesentlich theologisch und von der Frage bestimmt, welche Bedeutung der historische Jesus im Zusammenhang des Christuskerygmas hat. Sie gab und gibt Anlass zu weitreichenden systematischen Überlegungen, wie sie der traditionellen Dogmatik nicht fremd sind. Im Unterschied hierzu ist die in den beiden Jahrzehnten vor der Wende zum 21. Jahrhundert einsetzende und bis heute anhaltende Bewegung historischer Jesusforschung, die man im angelsächsischen Bereich und mittlerweile auch hierzulande „The Third Quest“ zu bezeichnen pflegt, fast ausschließlich geschichtswissenschaftlich ausgerichtet und an neuen methodischen Ansätzen literaturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Art interessiert. Charakteristisch ist, welch große Bedeutung der außerkanonischen Jesusüberlieferung für die Forschung beigemessen wird. „Third Quest researches show a significantly greater interest in extracanonical Christian literature than did First and Second Quest writers. The Gospel of Thomas and the Nag Hammadi literature figure most prominently in current Jesus study, with other New Testament Apocrypha books like the Gospel of Peter not far behind. Jewish sources for the life of Jesus are also gaining more interest. Only classical sources on Jesus are an exception to this trend; the Third Quest too does not deal with them in depth. Only a few large-scale recent treatments of Jesus deal with evidence from classical sources. In sum, the last twenty years have arguably seen more interest in, and debate about, the historical Jesus

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outside the New Testament than any comparable period in the last two centuries.“ (Van Voorst, 4f.) Kennzeichnend für die Forschungsphase des „Third Quest“ ist neben dem gesteigerten Interesse an der Jesusüberlieferung außerhalb des Neuen Testaments fernerhin die Konzentration auf die jüdischen Wurzeln des Christentums und das Bemühen um jüdische Profilierung der Jesusbewegung. Methodisch reflektiert sich dies u.a. darin, dass als Echtheitskriterium der Jesustradition weniger Kontextunähnlichkeit als vielmehr Kontextähnlichkeit fungiert. Als am ehesten authentisch gelten jene Worte und Taten Jesu, die sich aus seiner soziokulturellen Umwelt heraus plausibilisieren lassen. Jesu religionsgeschichtliche Stellung im Judentum seiner Zeit erscheint weniger als durch Gegensätze denn durch kritische Solidarität bestimmt. Sie gilt als eine Position innerhalb, nicht außerhalb des zeitgenössischen Judentums. Mit diesem Forschungstrend verbindet sich eine intensive Rezeption der Ergebnisse der neueren jüdischen Jesusforschung, die zum selbstverständlichen Bestandteil des historischen Diskurses geworden ist. Die moderne jüdische Forschung hat das Profil Jesu zum Teil sehr unterschiedlich gezeichnet. Jesus erscheint als der „exemplarische Jude“ (J. Klausner, L. Baeck), „mahnende Prophet“ (C. G. Montefiore), „jüdische Freiheitskämpfer“ (R. Eisler, J. Carmichael), „große Bruder“ (M. Buber, Schalom Ben-Chorin), „messainische Zionist“ (P. E. Lapide), „scharfe Kritiker“ (H.-J. Schoeps), „prophetische Künder“ (D. Flusser), „endzeitliche Revolutionär“ (R. R. Geis) oder „uneinreihbarer Jude“ (S. Sandmel, E. L. Ehrlich) etc. (vgl. im Einzelnen Vogler sowie Lindeskog). Diese unterschiedliche Einschätzung des Judentums Jesu von jüdischer Seite spiegelt sich in der Forschung des „Third Quest“ insgesamt wieder. Zwar verorten fast alle Forscher der dritten Phase Jesus mitten im Judentum seiner Zeit, doch fällt das Bild des Juden Jesus sehr facettenreich, um nicht zu sagen: disparat aus. So wird Jesus einerseits weiterhin in den Kontext der Apokalpytik gerückt, um seine Verkündigung von Gott her als durchgängig endzeitlich bestimmt zu interpretieren, wohingegen von anderer Seite vehement bestritten wird, dass Jesus das apokalpytische Hereinbrechen des Reiches Gottes erwartet und zum Inhalt seiner Botschaft erklärt habe. Während die einen in Jesus den Repräsentanten einer Restaurationseschatologie in Israel sehen, betrachten ihn andere als Charismatiker nach Art galiläischer Chassidim oder als „A Marginal Jew“ (Meier) an der Grenzscheide der Kulturen. Auch eine große Nähe zum Pharisäismus wird gelegentlich konstatiert bis hin zu der These, „dass Jesus in den innerpharisäischen Auseinandersetzungen zwischen der Schule Schammais und der Schule Hillels zu verorten sei und die Absicht gehabt hätte, eine Religion für die Völker auf der Basis der noachidischen Gebote zu etablieren“ (Stegemann u.a. [Hg.], 238). Eng verbunden mit der sehr unterschiedlichen Positionierung Jesu im zeitgenössischen Judentum ist in der neueren Jesusforschung die Frage, ob im Palästina der Jesuszeit überhaupt mit einem „Common Judaism“ gerechnet werden darf oder ob es angesichts des bis hin zur Heterogenität gesteigerten Pluralismus der Richtungen nicht angemessener sei, von einer Vielzahl teilweise divergierender

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Judentümer zu sprechen. Um angesichts der Komplexität der Lage nicht vorweg den Überblick über die aktuelle Forschungsentwicklung zu verlieren, empfiehlt es sich, exemplarisch einige „Trendsetter“ (Müller, 5) herauszugreifen, die jeweils einen charakteristischen Ansatz innerhalb des „Third Quest“ vertreten, wie er vor allem im englischsprachigen Raum seinen Anfang und Fortgang genommen hat. Den vielleicht wichtigsten Beitrag zur Entstehung der mit der Wendung „Third Quest“ bezeichneten Phase historischer Jesusforschung hat der britische Judaist Geza Vermes geleistet, dessen Publikationen (Jesus the Jew. A Historian’s Reading of the Gospels, London 1973; Jesus and the World of Judaism, London 1983; The Religion of Jesus the Jew, London 1993) durch nachdrückliche Akzentuierung des Judentums Jesu den Neuansatz entscheidend bestimmten. „What distinguishes this ‘third quest of the historical Jesus’ is the conviction that any attempt to build up a historical picture of Jesus of Nazareth should and must begin from the fact that he was a first-century Jew operating in a first-century milieu.“ (Dunn, 85f.) Indem er diese Grundannahme fundierte, ist Vermes zum Hauptinitiator der sog. dritten Phase historischer Jesusforschung geworden (vgl. im Einzelnen Dunn/McKnigth [Eds.]), auch wenn sich sein Bild von Jesus als dem galiläischen Charismatiker und Chassidim (Vermes, 83: „Jesus of Nazareth takes on the eminently credible personality of a Galilean Hasid“) forschungsgeschichtlich als nur bedingt wirksam erwies. Eine von Vermes nicht unerheblich abweichende Darstellung hatte bereits Anfang der neunziger Jahres des vergangenen Jahrhunderts der Chicagoer Bibelwissenschaftler John Dominic Crossan gegeben, der Jesus als einen bäuerlich-volkstümlichen, antielitären, jüdisch-kynischen Weisheitslehrer charakterisierte. Als radikaler Sozialreformer habe Jesus in einer jedermann ansprechenden mündlichen Rede die prinzipielle Gleichheit aller Menschen gelehrt und auf diese Weise mit den hierarchischen Strukturgesetzen der mediterranen Gesellschaftskultur seiner Zeit gebrochen, welche durch das Mittler- und Klientenwesen der Patronage bestimmt gewesen sei. Symbol dieses die religiösen und politischen Mächte herausfordernden Bruches und der neuen, von Jesus propagierten Sozialordnung seien insbesondere die von ihm alltäglich geübten Mahlfeiern gewesen, welche in der christlichen Herrenmahlsfeier ihre Fortsetzung gefunden hätten, die alle Glaubenden durch Teilhabe an Christus geschwisterlich vereinte. Im Übrigen sei Jesus in der jüdischen Landbevölkerung als magischer Exorzist und vagabundierender Heiler aufgetreten, um auf diese Weise für seinen gänzlich uneschatologischen Reich-Gottes-Egalitarismus zu werben. Erstmals expliziert hat Crossan seine Sicht in der 1991 erschienenen umfangreichen Monographie „The historical Jesus. The life of a Mediterranean Peasant“. Sie wurde 1994 ins Deutsche übersetzt sowie durch andere Texte fortgeschrieben und z.T. auch popularwissenschaftlich aufbereitet. Das wissenschaftliche Urteil über ihre Resultate hängt wesentlich davon ab, wie man Crossans Behandlung der Quellenfrage einschätzt. Basisquellen für die historische Jesusforschung sind ihm zufolge nicht die synoptischen Evangelien, die einer zweiten (Mk) oder dritten

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(Mt; Lk) Schicht angehören, sondern apokryphe Texte wie etwa das Thomasevangelium und solche Quellen, die wie Q erst aus den kanonischen Evangelien rekonstruiert werden müssen. Erst aus „The Lost Gospel“ erhelle: „Jesus was much more like a Cynic-teacher than a Christ-savior or messiah with a program for the reformation of the second-temple Jewish society and religion.“ (Mack, 245) Waren nach Crossan Jesus und die Seinen wie die sonstigen Kyniker der Zeit „hippies in a world of Augustan yuppies“ (Crossan, 421), so sieht der Judaist und Neutestamentler Ed Parish Sanders im Nazarener vor allem den Propheten der endzeitlichen Restauration Israels. In seinem 1993 erschienenen, 1996 auf Deutsch herausgegebenen Werk „The Historical Figure of Jesus“ wird im Gegensatz zu Crossan der eschatologische, apokalyptisch geprägte Charakter der ReichGottes-Botschaft Jesu unterstrichen, wie er schon in der Monographie „Jesus and Judaism“ von 1985 mit Nachdruck betont wurde. In der von „certain or virtually certain“ bis „incredible“ reichenden Werteskala einer Liste von Aussagen über den historischen Jesus rangieren folgende fünf an erster Stelle: „1. Jesus shared the world-view that I have called ‚Jewish restoration eschatology‘. The key facts are his start under John the Baptist, the call of the twelve, his expectation of a new (or at least renewed) temple, and the eschatological setting of the work of the apostles (Gal. 1.2; Rom. 11.11–13, 25–32; 15.15–19). 2. He preached the kingdom of God. 3. He promised the kingdom of the wicked. 4. He did not explicitly oppose the law, particularly not laws relating to Sabbath and food. 5. Neither he nor his disciples thought that the kingdom would be established by force of arms. They looked for an eschatological miracle.“ (Sanders, 326) Nach Sanders bildet die zeitgenössische jüdische Restaurationseschatologie den geeignetsten Deuterahmen der den Bundesnomismus Israels grundsätzlich affirmierenden Sendung Jesu. Auch der amerikanische Neutestamentler Marcus Borg, „einer der einflussreichsten Vertreter der gegenwärtigen Jesusforschung“ (du Toit, 93), sieht Jesu Anliegen auf die Renaissance Israels ausgerichtet und in der Jesusbewegung eine Erneuerungsbewegung innerhalb des Judentums. Ihre charakteristischen Kennzeichen seien Barmherzigkeit als Leitbild politischen Handelns, Mahlgemeinschaft mit Geächteten, Wertschätzung der Frommen, Frohbotschaft für die Armen etc. Die Jesusgemeinde war nach Borg eine „Friedenspartei“ (Borg, 161), die sich als „alternative Gesellschaft“ (Borg, 167) darstellte. In dem 1993 auf deutsch herausgegebenen Werk „Jesus: A New Vision“ wird dies auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Verhältnisse in Palästina zur Zeit Jesu im Einzelnen entfaltet. Dabei verwirft Borg im Unterschied zu Sanders „die Vorstellung von Jesus als eschatologischem Propheten, der das bevorstehende Ende der Welt ankündige, und betrachtet ihn eher als Sozialkritiker im Sinne der klassischen Propheten Israels, der sich mit den gegenwärtigen politischen Idealen Israels befasst“ (du Toit, 94). Näheres hierzu sowie zu sonstigen Tendenzen im Rahmen des „Third Quest“ sind neben dem Trendbericht von Peter Müller (vgl. Müller) der kritischen Bestandsaufnahme der Jesusforschung am Anfang des 21. Jahrhunderts zu entneh-

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men, die David du Toit 2001 anlässlich einer Tagung der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie gegeben hat (vgl. du Toit). Dort finden sich über die hier gegebene Auswahl hinaus Informationen zu den Forschungen von Richard Horsley, der in Jesus den Anstifter einer gesellschaftlichen Revolution sieht, sowie zu dem 1996 erschienenen Buch Jürgen Beckers über „Jesus von Nazareth“, in welchem das von der kontinentaleuropäischen Forschung her nicht unvertraute Bild eines jüdischen Propheten gezeichnet wird, der Israel in Wort und Tat eschatologische Erlösung vermitteln will. Nach Analyse der Gerichtsaussagen in der Verkündigung Johannes des Täufers und Jesu, welche die Verlorenheit Israels zum Inhalt haben (Becker, 37ff.), thematisiert Becker ausführlich die traditionsgeschichtlichen Voraussetzungen und konstitutiven Bedingungen für Jesu Verständnis der Gottesherrschaft als gegenwärtigen Heilsbeginn für das verlorene Israel (Becker, 100ff.), um sodann über Lebensverständnis und Lebensgestaltung angesichts der Gottesherrschaft zu handeln (Becker, 276ff.). Warum Jesus als heilsmittlerischer Endzeitprophet zu Tode kam, wird in einem eigenen Abschnitt über die letzten Tage in Jerusalem und die Kreuzigung erörtert (Becker, 399ff.). Trotz ihres in hohem Maße ergänzungsbedürftigen Charakters, der durch die getroffene Aus- Jesus im jüdischen Kontext wahl exemplarischer Einzelstudien bedingt ist, kann die gegebene Skizze aktueller historischer Jesusforschungen einen Einblick in Trends vermitteln, die repräsentativ für die Gesamtbewegung sind und die es als sinnvoll erscheinen lassen, „The Third Quest“ als eine eigene Forschungsphase anzusetzen. Zwar besteht zweifellos eine Reihe von Übereinstimmungen mit der zweiten Phase der Jesusforschung. Doch weist bei aller grundlegenden Kontinuität „die gegenwärtige Jesusforschung charakteristische Merkmale auf, durch die sie sich eindeutig von den vorherigen Phasen unterscheidet“ (du Toit, 109). Dazu zählt neben einer betonten Zusammenschau von Wortverkündigung und sonstigem Wirken Jesu vor allem das verstärkte Bemühen um Kontextualisierung. Die jesuanische Lebenswirklichkeit soll aus dem Zusammenhang seiner ökonomischen, politischen, soziokulturellen und religiösen Umwelt heraus begriffen werden. War die zweite Phase der historischen Jesusforschung methodisch durch die Dominanz des Differenzkriteriums bestimmt, demzufolge authentisches Jesusgut vor allem in Traditionen zu finden sei, die sowohl vom Judentum als auch vom frühen Christentum abweichen, wird nun vor allem die Vergleichbarkeit mit Traditionsbeständen des palästinischen Judentums zur notwendigen Bedingung historischer Authentizität erklärt. Ohne das Kriterium der Wirkungsplausibilität prinzipiell infrage zu stellen, ist „The Third Quest“ darauf angelegt, Jesus als Juden und seine geschichtliche Erscheinung aus dem Judentum seiner Zeit heraus verständlich zu machen. Wenn man will, kann man in der wachsenden kirchengeschichtlichen Bedeutung, die dem sog. Judenchristentum neuerdings beigemessen wird, eine Parallele zu dieser Entwicklung entdecken. Während nach bisher üblicher Auffassung die jüdische Christengemeinde nach der Zerstörung Jerusalems 70 n.Chr. marginalisiert und

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in eine wesentlich heidenchristliche Kirche aufgehoben wurde, wird nun auf die verhältnismäßig lange, bis in die konstantinische Periode reichende judenchristliche Wirkungsgeschichte und auf die enge Beziehung verwiesen, die zwischen Judentum und Christentum weit über das erste nachchristliche Jahrhundert hinaus bestand (vgl. etwa O. Skarsaune/R. Hvalvik [Eds.]). Plausibilisiert wird diese Annahme u.a. mit dem Hinweis auf die interne Vielfalt des Judentums, das sich schon zu Jesu Zeiten als ein höchst komplexes Gebilde und nicht als jenes starre Normengehäuse darstellte, gegen das die traditionelle Forschung Jesus und das Christentum gerne antreten ließ. Erleichtert die differenzierte Sicht des zeitgenössischen Judentums einerseits das Bestreben, Jesus in dieses einzuordnen, so erschwert es andererseits die Versuche, diese Stellung eindeutig zu bestimmen und mit einem spezifischen und unverwechselbaren Profil zu versehen. Die Verschiedenheit, ja Disparität der Jesusbilder, welche „The Third Quest“ erzeugte, bestätigt dies. Man hat konstatiert, dass schon „ein oberflächlicher Vergleich einiger Jesusportraits der dritten Phase der Jesusforschung genügt, um zu erkennen, dass es dem ganzen Unternehmen an Einheitlichkeit fehlt. Trotz einer großen Zahl gemeinsamer Voraussetzungen, die für ein gewisses Maß an Homogenität sorgen, ist es für die gegenwärtige Jesusforschung geradezu charakteristisch, dass sie durch divergierende Entwicklungen gekennzeichnet ist, die auf fundamentalen Differenzen beruhen.“ (du Toit, 120) War Jesu Sendung eschatologischer oder nichteschatologischer Art; ist er als Prophet oder als Weisheitslehrer aufgetreten; wie ist sein Verhältnis zu den soziopolitischen Problemen seiner Zeit präzise zu bestimmen? Diese Fragen werden in der aktuellen historischen Jesusforschung sehr unterschiedlich, z.T. auch gegensätzlich beantwortet. Dies ist sicherlich erheblich durch die divergierende Überlieferungsstratifikation und Bewertung der Quellenlage veranlasst. Es hängt aber auch zusammen mit Tendenzen, die der dritten Phase der Jesusforschung gemeinsam sind und sie als eine einheitliche Erscheinung wahrnehmen lassen. Der methodische Trend zu verstärkter Pluralisierung und die Genese verschiedener und teilweise konträrer Jesusbilder verweisen aufeinander. Differenz ist, wenn man so will, ein notwendiger Reflex der Einheit, für welche die Wendung „The Third Quest“ steht. Die in seinem Zeichen mit gelegentlicher Emphase und dem Ziel konsequenter Historisierung vollzogene Abkehr von theologischen Normansprüchen kanonischer oder sonstiger Art gehört in diesen Zusammenhang. Galt die Jesusüberlieferung des Zeitalters der neutestamentlichen Apokryphen, das, wie es hieß, „unmittelbar hinter der Abfassung unserer kanonischen Evangelien beginnt und mit Origenes abschließt“ (Bauer, 1), der überkommenen Forschung in der Regel als eher suspekt, wird sie nun von einigen Forschern mit Vorliebe herangezogen und mit einer historischen Dignität versehen, welche derjenigen der kanonischen Jesustradition gleichkommt oder sie sogar überbietet. Crossan gibt dafür ein Beispiel. Als Begründung für die Berücksichtigung nichtkanonischer Texte wird bei ihm und anderen angegeben, dass unter historischen Gesichtspunkten „Orthodoxie und Häresie in den ersten Jahrhunderten gleichsam

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parallele Phänomene (sind), nämlich miteinander rivalisierende Aktualisierungen in alten Traditionen, die sie ursprünglich teilten und von denen ausgehend sie sich mit unterschiedlichen Interpretationen weiterentwickelten“ (Robinson, 399). Die Feststellung historischer Parallelität von Orthodoxie und Häresie hat ihre sachliche Richtigkeit und belegt zugleich, dass die historische Betrachtung immer auch der Emanzipation von normativen Ansprüchen auf unmittelbare Geltung dient. Es gehört zu ihrem Wesen, sich nicht durch Kanonschranken begrenzen zu lassen. Ob apokrypher Literatur tatsächlich ein höherer Quellenwert beizumessen ist als beispielsweise den synoptischen Evangelien des Neuen Testaments, ist hingegen eine ganz andere Frage, wenngleich auch sie sich sachgemäß nur durch historische Argumentation und nicht dekretierend beantworten lässt. Darauf wird in einem Folgeabschnitt ausführlich zurückzukommen sein mit dem hier nur angezeigten, aber noch nicht begründeten Ergebnis, dass nach derzeitigem Erkenntnisstand die synoptischen Evangelien als Quellengrundlage historischer Jesusforschung durch Zusatzquellen „zwar ergänzt, keinesfalls aber ersetzt werden“ (Müller, 12) können. Die frühesten und historisch zuverlässigsten Zeugnisse zu Person und Wirken Jesu sind mit Mk und Q gegeben, wobei die Logienquelle im Unterschied zu Mk eine Forschungshypothese darstellt, was bei ihrer Auswertung gebührend zu berücksichtigen ist, um Fehlschlüsse zu vermeiden (vgl. im Einzelnen Schröter, 62ff.; 90ff.). Neben der Quellenproblematik hat „The Vom Differenz- zum Third Quest“ auch eine Reihe von Fragen aufge- Plausibilitätskriterium worfen, welche die Kriteriologie und Methodologie der Quellennutzung sowie die Hermeneutik betreffen (vgl. Müller). Auf die Kriteriendiskussion wurde anlässlich der Problematisierung des sog. Differenzkriteriums im Zuge der „Neubesinnung auf die jüdischen Wurzeln des Christentums und des jüdischen Profils der Jesusbewegung“ (Stegemann [Hg.], 7) bereits Bezug genommen. Ein entscheidender Beitrag zu ihr wurde vor geraumer Zeit durch eine Monographie von G. Theißen und D. Winter geleistet. Sie ist mit dem Untertitel versehen: „Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium.“ Damit ist die Richtung angegeben, in der sich die methodologischen Debatten um die Kriterienfrage in der Jesusforschung bewegen, ohne dass ihr Ende bereits abzusehen wäre. Die Grundthese von Theißen und Winter ist in ihrer Gemeinschaftsarbeit gleich zu Beginn des Vorworts benannt: „Nicht das, was zur jüdischen Umwelt und zum Urchristentum in Differenz steht, soll als echt gelten, sondern was als individuelle Erscheinung plausibel in seinen jüdischen Kontext eingeordnet werden kann und die christliche Wirkungsgeschichte im Urchristentum plausibel zu erklären vermag.“ (Theißen/Winter, IX) Um diese These zu begründen, wird zunächst das sachliche Problem des Differenzkriteriums in der heutigen Forschungssituation und sodann seine Stellung in der Geschichte der Jesusforschung dargestellt. Dabei zeigt sich nicht nur, wie eng und untrennbar spezifische Methodenentscheidungen mit allgemeinen Entwicklungen des Zeitgeistes verbunden waren und sind, es wird zugleich deutlich, dass

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das historische Bewusstsein selbst eine geschichtliche Genese hat, ohne deren Wahrnehmung es zu keinem adäquaten Selbstverständnis zu gelangen vermag. Beschränkte sich historische Kritik im Renaissancehumanismus im Wesentlichen auf die Rekonstruktion des ursprünglichen Textes, zielt die Kritik der Aufklärung auf die Geschichte hinter dem Text, um dessen Buchstäblichkeit mit vernünftiger Bedeutung bzw. dem zu versehen, was man dafür hielt. Der Beginn der historischkritischen Exegese gehört in diesen Zusammenhang. In der Konsequenz ergibt sich die Historisierung aller buchstäblichen Autoritätsansprüche im Interesse persönlicher Freiheit. Nicht von ungefähr fungiert im Historismus das Persönlichkeitsideal als Zentralkategorie für das Verständnis Jesu. Gleich ob Jesus in den ihm gewidmeten Büchern der Zeit, die ein eigenes literarisches Genre bilden, als geschichtsmächtiger Held, als Genie oder als beides zugleich vorgestellt wird, das Bild seiner Individualität und Originalität dient stets der Begründung und Vergewisserung der Persönlichkeitsidee und ihrer Realisierung. Das entspricht genau der von Albert Schweitzer vorgegebenen Sicht der Dinge. Einen grundsätzlichen Neuansatz in der Jesusfrage erbringt nach Theißen und Winter der Antihistorismus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, wie er durch die Theologie der Krise exemplarisch repräsentiert wird. Ihrer Grundsatzkritik an der bisherigen Leben-Jesu-Forschung korrespondiert die methodologische Entwicklung der sog. Formgeschichte insofern, als diese „die prinzipielle Möglichkeit einer Annäherung an Person und Persönlichkeit Jesu in Frage (stellt)“ (Theißen/Winter, 99). Die von der Dialektischen Theologie in dogmatischer Absicht vertretene und systematisch begründete Behauptung der Unmöglichkeit der Leben-Jesu-Forschung wird so historisch-methodisch abgesichert. Zugleich unterstreicht die Formgeschichte im Sinne der Kerygmatheologie den kerygmatischen Charakter der Evangelien. Am Beispiel des Jesusbildes von Rudolf Bultmann wird dies illustriert. „Die Frage nach der Persönlichkeit Jesu erfährt ... eine doppelte Ablehnung: Sie ist historisch nicht zu beantworten und theologisch völlig irrelevant.“ (Theißen/Winter, 108) Die neue Frage nach dem historischen Jesus war nur für diejenigen Theologen neu, die von der im deutschsprachigen Bereich bis Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhundert herrschenden Kerygmatheologie herkamen, wohingegen die historische Jesusfrage in der englischsprachigen und französischen Forschung seit alters ununterbrochen gestellt wurde. Das Motiv der sog. neuen Rückfrage ist in der Einsicht begründet, dass der Osterglaube das christliche Kerygma zwar begründet, ihm aber nicht erst und ausschließlich seinen Inhalt gegeben hat. Der Ansatz der neuen Frage nach dem historischen Jesus bleibt also, wie ihre Zentrierung auf die Rekonstruktion der Verkündigung Jesu indirekt beweist, das österliche Christuskerygma, das aber nicht unmittelbar, sondern auf vermittelte Weise und unter Berücksichtigung seiner impliziten Voraussetzungen und geschichtlichen Genese zur Geltung gebracht werden soll. Dazu bedarf es vor allem der Wahrnehmung kontinuierlicher Zusammenhänge, die den Übergang vom historischen Jesus zu urgemeindlicher Verkündigung sowie die Trennung verständlich machen, die sich

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im Laufe der Zeit zwischen dem werdenden Christentum und dem Judentum ergab, von dem es seinen Ausgang genommen hatte. In kriteriologischer Hinsicht brachte es diese Forschungsentwicklung mit sich, dass das Differenzkriterium primär nicht mehr zum Zwecke der Unterscheidung von Jesus und Christentum, sondern vor allem deshalb in Anschlag gebracht wurde, um das in Jesus bereits im Werden begriffene Christentum vom Judentum zu unterscheiden. Es ergibt sich folgendes methodologiegeschichtliches Resultat: Wurde das Differenzkriterium zunächst einseitig für die Unterscheidung Jesu vom Urchristentum eingesetzt mit dem Ziel, im Zeichen des historischen Jesus die individuelle Emanzipation religiöser Subjektivität zu befördern, so hat der einseitige Gebrauch des Differenzkriteriums im Sinne der Unterscheidung Jesu vom Judentum primär die Funktion, das Christentum an die jesuanischen Anfänge zurückzubinden und von Beginn an gegenüber dem Judentum abzusetzen. Bleibt zu fragen, warum sich die jeweils einseitige Verwendung des Differenzkriteriums zu jener Zweiseitigkeit fortentwickelt hat, der bereits Käsemann klassischen Ausdruck verliehen hatte, als er in seinem für die Diskussion der nächsten eineinhalb Jahrzehnte wegweisenden Vortrag und Aufsatz zum Problem des historischen Jesus von 1953/54 feststellte: „Einigermaßen sicheren Boden haben wir nur in einem einzigen Fall unter den Füßen, wenn nämlich Tradition aus irgendwelchen Gründen weder aus dem Judentum abgeleitet noch der Urchristenheit zugeschrieben werden kann, speziell dann, wenn die Judenchristenheit ihr überkommenes Gut als zu kühn gemildert oder umgebogen hat.“ (Zit. n. Theißen/Winter, 126) Was ist die Funktion des zweiseitig verwendeten Differenzkriteriums? Nach Theissen und Winter hat es in historisch-rekonstruktiver Hinsicht dem Erweis sog. echter Jesustradition, in theologischer aber dem Erweis der Einzigartigkeit der Jesusgestalt zu dienen. Einwände gegen das Differenzkriterium in seiner Doppelform wurden bereits innerhalb der zweiten und vor der dritten Phase historischer Jesusforschung geltend gemacht. Abgesehen von der Unschärfe des Differenzbegriffs sei die Handhabung des Differenzkriteriums „durch die geschichtsphilosophische Vorstellung von der einzigartigen Persönlichkeit belastet“ (Theißen/Winter, 139), was zu der Verwechslung führe, „differierendes Material sei zugleich typisch und wesentlich für das Verständnis der geschichtlichen Gestalt Jesu“ (ebd.). Neben weiteren Einwänden wurde insbesondere geltend gemacht, das Differenzkriterium stehe per se in Widerspruch mit der zu fordernden geschichtlichen Einordnung Jesu in das Judentum einerseits und einer notwendigen wirkungsgeschichtlichen Einordnung in das beginnende Christentum andererseits. Dieser Einwand wurde kennzeichnend für „The Third Quest“ und der durch die jüdische Jesusforschung motivierten Suche nach einem kontextuellen Jesus, nach dem „Jesus within Judaism“, nach dem „Juden Jesus in seinem historischen Milieu“ (Theißen/Winter, 148). Eine konsequente Emanzipation der Historie von der Theologie ist mit dieser Suche programmatisch verbunden: „Jesusforschung dient weder der Legitimierung der Christologie noch ihrer Delegitimierung.“ (Theißen/Winter, 146) Die Kritik am Differenzkritierum nicht nur in seiner einseitigen, sondern auch in seiner Doppel-

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form ist nach Theissen und Winter ein Reflex dieser Entwicklung, die mit einer kriteriologischen Neubesinnung notwendig einhergehen muss. Die Überführung des Differenzkriteriums in das Kontext- und Kriterium historischer Gesamtplausibilität führt Wirkungsplausibilität zu folgendem Resultat: „Was wir von Jesus insgesamt wissen, muss ihn als Individualität innerhalb des zeitgenössischen jüdischen Kontextes erkennbar machen und mit der christlichen (kanonischen und nicht-kanonischen) Wirkungsgeschichte vereinbar sein.“ (Theißen/Winter, 217; bei Th./W. kursiv) Als Unterkriterien des Kriteriums historischer Gesamtplausibilität fungieren das Kriterium der Kontext- und dasjenige der Wirkungsplausibilität: „1) Das Kriterium (jüdischer) Kontextplausibilität umfasst zwei Aspekte: Kontextentsprechung und kontextuelle Individualität. Gefordert wird zunächst ‚Kontextentsprechung‘: Was Jesus gewollt und gesagt hat, muss mit dem Judentum in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts in Galiläa vereinbar sein. Komplementär zu ergänzen ist die Suche nach ‚kontextueller Individualität‘: Was Jesus gewollt und getan hat, muss als eine individuelle Erscheinung im Rahmen des damaligen Judentums erkennbar sein. ... 2) Das Kriterium wirkungsgeschichtlicher Plausibilität bezieht sich dagegen auf die Nachwirkung Jesu im Urchristentum. Auch hier lassen sich zwei Aspekte unterscheiden: Tendenzsprödigkeit gegenüber allgemeinen Tendenzen im Urchristentum und gleichbleibende Kohärenz angesichts der jeweils verschiedenen Tendenzen in einem pluralistischen Urchristentum. An erster Stelle steht die Suche nach tendenzwidrigen Elementen: Was innerhalb der Jesusüberlieferung in Differenz zu den Interessen der urchristlichen Quellen steht, aber in ihrer Überlieferung tradiert wird, kann in graduell zu differenzierender Weise historische Plausibilität beanspruchen. ... Die andere Seite von Wirkungsplausibilität ist die Übereinstimmung zwischen unabhängigen Quellen oder ‚Quellenkohärenz‘: Die Kohärenz einzelner Elemente aus unabhängigen unterschiedlichen Überlieferungen, verschiedenen Traditionsschichten und verschiedenen Gattungen innerhalb der Jesusüberlieferung schafft historische Plausibilität.“ (Theißen/Winter, 216; bei Th . u. W. teilweise kursiv.) Es wäre naiv, von der Aufhebung des zweiseitigen Differenzkriteriums in das Plausibilitätskriterium die endgültige Lösung der historischen Jesusfrage zu erwarten. Diese Erwartung ist auch dann unangemessen, wenn man das Kriterium historischer Gesamtplausibilität als Integral aller Grundkriterien der Jesusforschung begreift, des Kriteriums der vielfachen unabhängigen Bezeugung, der Tendenzwidrigkeit, der Kohärenz sowie der besagten doppelten Unähnlichkeit (vgl. Broer, 30ff.). Was eine konsequent in Anwendung gebrachte Kriteriologie zu leisten vermag, ist zunächst nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Erkenntnis elementarer Grund- und Rahmendaten der Historie Jesu: Jesus stammte aus Galiläa. Er wurde von Johannes dem Täufer im Jordan getauft. Er predigte von der Gottesherrschaft, wie immer man ihren Charakter und ihre Bedeutung genau zu beurteilen hat. Die Zeichenhandlungen, die Jesus als Therapeut und Exorzist vollbrachte, sind auf die Botschaft vom nahenden Gottesreich bezogen. Jesus berief Jünger,

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wobei die Wahl der Zwölf als Zeichen der Konzentration seiner Sendung auf Israel zu werten ist. Es gab Auseinandersetzungen zwischen Jesus und der jüdischen Obrigkeit, die das Gesetz und den Tempel betrafen, auch wenn im Einzelnen strittig ist, in welcher Weise. Jesus wurde von den Römern verurteilt und außerhalb Jerusalems gekreuzigt (vgl. Broer, 41). Diese Gesichtspunkte haben nicht nur berechtigte Aussicht auf Zustimmung in der historischen Jesusforschung, sie dürfen vielmehr als mehrheitlich anerkannt gelten. Ausnahmen können spätestens dann als regelbestätigend erwiesen werden, wenn man die Quellenlage einer kritischen und illusionslosen Inspektion unterzieht. Ist ein gewisser Grundkonsens historischer Jesusforschung in wesentlichen Punkten bei allen Divergenzen durchaus erreichbar, so wird dessen Aus- und Fortbildung durch die Wahrnehmung der wechselvollen Forschungsgeschichte und des elementaren Zusammenhangs zwischen Forschen und Erforschtem, auf den sie verweist, nicht etwa behindert, sondern im Gegenteil entscheidend gefördert, weil sie zu umfassenderen hermeneutischen Reflexionen Anlass gibt. Historiographie ist nie bloß ein rezeptives, sondern immer auch und zugleich ein konstruktives Geschäft. Das Objektivitätspostulat hat seine Gültigkeit: der Historiker hat zu zeigen, was der Fall gewesen ist. Doch auf sinnvolle Weise kann dies nur geschehen, wenn dabei der notwendige Zusammenhang von Referentialität und Konstruktion bedacht wird. Zwar sind Fakten und Fiktionen sorgsam zu unterscheiden, wenn Geschichte und Geschichtsschreibung nicht zu Phantasiegebilden verkommen sollen. Aber ohne produktive Einbildungskraft kann eine Historiographie, die ihren Namen verdient, ebenso wenig zustande kommen: „Konstruktion ist ein notwendiges Element historischer Arbeit.“ (Backhaus/Häfner, 93) Dass „Konstruktion ein nicht hintergehbares Historische Kritik und Element historischer Erkenntnis darstellt“ Konstruktion (Backhaus/Häfner, 97), belegen nicht erst die historischen Jesusforschungen, sondern bereits die Quellen, die ihnen zugrunde liegen. „Die Evangelien lassen sich einerseits als historische Jesuserzählungen bezeichnen, da sie zweifellos mit dem Anspruch geschrieben sind, die erzählte Geschichte des Lebens und Wirkens Jesu habe eine Referenz in der außersprachlichen Wirklichkeit. Diesbezüglich ist keine Differenz zwischen den einzelnen Episoden zu erkennen. Sie lassen andererseits eine deutliche Ineinanderblendung nicht nur von eigener und erzählter Zeit, sondern auch von Episoden unterschiedlichen Referenzbezugs erkennen. Die Fingierung besteht somit nicht nur darin, ein chronologisch geordnetes Bild der wesentlichen Etappen des Lebens und Wirkens Jesu zu entwerfen, sondern darüber hinaus in der fehlenden Differenzierung zwischen Geschehenem und Erfundenem sowie der Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart.“ (Schröter, 38f.) Gegen die Beschreibung und die Bestimmung evangelischer Jesusdarstellungen als „Fiktionen des Faktischen“ im Sinne erinnerungsfundierter Konstruktionen (vgl. Schröter, 28ff.; 37ff.) ist eingewendet worden, dass die Möglichkeit begründeter Unterscheidung zwischen „wirklichem“ und „erinnertem“ Jesus die Bedingung dafür sei, das evangelische Jesusgedächtnis his-

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torisch zu nennen (vgl. Backhaus/Häfner, 102ff.). Dieser Einwand ist nicht unzutreffend. Indes will bedacht sein, dass der wirkliche Jesus nach evangelischem Zeugnis nachgerade derjenige ist, der sich an Ostern von sich aus lebendig in Erinnerung bringt, um in der Kraft des göttlichen Geistes selbst als Subjekt seines Gedächtnisses zu fungieren. Kurzum: „Nach den Evangelien wäre es gerade nicht angemessen, Jesus nur als eine Person der Vergangenheit zu verstehen. Dennoch ist seine Bedeutung nicht ohne sein irdisches Wirken zu erfassen. Aus diesem Grund wird die Erinnerung daran bewahrt, weshalb die Evangelien als historische Quellen aufgefasst werden können.“ (Schröter, 8) Als historische Quellen aufgefasst sind die Evangelien Dokumente des äußeren Daseins Jesu, von dem Notiz und Kenntnis zu nehmen nicht nur für den christlichen Glauben bedeutsam, sondern von allgemeinem Interesse ist. Dieses Allgemeininteresse muss sich indes, wenn es denn überhaupt vorhanden ist, zwangsläufig damit begnügen bzw. darin erschöpfen, den vergangenen Jesus als vergangenen zu vergegenwärtigen und auch dies auf lediglich äußerliche Weise, sofern gilt: „First of all, it is important to distinguish between Jesus in his own inner life and Jesus as he appeared in his lifetime. His subjectivity, his ‚personality‘ in the modern sense, is unknown and unknowable, as it is for any historical figure.“ (Chilton/ Evangs, 1) Zwar gibt es Äußerungen Jesu, die Rückschlüsse auf sein inneres Leben und Erwägungen hinsichtlich seines Selbstverständnisses zulassen. Doch mehr als Mutmaßungen sind diesbezüglich nicht zu erreichen, wobei die Möglichkeit von Irrtümern und Täuschungen über das individuelle Selbstbewusstsein weder in äußerer Hinsicht noch im Hinblick auf dessen unzugängliche Binnenperspektive ausgeschlossen werden können. Dem Glauben muss die notitia historica daher als eine ambivalente, wenngleich unverzichtbare Angelegenheit gelten, wobei ihre Unverzichtbarkeit gerade in der Wahrnehmung der Ambivalenz begründet liegt, die dem äußeren Dasein Jesu unveräußerlich eignet. Mag die Uneindeutigkeit der historischen Existenz Jesu äußerer Betrachtung als ein zweideutiges Indiz erscheinen: der Glaube wird in ihr ein eindeutiges Zeichen des wirklichen Menschseins Jesu und der wahren Menschlichkeit Gottes in ihm entdecken.

6. Quellen und Grundbegebenheiten der Historie Jesu

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Der von Eduard von Hartmann beeinflusste, einer pantheistischen Metaphysik zugeneigte Philosoph Arthur Drews (1865–1935) war, wie er selbst wusste, nicht der Erste, der die historische Existenz Jesu leugnete. Doch erlangte seine Leugnung ein bis dahin kaum gekanntes Maß an Publikumswirksamkeit. Nach Maßgabe des programmatischen Titels seiner vor knapp einhundert Jahren erschienenen Schrift „Die Christusmythe“ wissen wir „nichts von Jesus, von einer historischen Persönlichkeit dieses Namens, auf welche sich die in den Evangelien berichteten Geschehnisse und Worte beziehen“ (Drews, 181; bei D. gesperrt). Ein „historischer Jesus, wie die Evangelien ihn schildern und wie er in den Köpfen der liberalen Theologie von heute lebt, (hat) überhaupt nicht existiert, also auch nicht einmal die gänzlich bedeutungslose kleine Messiasgemeinde zu Jerusalem begründet“ (Drews, 226; bei D. gesperrt). Der historische Jesus ist nicht früher, sondern später als Paulus, der Christusglaube „ganz unabhängig von irgendwelchen uns bekannten historischen Persönlichkeiten entstanden“ (Drews, 226; bei D. gesperrt). Zu einem ähnlichen Ergebnis wie Drews gelangte eineinhalb Jahrzehnte später der dänische Literaturhistoriker und Zeitkritiker Georg Brandes (1842–1927), der Jesus mit einer Sagenfigur wie Wilhelm Tell verglich. Tell habe „nie existiert; aber das tut ihm keinen Abbruch; er ist und bleibt ein wirksames Ideal und beherrscht als Vorbild die Gemüter. Dasselbe gilt von einer Gestalt, die gleich ihm der Welt der Sage angehört, aber einen weit durchgreifenderen Einfluss auf europäisches und amerikanisches Seelenleben ausgeübt hat.“ (Brandes, 15) Der Mensch Jesus hat „vermutlich nie existiert“ (Brandes, 21). Doch daran liegt nichts: „Es ficht göttliche Wesen nicht an, dass sie ihr wahres Leben, ihr einziges Leben im Gemüt des Menschen haben.“ (Brandes, 155) Brandes und Drews irren. Die historische Existenz Jesu zu bezweifeln, besteht kein begründeter Anlass. Sie ist durch christliche und nichtchristliche Quellen eindeutig bezeugt: Es gibt nur wenige Personen der Antike, deren äußeres Dasein so sicher verbürgt ist wie dasjenige Jesu. Auch lassen sich Grundkonturen seines irdischen Lebens in Raum und Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in Erfahrung bringen, obwohl Jesus und die Jünger seiner irdischen Lebenstage keine erhaltenen schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben. Zwar hat sich die Komplexität der Forschungslage seit den Anfängen historischer Kritik erheblich gesteigert. Die historisch-kritische Jesusforschung „ist nicht nur durch die Fülle der Bücher und Aufsätze unübersehbar und verwirrend geworden, sie erweckt auch auf einigen Gebieten den Eindruck eines völligen Meinungswirrwarrs“ (Kümmel, 695). Dieser Eindruck ist im Zusammenhang der sog. dritten Frage nach dem historischen Jesus nicht geringer geworden, sofern durch sie das Bewusstsein eines internen Pluralismus der frühen Christenheit weiter anwuchs: „Diversity and Conflicts in Early Christianity“ (Dunderberg a. o. [Ed.]) reflektieren sich in unterschiedlichen Jesusbildern. Gleichwohl lassen sich in der historischen Jesusforschung eine Reihe von Übereinstimmungen benennen, die nach wie vor von der großen Mehrheit der Exegeten geteilt wird. Rahmendaten der Historie Jesu

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In seinem Rückblick über vier Jahrzehnte Jesusforschung hat W. G. Kümmel Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts erkennbare Konvergenzen in drei Punkten benannt: „1) Die Einsicht in den Charakter der evangelischen Überlieferung zwingt zu der Feststellung, dass es unmöglich ist, eine biographische Darstellung Jesu zu schreiben und die als historisch brauchbar erkannten Überlieferungen in eine chronologische Reihenfolge zu setzen. Was wir erkennen können, sind einerseits die Hauptzüge der Verkündigung Jesu in Abhängigkeit von und in Auseinandersetzung mit den Grundanschauungen des gleichzeitigen Judentums, andererseits die Züge seines Lehrens und vor allem seines Verhaltens, die ihn in scharfen Gegensatz zu führenden Kreisen seines Volkes brachten und zu seinem gewaltsamen Tode führten. 2) Es ist weitgehend anerkannt, dass die Verkündigung Jesu grundlegend beherrscht ist von der Erwartung der kommenden Gottesherrschaft, auch wenn die Art dieser Erwartung ... umstritten ist. Mit dieser Erwartung hängen der streng theozentrische Charakter der Verkündigung Jesu ebenso zusammen wie die Radikalität seiner ethischen Forderung.“ (Kümmel, 696) Als dritten Punkt, der im Grundsatz allgemein anerkannt werde, benennt Kümmel den mit der Verkündigung der nahen Herrschaft Gottes verbundenen Autoritätsanspruch Jesu. „Gewiss ist äußerst umstritten, in welche Form dieser Anspruch Jesu gekleidet war ...; dass die Frage nach dem Charakter und der Bedeutung dieses Anspruchs im Zusammenhang der Verkündigung Jesu unausweichlich und eine Antwort auf diese Frage für das Verständnis Jesu entscheidend ist, ist jedoch weithin anerkannt, und es scheint mir für den Fortschritt der geschichtlichen Jesusforschung unerlässlich, bei der Beantwortung dieser Frage zu einer einheitlicheren und geschichtlich überzeugenden Meinung zu finden.“ (Ebd.) Diese Auflistung bedarf unter gegenwärtigen Bedingungen sicherlich der Ergänzung, der Differenzierung und im Einzelnen möglicherweise auch der Modifikation. Doch sind die Ergebnisse, wie sie im Zuge von „The Third Quest“ erbracht wurden, bei nüchterner Beurteilung der Quellenlage, von der sogleich die Rede sein wird, nicht in der Lage, die grundsätzliche Richtigkeit der Kümmel’schen Angaben infrage zu stellen. Als Diskussionsgrundlage historischer Jesusforschung können sie nach wie vor Geltung beanspruchen; sie werden durch klassische Jesusmonographien (Becker, Bornkamm, Bultmann, Holtz, Roloff, Schröter etc.) im Wesentlichen bestätigt. Dies sei auf die Gefahr hin, eines zurückgebliebenen historischen Bewusstseins und einer altfränkischen Horizontbeschränkung bezichtigt zu werden, einstweilen in thetischer Vorläufigkeit behauptet. Auch wenn es aufgrund des Quellenmaterials nicht möglich ist, eine Biographie Jesu zu schreiben, so lassen sich doch im Verein mit politischen und sozioökonomischen Kontexten lokale und chronologische Bezüge seines Lebens sowie seine Beziehungen zu Familie, jüdischen Zeitgenossen, Anhängerinnen und Anhängern sowie zu Johannes dem Täufer und nicht zuletzt zu seinem Gott in Grundzügen durchaus methodisch kontrolliert erheben. Was die Botschaft Jesu betrifft, wie sie sich in den ältesten Zeugnissen in ihren Umrissen klar zu erkennen gibt, so nimmt sie einerseits die Predigt Johannes des Täufers vom nahen Gottesgericht auf, ohne

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doch andererseits auf eigene Akzentsetzungen und Transformationen zu verzichten. Das exorzistische und therapeutische Wirken Jesu steht zu seiner Rede von der bereits im Anbruch begriffenen Basileia in ebenso enger Verbindung wie seine Gleichnisse und sonstigen Zeichenhandlungen. Dass Jesus im Zusammenhang seiner Reich-Gottes-Verkündigung einen Autoritätsanspruch erhob, der seine Person umfasste, kann kaum zweifelhaft sein, so offen die exegetische Debatte gerade in Bezug auf die Selbstaussagen Jesu ist. Manches spricht dagegen, dass Jesus messianische Hoheitstitel für sich beansprucht hat, und einiges für die Annahme einer entschiedenen Zurückhaltung gegenüber Versuchen, ihn mit dem Messiastitel auszustatten. Dennoch war Jesus „ohne Zweifel von dem Bewusstsein durchdrungen, eine zentrale Rolle in der endzeitlichen Durchsetzung der Gottesherrschaft zu haben“ (Merz, [Hg.], 41). Darauf konnte in der nachösterlichen Situation in Form diverser christologischer Titulierungen sowie in Gestalt von Deutungen des Kreuzestodes, der Auferstehung und der Erwartung Jesu als des endzeitlich Wiederkommenden Bezug genommen werden. In welcher Weise Jesus seinen Anhängerinnen und Anhängern Anteil gegeben hat an seiner eschatologischen Sendung, wird im Einzelnen zu erörtern sein. Unstrittig ist, dass er während seines irdischen Weges einen Kreis von Jüngern um sich scharte, „der seine Verkündigungstätigkeit nach seinem Tod fortsetzen wird. Die Nachfolge wird dabei als ein die gesamte Existenz betreffender Vorgang angesehen, der zur Auflösung familiärer Bindungen führt und das Ertragen von Feindschaft seitens der ablehnenden Teile Israels bedeutet. Als sich diese Konfrontation in nachösterlicher Situation zuspitzt und sich sowohl die Auseinandersetzung um die Frage der Stellung zu Tempel und Gesetz als auch um diejenige nach einem Überschritt zur Mission unter den Heiden verschärfen, können der Ruf in die vorbehaltlose Nachfolge sowie die damit verbundenen Konsequenzen auch auf das möglicherweise notwendig werdende Erleiden des Martyriums bezogen werden. Für beides sind bei Mk und Q erste Indizien zu erkennen, erst Mt jedoch wird beide Fragen dezidiert miteinander verknüpfen und damit einen wichtige Schritt über Mk und Q hinausgehen.“ (Schröter, Erinnerungen, 484f.) Schwerwiegende Probleme ergeben sich aus der Frage, inwieweit die Auseinandersetzungen um Tempel und Gesetz, wie sie die Geschichte der Urchristenheit seit den Konflikten des Stephanuskreises begleitet haben, schon in Jesu Botschaft und Wirken angelegt waren. Kaum ein Thema ist derzeit exegetisch umstrittener als dieses. Wie immer zu urteilen ist: dass Jesu Proklamation der anbrechenden Gottesherrschaft zu einer Neuqualifikation des Gottesverhältnisses führte, lässt sich schwerlich bestreiten. Jesu Anrede Gottes als Abba und sein Aufruf zu einer Haltung rückhaltlosen kindlichen Vertrauens Gott gegenüber gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie seine spezielle, ihm eigentümliche Zuwendung zu Sündern und solchen, die nach allgemeinem, nachgerade frommem Urteil als verloren zu gelten hatten. Historische Forschung ist auf seriöse Weise nur möglich, wenn die Quellenlage geklärt ist, auf der sie basiert. Nur auf der Basis der Quellen wird sich im Einzelnen erhellen lassen, ob und inwieweit die bisher geäußerten Grundannahmen zur His-

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torie Jesu zutreffend sind und in welcher Hinsicht sie differenziert werden müssen. Trotz der Außerchristliche Quellen zeitlichen Kürze und der räumlichen Beschränktheit seines öffentlichen Wirkens liegen von Jesus vergleichsweise umfangreiche und relativ frühe Überlieferungen vor. Dabei kann es nicht überraschen, dass Jesus in den erhaltenen nichtchristlichen Quellen seines Jahrhunderts nur am Rande in Erscheinung tritt. Die von ihm initiierte religiöse Bewegung spielte wie er selbst im öffentlichen Bewusstsein der Zeit nur eine marginale Rolle. Jesus und die Seinen wurden von Ausnahmen abgesehen als jüdische Sektierer von provinzieller Absonderlichkeit wahrgenommen. Wie begrenzt das Interesses der nichtchristlichen Öffentlichkeit an den Anfängen des Christentums war, zeigt die Tatsache, dass wichtige Ereignisse wie etwa die Verfolgung unter Agrippa I. und die Ermordung des Zebedaiden Jakobus vor dem Passafest des Jahres 44 von den Historikern der Zeit unvermerkt blieb. Auch was Jesus selbst betrifft, sind die außerchristlichen Quellenzeugnisse spärlich. „Im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung ist hier nur Flavius Josephus zu nennen. Das Werk des Historikers Thallus, das sich offenbar auf die christliche Passionsgeschichte bezog, ist bis auf ein Zitat bei Julius Africanus verloren. Andere Zeugen gehören bereits dem Anfang des 2. Jahrhunderts an: Tacitus, Sueton, Plinius der Jüngere. Zwar berichtet uns die Antike von der Rolle, die der Prokurator Pontius Pilatus bei der Verurteilung Jesu spielte, aber Tacitus, der diese Tatsache mitteilt, verbindet kein besonderes Interesse damit. Welche Kräftekonstellation zur Eröffnung des Prozesses und zur Verurteilung Jesu führte, zeigen bei sorgfältiger Interpretation erst unsere Evangelien. Sie werden der historischen Rekonstruktion zu primären Quellen.“ (Bruce [Vorwort des deutschen Herausgebers], 7) Obwohl die außerchristlichen Nachrichten über Jesus und das früheste Christentum in den erhaltenen jüdischen und römisch-griechischen Quellen der beiden ersten Jahrhunderte rar, wenig gehaltvoll und nicht selten polemisch geprägt sind, liegt ihr unschätzbarer Wert darin begründet, dass sie die Historizität Jesu durch die fraglose Selbstverständlichkeit, mit der sie diese voraussetzen, eindeutig belegen und im übrigen Grundzüge seines äußeren Daseins als eines umstrittenen, unter Pontius Pilatus wegen gemeingefährlicher Umtriebe gekreuzigten jüdischen Sektenführers zu erkennen geben. Während Jesus in den seltenen rabbinischen Quellen, deren historischen Wert die Forschung unterschiedlich beurteilt (vgl. im Einzelnen Maier), als Apostat charakterisiert wird, kennzeichnen ihn die drei römischen Schriftsteller, in deren Werk er beiläufig erwähnt wird, als Urheber eines die Staatsreligion konterkarierenden Aberglaubens, wobei anstatt von Jesus durchweg von Christus bzw. Chrestus im Sinne eines Eigennamens ohne messianische Beiklänge die Rede ist. Die präzisesten Nachrichten bietet Tacitus (55/56 – ca. 120): in seinen um 116/ 117 verfaßten Annalen führt er Namen und Ursprung der aus Judäa stammenden, zur Zeit Neros bereits in Rom verbreiteten religiösen Bewegung des Christentums auf Christus zurück, der unter der Herrschaft des Tiberius vom Prokurator Pontius

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Pilatus hingerichtet worden sei (Ann 15,44,3: „Auctor nominis eius Christus Tiberio imperante per procuratorem Pontium Pilatum supplicio adfectus erat.“). Randnotizen ohne genauere Kenntnisse von Jesus finden sich daneben bei dem Tacitusfreund Plinius d. Jüngeren (61 – ca. 120) sowie bei Sueton (70 – ca. 130), der in seiner Kaiservita des von 41 – 54 regierenden Claudius zu berichten weiß: „Judaeos impulsore Chresto assidue tumultuantes Roma expulit.“ (Claud 25,4) Christus, der mit „Chrestus“ gemeint sein dürfte, erscheint hier als ein Unruhestifter unter römischen Juden, der den Anlaß zu deren Vertreibung unter Claudius gegeben habe (vgl. Apg 18,2). Sind damit unter den paganen Quellen bereits die wichtigsten Zeugnisse benannt, so kommt der jüdische Historiograph Josephus in seinen um 93 n.Chr. erschienenen „Antiquitates Judaicae“ zweimal auf die Person Jesu zu sprechen. Zum einen berichtet er von der im Jahr 62 n.Chr. erfolgten Hinrichtung des Jakobus, den er als „Bruder Jesu, der Christus genannt wird“ (Ant 20,200), bezeichnet. Von der Echtheit dieser Stelle gehen die meisten Forscher aus. Umstritten ist hingegen die Authentizität des sog. Testimonium Flavianum (Ant 18,63f.), in welchem Jesus nicht nur als ein weiser Mensch von großen Worten und Taten beschrieben, sondern der Tendenz nach als der österlich erhöhte Christus bekannt wird. Man wird also wenn nicht mit einer gänzlichen Interpolation, so doch mit einer christlichen Überarbeitung zu rechnen haben, wobei in der Forschung der Rekonstruktionstyp einer jesusfeindlichen und der einer neutralen Urform des Josephustextes begegnet. Ein authentischer Kern des Testimonium Flavianum ist in beiden Fällen vorausgesetzt. Darf die Existenz des irdischen Jesus nicht zuletzt Christliche Quellen nichtaufgrund seiner Erwähnung bei antiken Gekanonischer Provenienz schichtsschreibern, die dezidierte Nichtchristen waren, als gesichert gelten, so stammen alle genaueren Kenntnisse seiner historischen Erscheinung nichtsdestoweniger aus christlichen Quellen kanonischer und nichtkanonischer Tradition. Was letztere Unterscheidung betrifft, so ist vorgeschlagen worden, von „apokryph bzw. kanonisch gewordenen Schriften für die Zeiten zu reden, in denen sich noch nicht ein deutliches Kanonbewusstsein abzeichnet“ (Lührmann, 54). Auf diese Weise werde die Geschichtlichkeit des Kanons im Gedächtnis behalten und die historische Urteilsbildung nicht von dogmatischen Prämissen abhängig gemacht. Verbunden wurde dieser Vorschlag mit dem Hinweis, dass auch die Unterscheidung zwischen Orthodoxie und Häresie unter historischen Gesichtspunkten zu relativieren sei, da der Quellenwert eines „ketzerischen“ Textes im Grundsatz durchaus höher sein könne als derjenige eines „rechtgläubigen“ Dokuments. Dem ist nicht zu widersprechen. Über den historischen Wert einer Quelle kann nur nach Maßgabe historischer Kriterien entschieden werden. Was den Quellenwert der apokryph gewordenen, außerkanonischen christlichen Literatur für die Erforschung der Geschichte Jesu anbelangt (vgl. im Einzelnen Frey/Schröter [Hg.]), so ist er unter den Exegeten heftig umstritten. Die einschlägigen Schriften werden teils als irrelevant beurteilt, teils zum Zwecke der Ergänzung selektiv benutzt, teils als prinzipiell gleichwertig

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herangezogen. Namentlich in der neueren englischsprachigen Jesusforschung ist, wie erwähnt, der Quellenwert einzelner christlicher Schriften außerhalb des Neuen Testaments teilweise sogar höher veranschlagt worden als derjenige der synoptischen Evangelien. Besonderer Beliebtheit erfreute sich dabei das 1945 in koptischer Version in Nag Hammadi aufgefundene Thomasevangelium und seine Logienüberlieferung; drei Fragmente waren bereits um 1900 bei Oxyrhynchus entdeckt worden. Das wahrscheinlich in Syrien in der Ursprache Griechisch entstandene Evangelium nach Thomas (vgl. im Einzelnen Plisch, 9–38) enthält gesammelte Sprüche Jesu an seine Jünger in Form von Weisheitsworten, Parabeln, Makarismen und Prophetien. Etwa die Hälfte der Logien begegnet auch im NT (vgl. im Einzelnen Zöckler). Die Frage der Abhängigkeit des Thomasevangeliums von den kanonischen Evangelien wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Dass der in Ägypten aufgefundene koptische Text aus dem vierten Jahrhundert Beeinflussungen durch die kanonischen Evangelien erkennen lässt, ist unbestreitbar, aber für sich genommen noch kein Beweis dafür, dass Abhängigkeiten auch für die genuine, ursprünglich auf Griechisch geschriebene Fassung anzunehmen sind. Doch fehlen ebenso klare Beweise für eine Frühdatierung des Thomasevangeliums vor den neutestamentlichen Evangelien; es ist im Gegenteil so, dass die besseren historischen Gründe nach wie vor für die Annahme eines Sekundärstellung des Thomasevangeliums gegenüber den kanonischen Texten sprechen (vgl. im Einzelnen Schröter, Jesus von Nazaret, 56ff.), auch wenn mit der Möglichkeit authentischen und autonomen Traditionsguts gerechnet werden darf. Entsprechendes gilt für andere nichtkanonische Quellen wie die sog. Apostolischen Väter, das apokryphe Petrus- oder Judasevangelium sowie für das Fragment Papyrus Egerton. Frühdatierungsthesen haben sich aufs Ganze gesehen nicht bewährt. Die genannten Texte sind im Wesentlichen als Zeugnisse für die Jesusrezeption im zweiten oder dritten nachchristlichen Jahrhundert zu werten, für eine Rekonstruktion der historischen Wirksamkeit Jesu hingegen von nur zweitrangiger Bedeutung. Nichts spricht dafür und vieles dagegen, dass eine der genannten christlichen Schriften außerhalb des Neuen Testaments älter ist als das Markusevangelium. Wie immer man die Bedeutung der außer- Christliche Quellen kanonischen christlichen Literatur für das histo- kanonischer Provenienz rische Verständnis Jesu im Einzelnen beurteilen mag: an der auch in geschichtlicher Hinsicht zentralen Stellung der kanonischen Texte kann und wird dies nichts ändern. Die ältesten Texte des neutestamentlichen Kanons und damit die frühesten erhaltenen literarischen Bezeugungen Jesu im Urchristentum stammen vom Apostel Paulus, der etwa um die Mitte des Jahrhunderts, also ca. zwanzig Jahre nach Jesu Tod, seinen ersten überlieferten Brief an die neugegründete Gemeinde zu Thessaloniki schrieb, in dem er den auferstandenen Gekreuzigten als den Heil bringenden Messias, Kyrios und Gottessohn bezeugte. Trotz der entschieden kerygmatischen Ausrichtung des Thessalonicherbriefs und der danach verfassten sonstigen Paulusbriefe enthalten diese historische Jesustradi-

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tionen von beachtlichem Format, die neben äußeren Daten wie Geburt, jüdische Herkunft, Kreuzestod etc. auch genuine Aussprüche Jesu, Zentralgehalte seiner Botschaft wie die Akklamation Gottes als Abba und die wichtigsten Momente der Passionsgeschichte einschließlich der Abendmahlsparadosis bezeugen. Die verbreitete Annahme, Paulus habe die Überlieferungen vom irdischen Leben Jesu entweder nicht gekannt, oder bewusst ignoriert, ist unzutreffend und irreführend. Sowohl die historische Existenz Jesu als auch Grunddaten seines irdischen Tuns und Leidens sind durch die Paulinen authentisch belegt. Obwohl nicht nur das Beispiel der Paulusbriefe beweist, dass sich frühchristliche Jesuszeugnisse auch außerhalb der Evangelien finden, sind diese doch die wichtigsten Quellen zu Person und Geschichte Jesu. Einem breiten Konsens der exegetischen Forschung zufolge bietet vor allem die Tradition der drei ersten Evangelien trotz ihrer eindeutig kerygmatischen Prägung das nicht nur umfänglichste, sondern auch historisch zuverlässigste Material, wohingegen das anders geartete vierte Evangelium eine Sonderstellung einnimmt. Auch wenn von einer generellen historischen Wertlosigkeit seiner Jesustradition nicht die Rede sein kann und das Johannesevangelium nach Urteil einiger Exegeten namentlich in der Passionsüberlieferung Daten enthält, für die sogar im Falle der Abweichung von der Überlieferung der ersten drei Evangelien die historische Wahrscheinlichkeit spricht, kommt es aufgrund seiner spezifischen Prägung als Quelle historischer Jesusüberlieferung nur bedingt infrage. Hauptquelle der Jesusgeschichte sind und bleiben die synoptischen Texte der drei ersten Evangelien, deren Zusammenschau über inhaltliche Verwandtschaften hinaus literarische Abhängigkeiten erkennen lässt. Neben dem Markusevangelium benutzen Matthäus und Lukas eine zweite, die sog. Logienquelle Q, die sich aus den ihnen gemeinsamen Beständen rekonstruieren lässt. Hinzu kommt matthäisches und lukanisches Sondergut. In allen vier, voneinander unabhängigen Traditionskomplexen begegnen dieselben Formen und Gattungen, Themen und Motive. Jesus wird übereinstimmend als eschatologischer Prediger dargestellt, der in Wort und Tat die nahende Königsherrschaft Gottes verkündet und sich dabei unter vollmächtiger Berufung auf Gottes väterliche Liebe in Gleichnisreden und Zeichenhandlungen vor allem den Armen und Sündern zuwendet. Wegen seines identischen Kernbestands, seines hohen Alters sowie wegen der großen Streubreite des synoptischen Traditionsguts, das auch außerhalb der spezifischen Überlieferungsstränge der drei ersten Evangelien begegnet, eröffnen die sog. Synoptiker, also Matthäus, Markus und Lukas, nach gut begründeter Meinung der Mehrheit der Forscher den besten Zugang zum historischen Jesus. Wie angezeigt, ist unter den synoptischen Evangelien Markus das älteste. Es ist von Mt und Lk literarisch nicht abhängig. Versuche, umfangreiche schriftliche Quellen des Mk zu identifizieren, haben sich als ebenso problematisch erwiesen wie die sog. Urmarkushypothese. Wahrscheinlich ist, daß der Evangelist lediglich kleinere Sammlungen von Einzeltraditionen und Überlieferungsstücken vorgefunden und zu einer mehr oder weniger zusammenhängenden Darstellung ver-

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bunden hat. Der Verfasser des Mk gibt sich in seinem Evangelium nirgendwo zu erkennen. Die älteste, bei Papias bezeugte Überlieferung identifiziert ihn als Markus, den Hermeneuten des Petrus, der dessen Berichte erinnerungsgemäß, doch nicht der Reihe nach aufgeschrieben habe. Während eine Beziehung des Vf. zu Petrus historisch fraglich bleibt, könnte der Verfassername zutreffen, wobei an den mehrfach in der Apostelgeschichte genannten Johannes Markus zu denken wäre. Für diese Annahme spricht die Unwahrscheinlichkeit, ein Evangelium sekundär einem Nichtjünger bzw. Nichtapostel zuzuschreiben, gegen sie die offenkundige Unkenntnis palästinischer Geographie und Sitte in Mk. Die Verfasserfrage muß daher offen bleiben. Entsprechendes gilt für den Ort der Abfassung: Die seit Clemens Alexandrinus bezeugte Tradition einer römischen Abfassung konkurriert mit dem in der Forschung zumeist bevorzugten Hinweis auf eine Gemeinde im Osten des Reiches. Geschrieben wurde Mk um das Jahr 70 n.Chr. Die Nähe des jüdischen Krieges ist unverkennbar, ob er nun bereits ausgebrochen ist oder noch bevorsteht. Die Logienquelle Q ist einschließlich ihrer inDas Sonderproblem der tertextuellen Bezüge (vgl. Allison, Jr.) seit gerau- Logienquelle mer Zeit Gegenstand intensiver Forschungen. Sie verdienen besondere Aufmerksamkeit, da ihre Ergebnisse für die Diskussionen innerhalb der historischen Jesusforschung von erheblicher Relevanz sind. In seiner kritisch und philosophisch bearbeiteten evangelischen Geschichte äußerte Christian Hermann Weiße 1838 als erster die Vermutung, dass die Evangelisten Matthäus und Lukas neben Mk ein weiteres, nicht mehr in Manuskriptform erhaltenes Dokument benutzt haben: die seit P. Wernle, J. Weiss und W. Bousset mit dem Kürzel „Q“ versehene Logienquelle. Adolf von Harnack hat sie in seinen Beiträgen zur Einleitung des Neuen Testaments 1907 unter dem Titel ediert: Sprüche und Reden Jesu. Die möglichst exakte Rekonstruktion des griechischen Ursprungstextes ist seit Jahren ein Projekt, das die Forschung beschäftigt. Das Internationale Q-Projekt (IQP) veröffentlichte seit Anfang der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts laufend Proben und Ergebnisse seiner Arbeit. Eine kritische Gesamtedition ist im Jahr 2000 in Minneapolis publiziert worden: The Critical Edition of Q: Synopsis Including the Gospel of Matthew and Luke, Mark and Thomas with English, German, and French Translations of Q and Thomas (J. M. Robinson, P. Hoffmann, J. S. Kloppenborg). Nach allgemeiner Konvention werden Stellenangaben aus Q gemäß Lk zitiert, ohne dass mit diesem Verfahren die Annahme verbunden wäre, der jeweilige Lukastext sei mit dem Text der Logienquelle identisch. Q enthält vor allem Einzelsprüche, die bereits zu redenartigen Spruchgruppen zusammengestellt sind. Seit geraumer Zeit wird in der Forschung bei der Anordnung des gesamten Q-Materials im Großen und Ganzen der lukanischen Reihenfolge der Vorzug gegeben, die gegenüber der Eingliederung bei Mt als die weniger stark veränderte gilt: „the Lucan presentation of Q is superior to that of Matthew, at least in regard to order.“ (Kloppenborg, 88) Obwohl die Präsenz von Semitismen auf die Nähe einiger Bestände der Q-Tradition zu semitisch-sprachigen Ge-

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bieten hinweist, hat sich die Hypothese einer erst nachträglichen Übersetzung der Logienquelle ins Griechische nicht durchsetzen können: „Q appears to have been formulated in Greek.“ (Kloppenborg, 87f.) Was den Text der einzelnen Gliederungseinheiten betrifft, so ist insbesondere zwischen Beständen, die Mt und Lk gemeinsam sind und mit großer Sicherheit Q zugehören, sowie Formulierungen zu unterscheiden, die entweder nur bei Mt oder nur bei Lk auftreten, aber nach semantischen und sonstigen Gesichtspunkten mit Wahrscheinlichkeit der Logienquelle zugerechnet werden können. Möglicherweise hat Q Lk in einer geringfügig anderen Gestalt vorgelegen als Mt. Die gegebenen Hinweise zeigen, dass mit der Erfassung von Umfang, literarischem Profil und Wortlaut der Logienquelle eine Fülle von Forschungsproblemen verbunden sind. Skepsis gegen allzu weitreichende Schlüsse, die in der jüngeren Jesusforschung aus dem Q-Material gezogen worden sind, erscheinen daher als angebracht. Ob das Spruchevangelium „ganz unmittelbar auf Jesu Ideen“ (Robinson, 521) führt, bedarf jeweils der kritischen Nachfrage. „Thesen wie etwa, es handle sich um eine Quelle, deren Jesusbild von demjenigen der synoptischen Evangelien deutlich abweiche und sich stattdessen mit demjenigen des Thomasevangeliums berühre, bewegen sich im Bereich der Spekulation.“ (Schröter, Jesus von Nazaret, 47f.) Zudem hat es sich als ein nur bedingt erfolgreiches Unternehmen erwiesen, die älteste Jesustradition allein oder primär auf der Basis von Wortüberlieferungen zu rekonstruieren, da diese für sich genommen zu keinem plausiblen Bild von der historischen Wirklichkeit Jesu führen. Im Übrigen war offenkundig schon die Logienquelle mehr als eine reine Sammlung von Jesussprüchen, insofern sie auch erzählende Stücke wie die Versuchungsgeschichte und die Geschichte der Begegnung Jesu mit dem Centurio in Kapernaum enthält, die in ihrer gattungskritischen Bedeutung nicht unterschätzt werden dürfen. Q ist in keinem Manuskript überliefert. Gestalt und Gehalt der Logienquelle bleiben hypothetisch. Dies gilt umso mehr für den Versuch, verschiedene Schichten in ihr zu unterschieden. Die Frage der Gattung von Q bzw. etwaiger Vorstufen sowie des Verhältnisses gesammelter Sprüche und narrativer Anteile muss im Einzelnen offen bleiben. Auch über den Verfasser von Q bzw. den Trägerkreis der in der Logienquelle dokumentierten Überlieferungen lässt sich schwerlich Genaues ausmachen. Als Entstehungsort der Spruchsammlung, deren literarische Einheit sich nicht nachweisen lässt, ist Westsyrien oder Palästina anzunehmen. Offenkundig ist die prophetisch-apokalyptische Ausrichtung des überlieferten Traditionsguts, auch wenn weisheitliche Bestände nicht fehlen. Dass die Spruchüberlieferung authentische Jesusworte enthält, steht außer Zweifel. Ein Überlieferungszusammenhang mit Mk besteht, beweist jedoch keine literarischen Abhängigkeiten. Dass Q inhaltlich weitgehend nach Sachgebieten geordneten Redenstoff bietet und die Passions- und Auferstehungsüberlieferung fehlt, ist aller Wahrscheinlichkeit nach in der Tatsache begründet, dass das gebotene Material unter didaktisch-katechetischen Gesichtspunkten christlicher Gemeindeparänese zusammengestellt wurde. Daraus auf einen Kreis von Jüngern Jesu zu schließen, die auch nach dem Tode des

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Meisters an seiner Verkündigung festhielten, ohne vom Ostergeschehen und der österlichen Botschaft betroffen zu sein, ist historisch in hohem Maße gewagt. Schwerlich kann die Logienquelle als ein Dokument angesehen werden, welches ein Christentum ohne Passions- und Osterkerygma belegt. Ein Problem besonderer Art stellt das Sondergut bei Mt und Lk dar. Was Mt betrifft, so finden sich ungefähr zwei Neuntel seines Stoffes weder bei Mk noch bei Lk. Zur Erklärung dieses Sachverhalts hat man die Hypothese der Benutzung entweder einer erweiterten Quelle oder einer zusätzlichen schriftlichen Quelle vertreten. Beide Annahmen lassen sich nicht verifizieren, so dass es am wahrscheinlichsten ist, dass Mt neben Mk und Q nur mündliche Überlieferungen benutzt hat. Was den namentlich unbekannten Verfasser von Mt betrifft, so handelt es sich um einen Griechisch sprechenden Judenchristen von möglicherweise rabbinisch geschulter Schriftgelehrsamkeit. Als Abfassungsort des Evangeliums lässt sich am ehesten an eine judenchristlich-heidenchristliche Mischgemeinde in griechischsprachiger Umgebung, also in der Diaspora denken. Die Abfassungszeit ist wohl zwischen 80 und 90 n.Chr. anzusetzen. Das lukanische Sondergut gab zum einen zu der sog. Protolukasthese, derzufolge Lk zunächst ein von Mk unabhängiges Evangelium geschaffen und erst nachträglich mit Auszügen aus diesem verbunden habe, zum anderen zu der Annahme einer oder mehrerer Sonderquellen Anlass. Beides lässt sich nicht mit Sicherheit verifizieren, auch wenn mit bereits vorgefundenen mündlichen oder schriftlichen Beständen innerhalb der Sonderüberlieferung zu rechnen ist. Das dritte Evangelium bietet sich anonym dar. Doch lässt sich aus ihm sowie aus der erwiesenermaßen vom gleichen Verfasser stammenden Apostelgeschichte schließen, daß der Autor mangels entsprechender geographischer Kenntnisse nicht aus Palästina stammt, kein Augenzeuge, sondern ein Repräsentant der zweiten Generation war und möglicherweise auch nicht dem Judenchristentum zugehörte, da er weder an der Tora noch am Schriftbeweis sonderlich interessiert ist. Sein mit gelegentlichen Aramaismen bzw. Syriasmen durchsetztes Griechisch ist gut, seine Bildung bemerkenswert, sein Wissen über die Gemeinde von Antiochia am Orontes auffällig und überdurchschnittlich. Dazu würde passen, dass die frühchristliche Tradition Lk und Apg auf einen Antiochener, nämlich den Arzt und Paulusbegleiter Lukas zurückgeführt hat. Ein explizites Zeugnis hierfür findet sich allerdings erst gegen Ende des 2. Jahrhunderts, so dass die Verfasserfrage auch im Falle des Lk offen bleiben muss. Uneinigkeit herrscht von der Lokalisierung außerhalb Palästinas abgesehen auch in Bezug auf den Abfassungsort. Die in erster Linie angesprochenen Adressaten sind griechisch sprechende Heidenchristen, deren Situation durch allerlei Misslichkeiten und Irritationen bestimmt zu sein scheint. Als Abfassungszeit kommen die letzten drei Jahrzehnte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts in Frage. Die geraffte Sichtung der Quellenbestände historisch-kritischer Jesusforschung fördert zwar Jesu Leben in Raum und Zeit einerseits eine Fülle ungeklärter Probleme zu-

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tage, gibt aber andererseits klar zu erkennen, dass sich nicht nur die Historizität Jesu eindeutig belegen, sondern auch der zeitliche und räumliche Rahmen seines irdischen Daseins ungefähr abstecken lässt. Unstrittig ist, dass Jesu öffentliches Wirken in Galiläa begann und in Jerusalem am Kreuz endete. Die Frage der genauen Dauer dieses Wirkens hingegen bleibt offen. Während das Johannesevangelium mit einem über drei (Joh 2,13; 6,14; 11,55) bis vier (5,1) Passafeste währenden Zeitraum rechnet, machen die Synoptiker keine Angaben; es muß mit der Möglichkeit einer wesentlich kürzeren Wirksamkeit von nur einem Jahr oder gar von nur wenigen Monaten gerechnet werden. Wie immer man in chronologischer Hinsicht urteilen mag, fest steht: „Von keiner vergleichbar kurzen Zeitspanne aus dem Leben eines Menschen sind derartige, die Jahrtausende und die Kontinente überspannende Wirkungen ausgegangen, obgleich sich dieses Geschehen in keinem der damaligen Weltzentren, auch nicht in den Kreisen der Führungsschicht des römischen Reiches, sondern in dem weltvergessenen Winkel Galiläa und in dem von der griechisch-römischen Oberschicht so verachteten jüdischen Volk zutrug.“ (Hengel/Schwemer, 346) Über die Anfänge Jesu und die Geschichte seines Lebens vor der Taufe durch Johannes, die den Beginn seines öffentlichen Wirkens markiert, ist historisch nur sehr wenig in Erfahrung zu bringen. Die Geschichten von Jesu Geburt sind weithin legendarisch. Sie enthalten frühchristliche Reflexionen über die Bedeutsamkeit des auferstandenen Gekreuzigten, der in der Kraft des Geistes als österlich offenbarer Sohn Gottes zu bekennen ist. Was bei Mk mit dem Taufgeschehen assoziiert wird, verlagert sich bei Mt und Lk auf das Ereignis der Geburt, um bei Joh als Inkarnation des göttlichen Logos gedeutet zu werden. Offenkundig legendarischer Natur ist namentlich die Überlieferung von der bethlehemitischen Herkunft Jesu, selbst wenn Lk 1 keine ureigene Leistung des Evangelisten darstellen sollte, wie u.a. Adolf von Harnack meinte, sondern auf einer vorlukanischen Quelle beruht. „Wenn die Juden nach Joh 7,42 daran erinnern, der Messias müsse entsprechend der Schrift ‚aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Bethlehem‘ kommen, dann ist damit auch schon die Entstehung der Bethlehemstradition und deren Übernahme durch Matthäus und Lukas erklärt. Es geht um eine schriftgemäße Darstellung der Herkunft und damit der Person Jesu, also nicht um eine historische, sondern eine theologische, eine christologische Aussage mit Hilfe der Schrift.“ (Radl, 365) Auch die Erzählung von Jesu jungfräulicher Empfängnis beinhaltet keinen historischen Bericht, sondern will als kerygmatische Verkündigung der genuinen Gottzugehörigkeit des messianischen Davidssohns verstanden sein (vgl. im Einzelnen Brown). Sind die neutestamentlichen Geschichten von Jesu Geburt in historischer Hinsicht wenig ergiebig, so fehlen Nachrichten über seine innere und äußere Entwicklung bis zu seinem öffentlichen Auftreten nahezu ganz. Zuverlässig ist die durch älteste Tradition belegte Angabe seiner Herkunft aus Nazareth in Galiläa, dem nördlichsten Landesteil Palästinas. Authentizität darf ferner die Überlieferung des Namens Jesu beanspruchen, der auf das hebräische Jehoshua („Gott hilft“) zurück-

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geht und die gräzisierte Form des aramäischen Jeshua darstellt. Wie seine Eltern Josef und Mirjam (lat. Maria), die ihren Lebensunterhalt mit einem Bauhandwerksbetrieb bestritten, sprach Jesus von Hause aus Aramäisch. Dass er Griechisch als die internationale Kultur- und Wirtschaftssprache seiner Zeit zumindest verstehen konnte, ist wahrscheinlich. Als wahrscheinlich darf des Weiteren die Herkunft der Familie aus Judäa gelten; die meisten Juden im damaligen Galiläa waren Zuwanderer. Was die Muttersprache Jesu betrifft, so war das Aramäische „eine der großen Sprachen des zivilisierten Ostens. Seine Blütezeit lag zwischen dem sechsten und dem dritten Jahrhundert v.Chr.; während der Periode, da orientalische Reiche die zivilisierte Welt beherrschten, war es das internationale Medium für Verwaltungs, Kultur- und Handelsbeziehungen vom Euphrat bis zum Nil, sogar in Ländern, in denen es keine einheimische semitische Kultur gab. Es wurde die Sprache der Juden, wann genau, ist nicht bekannt, wahrscheinlich aber während des und nach dem Exil.“ (Black, 15) Obwohl mit dem Aufkommen des Reiches Alexanders des Großen die aramäische Sprache in weiten Teilen der zivilisierten Welt durch die Koiné abgelöst wurde, konnte das Griechische das Aramäische unter den Juden Palästinas und anderwärts nie völlig verdrängen. Es blieb in Wort und Schrift die Sprache des Volkes. Namentlich im Galiläa Jesu, wo die Verbreitung des Griechischen jedenfalls in der Landbe- Galiläer aus Nazareth völkerung nicht allzu hoch war, darf das Aramäische als „the most commonly-spoken language“ (Chancey, Greco-Roman culture, 165) gelten. Jesus-Jeshua (vgl. Dalman) macht hierin keine Ausnahme; auch wenn er Griechisch wahrscheinlich verstand, sprach er doch vorwiegend Aramäisch, genauer: einen galiläischen Dialekt des Westaramäischen. Hinzuzufügen ist, dass neben dem Aramäischen als der Sprache des Volkes und dem Griechischen als der Bildungssprache der „hellenisierten“ Oberklassen im Palästina des ersten Jahrhunderts auch Lateinisch und Hebräisch gesprochen wurde. Latein war die Sprache der Besatzungsmacht und ihrer Armee, Hebräisch die heilige Sprache der jüdischen Schriften, die in den Kreisen religiös gebildeter Juden nicht nur im Rahmen der Schriftgelehrsamkeit und nicht nur als literarisches Medium gebraucht wurde. Dies dürfte auch für Jesus gelten, selbst wenn er seine Unterhaltungen in der Regel im Dialekt des galiläischen Aramäisch geführt haben wird. Über die Form dieses Dialekts und sein Verhältnis zum literarischen Aramäisch Judäas ist nicht zuletzt deshalb schwer zu befinden, weil aus dem ersten Jahrhundert nach Christus kein aramäisches Schrifttum von einigem Umfang erhalten geblieben ist. Nähere Auskünfte über die Familienverhältnisse Jesu von Nazareth in Galiläa und seine berufliche Ausbildung erteilt die historisch gehaltvolle Stelle im 6. Kapitel des Evangeliums nach Markus, in der die Einwohner der Heimatstadt Jesu erstaunt fragen, ob dieser nicht der Zimmermann, besser: der Bauhandwerker und Sohn der Maria und der Bruder von Jakobus, Joses, Judas und Simon sei. „Leben nicht seine Schwestern hier unter uns?“ (Mk 6,3) Was den angegebenen Beruf

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anbelangt, so konnte ein Bauhandwerker mit Holz, Lehm und Stein, gegebenenfalls auch mit Metall umgehen und war demnach Zimmermann, Maurer und Schlosser in einer Person. Sozial gehörte der Bauhandwerkerstand zwar nicht zur Unterschicht der deklassierten Tagelöhner; aber mehr als eine Stellung in der unteren Mittelklasse der damaligen Gesellschaft kam ihm in der Regel nicht zu. Beachtung verdient, mit welcher Selbstverständlichkeit in den ältesten Evangelien von Geschwistern Jesu die Rede ist. Während die Schwestern anonym bleiben, werden vier Brüder namentlich benannt. Bemerkenswert ist ferner die demonstrative Zurückweisung Jesu durch seine Dorfgenossen, von der im unmittelbaren Kontext der zitierten Markusstelle berichtet wird. Man wird davon auszugehen haben, dass Jesus in dieser Situation von seinen Familienangehörigen kaum Unterstützung erhalten hat. Der in allen Evangelien mehr oder minder deutlich angesprochene Konflikt Jesu mit seiner Verwandtschaft hat sich historisch mit hoher Wahrscheinlichkeit zugetragen. Der Herrenbruder Jakobus, der in der Geschichte des frühen Christentums zumindest eine Zeitlang eine „außerordentlich wichtige Rolle“ (Pratscher, 29) gespielt hat, dürfte hierin keine Ausnahme bilden. Zum Jüngerkreis Jesu gehörte Jakobus offenkundig nicht; wie der Rest der Familie wird er seinem Bruder zu dessen Lebzeiten eher distanziert gegenübergestanden haben (vgl. Pratscher, 26f.). Dass es „nur wenige neutestamentliche Texte (gibt), in denen er handelnd auftritt, oder in denen etwas über ihn berichtet wird“, hat aber weniger mit diesem Umstand als mit der Tatsache zu tun, „dass er offensichtlich nicht den Typ von Christentum repräsentierte, der sich in der späteren heidenchristlichen Großkirche durchsetzte“ (Pratscher, 49). Das strenger Toraobservanz verpflichtete Judenchristentum, das er als Leiter der Jerusalemer Gemeinde vertrat, geriet nach geraumer Zeit in eine kirchliche Randposition, obwohl Jakobus nach seinem Tod von allen christlichen Parteien, wenngleich mit unterschiedlicher inhaltlicher Akzentsetzung, „als einer der herausragenden Heiligen und Märtyrer“ (Pratscher, 263) verehrt wurde. Nur nebenbei sei der traditionelle exegetische Streit vermerkt, ob es sich bei den Brüdern und Schwestern Jesu um Kinder Marias und Josefs und um eigentliche Geschwister handelte oder um Vettern und Basen, also um Verwandte entfernteren Grades. Dass im Zusammenhang der Urteilsbildung dogmatische Gesichtspunkte eine nicht unwesentliche Rolle spielen, zeigt die Tatsache, dass evangelische Exegeten fast ausnahmslos für die erste Version, katholische hingegen gelegentlich für die zweite votieren. Während die Lokalisierung der Geburt Jesu im judäischen Bethlehem aller Wahrscheinlichkeit nach sekundär ist, sprechen für die Rückführung des Stammbaums der Familie Jesu auf David einige Indizien, auch wenn die Genealogie bei Lukas konstruiert wirkt. Gehört die davidische Abstammung Jesu möglicherweise zum authentischen Grundbestand seiner Herkunftstradition, so sind, um es zu wiederholen, die Geburts- und Kindheitsgeschichten, wie Matthäus und Lukas sie berichten, in weiten Teilen eindeutig legendarischer Natur. Nicht nur, dass die betreffenden Überlieferungen im ältesten Evangelium nach Markus fehlen und die Erzählungen bei Mt und Lk unvereinbar sind: Auch im Detail spricht vieles gegen

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ihre historische Plausibilität. Von ihrem gesamten Charakter her sind die Texte nicht auf historische Information, sondern auf die Explikation der Bedeutung von Jesu Leben, Sterben und Auferstehen in der österlichen Gemeinde abgestellt. Die Weihnachtsgeschichten haben Ostern zur Voraussetzung und schließen traditionsgeschichtlich an die Osterbotschaft an, um deren Implikationen zu entfalten. Ihre gemeinsame Grundaussage besteht bei allen sonstigen Unterschieden in dem Zeugnis, dass der auferstandene Gekreuzigte identisch ist mit Jesus von Nazareth, der an Ostern als der von Anbeginn mit Gott vereinte Mensch offenbar ist. Dies gilt in Sonderheit für die bereits kurz erwähnten, vergleichsweise spät entstandenen Berichte von der jungfräulichen Geburt, wie sie in differenter Form in Mt 1,18–25 und Lk 1,26–35 überliefert sind und in erkennbarer Spannung stehen zu der über den Stammbaum Josefs begründeten Davidssohnschaft Jesu. Sie basieren nicht auf geschichtlicher Erinnerung, die historisch zu verifizieren oder zu falsifizieren wäre, sondern entfalten den theologischen, christologischen und pneumatologischen Gehalt des Ostergeschehens und dessen rückwirkende, das Leben Jesu insgesamt betreffende und von Beginn an umfassende Bedeutung. „Was kann aus Nazareth schon Gutes kommen?“ (Joh 1,46) Die Weihnachtsgeschichten beantworten diese Frage mit einem österlichen Bekenntnis zur bethlehemitischen Messianität des nazarenischen Davidssohns, welcher die Immanuelverheißung (Jes 7,14) erfüllt hat (Mt 1,22f.) und in welchem Gott ganz bei uns ist. Einen vergleichbaren Skopus haben im Übrigen auch die Geschichten von Taufe und Verklärung Jesu, die bereits bei Markus (Mk 1,9–11; 9,2–20) begegnen und die innige Einheit Jesu mit Gott mit Himmelszungen bezeugen. „Und eine Stimme aus dem Himmel sprach: Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.“ (Mk 1,11; vgl. Gen 22,2; Ps 2,7; Jes 42,1; Mt 3,17). „Und aus der Wolke rief eine Stimme: Das ist mein geliebter Sohn; auf ihn sollt ihr hören.“ (Mk 9,7) Geboren wurde Jesus aller Wahrscheinlichkeit nach nicht exakt zu Beginn der christlichen Zeit- Geburt und Tod rechnung, sondern, wenn man so sagen will, schon einige Jahre vor Christi Geburt und zwar wohl vor dem Frühjahr des Jahres 4 v.Chr. Das ist unter der Voraussetzung der Fall, dass man Mt und Lk folgt, die Jesus übereinstimmend noch zu Lebzeiten Herodes des Großen zur Welt kommen lassen (Mt 2,1ff.; Lk 1,5). Dem steht allerdings die Parallelisierung der Geburt Jesu mit dem Zensus des Quirinius (Mt 2,1f.) entgegen, dessen Statthalterschaft erst 6 n.Chr. begann. Es verbleiben sonach Unsicherheiten, die sich auch durch Heranziehen weiterer Daten der matthäischen Geburtsgeschichte wie dem wegweisenden Stern von Bethlehem oder dem bethlehemitischen Kindermord nicht beheben lassen. Aufs Ganze gesehen spricht eine gewisse Wahrscheinlichkeit für einen Geburtstermin in der Zeit der letzten Regierungsjahre Herodes des Großen. Noch weniger als das Jahr seiner Geburt lassen sich einzelne Taten und Ereignisse im Leben Jesu chronologisch exakt bestimmen. Weder die Zeitangabe in Lk 3,1, mit welcher das Auftreten Johannes des Täufers datiert wird, noch der darauffolgende Hinweis Lk 3,23, wonach Jesus zu Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit etwa

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dreißig Jahre alt gewesen sei, ergeben eindeutige Befunde. Bemerkungen über die bisherige Bauzeit des Tempels im Zusammenhang der Tempelreinigungsgeschichte (Joh 2,20) und andere Indizien legen die Vermutung nahe, der Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu falle in die Zeit zwischen 26 und 29 n.Chr. Gestorben ist Jesus in der Amtszeit des Pontius Pilatus, die bis 36 n.Chr. andauerte. Für den Todestermin in Frage kommt je nach Veranschlagung der Dauer der öffentlichen Wirksamkeit Jesu der Zeitraum von etwa 27 – 34 n.Chr. Zum Zwecke weiterer Eingrenzungen sind Erwägungen zum Todestag Jesu anzustellen. Er fiel nach Angabe aller Evangelisten auf einen Freitag. Im Johannesevangelium handelt es sich dabei um den Rüsttag vor dem Passafest, also den 14. Nisan, bei den Synoptikern hingegen um den ersten Tag des Passafestes, also um den 15. Nisan. Versuche, die differenten Passionschronologien zu harmonisieren, können nicht überzeugen. Auch ist es schwierig, eine historische Entscheidung zu treffen, da die unterschiedlichen Datierungen in beiden Fällen theologisch motiviert sein können. Gemäß der synoptischen Chronologie ist das Letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern als Passahmahl gestaltet, in der johanneischen erscheint der Gekreuzigte als das wahre Passahlamm selbst, welches um unseretwillen dahingeschlachtet wurde. Hält man sich an die Synoptiker, dann kommen als Zeitpunkt des Todes Jesu die Jahre 27 und 34 n.Chr. in Frage, da in ihnen der 15. Nisan jeweils auf einen Freitag fiel. Zur johanneischen Chronologie passen dagegen die kalendarischen Verhältnisse der Jahre 30 und 33. Wie bei der Bestimmung des zeitlichen, so bleiben auch bei der Bestimmung des räumlich-geographischen Rahmens des Lebens Jesu Restunsicherheiten. Die Heimatstadt Jesu war zweifellos Nazareth in Galiläa. Dort wird er wohl auch geboren worden sein, wohingegen die Tradition bethlehemitischer Geburt von messianischen Beweggründen und Motiven der Davidsohnschaft veranlasst sein dürfte. Ein Zentrum des öffentlichen Wirkens Jesu war Kapernaum am Nordufer des Sees Genezareth. An der Grenze zwischen den Territorien des Herodes Antipas und des Philippus gelegen bildete es den Ausgangspunkt für Jesu Wanderungen in Galiläa und Umgebung. Ein genaues Itinerar lässt sich nicht erstellen. Unsicher ist ferner, ob Jesus öfters, wie im Johannesevangelium vorausgesetzt, oder nur einmal, wie bei Markus der Fall, nach Jerusalem reiste. Davon bleibt die Tatsache unberührt, dass die Ortschaften Galiläas (Kapernaum, Magdala, Chorazim, Bethsaida) und gegebenenfalls der näheren Umgebung (Tyros und Sidon, Caesarea Philippi, Dekapolis) den primären Kontext der topographisch erfassbaren Wirksamkeit Jesu darstellen. Zu Jesu Zeiten war Galiläa eine von hellenistischer Kultur umringte jüdische Enklave mit heidnischer Minorität (vgl. im Einzelnen Freyne). Die Landessprache bildete, wie gesagt, ein von dem in Palästina üblichen Aramäisch charakteristisch unterschiedener aramäischer Dialekt. In den beiden großen Städten Sepphoris und Tiberias sprach man auch Griechisch. Spannungen zwischen den hellenistisch geprägten Städten und der jüdischen Landbevölkerung blieben nicht aus. Auch bei Jesus zeigt sich eine Distanz zu den Städten, die für ihn nicht zu existieren scheinen.

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Seine Mission galt den jüdischen Dorfbewohnern in und um Galiläa, die ihre Identität gegenüber der hellenistischen Stadtkultur zu wahren suchten. Konflikte zwischen Armen und Reichen, Herrschern und Beherrschten gehören in diesen Zusammenhang. Die Anhänger Jesu waren neben Fischern und Handwerkern vor allem Kleinbauern, die nicht selten von städtischen Großgrundbesitzern in ökonomischer Abhängigkeit gehalten wurden. Die eng mit dem Stadt-Land-Gefälle verbundenen ökonomischen Spannungen waren von mancherlei politischen Pressionen überlagert, auch wenn die lange Regierungszeit des Antipas auf verhältnismäßig friedliche Verhältnisse und eine vergleichsweise stabile Lage schließen läßt. Trotz räumlicher Trennung von Jerusalem wurde in Galiläa eine intensive Tempelfrömmigkeit gepflegt. Auch im Übrigen wusste man sich in der jüdischen Landbevölkerung ungeachtet der peripheren Lage mit dem Kultzentrum verbunden. Die Tora wurde selbstverständlich geachtet, wenngleich die Gestalten ihrer Auslegung im Einzelnen unbekannt sind. Selbstverständlich war auch das Bemühen um ethnische Sonderung von den heidnischen Bevölkerungsteilen und das Bewusstsein, Einwohner des von Gott gegebenen Gelobten Landes zu sein. Im Jahre seines Todes zog Jesus mit seinen Jüngern unter Umgehung nichtjüdischen Landes über Peräa nach Jerusalem. Dort und in umgebenden Ortschaften wie Bethphage und Bethanien verbrachte er die letzte Zeit seines Lebens. Gekreuzigt wurde Jesus auf der außerhalb der Stadtmauern gelegenen Hinrichtungsstätte Golgatha, in deren Nähe er auch begraben wurde.

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Jesu Existenz in Raum und Zeit ist historisch gewiss und unzweifelhaft bezeugt, so schwierig es Galiläische Provinz im Einzelnen ist, die Rahmendaten seines irdischen Dasein genau zu erfassen. Verhältnismäßig eindeutig identifizieren lässt sich der räumliche Rahmen seines Wirkens. Jesus war Galiläer, und in Galiläa lag der Ausgangs- und Mittelpunkt der jesuanischen Mission. Ihr geographisches Zentrum befand sich nach übereinstimmendem Zeugnis aller vier Evangelien am Nordwestufer des Sees Genezareth, näherhin in Kapernaum. Galiläa war durch Samarien vom jüdischen Kernland separiert und in religiöser Hinsicht in einer eher randständigen Stellung. Das gilt umso mehr für das bedeutungslose Nazareth, Jesu Heimatdorf, das im Alten Testament kein einziges Mal erwähnt wird. Auch unter sozialen Gesichtspunkten gehört der Nazarener keineswegs der Führungsschicht an. Er ist Kind kleiner Leute und mit keiner Voraussetzung versehen, die auf seine unvergleichliche Wirkungsgeschichte schließen ließe. Aufgewachsen ist Jesus in einer weitgehend jüdisch geprägten untergaliläischen Umwelt, die religiös auf Jerusalem und den Jerusalemer Tempel ausgerichtet war, zu dem häufige Wallfahrten stattfanden. Im Unterschied zur angestammten Landbevölkerung lebte die an Lebensstandard erheblich überlegene hellenistisch-heidnische Oberschicht überwiegend in den Hauptstädten Sepphoris und Tiberias. Ethnisch-kulturell heterogen gestaltete sich das Leben in mittleren Ansiedlungen wie Bethsaida und Kapernaum, die von einer jüdisch-heidnischen Mischbevölkerung bewohnt waren. Antipas, von dessen Herrschaft Galiläa zur Zeit Jesu bestimmt war, respektierte zwar im Prinzip die jüdischen Herkunftstraditionen der Region, verfolgte aber nicht selten eine Politik, die mit den Vorstellungen des erwählten Volkes und dem Land, das Gott ihm verheißen und verliehen hatte, ebensowenig vereinbar war wie mit den Vorschriften der Tora. Dies führte zu Spannungen, die durch das soziale Gefälle zwischen Landbevölkerung und Stadtgesellschaft gesteigert wurden. Im Horizont des Imperium Romanum betrachtet, ist die Lage Untergaliläas wie diejenige Galiläas insgesamt peripher, seine Geschichte von lediglich provinzieller Bedeutung. Selbst unter dem Aspekt jüdischer Messiaserwartungen geurteilt muss das galiläische Land als randständig gelten (vgl. Freyne, 176ff.). Kann man sonach sagen, dass Galiläa zu religionsgeschichtlicher Weltbedeutung überhaupt erst

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durch Jesus gelangt ist, so gilt doch umgekehrt auch, dass seine Verkündigung und sein Wirken nur auf dem Hintergrund von Geschichte und Gegenwart des Landes, aus dem er stammte, historisch recht verstanden werden kann. Drei Faktoren lassen sich vor allem benennen: „erstens hat sein Land seine eigene Geschichte innerhalb des gesamten palästinischen Judentums mit einem eigenen Traditionsverständnis, zweitens sieht Jesus sich einer im Zuge der Urbanisiserung mehr und mehr entwurzelten Landbevölkerung gegenüber, und drittens ist die einflussreiche Präsenz von Heiden nicht wegzudenken.“ (Hoppe, 51) Wenngleich „The myth of a gentile Galilee“ (M. A. Chancey) abgewiesen und die Frage offen bleiben muss, ob mit einem Aufenthalt Jesu im überwiegend von Heiden bewohnten Umland Galiläas zu rechnen ist, hat es Kontakte Jesu zu Heiden zweifellos gegeben. Dies ändert indes nichts an der Tatsache, dass die Erneuerung Israels Ziel seiner Sendung war und die überwiegende Mehrzahl der Adressaten seiner Botschaft aus Juden bestand. Steht ihr räumlicher Rahmen trotz Fehlen eines genauen Itinerars und ungeachtet der offenen Frage, mit wie vielen Reisen nach Jerusalem zu rechnen ist, ziemlich fest, so lässt sich die Zeit der öffentlichen Wirksamkeit Jesu nicht mehr exakt bestimmen. Klar ist immerhin, dass die Begegnung mit dem Täufer eine Zäsur darstellt; mit seiner Jordantaufe beginnt die Geschichte des öffentlichen Wirkens Jesu. Ein entscheidender Impuls für die jesuanische Sendung geht eindeutig von Johannes aus. An ihn ist daher besonders gewiesen, wer über die äußeren Gegebenheiten hinaus der inneren Beweggründe der Existenz Jesu ansichtig werden möchte. Doch seien zuvor die allgemeinen politisch-soziokulturellen Kontexte des Lebens Jesu noch etwas genauer ins Auge gefasst. Es gehört zur Historizität Jesu, nicht einer allein, Imperium Romanum sondern einer unter vielen in einer gemeinsamen Lebenswelt zu sein, der seine Individualität zugehört. Diese Zugehörigkeit impliziert zusammen mit geographischen und chronologischen Bezügen solche politisch-soziokultureller Art. Der weitere gesellschaftliche Kontext des Lebens Jesu ist bestimmt durch die hellenistisch-römische Umwelt, der engere durch das zeitgenössische Judentum, das mit dem Hellenismus durch Abgrenzung und Angleichung vielfach verbunden war. Johannes der Täufer und sein Kreis werden dafür ein Beispiel geben. In globaler Perspektive betrachtet waren die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der irdischen Erscheinung Jesu geprägt durch die Verhältnisse im damaligen Imperium Romanum, das im ersten Jahrhundert v.Chr. den gesamten östlichen Mittelmeerraum einschließlich Palästinas seiner Herrschaft unterworfen hatte. Unter dem starken Regiment Octavians, dessen überragende Stellung sein erhabener Beiname unterstreicht, erblühte das römische Reich, und äußerer Friede kehrte ein in den meisten seiner Regionen. Als Augustus im Jahre 14 n.Chr. starb, wurde die Einrichtung des Prinzipats beibehalten; sein Adoptivsohn Tiberius konnte in weithin geordneten Verhältnissen die Herrschaft antreten, die er bis 37 n.Chr. innehatte. „Unter seiner Regierung wurde Pontius Pilatus als Prokurator in Judäa

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und Samaria eingesetzt (26 – 36 n.Chr.), trat Johannes der Täufer in Palästina auf (vgl. Lk 3,1) und wirkte Jesus von Nazareth im Lande, bis er in Jerusalem von den Juden dem Statthalter übergeben, zum Tode verurteilt und durch die schimpfliche Strafe der Kreuzigung hingerichtet wurde.“ (Lohse, 149f.) Auf Tiberius folgten Caligula und Claudius, bis mit dem Tode Kaiser Neros 68 n.Chr. die julisch-claudische Dynastie nach einigen Wirren in diejenige der Flavier Vespasian, Titus und Domitian überging. Die kultische Verehrung des jeweiligen Herrschers nahm dabei zunehmend gesteigerte Formen an. In Judäa wurde der Kaiserkult nicht erst in der Zeit direkter römischer Herrschaft, sondern bereits seit Herodes d. Gr. mit großem Aufwand betrieben, obwohl er „im Gegensatz zu elementaren Grundsätzen der Tora stand und sein Vorhandensein im Lande Israels diverse Spannungen erzeugen musste“ (Bernett, 15). Suchte Herodes den jüdischen, an die Tora gebundenen Kult vom paganen noch regional zu trennen, wurde dieses Konzept hinfällig, nachdem die Römer selbst die Herrschaft über weite Gebiete des alten herodianischen Reiches übernommen hatten. Von den frommen Juden wurde der Kaiserkult ebenso als Götzendienst gebrandmarkt wie von den späteren Christen. Jesus selbst machte darin sicher keine Ausnahme, auch wenn es problematisch ist, eine Nähe seiner Person und seiner Anhängerschaft zu galiläischen Freiheitsbewegungen anzunehmen und zu behaupten: „a bond of common sympathy surely united Jesus and his followers with those who sought to maintain the ideals of Judas of Galilee“ (Brandon, 358). Die Sendung Jesu hat mit dem aus Apg 5,37 und Josephus bekannten Galiläer Judas kaum etwas gemein, der 6 oder 7 n.Chr. einen Aufstand gegen die Römer unternahm und zu einem der Hauptinitiatoren der zelotischen Partei wurde. Indirekte Bezüge von Jesu Leben und Todesgeschick zur römischen Staatsideologie und dem Widerstand gegen sie sind gleichwohl nicht in Abrede zu stellen: „Evidence and logic strongly suggest that Jesus’ death at the hands of the Roman authorities in Judea was the result of his teaching and activities. The inscription, ‘the king of the Jews,’ provides a firm link between Jesus’ death and his proclamation of the kingdom of God. Furthermore, this inscription provides an important link between Jesus’ ministry and the subsequent emergence of New Testament christology, in that while the Romans would have referred to Jesus as ‘king of the Jews’, early Christians would have applied to him the more theologically charged title, ‘messiah.’ To be sure, Mark has interpreted many aspects of Jesus’ ministry in the light of the passion and the Easter proclamation, but the basic link between Jesus’ Galilean life and his Judean death cannot be reduced to nothing more than a narrative strategy.“ (Evans, 318) Religiös und kulturell war das kosmopolitische Gemeinwesen des römischen Reiches entschei- Griechisches Erbe dend durch das griechische Erbe bestimmt. Sowohl im Osten als weithin auch im Westen diente die sog. Koiné, eine Fortentwicklung des Attischen, als allgemeines Verständigungsmittel. Wie in Rom wurde auch in Palästina verbreitet Griechisch gesprochen. Zumindest für die gebildete Ober-

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schicht trifft zu, „that the Greek language was used by many of the inhabitants“ (Safrai, 225). In geringerem Umfang gilt dies auch vom Lateinischen. Die Tendenzen kultureller Homogenisierung im römischen Reich wurden durch eine effektive Administration und durch das Erziehungswesen gefördert. Der Geist von Religion und Wissenschaft war in weiten Teilen zumindest der Führungsschicht hellenistisch. Die römischen Götter wurden mit den entsprechenden griechischen gleichgesetzt, die Namen von Zeus und Jupiter, Juno und Hera etc. synonym verwendet. Neben dem amtlichen Kult der alten Götter beherrschten Vorstellungen von Schicksalsmächten und Wundertätern die Volksfrömmigkeit. Eine besondere Bedeutung kommt den orientalischen Mysterienkulten zu, die sich in hellenistischer Zeit im ganzen Mittelmeerraum ausbreiteten: genannt seien die Kulte von Isis und Osiris, des Adonis, von Attis und Kybele sowie der Mithraskult. Unter den philosophisch Gebildeten wurde neben den Epikureern und anderen Philosphenschulen vor allem die stoische Bewegung einflussreich, die namentlich durch ihre Logoslehre intensiv auf das werdende Christentum und seine Christologie einwirkte. Religiös bahnt sich im Umkreis der Philosophenschulen eine fortschreitende Tendenz zum Monotheismus an, der von den Gebildeten gegenüber der überkommenen Vielgötterei als gedanklich überlegen empfunden wurde. Ein Problem der besonderen Art stellt das Phänomen der sog. Gnosis dar. Unklar ist, ob bzw. inwieweit mit einer vorchristlichen Gnosis überhaupt zu rechnen ist, wie die religionsgeschichtliche Schule und in ihrer Nachfolge Bultmann und einige seiner Schüler dies vermutet hatten. Im Sinne entwickelter gnostischer Systeme, welche erst um die Mitte des 2. Jhd. n.Chr. bei Basilides und Valentin zu finden sind, ist das sicher nicht der Fall. Ein Gnostizismus in der Gestalt vollständiger Systeme ist selbst im letzten Viertel des 1. Jahrhunderts n.Chr. noch nicht anzutreffen geschweige denn in dessen früheren Jahrzehnten. Entsprechend schwierig ist es, mögliche gnostische Einflüsse auf das Neue Testament präzise zu identifizieren. Zwar wurde vom Neuen Testament unzweifelhaft gnostischer Gebrauch gemacht; doch erhellt daraus nicht, ob bzw. in welcher Weise die Gnosis ihrerseits neutestamentlich wirksam wurde. Am wahrscheinlichsten dürfte die Annahme sein, „daß die Bewegung der Gnosis in der neutestamentlichen Zeit wuchs und sich entwickelte, Seite an Seite mit dem Christentum und in gewissem Maß im Austausch mit ihm“ (Wilson, 536). In seiner eigentümlichen Gestalt, die sich für die urchristliche Zeit allenfalls in Ansätzen und andeutungsweise erkennen lässt, ist der Gnostizismus durch einen radikalen Dualismus, durch die Ablehnung des Schöpfergottes als Demiurgen, durch die Vorstellung eines im Leib der Materie eingeschlossenen Seelenfunkens, durch den Mythos vom vorgeschichtlichen Fall sowie durch die Vorstellung einer durch Gnosis vermittelten Erlösung bestimmt. Für den gnostischen Erlöser ist seine göttliche Herkunft und seine nur scheinbare, doketische Annahme leibhafter Gestalt charakteristisch: Weder leidet er wirklich, noch hat der Tod für ihn tatsächliche Realität. Eine strukturelle Verwandtschaft des Gnostizismus mit älteren Denksystemen wie dem Stoizismus und namentlich mit dem Platonismus ist trotz

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überwuchernder Ornamentik offenkundig. Im Übrigen wird man die Komplexität des hellenistischen Synkretismus in Rechnung stellen müssen, der monokausale Erklärungen unmöglich macht. Auch mit Beziehungen zur Tradition jüdischer Apokalyptik und Weisheit sowie zur Hekkalot-Mystik ist zu rechnen. Doch kann selbst ein Mann wie Philo von Alexandrien, dessen sophia-Spekulationen der Gnosis so nahe zu stehen scheinen, im Ernst nicht als Gnostiker gelten. Auch für das werdende Christentum und sein Verständnis von Jesus als dem Christus darf der konstruktive Einfluss der Gnosis nicht derart überschätzt werden, wie das in der religionsgeschichtlichen Schule und in ihrer Theorie vom Erlösermythos der Fall war (vgl. Colpe). Gegen eine Gnostisierung des Christentums stand von Anfang an und in mehrfacher Hinsicht das Insistieren auf Jesu wahrem Menschsein und die nicht zuletzt durch die jüdische Tradition bedingte Reserve gegen alle Versuche, die conditio humana voreilig zu verabschieden. „So wie Jesus Christus ohne Einschränkung Mensch wurde und das zeitlich-irdische Dasein gemäß dessen eigener Seinsart vollzog, ohne Vorbehalt etwa ihm verfügbarer göttlicher, die Endlichkeit aufhebender Seinsweisen, und wie er die Verbindung mit dem Vater und der himmlischen Heimat in einem eschatologisch bestimmten Wie des Seins lebte, nicht als Was antezipierte, – so soll auch der Christ die durch ihn geschaffene Möglichkeit menschlichen Vorläufigseins in den Modi des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe jeweilig leben und gerade darauf verzichten, schon hier das eschaton zu hypostasieren, sein Menschsein also zu überspringen. Das ist neben dem Sühne- und Versöhnungsgedanken der Sinn dessen, dass Gott wirklich Mensch mit einem zeitlichen Dasein – und dadurch Typos einer jenseitig bestimmten und doch zeitlichen Seinsweise wurde. Nur so konnte er auch Gegenstand möglicher ‚Nachfolge‘ werden.“ (Jonas II, 48f.) Dass man bei Jesus selbst gnostisches Gedankengut vergeblich sucht, bedarf keiner Betonung. Seine geistige Heimat ist nicht die Welt des hellenistischen Synkretismus, sondern der gesonderte Raum des palästinischen Judentums galiläischer Prägung. Durch dessen Religions- und Soziokultur ist der engere Kontext des Lebens Jesu bezeichnet. Die Auffassungen der historischen Gestalt Jesu unterliegen in der Forschung, wie mehrfach er- Palästinisches Judentum wähnt, erheblichen Schwankungen. Jesus wird als unapokalyptischer Weisheitslehrer oder eschatologischer Prophet, als Magier oder politischer Revolutionär, als charismatischer Prediger oder gelehrter Rabbi, als Essener oder Hillelit etc. zur Darstellung gebracht. Sehr unterschiedlich fallen entsprechend die Urteile über sein Verhältnis zu jüdischen Gruppenbildungen seiner Zeit aus. Umstritten ist erstens die Frage, welcher Gruppe Jesu Gegner angehörten, und zweitens, mit welcher Religionspartei sich Jesu Verkündigung ihrer Form und ihrem Inhalt nach am stärksten berührte. „Die auf die zweite Frage gegebene übliche jüdische Antwort lautet: mit den Pharisäern. Aber es fehlt auch nicht an Stimmen – vor allem im nichtjüdischen Bereich –, die Jesus als Essener oder als Zeloten verstehen wollen, während die These, Jesus wäre ein Sadduzäer gewesen, bisher kaum vertreten wurde.“ (Baumbach, 9)

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Wie auch immer: Ein Christ war Jesus jedenfalls nicht – auch wenn er, wie von jüdischer Seite nicht selten moniert, von Christen zu einem solchen erklärt wurde. „Jesus war kein Christ, sondern ein Jude.“ (Wellhausen, 113) Daran gibt es, unnötig dies zu betonen, keinen historisch begründeten Zweifel. Ebensowenig zweifelhaft ist Jesu Zugehörigkeit zum Judentum Palästinas. Zwar lassen sich palästinisches und hellenistisches Judentum zur Zeit Jesu ebensowenig voneinander trennen wie die jüdische (vgl. Lohse, 7ff.) und die hellenistisch-römische (vgl. Lohse, 145ff.) Umwelt des Neuen Testaments. Dennoch weisen die politischen, ökonomischen und soziokulturellen Verhältnisse Palästinas in jesuanischer Zeit eine spezifische Kontur auf (vgl. Kippenberg/Wewers [Hg.] sowie Stambaugh/ Balch), und namentlich das galiläische Judentum, aus dem Jesus stammt, zeigt im Vergleich zum Selbstverständnis der jüdischen Diaspora in der hellenistisch-römischen Zeit (vgl. van Unnik) auch in religiöser Hinsicht erkennbare Eigentümlichkeiten. „Jesus’ Galilee“ (vgl. Sanders) gebührt daher im Rahmen einer Untersuchung der geschichtlichen Kontexte seines Lebens besondere Aufmerksamkeit. So strittig sonstige Urteile über Jesus ausfallen mögen, als galiläischer Jude wird er durch Herkunft sowie dadurch erwiesen, dass er einen Großteil der Zeit seines öffentlichen Wirkens in der Gegend um den See Gennezareth zugebracht hat. Um die Implikationen und Hintergründe dieses Sachverhalts erheben zu können, müssen die politische Situation vor Ort in ihrer geschichtlichen Entwicklung und die religiösen Verhältnisse in ihr zumindest in Grundzügen in Betracht gezogen werden. Das Geschichtswerk von Flavius Josephus bietet dafür wichtige Anhaltspunkte. Die Geschichte des Judentums beginnt mit dem babylonischen Exil. Zwar war es den Deportierten von damals naturgemäß unmöglich, den Jerusalemer Tempelkult fortzusetzen; doch wurde durch Pflege der Tora und namentlich des Sabbatgebots sowie durch das rituelle Zeichen der Beschneidung die religiöse Identität des Volkes Israel und das Bewusstsein seiner Erwählung erhalten und intensiviert. Politisch indes verblieben das Judentum und Palästina auch nach Ende der assyrischen Ägide unter der Oberherrschaft diverser Großmächte, die ihrem Einfluss über die Jahrhunderte hinweg mehr oder minder gewaltsame Geltung verschafften. Auf die persische folgte die Herrschaft Alexanders des Großen und Ägyptens, bis schließlich die syrischen Seleukiden die Macht übernahmen und durch ihre aggressive Hellenisierungspolitik den makkabäischen Freiheitskampf provozierten, in dessen Folge das jüdische Gemeinwesen erneut weitgehende Selbständigkeit erlangte. Auf Simon, dem 140 v.Chr. das Amt des Feldherrn sowie des weltlichen und geistlichen Oberhaupts der Juden erblich bestätigt wurde, folgten in der hasmonäischen Dynastie Johannes Hyrkan, Aristobul, Alexander Jannäus und Salome Alexandra. In den Thronstreitigkeiten nach ihrem Tod im Jahre 67 v.Chr. und im Vormarsch der römischen Legionen unter Pompeius kündigte sich das baldige Ende des Königtums der Hasmonäer an. Die Neuordnung der Verhältnisse in Palästina ergab folgende Lage: „Die Städte im Küstenbereich wurden selbständig;

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die hellenistischen Städte des Ostjordanlandes, die unter den Hasmonäern unterworfen worden waren, wurden zu einem freien Städtebund zusammengeschlossen, der von Damaskus im Norden bis Philadelphia (dem heutigen Amman) im Süden reichte. Dieser Bund der sogenannten Dekapolis – d.h. der zehn Städte – hat lange Zeit bestanden und wird auch im Neuen Testament verschiedentlich erwähnt (Mk 5,20; 7,31; Mt 4,25). Auch Samaria wurde die Selbständigkeit gegeben, so dass dem Hohenpriester nur das Gebiet unterstellt blieb, das unmittelbar zur Jerusalemer Kultgemeinde gehörte, Judäa, das Binnenland von Galiläa und Peräa im Ostjordanland. Der römische Provinzstatthalter in Syrien, Gabinius, hat dann im Jahr 57 v.Chr. Palästina in fünf Verwaltungsbezirke eingeteilt, die unmittelbar dem Provinzstatthalter unterstehen sollten. Judäa wurde in die Bezirke Jerusalem, Gazara und Jericho gegliedert, Galiläa wurde zum Bezirk Sepphoris, Peräa zum Bezirk Amanthus bestimmt. Diese Ordnung war wohl durchdacht und hätte eine friedliche Entwicklung ermöglichen können, wenn nicht die im Inneren des Landes fortschwelende Unruhe und von außen kommende Stöße neue schwere Erschütterungen gebracht hätten.“ (Lohse, 22) Nach dem Tod des Pompeius 48 v.Chr., der Ermordung Caesars vier Jahre danach und der wenig später folgenden Niederlage der Caesarmörder bei Philippi endete mit der Hinrichtung des Antigonus, der mit Hilfe der in Palästina eingefallenen Parther von 40–37 v.Chr. als Hoherpriester und König der Juden regierte, der letzte Versuch einer Fortsetzung hasmonäischer Herrschaft. Herodes der Große, durch seine Ehe mit Mariamne der Familie der Hasmonäer verbunden, erwies sich als Nutznießer dieser Entwicklung. Er hatte während des Regimes von Antigonus in Rom das Vertrauen von Antonius und Octavian gewonnen und mit der Einnahme Jerusalems sein Königtum etablieren können, das er über dreißig Jahre lang bis 4 v.Chr. innehaben sollte. Wahrscheinlich gegen Ende der Regierungszeit des Herodes wurden Johannes der Täufer und Jesus von Nazareth geboren. Nach dem Tod des Herodes teilten die Söhne Archelaus, Herodes Antipas und Philippus sein Reich unter sich. Archelaus wurde Ethnarch von Judäa, Samaria und Idumäa, Antipas erhielt Galiläa und Peräa, Philippus das ostjordanische Gebiet im Norden des Reiches. Mit der 6 n.Chr. erfolgten Amtsenthebung von Archelaus wurde sein Gebiet einem in Caesarea am Meer residierenden römischen Statthalter unterstellt, der aus Steuererhebungsgründen eine allgemeine Bevölkerungsschätzung in der neuen Provinz anordnete und damit verbreiteten Unmut erzeugte. Neben der administrativen Zentralgewalt dürfte auch die oberste Gerichtsbarkeit einschließlich des Rechts, ein Todesurteil zu verhängen und zu vollstrecken, allein in der Hand des römischen Statthalters gelegen haben. Die Kompetenz des Synedriums beschränkte sich hingegen aller Wahrscheinlichkeit nach darauf, die Angelegenheit der Jerusalemer Kultgemeinde zu ordnen. Von 26 bis 36 n.Chr. amtierte Pontius Pilatus als römischer Prokurator. Unter ihm wurde Jesus gekreuzigt. Standen Samaria, Judäa und Idumäa zur Zeit Jesu unter direkter römischer Herrschaft, so wurden Galiläa und das nördliche Ostjordanland von jüdischen

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Fürsten regiert. Der galiläische Landesherr Jesu, der von 4 v.Chr. bis zu seiner Verbannung 39 n.Chr. herrschte, war Herodes Antipas („a minor ruler with a moderate impact“ [Jensen, 254]). Er residierte in dem nach Kaiser Tiberius genannten Tiberias am See Genezareth und ließ auf Geheiß seiner zweiten Frau Herodias Johannes den Täufer enthaupten. Herr des nördlichen Ostjordanlands jenseits des Sees Genezareth war Philippus, dessen Name seine neu erbaute Residenzstadt Caesarea Philippi trug. Er regierte bis zu seinem Tod 34 n.Chr. Die Herrschaft des Herodes Agrippa, eines Enkel des Königs Herodes, der noch einmal für kurze Zeit das ganze Reich seines Großvaters unter seinem Zepter vereinigen sollte, gehört bereits nicht mehr zu den irdischen Lebzeiten Jesu. Sie bleibt daher im gegebenen Zusammenhang ebenso unberücksichtigt wie die weitere politische Entwicklung bis hin zur Katastrophe des jüdischen Kriegs und zur Zerstörung des zweiten Tempels unter Titus im Jahre 70 n.Chr. sowie zum Fall Masadas als der letzten Widerstandsbastion wenige Jahre später. Nachdem in den Jahren 132–135 n.Chr. ein weiterer Aufstandsversuch des palästinischen Judentums unter Bar Kochba gescheitert war, vollzog sich die jüdische Geschichte über die Jahrhunderte hin nahezu ausschließlich in der Diaspora, in der indes bereits zur Zeit Jesu weitaus mehr Juden lebten als im Lande Israel. Die Schätzungen gehen dahin, dass einer halben oder einer dreiviertel Million jüdischer Einwohner in Palästina knapp vier Millionen in der Diaspora Babylons, Syriens, Ägyptens, Italiens oder anderer Gebieten gegenüberstanden. Insgesamt betrug der Anteil des Judentums ca. 7% der Gesamtbevölkerung im römischen Reich. Das religiöse und geistige Leben in der jüdischen Diaspora war wesentlich durch Beziehungen zur hellenistischen Welt bestimmt, die sich im Ausland noch weitaus intensiver gestalteten als im Stammland der Väter. Die hebräische und aramäische Sprache verloren in der Diaspora fortschreitend an Bedeutung zugunsten des Griechischen, mit dessen Dominanz auch der griechische Geist Einzug in jüdisches Denken hielt. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist das Werk des um 25 v.Chr. geborenen jüdischen Gelehrten Philo von Alexandrien, der durch allegorische Auslegung das Gesetz Israels mit dem Erbe der griechischen Philosophie zu verbinden suchte und analog zur Stoa durch seine Logosvorstellung intensiven Einfluss auch auf die Selbstverständigung des werdenden Christentums nahm. Noch bedeutsamer für das hellenistische Judentum wurde die sog. Septuaginta, die etwa in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts erfolgte griechische Übersetzung der hebräischen Bibel. Da die Grenze des Kanons damals noch nicht definitiv war, enthält die Septuaginta einige Schriften, die in den hebräischen Kanon nicht aufgenommen wurden. Einen Grund hierfür bietet die Tatsache, dass sich die neutestamentlichen Autoren fast durchweg an der Septuaginta orientierten, was mit fortschreitender Distanzierung des Christentums die Abstandnahme des Judentums von dieser Übersetzung zur Folge hatte. Trotz seiner Herkunft aus dem palästinischen Judentum ist auch der Geschichtsschreiber Joseph ben Mathitjahu, genannt Josephus Flavius, der jüdischen Herodes Antipas

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Diaspora zuzurechnen. Unter den jüdischen Historiographen der römischen Kaiserzeit darf er als der bekannteste und mit Abstand wichtigste gelten. Eine „Bibliographie zu Flavius Josephus“ hat H. Schreckenberg als Einleitungsbeitrag einer Reihe von „Arbeiten zur Literatur und Geschichte des hellenistischen Judentums“ (Leiden 1968ff.) erstellt. Das Schrifttum des Josephus ist für eine genauere Kenntnis nicht zuletzt der religiös-soziokulturellen Umwelt Jesu unverzichtbar. Um es angemessen auszuwerten, darf indes sein zum Teil tendenziöser Charakter nicht übersehen werden. „Flavius Josephus is generally described as a Jewish historian, which he most certainly was, occasionally as a Greek historian because of the language in which his works have reached us, but never as a Roman historian. Yet it is in Rome that Josephus, a Roman citizen since the year 69, spent a least half of his life; it is in Rome that he wrote his entire works; and the shadow of Rome hovers over most of the period he describes.“ (Parente/Sievers [Ed.], 99) Auch wenn Josephus einen stringenten Beweis seiner hasmonäischen Abstammung schuldig blieb, darf seine Herkunft aus einem angesehenen und reichen Jerusalemer Priestergeschlecht als gesichert gelten. Im ersten Regierungsjahr des Claudius, also 37/38 n.Chr. geboren, kam er im Jahr 64 erstmals nach Rom, um von Nero erfolgreich die Freilassung gefangener jüdischer Priester zu erwirken. Ungeachtet der Sympathien, die ihm am Tiber nicht zuletzt von der Kaisergemahlin Poppaea Sabina entgegengebracht wurden, sah ihn der Aufstand der Juden gegen Rom aufseiten seiner Landsleute und Religionsgenossen, denen er ab 66 n.Chr. als Gouverneur und Militärbefehlshaber in Galiläa zu dienen suchte. Doch der erwünschte Erfolg blieb aus. Josephus zog die römische Gefangenschaft dem Tod in der Schlacht bzw. dem kollektiven Selbstmord vor, den viele seiner unterlegenen Soldaten begingen. Nach seiner Freilassung durch Vespasian, dem er die Kaiserkrone vorhergesagt hatte, erlebte Josephus, der zu Ehren seines Gönners den Beinamen Flavius annahm, den weiteren Verlauf des jüdischen Kriegs auf römischer Seite. Zur Zeit der Eroberung Jerusalems hielt er sich im Lager des Titus auf, dem er nach Rom folgte, wo er im Besitz des römischen Bürgerrechts bis zu seinem Tod kurz nach der Jahrhundertwende als Klient der flavischen Dynastie und freier Schriftsteller lebte. Während die „Antiquitates Judaicae“ des Josephus Flavius die Geschichte der Juden von der Urzeit bis auf die Zeit Neros wiedergeben, behandelt das Werk „De bello Iudaico“ die Zeitspanne von Antiochus IV. Epiphanes bis zum Fall der Festung Massada und dem Triumph der Flavier. Die Originalversion ist auf Aramäisch geschrieben und später nicht ohne fremde Hilfe ins Griechische übersetzt worden, um den hellenistisch gebildeten Nichtjuden ein Verständnis der Geschichte des jüdischen Krieges und des religionskulturellen Profils des Judentums zu ermöglichen. Trotz seines auch aus Opportunitätsgründen naheliegenden Strebens, die Bedeutung Roms als imperiales Zentrum und Schutzmacht der Völker gebührend herauszustellen, will Josephus sein Bekenntnis zum Judentum nicht verschweigen, sondern mit Gründen einsichtig und dem hellenistisch geprägten Zeitgeist verständlich machen. „Soviel auch Josephus an seinem guten Verhältnis zu den Rö-

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mern lag, hat er die Ziele jüdischer Apologetik doch nie aus dem Auge verloren.“ (Lesky, 901) Im achten Kapitel des zweiten Buches seines Werkes über den Jüdischen Krieg (vgl. Lindner) hat Josephus seinem hellenistischen Publikum die religiösen Verhältnisse in seiner Heimat nach dem Vorbild griechischer Philosophenschulen verständlich zu machen versucht. Es gibt, wie es heißt, bei den Judäern drei Arten von philosophischen Schulen: die eine bilden die Pharisäer, die andere die Sadduzäer, die dritte, die nach besonders strengen Regeln lebt, die sog. Essener. Es folgt eine detaillierte Charakteristik namentlich der Essener, die trotz ihrer adressatenspezifischen Färbung inhaltsreiche historische Informationen enthält. Auch zu den Sadduzäern und vor allem zu den Pharisäern gibt das Werk des Josephus neben neutestamentlichen und rabbinischen Überlieferungen wichtige Hinweise: „… unlike the authors of the other sources, he unquestionably had direct, intimate contact with Pharisianism before 70. His portrayals of the Pherisees, therefore, are of paramount importance.“ (Mason, 17) Obwohl sie erst seit der Mitte des 2. Jahrhunderts Jüdische Religionsparteien v.Chr. historisch identifizierbar belegt sind, hanach Josephus ben die jüdischen Religionsparteien eine längere Vorgeschichte. Während die Partei der Sadduzäer zumindest in ihrer Führungsschicht aus altem hohepriesterlich-zadokidischen Adel stammt, leiten sich die Pharisäer und Essener von den apokalyptischen Chassidim der Makkabäerzeit her. Die Sadduzäer betrieben sowohl unter den Hasmonäern als auch unter den Römern eine auf Assimilation bedachte, national orientierte und auf die palästinischen Stammlande konzentrierte Politik. Dagegen hielten die Pharisäer in der Regel Distanz zur Macht und berücksichtigten stärker die Gegebenheiten der jüdischen Diaspora. Die Identität des Judentums basiert ihrem Selbstverständnis gemäß primär auf der Tora, die sie als das entscheidende Zeichen der Erwählung Israels deuteten. Eine radikalere Fortsetzung fand die apokalpytische Frömmigkeitsbewegung des makkabäerzeitlichen Chassidismus bei den Essenern. Über ihre Gebräuche informiert Josephus detailliert, wobei allerdings stets in Rechnung zu stellen ist, dass sein Oeuvre primär nicht für Juden, sondern für Griechen und Römer bestimmt und um Verständlichkeit in deren Begriffssprache und Vorstellungwelt bemüht war. Im Werk enthalten sind ferner einige Hinweise auf die gegen Rom und seine Kollaborateure gerichteten jüdischen Aufstandsgruppen wie die Zeloten und die Sikarier, die aus der apokalyptischen Tradition ideologische Konsequenzen in Form einer radikalen politischen Theologie zogen. Bei dem wahrscheinlich schon zur Zeit Jesu auf die Anhänger der jüdischen Freiheitsbewegung angewandten Begriff „Zelot“ handelt es sich um eine „ehrenvolle Selbstbezeichnung“ (Hengel, 77). Der Eifer für Gott und sein Gesetz, der den Zeloten begriffsmäßig eignet, „äußert sich in einer rigorosen Kompromisslosigkeit bei der Befolgung von Gottes Geboten und in der Gewaltanwendung gegen alle, die dem radikal verstandenen Gebot ihren Gehorsam verweigern“ (Hengel, 77f.). Er ist ein Indiz der eschatologischen Grundhaltung der Zeloten. Im Jüdischen Krieg sahen sie „den Auftakt zum eschatologischen Endkampf“ (Hengel, 290). Auf

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einer ähnlichen Basis agierten Sikarier und andere vergleichbare Gruppen. Vieles spricht dafür, „dass die jüdische Freiheitsbewegung zwischen 6 und 70 n.Chr. eine gewisse einheitliche ideologische Grundlage besessen hat. Sie stand der pharisäischen Frömmigkeitsrichtung nahe und war stark eschatologisch geprägt, sie sah ihr besonderes Vorbild in der eifervollen Tat des ersten wahren ‚Zeloten‘ Pinehas und war von den revolutionären Thesen des Galiläers Judas beeinflusst. Dies schließt nicht aus, dass sie vor allem nach 66 n.Chr. in verschiedenen, zum Teil konkurrierenden Gruppen organisiert war, die sich nach Ausbruch des Krieges im Kampf um die Macht selbst zerfleischten.“ (Hengel, 412) Die Reaktionen der römischen Herrschaftsmacht gegenüber eschatologischprophetisch-messianischen Bewegungen im Palästina des 1. Jhd. n.Chr. waren höchst unterschiedlich. Während man gegen die Bewegung der sog. Zeichenpropheten und gegen den um 35/36 n.Chr. agitierenden samaritanischen Propheten massiv vorging, begnügte man sich ansonsten in der Regel damit, das jeweilige Haupt der Gruppe zu beseitigen. Die politisch Verantwortlichen ließen sich dabei offenbar vom Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Einsatzmittel leiten: „So wird bei einer begrenzten Gefährdung der eigenen Herrschaft nach (offenbar fruchtlosen) polizeilich-koerzitiven Massnahmen nur der Kopf einer prophetisch-messianischen Bewegung ausgeschaltet, bei einer breiteren und mehrdimensionalen Gefährdung hingegen möglichst die ganze Bewegung.“ (Riedo-Emmenegger, 314) Um zu den von Josephus im Stile griechischer Philosophenschulen gekennzeichneten Religionsparteien der Sadduzäer, Pharisäer und Essener zurückzukehren (zur Quellenlage bei Josephus, im NT und in der rabbinischen Tradition vgl. im Einzelnen Hoppe), so sind Letztere seit den Funden von Qumran Gegenstand besonderer Aufmerksamkeit geworden. Unter den Textfunden der Qumranhöhlen erregten zunächst die hebräischen und aramäischen Bibelzeugnisse aus dem palästinischen Judentum der Zeit Aufsehen, da sie erheblich älter waren als die bisher bekannten masoretischen Codices. Die ältesten unter den hebräischen Bibelhandschriften von Qumran stammen nach Ansicht namhafter Forscher aus dem letzten Viertel des dritten vorchristlichen Jahrhunderts. Als nicht weniger aufsehenerregend stellten sich fernerhin diejenigen – vornehmlich in den beiden letzten vorchristlichen Jahrhunderten entstandenen – Texte dar, von denen man annahm, dass sie in der Qumrangemeinde entweder entstanden oder rezipiert worden seien und Rückschlüsse auf Glauben und Lehre der essenischen Bewegung zuließen. In diesbezüglicher Hinsicht ist die Forschung seit geraumer Zeit skeptischer geworden. Es empfiehlt sich, die Qumranfunde nicht unmittelbar als Essenerdokumente zu verwerten, Essener da manche Unsicherheiten in Bezug auf den Zusammenhang sowohl zwischen Qumransiedlung und Qumranrollen als auch zwischen diesen beiden Größen und der Gruppe der Essener bestehen. Archäologische und literarische Befunde sprechen gegen allzu eilfertige Identifikationen. Allem Anschein nach reflektieren sich in den Qumranschriften verschiedene jüdi-

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sche Überzeugungen in hellenistisch-römischer Zeit und nicht allein essenische Auffassungen. Gleichwohl lassen sich auch Bezüge zu den Essenern herstellen, deren Gemeinschaft derjenigen von Qumran offenkundig in vielem nahestand, auch wenn beide nicht unmittelbar in eins gesetzt werden können. Besondere Beachtung verdient, was in der Gemeinschaftsregel 1QS gesagt und über den sog. Lehrer der Gerechtigkeit ausgeführt wird. Es entsteht das Bild einer um ihren Meister gruppierten, eschatologisch bestimmten Schar, die sich als der von Sündern gereinigte Kern des neuen Israels verstand. Vergleiche mit der Jesusbewegung liegen nahe. War der sog. Lehrer der Gerechtigkeit, der die Frommen vereinte, nicht vielleicht das Urbild Jesu und der Essenismus bzw. die Qumrangemeinschaft der Prototyp ursprünglichen Christentums? Auf den ersten Blick scheint der qumran-essenische Lehrer der Gerechtigkeit, der den einzig rechten Weg zu Gott zu wissen beanspruchte, mit dem historischen Jesus und seiner Sendung eine „erstaunliche Ähnlichkeit“ (Jeremias, 328) aufzuweisen und zwar nicht nur im äußeren Auftreten und in dem Widerstand, der sich gegen sie erhob, sondern auch hinsichtlich der Voraussetzungen und des Inhalts ihrer Verkündigung. Dennoch sind beide durch eine tiefe Kluft geschieden: „Auf der einen Seite steht der Lehrer mit dem radikalsten Versuch, die ethisch einwandfreie, reine Gemeinde Gottes zu verwirklichen, – auf der anderen Seite Jesus, der nicht zu den Gerechten geht, sondern zu Sündern, der die Verworfenen und Verachteten zu sich ruft und mit den Sündern Tischgemeinschaft hält. Die Krüppel, Lahmen und Blinden, die in der Qumran-Gemeinde keinen Platz haben, schildert Jesus im Gleichnis als Gäste beim Freudenmahl. ... Für die Qumran-Gemeinde ist es die Grundvoraussetzung, dass man nur zu Gott kommen kann, wenn man alle Gebote der Tora hält. Von dieser Haltung ist Jesus weit entfernt. Der Pharisäer, der über die Gebote hinausgehend freiwillige Leistungen aufzuweisen hat, ist nicht gerechtfertigt, wohl aber der verschuldete und sündige Zöllner. Jesu schärfste Worte (z.B. die Weherufe) richten sich nicht gegen die offenkundigen Sünder, sondern gegen die Frommen, weil er sieht, dass gerade der ‚korrekteste Toragehorsam vom Menschen dazu missbraucht wird, Gottes nicht zu bedürfen‘ (H. Braun). Das Gegenüber Jesus – Lehrer ist das Gegenüber des Verkünders des Evangeliums zu dem schärfsten Vertreter des Gesetzes. Dieser entscheidende Gegensatz von Evangelium und Gesetz kennzeichnet die Verkündigung beider bis ins einzelne.“ (Jeremias, 339f.) Trotz gebotener Skepsis gegenüber systematischen Kontrastierungen sind ins Auge fallende Unterschiede schwerlich zu leugnen: Während für die Qumrangemeinde und für die Essener die schroffe Abgrenzung und Absonderung gegenüber Sündern und Unreinen charakteristisch ist, kennzeichnet Jesus und seine Botschaft eine entschiedene Hinwendung zu diesen. Ferner spricht gegen die Annahme eines religiösen Verwandtschaftsverhältnisses zwischen Jesus und den Essenern bzw. der Qumrangemeinde allein schon die Tatsache, dass weder Qumran oder die Essener im Neuen Testament, noch auch neutestamentliche Gestalten oder gar Jesus selbst in den Texten von Qumran erwähnt werden. Selbst die Annahme, Johannes der

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Täufer – in seinem Wirken Qumran zumindest räumlich nahestehend – sei der Gemeinschaft der Essener zuzurechnen, lässt sich nicht verifizieren. Dennoch bleiben die Textfunde von Qumran für das Verständnis Jesu und seiner Botschaft in hohem Maße bedeutsam, insofern sie einen breiten Einblick in die palästinischjüdische Literatur der drei letzten vorchristlichen Jahrhunderte erschließen, durch den sich die Anfänge des Christentums besser verstehen lassen. Als zweite der in makkabäischer Zeit entstandenen Religionsparteien des palästinischen Ju- Sadduzäer dentums zur Zeit Jesu werden von Josephus die Sadduzäer genannt. Ihr Name leitet sich her von dem unter Salomon eingesetzten Hohenpriester Zadok (1. Kön 2,35), dessen Söhnen nach Ez 40–48 der Tempeldienst anvertraut wurde. Tatsächlich ist die Gemeinschaft der Sadduzäer aus den Kreisen der Jerusalemer Priesteraristokratie hervorgegangen. Politisch nationalkonservativ und auf Ausgleich mit der heidnischen Obrigkeit bedacht waren die Sadduzäer erklärte Gegner der Zeloten, die zu offenem Widerstand gegen die Römer aufriefen. Aber auch den gemäßigteren Pharisäern gegenüber gingen sie auf Distanz. Einer genauen inhaltlichen Bestimmung ihrer theologischen Positionen steht entgegen, dass authentische Selbstzeugnisse der Sadduzäer nicht vorliegen. Doch lassen sich Grundzüge ihrer Denkungsart aus Josephus und den neutestamentlichen Überlieferungen durchaus rekonstruieren, wohingegen die rabbinischen Zeugnisse historisch eher unergiebig sind, da sie aus einer Zeit stammen, in welcher der Sadduzianismus bereits untergegangen und seine Wahrnehmung primär durch phärisäische Traditionen bestimmt war. Als realpolitischen Strategen, die vor allem auf Ausgleich im Interesse des Erhalts ihrer Macht setzten, mussten den Sadduzäern eschatologisch motivierte Bewegungen fremd bleiben, ja als gefährlich erscheinen. Dass sie ihre Machtstellung auch durch Jesus und seine Anhänger bedroht sahen, liegt nahe und wird durch den zur Hinrichtung am Kreuz führenden Prozessverlauf wahrscheinlich gemacht. Insbesondere Jesu Tempelwort (Mk 14,58) und die Mobilisierung des Volkes zu Beginn der Jerusalemer Ereignisse im Vorfeld der Kreuzigung wird die Sadduzäer aufgeschreckt haben. Standen doch der Tempel und seine hierarchisch strukturierte Kultordnung im Zentrum ihres religiösen Selbstverständnisses. Ihrer strukturkonservativen Haltung entsprach es, dass sie im Grundsatz nur die schriftliche Tora als göttliche Willensoffenbarung anerkannten und im Übrigen auf Willensfreiheit und Alleinverantwortlichkeit des Menschen für sein Geschick setzten, der jeden den Tun-Ergehen-Zusammenhang transzendierenden Eingriff Gottes in das Weltgeschehen und das Leben des Menschen als überflüssig erschienen ließ. Die sadduzäische Ablehnung einer möglichen Totenauferstehung am Jüngsten Tag folgt konsequent aus der eschatologieresistenten, apokalyptikfeindlichen Theologie im Dienste restaurativen Besitzstandsdenkens. Zur Zeit Jesu und der Jerusalemer Urgemeinde waren die Sadduzäer ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor, „da ihnen die Verantwortlichkeit für den Tempelstaat durch den ihnen zugehörenden Hohenpriester und die einflussreiche Pries-

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terschaft oblag“ (Hoppe, 63). Die von ihnen sorgfältig zu unterscheidenden Pharisäer waren diejenige religiöse Gruppierung im zeitgenössischen Judentum Palästinas, denen Jesus bei allen Unterschieden vergleichsweise am nächsten stand. Sie achteten auf genaueste Befolgung des göttlichen Gesetzes, dessen Aktualisierung ihre Schriftgelehrsamkeit und Pflege mündlicher Tradition vornehmlich diente, sie wehrten sich gleich den Chassidim gegen die hellenistische Überfremdung des jüdischen Glaubens und verstanden sich selbst als Kern der wahren Israelsgemeinde. Die Pharisäer und Schriftgelehrten, als deren hervorragende Schulhäupter zur Zeit Jesu Hillel und Schammai fungierten, übten beträchtlichen Einfluss auf das Volk aus und hatten in ihm nicht wenige Anhänger. Trotz gelegentlicher Schwankungen ihres Charakterbildes in der Forschungsgeschichte repräPharisäer sentieren die Pharisäer neben den Sadduzäern und Essenern eine bei allen Randunschärfen eindeutig identifizierbare Strömung innerhalb des palästinischen Judentums zwischen 150 v. und 70 n.Chr. Eine Sonderstellung kam ihnen insofern zu, als sie im Bewusstsein des Volkes diejenige religiöse Gruppierung waren, „die die Grenze dessen bestimmten, was noch jüdisch war und was nicht. Darum betrieben die Pharisäer und ihre Nachfolger zunehmend die Ausgrenzung der Judenchristen, darum aber auch ihr Interesse seit den Tagen Jesu an diesem Lehrer. Es lag an der Erwartung des Volkes, dass sie zu dem neuen Lehrer aus Galiläa Stellung nehmen mussten.“ (Deines, 554f.) Wie diese Stellungnahme erfolgen würde, stand historisch keineswegs von Anfang an fest. Bemerkenswerte inhaltliche Berührungen zwischen der pharisäischen Frömmigkeit und der Botschaft Jesu waren gegeben. So kann man mit einem gewissen Recht sagen, dass neben der gemeinsamen Heiligen Schrift die historischen Pharisäer das stärkste Band sind, „das Christentum und Judentum miteinander verbindet, auch wenn in ihnen zugleich der Gegensatz markiert ist, der beide voneinander unterscheidet“ (Deines, 555). Diese Feststellung hat ihre Gültigkeit, selbst wenn man erstens mit der Möglichkeit rechnen muss, dass der religiöse Einfluss der Phariäser zur Zeit Jesu nicht so dominant war, wie die Evangelien dies voraussetzen, und wenn man zweitens in Rechnung stellt, dass der Pharisäismus vor dem Jahr 70 n.Chr. mit dem späten Rabbinismus nicht gleichgesetzt werden darf. Innerhalb der Schriften des Neuen Testaments stehen eindeutig die Pharisäer im Zentrum des Interesses (vgl. im Einzelnen Stemberger, 24–39). Mk gelten sie als die wesentlichen Gegner Jesu, die von Anfang an auf seine Vernichtung sinnen. Differenzierter urteilt Lk, der neben entschiedener Gegnerschaft auch eine eigentümliche Nähe der Pharisäer zu Jesus und Berührungspunkte mit der späteren christlichen Gemeinde hervorhebt. Historisch unzweifelhaft ist, dass Jesus sich in seinem öffentlichen Wirken am meisten und am intensivsten mit den Pharisäern auseinandergesetzt hat, denen er noch im Widerspruch und in der schroffsten Distanzierung besonders verbunden war, auch wenn sich die These nicht belegen lässt, er sei selbst Pharisäer gewesen oder in der pharisäischen Tradition aufgewachsen. Eindeutig gegen die These eines Pharisäismus Jesu spricht insbesondere sein

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Reinheitsverständnis. Jesus vertritt „in Wort und Tat die Auffassung, die Reinheit, so wie er sie besitze, sei nicht defensiv zu verstehen (wie die Pharisäer es taten, deren Grundprinzip Absonderung war), sondern offensiv, denn Jesus heilte unreine Kranke, weckte Tote auf und vertrieb unreine Geister (Dämonen). Jesus hatte eine ‚offensive Reinheit‘, die für die Gegner Jesu im Anspruch umso unglaublicher wurde, je mehr sichtbare Erfolge Jesus mit seinen Werken erzielen konnte. Daher dann der Vorwurf der Kooperation mit dem Fürsten der Unreinheit, mit Beelzebub, dem Teufel. Gerade im Gleichnis bringt Jesus diesen Aspekt der Reinheit – für jeden Juden – provozierend ins Spiel: Zöllner sind wegen des Umgangs mit heidnischem Geld, das viele unreine Hände berührt hat, typisch unrein, und Dirnen sind es in noch höherem Maße. Wenn Jesus den auf Reinheit geradezu versessenen Pharisäern vorhält, die typisch Unreinen seien Gott näher als sie selbst, dann stellt er das pharisäische Weltbild an der Wurzel infrage.“ (Berger, 447) Zwar vertritt gewiss auch Jesus „das Ideal der Reinheit und Heiligkeit, aber er verbindet es nicht primär mit dem Gedanken der Abgrenzung, sondern sieht gerade im Durchbrechen von Grenzen die Heiligung und den Gehorsam dem Gotteswillen gegenüber“ (Hoppe, 77). Die Entstehungsgeschichte der Pharisäer, Sadduzäer, Essener sowie der Traditionen der Qumrangemeinde reicht zurück in makkabäische und vormakkabäischpersische Zeiten. Die Zukunft gehörte der chassidischen und synagogalen Frömmigkeitsbewegung und den religiösen Strömungen und Parteiungen, die in ihrem Zusammenhang entstanden, wohingegen eine fromme Bildungskultur, wie sie etwa im Buch Jesus Sirach dokumentiert ist, im makkabäischen Palästina ans Ende ihrer Weisheit gelangt war und erst wieder im Alexandria Philos modifiziert zur Geltung kam. Unbeschadet solcher Entwicklungstrends und relativ unabhängig von spezifischen Einwirkungen bestimmter religiöser Gemeinschaften und Gruppierungen muss mit allgemeinen Grundüberzeugungen und Ausdrucksformen jüdischer Volksfrömmigkeit gerechnet werden, die bei aller Mannigfaltigkeit der Einzelströmungen parteiübergreifende Konstanten erkennen lassen. Hierzu zählen vor allem ein strikter Monotheismus und die Gewissheit des Bundes, welchen der eine und einzige Gott mit dem Volk Israel auf der Basis der Tora geschlossen hat. Im Verein mit dem monotheistischen Bundesnomismus ist die unveräußerliche Bindung an heilige Schriften und Traditionen zu nennen, in denen der Gotteswille, wie das Gesetz ihn beurkundet, überliefert und der mündlichen und schriftlichen Weitergabe aufgetragen ist; dabei kann davon ausgegangen werden, dass der aus Gesetz, Propheten und Schriften bestehende Kanon zur Zeit Jesu im Wesentlichen bereits feststand, auch wenn seine endgültige Abgrenzung erst gegen Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts erfolgte. Die fundierende Vollzugsform gemeinjüdiOpferkult und synagogaler scher Religiosität stellte der Gottesdienst dar, wie Gottesdienst er sowohl im Opferkult des bilderlosen Jerusalemer Tempels als auch anlässlich synagogaler Zusammenkünfte begangen wurde. Der Tempeldienst fand neben den drei Wallfahrtsfesten, nämlich Passah-, Pfingst-

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und Laubhüttenfest, im Großen Versöhnungstag seinen alljährlichen Höhepunkt. Was hinwiederum den Synagogengottesdienst betrifft, der weit in die nachexilische Geschichte Israels zurückreicht, so bildet sein Zentrum zusammen mit Gebet und Bekenntnis die Verlesung und Auslegung des Wortes der Schrift, in dem sich Gottes Wille und Gebot für den Menschen in Bezug auf Ritus (Beschneidung, Sabbatheiligung, Speise- und Reinheitsregeln) und Sitte bekundet. Evident ist die zentrale Rolle, welche die Synagoge in der neutestamentlichen Geschichte Jesu und der frühen Christenheit spielt: „The New Testament preserves a number of traditions in the gospels about Jesus’ activity in several first-century Galilean synagogues. This institution plays a key role in Luke’s account, not only in his gospel but also in the Acts of the Apostles. His description of Jesus’ participation in the Sabbath morning services in Nazareth, as well as Paul’s in Asia Minor, are far and away the most valuable descriptions in this regard.“ (Olsson/Zetterholm [Ed.], 6) Umstritten ist, welche Bedeutung im Verein mit messianischen Erwartungen apokalyptisch bestimmte Zukunftsvorstellungen für die allgemeine Volksfrömmigkeit gehabt haben; als gering wird man sie nicht veranschlagen dürfen. Die jüdische Apokalyptik, die ihre Grundgestalt nach Vorformen im Ezechiel- und namentlich im Jesaja-, Joel- und im zweiten Teil des Sacharjabuches im Danielbuch erhalten hat und in Schriften wie der Assumptio Mosis und der Henochüberlieferung bis hin zum 4. Esrabuch und zur syrischen und griechischen Baruchapokalypse literarisch entfaltet wurde, weist eine Reihe von formalen, inhaltlichen und theologischen Gemeinsamkeiten auf. Charakteristisch sind vor allem der auf Kontrastalternativen angelegte Grundansatz und der Versuch, das Weltgeschehen periodisierend auf das künftige Ende hinzuordnen, in welchem das Weltjenseitige anbrechen, die Toten auferweckt und ein neuer Himmel und eine neue Erde erstehen werden. Erscheinungsgestalten wie etwa der danielische Menschensohn können in das skizzierte Szenarium eingezeichnet werden. Traditionsgeschichtlich sind in die apokalyptischen Konzeptionen neben prophetischen auch weisheitliche Überlieferungen integriert. Doch ist die entscheidende Perspektive in der Apokalyptik nicht die Protologie, sondern zweifellos die Eschatologie. Dass das Judentum zur Zeit Jesu und dass dieser selbst wie auf seine Weise auch Johannes der Täufer und das spätere neutestamentliche Schrifttum in apokalyptischer Tradition standen, trifft fraglos zu. Fraglich ist nur, wie tiefgreifend die apokalyptischen Prägungen im Einzelnen waren bzw. wie hoch man die Transformationen und inhaltlichen Wandlungen zu veranschlagen hat, welche die Apokalyptik nachgerade bei Jesus erfuhr. Um in dieser Frage zu einem begründeten Urteil zu gelangen, bedarf es inhaltlicher Erörterungen, die über die geographischen und chronologischen Grunddaten des Lebens Jesu und über dessen allgemeine soziokulturelle Rahmenbedingungen hinausgreifen. Das Problem der Verhältnisbestimmung von Jesus und Johannes dem Täufer gibt Anlass zu solchen Erwägungen. Dass eine enge Beziehung zwischen Jesus und Johannes bestand, darf als historisch ebenso unstrittig gelten wie die Annahme, dass der Täufer der religiösen Be-

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wegung der jüdischen Apokalyptik angehörte, aus der in jesuanischer Zeit eine Reihe weiterer eschatologischer Propheten hervorging. Sicher zu rechnen ist infolgedessen mit einer nicht unerheblichen Beeinflussung von Verkündigung und Wirken Jesu durch Vorstellungen und Motive, „die im Rahmen der frühjüdischen Apokalyptik herausgebildet worden und aus ihr teilweise in weitere Kreise des palästinischen Judentums um die Zeitenwende eingedrungen waren“ (Frey, 89). Zur Diskussion steht entsprechend weniger die Beeinflussung als solche, die evident ist, sondern die Frage ihrer Reichweite und der Art und Weise ihrer Prägekraft, welche sie auf Form und Inhalt der jesuanischen Sendung ausübte. Orientierungshilfe beim Versuch ihrer Beantwortung ist dabei nicht in erster Linie von der kontroversen Debatte zu erwarten, ob die Apokalyptik im Allgemeinen und die jesuanische im Besonderen primär prophetisch oder weisheitlich geprägt war. Denn es gibt begründete Zweifel, ob Prophetie und Weisheit in den zwei oder drei vorjesuanischen Jahrhunderten überhaupt „noch selbständige Traditionsstränge darstellten. Offenkundig werden in apokalyptischen Texten wichtige Elemente sowohl aus der Prophetie (Zukunftsperspektiven) wie auch der Weisheit (Gerechtigkeit) rezipiert.“ (Schmid, 186) Angesichts ihrer fortgeschrittenen Verschmelzung in der apokalyptischen Überlieferung kann die Verbindung prophetischer und weisheitlicher Traditionselemente bei Jesus nicht überraschen. Ein höheres Maß an Überraschung lässt sich von der Art und Weise erwarten, wie Jesus Zukunftsperspektiven und Gerechtigkeitsaspekte näher bestimmte, um sie entsprechend ins Verhältnis zu setzen. Wie häufig vermerkt, liegt der Ansatzpunkt nicht erst der frühchristlichen, sondern bereits der frühjüdischen Apokalyptik, „in der Differenzerfahrung, die in der Gegenwart die Realisierung göttlicher Gerechtigkeit nicht mehr wahrnimmt und sie allein von der Zukunft erwarten kann“ (Müller, 152). Trifft dies zu, dann stellt sich umso dringlicher die Frage, wie die göttliche Gerechtigkeit beschaffen ist, deren Realisierung in der Gegenwart schmerzlich vermisst und von der Zukunft sehnlichst erwartet wird. Ohne eine möglichst präzise Beantwortung dieser Frage lässt sich die Eigenart jesusspezifischer Apokalyptikrezeption nicht erschließen. Jesu Reich-Gottes-Predigt muss unverstanden bleiben, solange sie nicht in ein geklärtes Verhältnis zu seinem Begriff von der Gottesgerechtigkeit gesetzt wird, dessen eschatologische Verwirklichung er erwartete, damit nicht nur „(t)he Fate of the Dead“ (vgl. Bauckham), sondern auch die Sünde ein Ende nehme.

8. Endzeitliche Bußprophetie im Horizont der Apokalyptik: Johannes der Täufer

Lit.: M. Dibelius, Die urchristliche Überlieferung von Johannes dem Täufer, Göttingen 1911. – St. von Dobbeler, Das Gericht und das Erbarmen Gottes. Die Botschaft Johannes des Täufers und ihre Rezeption bei den Johannesjüngern im Rahmen der Theologiegeschichte des Frühjudentums, Frankfurt a.M. 1988. – J. Ernst, Johannes der Täufer. Interpretation – Geschichte – Wirkungsgeschichte, Berlin/New York 1998. – J. Gnilka, Johannes der Täufer – das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils, in: M. Becker/W. Fenske (Hg.), Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils. Begegnungen mit dem Neuen Testament und seiner Umwelt, FS H.-W. Kuhn, Leiden/Boston/Köln 1999, 117–129. – H. Greßmann, Der Ursprung der israelitisch-jüdischen Eschatologie, Göttingen 1905. – W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung der Geschichte. Untersuchungen zum Zeit- und Geschichtsverständnis im 4. Buch Esra und in der syrischen Baruchapokalypse, Göttingen 1969. – R. Hoppe, Die jüdischen Religionsparteien und ihre Bedeutung für die Verkündigung Jesu, in: L. Schenke u.a., Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 59–83. – U. Kellermann, Messias und Gesetz. Grundlinien einer alttestamentlichen Heilserwartung. Eine traditionsgeschichtliche Einführung, Neukirchen 1971. – H.-J. Klauck, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog, Neukirchen 1997. – K. Koenen, Heil dem Gerechten – Unheil den Sündern! Ein Beitrag zur Theologie der Prophetenbücher, Berlin/New York 1994. – U. B. Müller, Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu, Leipzig 2002. – M. Öhler, Elia im Neuen Testament. Untersuchungen zur Bedeutung des alttestamentlichen Propheten im frühen Christentum, Berlin/New York 1997. – O. Plöger, Theokratie und Eschatologie, Neukirchen 31968. – W. Popkes, Christus Traditus. Eine Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament, Zürich/Stuttgart 1967. – D. Rössler, Gesetz und Geschichte. Untersuchungen zur Theologie der jüdischen Apokalyptik und der pharisäischen Orthodoxie, Neukirchen 21962. – K. Rudolph, Die Mandäer. 2 Bde., Göttingen 1961/62. – P. Sacchi, Die Macht der Sünde in der Apokalyptik, in: JBTh 9 (1994), 111–124. – G. Sass, Leben aus den Verheißungen. Traditionsgeschichtliche und biblisch-theologische Untersuchungen zur Rede von Gottes Verheißungen im Frühjudentum und beim Apostel Paulus, Göttingen 1995. – A. Schlatter, Johannes der Täufer. Hg. v. W. Michaelis, Basel 1956. – J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas, Neukirchen 1997. – R. Schütz, Johannes der Täufer, Zürich/Stuttgart 1967. – H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg/Basel/Wien 91999. – J. E. Taylor, The Immerser. John the Baptist within Second Temple Judaism, Grand Rapids/Cambridge, U. K. 1997. – H. Thyen, Studien zur Sündenvergebung im Neuen Testament und seinen alttestamentlichen und jüdischen Voraussetzungen, Göttingen 1970. – J. C. VanderKam, From Revelation to Canon. Studies in the Hebrew Bible and Second Temple Literature, Leiden/Boston/

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Köln 2000. – R. L. Webb, John the Baptizer and Prophet. A Socio-Historical Study, Sheffield 1991.

Ein Prophet ist ein berufener Rufer. Das hebräische nabi, das die Septuaginta mit prophetes wie- Prophetische Überlieferungen dergibt, bedeutet je nach aktivischem oder passivischem Verständnis der hebräischen Nominalform entweder Rufer oder Berufener. Die religionsgeschichtlichen Wurzeln israelitischer Prophetie werden mit Traditionen nomadischen Sehertums und mit ekstatischen Praktiken in Verbindung gebracht, wie sie nicht nur in der kanaanäischen Umwelt, sondern im gesamten altorientalischen Bereich und darüber hinaus verbreitet waren. Als ursprünglich getrennte Erscheinungen sollen sie unter dem Einfluss des entstehenden Jahweglaubens zum altorientalischen Prophetentum verschmolzen worden sein, wie es sich in den Urbeständen der Elia- und Elisaüberlieferungen zu erkennen gibt. Allmählich und im Zuge staatlicher Konsolidierung hat sich sodann ein Stand von Berufspropheten herausgebildet, die religionsgeschichtlich auch anderweitig begegnen. Sie vertraten in der Regel die offizielle kultisch-nationale Ausprägung des Jahweglaubens und erblickten Israel vornehmlich in einem durch göttliche Erwählung gewährleisteten Heilszustand. Im alttestamentlichen Schriftzeugnis ist ihr Wirken nur noch in Spuren präsent, da die kanonischen Propheten in ihrer überwiegenden Mehrzahl nicht zur Gruppe der Berufspropheten gehörten. Die kanonischen Propheten übten ihre Tätigkeit nicht professionell, sondern aufgrund einer spezifischen Sendung aus. Zwar wird man die anachronistische Vorstellung heroischer Individualisten und genialischer Ausnahmegestalten vom alttestamentlichen Prophetismus fernhalten müssen; die Schriftpropheten lebten in den religiösen Überlieferungen ihres Volkes, denen sich ihre Botschaft auch und gerade dann verpflichtet wusste, wenn sie auf radikale Kritik gestimmt war. Indes traten die kanonischen Propheten nicht als Repräsentanten von Gemeinschaftsverbänden auf und waren weder Bedienstete des Königs oder des offiziellen Kultheiligtums, sondern berufene Rufer Gottes mit einer Vollmacht eigener Art. Hält man sich an die Ergebnisse formgeschichtlicher Forschung, dann hat die Botenformel zentrale Bedeutung für den Geltungsanspruch alttestamentlicher Schriftprophetie. Sie autorisiert sowohl das Wort, das der Prophet auszurichten hat, als auch ihn selbst in seiner Eigenschaft als Boten des Wortes. Lassen sich prophetischer Bote und prophetische Botschaft nicht trennen, so ist es gleichwohl der von ihm zu unterscheidende Gehalt seines Zeugnisses, welcher den Zeugen theologisch legitimiert. Der Geltungsgehalt prophetischen Zeugnisses haftet daher nicht unmittelbar an der Person des einzelnen Propheten, sondern ist über dessen aktuelle Sendung hinaus tradierbar, um religiöses Gemeingut zu werden. Infolgedessen wurde der ursprünglich für den mündlichen Vortrag bestimmte Prophetenspruch, der neben Berichten und Geboten die Zentralgattung prophetischer Verkündigung ausmacht, fortgebildet, schriftlich aufgezeichnet, mit weiteren prophetischen Sprüchen zu Sammlungen verbunden und zum Gegenstand

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eines fortlaufenden Überlieferungsprozesses gemacht, aus dem schließlich die kanonischen Prophetenbücher resultierten, die ihrerseits einen andauernden Vorgang ihrer Auslegung eröffneten. In seiner traditionellen Form ist der Prophetenspruch als Schelt-, Droh-, Mahnund unter der Bedingung der Befolgung prophethischer Weisung gelegentlich auch als Heilswort gestaltet. Schelt- und Drohwort erinnern an ein Gerichtsverfahren mit Anklage und Strafandrohung, und tatsächlich ist der Zusammenhang prophetischer Verkündigung mit der Gottesrechtstradition offenkundig und vielfach vermerkt worden, auch wenn die These vom apodiktischen Recht als dem – im Unterschied zum kasuistischen – spezifisch israelitischen Gottesrecht sich im Einzelnen nicht halten ließ. Wie auch immer: prophetische Botschaft und Verkündigung der Gerechtigkeit Gottes, der nach göttlichem Recht richten wird, lassen sich nicht trennen, sondern bilden einen untrennbaren Zusammenhang. Prophetismus und Tora gehören aufs engste zusammen. Dieser Sachverhalt wird durch die Wirkungsgeschichte des Prophetismus ebenso nachdrücklich wie nachhaltig bestätigt. Eine charakteristische Tendenz der Fortbildung prophetischer Überlieferungen lässt sich am Beispiel der pointierten Gegenüberstellung von Unheil der Sünder und Heil der Gerechten erkennen. Diese Kontrastierung findet sich in authentischen Prophetenworten nur selten, in redaktionellen Zusätzen dagegen verhältnismäßig häufig. Primärziel der Redaktion ist es, dem ursprünglichen Prophetenwort über die aktuelle Situation hinaus, in dem es ehedem gesprochen wurde, dauerhafte Geltung zu verschaffen. „Indem sie prophetische Heils- und Unheilsankündigungen auf Gerechte und Sünder beziehen, lösen sie diese Ankündigungen von ihrem ursprünglichen historischen Kontext ... Die Propheten werden ... nicht als Künder eines aktuellen Gotteswortes verstanden, sondern als Lehrer einer ewig gültigen Wahrheit, die auf alle Situationen, in denen man es mit Gerechten und Sündern zu tun hat, applizierbar ist.“ (Koenen, 273) Die jüdische Weisheitslehre konnte, sofern sie auf die zeitinvariante Geltung der Tora als Inbegriff der göttlichen Offenbarung konzentriert war, an diese Entwicklungstendenz anschließen. In der Apokalyptik sind prophetische und weisheitliche Motive vielfach verbunden, wobei die Apokalyptische Prophetie Konzentration auf die Tora erhalten und die überkommene Lehre vom Heil der Gerechten und vom selbstbereiteten Verderben der Gottlosen fundamental blieb. Spezifisch charakterisiert ist die apokalyptische Bewegung dabei durch die Tendenz, den traditionellen Rahmen, welcher durch die Überzeugung eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs gesetzt war, zu sprengen bzw. eschatologisch zu transzendieren. Das Böse in der Welt besteht nicht nur in einzelnen menschlichen Verfehlungen und Übertretungen, die entsprechende göttliche Strafen nach sich ziehen. Der Abgrund des Bösen ist prinzipiellerer Art. „Etwas, was vor der Geschichte oder zumindest an deren Anfang geschah, hat in den Menschen ein böses Prinzip gesetzt ...“ (Sacchi, 123). Damit ist nicht einer Fatalisierung des Bösen das Wort geredet oder bestritten, dass die Sünde als Schuld zurechenbar sei, wohl aber gesagt, dass die endgültige Überwindung der Macht der Sünde und

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des Bösen nur auf transgeschichtlich-endzeitliche Weise erwartet werden könne. Nicht schon in dieser Welt, wohl aber in der kommenden wird definitiv zwischen Recht und Unrecht geschieden und Heil und Unheil gewirkt nach Maßgabe göttlicher Gerechtigkeit, wie sie in der Tora erschlossen ist. Die apokalyptische Vorstellung vom zukünftigen Reiche Gottes ergibt sich aus diesem Zusammenhang und gewinnt aus ihm heraus ihre inhaltliche Prägung. Die Rede vom Reich und von der Herrschaft Gottes begegnet zuerst im Kontext der traditionellen israelitischen Vorstellung vom Königtum Jahwes, die ihren primären Sitz im Leben im Jerusalemer Tempelkult hat. Die Kultgemeinde gilt in diesem Sinne als Realisierungsgestalt der Theokratie Jahwes. Entsprechendes ließe sich für die synagogale Gemeinschaft in Anschlag bringen, in deren Gebet und Torafrömmigkeit sich Gott analog zum Tempeldienst als aktuell mächtig erweist. Dabei liegt es durchaus in der inneren Konsequenz dieser und ähnlicher Vorstellungen, dass der Begriff der Gottesherrschaft den engeren Bereich des KultischLiturgischen transzendierte, um seinen Anspruch im Alltag sei es des Einzelnen, sei es des Volkes bis ins Politische hinein geltend zu machen. Einen Beleg hierfür gibt bereits die ältere Prophetie, deren Botschaft vom herrschenden Gott und seinem Reich alle Aspekte menschlichen Lebens umfasst. Entsprechendes gilt für die nach ersten Ansätzen im Danielbuch (vgl. etwa Dan 2,44) und anderen Teilen der hebräischen Bibel in der sog. zwischentestamentarischen Zeit ausgebildete apokalyptische Reich-Gottes-Verkündigung, die einerseits an die prophetische Überlieferung anschließt, sie aber andererseits in nicht unerheblicher Weise modifiziert und transformiert, indem sie den Anbruch der Gottesherrschaft als ein strikt endzeitliches Ereignis vorstellig macht, mit dem ein neuer Äon beginnt und an die Stelle des vergehenden alten tritt. Als Beispiele apokalyptischer Aussagen über das Reich Gottes in zwischentestamentarischer Zeit seien lediglich Sib 3,46f. und AssMos 10,1ff. genannt, wo der Begriff göttlicher Königsherrschaft als stehende Redewendung begegnet. Über die Anfänge apokalyptischer Eschatologie ist hier nicht mehr ausführlich zu handeln, weil das Wichtigste bereits anderwärts gesagt wurde. Man wird annehmen dürfen, dass sie „im ersten Jahrhundert der griechischen Epoche unter Beibehaltung wichtiger Einzelzüge der restaurativen Eschatologie allmählich festere Formen gewann, um dann in den Jahrzehnten nach dem Regierungsantritt Antiochos III. bis zum Religionskonflikt unter Antiochos IV. zu einer relativen Geschlossenheit zu gelangen“ (Plöger, 141). Gewiss haben neben prophetischen auch sapientiale Motive für die Entstehung der Apokalyptik eine Rolle gespielt (vgl. im Einzelnen VanderKam, 241–254). Aber im Unterschied zu den älteren weisheitlichen Traditionen denkt diese primär nicht protologisch, sondern eschatologisch, um ihre gespannte Aufmerksamkeit ganz auf die kommende Endzeit auszurichten. Bemühungen, das bisherige Weltgeschehen in Erwartung des nahen Weltendes zu periodisieren und als ganzes zu erfassen, gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie gelegentliche Versuche, den Anbruch des neuen Äons vorauszuberechnen und chronologisch zu terminieren. Charakteristisch für die apokalyptische Endzeitori-

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entierung ist die definitive Abstandnahme von der gegebenen Welt und ihrer Geschichte. Heil ist nicht länger von diesem Äon zu erwarten, sondern allein von der Zukunft Gottes, der, wie es erstmals in Jes 65,17–25 heißt, einen neuen Himmel und eine neue Erde erschaffen wird. Neben Tritojesaja (Jes 56–66), der die deuterojesajanische Tradition modifizierend weiterführt, lassen sich Vorformen apokalpytischer Prophetie in der sog. Jesaja-Apokalypse Jes 24–27 und in Jes 34f. sowie im Buch Sacharja (Sach 9–14) und Joel (Joel 3f.) finden. Seine charakteristische Grundgestalt hat das apokalyptische Denken im Danielbuch erhalten: Weltgeschichte ist fortschreitende Unheilsgeschichte. Sie strebt ihrem unaufhaltsamen Ende zu. Der Tag des göttlichen Gerichts ist nicht fern, sondern steht unmittelbar bevor. Die baldige Ankunft des neuen Äon bringt die im Vergehen begriffene Gegenwart endgültig zum Verschwinden und Errettung aus dem Tod und ewiges Leben im Reich Gottes allein den von der Bosheit der alten Welt abgekehrten Frommen, die im Leid und in der Bedrängnis der letzten Tage geduldig ausharren bis zum Ziel. Die Sünde indes und diejenigen, die sie üben, verfallen dem Gericht und der Vernichtung. Weitergeführt und im Einzelnen ausgeformt wurde die Grundkonzeption, welche die apokalyptische Prophetie im Danielbuch gefunden hat, in frühjüdischen Schriften wie der Assumptio Mosis, den Henochbüchern, dem 4. Esrabuch und in der syrischen und griechischen Fassung der Baruchapokalypse. Hinzukommen kleinere Apokalypsen und frühjüdisches Schrifttum, das wie das Zwölf-Patriarchen-Testament oder das Jubliäenbuch apokalyptisch beeinflusst ist. Unter den Qumranfragmenten finden sich ebenfalls Schriften von apokalyptischem Charakter. Zur genaueren Profilierung der apokalyptischen Endzeitliche Erwartung Reich-Gottes-Aussagen, an die auf seine Weise auch Johannes der Täufer anschließt, ist von nicht unerheblicher Bedeutung, welches Verständnis von Zeit und Geschichte sie implizieren. Orientiert man sich am 4. Buch Esra und der syrischen Baruchapokalypse, dann ergibt sich folgender Befund: „1. Die Geschichte wird auf der einen Seite als die von der künftigen Heilszeit nicht bloß graduell, sondern qualitativ unterschiedene Unheilszeit gedeutet, die wesentlich im Zeichen des Todes, der Drangsale, Nöte und Schmerzen steht ... 2. Auf der anderen Seite erscheint sie als die dem Endgericht vorausgehende (befristete) Zeit der Entscheidung, in der es für den Menschen darauf ankommt, dem im Gesetz geoffenbarten Gotteswillen im ungeteilten Gehorsam zu folgen, die Satzungen der Tora zu erfüllen und sich durch die Wahl des Lebensweges die Anwartschaft auf die Teilnahme am Heil des künftigen Äons zu sichern.“ (Harnisch, 241) Bemerkenswert an diesem Befund ist insbesondere die kriteriologische Funktion, die dem Gesetz geschichtstheologisch beigemessen wird. Weit davon entfernt, durch den Verlauf der Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart in seinem Geltungsanspruch falsifiziert zu werden, ist es das Gesetz, das den vorhandenen Äon als Unheilszeit qualifiziert, um ihm den zu erwartenden neuen in seiner eschatologischen Zukünftigkeit zu kontrastieren. Zugleich entscheidet sich an der Stellung zum Gesetz das Ergehen im künftigen

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Äon, dessen Gestalt durch den Gehalt der Tora und eine entsprechende Realisierung der Gerechtigkeit Gottes bestimmt sein wird. „Gegenüber einem Denken, das unter Berufung auf die Mosetora Gott das Ausbleiben seiner Verheißung vorhält und die Bürgschaft der Erwählung als Dokument einer gegen Gott gerichteten Anklage missbraucht, nehmen die Verfasser von 4 Esr und sBar das Gesetz als ‚ius talionis‘ in Anspruch, als die unparteiische Norm des Gerichts, nach welcher das geschichtliche Verhalten des Menschen gemessen und die Entscheidung über sein eschatologisches Geschick gefällt wird.“ (Harnisch, 325) Ähnliche Befunde lassen sich auch aus anderen apokalyptischen Kontexten erheben. Danach stehen Gesetz und Geschichte in einem differenzierten Beziehungszusammenhang, der zwar Unterscheidungen, nicht aber Trennungen erlaubt. Das Gesetz ist das Urteilskriterium der Geschichte, das zwischen altem und neuem Äon scheidet; der zeitliche Verlauf und die eschatologische Ausrichtung der Geschichte hinwiederum sind die äußere Form- und Realisierungsgestalt dessen, was in der durch die Tora offenbaren Gerechtigkeit Gottes seinen inneren Grund hat. Trifft dies zu, dann stellt sich u.a. das Verhältnis von jüdischer Apokalyptik und pharisäischer Orthodoxie durchaus nicht als so alternativ dar, wie dies gelegentlich behauptet wurde. Dass Geschichte in der pharisäischen Orthodoxie eine Funktion des Gesetzes sei, kann man insofern sagen, als der Lauf des Lebens und der Welt in der Erfüllung der Tora ihre Vollendung findet. Ob es im Rahmen pharisäischer „Theologie keinen geschichtlichen Wandel im Sinne einer grundsätzlichen Veränderung geben (kann), keinen Fortschritt und kein unableitbares, radikal neues Geschehen“ (Rössler, 41), ist mehr als fraglich. Denn die spezifische Interpretation, welche die Pharisäer der Tora haben zuteil werden lassen, erweist sich als durchaus offen für Neues und läuft keineswegs zwangsläufig auf bloße Variationen eines statutarisch Gegebenen hinaus, auch wenn das Gesetz als die vollgültige Offenbarung Gottes seinem Anspruch nach „jede Situation und damit die ganze Geschichte“ (ebd.) umgreift. Sowenig in der pharisäischen Orthodoxie von einem „Fehlen von Geschichte im eigentlichen Sinne“ oder von einer „Qualität der Tora als wesentlich ungeschichtlicher Größe“ (Rössler, 42) die Rede sein kann, so sehr ist die apokalyptische Geschichtstheologie ihrerseits konstitutiv auf die Tora bezogen. Damit ist nicht geleugnet, dass die apokalyptische Überlieferung als „ein theologischer Entwurf eigener Prägung“ (Rössler, 110) zu gelten hat, der Gesetz und Gerechtigkeit Gottes unter anderen Rahmenbedingungen deutet als beispielsweise der Pharisäismus. „Die Zusammenfassung des spätjüdischen Gesetzesverständnisses etwa als kasuistischer Nomismus ist deshalb unzureichend. Wäre schon die rabbinische Gesetzesinterpretation damit nur unzulänglich beschrieben, so kann sie keinesfalls für das gesamte (Früh)Judentum in Anspruch genommen werden. Denn es muß der Einsicht Rechnung getragen werden, daß es neben der später normativ gewordenen rabbinischen Tora-Auslegung im (Früh)Judentum einen theologischen Entwurf gegeben hat, der das Gesetz nicht als Kodex und Gebotssammlung verstand, sondern als das die Heilsgemeinde sammelnde und einende Dokument göttlicher

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Erwählung.“ (Rössler, 111) Diese Feststellung ist richtig. Doch muss sie nicht zuletzt im Blick auf den apokalyptischen Endzeitpropheten Johannes durch den Hinweis ergänzt werden, dass die Erwählung eine Funktion des Gesetzes ist und nicht umgekehrt. Die Meinung Israels, durch seine geschichtliche Erwählung in einem durch die Sünde letztlich Toraeschatologie nicht gefährdeten Bund mit Gott und in einem kontinuierlichen Heilszustand zu stehen, der durch Gesetzesübertretungen nicht grundsätzlich berührt wird, konfrontiert der Täufer in unüberbietbarer Härte mit der zu radikaler Buße rufenden Botschaft, dass die Zugehörigkeit zum erwählten Volk keineswegs eo ipso endzeitliche Rettung bewirke, welche allein totaler Umkehr nach Maßgabe der göttlichen Tora vorbehalten sei. Dies passt mit der ins Universale entgrenzten Geschichtstheologie der Apokalyptik und ihrer Eschatologie zusammen, deren angeblich dualistische Tendenz den alttestamentlichen Gedanken der guten Schöpfung Gottes nicht etwa auflöst, sondern auf Menschheit und Welt insgesamt bezieht, um nach kriteriologischer Maßgabe des allgemeinverbindlichen Gesetzes Gottes zwischen kreatürlicher Bestimmung, deren Realisierung die Zukunft gehört, und einer an die Wurzel reichenden Verderbnis des alten, vergehenden Äons zu scheiden. Johannes der Täufer war ein Wüstenprediger in prophetisch-apokalyptischer Tradition, der in eschatologischer Erwartung des nahe bevorstehenden Anbruches der Gottesherrschaft zu radikaler Umkehr aufrief und die Bußwilligen zum Zwecke ihrer Reinigung von Sündenschuld im Jordan einem rituellen Reinigungsbad unterzog. Dass er sich als den endzeitlichen Elia redivisus verstand, den die Frommen des Volkes als letzten Propheten erwarteten, ist nicht unwahrscheinlich; jedenfalls werden ihn seine Anhänger und Schüler mit dem eschatologischen Elia gleichgesetzt haben. Die Praxis der Jordantaufe, deren endzeitlicher Charakter durch ihre Einmaligkeit unterstrichen wird, hat Johannes seinen charakteristischen Beinamen eingetragen, von dem in Übereinstimmung mit dem Neuen Testament auch Josephus (Ant 18,116–119) berichtet. Beiden Quellen zufolge wurde der Täufer, der – noch zu Herodes des Großen Lebzeiten geboren – gemäß Lk 3,1 Ende der zwanziger Jahre seine wie im Falle Jesu relativ kurze öffentliche Wirksamkeit begann, von Herodes Antipas zu Unrecht revolutionärer Umtriebe verdächtigt, gefangengesetzt und enthauptet (vgl. Ant 18,119; Mk 6,17–29 par). Ein Zusammenhang der Hinrichtung mit der zweiten Heirat des Potentaten, der Anfang der dreißiger Jahre seine erste Gattin, die Tochter des Nabatäerkönigs Aretas, verließ und seine Schwägerin Herodias ehelichte, ist historisch sicher zutreffend. Der Gehalt der Botschaft des Täufers ist den in Q überlieferten Logien Mt 3,7– 10 par Lk 3,7–9 in Grundzügen zuverlässig zu entnehmen. Im Verein mit der Ankündigung des erchomenos, der nicht mit Wasser, sondern mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen und Spreu und Weizen im Endgericht definitiv scheiden wird, ist die Johannespredigt von der gesteigerten Naherwartung des Zornesgerichts Gottes bestimmt, welcher die Axt bereits an die Wurzel gelegt hat und je-

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den Baum, der nicht gute Früchte bringt, umhauen und ins Feuer werfen wird. Nicht die Zugehörigkeit zum Geschlecht Abrahams, dem Gott auch aus Steinen Kinder zu schaffen vermag, wird im Gegensatz zur faktischen Annahme von Pharisäern und Sadduzäern (Mt 3,7: „Schlangenbrut“) Rettung aus dem endzeitlichen Unheil bewirken, sondern nur metanoia (schub), jene totale Umkehrung des sündig verkehrten Verhältnisses zu Gott, aus der allein gute Früchte der Buße hervorgehen. Zeichen der ein für alle Mal zu vollziehenden Umkehr ist die Jordantaufe. Anders als bei den rituellen Waschungen etwa der essenischen Sondergemeinde handelt es sich dabei um ein einmaliges Untergetauchtwerden und nicht um wiederholte Selbstreinigungen. Aber auch vom Proselytentauchbad ist die Johannestaufe charakteristisch unterschieden, insofern sie unmittelbar dem die alttestamentliche Prophetie aufnehmenden und zugleich vollendenden Bußruf zugeordnet ist: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“ (Mt 3,2) „Vita Joannis Batistae non scribitur“ (Ernst, 267): obwohl das Profil seiner Person und Kon- Leben und Wirken des Täufers turen seines Werkes klar zu erkennen sind, lässt sich eine Biographie Johannes des Täufers ebenso wenig schreiben wie eine Biographie seines Täuflings Jesus. Nur einige Grunddaten seiner irdischen Existenz sind historisch präzise fassbar. Trotz legendarischen Charakters der lukanischen Kindheitsgeschichten ist die Abstammung des Johannes aus priesterlichem Geschlecht (vgl. Lk 1,5) vertrauenswürdig. „Johannes der Täufer ist in der Welt des jüdischen Priestertums zu Hause.“ (Ernst, 270) Eine genauere Zuordnung ist allerdings nicht möglich und das um so weniger, als Bezüge auf Tempelkult und priesterliche Frömmigkeit in der originären Predigt des Johannes fehlen (vgl. Ernst, 271). Diese ist in Form und Inhalt von prophetischer Art. Zu erwägen ist allerdings, ob die von Johannes geübte Taufe zur Sündenvergebung mögliche Bezüge zu priesterlichen Funktionen erschließt (vgl. Stegemann 304). Über den Zeitpunkt und Ort der Geburt des Täufers liegen keine genauen Angaben vor. Die biblische Chronologie (vgl. Lk 1,26.36) und die ihr korrespondierende liturgische Datierung der Johannesgeburt (24. Juni) erlauben keine präzisen Zeitbestimmungen. Sicher behaupten lässt sich nur, dass Johannes der Täufer, der im Verhältnis zu Jesus wahrscheinlich der wenig Ältere war, in der Regierungszeit Herodes des Großen, also zwischen 37 und 4 v.Chr. geboren worden ist. Wahrscheinlichkeitsgründe sprechen für ein Datum „gegen Ende dieser Zeitspanne“ (Ernst, 274). Als Geburtsort kommt das Bergland von Judäa (vgl. Lk 1,65) in Frage. Alles Weitere wie etwa die Lokaltradition von Ain Karim als Geburtsort beruht auf Spekulation. Über die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Müttern von Johannes und Jesus (vgl. Lk 1,36) lässt sich historisch ebenso wenig in Erfahrung bringen wie über einen Wüstenaufenthalt des Täufers (vgl. Lk 1,80) vor seinem öffentlichen Auftritt. Eine Nähe zur Gemeinde von Qumran, wie sie häufig behauptet wurde, ist nicht nachweisbar, „ja durch das Fehlen qumranspezifischer Züge im Wirken des späteren Täufers eigentlich ausgeschlossen“ (Müller, 19). Rein hypo-

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thetisch bleibt ferner die Annahme von bestehenden Beziehungen zu jenem asketischen Einsiedler, von dem Josephus (Vita 2) berichtet, er habe in der Wüste gelebt, Kleider aus Baumrinde getragen, wildwachsende Kräuter gegessen und bei Tag und Nacht kalte Waschungen zum Zwecke seiner Reinigung vorgenommen. Nach übereinstimmendem Bericht der synoptischen Evangelien (Mk 1,4; Mt 3,1; Lk 3,2) hat Johannes in der Wüste gewirkt und im Jordan getauft. Beide Angaben gehören zusammen. Daraus ergeben sich die möglichen Lokalisierungen des öffentlichen Auftretens von Johannes. Zu denken ist am ehesten an eine Jordanfurt östlich oder südöstlich von Jericho in der Nähe zur Wüsteneinöde beim Toten Meer. „Für den südlichen Teil des Jordanlaufes spricht der Umstand, dass die Zuhörerschaft des Täufers aus Judäa, speziell aus Jerusalem kommt (vgl. Mk. 1,5. Mt. 3,5)“ (Dibelius, 132), für die Uferostseite des Jordans die Tatsache, dass dieses Gebiet politisch zu Peräa gehörte, das Herodes Antipas beherrschte, der Johannes nach dem Zeugnis des Josephus in der Festung Machärus gefangen setzen und anschließend umbringen ließ. Eine punktgenaue Identifikation des Ortes des Täuferwirkens ist nicht möglich; klar erkennbar hingegen ist der symbolische Charakter der Ortswahl. Wüste und Jordan waren für Johannes und seine jüdischen Zeitgenossen nicht nur „Namen und Plätze mit einem ganz hohen heilsgeschichtlichen Rang“ (Ernst, 278), sondern auch gleichsam von Natur aus geeignet, den Kontrast von staubigunfruchtbarer Sündenödnis gleich Sodom und Gomorrha und reinigender Wassertaufe als Frucht radikaler Umkehr zu illustrieren, welche alleinige Rettung aus dem Endgericht zu bewirken vermag. Sollte die These zutreffen, dass Johannes zum Ort seines Wirkens das Ostufer des Jordans gewählt hat, dann wird dadurch ein zusätzlicher Symbolbezug hergestellt, nämlich zur einstigen Situation Israels unter Josua vor dem Durchschreiten des Flusses in das Gelobte Land (vgl. Stegemann, 296f.). Auch mit einer möglichen Entsprechung zum Durchzug der Israeliten durchs Schilfmeer wurde gerechnet. Doch ist angesichts der Spärlichkeit der zur Verfügung stehenden Aussagen „Zurückhaltung geboten“ (Gnilka, 119). Nicht weniger auffällig als der gewählte Wirkungsort des Johannes ist seine Lebensweise. Die Eigentümlichkeit seiner Kleidung und Nahrung wird in Mk 1,6 eigens hervorgehoben Der Einschub spricht von einem aus Kamelhaaren gefertigten Gewand, mit dem Johannes sich kleidete, von einem ledernen Gürtel um seine Hüften und von Heuschrecken und wildem Honig, die er verspeiste. Man wird auch in dieser Hinsicht mit einer bewussten Zeichenhandlung zu rechnen haben, die auf einen eschatologisch bestimmten Kontrast gegenüber dem Kulturland und seinen Bewohnern angelegt war und im Übrigen Assoziationen an Propheten, namentlich Verbindungen zur Eliatradition herstellte. In christlicher Theologie herrscht vielfach die Annahme vor, „als drehe sich die israelitisch-jüdische Eschatologie im Wesentlichen um den Messias, als sei sie ohne ihn nicht denkbar“ (Greßmann, 7). Dies ist ein Irrtum. Auch die apokalyptische Eschatologie ist nur zum Teil messianologisch bestimmt. Insofern kann man darüber streiten, ob der Hinweis des Täufers auf den „Kommenden“ den im Er-

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scheinen begriffenen messianischen Menschensohn-Weltenrichter meint oder Gott selbst. Nimmt man an, dass Johannes sich als Vorboten des Messias verstanden hat, wofür einige, wenngleich keineswegs eindeutige Gründe sprechen, bleibt dennoch fraglich, ob er in Jesus den Stärkeren, der seiner Erwartung gemäß nach ihm kommen wird, zu erkennen vermochte, wie dies neutestamentlich vorausgesetzt wird. Im Neuen Testament wird vom Täufer in den Evangelien und in der Apostelgeschichte berichElia redivivus tet, wohingegen er bei Paulus und in der nachpaulinischen Briefliteratur keine Erwähnung findet. Ohne dass auf Einzelheiten und Unterschiede der Berichte genauer eingegangen werden müsste, lässt sich eine einheitliche Entwicklungsrichtung neutestamentlicher Johannesdarstellungen unschwer erkennen. Ihre Tendenz ist von der Absicht bestimmt, den Täufer als eine Vorläufergestalt Jesu Christi zu kennzeichnen, dessen Messianität er bekennt. In dieser Rolle liegen nach neutestamentlichem Zeugnis Würde und Grenze von Person und Sendung des Johannes begründet. Die Rezeption der Eliatradition und ihre Verbindung mit der Gestalt des Täufers verdient dabei besondere Beachtung. Während „die Belege für eine Erwartung Elias als Vorläufer des Messias außerhalb des Neuen Testamentes spät und zudem spärlich sind“ (Öhler, 29), kennt das Frühjudentum eine Eliaerwartung in Bezug auf das Kommen Jahwes, wobei die Tendenz dahingeht, dem Auftreten Elias selbst messianische Züge zu verleihen. Elia zu einem Vorläufer des Messias zu stilisieren, blieb der neutestamentlichen Überlieferung überlassen und war motiviert durch das Anliegen einer entsprechenden Verhältnisbestimmung von Jesus und dem Täufer, der, wie erwähnt, möglicherweise „als der wiedergekommene Elia auftrat“ (Öhler, 105) oder doch von seinen Anhängern als Elia redivivus angesehen wurde. Dass er sich als Vorläufer des Messias Jesus verstanden hat oder von den Seinen als solcher verstanden wurde, ist hingegen historisch kaum anzunehmen. Was schließlich Jesu Verhältnis zum eschatologischen Elia betrifft, so hat er sich weder selbst mit ihm identifiziert, noch ist von seinen Nachfolgern eine solche Identifikation vorgenommen worden. „Im jüdischen Volk selbst gab es dagegen unter anderem die Meinung, Jesus wäre der wiedergekommene Elia.“ (Öhler, 250) Im Unterschied dazu sahen die Christenheit und vielleicht bereits Jesus selbst die Eliaverheißung mit dem Auftreten Johannes des Täufers als erfüllt an. Wie in der historischen Jesusforschung muss auch bei der Rückfrage nach dem historischen Johannes die kerygmatische Transformation Berücksichtigung finden, die seiner Gestalt im Neuen Testament unter österlich-pfingstlichen Bedingungen zuteil wurde. Auch wenn unbestreitbar ist, dass das neutestamentliche Gedächtnis des Täufers einen Anhalt an der Historizität seiner Geschichte hat und sich keineswegs bloßer Einbildungskraft des christlichen Glaubens verdankt, ergeben sich aus den historisch rekonstruierbaren Daten keine eindeutigen Urteile in Bezug auf den messianisch-christologischen Gehalt der Erwartungen des Täufers. Historisch spricht vieles dafür, dass ihm die vom Neuen Testament bezeugte Mes-

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sianität Jesu verborgen blieb. Entsprechendes gilt für den Jüngerkreis, den Johannes nach Prophetenart zu seinen Lebzeiten um sich geschart und dem anfangs wohl auch Jesus angehört hatte. Dieser Kreis blieb nach der Ende der zwanziger bzw. Anfang der dreißiger Jahre zu datierenden Ermordung des Johannes erhalten, wobei es offenbar zu Rivalitäten mit der urchristlichen Bewegung kam, wie sie sich nach dem Kreuzestod Jesu und den österlichen Ereignissen auszubilden begann. Spuren solcher Spannungen zeigen sich im neutestamentlichen Zeugnis noch an einigen Stellen. Sie halten in Bezug auf Johannes und seinen Kreis die Erinnerung daran wach, dass ohne die Wahrnehmung von Ostern und Pfingsten weder die Sendung des irdischen Jesus noch die Bestimmung der Menschen um ihn in ihrer christlichen Wahrheit unzweideutig erfasst werden können. Das gilt auch für die Mission des Johannes einschließlich des historischen Selbstverständnisses, welches er von ihr hatte. Zu ergänzen ist, dass sich eine Beziehung Johannes des Täufers und seiner Jüngerschaft zu der ursprünglich der jüdisch-syrischen Gnosis zuzurechnenden Taufsekte der Mandäer nicht nachweisen lässt (vgl. Rudolph I, 66–80): „... mit den Jüngern des Täufers Johannes haben die Mandäer nichts zu tun, deren Heros sie aber in späterer Zeit aus besonderen Traditionen übernahmen und zu einem ihrer Propheten machten“ (Rudolph I, 253). Im Zentrum des mandäischen Kults stehen neben der sog. Seelenaufstiegszeremonie Wasserriten lustrativer und sakramentaler Art, die sich auf ostjordanisch-syrische Taufbewegungen zurückführen lassen (vgl. Rudolph II, 61ff.). Im Bereich der syrischen Gnosis dürfte auch die Grundgestalt und die älteste Schicht des mandäischen Mythos beheimatet sein. Um von den geschichtlichen Nachwirkungen der Gerichtspredigt und Täuferbewegung wieder zu ihrem Ursprung und Jordantaufe insbesondere auf die Inhalte der Predigt Johannes des Täufers zurückzukommen, so kennzeichnen ihn diese eindeutig als apokalyptischen Propheten. Als solcher wurde er von den Zeitgenossen wahrgenommen und von der Überlieferung bezeugt. Auch wenn er „in keines der vorgestanzten Schemata“ (Ernst, 290) spezifischer Prophetentypen passt, ist die Nähe zur apokalyptischen Endzeitprophetie doch offenkundig. Johannes trat als „Prophet Gottes in letzter Stunde“ (Ernst, 300) auf, der Gericht predigte (vgl. Mt 3,7–10.12/Lk 3,7–9.17), zu Umkehr und Taufempfang aufrief (vgl. Mt 3,8/Lk 3,8; Mt 3,11; Mk 1,4/Lk 3,3; Mt 3,2) und – unbeschadet der bestehenden Bedenken gegen die Authentizität der sog. Standespredigt (vgl. Lk 3,10–14) – ethische Weisungen und Mahnungen mit dem Gerichtsruf zur Umkehr verbunden haben dürfte. Die warnende Verkündigung der unmittelbaren Nähe des göttlichen Zorngerichts und die Schärfe der Drohung, die mit ihr verbunden und durch die Bildworte von der Axt und dem Baum (Mt 3,10/Lk 3,9) und von der Spreu und dem Weizen (Mt 3,12/ Lk 3,17) zugesteigert wird, macht den Ernst des Entscheidungsaugenblicks und seine eschatologische Dringlichkeit unmissverständlich deutlich. Alle vom jüdischen Volk aufgrund gegebener Abrahamskindschaft in Anschlag gebrachten Heilsgarantien bzw. Unheilsvorbehalte werden mit schneidender Strenge abgewie-

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sen. „Ihr Schlangenbrut, wer hat euch denn beigebracht, dass ihr dem kommenden Zorn entrinnen werdet?“ (Mt 3,7b) Geburtsmäßige Abstammung ist im göttlichen Endgericht nutz- und wertlos, denn es wird nach keinem anderen Maß gerichtet werden als nach demjenigen der Gerechtigkeit. Eine allerletzte Möglichkeit des Heils und der Rettung vor kommendem Zorn und Feuergericht am Tage des Herrn bietet einzig und allein die geforderte radikale Umkehr. Die eschatologische Definitivität der Forderung radikaler Umkehr wird durch das Zeichen des Untertauchens im Jordanwasser ratifiziert, das Johannes seinen Beinamen gab. „The Immerser“ (Taylor) besiegelt seine Gerichtspredigt durch die Taufe in Form eines Symbols, das mehr und anderes ist als ein bloß äußeres Zeichen und daher mit Recht ein eschatologisches Sakrament genannt werden kann. Doch bewirkt die Taufe nicht eigentlich, was sie bezeichnet, sondern hat den entschiedenen Willen zur Umkehr zur Voraussetzung, deren Vollzug sie sinnenfällig zur Geltung bringt. Zugleich birgt sie die Verheißung in sich, die angehäufte Schuldenlast zu beheben und den göttlichen Zorn zu versöhnen. Obgleich die Johannestaufe Sündenvergebung nicht an sich selbst und durch ihren bloßen Vollzug bewirkt, so präfiguriert sie doch das Heil, das Gott dem zu radikaler Umkehr und zu konsequenter Gesetzeserfüllung Bereiten im unmittelbar bevorstehenden Endgericht gewähren wird. Ohne bereits das Eschaton heilsam zu vergegenwärtigen, ist die Johannestaufe doch Zeichen und Mittel der heilsamen Befreiung vom göttlichen Zornesgericht der nahegekommenen Endzeit (vgl. Müller, 38ff.). Darin liegt ihr Charakteristikum begründet, das sie signifikant von den überkommenen alttestamentlichen Waschungen, dem jüdischen Proselytentauchbad oder den Tauchbädern der Qumrangemeinde unterscheidet (vgl. Ernst, 320ff.). Die prophetischeschatologische Wassertaufe des Johannes wird aus Gründen, die kennzeichnend für ihren endzeitlichen Charakter sind, nicht nur einmal vollzogen, sie ist auch einzig in ihrer Art. Die Botschaft des Johannes enthält die Ankündigung eines kommenden Stärkeren, der nicht mit Wasser, sondern mit Feuer taufen wird. Auf ihn ist auch die Anfrage des Täufers an Jesus aus dem Gefängnis heraus bezogen, von der Mt 11,2f./Lk 7,18f. berichtet wird. Der geschichtliche Hintergrund der Szene ist schwer aufklärbar. Wahrscheinlich ist sie erst in urchristlicher Tradition gebildet worden, möglicherweise als Reflex einer Auseinandersetzung zwischen österlicher Jesusgemeinde und Täuferschülern. Trifft dieser Befund zu, dann wird nicht nur die Identifikation des johanneischen „Erchomenos“ mit Jesus, die der Täufer zeitlebens kaum vorgenommen haben dürfte, sondern das messianische Verständnis des vom Täufer angekündigten „Kommenden“ (vgl. Mt 3,11 par Lk 3,16f.) insgesamt zweifelhaft. Diese Zweifel verstärken sich durch die Erkenntnis, dass der Name „Erchomenos“ weder eine urchristliche noch eine übliche jüdische Messiasbezeichnung darstellt. Ist der kommende Feuertäufer, der den Ausdrusch durch Worfeln reinigen, den Weizen von der Spreu sondern und das Stroh verbrennen wird in unauslöschlichem Feuer, eine von Gott unterschiedene messianische Richtergestalt oder Gott selbst, den Johannes als den Stärkeren bzw. den Stärksten ver-

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kündet? Gegen letztere Annahme scheint das Wort des Täufers zu sprechen, wonach er nicht wert sei, dem kommenden Starken die Sandalen zu bringen oder die Schuhriemen zu lösen. Doch ist nicht auszuschließen, dass Johannes das unter jüdischen Bedingungen bedenkliche Bild wählte, um seine Stellung als Diener Gottes pointiert und einprägsam zum Ausdruck zu bringen. Wie manche Einzelheiten der Geschichte seines Der Tod des Täufers Lebens und Wirkens sind auch die genauen Umstände des Todes des Täufers historisch nur schwer zu erheben. Zwei Texte berichten unabhängig voneinander über seine Gefangenschaft und sein Ende: der Nachtragspassus Mk 6,17–29, den die übrigen Synoptiker rezipieren, und der Abschnitt Ant. 18,116–119 des jüdischen Historikers Josephus Flavius. Beide Quellen sind nicht nur in ihrer Schilderung der Todesumstände des Johannes, sondern in seiner Darstellung insgesamt tendenziös. Mk nimmt wie die anderen Evangelien und die Apostelgeschichte an Johannes nur insofern Interesse, als er für die Geschichte Jesu bedeutsam ist; Josephus orientiert sich an den Vorstellungen seiner hellenistisch-römischen Leserschaft und stellt den Täufer als einen Tugendlehrer im Stile zeitgenössischer Philosophenschulen dar. Der prophetisch-apokalyptische Gehalt der Täuferbotschaft wird ethisiert, der eschatologische, auf den endzeitlichen Richterspruch Gottes hingeordnete Charakter der Johannestaufe mehr oder minder abgeblendet. Kurzum: der Johannes des Josephus bietet „Philosophie statt Bußpredigt“ (Schlatter, 59; bei Sch. kursiv). Trotz grober Verzeichnungen ist der Johannesbericht des Josephus keineswegs ohne Quellenwert, insbesondere was Ort und Umstände des Todes des Täufers anbelangt. Die Notiz, dass Johannes durch Herodes Antipas in der im Süden Peräas östlich des Toten Meeres gelegenen Festung Machärus gefangengesetzt und umgebracht worden sei, verdient aller Wahrscheinlichkeit nach den historischen Vorzug gegenüber der Mk 6,17ff. implizit vorausgesetzten Annahme, wonach die Hinrichtung des Täufers in der Residenz des Tetrarchen im galiläischen Tiberias stattgefunden habe. Mit einem weitaus geringeren Grad an Wahrscheinlichkeit sind die chronologischen Differenzen zu beheben, die zwischen den synoptischen Evangelien und Josephus in Bezug auf den Zeitpunkt der Hinrichtung bestehen. Wann genau der Täufer gestorben ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Vielleicht ist sein Tod nicht erst Anfang des vierten, sondern bereits gegen Ende des dritten nachchristlichen Jahrzehnts erfolgt. Die Motive für die Hinrichtung Johannes des Täufers waren sicherlich primär politischer Natur, wie Josephus dies voraussetzt. Dies schließt nicht aus, dass auch eher private Gründe eine Rolle gespielt haben, wie sie im sog. Herodestadel Mk 6,18/Mt 14,4/Lk 3,19 benannt werden. Ohnehin lässt sich zwischen Politik und Privatangelegenheit im gegebenen Fall nur bedingt unterscheiden. Dass die von den Synoptikern erwähnte, auf eine Privataffäre bezogene Herodeskritik des Johannes politisch brisant sein konnte, tritt auf dem Hintergrund des aus den Ehehändeln entstandenen Konflikts des Tetrarchen mit dem Nabatäerfürsten Aretas IV., auf den Josephus hindeutet, unschwer erkennbar zutage. Obwohl über die

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Detailgründe der Inhaftierung des Johannes, über die Dauer seiner Haft und über die unmittelbaren Anlässe des Tötungsbeschlusses und der schließlichen Hinrichtung keine völlig sicheren Angaben zu machen sind, steht doch die Tatsache fest, dass der Täufer Opfer bzw. Märtyrer seiner in Wort und Zeichen verkündeten eschatologischen Bußbotschaft wurde, welche als endzeitlicher Prophet auszurichten er sich von Gott berufen und gesandt wusste. In seinem gewaltsamen Tod erfüllte sich die Mission Johannes des Täufers. Seine Schüler haben das Gedächtnis seiner Zeugenschaft und die Erinnerung an sein Martyrium lebendig erhalten. Ob es schon zu Lebzeiten des Täufers einen festen Kreis von Johannesjüngern gab, ist umstritten. Mit einer losen Gruppierung von Anhängern wird man auf jeden Fall zu rechnen haben. Auch nach dem Tod des Johannes blieb ein Kreis von Taufschülern erhalten, die das Geschick ihres prophetischen Lehrers zu deuten und sein Andenken insbesondere durch Fortsetzung der Taufpredigt zu pflegen suchten. Ohne auf die Geschichte der Täuferbewegung weiter einzugehen (vgl. Ernst, 349ff.), sei nur noch einmal notiert, dass es zwischen ihr und der Jesusbewegung bereits früh und über längere Zeiten hinweg mannigfache Beziehungen gegeben hat, die teils zu Verschwisterung, teils zu wechselseitiger Abgrenzung geführt haben. Stand am Anfang eher das Bewusstsein der Nähe, so setzte eine fortschreitende religiöse Entfremdung spätestens zu dem Zeitpunkt ein, als die frühe Christengemeinde den gekreuzigten Jesus als Messias und Menschensohn proklamierte und Johannes nur noch als Vorläufer gelten ließ. Diese Entwicklung reflektiert sich in den neutestamentlichen Zeugnissen und in der frühchristlichen Literatur auf vielfältige Weise, wobei bei aller Vielfalt zwei durchgängige, sich gegenseitig bedingende Tendenzen erkennbar sind: einerseits wird die Größe des Johannes und die in seiner Sendung erreichte Vollendung hervorgehoben, andererseits klargestellt, dass die Bedeutung des Täufers nicht in ihm selbst bzw. in ihm selbst nur insofern begründet lag, als er Vorläufer eines anderen war, in dessen Ankündigung sich seine Mission erfüllte. In der Perspektive des frühen Christentums ist Johannes wesentlich der Wegbereiter Jesu. Der Der Täufer und sein Täufling Markusprolog bietet dafür nur einen Beleg unter vielen: Obwohl er dem Täufer „fast genauso viel Raum“ gibt wie Jesus, ragt Johannes „mit seinem Schicksal ins Evangelium nur noch in der Form der Rückerinnerung herein“ (Klauck, 112f.). Allerdings verdient es bemerkt zu werden, dass das älteste Evangelium Johannes und Jesus auch noch in ihrer Unterscheidung konstruktiv aufeinander bezieht. Signifikant ist dafür etwa die Verwendung von paradidonai in Mk 1,14 (Mt 4,12), mit der die Übergabe ins Gefängnis, aber auch die Auslieferung an die Willkür der Sünde und die Dahingabe in den Tod bezeichnet sein kann. Gerade indem er den genauen Sinn der Wendung unbestimmt lässt, ermöglicht Mk die Assoziation von inneren Zusammenhängen, die dem äußeren Augenschein zunächst verborgen bleiben. „Mk parallelisiert das Los des Täufers und das Jesu, und zwar in der Weise, dass er zugleich eine scharfe heilsgeschichtliche Periodisierung vornimmt: auf die Wirksamkeit des Täufers folgt die Jesu, und

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beider Ende ist die Dahingabe. Damit erklärt sich auch die Unbestimmtheit der Formulierung; Mk ist primär am eschatologischen, nicht am historischen Aspekt interessiert.“ (Popkes, 143f.) Was Jesu historisches Verhältnis zu Johannes angeht, so ist trotz verbleibender Unsicherheiten damit zu rechnen, dass er vor seinem öffentlichen Auftreten engere Kontakte zum Täufer hatte, möglicherweise sogar seinem Schülerkreis angehörte. Außer Frage steht, dass Jesus sich von Johannes im Jordan taufen ließ. Ob er bei dieser Gelegenheit ein Berufungserlebnis gehabt hat, das möglicherweise den Beginn seines öffentlichen Wirkens veranlasste, muss offen bleiben. Als sicheres Faktum hat zu gelten, dass er sich der Bußtaufe in eschatologischer Erwartung des Endgerichts unterzog, dessen unmittelbares Bevorstehen Johannes verkündete. Gegenüber der Annahme einer eigenen Tauftätigkeit Jesu, wie Joh 3,22ff. sie voraussetzt, ist Skepsis angebracht, da die Synoptiker nichts davon wissen bzw. gänzlich davon schweigen. Wahrscheinlich hat Jesus die Johannestaufe nicht und zwar deshalb nicht fortgesetzt, weil ihr Sinn primär von der Drohung nahenden Zorngerichts und der Forderung radikaler Buße und nicht von der Zusage des väterlichen Entgegenkommens bzw. des bevorstehenden Väterlichkeitserweises Gottes bestimmt war, der für seine Reich-Gottes-Botschaft und eschatologische Umkehrpredigt zentral war. Erst die Urgemeinde hat die Taufe erneut, aber nun unter der gegenüber Johannes gewandelten Voraussetzung geübt, dass das eschatologische Heil im Namen Jesu beschlossen und auch schon präsent sei für alle, die an den auferstandenen Gekreuzigten glauben. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Johannes, wie sie bereits für das Verhältnis Jesu zu ihm kennzeichnend waren, treten sonach in der urchristlichen Taufe zugleich und in einem zutage, wobei derjenige, der sich einst von Johannes taufen ließ, nun nicht nur als der eigentliche Täufer, sondern auch als zentraler Sinngehalt der Taufe fungiert. Die inneren, im eigentümlichen Gehalt seiner Reich-Gottes-Botschaft begründeten Ursachen für den von Jesus wahrscheinlich geübten Verzicht auf eine Fortsetzung der Taufe des Johannes werden durch offenkundige Unterschiede im äußeren Auftreten sinnenfällig illustriert. Mit Martin Dibelius zu reden: „hatte der Täufer das Volk an den Jordan gerufen, um sie in der Einsamkeit der Araba auf die düstere Wolke hinzuweisen, die drohend über ihren Häuptern stand, so suchte Jesus in der Stadt Kapernaum und an dem belebten Ufer des galiläischen Meeres die Leute bei ihrer Arbeit auf und zeigte ihnen die Sonne am Himmel, die der Vater aufgehen lasse über die Bösen und über die Guten.“ (Dibelius, 139) Zwar ist dieser Satz in hohem Maße präzisierungs- und differenzierungsbedürftig. Aber gerade insofern kann er Anlass bieten, die jesuanische Botschaft der nahenden Königsherrschaft Gottes selbst zu thematisieren, um von dort her der Unterschiede zu und des bleibenden Zusammenhangs mit Johannes und seiner durch die Taufe besiegelten eschatologischen Bußpredigt ansichtig zu werden. Bevor dies geschieht, seien noch einmal einige für die Jesusbewegung besonders relevante Aspekte der Sendung des Täufers zusammenfassend hervorgehoben, um abschließend zu markieren, worin die spezifische Eigentümlichkeit der Reich-Gottes-Bot-

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schaft des Johannes im Vergleich zu den vielfältigen Verheißungserwartungen und Zukunftsoptionen im Frühjudentum bestand. Die Jesusbewegung war auf Erneuerung Israels in krisenhafter Zeit ausgerichtet. Dieses Ziel verfolgten auch andere Erneuerungsbewegungen im zeitgenössischen Judentum Palästinas. Im Wesentlichen geschah dies auf der gemeinsamen Basis von Monotheismus und Tora, die bei allen sonstigen Unterschieden als verbindend und verbindlich vorausgesetzt wurden. Auch der im Jerusalemer Tempel zentrierte Kult darf als religiöser Integrationsfaktor für das palästinische Judentum in hellenistisch-römischer Zeit nicht unterschätzt werden. Die Priester und Leviten waren in weiten Bereichen der Bevölkerung unangefochten religiöse Autoritäten, der Tempel der Mittelpunkt des politisch gesellschaftlichen Lebens weit über Judäa hinaus. Doch formierten sich neben und z.T. auch als Gegenpol zu priesterlichlevitischen Kreisen religiöse Laienbewegungen mit spezifischem Eigengepräge. Namentlich die Pharisäer in ihrem differenzierten Verhältnis zu den Sadduzäern bieten hierfür ein Beispiel. Insgesamt stellt sich das Judentum des ersten nachchristlichen Jahrhunderts bei aller gegebenen Gemeinsamkeit als keine einheitliche Größe, sondern als ein religiös und soziokulturell plurales Gebilde dar, wobei die Ursachen der internen Pluralisierung über die makkabäische Ära hinaus bis in die Perserzeit und die Zeit des Exils zurückreichen. Wie die Bewegung, die er ins Leben rief, hat Jesus seinen Ort im Kontext jüdischer Religionsgeschichte, der er historisch zugehört. Jesus war nach Herkunft und religiöser Überzeugung Jude. „Gleichwohl lässt er sich keiner der religiösen Richtungen des Judentums seiner Zeit zuordnen. Am nächsten steht er noch den Pharisäern; aber die Differenzen zu ihnen, erst recht aber zu den Bewegungen der Essener und insbesondere zur priesterlichen Institution der Sadduzäer sind doch so groß, dass nach der Eigenständigkeit der Gestalt Jesu und seines theologischen Standortes zu fragen ist.“ (Hoppe, 83) Eine erste Antwort auf diese Frage vermag Johannes der Täufer bzw. der Vergleich zwischen seiner Sendung und derjenigen Jesu zu geben. Denn aus den ältesten Quellen der Jesusgeschichte Mk und Q geht eindeutig hervor, dass die Botschaft Jesu entscheidend von der „Aufnahme der Täuferpredigt des nahen Gerichtes geprägt (war), die bei ihm durch die Rede von der angebrochenen basileia Gottes noch einmal einen eigenen Schwerpunkt erhält“ (Schröter, 484). Johannes der Täufer war ein apokalyptischer Endzeitprophet. Seine Verkündigung steht ganz Die kommende Basileia im Zeichen eschatologischen Gerichts, dessen baldiges Kommen er ankündigt, um in äußerster Dringlichkeit zur Umkehr, zum Bekenntnis der Sünden und zu einem gottergebenen Leben aufzurufen. Signum der Abkehr vom verkehrten Alten und der Hinkehr zum künftigen Neuen ist das Tauchbad der Taufe, die Johannes im Jordan an Bußfertigen übte, wobei hinzugefügt zu werden verdient, dass der Täufer selbst ungetauft war: „Nirgend ist überliefert, dass er sich der Bußtaufe unterzogen hat.“ (Schütz, 5) Die Johannestaufe lässt sich weder aus der jüdischen Proselytentaufe ableiten noch besteht ein unmittelba-

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rer Zusammenhang zwischen ihr und den qumranischen Waschungen und Bädern. Sie gehört vielmehr in den religionsgeschichtlichen Zusammenhang einer apokalyptischen Rezeption prophetischer Traditionen, die auf eine endzeitliche Reinigung Israels von allen Sünden durch Wasser ausgerichtet sind (vgl. Ez 36,25f.; 47,1ff.; Jes 4,4) Im Alten Testament sind über dreißig symbolische Handlungen von Propheten überliefert; die Johannestaufe schließt an diese Traditionen an, überbietet sie aber zugleich durch den eschatologischen Anspruch der Einmaligkeit und Endgültigkeit, den der Täufer mit seiner Zeichenhandlung verband. Ob Johannes in dem Bewusstsein taufte, „die endzeitliche, allein Gott zukommende Sündenvergebung sakramental zu bewirken“ (Thyen, 137), scheint fraglich. Eher dürfte er das Tauchbad im Jordan als eine zeichenhafte Versiegelung jener radikalen Umkehr verstanden haben, die er verkündete und zur Bedingung der Errettung aus dem unmittelbar bevorstehenden endzeitlichen Strafgericht Gottes erklärte. Die Radikalität der von Johannes geforderten Umkehr und der ins Zeichen der Taufe gefassten Verheißung auf Bewahrung im eschatologischen Gericht ermisst man erst, wenn man beide im Kontext religiöser Zukunftsoptionen beurteilt, welche die frühjüdische Frömmigkeit bestimmten. Sie sind trotz gegebener Gemeinsamkeiten im Einzelnen höchst variabel und weisen eine große Bandbreite auf. „Neben der rein theokratisch auf Jerusalem und Juda beschränkten Erwartung findet sich die Hoffnung auf ein jüdisches Weltreich. Neben der Erwartung der Gottesherrschaft als zukünftiges Ereignis steht eine geradezu präsentische Eschatologie. Neben dem Ausblick auf einen Bruch in der Geschichte durch das Völkergericht oder kosmische Katastrophen existiert die Meinung eines übergangslosen Hineinwachsens in das goldene Zeitalter. Neben der rein auf Erneuerung irdischer Verhältnisse ausgerichteten Erwartung gibt es die Erwartung des Weltuntergangs und einer neuen Schöpfung nach Totenauferstehung und Weltgericht. Schließlich zeichnet sich neben dem Blick auf das Kommen der alleinigen Herrschaft Gottes die Tendenz ab, zwischen altem und neuem Äon eine Türhütergestalt zu sehen: den Menschensohn als endzeitlichen Richter, Erlöser und Offenbarer. Aber auch diese Funktion zwischen den Zeiten hat ihr Korrelat in der Sicht des Menschensohns als Mandatar Gottes unter den Gerechten im neuen Äon. Die Vorstellung der Herrschaft Gottes ohne Beteiligung des Messias zeigt sich äußerst wandlungsfähig. Das Gesetz spielt in dieser Eschatologie eine bedeutende Rolle. Es bewahrt den Frommen auf diese Heilszeit hin. Es stellt den Maßstab des Endgerichts. Es bildet die Ordnung der zukünftigen Heilszeit.“ (Kellermann, 124f.) Entsprechend variabel wie die religiösen Zukunftsoptionen sind die Erwartungen, die sich mit der Rede von Gottes Verheißungen im Frühjudentum verbinden. Als Verheißungsempfänger kommen in den frühjüdischen Schriften Abraham und die Väter, Mose und sonstige Führer Israels, die Könige David und Salomo, schließlich das auserwählte Volk selbst in Betracht (Sass, 200: „Israel, das von Gott geliebte und erwählte Volk, ist sicherlich der wichtigste Verheißungsempfänger.“). Als Verheißungsinhalte fungieren Land, Erbteil und ruhiges Wohnen, Nachkommenschaft und andere Segnungen, Gottes Gnade und Barmherzigkeit sowie escha-

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tologische Heilsgüter, die Auferstehung, ewiges Leben und die zukünftige Welt betreffen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Verheißung des Geistes als einer endzeitlichen Gabe. Die den Verheißungen Gottes entsprechende Antwort des Menschen besteht im Wesentlichen im Gehorsam gegenüber dem Gesetz und im Tun der Gebote, in einem gerechten und frommen Leben sowie einer Hoffnung, die der göttlichen Verheißungstreue und Zuverlässigkeit gläubig vertraut (vgl. Sass, 195ff.). Einzelne Elemente der genannten frühjüdischen Verheißungsund Zukunftserwartungen lassen sich auch bei Johannes identifizieren. Doch entscheidender ist folgende Beobachtung: „Während Israel meint, weiterhin in der Kontinuität der durch den Bundeschluss Gottes mit Abraham einsetzenden heilvollen Vergangenheit zu stehen, erschüttert Johannes Israels Heilsoption in ihren Grundfesten, indem die bisherige Verknüpfung von Heil und Geschichte durchbrochen wird.“ (Dobbeler, 237) Erst von daher wird die Radikalität der – durch die mit ihr verbundene Taufe nicht etwa relativierten, sondern bestätigten – Umkehrforderung des Johannes und die Art und Weise verständlich, in der er apokalyptische Traditionen rezipierte.

9. Die Botschaft von der nahenden Gottesherrschaft und eschatologische Zeichenhandlungen Jesu

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Wie Johannes der Täufer war auf seine Weise Endzeitprophet in apokalypauch Jesus von Nazareth ein Endzeitprophet in tischer Tradition apokalyptischer Tradition. Jedenfalls scheint diese Kennzeichnung weitaus mehr Anhalt an Jesu historischem Selbstverständnis und am Verständnis derer zu haben, die ihm begegneten, als die meisten der christologischen Hoheitstitel, mit der ihn die spätere kirchliche Überlieferung versah. Allenfalls die Rede vom Menschensohn markiert eine mögliche Ausnahme, wohingegen die sonstigen Titel kaum der Jesustradition entstammen, sondern erst nach Ostern auf den Vorösterlichen Anwendung fanden. Auch als Priester oder Hohepriester, wie ihn der Hebräerbrief charakterisiert, ist der historische Jesus sicher nicht aufgetreten. Ebensowenig repräsentierte er den Typus des philosophischen Wanderlehrers oder gar des antiken Schulphilosophen. Zwar finden sich in Jesu Botschaft zahlreiche Weisheitsmotive, die protologisch orientiert und durch „die Suche nach einer (offenen) Regelfindung in Bezug auf die durch Ambivalenz geprägte Wirklichkeit“ (Rondez, 49) ausgezeichnet sind; aber sie sind in den eschatologischen Kontext integriert, dessen Form und Inhalt durch die Botschaft vom endzeitlichen Kommen des Gottesreiches bestimmt war. Die „tiefe Fremdartigkeit“ (Gogarten, 37), die der apokalyptischen Tradition nach heutiger Einschätzung eignet, darf die Einsicht nicht verstellen, dass die Verkündigung Jesu in ihren Zusammenhang gehört. Die Verkündigung des nahen Reiches Gottes verbindet Jesus aufs engste mit Johannes dem Täufer. Ob dieser in ihm jenen Stärkeren zu erkennen vermochte, der nach ihm kommen wird, um zu richten nach Maß göttlicher Gerechtigkeit, ist historisch mehr als zweifelhaft. Vieles spricht dafür, dass Johannes mit dem kommenden Starken niemand anders meinte als Gott selbst, dessen eschatologisches

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Gericht er ansagte. Aber selbst für den Fall, dass sich die johanneische Rede vom erchomenos auf eine messianische Gestalt bezog, muss immer noch offen bleiben, ob diese vom Täufer mit Jesus gleichgesetzt wurde, was unwahrscheinlich ist. Es empfiehlt sich daher, das Verhältnis von Jesus und Johannes nicht primär unter dem Gesichtspunkt formaler Autorität und ihrer Anerkennung, sondern unter inhaltlichen Aspekten ins Auge zu fassen. Weder Johannes der Täufer noch Jesus haben förmliche Apokalypsen oder vergleichbare Offenbarungsschriften verfasst oder auch nur angeregt. Dennoch gehört ihre Botschaft in den Überlieferungszusammenhang prophetisch-apokalyptischer Tradition, die ihnen gemeinsam ist. Zwar finden sich auch weisheitliche Motive. Aber diese sind fest in den eschatologischen Sinnhorizont integriert, wie das in der Apokalyptik seit jeher der Fall war. Jesu Weisheitsworte und Metaphern, in denen er seine Botschaft gleichnishaft zum Ausdruck brachte, sind ganz durch die Erwartung endzeitlichen Kommens des Gottesreiches bestimmt. Mit sapientialen Allegorien haben die jesuanischen Gleichnisse wenig gemein. Wie seine Weisheitslehre, der alles Spekulative abgeht, ist auch Jesu Gesetzesauslegung eschatologisch geprägt. Sie gleicht einer endzeitlich ausgerichteten prophetischen Tora, die Kasuistik meidet und alles auf die bevorstehende Ankunft der Gottesherrschaft ausrichtet, die ihren Skopus darstellt. Entsprechendes gilt von den Zeichenhandlungen Jesu. Seine Exorzismen und Dämonenaustreibungen wollen als Wirkzeichen der bereits im Anbruch begriffenen Gottesherrschaft verstanden werden. Ob Jesus das Kommen des Gottesreiches mit der Ankunft einer messianischen Gestalt neben Gott assoziierte, ist schwer zu entscheiden. Manche Exegeten deuten die Worte, die vom künftigen Menschensohn reden, in diesem Sinn. Dafür sprechen einige Gründe. Doch sicher ist diese Deutung nicht. Denkbar ist ebenso, dass die jesuanische Eschatologie ohne messianologische Anteile auskam, wie das für Johannes den Täufer wahrscheinlich ist, mit dessen eschatologischer Endzeitprophetie die jesuanische Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft unter allen religionsgeschichtlichen Erscheinungen der Zeit am engsten verwandt ist, ohne dass sich elementare Unterschiede übersehen ließen. Diesen Unterschieden soll im Folgenden besondere Aufmerksamkeit zugewendet werden, und zwar unter ständigem Bezug auf jenen Begriff, der der Botschaft Jesu und Johannes des Täufers gemeinsam ist und im Zentrum ihrer Verkündigung steht. In der Forschung herrscht aufs Ganze gesehen Reich-Gottes-Predigt nach wie vor weitgehende Einigkeit, dass der Begriff des Reiches Gottes, welcher demjenigen des Reiches der Himmel gleichsinnig ist, das Zentrum der Botschaft Jesu bildet. Die Rede von der basileia Gottes begegnet bei den Synoptikern auffallend häufig, wohingegen sie im übrigen Neuen Testament vergleichsweise zurücktritt. Dass sie auf authentischen Jesusworten basiert, steht außer Zweifel. Zwar ist die Thematik von Königtum, Königsherrschaft und Reich Gottes im frühjüdischen Schrifttum ingesamt häufig anzutreffen. „Nirgends in der frühjüdischen Literatur steht die Herr-

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schaft Gottes jedoch so im Zentrum der Verkündigung wie bei Jesus.“ (Camponovo, 444) In Helmut Merkleins Studie über „Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft“ ist der terminologische Befund übersichtlich dargestellt und traditionsgeschichtlich ausgewertet (Merklein, 17–26; vgl. ferner Schenke u.a. 106ff.). Weitere Einzelheiten sind dem einschlägigen Artikel im theologischen Wörterbuch des Neuen Testaments zu entnehmen (vgl. ThWNT I, 562–595). Seine Wurzeln hat das Lexem in der alttestamentlichen und frühjüdischen Überlieferung, die seinen Sinngehalt vorprägte. Hervorzuheben ist der aktiv-dynamische Charakter des Begriffs: die Abstraktbildung malkut ist ein nomen actionis und bezeichnet wie das griechische Äquivalent weniger Reich als vielmehr den Vollzug königlicher Herrschaft. Entsprechend ist die basileia-Verkündigung Jesu auf die aktive Dynamik des anbrechenden Herrschens Gottes als König ausgerichtet. Jahwes Prädikation als König, die seit alters zum kultischen Lobpreis Israels gehörte, ist dem Judentum der Zeit Jesu neben dem Jerusalemer Tempelkult vor allem aus dem synagogalen Gottesdienst und seiner Liturgie bekannt. Im Übrigen prägte das tägliche Gebet um die Verwirklichung der Königsherrschaft des einen Gottes, der in seiner Herrlichkeit die Welt erschaffen und Israel zu seinem Volk erwählt hat, das Leben jedes einzelnen jüdischen Frommen, der durch Toragehorsam den Namen Gottes zu heiligen und seinem Willen zu entsprechen suchte in der Welt. Dabei ist erneut zu bedenken, dass die Rede von der Königsherrschaft Gottes seit Deuterojesaja und in der nachexilischen Prophetie eschatologischen Sinn angenommen hat und zum zentralen Ausdruck israelitischer Endzeithoffnung geworden ist. Diese Entwicklung hat, wie das Quaddisch zeigt, auch auf die synagogale Gebetspraxis eingewirkt und in der frühjüdischen Apokalyptik ihre konsequenteste Ausdrucksform gefunden. Wie diejenige des Täufers vollzieht sich auch die jesuanische Reich-Gottes-Verkündigung im Horizont apokalyptischer Eschatologie. Endzeitlich geprägt ist die Botschaft beider. Unterschiede in Form und Inhalt zeigen sich erst, wenn man den Charakter der eschatologischen Botschaft Jesu und des Täufers näher zu bestimmen sucht. Der synoptischen Tradition sind Hinweis zu entnehmen, wonach die johanneische Verkündigung auf die Ankunft des kommenden Reiches in der Erwartung definitiven Urteils hingeordnet ist, wohingegen im jesuanischen Zeugnis die Zukunft des göttlichen Reiches entgegenkommt, um primär nicht die Scheidung von Gerechten und Ungerechten zu erwirken, wie dies die Bußpredigt des Johannes und der johanneische Aufruf zur Umkehr voraussetzt, sondern um Gott aus göttlicher Gnade heraus auch denen nahezubringen, die ihm fremd, feind und zuwider sind. Anders als bei Johannes und unbeschadet der Gemeinsamkeit, die beide verbindet, ist die Basileia-Botschaft Jesu offenbar nicht in erster Linie auf das drohende Endgericht ausgerichtet, in dem Gott nach Maßgabe seines Gesetzes eschatologisch richten und definitiv zwischen Gerechten und Ungerechten scheiden wird. Der Skopus der jesuanischen Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft besteht vielmehr in der An- und Zusage väterlichen Entgegen- und Zuvorkommens Gottes, der sich den Armen und Verlorenen zuwendet, um sie zu

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erretten. Damit sind nicht nur diejenigen gemeint, die durch körperliche Leiden und Übel äußerer Art betroffen sind und das Wunder der Heilung und der Erlösung von ihren Gebrechen ersehnen. Zwar gilt auch ihnen die konzentrierte Aufmerksamkeit Jesu, zumal da Krankheit und Tod mit dem Makel kultischer Unreinheit versehen waren und insofern stets eine Dimension religiösen Unheils enthielten. Sein besonderes Augenmerk ist gleichwohl auf jene gerichtet, die sich durch eigene Schuld und sündhafte Verfehlung aus der göttlichen Sphäre entfernt und die nach Maßgabe der von Gott selbst gefügten Ordnung mit Recht als gottlos und vom Kreis der Frommen ausgeschlossen zu gelten haben. Nachgerade ihnen wird die väterliche Nähe des kommenden Gottes verkündet, dessen künftige Herrschaft bereits im Anbruch begriffen ist, wo man der göttlichen Verheißung, die Jesus ansagt, gläubig vertraut und sich auf das Evangelium seiner Basileia-Botschaft verlässt, um so von sündiger Selbstverkehrung bekehrt und zur Umkehr und Abkehr von allem Bösen bewegt zu werden. Jesu Botschaft nimmt die Verkündigung des Johannes auf: „Kehrt um! Denn das Himmelreich ist nahe.“ In Summarien (Mt 4,17; vgl. 10,17) kann seine Predigt mit denselben Worten zusammengefasst werden wie diejenige des Täufers. Lediglich beigefügte Schriftzitate (Mt 3,3; 4,15f.) deuten an, worin sich das Zeugnis Jesu von demjenigen des Johannes abhebt und als neu erweist. Ist das johanneische Zeugnis auf die Ankunft des Kommenden hingeordnet, kommt im jesuanischen Zeugnis die Zukunft des Reiches Gottes entgegen, um jetzt schon gegenwärtig zu sein. Erfüllt sich der Sinn der johanneischen Botschaft in Bußpredigt und Aufruf zur Umkehr, durch welche dem Kommenden die Bahn bereitet werden soll, ist Jesu Predigt Frohbotschaft der nahenden Ankunft der Gottesherrschaft, Evangelium des Reichs, wie es in der Matthäustradition (4,23; 9,35; vgl. auch 1,14–15) treffend heißt. Beiden Aspekten, die sich wechselseitig bedingen, ist nachzudenken, um der Eigentümlichkeit der Predigt Jesu vom Reiche Gottes in ihrem Zusammenhang und in ihrem Unterschied zu derjenigen Johannes des Täufers ansichtig zu werden und zu erkennen, was „The Good News of the Reign of God, the Mightly Works of the Reign of God and the New Way of Life under the Reign of God“ (vgl. Reumann, 142ff.) im Sinne Jesu bedeuten. Jesus hat sich von Johannes im Jordan taufen lassen. Ob er selbst oder seine Jünger tauften, wie das Johannesevangelium voraussetzt (Joh 3,22.26; 4,1f.), ist fraglich und kann unentschieden bleiben. Deutlich ist, daß sich Jesus durch den Empfang der Bußtaufe zur Vergebung der Sünden in den Zusammenhang der Sünder gestellt und nicht von ihnen abgesondert hat. Dieser eigentümliche Zusammenhang ist kennzeichnend sowohl für Jesu gesamtes öffentliches Wirken, das möglicherweise mit der als Berufung erfahrenen Taufe seinen Anfang nahm, als insbesondere auch für seine Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft, die er einerseits mit Johannes teilte, ohne sie doch andererseits unverändert zu übernehmen und fortzusetzen. Ein erster Vergleich, dessen Einzelmomente noch zu explizieren sein werden, ergibt, dass Jesus im Unterschied zum Täufer die Gerichtsbotschaft aus dem Zentrum der Verkündigung herausrückte. Durch Begrenzung wird

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sie dahingehend umgestaltet, dem Gnadenangebot Gottes durch den Hinweis strikten Ausdruck zu verleihen, „dass es jenseits der jetzt angebotenen Basileia kein Heil geben kann“ (J. Becker, Johannes, 106). Damit verbunden ist eine Neubestimmung des Verhältnisses von Gegenwart und Zukunft des Reiches Gottes, welches bereits jetzt zeichenhaft zum Vorschein kommt. „Der Täufer kündigt das drohende Gericht an und fordert die Umkehr und deren Früchte. Für Jesus sind nicht in erster Linie Drohung und Mahnung typisch – obwohl auch diese bei ihm gewiss nicht fehlen – , sondern für die Armen und Verlorenen die Verkündigung der Nähe, ja Gegenwart des Heils, der Zuspruch der barmherzigen Liebe Gottes. Er spricht in auffallender Weise die ‚verlorenen Schafe des Hauses Israel‘, das heißt Ausgegrenzte, ‚Zöllner und Sünder‘ an, so in der ersten Seligpreisung nach Lk 6,20: ‚Selig die Armen, denn euch gehört die Gottesherrschaft.‘ Dies ist im Präsens gesagt. Das Futur erscheint erst in den beiden folgenden Preisungen der Hungernden und Trauernden.“ (Hengel/Schwemer, 333f.) Steht die Endzeitverkündigung des Täufers ganz im Zeichen des künftigen Gottesgerichts, ist Gerichtsdrohung und eschatologische Verheißung die Drohung des Gerichts bei Jesus ein aufgehobenes Moment seiner Basileia-Botschaft, die primär durch die aktuelle, bereits gegenwärtig wirksame Verheißung möglicher Teilhabe am Gottesreich für diejenigen bestimmt ist, welche sich die eschatologische Zusage gefallen lassen, glaubend auf sie vertrauen und ihr durch Nachfolge und insbesondere durch Befolgung des jesuanischen Ethos entsprechen, welches Leidensbereitschaft und Preisgabe aller eigenmächtigen Lebenssicherungen zur Grundvoraussetzung hat. Noch einmal sei die Aufmerksamkeit auf jenen für Johannes den Täufer und Jesus gleichermaßen entscheidenden Begriff des Reiches Gottes fokussiert, um von dorther und unter besonderer Berücksichtigung des Gerichtsaspekts geschärfte Einsicht zu gewinnen in inhaltliche Einheit und Differenz der Botschaft beider. Die Rede vom Reich Gottes, so wurde konstatiert, ist nicht nur mit Sicherheit jesuanisches Gut, sie bildet die innere Mitte der Verkündigung Jesu, welche sie in allen ihren Aspekten charakteristisch bestimmt. „Nachdem man Johannes ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: ‚Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium.‘“ (Mk 1,14f. par) Wie immer man die einzelnen Elemente des Textes, mit dem das älteste Evangelium den Beginn des Wirkens Jesu in Galiläa beschreibt, exegetisch beurteilen mag: dass die für die gesamte synoptische Tradition signifikante Rede vom Gottesreich das Zentrum der Botschaft vom irdischen Jesus ausmacht, steht außer Frage. Ihr Sinngehalt ist identisch mit der bei Matthäus und im judenchristlichen Nazaräerevangelium häufig begegnenden Wendung „Reich der Himmel“ (hebr. schamaim), die auf ihre Weise die Herrschaft Gottes bezeichnet. Wie sie fungieren auch die semitischen Äquivalente des Reich-Gottes-Begriffs als nomina actionis, um die Königsherrschaft des Allmächtigen als dynamisch wirksame Wirklichkeit zu bezeugen. Entsprechend will die jesuanische Rede von der nahen Gottesherrschaft im Sinne aktuellen Sich-Näherns und Nahekommens Gottes

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verstanden sein. Der nahende Gott selbst ist es, der sich seine Ankunft bereitet, um zu herrschen in seinem Reich. Das Nahen der Gottesherrschaft ist ein eschatologisches Ereignis. Auch hinsichtlich dieses Sachverhalts besteht in Bezug auf die Predigt Jesu vom Reich Gottes kein begründeter Zweifel. Der beherrschende Begriff der Verkündigung Jesu ist eschatologischer Art. Dies verbindet ihn mit der apokalyptischen Tradition und ihrer Endzeiterwartung. Wie diese erwartet Jesus das Hereinbrechen der Gottesherrschaft als ein die Weltzeit und die Menschheitsgeschichte des vergehenden Äons zu Ende bringendes Ereignis. Indes bedarf diese formale Entsprechung zwischen der Überlieferung der Apokalyptik und der Reich-Gottes-Botschaft Jesu einer inhaltlichen Näherbestimmung, um aussagekräftig und unmissverständlich zu sein. Jesus verkündet die Zukunft des himmlischen Reiches als väterliches Entgegenkommen des allmächtigen und gerechten Gottes, der gerade denen nahe kommen und zum Nächsten werden will, die ihm fern stehen und feind sind. Von diesem Zentralgedanken her ist nicht nur das unter Exegeten notorisch strittige Problem anzugehen, wie sich futurischer und präsentischer Aspekt in der eschatologischen Verkündigung Jesu zueinander verhalten, sondern auch die jesuanische Gerichtspredigt angemessen zu verstehen, deren Form an den Täufer anschließt, obwohl sie in der Sache nicht unerheblich von ihm abweicht. Jesus teilte das Urteil Johannes des Täufers, dass die distanzlose Nähe des bevorstehenden Gottesreiches den Herrschaftsanspruch Gottes auf unüberbietbare Weise dringlich macht. Begründet ist dieser Anspruch in der Allmacht des Schöpfers Himmels und der Erde. Er erstreckt sich daher auf Menschheit und Welt insgesamt. Nichts ist von ihm ausgenommen. Er umfasst zusammen mit dem Gottesverhältnis alle Verhältnisse des Menschen in seiner Welt einschließlich des menschlichen Selbstverhältnisses. Die konkrete Gestalt des Herrschaftsanspruches Gottes über seine Kreaturen sind die Forderungen der Tora, deren Weisungen das Gesetz und die Verfassungsstruktur des im Kommen begriffenen Gottesreiches benennen. In der eschatologischen Konfrontation mit der Tora Gottes, wie sie in der Predigt des Täufers statthat, tritt die Bosheit der Welt und die menschliche Sündenverfallenheit zutage. Die Gerechtigkeit Gottes und seines in naher Zukunft zu erwartenden Reiches begegnet als drohendes Gericht, dem ausnahmslos alle unterstellt sind. Auf die Ankündigung dieses unmittelbar bevorstehenden Gerichts ist die eschatologische Verkündigung des Johannes insgesamt angelegt mit dem Ziel, eine durch die Jordantaufe ein für alle Mal besiegelte Radikalumkehr zu erwirken, die das bevorstehende Unheil aller beschränkt und im letzten Augenblick durch Sonderung von Israels Rest eine Scheidung von Gerechten und Ungerechten ermöglicht. Wer im Bewusstsein äußerster Bedrängnis durch die Nähe Gottes und die Gerechtigkeit seines Reichs Buße tut und sich aus sündiger Verkehrtheit bekehrt, dem gilt die Verheißung eschatologischen Heils, wohingegen die Unbußfertigen definitivem Unheil verfallen und unwiederbringlich verloren sind. Unbeschadet der Tatsache, das sich innerhalb der Geschichte der synoptischen Tradition ein klarer Trend zur Akzentuierung der Endgerichtsvorstellung beobach-

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ten lässt, ist mit der Vorstellung eines eschatologischen Gerichts auch in der ReichGottes-Verkündigung Jesu unzweifelhaft zu rechnen (vgl. im Einzelnen Zager). Die neutestamentliche Rede vom „Tag des Herrn“, der endzeitliches Gericht und definitive Scheidung von Gut und Böse erbringen wird, weist nicht nur „starke traditionsgeschichtliche Verbindungslinien zum Alten Testament und zum frühjüdischen Schrifttum auf“ (Wendebourg, 21), sondern kann sich auch auf Jesus berufen. Gottes richterliches Einschreiten gegen die Sünde und alles Böse ist auch bei Jesus ein konstitutives Element der eschatologischen Durchsetzung der Gottesherrschaft, die dem Wesen Gottes gemäß eine Herrschaft der Gerechtigkeit ist. Mag die explizite Thematisierung des Endgerichts bei Jesus im Vergleich zur frühjüdischen Tradition und zum Neuen Testament eher zurückhaltend erfolgen, so „bedeutete für ihn nichtsdestoweniger das bereits anhebende und sich in einem zukünftigen endgültigen Akt ereignende Endgericht die notwendige Voraussetzung des Reiches Gottes. Für den historischen Jesus gehörten Herrschaft Gottes und Endgericht untrennbar zusammen.“ (Zager, 316) Die Erwartung des göttlichen Endgerichts ist sowohl ein zentrales Element frühjüdischer Eschatologie als auch bestimmend für Jesu Verkündigung, wie sie an den Einzelnen und das ganze Volk gerichtet ist. Radikale Umkehr ist gefordert. Darin gleicht die Botschaft Jesu derjenigen des Täufers. Ihr Unterschied liegt in einer differenten Bestimmung des Zusammenhangs von Gericht und Heil begründet. „Der Täufer sagt: Wer dem Gericht entrinnt, gelangt ins Heil. Jesus sagt: Wer das Heil verwirft, verfällt dem Gericht.“ (Reiser, 307) Das Gericht ist in der Botschaft Jesu nicht mehr die Voraussetzung für das endgültige Kommen des Heils, sondern vor allem notwendige Folge des abgelehnten oder missachteten Heils (vgl. Reiser, 314). Ob Jesus in diesem Zusammenhang das Verhältnis der Menschen zu seiner Person zum unmittelbaren Kriterium von eschatologischem Heil und Unheil erklärt hat, wie bereits die Worte vom Letzten Gericht in Q voraussetzen, ist fraglich. Näher liegt die Vermutung, er habe das Verhältnis zum Gehalt seiner Reich-Gottes-Botschaft zum eschatologischen Kriterium und das Verhalten zu seiner individuellen Gestalt nur insofern zu einem heilsentscheidenden Datum erklärt, als er als bevollmächtigter Verkündiger dieser Botschaft auftrat. Jesus predigte das Kommen des gerechten Gottes, der richten wird am Ende der Tage und Der kommende Gott als Richter und Retter dabei das Böse nicht gut sein lassen und die Differenz zwischen Sünde und Unrecht nicht vergleichgültigen wird. Das Reich Gottes ist ohne richterliche Scheidung nicht denkbar. Gleichwohl ist die eschatologische Gerichtspredigt nicht Jesu erstes und letztes Wort, sondern umgriffen von einer unbedingten Zusage väterlichen Entgegenkommens Gottes. Diese Zusage gilt allen, in Sonderheit aber jenen, die Gott fern sind. Der Vorrang der Rettung Verlorener, der Jesu spezifische Sendung galt, wird theologisch nicht anders als mit der Väterlichkeit Gottes begründet, dessen Herrschaft, wie sie endzeitlich im Anbruch begriffen ist, sich gerade darin als allmächtig erweisen will, dass sie auch noch dem Fernsten, ja dem Feinde Gottes nahe kommt. Die Nächstenliebe nicht

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nur, sondern die Feindesliebe, zu der Jesus die Seinen zu bewegen sucht, entspricht in der Weise folgsamen Gehorsams der Liebe Gottes zum Sünder, in der sie ihren Grund hat. Die Entschränkung des Liebesgebots, wie sie Jesu eschatologische Weisung kennzeichnet, ist konstituiert durch die gewisse Zusage der Nähe des kommenden Gottes und seines Reiches, die gerade dem Gottfernen gilt. Auch Jesus war ein eschatologischer Bußprediger, der wie der Täufer mit höchster Dringlichkeit zum Umkehr aufrief, wobei er mit Johannes einig war, dass die nahende Gottesherrschaft alle ohne Ausnahme unter das Gericht der Gerechtigkeit Gottes stellt. Dabei will bedacht sein, dass Jesus sich selbst in die Reihen der dem Gericht des nahenden Gottes Entgegensehenden begibt, indem er in eigener Person die Jordantaufe empfängt. Diese Tatsache, deren Historizität außer Zweifel steht, ist ein Zeichen von nicht geringer Bedeutung, sofern es einen signifikanten Hinweis enthält auf die Eigenart der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu und ihren bei aller Gemeinsamkeit gegebenen Unterschied zur eschatologischen Predigt Johannes des Täufers. Das nahende Reich Gottes ist dessen im Kommen begriffene allmächtige Herrschaft. Darin sind Johannes und Jesus völlig eins. Gemeinsam ist ihnen ferner die Gewissheit, dass Gott nicht nach willkürlichem Belieben regiert, sondern nach Maßgabe seiner Gerechtigkeit, die ihm wesentlich ist. Ihr gemäß wird Gott eschatologisch richten und zwischen Heil und Unheil scheiden. Weit davon entfernt, vergleichgültigt zu werden, ist die Differenz von gerecht und ungerecht für Jesu Botschaft wie für diejenige des Täufers ebenso grundlegend wie zentral. Die Gerechtigkeit Gottes, dessen kommende Herrschaft Jesus verkündet, wird die gottlose Widerständigkeit des Unrechts brechen, indem es sie richtet. Dass sie dabei auch gegen jene Widerständigkeit angeht, die in Eigenmacht zwischen Gerechten und Ungerechten zu scheiden beansprucht und sich das eschatologische Urteil Gottes anmaßt, ist zwar erkenntlich die Auffassung Jesu, die indes auf seine Weise auch Johannes teilt. Denn auch die eschatologische Botschaft des Täufers lässt keine eigenmächtige Sonderung zwischen Gerechten und Ungerechten zu. Sie hebt eine derartige Sonderung im Gegenteil auf, indem sie ausnahmslos alle unter Gottes Gerichtsdrohung stellt, um nur mehr einen Ausweg offen zu lassen: die dem eschatologischen Bußruf entsprechende Radikalentscheidung zur Umkehr im letzten Augenblick. Andere Möglichkeiten, zum Heil zu gelangen, sind unter den gegebenen Bedingungen des alten Äon nicht vorhanden. Auch Jesu eschatologische Botschaft ist auf äußerste Krisis gestimmt. Das kommende Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit erlaubt keinen Aufschub der Buße, sondern konfrontiert in äußerster Dringlichkeit mit dem Unheil der Welt und der Gottwidrigkeit menschlicher Sünde in der Universalität ihrer abgründigen Verkehrtheit. Indes begegnet Jesus dieser Situation, sosehr er mit dem Täufer von ihrer Gegebenheit ausgeht, nicht primär mit der Forderung letzter Entscheidung, sondern mit der Zusage, dass der kommende Gott der Gerechtigkeit willens und bereit ist, auch und gerade seinen Feinden zum Nächsten zu werden. Das Eschaton, wie es Jesus kommen sieht und verkündet, ist zwar nicht weniger als beim Täufer durch den Gegensatz von Heil und Unheil charakterisiert, wie er aus dem Gegen-

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satz von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Gebotstreue und Frevel, Gottesgehorsam und gottwidriger Sünde folgt. Aber anders als beim Täufer, der sie der Entschiedenheit des menschlichen Umkehrwillens anheim stellt, auf den die radikale Bußforderung zielt, nimmt sich der kommende Gott gemäß der Verkündigung Jesu selbst des Antagonismus an, der seinem in der Tora bekundeten Willen nach zwischen heilvoller Gerechtigkeit und der Heillosigkeit der Sünde waltet, um dem Gottlosen sein väterliches Erbarmen zu bekunden und denen ohne Vorbedingungen nahezukommen, die ihm fremd und feind sind. Die von Johannes dem Täufer eingeschärfte Notwendigkeit radikaler Umkehr wird durch Jesu Zusage bedingungslosen Entgegenkommens Gottes nicht infrage gestellt. Ihre notwendige Radikalität wird im Gegenteil dahingehend zugesteigert, dass der kommende Gott als ihr alleiniger Ermöglichungsgrund zum Vorschein kommt. Wenn in der allgemeinen Unheilssituation Heil und Rettung zu erwarten ist, dann nur von Gott her, der die kommende Herrschaft seiner Gerechtigkeit gerade dadurch verwirklichen will, dass er die allgemeine Verkehrung des Verhältnisses zu ihm, wie sie das Unwesen der Sünde samt all ihren üblen Folgen ausmacht, durch väterliche Zuwendung zum Sünder zu beheben sucht, um so einen gänzlichen Neuanfang zu setzen und dem alten Äon ein definitives Ende zu bereiten, ohne deshalb sein Gebot aufzuheben, dessen Geltung vielmehr erhalten bleibt, ja in seiner verbindlichen Gültigkeit im Lichte göttlicher Gnade umso heller erstrahlt. Durch die nahende Zukunft seines Reiches, wie Jesus sie verkündet, kommt Gott nachgerade Gottes Feindesliebe denjenigen nahe, die ihm fern stehen, damit er seinen Feinden zum Nächsten werde. Verursacht und motiviert ist dieser heilsame Vorgang nach Jesus durch Gottes Väterlichkeit, mit der er seine ebenbildlichen Menschengeschöpfe im Zusammenhang aller Kreaturen ihrer Bestimmung zur Gotteskindschaft zuführen will, welcher Sünde und Bosheit widerstehen. GottesReich-Botschaft sowie Verkündigung der Väterlichkeit Gottes und menschlicher Gotteskindschaft gehören zusammen und umschreiben in ihrer Zusammengehörigkeit am besten, was es mit Gestalt und Botschaft Jesu theologisch auf sich hat. Jesu Ausrichtung auf die andrängende Basileia und seine Hingabe an den göttlichen Abba im Himmel lassen sich sachlich nicht trennen. Sie bestimmen sein Selbst- und Weltverhältnis und bilden den Grund und Inbegriff seiner Verkündigung. Das Reich, das Jesus erwartet und um dessen Kommen er die Seinen zu beten lehrt, ist die Herrschaft von jenem, dessen Name und Wille gerade dadurch geehrt werden, dass man ihn als Vater und als denjenigen anruft, der seinen zur Kindschaft berufenen Menschengeschöpfen auch dann sein Entgegenkommen und seine Nähe schenken will, wenn sie als verlorene Söhne und Töchter zu gelten haben. Nicht dass Gott in Jesu Evangelium von der Gottesherrschaft aufhören würde, gerechter Richter zu sein. Aber die Gerechtigkeit Gottes, die Umkehr aus der Verkehrung verlangt, steht unter dem Vorzeichen seiner väterlichen Zuwendung und

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Güte, welche die Abkehr des Menschen vom Bösen allererst ermöglicht. Der Gott, dessen herrliche Herrschaft Jesus in Gleichnissen, Sentenzen, Rätsel- und Weisheitssprüchen sowie durch Zeichenhandlungen wie die symbolische Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern bezeugt, ist unbeschadet seiner Allmacht und Gerechtigkeit im Innersten seines Wesens Vater. Während in den Gottesvorstellungen der antik-jüdischen Apokalyptik die Nähe Gottes als ambivalent erfahren wird, weil sie „gleichermaßen Heil und Unheil bewirken“ (Beyerle, 318) kann, ist Jesu Verkündigung des kommenden Reiches Gottes eindeutig Heilszusage. Dies tritt noch deutlicher zutage, wenn man die älteste Jesustradition über das Reich Gottes mit der frühen nachösterlichen ReichGottes-Verkündigung vergleicht. „Hatte die Reich-Gottes-Verkündigung der ältesten Jesus-Tradition ihren Schwerpunkt offensichtlich in der Ansage des auf die Menschen zukommenden Heils, so wird in der nachösterlichen Verkündigung die Bezugnahme auf Heil und Gericht gleichermaßen wichtig. Kompositorische Beobachtungen zum Nacheinander von Seligpreisungen und Weherufen sowie Heilungen und Fluchgestus machen dies für die Q-Redaktion besonders deutlich.“ (Wolff, 123) Zwar geht auch in Jesu eschatologischen Heilszusagen der Gerichtsaspekt nicht verloren. Aber das göttliche Gericht wird als das fremde Werk der Liebe verkündet, die Gottes eigentliches Wesen ausmacht. In keinem Wort ist die Wirklichkeit Gottes, die Jesus durch seine Person, seine Botschaft und sein Werk bezeugt, bündiger und treffender zusammengefasst als in dem Anruf: „Abba“. Die Formel enthält die christliche Theologie in nuce. Zwar ist die Bezeichnung der Gottheit als Vater religionsgeschichtlich keine Seltenheit und in der Umwelt Israels ebenso zu verzeichnen wie in Israel selbst. Begegnet die Rede vom Vaternamen Jahwes gelegentlich bereits in vorexilischen Texten, so war die Anrufung Gottes als Vater auch im Frühjudentum in Gebrauch, wie das synagogale Bußgebet „Abinu Malkenu“ belegt. Unüblich hingegen und für Jesu Gottesverständnis charakteristisch ist die Gebetsanrede Gottes mit der einfachen Wendung, die auf das aramäische „abba“ zurückzuführen ist. Ihr Klang erinnert nicht von ungefähr an das Lallwort Papa, mit dem Kleinkinder hierzulande ihren Vater anzusprechen pflegen. „Abba“ ist ein Ausdruck elementarster und innigster Verbundenheit. In dieser Verwendung war das Wort im palästinischen Judentum der Zeit Jesu als Anrede nächststehender und persönlich unmittelbar vertrauter Menschen gebräuchlich. Daraus erhellt, wie innig und bar jeder Äußerlichkeit Jesus die Nähe Gottes und seines Reichs verstanden hat. In der zweiten Vaterunserbitte wird das Kommen des Gottesreiches ausdrücklich erbeten. Aber auch in allen anderen Bitten bildet es den eschatologischen Skopus des Gebets, das Jesus die Seinen zu beten gelehrt hat. War die Bitte um die Ankunft der Königsherrschaft Gottes im Quaddisch, dem der Anfang des Vaterunser Vaterunsers in souveräner Eigenständigkeit und mit signifikanter Tendenz zu Kürze und Konzentration nachgebildet wurde, noch mit Motiven zeitlicher Naherwartung versehen, verzichtet Jesus hierauf bemer-

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kenswerterweise völlig, ohne deshalb die eschatologische Spannung zu verringern, die vielmehr aufs äußerste zugesteigert und konsequent auf Gott und seine väterliche Nähe konzentriert wird. Jesu Eschatologie ist ganz und gar theozentrisch und einzig und allein auf den einen Gott bezogen, dessen heiliger Name „abba“ heißt. Ihm und der Zukunft seines Reiches darf sich der Beter in getroster Zuversicht anvertrauen wie ein Kind, das sich an der Hand des Vaters auch dann geborgen fühlt, wenn es die Länge der Wegstrecke, die es geführt wird, nicht kennt und weder um Zeit noch um Stunde der Zielankunft weiß. Verbunden mit der Vorstellung von Gott als Vater begegnet das Sohnesmotiv bzw. die Rede von der Gotteskindschaft bereits im Alten Testament verhältnismäßig häufig und zwar insbesondere in drei Bereichen: „Zum einen kann der erwählte König als Gottes Sohn angesprochen werden (z.B. Ps 2,7); zum anderen spricht Gott von dem Volk insgesamt als von seinem Sohn bzw. seinen Söhnen (z.B. Ex 4,22; Dtn 14,1; Jer 31,9.20; Hos 11,1). Vor allem in der späteren Überlieferung können Gerechte und Weise (Sir 4,10f.; Weish 2,18), aber auch Arme (Ps 68,6; 103,13) als Söhne Gottes bezeichnet werden. So wird die Rede von den ‚Kindern Gottes‘ also auf Gruppen innerhalb Israels oder auch auf einzelne übertragen. In dieser Bezeichnung wird jeweils eine besonders enge Zugehörigkeit zu und Verbundenheit mit Gott zum Ausdruck gebracht, die wiederum nicht durch physische Abstammung, sondern durch eine Erwählung Gottes zustande kommt. Und schließlich kommt in Jes 43,6; Jub 1,24f.; Test Jud 24,3; Ps Sal 17,27; Weish 5,5 die Gotteskindschaft als eschatologisches Gut in den Blick.“ (JBTh 17 [2002], 150f.) Mit der von ihm verwendeten aramäischen Gottesanrede „abba“ knüpft Jesus an diese Motivzusammenhänge an, um Gotteskindschaft zum Inbegriff der kommenden Gottesherrschaft zu erklären, die er in Sonderheit den Verlorenen verheißt. Zu kindlichem Vertrauen auf die Väterlichkeit Gottes und auf seine eschatologische Herrschaft leiten im Übrigen nicht nur die Du-Bitten des ersten, sondern auch die drei Wir-Bitten im zweiten Teil des Vaterunsers an, die inhaltlich teilweise den Bitten des jüdischen Achtzehnbittengebets entsprechen, wobei getroffene Auswahl und spezifische Prägung erneut eine konsequente Tendenz zu konzentrierter Sammlung auf dasjenige hin erkennen lassen, was wirklich not tut. Eschatologisch geprägt ist dabei nicht nur die Schlussbitte um göttliche Bewahrung vor der Versuchung endzeitlichen Abfalls, mit der die eschatologischen Drangsalssprüche Q 16,16; Mk 9,11–13 und Q 12,51–53 zu vergleichen sind, sondern auch die aus sprachlichen Gründen nicht leicht verständliche Brotbitte, die ihrem ursprünglichen Sinn gemäß nicht nur die Befreiung von der Sorge um die Notdurft und Nahrung des leiblichen Lebens erfleht, sondern auch einen Vorgeschmack auf das eschatologische Festmahl, welches in den Mahlgemeinschaften Jesu antizipiert und im kommenden Gottesreich in himmlischer Herrlichkeit gefeiert wird. Im Eschaton wird die Versöhnung Gottes und der Menschen sowie der Menschen untereinander endgültig verwirklicht sein, welche die Bitte um Sündenvergebung intendiert und die in der Gemeinschaft vergebungsbereiter Jesusjünger jetzt schon zum Vorschein kommt.

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Das Vaterunser ist, wie mit Recht gesagt wurde, „in seiner beispiellosen Kürze die dichteste Zusammenfassung der gesamten Verkündigung Jesu und der Lebenspraxis seiner Jünger, die aus ihrer Annahme der Gottesherrschaft resultiert“ (Wilckens I/1, 24); es ist zugleich „eine in die Form des Gebetes gefasste Unterweisung zur endzeitlichen Glaubensexistenz“ (Stuhlmacher I, 93). Wer sein Vertrauen auf die eschatologische Zukunft Gottes und das Kommen seines Reiches setzt, der gewinnt jetzt schon Anteil an seiner im Anbruch begriffenen Herrschaft als der Herrlichkeit des allmächtigen Vaters. Auf ihn, den göttlichen Vater, der Himmel und Erde geschaffen hat und dessen Reich im Kommen ist, um Übel und Sünde endgültig zu überwinden, ist deshalb schon im vergänglichen Heute alles Vertrauen zu setzen. Es ist die Ganzhingabe des Glaubens, welche der Einzigkeit des väterlichen Gottes, auf den allein beständiger Verlass ist, entspricht und Gehorsam gegen das erste Gebot (Ex 20,3) übt, um jetzt schon am eschatologischen Heil zu partizipieren, wie es sich in Jesu Wort und Wirken ankündigt. Im konsequenten und ungeteilten Trachten nach der Herrschaft Gottes (vgl. Mt 6,33) wird das deuteronomische Gebot (vgl. Dt 6,4f.) erfüllt, welches das Grundbekenntnis Israels bestimmt. Wer den väterlichen Gott als den alleinigen Herrn in kindlichem Glauben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit ganzer Kraft liebt und all seine Hoffnung auf das Kommen des göttlichen Reiches setzt, für den ist wie für alle anderen Glaubenden die Zukunft des Gottesreiches bereits angebrochen. Das eschatologische Ethos, das Jesu Gesetzesverständnis bestimmt, folgt aus dieser Gewissheit. Jesu Botschaft von der nahenden GottesherrWirkzeichen der Gottesnähe schaft hat in Gleichnissen charakteristischen Ausdruck gefunden. Ihre für die jesuanische Verkündigung kennzeichnende Form wird noch eigens thematisiert werden. Zu den zentralen inhaltlichen Themen der Gleichnisrede gehört, man kann es nicht oft genug wiederholen, die Verkündigung des Entgegenkommens und der väterlichen Nähe Gottes nachgerade für jene, die ihm fremd und feind sind und daher als verloren zu gelten haben. Was in zahlreichen Gleichnissen wie demjenigen vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32), von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16) oder in der Beispielserzählung vom Pharisäer und Zöllner (Lk 18,9–14) Ausdruck fand, ist von Jesus durch entsprechende „zeichenhafte Handlungen“ (vgl. Trautmann) bis hin zu sündenvergebendem Handeln (vgl. dazu im Einzelnen Fiedler, 103ff.) in die Tat umgesetzt worden. Zu vermerken ist insbesondere die ostentative Tischgemeinschaft mit „Zöllnern und Sündern“. Zöllner waren zur Zeit Jesu nicht nur mit den Feinden Israels kollaborierende Grenzbeamte, sondern auch korrupte Abgabenpächter (vgl. Herrenbrück, 37), die das einfache Volk bedrückten und ihm Lasten auflegten, die sie selbst nicht trugen. Auch mit „Sündern“ ist im Zusammenhang der genannten Wendung kein Allgemeinbegriff, sondern „eine besondere, soziologisch zu definierende Personengruppe“ (Schottroff/Stegemann, 24) gemeint. Zu denken ist entweder an den gemeinen, toraignoranten Pöbel, an Angehörige verachteter Berufe oder generell an Kriminelle. Unter den Anhängern Jesu waren fernerhin Dirnen, Arme, Bettler und Krüppel.

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Wenn Jesus mit Zöllnern, Sündern und sonstigen Separierten Tischgemeinschaft hielt, dann hatte das neben der Funktion gemeinsamen Essens und Trinkens die Bestimmung, ein Zeichen nicht nur sozial-diakonischen Dienstes, sondern eschatologischer Integration zu setzen in Vorwegnahme des kommenden Reiches Gottes, in dem um der väterlichen Liebe Gottes willen auch Gottferne Gnade und Heil finden sollen. Die Tischgemeinschaften, die Jesus hielt, stellten so sinnenfällig das Evangelium des Gottesreiches dar, welches Jesus predigte, und können als ein seinem Verkündigungswort zugehöriges Sakrament verstanden werden. Jesus „manifested Himself not only in what He said, but also in what He did“ (Van der Loos, 701). Jesu primäre Sendung gehörte den Verlorenen. Dies sind insbesondere diejenigen, welche sich durch ihre Gesetzesübertretungen und Verfehlungen nicht nur von der Schar der Gerechten, sondern von Gott selbst entfremdet und in ihre Sünde verkehrt haben. Ihnen gilt der eschatologische Ruf zur Umkehr im Zeichen unbedingter Versöhnungszusage Gottes zuerst. Daneben hat Jesus durch Wort und zeichenhafte Tat all denen in besonderer Weise Gottes Nähe verheißen, die aus Gründen, die schuldhaft zu nennen verfehlt wäre, am Rande standen wie etwa die Frauen. Über Jesu Haltung zu ihnen lässt sich historisch u.a. Folgendes in Erfahrung bringen: er nahm sie in seinem Auditorium bewusst wahr, sprach sie direkt an, ergriff für arme Frauen Partei und schloss auch Prostituierte nicht aus (vgl. Melzer-Keller, 418ff.). Dabei war er nicht auf sozialrevolutionären Umsturz bedacht, sondern rezipierte traditionelle Rollenmuster. „Die Frage nach einer ‚Emanzipation der Frau‘ hatte in Jesu Weltbild ... keinen Platz; sie stand nicht nur nicht auf dem Programm seiner Predigt, sondern sie schien gänzlich außerhalb seines Gesichtskreises zu liegen. Jesus frauenemanzipatorische Absichten bescheinigen zu wollen, hieße daher, heutiges Problembewusstsein und heutige Zielsetzungen in einer unbedachten und unreflektierten Weise in einen Horizont zu kolportieren, dem derartige Fragestellungen vollkommen fremd waren.“ (Melzer-Keller, 425) Weder findet sich bei Jesus eine grundlegende Kritik der bestehenden eherechtlichen Strukturen, noch trat er für eine prinzipielle Erweiterung der Freiheitsräume der Frau oder für eine Hebung ihrer Stellung in der Ehe ein. Unter eschatologischen Gesichtspunkten indes galten ihm die Frauen nicht nur als gleichberechtigt, sondern als vorzügliche Adressaten seiner Botschaft vom nahegekommenen Gottesreich. Unter den Hörern der eschatologischen Predigt Jesu und den Empfängern der Zeichen, die er in der Gewissheit des Kommens des Gottesreiches setzte, befanden sich neben sittlich Verachteten und sozial Diskriminierten auch solche, die wegen körperlicher Gebrechen und Leiden diskriminiert und verachtet waren. Jeder Leib-Seele-Dualismus ist Jesus fremd. Das Heil der kommenden Gottesherrrschaft verspricht den ganzen Menschen in der psychosomatischen Einheit seines Daseins zu erfassen. Auch dies hat Jesus in Gleichnissen und Zeichenhandlungen zum Ausdruck gebracht. Dass er dabei von seinen Zeitgenossen als Mann wahrgenommen wurde, der Wunder wirkte und Außergewöhnliches zu leisten imstande war,

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steht historisch außer Zweifel. „Nirgendwo sonst werden so viele Wunder von einer einzigen Person überliefert wie in den Evangelien von Jesus.“ (Theißen/Merz, 264; vgl. im Einzelnen Theißen, Wundergeschichten, 53ff.) Auch Jesu Gegner scheinen von seinen Machttaten beeindruckt gewesen zu sein, ohne sich deshalb von der göttlichen Herkunft seiner Wirkmacht überzeugt zu haben. Dies verweist auf die theologische Deutungsbedürftigkeit auch und gerade der Wunderwirklichkeit, die für sich genommen ambivalent beurteilt und entweder auf Gott oder auf widergöttliche Ursachen zurückgeführt werden kann. Der Wundertäter ist dazu angetan, entweder als Gottesmann oder als schwarzer Magier zu gelten, der mit dem Teufel im Bunde steht. Von Zeichen und Wundern Jesu sowie von den erstaunlichen Machttaten, die er vollbrachte, Zeichen und Wunder wird im Neuen Testament variantenreich und in verschiedenen Gattungen berichtet. Formal liegt den neutestamentlichen wie den meisten in der Religionsgeschichte begegnenden Wundererzählungen eine typische Struktur zugrunde, deren Morphologie bestimmt ist „durch eine Bewegung von einem Mangel ... zu seiner Überwindung durch eine (mirakulöse) Handlung eines aktiven Subjekts, das für diese Aufgabe besonders vorbereitet ist“ (Kahl, 238). Neben Sammelberichten finden sich Erzählungen von Totenerweckungen wie die Geschichte vom Töchterlein des Jairus, des Jünglings zu Nain und des Lazarus, von Epiphaniewundern wie Verklärung und Seewandel, von sog. Geschenkwundern wie die Speisung der Vier- bzw. Fünftausend, vom wunderbaren Fischzug oder Weinwunder in Kanaa, von Rettungswundern wie der Sturmstillung und der Hilfe für den untergehenden Petrus, schließlich auch von einem Strafwunder, wie das Beispiel des verdorrten Feigenbaums zeigt. Den Großteil der Wunderberichte bilden Heilungen und Exorzismen. Gegenüber der lange Zeit favorisierten Theorie einer vorzugsweise hellenistischen Prägung der jesuanischen Wundergeschichten, durch die das Bild Jesu demjenigen vom wundertätigen theios aner angepasst worden sei, bietet die neuere Forschung eine unter traditionsgeschichtlichen Aspekten naheliegende Alternative auf, indem sie auf frührabbinische Überlieferungen zu Wundern und Wundertätern und auf Gesichtspunkte verweist, die sich von dorther in Bezug auf die Wundergeschichten Jesu und der Seinen ergeben. Prophetische und von prophetischen Zeichenhandlungen sich herleitende Traditionsbezüge sind erkennbar. Im Lichte der frührabbinischen Überlieferung erscheint der Wundertäter Jesu weniger als charismatischer Heros und vergotteter Mensch, dessen Natur es entspricht, außerordentliche Krafttaten zu vollbringen; Jesus wird vielmehr als Bevollmächtigter Gottes tätig, der sich von dem, der allmächtiger Grund aller Wunder ist, unterschieden weiß und lediglich in dienender Funktion wirkt, ohne göttliche Alleinstellungsmerkmale unmittelbar für sich zu beanspruchen. Charakteristisch und von der frührabbinischen Tradition bei allen sonstigen Berührungspunkten abweichend ist die konsequent eschatologische Ausrichtung der Wundertätigkeit Jesu, innerhalb derer „den Heilungen und vor allem den Ex-

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orzismen eine besondere Bedeutung zukommt“ (M. Becker, 442). „Sie besteht darin, dass an diesen speziellen ‚Wundern‘ die proleptische Errichtung des der Schöpfung entsprechenden endgültigen Heilszustandes zu Tage tritt; sie sind sichtbare Zeichen der hereinbrechenden Gottesherrschaft. Geht es bei den Exorzismen dabei um die Zurückdrängung der widergöttlichen Mächte, so deuten die Heilungen auf die Zurechtbringung der geschundenen Kreatur, wobei den vermutlich authentischen Sabbatheilungen insofern eine besondere Bedeutung zukommt, als der Symbolcharakter der eschatologischen Vollendung der Schöpfung im Zeichen der Kreatürlichkeit Jesus sogar eine Gesetzesübertretung in Kauf nehmen ließ.“ (Ebd.) Berichte von Heilungen und Exorzismen stellen nicht nur den Großteil der neutestamentlichen Erzählungen von Zeichen und Wundern Jesu dar, für sie spricht zugleich das höchste Maß an historischer Wahrscheinlichkeit. Namentlich aus der Logienüberlieferung, die Ausgangspunkt eines historischen Urteils über Jesu Machttaten sein muss, „lassen sich authentische Aussagen Jesu über seine Exorzismen (Lk 11,20; Mk 3,23ff. 27; vgl. Lk 10,18) und Heilungen (Mt 11,5; 11,20ff.; 13,16f.) erheben“ (Schenke, 159), während die Erzähltradition sich dazu weniger eignet. In der exegetischen Forschung werden in der Regel sog. Exorzismen und Therapien als historisch authentische Jesuswunder gewertet, wohingegen die erwähnten sog. Geschenkswunder wie die wunderbare Brotvermehrung, der wunderbare Fischzug oder das Weinwunder zu Kanaa, Rettungswunder wie die Stillung des Seesturms und der wunderbare Seewandel und Epiphanien wie die Taborerscheinung als Reflexe der österlichen Offenbarung gelten, die im Wesentlichen Glaubensgedanken enthalten, wenngleich sie im Einzelnen an geschichtliche Erinnerungen anschließen mögen. Dass Dämonenaustreibungen und Heilungen das Zentrum der historischen Wundertätigkeit Jesu bilden, wird durch die Tatsache bekräftigt, dass nur auf diese beiden Wundertypen in den Logien und Summarien Bezug genommen wird. Jesus selbst galt den Zeitgenossen unzweifelhaft als Therapeut und Exorzist, wobei man die Übergänge zwischen beiden Funktionen als fließend wahrgenommen haben dürfte. Denn vielfach wurden auch Krankheiten als dämonisch verursacht gedeutet mit der Folge, dass sie Unreinheit und Kultunfähigkeit bewirkten. Mögen auch Dämonen und unreine Geister nicht unmittelbar gleichzusetzen sein, so wurde doch mit der Dämonie von Krankheit und Tod der Makel der Unreinheit vielfach verbunden. Exorzistische Auseinandersetzung mit dämonischer Besessenheit begegnet nicht nur im Neuen Testament und in der frühen Christenheit, sondern im antiken Nahen Osten, im Alten Israel und im Frühjudentum sowie in der gesamten Welt des jüdisch-römischen Hellenismus. Die Welt der Antike ist von Dämonen durchwirkt. Sie treiben ihr Unwesen im Raum des Festen und des Flüssigen, auf Erden und in der Luft, zu bestimmten und zu unbestimmten Zeiten. Sie treten allein auf oder in Gruppen und variieren in Gestalt, Farbe, Stimme und Namen. Dämonen sind Schadensgeister. Ihre eigentliche Funktion ist es, dem Menschen Unglück zuzufügen. Dazu treten sie durch Mund, Auge, After oder Genitalien in den Kör-

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per ein. Sie können aber auch gleichsam durch Ansteckung, etwa durch Berührung mit kultisch Unreinen auf einen Menschen überspringen, um Besitz von ihm zu nehmen. Dämonische Besessenheit ist eine Krankheit zum Tode. Denn letztes Ziel aller Dämonen ist es, den Menschen vom Leben zum Tode zu befördern. „Eine hochbedeutsame Konsequenz der Dämonie des Todes ist die Unreinheit der Toten.“ (Böcher I, 158) Die Reaktion des von Dämonen und dämonischen Mächten bei Tag und Nacht und in allen Situationen seines Lebens potentiell bedrohten Menschen besteht in unterschiedlichen Schutz-, Abwehr- und Austreibungsmaßnahmen. Er sucht sein Heil bei homöopathisch oder in größeren Dosen zum Einsatz gebrachter Magie, bei Opfervollzügen oder bei Exorzisten, die durch Handauflegung, Macht- und Zauberworte, durch Anblasen oder durch welche exorzistischen Mittel auch immer der Dämonen Herr zu werden sich bemühen. Dabei kommen Feuer, Licht und Rauch, Wasser, Wein und Öl, Erde, Lehm, Sand, Asche, Kleie, Salz, aber auch Blut und Speichel zum Einsatz. Der Besessene selbst oder der um Vorbeugung gegen Dämonenbefall Besorgte kann durch passive Handlungen das Seine zur Abwehr böser Geister beitragen. Der wichtigste Beitrag besteht dabei im Verzicht in seinen mannigfachen Formen: auf Speise und Trank, auf sexuelle Betätigung, auf Kleidung und Hygiene, auf Schlaf oder auf Rede durch Schweigen und Beten sowie auf das Sehen durch Schließen der Augen oder Verhüllung des Hauptes. Dass Jesus, seine Jünger und die Verfasser des Neuen Testaments „in vielfacher Weise an den dämonistischen Vorstellungen ihrer Zeit teilhaben“ (Böcher I, 316), duldet keinen Zweifel. „Zufolge der neutestamentlichen Wunderberichte unterscheiden sich die Krankenheilungen und Totenauferweckungen Jesu und seiner Apostel äußerlich in nichts von den antidämonischen Heilungswundern ihrer heidnischen und jüdischen Zeitgenossen. Auch das Neue Testament versteht nämlich die Krankheit als das Werk dämonischer Mächte (vgl. nur 2 Kor 12,7; 1 Thess 2,18).“ (Ebd.) Allerdings wird im Neuen Testament wie zuvor schon in der alttestamentlichen Prophetie die traditionelle Dämonologie und Kathartik umgedeutet (vgl. Böcher II, 138ff.). Gelegentlich erfolgt auch bewusster Protest gegen den Dämonismus (vgl. Böcher II, 156ff.). Wichtigste Voraussetzung dafür war die Gewissheit, dass der erhöhte Herr als Triumphator über die Dämonen waltet (vgl. Böcher II, 166) und der Christ durch seine exorzistische Taufe Anteil gewonnen hat an Christi Sieg über die Dämonen (Böcher II, 170ff.). Was den historischen Jesus angeht, so wurde er zu Exorzist und Therapeut seiner Zeit und von seiner Nachwelt vorzugsweise als ein exorzistischer Therapeut bzw. therapeutischer Exorzist wahrgenommen: „exorcism was one of the most obvious and important aspects of his ministry, both from the perspective of Jesus and the later Gospel writers.“ (Twelftree, 225) Religionsgeschichtlich ist dieser Befund nicht überraschend. Dies gilt zunächst und vor allem im Blick auf die heidnisch-hellenistische Umwelt und ließe sich etwa am Beispiel der zeitgenössischen Asklepioskulte illustrieren, die im Laufe ihrer Geschichte nicht nur Heilung des Leibes, sondern

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auch Seelenheil, nicht nur Behebung physischer Übel, sondern auch psychische Integrität und Freiheit von allen Formen der Fremdbesessenheit zu erwirken suchten. „Before the advent of Christianity, the Greek god Asklepios initially provided help for physical problems, but over the centuries Asklepios also came to fulfil a need for a personal ‚Saviour‘, and provided emotional, psychological and spiritual healing as well. In this way he was very much a forerunner of and contemporary with Jesus of Nazareth. It is thus easy to see why Christian apologists attacked the cult of Asklepios with such vehemence.“ (Wells, 227) Was für die heidnisch-hellenistische Antike zutrifft, bestätigt sich im Blick auf die jüdische Umwelt Jesu. Die alttestamentlichen Traditionsbestände, die von Wundertätern handeln, wurden im frühen Judentum auf mannigfache Weise rezipiert. „The stories were retold again and again, either as short summaries or with the addition of colourful, midrashic details. The figures of holy were often modified, even transformed, and the roles of God and man were presented in many variations.“ (Koskenniemi, 281) Stellt Jesus als Therpeut und Exorzist demnach eigentlich keine religionsgeschichtliche Besonderheit dar, so wird man der Eigentümlichkeit der Zeichen und Wunder, die er tat, erst gewahr, wenn man sie im Kontext seiner Reich-Gottes-Botschaft würdigt. Kennzeichnend für Jesu charismatische Wirksamkeit ist ihr elementarer Zusammenhang mit seiner Verkündigung der nahen Gottesherrschaft. Ihre Wahrheit und Dringlichkeit sollen durch die Machttaten zeichenhaft wirksam unterstrichen werden, mit denen Jesus nicht nur seine Anhänger, sondern auch seine Gegner beeindruckt hat. Dass dabei letztere die Ursache der jesuanischen Vollmacht nicht in Gott, sondern in Dämonen und Teufeln begründet fanden und Jesus zum Magier oder Goeten erklärten, ist ein Indiz für die Tatsache, dass sein Wunderwirken zwangsläufig missverstanden werden muss, wenn es nicht dem jesuanischen Selbstverständnis gemäß (vgl. Schenke, 160ff.) von der Reich-Gottes-Botschaft her verstanden wird, mit der es zusammengehört und deren Implikat es ist. Wie sein Umgang mit Unreinen bzw. sein Verhältnis zum Phänomen der Unreinheit überhaupt (vgl. im Einzelnen Kazen, 346: „Since Jesus’ exorcisms are closely associated with God’s coming reign, it is possible to examine his attitude to impurity from a power perspective, and to regard his kingdom eschatology as compatible with the purity paradigm.“), so ist auch seine Tätigkeit als therapeutischer Exorzist eschatologisch bestimmt. „Die Gottesherrschaft realisiert sich schon in den Dämonenaustreibungen, wie das ‚Exorzismuswort‘ zeigt (Mt 12,28/Lk 11,20). Heilungen und eschatologische Predigt gehören in der Aussendungsrede zusammen (Mt 10,7f./Lk 10,9).“ (Theißen/Merz, 272) Namentlich die Logienüberlieferung lässt den Zusammenhang zwischen Jesu Predigt vom kommenden Gottesreich und seiner Wundertätigkeit deutlich zutage treten, wohingegen in den Erzähltraditionen mit Überformungen im Sinne der volkstümlichen Wundergläubigkeit der Umwelt zu rechnen ist. Stellt die Reich-Gottes-Verkündigung den historischen Deutehorizont der authentischen Wundertätigkeit Jesu dar, so folgt daraus, dass diese nur in deren Kon-

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text eindeutig zu verstehen und von magischen Praktiken zu unterscheiden ist. Diese Feststellung wird durch die Beobachtung unterstrichen, dass sich Jesu Wundertätigkeit nicht in Form ritualisierter Praktiken wie okkulter Beschwörungs- und Zauberformeln, sondern in der Kraft der Zusage des kommenden Gottes vollzieht, als dessen Wirkung sie sich begreift. Als Wirkzeichen kommender Gottesherrschaft wird dabei das Wunder an demjenigen, der es empfängt, nicht lediglich äußerlich vollzogen; der Empfänger soll vielmehr in der Ganzheit seiner Person hineingenommen werden in die wunderbare Wirklichkeit des anbrechenden Reiches Gottes. Kurzum: Jesu Wunder zielen auf Glauben. Das Glaubensmotiv, das in der antiken Wundertopik ohne Analogie ist, begegnet explizit sowohl in einem Exorzismus (vgl. Mk 9,14ff.) als auch in vielen Therapien, ohne dass bereits ein Bezug zum nachösterlichen Kerygma erkennbar wäre. Dabei fungiert der Glaube nicht als eine Kraft der Selbstsuggestion, welche von sich aus Macht hätte, Berge zu versetzen und eigenaktive Heilung zu bewirken. Der Glaube ist vielmehr die von Jesus intendierte Haltung des Wunderbedürftigen, sich das Kommen des Reiches Gottes ganz und gar gefallen zu lassen, um auf diese Weise das geschehene Wunder nicht als ein bloßes, zuletzt und im Grunde zweideutiges Mirakel, sondern in seiner Wahrheit wirklich und eindeutig wahrzunehmen. Dabei ist mitzubedenken, dass Besessenheit und Krankheit niemals als bloße, gleichsam naturhafte Fakten, sondern stets im Zusammenhang sozial vermittelter Selbstverhältnisse auftreten. In den Wundern Jesu geht es entsprechend nicht lediglich darum, heillose und üble Sachverhalte zu beheben, um sich in der Lösung von Einzelfällen zu erschöpfen. Es ist in ihnen auch und vor allem darum zu tun, das mit den Sachverhalten untrennbar verbundene Selbstverhältnis und seinen sozialen Vermittlungszusammenhang anzugehen, um über den Einzelfall hinaus grundsätzliche Erlösung zu bereiten. Erst unter dieser Voraussetzung konnten die Wundergeschichten zu Trägern jener theologischen Zentraleinsichten werden, zu denen sie unter österlichen Bedingungen tatsächlich geworden sind, um über Exorzismen und Therapien hinaus als alle Wirklichkeit einschließlich der kosmischen Naturzusammenhänge umfassende Geschenks- und Rettungswunder ausgestaltet zu werden, wobei als Wunder aller Wunder die Epiphanie des auferstandenen Gekreuzigten zu gelten hat. Von der österlichen Offenbarung her erhalten die Wunder Jesu ihre eschatologisch endgültige Bedeutung, ohne die sie nicht nur nicht angemessen erkannt, sondern verkannt werden müssten. Zwar hat Jesus durch die erstaunlichen Machttaten, die er übte, bei der Menge gewiss vorübergehende Anerkennung gefunden. Doch blieb die erzielte Wirkung bei vielen kurzfristig und ambivalent. Die mit Jesu eschatologischen Zeichenhandlungen verbundene Zweideutigkeit war definitiv erst für diejenigen behoben, denen sich das Osterwunder erschloss und die vermöge der Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten im Täter prophetischer Machttaten, wie sie in Erwartung des kommenden Reiches Gottes geschahen, eindeutig den eschatologischen Messias zu erkennen vermochten. Als unmissverständliche Zeichen seiner messianischen Vollmacht und christologischen Würde

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erschließen sich die Exorzismen, Therapien und möglichen sonstigen Wunder Jesu erst von Ostern her, wohingegen sie ansonsten mit dem Schein mirakulöser Vorgänge umgeben blieben, die zwar in Staunen versetzen, ohne doch dauerhaften Glauben hervorzurufen. Dies gilt auch und gerade im Hinblick auf die Wundergeschichten, die Jesus als Überwinder des Todes vorstellig machen. Der Tod zählt zu den übelsten aller Übel, von Endzeitliche Auferstehungsdenen erlöst zu werden sich alle Kreatur sehnt. hoffnung Mit eschatologischen Zeichenhandlungen Jesu, die gegen die Verderbensmacht des Todes gerichtet sind, ist daher zweifellos zu rechnen. Reich-Gottes-Verkündigung und ein Wirken, das wider den Tod für das Leben streitet, gehören für Jesus untrennbar zusammen, weil die kommende Gottesherrschaft mit der Überwindung alles Bösen auch die Vernichtungsmacht des Todes beseitigen wird. Die christliche hat daher an der jesuanischen Auferstehungsbotschaft einen Anhalt, ohne mit ihr deckungsgleich zu sein. Die Hoffnung auf eine Auferweckung bzw. Auferstehung von den Toten ist mit eschatologischen Endzeiterwartungen eng verbunden, wie sie zur Zeit Jesu im jüdischen Volk verbreitet waren und von ihm selbst geteilt wurden. Selbst wenn zutreffend sein sollte, dass die Naherwartung Jesu die Auferstehungshoffnung „thematisch im Hintergrund verbleiben“ (Schwankl, 587) ließ, so schloss sie diese doch „selbstverständlich ein“ (ebd.). „In einer Reihe von hochwahrscheinlich authentischen Jesusworten, insbesondere in Gerichtsworten und im eschatologischen Ausblick der Abendmahlstradition, wird eine Totenauferstehung vorausgesetzt und mitausgesagt. Es ist historisch wahrscheinlich ..., dass Jesus sie, wie im Sadduzäergespräch, aus gegebenem Anlass auch thematisiert hat.“ (Ebd.) Es spricht alles dafür, dass der Gedanke der Auferweckung und Auferstehung elementar zu Jesu Reich-Gottes-Verkündigung gehörte. Der kommende Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden, wobei mit den Lebenden nicht nur die noch nicht Toten, sondern auch die bereits Verstorbenen gemeint sind, die Gott aus der Beziehungslosigkeit des Todes herausreißen und in eine neue Beziehung zu sich als dem Lebendigen und Lebenschaffenden setzen wird. Auch wenn unter den Exegeten umstritten ist, ob die Perikope Mk 12,18–27 authentische Jesustradition aufweist, wird man doch annehmen dürfen, dass das Streitgespräch mit den Sadduzäern Erinnerungsspuren an Jesu eigenen Auferstehungsglauben enthält, wonach der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der einst Mose im brennenden Dornbusch erschien und dessen Reich unmittelbar im Anbruch begriffen ist, ein Gott des Lebens ist, dem alle leben (vgl. Lk 20,38), seien sie noch lebend oder schon verstorben. Jesus hat die apokalyptische Erwartung einer kommenden Auferstehung der Toten gewiss geteilt und ihr durch sein eigentümliches Gottesverständnis eine spezifische Fassung gegeben. Daran konnten die Osterzeugen anknüpfen. Das Neue Testament bezeugt die Auferstehung Jesu und die allgemeine Auferstehung der Toten am Ende der Tage. Das Verhältnis beider Aussagen zueinander variiert. Teils ist die Annahme einer allgemeinen Totenauferstehung der Rede von

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Jesu Auferstehung als ihre Rahmenbedingung vorausgesetzt, teils wird die allgemeine Totenauferstehung erst mit der Auferstehung Jesu begründet. Gemeinsam ist beiden Motivgruppen die Auferstehungsvorstellung, wie sie der frühjüdischen Apokalpytik geläufig war. Aussagen zu einem zu erwartenden postmortalen Leben begegnen im Frühjudentum nicht nur häufig, sondern in vielfältigerer Form als man dies gemeinhin annahm. Neben ihrer Negation durch die traditionalistisch orientierten Sadduzäer finden sich unterschiedliche Vorstellungen, deren Vereinheitlichung erst im letzten Viertel des ersten Jahrhunderts n.Chr. zustande kam. Alte Entrückungsüberlieferungen werden aufgegriffen und in doppelter Hinsicht modifiziert. Sie bleiben nicht länger auf den besonderen Fall Einzelner beschränkt, die wie Henoch (vgl. Gen 5,24) oder Elia (2. Kön 2,11) vor ihrem Tod an einen himmlischen Ort versetzt werden, sondern finden in eschatologischer Perspektive auf Verstorbene im Allgemeinen Anwendung. Neben und im Verein mit der Entrückungsvorstellung wird der Gedanke einer endzeitlichen Auferweckung der Toten durch Gott vertreten. Dabei ist neuerdings die übliche Ansicht infrage gestellt worden, „das Frühjudentum habe sich die Auferstehungswirklichkeit nur leiblich vorstellen können und beim Auferstehungsvorgang eigentlich ganz selbstverständlich an die Öffnung der Gräber gedacht“ (Becker, Auferstehung, 207). Auf dieses Verständnis stoße man innerhalb der Fülle der Belege eigentlich nur in der schmalen Rezeptionsgeschichte von Ez 37, wohingegen die überwiegende Mehrheit der Texte die Ansicht vertrete, Gott werde den beseelten Toten einen neuen Leib schaffen oder sie auf eine Weise postmortalem Leben zuführen, die alle Vorstellungen irdischer Körperlichkeit transzendiert. Wie immer man hier im Einzelnen zu urteilen hat: die frühjüdischen Überlieferungen sind differenziert, stimmen aber in der Funktion überein, die eklatante Diskrepanz zwischen dem Vertrauen auf die Gerechtigkeit des einen und allmächtigen Gottes, wie sie der jüdische Toramonotheismus fordert, und der Erfahrung innerweltlicher Not des und der Gerechten einem eschatologischen Ausgleich zuzuführen. Es zeigt sich, „dass die Hoffnung auf transmortale Vollendung vom irdisch nicht mehr einlösbaren Tun-Ergehen-Zusammenhang ausging und für diese Aporie eine Lösung anbieten wollte“ (ebd.). Dieses Ursprungsmotiv hält sich in allen diversen Einzelvorstellungen durch und bildet so den Grund ihrer inneren Einheit. Klassische alttestamentliche Texte zur Auferweckungshoffnung wie Ez 37,1–14, Jes 26,19, Dan 12,1–3 sind gemeinsam von einer krisenbezogenen Umbrucherwartung bestimmt, die für den gesamten Vorstellungskomplex im Judentum kennzeichnend ist, gleich ob die erhoffte Auferstehung auf die Restitution Israels, wie in frühnachexilischer, oder auf eine Erweckung des Einzelnen in seiner individuellen Leiblichkeit ausgerichtet ist, wie in vormakkabäischer und makkabäischer Zeit. Was Jesus betrifft, so teilte er im Gegensatz zu den Sadduzäern die Hoffnung auf ein postmortales Leben. Gott ist ein Gott des Lebens, der nicht nur den Lebenden, sondern auch den bereits Verstorbenen auf lebendige und lebenschaffende Weise nahekommen will. Unzweifelhaft war Jesu Reich-Gottes-Botschaft mit der Ver-

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kündigung eines eschatologischen Lebens verbunden, das die Todesgrenze transzendiert. Dass dabei die Verheißung kommenden Lebens besonders denjenigen galt, die gegenwärtig der Lebenskräfte am meisten entbehren, darf vorausgesetzt werden. Vorauszusetzen ist ferner, dass Jesus vom künftigen Leben im Reiche Gottes die universale Realisierung göttlicher Gerechtigkeit erwartete. Die Gerichtsvorstellung ist daher auch für ihn von der Aussicht auf postmortales Leben nicht zu trennen. Umso erstaunlicher ist es, dass Jesus auch Gesetzesübertretern und Toraverächtern Hoffnung auf Heilsteilhabe am kommenden Leben im Reiche Gottes machte. Im Vergleich zu diesem Sachverhalt ist die Frage eher zweitrangig, welche konkreten Vorstellungen Jesus mit der von ihm geteilten Erwartung postmortalen Lebens verband. Vom eschatologischen Charakter seiner Zukunftserwartung und von der Annahme, dass er sich das Leben im Reiche Gottes nicht völlig leib- und weltlos dachte, wird man ausgehen dürfen, ohne sich deshalb auf bestimmte Vorstellungen festlegen zu müssen. Es ist durchaus denkbar, dass im Zusammenhang der endzeitlichen Erwartung einer allgemeinen Totenerweckung auch Entrückungsvorstellungen eine Rolle für Jesus spielten. Auch in den ältesten neutestamentlichen Osterzeugnissen werden bekanntlich Entrückungs- und Auferstehungsgedanken kombiniert. Inwiefern diese Verbindung an jesuanische Vorgaben anschließt, ist ebenso schwer zu beantworten wie die Frage nach möglichen Gedanken Jesu zu seiner eigenen postmortalen Existenz. Dass er das Eintreten seines Todes noch vor Anbruch der Gottesherrschaft nicht ausschließen konnte, ja, dass er von einem gewissen Zeitpunkt an nach Lage der Dinge mit einem gewaltsamen Todesgeschick rechnen musste, ist evident, auch wenn im Einzelnen unklar bleibt, wie er sich hierzu verhielt. Von seiner Gewissheit, dass sein möglicher Tod das Kommen der Gottesherrschaft jedenfalls nicht werde verhindern können, wird man ausgehen dürfen. Ob er seiner bevorstehenden Passion eine eigentümliche Wirkkraft in Bezug auf das Kommen des Gottesreiches zudachte, ist dagegen ebenso schwer zu entscheiden wie die Frage, ob Jesus für sich Teilhabe an der endzeitlichen Totenerweckung im Allgemeinen oder in der besonderen Form einer Entrückung zu Gott erwartete. Die nachösterliche Interpretation der Auferstehung Jesu als Erhöhung lässt beide Varianten als möglich erscheinen, ohne in der besagten Frage eine alternative Antwort zu erzwingen. Zur österlichen Erkenntnis Jesu als des Christus und des Heilands der Welt gehört die Ein- Das Wunder des Glaubens sicht, dass er zu seinen irdischen Lebzeiten nicht nur gründlich missverstanden werden konnte, sondern vielfach völlig verkannt worden ist. Missverstanden und verkannt wurde Jesus nicht zuletzt in seiner Tätigkeit als Therapeut, Exorzist und Wundertäter. Was man Jesu Wunder nennt, waren eschatologische Zeichenhandlungen, die mit Vollmacht, aber ohne Beanspruchung magischer Fähigkeiten und Praktiken gewirkt wurden. Auch wenn „Teile des Neuen Testaments zumindest eine gewisse Schnittmenge mit dem Milieu haben, in dem sich bis zur Spätantike die magischen Traditionen in den Defixionen und Zauberpapyri zur Blüte entfalten“ (Busch, 44), fehlt doch jeder Hinweis, dass

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Jesus und seine Anhänger magischen Zauber „positiv gewertet oder gar gewirkt haben“ (Busch, 41). Dies verhinderte nicht, dass zeitgenössische Gegner in Jesus einen Magier sahen (vgl. Smith), der die Dämonen nicht in Gottes, sondern im Namen Beelzebubs austreibt und damit Teuflisches statt Göttliches bewirkt. Was es mit Beelzebub alias Baal Zebul terminologiegeschichtlich und sachlich auf sich hat (vgl. Herrmann), muss hier nicht interessieren. Mit der Erwähnung des „Herrn der Fliegen“ und chthonischen „Fürsten der Unterwelt“ sei lediglich benannt, wie abwegig und grundfalsch die Wunder Jesu gedeutet werden konnten. Als eindeutige Zeichen des Heils und der Zuwendung Gottes vermag die Machttaten Jesu nur der Glaube zu erfassen, wohingegen sie für sich genommen zweideutig sind und glaubenslos nicht nur nicht erkannt, sondern verkannt werden. Die Art und Weise, wie das Neue Testament von „Zeichen und Wundern“ spricht, belegt dies. Zwar lässt sich nicht leugnen, dass den neutestamentlichen Wundererzählungen in der Missionsarbeit des frühen Christentums in propagandistischer Hinsicht hohe Bedeutung zukam. Dass es dabei zu Übertreibungen, ja zu problematischen Akzentverlagerungen kam, ist ebenso wenig zu bestreiten. Dafür geben nicht nur die von Jesus selbst, sondern auch die von Christen wie etwa Paulus erzählten Wundertaten ein Beispiel. So fällt etwa auf, „dass Paulus in der Apg in zahlreichen Fällen erstaunliche Wunder vollbringt, während man in den Briefen des Paulus lange suchen muss, bis man eine Aussage zu seinen Wundern findet“ (Schreiber, 3). Dennoch zeigt die im Neuen Testament insgesamt sechzehnmal begegnende, auf eine frühchristliche Sprachtradition zurückzuführende Wendung „Zeichen und Wunder“ hermeneutisch klar die Richtung an, für welche die charismatischen Taten Jesu und seiner Jünger einstehen. Seinem originären Sinn nach bezeichnet der Doppelbegriff zunächst gar „nicht Heilungen, Krafttaten oder dergleichen“, sondern „die charismatische und pneumatische Erfahrung, von welcher die frühchristlichen Gemeinden ergriffen werden, vermittelt durch das missionarische Wirken der Funktionsträger“ (Weiß, 144). Vorzügliche Zeichen und Wunder sind Bekehrung und Glaubensstand. Dies entspricht der Zielrichtung der wunderbaren Zeichenhandlungen, die Jesus wirkte. Das Proprium der Wundertätigkeit Jesu als Exorzist und Therapeut liegt in der eschatologischen Bedeutung, mit denen er seine zeichenhaften Handlungen versehen hat. Sie sind episodale Vorzeichen einer universalen Heilszukunft, an der jetzt schon Anteil gewinnt, wer auf das Kommen Gottes und seines Reiches vertraut. Jesu Wunder zielen auf Glauben, der ihre Zweckursache ist. Sie vollziehen sich nicht in naturhafter Unmittelbarkeit, sondern durch das Medium des Glaubens hindurch, der sich die Gabe des Heils gefallen lässt und gerade dadurch eschatologische Rettung findet. Ein Wundergeschehen, das nicht im Glauben wahrgenommen wird, erscheint allenfalls als wunderlich, ohne deshalb wirklich heilsam zu sein. Erkennt man im Wunder lediglich eine Wirkung supranaturaler Mächtigkeit, so bestätigt es im Grunde nur den Eindruck willkürlichen Beliebens, den ein außerordentliches Naturereignis hinterlässt, für das sich keine hinreichenden Bedingungen und Ursachen angeben lassen. Ein Wunder, das nicht auf Glauben und

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darauf zielt, als Wirkzeichen von Gottes väterlicher Barmherzigkeit wahrgenommen zu werden, erzeugt just durch seine vermeintliche Übernatürlichkeit den naturhaften Schein des bloß Zufälligen. Bewundernswert ist das Wunder allein, wenn es zum Anlass der gläubigen Einsicht in die verlässliche Väterlichkeit Gottes wird, dessen allmächtiges Wesen mehr und kategorial anderes ist als naturhafte Allmacht. Gegenteiliges zu behaupten, wäre heidnisch. Dass Gottes allmächtiges Wesen nicht von naturhafter Art und sein Wille keine Willkür bloßen – mit der Zufälligkeit natürlicher Kontingenz zu verwechselnden – Beliebens ist, war zwischen Jesus und seinen jüdischen Glaubensgenossen nicht strittig. Diesbezüglich herrschte vielmehr völlige Einigkeit. Zum Streit kam es hingegen in Bezug auf die Frage, ob der naturtranszendente Gott auch die Ordnung der Gerechtigkeit transzendiert, die jedem zuteilt, was er verdient. Hatte Jesus nicht unter Berufung auf Gott genau jene Regeln der Gerechtigkeit außer Kraft gesetzt, die durch die Tora Gottes als verbindlich vorgeschrieben wurden? Hatte er deren Norm nicht auf sträfliche Weise dadurch verletzt, dass er Gottes Güte der Differenz von Gut und Böse überlegen sein ließ? Wer ist Gott, wenn er nicht an sich selbst und willentlich durch Gerechtigkeit bestimmt ist? Als was hat sein kommendes Reich zu gelten, wenn in ihm nicht folgerichtig nach den Gesetzen der Gerechtigkeit gerichtet und nach Maßgabe der Tora geherrscht wird? Die Bemerkung, dass Gott seine Sonne scheinen lasse über Böse ebenso wie über Gute und Regen ausschütte über Gerechte und Ungerechte, ist zwar weise und insofern wahr, aber keine befriedigende Antwort auf die Frage nach Gottes Gerechtigkeit. Redet Jesus nicht der Willkürnatur allmächtigen Beliebens das Wort, wenn er die Freigiebigkeit Gottes als Güte preist, die nicht nur über das Maß der Gerechtigkeit hinaus, sondern wider die durch das Gute vorgeschriebene Norm unverdientermaßen gibt? Um den Streit um Jesus und den Konflikt zu verstehen, der mit seiner Hinrichtung endete, müssen Fragen wie diese ernst genommen werden. Die Gegner hatten keineswegs nur persönliche, sondern durchaus sachlich-theologische Gründe, sich von Jesu Reich-Gottes-Predigt provoziert zu fühlen, wie sie in eschatologischen Zeichenhandlungen charakteristischen Ausdruck fand.

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Lit.: R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 71967. – J. Christiansen, Die Technik der allegorischen Auslegungswissenschaft bei Philon von Alexandrien, Tübingen 1969. – G. Dautzenberg, Urchristliche Prophetie. Ihre Erforschung, ihre Voraussetzungen im Judentum und ihre Struktur im ersten Korintherbrief, Stuttgart u.a. 1975. – M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 1919. – J. Frey/J. Rohls/R. Zimmermann (Hg.), Metaphorik und Christologie, Berlin/New York 2003. – J. Friedrich, Gott im Bruder? Eine methodenkritische Untersuchung von Redaktion, Überlieferung und Traditionen in Mt 25,31–46, Stuttgart 1977. – A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu. I. Die Gleichnisreden Jesu im Allgemeinen. II. Auslegung der Gleichnisreden der drei ersten Evangelien, Tübingen 21910. – E. Jüngel, Die Problematik der Gleichnisrede Jesu, in: W. Harnisch (Hg.), Gleichnisse Jesu. Positionen der Auslegunge von Adolf Jülicher bis zur Formgeschichte, Darmstadt 1982, 281–342. – H.-J. Klauck, Allegorie und Allegorese in synoptischen Gleichnistexten, Münster 1978. – U. Mell (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899–1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher, Berlin/New York 1999. – E. Rau, Reden in Vollmacht. Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu, Göttingen 1990. – H. Rollmann/W. Zager, Unveröffentlichte Briefe William Wredes zur Problematisierung des messianischen Selbstverständnisses Jesu, in: JHMTh/ZNThG 8 (2001), 274– 322. – E. Schweizer, Jesus, das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu?, Göttingen 1995. – H. Weder, Die Geichnisse Jesu als Metaphern. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen und Interpretationen, Göttingen 1978. – W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums (1901, 21913) Göttingen 31963. – R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007.

Der in den neutestamentlichen Schriften tradierte Überlieferungsstoff wird in unterschiedlichen Textgattungen dargeboten. Die in den synoptischen Evangelien begegnenden Formen lassen sich hauptsächlich in zwei Gruppen unterteilen. Die Aufteilung ist in der jüdischen Unterscheidung der Überlieferung in Halacha und Haggada ungefähr vorgebildet. Die Halacha, bezüglich derer im Laufe der Zeit der Talmud, insbesondere der babylonische Talmud, zur höchsten Instanz wurde, ist auf das Wort des Gesetzes sowie seine rechte Wahrnehmung und Auslegung konzentriert. Das Wort „Haggada“ hingegen fungiert im rabbinischen Judentum als Sammelbegriff für erzählende Stoffe. Die genaue formale Bestimmung der synoptischen Erzählstoffe bereitet oft Halacha und Haggada

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Schwierigkeiten, da häufig Mischtexte vorliegen. Erzählt wird die Geschichte Jesu in den Evangelien in der Regel in sog. Perikopen. Dabei handelt es sich um kurze anekdotische Szenen, die je für sich Jesu Gesamtgestalt in Erscheinung treten lassen und nicht erst zusammengefügt ein Ganzes ergeben. Unter den Perikopen nehmen nach Martin Dibelius die Paradigmen und Novellen eine besondere Stellung ein. Paradigmata sind abgerundete und in sich geschlossene Beispielerzählungen, die sich durch Einfachheit und Kürze auszeichnen, in erbaulichem Stil gehalten sind und in einem hervorgehobenen Wort Jesu ihren Skopus finden. Rudolf Bultmann übernahm diese Beschreibung für die sog. biographischen Apophthegmata, die er verbunden mit einigen zusätzlichen Formgesichtspunkten seinerseits als paradigmatische Erzählungen charakterisierte. Apophthegmata bringen in einer idealen Szene eine situationsübergreifende Wahrheit zum Ausdruck. Als Sitz im Leben von Apophthegmata und Paradigmata soll nach Bultmann und Dibelius die urchristliche Predigt gelten, sei es dass sie zu missionarischen, sei es dass sie zu katechetischen Zwecken erfolgte. Von dieser Funktionszuweisung hob Bultmann die Form der Streit- und Schulgespräche ab, die er im Unterschied zu Dibelius als eigene Gattung aufführte. Kennzeichnend sei über das verwandte Apophthegma hinaus die dialogische Prägung, die an rabbinische Disputationen denken lasse. Den Sitz im Leben der Schul- und Streitgespräche fand Bultmann entsprechend in urgemeindlichen Diskussionen über Gesetzesfragen, die mit Gegnern, aber auch in den eigenen Reihen geführt wurden. Eine zweite in den evangelischen Erzählstoffen begegnende Großgattung sind die Novellen, wie Dibelius, bzw. die Wundergeschichten, wie Bultmann sie nannte. Für ihre Exposition ist in der Regel die Betonung der Schwere des Leidens des Bittstellers charakteristisch, der an Jesus herantritt und gelegentlich auch beim Namen genannt wird. Die Schilderung des Wunders beschränkt sich auf Gesten, Heilmittel bzw. Formeln der Heilungstechnik, wohingegen der wunderbare Vorgang selbst ein Geheimnis bleibt und sich vielfach unter Ausschluß des Publikums vollzieht, das betont entfernt gehalten wird. Typisch für die Topik der novellistischen Wundererzählungen ist die abschließende Konstatierung des Erfolgs, durch welchen der Wundertäter in seiner überlegenen Mächtigkeit erwiesen wird. Von ihrer Gesamtanlage her geurteilt handelt es sich um Epiphaniegeschichten, deren Botschaft sich im Bekenntnis zur Messianität des Kyrios Jesus erfüllt. Zwar hat man nach Bultmann sicher schon in der palästinischen Urgemeinde von Wundertaten Jesu berichtet, doch gehören ihm zufolge die meisten Wundergeschichten in einen hellenistischen Kontext und einen entsprechenden missionarischen Zusammenhang. Mit einer Weiterbildung unter Integration ursprünglich nichtchristlicher Motive, ja mit der möglichen Übernahme ganzer erst im Nachhinein christianisierter Geschichten müsse gerechnet werden. Auch wenn ihre Authentizität nicht prinzipiell zu bestreiten sei, so stehen die novellistischen Wundererzählungen nach dem übereinstimmenden Urteil von Dibelius und Bultmann den geschichtlichen Begebenheiten des irdischen Lebens Jesu insgesamt vergleichsweise ferner als Paradigmen, Apophthegmata oder Schul- und Streitgespräche.

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Gegenüber dieser generellen Skepsis sind in der neueren Forschung wiederholt Bedenken geltend gemacht worden, die mit Einwänden gegen eine mögliche Überschätzung der formgeschichtlichen Methode einerseits sowie der hellenistischen Einflüsse auf das frühe Christentum andererseits zusammenhängen. Wie immer hier die Exegese im Einzelnen historisch-kritisch urteilen wird: wenngleich die kerygmatische Prägung der evangelischen Erzählstoffe eine protokollarische Wiedergabe ausschließt, so haben doch nachgerade die von der frühchristlichen Predigt verwendeten und mündlich oder schriftlich tradierten Beispielerzählungen eine relativ hohe historische Zuverlässigkeit und das umso mehr, je weniger sie durch legendarische Motive überformt sind. Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings die Möglichkeit, dass ein ursprünglich isoliert tradiertes Jesuslogion nach rabbinischer Art in die bildhafte Form einer konkreten Szene eingekleidet wurde. Jedenfalls dürften im Allgemeinen Worte eher Situationen bzw. Redestoffe eher Erzählstoffe erzeugt haben als umgekehrt. Handelt es sich sonach bei den Redestoffen um vergleichsweise kompaktes und historisch authentisches Gut, so ist gleichwohl auch im Zusammenhang der Logienüberlieferung mit traditionsgeschichtlicher Produktivität zu rechnen. So herrscht zum einen die Tendenz, ähnliche Logien zu kombinieren bzw. zu einem vorhandenen Logion zusätzliche auf analoge Weise auszubilden, zum anderen die Neigung zu sekundären Erweiterungen bzw. zu Umgestaltungen nach sprachlichen, kontextuellen oder auch dogmatischen Motiven. Dennoch ist eine historische Zuverlässigkeit der Logienüberlieferung in hohem Maße gegeben, wenngleich ihre Isolierung von Erzähltraditionen sicher nicht statthaft ist. Unter formalen Gesichtspunkten lassen sich die Redestoffe der synoptischen Redestoffe der synoptischen Tradition in maTradition schalartige Weisheitsworte (Sentenzen, Gnome), in prophetisch-apokalyptische Worte, in Gesetzesworte bzw. Rechtssätze kasuistischer oder apodiktischer Gestalt, die später z.T. zu Gemeinderegelsammlungen zusammengefügt wurden, in a parte potiori so genannte Ich- bzw. Menschensohnworte, in Nachfolgeworte, die sich ihrer formalen Eigenheit gemäß bereits in Q zusammengestellt finden, sowie in Gleichnisse unterteilen. Die Textform der Gleichnisse nimmt unter den charakteristischen Gattungen von Jesu Bezeugung der kommenden Gottesherschaft eine hervorragende Stellung ein. Formal sind die Gleichnisse im Allgemeinen wie diejenigen von der nahenden Gottesherrschaft im Besonderen durch ausgeprägte Plastik und konzentrierte Dichte des Sprachgeschehens gekennzeichnet. Die Konkretheit kann gelegentlich zum Hyperbolischen und Paradoxen gesteigert werden. Was die Grundformen der Gleichnisrede betrifft, so hat man herkömmlich zwischen Bildworten, einfachen Metaphern sowie seltenen So-wie-Vergleichen einerseits und der eigentlichen Gleichnisrede andererseits differenziert, welche sich insbesondere durch Ausführlichkeit der Bildgestaltung auszeichne. Weiter ausgebaut werde die eigentliche Gleichnisrede sodann durch die Parabel, welche die erzählenden Anteile erhöhe und statt eines typischen Zustands oder regelmäßigen

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Vorgangs einen spezifischen Einzelfall ins Bild setze. Neuerdings ist in der Gleichnisforschung die Praktikabilität subtiler formaler Unterscheidungen infrage gestellt und vorgeschlagen worden, den Gleichnisstoff unter Verzicht auf weitergehende Differenzierungen mit dem einheitlichen Gattungsbegriff Parabel zu versehen. Dabei ist folgende Definition grundgelegt: „Eine Parabel ist ein kurzer narrativer (1), fiktionaler (2) Text, der in der erzählten Welt auf die bekannte Realität (3) bezogen ist, aber durch implizite oder explizite Transfersignale zu erkennen gibt, dass die Bedeutung des Erzählten vom Wortlaut des Textes zu unterscheiden ist (4). In seiner Appellstruktur (5) fordert er einen Leser bzw. eine Leserin auf, einen metaphorischen Bedeutungstransfer zu vollziehen, der durch Ko- und Kontextinformationen (6) gelenkt wird.“ (Zimmermann [Hg.], 25; bei Z. kursiv.) In dem umfangreichen „Kompendium der Gleichnisse Jesu“, dem diese Definition entnommen ist, wird der Gesamtbestand der Parabeln in der Logienquelle Q, in den Evangelien nach Markus, Matthäus, Lukas und Johannes sowie im Thomasevangelium und unter den Agrapha tabellarisch aufgereiht und nach Einzelgleichnissen erörtert, wobei auch vormals von Parabeln unterschiedene Formen von Gleichnisrede Berücksichtigung finden. Die Auslegung analysiert jeweils sprachlich-narrative (Bildlichkeit) und sozialgeschichtliche (bildspendender Bereich) Aspekte sowie die bestimmenden Bildfeldtraditionen, um auf diese Weise unter Beachtung von Parallelüberlieferungen und der Wirkungsgeschichte umfassende Deutehorizonte zu erschließen. Literarkritische Versuche einer Rekonstruktion originaler Jesusgleichnisse werden nicht oder nur mit großer Zurückhaltung unternommen, da sich die diesbezüglich erzielten Ergebnisse bisher als wenig konsensfähig erwiesen hätten. Die Gleichnisse werden in historisch-diachroner Hinsicht zwar unter Bezug auf die in ihrem bildspendenden Bereich gespiegelten realen Lebenswelten auf ihre literarische Genese und Rezeptionsgeschichte hin befragt, ohne damit die Absicht einer Wiederherstellung der ipsissima vox Jesu zu verbinden. In Betracht kommen die Gleichnisse im Wesentlichen als „Medien der Jesuserinnerung“ (Zimmermann [Hg.], 4). Trotz weitgehender Beschränkung der Perspektive auf überlieferungsgeschichtliche Formen der Erinnerung an den Gleichniserzähler Jesus und trotz eines bewussten Verzichts auf literarkritische Versuche der Rekonstruktion mündlicher Vor- oder Urstufen der Gleichnisse wird die historische Jesusfrage im erwähnten Kompendium dennoch keineswegs gänzlich suspendiert – und das aus gutem Grund. Denn soll der erinnerte Gleichniserzähler Jesus nicht eine bloße Fiktion darstellen, muss vorausgesetzt werden, dass er wirklich Gleichnisse erzählte. Von dieser Voraussetzung gehen nicht nur die neutestamentlichen Gleichnistraditionen aus, sie entspricht auch den historischen Realitäten. „Jesus war ein Gleichniserzähler. Diese Einschätzung wird nicht nur durch die Fülle der Gleichnisse innerhalb der urchristlichen Jesusüberlieferung gewonnen. Eine bereits in den Evangelien sichtbare Reflexion klassifiziert die Verkündigung Jesu in übergeordneter Weise insgesamt als bildliche Redeweise (Mk 4,33f.; Joh 16,25).“ (Zimmermann [Hg.], 3) Schon dieser formale Befund ist für das Verständnis der Botschaft

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Jesu in hohem Maße signifikant. Seine Rede ist von vermittelter Art und verweist über sich hinaus auf eine Bedeutung, die das unmittelbar zum Ausdruck Gebrachte transzendiert. Die Gleichnisform ist ein Indiz dieses Transzendenzverweises, der zugleich den wesentlichen Inhalt der Gleichnisse Jesu ausmacht. Sie sind weithin eschatologisch ausgerichtet und auf das Kommen des Reiches Gottes bezogen. Dies trifft keineswegs nur auf die expliziten Reich-Gottes-Gleichnisse, sondern auch auf eine Reihe anderer Gleichniserzählungen zu. Selbst wenn keines der in urchristlicher Tradition überlieferten Gleichnisse von Jesus genau im Wortlaut des kanonischen Textes gesprochen worden sein sollte, bleibt davon die Tatsache unberührt, dass sich ihr jesuanischer Ursprungssinn nach Form und Inhalt in Grundzügen identifizieren lässt. Gattungsgeschichtlich schließt die Gleichnisrede Jesu an eine verbreitete jüdische Erzählweise an, die man mit dem hebräischen Begriff maschal zu bezeichnen pflegt, der in der Septuaginta vielfach mit dem griechischen Wort parabole wiedergegeben wird. Ein Maschal ist ein bedeutungsvolles, aber auch deutungsbedürftiges Vergleichswort, das gelegentlich narrativ eingekleidet ist. Worte und Erzählungen dieser Art finden sich nicht nur im Alten Testament, sondern auch in der rabbinischen Literatur. Unabhängig davon kennt selbstverständlich auch die antike Rhetorik das Gestaltungsmittel der Gleichnisrede. Die Gleichnisse Jesu sind also in formaler Hinsicht nicht einfachhin analogielos. Gleichwohl lassen sie sich keinem vorgefertigten Gattungsbegriff subsumieren; sie sind in hohem Maße innovativ und auf individuelle Weise gestaltet. Jesusspezifisch dürfte u.a. die Überzeugung sein, dass sich von Gott und seinem Reich wenn nicht überhaupt nur, so doch am besten parabelhaft sprechen lässt. Vor allem diese Überzeugung hat Jesus zum Gleichniserzähler par excellence werden lassen, als welcher er der Nachwelt in Erinnerung ist. Der metaphorischen Sprachform korrespondiert Form und Inhalt jesuanischer der Inhalt der jesuanischen Gleichnisrede. Im Gleichnisrede Gleichnis kommt das Unvergleichliche zur Sprache: Gott und das Kommen seines Reiches zur Rettung derer, die verloren sind. Was die Reich-Gottes-Metapher als Zentrum der Verkündigung Jesu implizit enthält, wird in den Gleichnissen expliziert, und zwar insbesondere, wenngleich keineswegs nur in den ausdrücklichen Reich-Gottes-Gleichnissen. Fernerhin sind die Gleichnisse Jesu, in denen sich seine „Kunst der Rede vom Gott Israels“ (Rau, 18) spezifischen Ausdruck verschafft, darauf angelegt, antizipativ und performativ zu erschließen, was sie besagen. Ihrer Bestimmung gemäß kommt in ihnen die Wirklichkeit des Reiches Gottes zum Vorschein; die eschatologische Zukunft ist in aktuellem Anbruch begriffen, was sich für das Selbst- und Weltverhältnis der Hörer als höchst bedeutsam erweist und Rückschlüsse auf den Gleichnissprecher nicht nur nahelegt, sondern förmlich erzwingt. Für die Technik der Gleichniserzählung, die als Tempus neben dem sog. gnomischen Futur das Präsens bevorzugt, ist neben der Knappheit und Geradlinigkeit der Darstellung sowie dem Gesetz der szenischen Zweiheit die konsequente Hin-

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ordnung aller Aussagen auf eine entscheidende Pointe charakteristisch, welche das Urteil der Hörer provozieren soll. Der Beginn mit einer rhetorischen Frage und die abschließende Hervorhebung der erschlossenen Einsicht unterstreichen dies und unterscheiden die typische Parabel von der Allegorie, die nicht auf eine pointierte Einsicht, sondern auf eine ins Einzelne gehende Entschlüsselung eines bildhaften Sachverhalts angelegt ist. Zwar wird man analog zu formalen Binnendifferenzierungen der Gleichnisrede auch die Gattungsdifferenz von Parabel und Allegorie nicht überstrapazieren dürfen, zumal die Überlieferungsgeschichte die Grenzen zwischen beiden Formen vielfach transzendiert: „In der nachösterlichen Tradition ist eine zunehmende Allegorisierung zu beobachten, die an die allegorischen Elemente der jesuanischen Gleichnisse anknüpfen kann.“ (Klauck, 358) Dies ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass das primäre Verständnis der Gleichnisrede Jesu als der charakteristischen Form seiner Botschaft nicht von allegorischer Art ist. „Die Allegorese ist eine Interpretationsform, mit der eine Ideeneinheit entfaltet wird, die das Schriftwort unentfaltet enthält, indem neben das Schriftwort ein gleichartiger Begriff gestellt wird, der allgemeiner ist als das entfaltete Schriftwort.“ (Christiansen, 134; bei Chr. kursiv) Der jesuanischen Gleichnisrede ist diese Interpretationsform in aller Regel nicht gemäß. Dass die Auslegung der Gleichnisse Jesu mit der Technik der allegorischen Auslegungswissenschaft, wie sie etwa bei Philo von Alexandrien geübt wurde, nicht angemessen zu leisten ist, hat in klassischer Weise Adolf Jülicher (1857–1938) gezeigt, mit dessen bahnbrechenden Untersuchungen die moderne Gleichnisforschung ihren Anfang nahm. „Jülichers Entwurf einer nicht-allegorischen Gleichnisauslegung wurde wegweisend für die Erforschung der Gleichnisse Jesu seither.“ (Mell [Hg.], 5) Im ersten Teil seines zweibändigen Werkes über die „Gleichnisreden Jesu“ definierte Jülicher „das Gleichnis als diejenige Redefigur, in welcher die Wirkung eines Satzes (Gedankens) gesichert werden soll durch Nebenstellung eines ähnlichen, einem andern Gebiet angehörigen, seiner Wirkung gewissen Satzes. Ausgeschlossen ist damit jede Verwechslung und Vermengung mit der Allegorie als derjenigen Redefigur, in welcher eine zusammenhängende Reihe von Begriffen (ein Satz oder Satzkomplex) dargestellt wird vermittelst einer zusammenhängenden Reihe von ähnlichen Begriffen aus einem andern Gebiete.“ (Jülicher, I, 80; bei J. teilweise gesperrt.) Zwar habe man die Parabeln Jesu in der kirchlichen Auslegungstradition (vgl. I, 203–322) gemäß der Theorie der Evangelisten häufig allegorisch im Sinne uneigentlicher, der Übersetzung bedürftiger Rede verstanden; in Wirklichkeit jedoch seien sie stets eigentliche Rede in maschalartiger Form gewesen, deren Sinn pointiert zutage trete und nicht in ein rätselhaftes Dunkel gehüllt sei. Welche Gestalt die Parabelrede Jesu im Einzelnen auch angenommen hat, ob diejenige der Beispielerzählung, der Fabel oder des Gleichnisses im engeren Sinn: stets ist sie nach Jülicher ihrem ursprünglichen Wesen nach ein eigentlicher Vergleich, der nicht auf eine Vielzahl von Vergleichspunkten, sondern auf ein tertium comparationis, auf einen einzigen Vergleichspunkt zwischen Bild- und Sachhälfte

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zielt, die unmittelbar und jeweils als ganze aufeinander zu beziehen seien („onepoint-approach“). Originärer Zweck der jesuanischen Gleichnisreden, die allesamt als „Meisterwerke volkstümlicher Beredsamkeit“ (Jülicher I, 182) zu beurteilen seien, ist nach Jülicher keineswegs die Verhüllung des basileia-Mysteriums in der Absicht der Verstockung der Massen bzw. der esoterischen Belehrung ausgesonderter Kreise. Während die Auflösung von Allegorien des Scharfsinns des kundigen Hörers und Lesers bedarf, „wird auch der Unkundigste die Gleichnisrede vom barmherzigen Samariter, vom Pharisäer und Zöllner, vom verlorenen Sohn, vom ungestüm bittenden Freund, vom Schalksknecht ohne ein deutendes Wort richtig verstehen, ihren Sinn fühlen“ (I, 62; vgl. II, 585ff., II, 333ff.; II, 268ff.; II, 302ff.). Wurde es Jülicher allgemein als unbestreitbares Verdienst angerechnet, „die Allegoristerei à tout prix aus dem Feld geschlagen“ (Jülicher I, 322) zu haben, so ist seine Parabeltheorie von der jüngeren Forschung nicht nur fortentwickelt, sondern in ihrer strukturellen Anlage auch einer Kritik unterzogen worden, die ihre Grundsätze betrifft. Problematisiert wurde insbesondere die Jülicher’sche Entgegensetzung von Bild- und Sachhälfte der Gleichnisse und die Fixierung auf ein sie vermittelndes tertium comparationis. Die Gleichnisse seien nicht als bloße Zeichen eines ihnen äußerlichen Sachverhalts, sondern als reale Wirksymbole zu verstehen. Abgelehnt werden müsse daher Jülichers Versuch, aus den Gleichnissen unter Abstraktion von ihrer Formgestalt Gehalte abzuleiten, die sich metaphernlos und rein sachbegrifflich identifizieren ließen. Gleichnisse, so der Grundeinwand, würden missverstanden, wenn man sie lediglich als bildhafte Einkleidungen einer Sachaussage verstehe; denn Sachgehalt und sprachliche Gestalt bildeten in ihnen einen zwar differenzierten, aber untrennbaren Zusammenhang. In performativ-metaphorischer Weise werde der Hörer des Gleichnisses durch dieses von der Sache selbst ins Bild gesetzt. Einen konstruktiven Anhalt an der ursprünglichen Einsicht Jülichers findet der skizzierte Deutungsansatz bei aller Kritik insofern, als er mit der allegorischen Punkt-für-Punkt-Auslegung auch diejenige Abstraktion zu beheben sucht, die ihm zufolge der begrifflichen Trennung von Bild- und Sachhälfte zugrunde liegt. Anders als von der missverständlichen Annahme eines tertium comparationis nahegelegt, erschließe sich die Pointe des Gleichnisses nicht erst im Zuge einer sekundären Relativierung von Bild und Sache, sondern im dynamischen Wortgeschehen der Gleichnisrede selbst. Die Jülicher’sche Parabeltheorie und ihre gedanklichen Voraussetzungen seien von daher einer kritischen Modifikation zu unterziehen, damit der genuine Sinn der Gleichnisrede Jesu als charakteristischer Vollzugsform seiner Reich-Gottes-Verkündigung angemessen erfasst werden könne. Das Wort Parabel bezeichnet gemäß seiner grieAllegorie, Parabel, Metapher chischen Ursprungsbedeutung (lat. comparatio) einen Vergleich, in dem bestimmte Größen oder Sachverhalte in Beziehung gesetzt werden mit dem Ziel, Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzuhalten. Die formalen Strukturmomente des Vergleichs bilden

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die beiden Vergleichseinheiten sowie der Bezugspunkt der Vergleichung, das sog. tertium comparationis. In der antiken Analogielehre sind die arithmetischen (Gleichheit von Differenzen), geometrischen (Gleichheit von durch Teilung zustandegekommenen Verhältnissen) und sonstige Weisen der Vergleichung im Einzelnen bedacht worden. Für Jülichers Gleichnisverständnis ist nach eigener Auskunft vor allem die aristotelische Theorie der analogia proportionalitatis vel relationis bestimmend geworden, sofern die „Ähnlichkeit zwischen dem Verhältnis der Begriffe der einen Seite und dem der Begriffe der anderen Seite“ (Jülicher I, 70; bei J. teilweise gesperrt) für die Gleichnisse Jesu strukturell konstitutiv sein soll. Eberhard Jüngel hat gegen diese Sichtweise vorgebracht, es erscheine ihm „als schlechterdings ausgeschlossen, dass Jesu Gleichnisse durch die Ähnlichkeit zweier im Sinne von logischen Urteilsrelationen bestimmter Sätze konstituiert sind“ (Jüngel, 291). Statt die Gleichnisse Jesu aristotelischer Sachlogik zu unterwerfen, müssten sie auf dem Hintergrund der hebräisch-rabbinischen Tradition interpretiert und hermeneutisch als sachhaltiges Wortgeschehen erschlossen werden. Der in den Gleichnisreden Jesu zur Sprache kommende Gehalt der Gottesherrschaft bilde mit der Gestalt der die Gottesherrschaft zur Sprache bringenden Gleichnisse eine untrennbare Einheit. Im Anschluss an entsprechende Vorarbeiten von Ernst Lohmeyer und Ernst Fuchs wendet sich Jüngel daher gegen jedwede Scheidung von Form und Inhalt der Gleichnisse Jesu von der Basileia: diese muss „in demselben Maße von der Sprachform der Gleichnisse als Gleichnisse her verstanden werden, wie die Gleichnisse von der Basileia her zu verstehen sind, wenn die Basileia nicht als eine von Jesus proklamierte These missverstanden werden soll ... Daraus ergibt sich als Interpretationsleitsatz: Die Basileia kommt im Gleichnis als Gleichnis zur Sprache. Die Gleichnisse Jesu bringen die Gottesherrschaft als Gleichnis zur Sprache.“ (Jüngel 338, bei J. teilweise kursiv bzw. gesperrt) Im Sprachereignis der Gleichnisse ist dasjenige, was in ihnen zur Sprache kommt, ganz da, indem es als Gleichnis da ist (vgl. Jüngel 341). Als aktuelle Wirkzeichen kommender Gottesherrschaft stehen die jesuanischen Gleichnisse nach Jüngel für deren Immanenz und Transzendenz, Gegenwart und Zukunft zugleich ein. Ihre Pointe resultiere entsprechend nicht aus dem äußeren Vergleich von Bild und Sachhälfte auf ein tertium comparationis hin, sondern aus einem metaphorischen Bewegungsverlauf, der das Verständnis aller narrativen Einzelmomente auf den einen springenden Punkt hinordne: dass nämlich des Menschen Existenz in der Herrschaft Gottes ihren exzentrischen Grund hat, von dem her sie gerichtet und gerettet wird. Durch die biblische Hermeneutik von Paul Ricoeur wird diese Sicht der Dinge bestätigt und auf eine breite theoretische Basis gestellt: Auch nach Ricoeur ist die Gattung der Gleichnisrede durch die Verbindung einer Erzählung mit einem metaphorischen Prozess bestimmt, welcher die narrative Form transzendiert und auf einen qualifizierten Moment hin ausrichtet, der in den jesuanischen Parabeln durch das Symbol des Gottesreiches benannt ist. In dieser Grenzmetapher, wie Ricoeur sagt, konvergieren nicht nur alle Gleichnisreden Jesu, sondern die Formeln seiner eschatologischen Verkündigung insgesamt einschließlich der Zeichen-

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handlungen, die seine Botschaft begleiten. Der Sinn der Parabelrede, um bei dieser zu bleiben, ist nicht in einfachen Satzwahrheiten zu erfassen, sondern nur im Vollzug jener Transzendierungsbewegung, die von der Gleichnisrede Jesu unter vollmächtiger Berufung auf Gott und sein Reich in Gang gesetzt wurde und wird. Ihr eschatologischer Charakter überschreitet nicht nur die chronologische Fassung apokalyptischer Endzeitrede, sondern weist das Endliche über die Schranken von Raum und Zeit insgesamt hinaus, um es exzentrisch im unendlichen Gott zu verorten, in dessen nahendem Reich alles Endliche gut aufgehoben und vom Zwange unmittelbarer Selbstbehauptung befreit ist. Fortgeführt und exegetisch spezifiziert wurde der von Ricoeur und Jüngel vertretene Ansatz in Hans Weders Monographie über „Die Gleichnisse Jesu als Metaphern“, die eingangs einen Gesamtüberblick über Ansätze zur Theorie der Gleichnisauslegung in der neueren Forschungsgeschichte bietet (vgl. Weder, 11–57). In den Gleichnissen, die er gesprochen hat, stellt Jesus von Nazareth nach Weder „einen Zusammenhang zwischen Gottesherrschaft und Welt her, wie er in Wirklichkeit nicht besteht“ (Weder, 93). In ihrer Nichtentsprechung zur bestehenden Weltwirklichkeit greifen die Gottesreichgleichnisse über diese sprachlich hinaus und auf das Ereignis des Kommens Gottes zur Welt vor. Dieser Vorgriffscharakter ist sowohl für Form und Inhalt der jesuanischen Gleichnisse als auch für das Verständnis der Person des historischen Jesus als ihres Sprechers wesentlich. Seine Botschaft und sein Personsein sind von strukturell antizipativer Verfassung. Ihre Erfüllung finden Jesus und seine Verkündigung nicht unmittelbar in sich, sondern nur im Ereignis der Ankunft Gottes selbst, auf das sie verweisen. Die historische Strittigkeit des Wahrheitsanspruches Jesu ist diesem daher sowenig äußerlich wie das Kreuz dem jesuanischen Leben. Definitiv bewährt ist die eschatologische Wahrheit, die Jesus gleichnishaft beansprucht, erst durch die Auferweckung des Gekreuzigten durch Gott. Erst an Ostern ist er selbst als „das Gleichnis Gottes“ (Schweizer, 39) offenbar. An Ostern ist die Wahrheit der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, deren Falsifikation sein Kreuzestod herbeigeführt zu haben schien, für den Glauben manifest mit der Konsequenz, dass derjenige, der Gottes Reich in Gleichnissen verkündete, von nun an selbst als Gleichnis, Realsymbol und Wirkzeichen Gottes und seiner Herrschaft verkündet wird. Die christologische Interpretation der Gleichnisse durch die nachösterliche Christengemeinde bestätigt dies. „Die Gleichnisse der Gottesherrschaft werden nachösterlich zu Gleichnissen über Jesus, weil dieser die Nähe der Basileia so ansagte, dass nach der Auferweckung des Gekreuzigten die Nähe Gottes zur Welt nicht mehr unter Absehung von jener Aussage ausgesagt werden konnte.“ (Weder, 96. Bei W. kursiv) Um einige Beispiele zu geben: „Bringt Jesus seine Suche nach den Verlorenen in Zusammenhang mit Gottes Suche nach den verlorenen Schafen Israels (Lk 15,4–7 par), so interpretiert die Gemeinde den Hirten der Parabel als Metapher für Christus (Lk 15,5!). Verweist der Bräutigam in Mt 25,1–13 metaphorisch auf das Kommen Gottes, so sieht die Gemeinde in ihm den zur Parusie kommenden Christus. Ist für Jesus in Lk 18,1–8 der ungerechte

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Richter Bild für Gott, der die Bitte um das Kommen des Reiches gewiss erfüllt, so versteht die Gemeinde das eschatologische Kommen Gottes als Parusie des Menschensohnes (V. 8).“ (Weder, 276f.) Die jesuanische Gleichnisrede und ihre christologische Interpretation durch die nachösterliche Gemeinde lassen sich unter christlichen Bedingungen sachlich nicht trennen, da der evangelische Glaubenssinn der Gleichnisse Jesu erst mittels der österlichen Grundmetapher erschlossen ist, wonach Jesus der Christus sei (vgl. Weder, 85). Gleichwohl genügt es nicht, und zwar weder unter historischen noch unter dogmatischen Gesichtspunkten, den Gleichniserzähler Jesus nur unter dem Aspekt, dass er an sich selbst das Gleichnis Gottes sei, in Betracht zu ziehen, weil dies die Gefahr in sich birgt, mit der geschichtlichen Realität auch die Strittigkeit der Sendung Jesu zu übersehen, die ihn ans Kreuz führte. Auch Weder räumt ein, dass auf die Rückfrage nach dem historischen Jesus gleichnishermeneutisch nicht verzichtet werden könne. Dennoch sei es sowohl theologisch als auch historisch unsachgemäß, den historischen Jesus und den genuinen Sinn seiner Gleichnisse unter Absehung von Ostern und unter Loslösung vom kerygmatischen Christus, den die österliche Gemeinde als Gleichnis Gottes verkünde, erfassen zu wollen. Begründet wird dies mit dem Hinweis, dass die Historizität Jesu sowohl faktisch als auch in ihrer Bedeutung nur im kerygmatischen Überlieferungszusammenhang recht zu erfassen sei. Außerhalb dieses Zusammenhangs sei der historische Jesus eine in ihrer Bedeutung nicht nur nicht eindeutig bestimmbare, sondern unbestimmte Größe. Weders Auffassung kann und muss entgegengehalten werden, dass sich Faktizität und Grunddaten des irdischen Lebens auch unter Abstraktion von Ostern und vom Glauben der österlichen Gemeinde historisch zur Kenntnis bringen lassen. Dass diese Kenntnis keine eindeutige Erkenntnis der christologischen Bedeutung Jesu beinhaltet, wie das Osterereignis sie erschließt, ist zwar richtig; doch muss man erwägen, ob neben dem brutum factum der Historizität Jesu, wie es jedermann auch ohne Osterglauben zugänglich ist, nicht auch und gerade die Tatsache, dass die Bedeutung des historischen Jesus nicht eindeutig bestimmbar ist, kerygmatheologisch erinnerungswürdig und christologisch bedeutsam ist. Gehört die Einsicht, dass nachgerade der Sinn der jesuanischen Gleichnisrede nicht eindeutig verstanden, sondern vielfach – und zwar auch von den Jesusjüngern – verkannt wurde, nicht konstitutiv zu ihrem sowohl historischen als auch theologischen Verständnis? – Metaphern sind begrifflich irreduzible Darstellungsformen, für die Unbestimmtheit konstitutiv ist. Genau diese Unbestimmtheit gilt es im Zusammenhang von „Metaphorik und Christologie“ (J. Frey u.a. [Hg.]) zu verstehen. Zu dem Geheimnis, welches die Gleichnisse Jesu in sich bergen, gehört die Tatsache des Metaphorik und Christologie Nichterkennens, ja Verkennens hinzu. Entsprechend ist das Bewusstsein der Ambivalenz, mit der Jesu historische Erscheinung und Verkündigung aufgenommen wurde, unveräußerlich mit dem christlichen

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Glauben und seinem kerygmatischen Christuszeugnis verbunden. Ohne Erinnerung der Zweideutigkeit, welche der Erscheinung Jesu nicht nur äußerlich anhing, kann es offenbar ein eindeutiges Verständnis seiner irdischen Sendung nicht geben. Nicht dass damit behauptet werden sollte, der irdische Jesus habe alles daran gesetzt, in seiner Bedeutung historisch verkannt zu werden, und die Gleichnisse primär zum Zwecke der Massenverstockung erzählt. Dennoch gehört die Tatsache seines historischen Verkanntwerdens zum österlich offenbaren Geheimnis seiner Messianität ebenso hinzu, wie es konstitutiv zum Sinn der Gleichnisse Jesu gehört, dass sie Anstoß erregten und nicht nur Missverständnisse, sondern schieres Unverständnis und Widerspruch erzeugten. Vom österlichen Gedächtnis des historischen Jesus ist das Erinnerungswissen um solche Zwiespältigkeit, die seiner Wahrnehmung eignete, nicht zu trennen, zumal da es auch und gerade die Seinen waren, die Jesus nicht nur nicht erkannten, sondern verkannten. Jesu Gleichnisse geben keine Weisheitsrätsel auf, die durch Allegorese zu lösen wären. Sie sprechen durchaus Klartext. Gleichwohl sind sie deutungsoffen und haben faktisch nicht nur einsichtige Umkehr bewirkt, sondern auch Ignoranz und bewusste Abkehr zur Folge gehabt. Denn sie bilden nicht lediglich Sachverhalte von äußerlich gegebener Objektivität ab, sondern bringen Angelegenheiten zur Sprache, welche die Subjektivität des Hörers im Innersten betreffen. Sie intendieren und evozieren eine Begegnung mit dem, was unbedingt angeht, und bringen in eine Situation bzw. eine Situation zu Bewusstsein, die es unmöglich macht, sich nicht zu ihren Implikationen und Folgen zu verhalten. Darin liegt der eschatologische Charakter von Jesu Gleichnisrede begründet, der in der Reich-Gottes-Metapher seinen bündigsten Ausdruck gefunden hat. Als eschatologische Sprachereignisse weisen die Gleichnisse Jesu den Hörer über sich selbst und seine Welt hinaus und in ein Verhältnis ein, das ohne äußeren Zwang zu innerer Stellungnahme nötigt. Der Gehalt der Gleichnisse Jesu erschließt sich ihrer Gestalt entsprechend nicht auf unmittelbare, sondern auf mittelbare Weise. Sie beseitigen das Geheimnis nicht, auf das sie hindeuten, sondern offenbaren es als solches. Gerade so können die Parabeln Jesu, in deren Form seine Botschaft charakteristischen Ausdruck fand, zum Kennzeichen seiner Person selbst und zum Schlüssel des Verständnisses seiner irdischen Sendung werden. Jesu Dasein in der Welt ist selbst von gleichnishafter Art, sein Sinn nicht direkt, sondern indirekt manifest. Einen signifikanten Hinweis darauf, dass es sich tatsächlich so verhält, gibt die im ältesten Evangelium begegnende Vorstellung vom Messiasgeheimnis Jesu. Sie ist nicht lediglich kerygmatisches Konstrukt, sondern hat einen konkreten Anhalt an der jesuanischen Lebensgeschichte, an deren historischen Ende das Kreuz steht. Nach markinischem Bericht hat Jesus seine messianische Würde, um die er spätestens seit seiner Taufe wusste, bis in die letzte Zeit seines Lebens verborgen gehalten. In der Absicht, sein Inkognito zu wahren, gebietet er den Dämonen, die seiner Übermacht weichen und – in die Knie gezwungen – die Gottesherrschaft förmlich herausschreien, augenblickliches Verstummen. Damit das Geheimnis

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seiner Messianität erhalten bleibe, dürfen die von ihrer Besessenheit und von Krankheiten verschiedenster Art Geheilten das Wunder, das Jesus an ihnen wirkte, nicht öffentlich machen. Dringend wird ihnen anbefohlen, zu schweigen, damit niemand etwas von dem Vorgang erfahre. Auch die Nächststehenden werden mit einem Schweigegebot belegt. Nachdem Petrus die Frage Jesu, für wen die Seinen ihn hielten, mit dem Messiasbekenntnis beantwortet hatte, wird den Jüngern von ihrem Herrn ausdrücklich verboten, „mit irgend jemand über ihn zu sprechen“ (Mk 8,30). Der Selbstverhüllung des Messias dient nach Markus auf andere Weise auch die rätselhafte Art der jesuanischen Gleichnisrede, die den Sinn dessen, was sie öffentlich ausspricht, der Masse zugleich verbirgt. Im Unterschied zu denen, welchen das Mysterium des Gottesreiches anvertraut ist, soll die Parabelrede Jesu den außenstehenden Beobachtern das offenbare Geheimnis der nahenden Gottesherrschaft sowohl zeigen, als auch verbergen, damit sie sehenden Auges ohne Einsicht sowie hörend ohne Verständnis und ohne Gehorsam bleiben (Mk 4,10–12). Wie hat man dies zu verstehen, und wie ist es zu deuten, dass Jesus nach Mk das offenkundige Datum seiner Messianität ebenso wie die in seinem Reden und Handeln evidente Nähe des kommenden Reiches Gottes zu verhüllen suchte, damit in seiner Wahrheit den Vielen verborgen bleibe, was doch in Wirklichkeit schon offenbar, aber nur wenigen wahrhaft erschlossen ist? Die Antwort auf diese Frage ist nach Markus in dem Befehl enthalten, den Jesus nach seiner Verklärung den auserwählten Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes erteilt hat: „Während sie den Berg hinabstiegen, verbot er ihnen, irgend jemand zu erzählen, was sie gesehen hatten, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden sei.“ (Mk 9,9) Dieses Wort gibt zu denken, wie die Reaktion der Jünger beweist, die einander fragten, „was das sei: von den Toten auferstehen“ (Mk 9,10). In der österlichen Erscheinung ihres Herrn wird ihnen die Antwort zuteil, und sie erkennen, worin das Messiasgeheimnis Jesu seinen definitiven Bestimmungsgrund findet: die Verhüllung der Messianität Jesu zu seinen irdischen Lebzeiten erschließt ihren Sinn von den Erscheinungen des auferstandenen Gekreuzigten her, auf die hin sie angelegt ist. Obzwar von Anfang an gegeben und der Öffentlichkeit trotz aller Verbote kaum zu verbergen, sollte Jesu Messianität nach Maßgabe seines eigenen, gottkonformen Willens unter den Bedingungen seines irdischen Lebens verborgen bleiben, damit sie als das österliche Geheimnis des auferstandenen Gekreuzigten, in dem das Mysterium der Gottesherrschaft manifest ist, unverhüllt offenbar werde. Weil die Messianität Jesu diejenige des Gekreuzigten ist, den Gott von den Toten auferweckt und erhöht hat zu seiner Rechten, musste sie dem äußeren Augenschein verborgen bleiben, um sich in ihrer Wahrheit zu erschließen. Die Dämonen erkennen, indem sie seine überlegene Macht zu spüren bekommen, in Jesus zwar den Messias, aber sie verkennen seine Messianität zugleich, die nachgerade in der Ohnmacht sich als mächtig erweist. Deshalb wird ihrem vorlauten Sohn-Gottes-Geschrei Schweigen geboten. Auch die sonstigen Schweigegebote verfolgen den

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Zweck, das Bekenntnis zu Jesu Messianität nicht durch unbedachte Äußerung um seinen inneren Sinn zu bringen. Wer Jesu Messianität bekennt, ohne den Gekreuzigten im Blick zu haben, verrät sie in Wahrheit. Dies musste sich kein Geringerer als Petrus sagen lassen, der, nachdem er eben noch seinen Herrn als Messias bekannt hatte, zum teuflischen Versucher wurde, weil er Jesus Vorwürfe in Bezug auf seine Leidensankündigung machte und von seiner Passion nichts wissen wollte: „Weg mit dir, Satan, geh mir aus den Augen! Denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.“ (Mk 8,33) Wer Jesu Messianität am Gekreuzigten vorbei bekennt, der verleugnet sie. Auf diese Einsicht, aus der sich ihr Sinn erschließt, sind die Schweigegebote und der Zweck der rätselhaften Parabelrede nach Markus angelegt. Wo Jesu Messianität unter Absehung von seinem Kreuz bezeugt und publik gemacht wird, da wird sie in Wahrheit nicht bekannt, sondern verkannt und verraten. Damit der Gekreuzigte nicht verraten werde, ist das Geheimnis seiner Messianität zu wahren und verborgen zu halten, bis er österlich offenbar werde. So ist es der Wille des Herrn. Seine messianische Selbstverhüllung zu irdischen Lebzeiten ist konstitutives Element seiner Messianität, mit welcher er als der auferstandene Gekreuzigte in Erscheinung tritt. William Wrede (1859–1906) hat dem Messiasgeheimnis Jesu in den Evangelien 1901 eine Messianisches Geheimnis wichtige monograpische Studie gewidmet. Das Motiv, das die zentrale theologisch-christologische Idee des ersten Evangelisten beinhalte, sei im Wesentlichen aus zwei Gedanken zusammengesetzt, die Markus ausgebildet und miteinander verbunden habe: „1) Jesus hält seine Messianität, so lange er auf Erden ist, geheim. 2) Den Jüngern freilich offenbart er sich im Gegensatze zum Volk, aber auch ihnen bleibt er in seinen Offenbarungen einstweilen unverständlich. Beiden Gedanken, die vielfach ineinander übergehen, liegt die gemeinsame Anschauung zu Grunde, dass die wirkliche Erkenntnis dessen, was er ist, erst mit seiner Auferstehung beginnt.“ (Wrede, 114; bei W. gesperrt) Während die Idee der geheimen Messianität bei Markus eine bedeutende Ausdehnung habe und und viele Worte Jesu, zahlreiche Wundergeschichten und überhaupt den gesamten Verlauf der Geschichtserzählung beherrsche, trete sie bei Lukas und mehr noch bei Matthäus zurück, um dann allerdings bei Johannes erneut virulent zu werden, was beweise, „dass es sich hier um Gedanken handelt, die in weiten Kreisen der Kirche lebendig gewesen sind“ (Wrede 206). Für die geschichtliche Beurteilung dieser Gedanken ist nach Wrede die Einsicht entscheidend, dass bereits Markus keine wirkliche Anschauung mehr vom historischen Leben Jesu gehabt habe. Zwar verstehe es sich von selbst, dass der erste Evangelist noch eine ganze Reihe geschichtlicher oder geschichtlich gearteter Vorstellungen von der galiläischen Wirksamkeit des Irdischen besessen habe, von Jesu Parabelrede etwa, seiner Wundertätigkeit, seiner Gemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, seiner Stellung zum Gesetz sowie von seinem Verhältnis sowohl zu seinen jüdischen Anhängern als auch zu seinen jüdischen Gegnern, die ihn schließlich

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unter Mitwirkung der römischen Obrigkeit in Jerusalem zu Fall bringen und ans Kreuz schlagen sollten. Aber zu der evangelischen Geschichte, die Markus berichte, würden diese Erinnerungsdaten erst, indem zu ihnen „ein starker Einschlag von dogmatisch gearteten Gedanken kommt“ (Wrede 130). Namentlich die Idee des Messiasgeheimnisses selbst sei ein redaktionelles Konstrukt, das nicht auf historische, sondern ausschließlich auf theologische Interessen zurückzuführen sei. Entsprechendes gilt nach Wrede für die übrigen Hauptfaktoren des Gewebes, aus denen das Markusevangelium zusammengesponnen sei: als Gesamtdarstellung biete es „keine historische Anschauung mehr vom wirklichen Leben Jesu. Nur blasse Reste einer solchen sind in eine übergeschichtliche Glaubensauffassung übergegangen. Das Markusevangelium gehört in diesem Sinne in die Dogmengeschichte.“ (Wrede 131) Um die Idee der geheimen Messianität Jesu zu begreifen, muss man sich nach Wrede primär eines dogmengeschichtlichen Verfahrens bedienen, welches statt beim historischen Leben Jesu bei der produktiven Einbildungskraft des österlichen Glaubens der christlichen Urgemeinde seinen Ausgang zu nehmen habe. Der Urgemeinde war, so Wrede, von einem offenen messianischen Anspruch Jesu erkenntlich nichts bekannt, was als ein Hinweiszeichen dafür zu werten sei, das sich der historische Jesus tatsächlich nicht für den Messias ausgegeben und gehalten habe. Nach genuiner Auffassung des Urchristentums war der Anfang der Messianität Jesu durch dessen Auferstehung markiert; erst später sei es zu einer Rückdatierung und zu dem Bestreben gekommen, bereits das Leben Jesu sachlich mit messianischem Gehalt zu füllen. In der Konsequenz ergab sich nach Wrede die Notwendigkeit, die vorhandenen Erinnerungsspuren an die unmessianische Wirklichkeit des historischen Lebens Jesu mit der österlich motivierten Behauptung tatsächlicher Messianität zum Ausgleich zu bringen. Diese Vermittlungsaufgabe zu erfüllen, sei die primäre Funktion der Idee, der zufolge Jesus seine Messianität bis zur Auferstehung verhüllt und verborgen habe. Auch die Verständnislosigkeit, welche die Jünger vor der Auferstehung nach Markus trotz gegebener Grundsatzerkenntnis durchgängig an den Tag legten, ergibt sich nach Wrede folgerichtig aus diesem Motiv. Die Idee des Messiasgeheimnisses sei in ihren beiden Grundgedanken einheitlich darauf angelegt, den Widerspruch zwischen faktischer Unmessianität und messianischer Deutung des Lebens Jesu von Ostern her aufzuheben; sie sei eine transitorische Übergangsbestimmung und erledige sich mit der Erfüllung ihrer Vermittlungsfunktion. Die Plausibilität der Wrede’schen Deutung des Messiasgeheimnisses im Markusevangelium hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die teils historischer, teils dogmatischer Natur sind, die aber vor allem die systematische Bestimmung des Verhältnisses von Historie und Dogmatik betreffen, wie der Exeget sie vornimmt. Um mit letzterem Gesichtspunkt zu beginnen, so assoziiert Wrede den Begriff der Historie mit geschichtlicher Faktizität, denjenigen der Dogmatik mit übergeschichtlicher Deutung. Historisch faktisch kann von der Messianität des irdischen Jesus prinzipiell nicht die Rede sein. Sie ergibt sich erst aus dem übergeschichtli-

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chen Ereignis Osterns, welches für den Glauben zum Anlass wird, die tatsächlich unmessianische Geschichte Jesu messianisch zu deuten. Dabei geht die Tendenz der Deutung konsequent dahin, sich von historischen Erinnerungsbeständen zu verabschieden, um eine ideelle Interpretation an ihre Stelle treten zu lassen. Ist die markinische Messiastheorie, sofern sie eiMessiasgeheimnis und nen bleibenden Reflex auf die unmessianische theologia crucis Faktizität des irdischen Lebens Jesu in sich enthält, nach Wrede lediglich eine Durchgangsvorstellung, so geht die weitere Entwicklung gemäß seinem Urteil folgerichtig dahin, den Bezug zur faktischen Historie gänzlich hinter sich zu lassen. Diese Sicht steht freilich mit der Beobachtung in Spannung, die Wrede selbst nicht unterschlägt, dass nämlich die Vorstellung des Messiasgeheimnisses nicht mit Markus steht und fällt, sondern weite kirchliche Verbreitung gefunden hat und noch bei Johannes begegnet. Das gibt zu der Vermutung Anlass, Wrede könnte, obwohl er ihren theologisch konstruktiven Charakter betont herausstellt, die dogmatische Bedeutung der Messiasgeheimnistheorie unterschätzt haben. Ist es nicht so, dass überall dort, wo der österliche Christus als der gekreuzigte Jesus bezeugt wird, der Messiastitel in einer Weise Verwendung findet, die in Spannung, ja in tendenziellem Widerspruch steht zu seinen ursprünglichen Sinngehalten? Unleugbar jedenfalls ist, dass der Gedanke des Messiasgeheimnisses mit der christlichen theologia crucis in elementarer Weise verbunden ist. Ist nicht auch und gerade die Messianität des österlichen Christus als eine unter dem Kreuz verborgene offenbar, wenn anders der Auferstandene der gekreuzigte Jesus und kein anderer ist? Die für das christliche Osterzeugnis insgesamt charakteristische Annahme einer Identität des himmlisch erhöhten Christus und des am Kreuz erniedrigten Jesus gibt zu weiteren Fragen Anlass, in deren Folge sich die dogmatische Perspektive mit geschichtlichen Aspekten notwendigerweise verbindet. Ist es wahrscheinlich, dass die österliche Gemeinde die vorhandene Erinnerung an den irdischen Jesus immer mehr in Vergessenheit geraten ließ, ja fortschreitend zurückdrängte, um sie durch Konstrukte produktiver Einbildungskraft und gläubiger Phantasie zu ersetzen? Die Geschichte der Jesusüberlieferung von der Urgemeinde bis zu den Anfängen der Evangelienliteratur jedenfalls lässt es als denkbar unwahrscheinlich erscheinen, dass es sich so verhielt. Zwar ist die Tradierung der Jesusüberlieferung ein lebendiger Vorgang, der den vorösterlichen Stoff dem Ostergeschehen konstruktiv anverwandelt. Aber materialiter erbringt das österliche Geschehen keine Anreicherung der Evangeliumsgeschichte Jesu, sosehr es diese transformiert und den Auferstandenen als Subjekt seines Gedächtnisses bezeugt. In diesem Zusammenhang verdient es erneut bemerkt zu werden, dass die Worte des Auferstandenen nirgends in der Weise eines Zusatzes verstanden werden, der die Inhalte der jesuanischen Botschaft ergänzt oder gar revidiert. Auch gibt es keinen Anhalt für die Annahme, urchristliche Propheten hätten sich berufen gewusst, laufend neue Herrenworte zu produzieren und die Jesusüberlieferung durch ihre Geisteingaben anzureichern. Generell gilt, „dass es sich bei der exegetischen Tradi-

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tion von urchristlichen Propheten, die im Namen des Erhöhten Herrenworte synoptischen Typs gesprochen haben, nur um eine ungefähre und noch nicht ausreichend begründete Vermutung handelt“ (Dautzenberg, 28). Ein überzeugendes Bild der urchristlichen Prophetie ist aus den neutestamentlichen Texten nicht zu gewinnen. Umso unplausibler ist die Annahme, der Stoff der Jesusüberlieferung sei in großen Teilen durch prophetische Einbildungskraft entstanden. Er war im Gegenteil, insbesondere was die Logien angeht, durch Erinnerungsbestände der Zeugen des Irdischen im Wesentlichen vorgegeben und wurde als konturiertes Traditionsgut sorgsam gehütet. Das wird nicht nur durch die Spruchsammlung Q sowie die Geschichte der synoptischen Tradition insgesamt, sondern auch durch die Art und Weise belegt, in der Paulus mit tradierten Herrenworten umging. Die Möglichkeit, dass es im Verlauf der frühchristlichen Überlieferungsgeschichte zu Umbildungen und auch zu Nachbildungen von Worten des irdischen Jesus gekommen ist, soll damit keineswegs ausgeschlossen werden. Aber man wird davon ausgehen dürfen, dass der konstruktive Prozess der Anverwandlung der Jesustradition im rezeptiven Anschluss an konkrete Erinnerungsbestände erfolgte. Sogenannte Gemeindebildungen sind keine bloßen Erfindungen spiritueller Einbildungskraft, weil sie, auch wo es sich um Bildungen von Neubeständen handelt, auf das überlieferte Bild des vorösterlichen Jesus bezogen sind, wie er historisch erkennbar war. Man wird daher zu fragen haben, ob nicht auch die zweifellos österlich geprägte Vorstellung vom Messiasgeheimnis an Jesu Geschichte einen Anhalt hat, der sie nicht lediglich als Ideenkonstrukt erscheinen lässt, wie das bei Wrede der Fall ist. Diese Frage ist mit der anderen aufs engste verbunden, ja möglicherweise sogar der Schlüssel ihrer Beantwortung, ob nämlich der historische Jesus von einem messianischen Bewusstsein getragen war und sich selbst als zum Messias ausersehen verstanden hat. Wrede hat über dieses Problem im Laufe seines Lebens unterschiedlich geurteilt. Eine Vermittlung seiner teils affirmativen, teils negativen Antworten könnte in der These gefunden werden, „dass der historische Jesus für sich ... eine proleptische Messianität beansprucht habe“ (Rollmann/Zager, 277). Die Aktualität des messianischen Anspruchs Jesu wäre sonach konstitutiv auf eschatologische Bestätigung durch die kommende Gottesherrschaft angelegt, durch deren Zukunft Jesus bereits seine Gegenwart bestimmt wusste, ohne diese mit jener unmittelbar zu identifizieren. Wredes Vermutung eines proleptischen Messianitätsanspruches Jeus ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Für ihre Richtigkeit spricht zum einen, dass sie die im Urchristentum verbreitete Vorstellung vom jesuanischen Messiasgeheimnis ungleich besser zu erklären vermag als die Annahme, diese sei lediglich ein dogmatisches Theoriekonstrukt des ersten Evangelisten ohne Anhalt an historischer Wirklichkeit. Zusätzliche Plausibilität gewinnt sie zum anderen durch das Verhältnis exakter Entsprechung, das sich zwischen einem proleptischen Anspruch auf persönliche Autorität und der Gleichnisform herstellen lässt, die Jesus für die Verkündigung seiner Botschaft vorzugsweise wählte. Alles spricht dafür, dass Jesu Vollmacht und das Bewusstsein, das er von ihr hatte, über sich selbst hinauswiesen

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und wie die jesuanischen Gleichnisse und Zeichenhandlungen vorbehaltlos auf Gott und die Herrschaft seines kommenden Reiches hingeordnet waren. Der eigentümliche Autoritätsanspruch Jesu scheint selbst von gleichnis- und zeichenhafter Art gewesen zu sein. Jesus erzählte nicht nur Gleichnisse, sondern verstand seine ganze Sendung als gleichnishaft; er wollte nicht nur Zeichenhandlungen vollziehen, sondern beabsichtigte an sich selbst ein Zeichen zu sein für die kommende Herrschaft seines himmlischen Vaters, von dessen Autorität und Vollmacht er die eigene kategorisch unterschied. Wie immer das eigentümlich Sendungsbewusstsein Jesu genau beschaffen gewesen sein mag: seine Selbstunterscheidung von Gott und der göttlichen Herrschaft, die er in Wort und Tat verkündete, war für das Bewusstsein, das er von sich selbst hatte, gewiss konstitutiv. Falls Jesus je über ein entwickeltes messianisches Selbstbewusstsein verfügt haben sollte, so war es von indirekter Art und darin der Form eines Gleichnisses und Zeichens entsprechend. Direkt und unmittelbar in Erscheinung tritt Jesus in seiner autoritativen und vollmächtigen Christusidentität erst an Ostern und in der Kraft des pfingstlichen Geistes, der den auferstandenen Gekreuzigten als den zur Rechten Gottes Erhöhten bezeugt, der wiederkommen wird, um als Messias-Menschensohn die Lebenden und die Toten zu richten. Im Gleichnis vom Großen Weltgericht Mt 25, Gleichnis vom Großen 31–46 ist die Szene eindringlich zur Darstellung Weltgericht gebracht. Nach exegetischer Mehrheitsmeinung stammt der Text nicht vom historischen Jesus, sondern repräsentiert eine vom ersten Evangelium redigierte Gemeindetradition. Doch gibt es auch gegenteilige Auffassungen. Um ein prominentes Beispiel zu wählen: „Jesus erzählt seinen Jüngern vom Weltgericht, indem er in verhüllender Weise von sich selbst spricht: Der MSMessiaskönig wird als vollmächtiger Weltenrichter kommen und auf dem Gottesthron sitzen und alle Menschen richten, indem er sie voneinander scheiden und die Einen zur Rechten, die Anderen zur Linken aufstellen wird. Dann wird er zu den einen etwa folgendes sagen: ‚Kommt her, ihr Gesegneten, ererbt das Reich, das euch von Anfang der Welt an zubereitet ist!‘ Danach wird der Richter die Lebenswerke aufzählen, die die Gerechten an ihm vollbracht haben. Da diese nicht wissen, dass sie dem MS solches taten, wird er zu ihnen sagen: ‚Wahrlich ich sage euch, was ihr getan habt einem der Geringsten, das habt ihr mir getan!‘ Zu den anderen aber wird er sagen: ‚Geht von mir, ihr Verfluchten, in das Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!‘ Und nach einer nochmaligen Aufzählung der Liebeswerke und der erstaunten Frage der Verfluchten, wann sie denn dem MS einen Dienst versagt hätten, wird dieser zu ihnen sagen: ‚Wahrlich ich sage, was ihr nicht getan habt einem dieser Geringsten, das habt ihr mir nicht getan!‘ Und die einen werden ewig bestraft, die anderen mit dem ewigen Leben belohnt werden.“ (Friedrich, 298f.) Der Inhalt des Gleichnisses scheint klar und zwar zunächst ganz unabhängig von der Frage, wie man seine Autorenschaft und die damit zusammenhängenden traditions- und redaktionsgeschichtlichen Probleme zu beurteilen hat. In Gottes

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kommendem Reich wird die göttliche Gerechtigkeit, für welche der endzeitliche Messias-Menschensohn einsteht, vor allen Menschen offenbar werden. Dann wird „zugleich der vollkommene Ausgleich geschaffen und der Tun-Ergehen-Zusammenhang wiederhergestellt: denen, die die Ordnung Gottes für die Welt zu machen versuchten, indem sie die Liebeswerke vollbrachten, wird ewiges Leben, denen, die sich diesem Tun der Gerechtigkeit entzogen, ewige Strafe zugeteilt werden.“ (Friedrich, 301) Dieser Befund gibt zu Fragen Anlass, die mindestens ebenso gravierend sind wie diejenigen nach der spezifischen Fassung von Autorität und Selbstbewusstsein Jesu: „Wie ist die Androhung von Strafe durch Jesus für die, die sich dem Tun der Gerechtigkeit entziehen, zu vereinbaren mit Jesu grenzenloser Liebe auch und gerade dem Sünder gegenüber? Welche Rolle kann die Verheißung von Lohn für Christen spielen, die glauben, allein aus Gnade gerecht gesprochen zu werden?“ (Friedrich, 307) Solche und vergleichbare Fragen stellen sich mit besonderer Dringlichkeit, wenn man das Gleichnis vom Großen Weltgericht auf authentische Jesustradition zurückführt, die durch Vermittlung des Jüngerkreises des Irdischen überliefert wurde. Sie bleiben aber auch dann erhalten, wenn Mt 25,31–46 eine vom ersten Evangelisten redigierte, möglicherweise wesentlich gestaltete Gemeindetradition darstellt, wofür die exegetische Mehrheitsmeinung spricht. „Der Menschensohn“, heißt es in Mt 16,27, „wird mit seinen Engeln in der Hoheit seines Vaters kommen und jedem Menschen vergelten, wie es seine Taten verdienen.“ Ist der Skopus dieser Aussage, der in der zitierten Stelle eine Gesamttendenz des ersten Evangelisten folgend eigens betont und hervorgehoben wird, christlich bzw. mit einem Christentum paulinisch-reformatorischer Prägung kompatibel? Nicht um sie zu beantworten, sondern um auf ihre Dringlichkeit hinzuweisen, wird sie am Ende der Überlegungen zur Gleichnisform der Botschaft Jesu und zu seinem Messiasgeheimnis sowie zu Beginn eines Textabschnittes gestellt, der über die österlichen Christusprädikationen und Selbstaussagen Jesu handelt. Das Problem der Gestalt Jesu und seiner theologischen Bedeutung lässt sich von derjenigen nach dem Sinngehalt seiner Sendung nicht trennen. Gestalt und Gehalt bilden auch und gerade im Falle Jesu einen differenzierten Zusammenhang. Die Frage nach seiner Autorität als Menschensohn, Messias usw. ist angemessen nie nur formal zu beantworten, sie muss immer auch einer inhaltlich bestimmten Antwort zugeführt werden. Der folgende Abschnitt weist daher interner Logik gemäß über sich hinaus und will zusammen mit dem schwierigen Kapitel über Jesu Stellung zum jüdischen Gesetz gelesen und verstanden sein. Formal wird dies dadurch angezeigt, dass auf Jesu Verständnis der Gerechtigkeit Gottes bereits am Ende des Folgeabschnitts ausdrücklich Bezug genommen wird.

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Göttingen 2003. – Ders./A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen (1996) 2 1997. – H. E. Tödt, Der Menschensohn in der synoptischen Überlieferung, Gütersloh (1959) 21963. – G. Wenz, „Et incarnatus est ... et homo factus est“, in: MD 50 (1999), 103– 108. – J. Zimmermann, Messianische Texte aus Qumran. Königliche, priesterliche und prophetische Messiasvorstellungen in den Schriftfunden von Qumran, Tübingen 1998.

Der Begriff Christologie bezeichnet in seiner üblichen Verwendung konzeptionelle Entwürfe ge- Der Gesalbte danklicher Begründung und Interpretation des christlichen Zeugnisses von Jesus als dem Christus. Seiner ursprünglichen Bedeutung nach steht der dem Christologiebegriff zugrundeliegende Christustitel in direktem Bezug zu messianischen Hoheitsaussagen jüdischer Tradition. Christos bzw. Christus heißt Gesalbter und ist die Übersetzung des aramäischen meschicha bzw. des hebräischen maschiach (vgl. im Einzelnen Greßmann; Chester etc.). Als Messias gilt dem Alten Testament zumeist der im Auftrag Gottes gesalbte Herrscher in Israel (vgl. etwa 1. Sam 2,10; Ps 2,2). In nachexililscher Zeit kann auch der Hohepriester als Messias bezeichnet werden (vgl. etwa Ex 29,7); allerdings trat diese Verwendungsweise des Titels nach der hasmonäischen Krise eher in den Hintergrund. Die apokalyptische Bewegung transformierte die messianische Erwartung innergeschichtlicher Erlösergestalten fortschreitend ins Eschatologische. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der endzeitlich gesalbte Prophet nach Dt 18,15–18. Die frühjüdische Messianologie ist insgesamt uneinheitlich und im Einzelnen höchst disparat. Ihre Eschatologisierung wurde von vielen, wenngleich keineswegs von allen religiösen Kreisen vollzogen. Dabei traten die Erwartungen eines königlichen Gesalbten aus dem Stamme Davids, eines von Aaron stammenden priesterlichen Gesalbten und eines messianischen Endzeitpropheten in vielfältigen Variationen auf und wurden unterschiedlich miteinander kombiniert. Obwohl im Frühjudentum „keine fest umrissene, in ihren Motiven völlig einheitliche“ (Schreiber, 541) Messianologie existierte, darf ihre Bedeutung nicht marginalisiert werden. Zwar ist die frühjüdische Endzeiterwartung durchwegs theozentrisch, so dass die Vorstellung eines eschatologischen Mittlers gegebenenfalls als verzichtbar erscheint. Dennoch begegnet sie in den erhaltenen literarischen Quellen nicht selten häufig, wenngleich in unterschiedlichen Bildern. Das Zentrum der Erwartung eines königlichen Messias bildete eine Gesalbtengestalt, die von Gott, dem alleinigen Herrscher Himmels und der Erden, dazu erwählt wurde, ihn zu repräsentieren. Der Modus und das Ziel solcher Repräsentanz konnten unterschiedlich bestimmt werden: Zumeist wurde der gotterwartete Messiaskönig als ein Mann der Weisheit, der Heiligkeit und vor allem der Gerechtigkeit gekennzeichnet, der Heil für Israel und eine Herrschaft des Friedens über die Völker heraufführen wird. Da Zeiten des Heils, der Gerechtigkeit und des Friedens unter den aktuellen sozialen und politischen Verhältnissen für die Frommen in weite Ferne gerückt waren, lag die Eschatologisierung königlicher Messianologie in der Konsequenz der Entwicklung.

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Sind bereits die mit einer königlichen Repräsentationsgestalt Gottes verbundenen Erwartungen im Frühjudentum hoch komplex, so sind weitere Differenzierungen angebracht, wenn man priesterliche und prophetische Messiasvorstellungen in Betracht zieht, wie sie etwa in Qumran begegnen. Die dortigen Funde haben gezeigt, dass der frühjüdische Begriff des Gesalbten nicht auf königlich-davidische Konzepte eingeschränkt werden darf, sondern variabel war. Aus der Perspektive des Christentums sind insbesondere die prophetischen Messianologien bemerkenswert, da sie die häufige Entgegensetzung von Messias und Prophet als obsolet erscheinen lassen und die Frage provozieren, ob und gegebenenfalls inwiefern bereits mit dem irdischen Wirken des Endzeitpropheten Jesus, der in Wort und Tat das kommende Reich Gottes verkündete, messianische Erwartungen verbunden gewesen sein könnten (vgl. Hengel/Schwemer, 1ff., 81ff., 165ff.; ferner etwa Zimmermann). Die christologische Überlieferung der Urchristenheit hat an der traditionellen Diversität frühjüdischer Messiaserwartungen auf ihre Weise Anteil. Ein systematisch entwickeltes messianologisches Einheitskonzept lässt sich keineswegs von Anfang an erkennen, und in Bezug zu der frühjüdischen Überlieferung und ihrer in hohem Maße differenzierten Messianologie sind Kontinuität und Diskontinuität gleichermaßen zu konstatieren (vgl. im Einzelnen die Zusammenfassung der Befunde bei Fabry/Scholtissek, 53f. u. 105–108; ferner etwa JBTh 8 [1993]). Der traditionsgeschichtliche Befund wird weiter dadurch kompliziert, dass der Begriff Messias mit anderen Begriffen wie demjenigen des Menschensohns bereits im Umkreis apokalyptischer Eschatologie in vielfältige Beziehungen gebracht worden ist. Im Christentum ist der nicht nur in nomineller Hinsicht zentrale Christusbegriff dann bald schon zu einem Eigennamen Jesu geworden. Doch bleibt ihm auch in seiner vorrangig onomatischen Verwendung eine Würdeaussage implizit. Dass er in seiner genuinen titularen Funktion in einem Zusammenhang mit der eschatologischen Messianologie des Judentums steht, ist neuerdings zwar bestritten worden (vgl. Karrer), aber dennoch in hohem Maße wahrscheinlich. Zwar mögen für ihn neben der alttestamentlichen Tradition der Königssalbung sowie der Hohenpriestersalbung auch anderweitige kultische und kultanaloge Salbungsvollzüge bestimmend geworden sein, wie sie um die Zeitenwende nicht nur im Judentum, sondern im gesamten religiösen Raum des mediterranen Hellenismus verbreitet waren. Dennoch bleibt eine messianologisch-eschatologische Dennotation des Christusprädikats auch dort erhalten, wo vom Gesalbten nicht mehr unter unmittelbarer Bezugnahme auf die alttestamentliche Messiastradition die Rede ist. Wenn Jesus neutestamentlich im titularen Sinne Christus genannt wird, ist er gewiss immer auch in mehr oder minder direkter Weise als erwarteter Messias bekannt, wenngleich mit Umformungen der überkommenen messianologischen Tradition ebenso gerechnet werden muss wie mit möglichen Einflüssen nichtmessianischer Salbungsüberlieferungen. Namentlich für die Davidsohnbezeichnung (vgl. im Einzelnen Burger) ist ein konstitutiver Zusammenhang mit messianischen

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Erwartungen vorauszusetzen. Wie immer man den genealogischen Aspekt der Davidsohnschaft Jesu historisch zu beurteilen hat: wo er als Sohn Davids tituliert wird, spielen eschatologische Messiasmotive trotz möglicher Zusatzaspekte ohne Zweifel eine wichtige Rolle. Auch für den christologischen Hoheitstitel „Gottessohn“ sind Verbindungen zur messiani- Gottessohn und Kyrios schen Tradition in Anschlag zu bringen. Nicht von ungefähr steht im Neuen Testament das Gottessohnprädikat in engem Zusammenhang mit der Messiasbezeichnung (vgl. Hahn). Das alttestamentliche Motiv vom gesalbten König als adoptiertem Gottessohn hat auf die neutestamentliche Verwendung des Begriffs ebenso eingewirkt wie die eschatologische Erwartung des Messias, dessen endzeitliche Ankunft vor allem in der apokalpytischen Tradition mit äußerster Spannung und Dringlichkeit angekündigt wurde. Sachbezüge zur Menschensohntradition sind damit nahegelegt, woran sich zeigt, dass die einzelnen christologischen Hoheitstitel nicht voneinander isoliert werden können. Sie bilden vielmehr bei allen Unterschieden ihrer spezifischen Prägung eine einheitliche Textur, deren wesentlicher Traditionshintergrund die ins Eschatologische gewendete alttestamentliche Überlieferung darstellt. Sie ist es, die in konstruktiver und kritischer Fortbildung eigenständig anverwandelt und dabei naturgemäß auch transformiert und verändert wurde. Letzteres gilt umso mehr für pagane Überlieferungselemente, deren Einwirkung auf die Christologie im Allgemeinen und die christologischen Hoheitstitel im Besonderen zwar nicht generell in Abrede zu stellen, aber als vergleichsweise sekundär zu beurteilen ist. Ganz abgesehen davon, dass die Eigenart der spätantiken Mysterienreligionen und mehr noch diejenige einer vorchristlichen Gnosis nur schwer oder kaum zu fassen sind: beider Einfluss auf das Christentum wurde im Gefolge der religionsgeschichtlichen Schule zum Teil massiv überschätzt. Dies gilt selbst noch in Bezug auf die in urchristlicher Zeit sehr viel klarer und konturierter erkennbare Erscheinung des Kaiserkults, deren bestimmende Formkraft von Exegeten wie Wilhelm Bousset neben der Gottessohnprädikation vor allem für den Kyriostitel in Anschlag gebracht wurde. Im Unterschied, ja im Gegensatz zum eschatologischen Messias-Menschensohn sei der Kyrios Christos ein im Kultus real präsenter Heilsbringer, dessen Verehrung durch den spätantiken Kaiserkult präfiguriert worden sei. Die alttestamentliche Herkunft des Kyrios-Titels wurde infolgedessen in Abrede gestellt und sein christlicher Gebrauch auf orientalisch geprägte Kultveranstaltungen hellenistisch-römischer Kaiserverehrung oder sonstiger Art zurückgeführt. Diese Sicht hat sich mittlerweile als unhaltbar erwiesen. Für die titulare Verwendung des Kyrios-Begriffs im Neuen Testament ist weniger der spätantike Kaiserkult als vielmehr der auf vorchristliche Zeit zurückgehende jüdische Brauch grundlegend, den Jahwe-Namen aus Ehrfurchtsgründen durch „der Herr“ zu ersetzen. Die Septuagintatradition gibt hierfür nachweisbare Belege. Damit ist nicht gesagt, dass immer dann, wenn Jesus im Neuen Testament mit Herr angesprochen

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wird, ein religiöser Wortgebrauch im bezeichneten Sinne vorliegt. Als Anrede des Irdischen kann Herr ein Äquivalent für Rabbi sein. Christologisch gehaltvoller und beziehungsreicher ist im Vergleich dazu der Gebetsruf „maranatha“. Von ihm her kann verständlich gemacht werden, warum und in welcher Weise der Herr Jesus, dessen baldiges Kommen erbeten wird, Anteil hat an der Herrlichkeit Gottes. Anrufung des kommenden Herrn und seine Akklamation als erhöhter Kyrios bilden einen Zusammenhang, dessen definitive Herstellung durch Ps 110 im Verein mit Ps 8 vermittelt und in Phil 2, 9–11 als vollzogen vorausgesetzt wird. Der vom Herrn des Himmels und der Erde zu seiner Rechten erhöhte Jesus Christus ist als der gekommene und kommende Herr zu bekennen zur Ehre Gottes des Vaters, dessen Sohn er ist. In der paulinischen Christologie, für die der Christustitel tendenziell bereits zum Namen geworden ist, kommt dem Sohn-Gottes-Gedanken und dem mit ihm verbundenen Vorstellungskomplex von Präexistenz, Sendung und Inkarnation eine zentrale Stellung zu. Der für die synoptische Tradition zentrale Menschensohntitel tritt hingegen gänzlich zurück, auch wenn Paulus ihn gekannt und möglicherweise in seine Deutung Jesu als des zweiten Adam hat einfließen lassen. Die bei Paulus dreimal begegnende Formel „Herr ist Jesus“ (Röm 10,9; 1. Kor 12,3; Phil 2,11) dürfte ein Grundbekenntnis frühchristlich-hellenistischer Gemeinden gewesen sein. Der Kyriosbegriff war im Anschluss an die Septuaginta auch als Gottesbezeichnung gebräuchlich. Seine Anwendung auf Jesus besagt, dass der auferstandene Gekreuzigte ganz und gar der Gottheit Gottes zugehörig und als Herr und Mittler alles Geschaffenen offenbar ist. Entsprechendes bringt der SohnGottes-Titel zum Ausdruck. Wie der Kyrios-Titel ist er keineswegs aus einem pagan-fremdreligiösen Bereich auf den auferstandenen Gekreuzigten übertragen, sondern unter den Bedingungen Osterns aus dem Zusammenhang des Lebens und Sterbens Jesu im Kontext der alttestamentlichen Schriften entwickelt worden. Präexistenter Sohn Gottes und Schöpfungsmittler ist Jesus Christus nach Paulus nicht in Gestalt eines überirdischen Himmelswesens, sondern als derjenige, welcher wirklicher und wahrer Mensch war, auf Erden weilte und am Kreuz um unserer Sünde willen starb, um unserer Gerechtigkeit zugute auferweckt zu werden und aufzuerstehen zum ewigen Leben Gottes, in welchem Anfang und Ende beschlossen sind. Eine weitere traditionsgeschichtliche EntwickInkarnierter Logos lungsstufe in dem Bemühen, die österliche Hoheit des am Kreuz erniedrigten Jesus von Nazareth zu explizieren, ist mit der johanneischen Logoschristologie gegeben. Unerörtert bleiben muss, in welchem Verhältnis sie zur christologischen Sophiaspekulation steht, derzufolge Jesus nicht nur als Sprecher und Träger der Weisheit, sondern darüber hinaus als Realgestalt ihres präexistenten Wesens auftritt (vgl. im Einzelnen Christ). Die Logoschristologie des vierten Evangeliums überbietet die Weihnachtsgeschichten von Matthäus und Lukas an theologischer Gründlichkeit insofern, als sie im erhöhten Gekreuzigten und in seiner irdischen Lebensgeschichte die

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Inkarnation des präexistenten Logos entdeckt. Was es mit dem nicht nur prä-, sondern auch postexistenten Sein des Logos und seiner ebenso schöpfungsmittlerischen wie eschatologischen Funktion im Johannesevangelium und in der johanneischen Tradition näherhin auf sich hat, mag einstweilen dahingestellt bleiben (vgl. Bd. VI, Abschnitt 11). Festgehalten werden soll nur, dass die johanneische „theologia incarnationis“ von der „theologia crucis et resurrectionis“ ebenso wenig isoliert werden darf wie die Präexistenztheologie bei Paulus und in der vorpaulinischen Überlieferung. Der Logos steht, wie die Inkarnationsaussagen bereits im sog. Johannesprolog (1,1–18) unterstreichen (vgl. Wenz), mit der Existenz des erniedrigten und erhöhten Jesus in einem zwar differenzierten, aber unauflöslichen Zusammenhang. Als inkarnierter Logos bringt Jesus Christus das Logoswesen nicht nur zur äußerlichen Erscheinung; er ist vielmehr die personale Einheit menschlichen Seins und der Gottheit des Logos. Entsprechend lassen sich die Aussagen über den Logos, wie er an sich selbst ist, von seiner Offenbarung in Jesus Christus als der Logosinkarnation zwar unterscheiden, nicht aber trennen. Zu ergänzen ist fernerhin, dass es sich beim johanneischen Logos um keinen zweiten Gott, sondern um einen ewigen göttlichen Mittler handelt, welcher unbeschadet seiner Unterschiedenheit von dem, dessen Mittler er ist, der Gottheit Gottes wesentlich zugehört. Am paulinischen und johanneischen Bekennntis zur österlichen Sohnesherrlichkeit des gekreuzigten Jesus von Nazareth ließe sich nicht nur erneut der Sachzusammenhang aufweisen, der zwischen einzelnen christologischen Hoheitstiteln waltet, sondern zugleich zeigen, dass die titulare Prädikation Jesu als Herr und Gottessohn nicht auf dessen unmittelbare Vergottung zielt, sondern den Unterschied zu Gott, dem allmächtigen Vater, durch den sie vermittelt ist, in sich enthält und bewahrt. Von dieser konstitutiven Relation hat das christologische Denken der Alten Kirche auch unter hellenistisch-heidenchristlichen Bedingungen und nach endgültig vollzogenem Übergang vom palästinischen in den griechischen Kulturraum niemals abstrahiert, wofür das altkirchliche Dogma selbst einen evidenten Beweis gibt. Wie die Wesenseinheit des Logos mit dem Vater deren hypostatische Differenz nicht aufhebt, sondern bestätigt, so bedeutet die personale Einheit Gottes und des Menschen in Jesus Christus keineswegs deren indifferente Gleichsetzung, die vielmehr ebenso auszuschließen ist wie beider Trennung. Zwar ist der Weg von den christologischen Anfängen über den Sieg der Logoschristologie bis hin zu Trinitätsdogma und Zwei-Naturen-Lehre weit und nicht in jeder Hinsicht geradlinig. Doch sollte man sich die Einsicht in mögliche Kontinuitätszusammenhänge nicht von vorneherein durch Stilisierung allzu abstrakter Strukturgegensätze zwischen alttestamentlich-jüdischer Tradition und griechischer Denkungsart verstellen, die im apostolischen und nachapostolischen Zeitalter ohnehin schon vielfache Verbindungen eingegangen waren. Jesus wird im Neuen Testament, wie an einigen Hinweisen verdeutlicht, als Messias-Christus, als David-, Menschen- und Gottessohn, als Kyrios, als Sophia und schließlich als Inkarnationsgestalt des präexistenten göttlichen Logos bekannt.

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Die meisten dieser titularen Prädikationen begegnen nicht erst bei Paulus, sondern bereits in der vorpaulinischen Tradition. Sie sind im Rückgriff auf die hebräische Bibel bzw. die Septuaginta und im Anschluss an frühjüdische Überlieferungen formuliert. Dies gilt für den Christustitel, der den auferstandenen Gekreuzigten als den die alttestamentlichen Verheißungen erfüllenden Messias bekennt, für das Gottessohnprädikat, wie es in der Traditionsformel im Präskript des Briefes des Apostels Paulus an die Römer klassisch und wirkmächtig auftritt, oder für die Kyrios-Bezeichnung, die in dem 1. Kor 16,22 und Did 10,6 aramäisch erhaltenen, Apk 22,20 auf Griechisch wiedergegebenen Gebet „maranatha“ anklingt. Besteht soweit in der Exegese verhältnismäßig große Übereinstimmung, so stimmen die Forscher auch weitgehend in der Annahme überein, dass die aus der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition überkommenen Titulaturen nur modifiziert und unter Bedingungen auf Jesus übertragen wurden, die entscheidend durch Ostern geprägt waren. Dies schließt nicht aus, dass geprägte Titel bereits zu Jesu irdischen Lebzeiten auf ihn angewendet oder von ihm selbst in Anspruch genommen wurden. Nach mehrheitlicher Exegetenmeinung trifft dies am ehesten für den Menschensohntitel zu. Doch ist auch hier die Forschungslage komplex. Die Sonderstellung der Menschensohnaussagen Menschensohn unter den christologischen Titulaturen wird in der exegetischen Forschung zumeist mit dem Hinweis begründet, diese seien zum einen die einzigen, deren Gebrauch von den Synoptikern Jesus zugeschrieben werde; zum anderen verwende sie niemand außer Jesus. Auch gelte in den Evangelien der Menschensohntitel nicht als einer unter vielen, sondern als derjenige, welcher Jesu Sendung am charakteristischsten kennzeichne (vgl. etwa Kmiecik, M. Müller, Tödt u.a.). Kann sonach den jesuanischen Menschensohnworten ein plausibler Anspruch auf historische Echtheit und Authentizität nicht generell abgesprochen werden, so ist damit das exegetisch aufgegebene Problem noch keineswegs gelöst. Es verbleiben viele Streitfragen. Sie beziehen sich zum einen auf den sprachlichen Sinn der Rede vom „Sohn des Menschen“ im zeitgenössischen Judentum bzw. im jüdischen Aramäisch und auf das Problem, ob dem Terminus überhaupt titulare Bedeutung zukam oder ob er als eine bloße Redeweise für „ich“ in Gebrauch stand (vgl. Schenk). Strittig ist zum zweiten die religionsgeschichtliche Herkunft und Bedeutung der Wendung, also beispielsweise die Frage, ob der Menschensohn im Danielbuch und in den Bilderreden der äthiopischen Henochapokalypse als messianische Gestalt gedacht worden ist. Galt es vormals als communis opinio, dass in Dan 7 der Menschensohn eine Symbolgestalt für die Heiligen des Höchsten, also eine Kollektivgröße darstelle, wohingegen bei Henoch oder im 4. Esra ihre Individualisierung vollzogen sei, um Anschluss zu bieten für jesuanisch-christliche Rezeption, so wurde bereits vor geraumer Zeit die vorchristliche jüdische Verwendung eines entsprechenden Titels für eine eschatologische Himmelsgestalt grundsätzlich in Abrede gestellt, wozu die Bestreitung der vorchristlichen Entstehung der henochischen Bilderreden entscheidend beitrug. Die exegetische Lage ist seither nicht übersichtlicher geworden. Auf Kritik folgte

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Gegenkritik, und jeder Konstruktion wurde, kaum war sie getätigt, ihr bloß hypothetischer Charakter nachgewiesen. Gesetzt, die vorchristliche Entstehung der Bilderreden der äthiopischen Henochapokalypse und das Vorhandensein einer messiasanalogen Menschensohnvorstellung zumindest in Teilen des vorchristlichen Judentums lässt sich ebenso plausibilisieren wie ihre Aufnahme durch Jesus, so verbleibt als entscheidendes Problem immer noch die Frage, wie dieser von der Vorstellung tatsächlich Gebrauch gemacht hat. Welche Rolle spielt der Menschensohntitel bei Jesus generell, und welche Bedeutung hat er für sein Selbstverständnis im Speziellen? Auch diesbezüglich gehen die exegetischen Meinungen weit auseinander. Am häufigsten wird in der Forschung die Auffassung vertreten, Jesus habe nur vom zukünftig kommenden Menschensohn gesprochen, wohingegen die Worte vom gegenwärtig wirkenden und leidenden Menschensohn auf Gemeindebildungen oder auf eine nichttitulare Verwendung des Menschensohnbegriffs zurückzuführen seien. In der Tat spricht vieles dafür, dass die futurischen Menschensohnlogien zum ältesten Kernbestand der Jesusüberlieferung gehören. Nimmt man an, dass sie wenigstens in ihrem Grundstock als authentisch gelten können, bleibt die persönliche Verbindung zwischen Jesus und dem kommenden Menschensohn, den er verkündete, gleichwohl noch fraglich. Hat Jesus das Kommen eines anderen angesagt, oder hat er sich selbst mit dem kommenden Menschensohn identifiziert? Geschah diese Identifikation, wenn sie denn erfolgte, auf direkte oder eher indirekte Weise, exoterisch oder esoterisch, im Geheimen oder offenkundig? Eine exegetische Schlüsselstellung bei den Versuchen, diese und ähnliche Fragen zu beantworten, kommt naheliegenderweise dem Doppelspruch in Mk 8,38 par und Lk 12,8f. par vom Bekennen oder Verleugnen Jesu und dem entsprechenden Urteil des kommenden Menschensohnes zu. Doch auch diesbezüglich gehen die Urteile der Exegeten auseinander. Während die einen in Bezug auf diese Texte erneut für eine klare Unterscheidung zwischen Jesus und dem Menschensohn plädieren, neigen die anderen zu Identifikationsannahmen, ohne notwendigerweise eine unmittelbare personale Gleichsetzung zu behaupten. Verwiesen wird gelegentlich auf die eventuelle Gleichnisform der ursprünglichen Gestalt des Doppelspruches vom Bekennen bzw. Verleugnen sowie auf die Möglichkeit, Jesu habe sich bewusst rätselhaft ausgedrückt, um das Geheimnis des dem eschatologischen Kommen des Gottesreiches zugehörigen kommenden Menschensohnes nicht vor der Zeit zu lüften und auf diese Weise zwangsläufig Missverständnisse zu erzeugen. Obwohl die Menschensohndebatte in einer Reihe von Einzelfragen Forschungsfortschritte erzielen konnte, muss es dennoch bei dem forschungsgeschichtlichen Resümee bleiben, dass die wissenschaftliche Debatte „have led to no consensus concerning the meaning or origin of the expression“ (Burkett, 5). Nach wie vor ist umstritten, ob und gegebenenfalls in welcher Weise Jesus vom Menschensohnbegriff Gebrauch gemacht hat. Schematisch können drei Optionen unterschieden werden: Nach einem ersten Modell hat Jesus von sich als Menschensohn gespro-

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chen, nach dem zweiten mit dem Begriff auf eine andere Gestalt verwiesen, wohingegen nach dem dritten der Titel erst in der Urgemeinde auf Jesus Anwendung fand. In der Gruppe derer, die annehmen, Jesus habe von sich als Menschensohn gesprochen, stehen sich zwei Auffassungen gegenüber: Nach der einen hat sich Jesus unter Aufnahme der Tradition von Dan 7,13f. titular entweder als der irdische, sterbende und auferstehende sowie der wiederkommende oder doch zumindest als der irdische bzw. wiederkommende Menschensohn verstanden und selbst so bezeichnet. Nach der anderen Option ist der titulare Charakter des Menschensohnbegriffs zu bestreiten: Durch Rückführung auf das galiläische Westaramäisch, die Sprache Jesu und seiner Jünger, lasse sich das Problem des „Menschensohns“ als „ein christologisches Scheinproblem“ (Schwarz, V) erweisen. In den authentischen Menschensohnworten der synoptischen Tradition könne von einer titularen Verwendung nicht die Rede sein. Menschensohn werde in fast allen Fällen als „verhüllende Umschreibung für ‚ich‘ gebraucht“ (Schwarz VI; vgl. 323ff.). Nach einem zweiten Erklärungsmodell hat Jesus vom Menschensohn zwar ausdrücklich und in titularem Sinne gesprochen, aber damit nicht sich selbst gemeint, sondern eine von ihm unterschiedene apokalyptische Himmelsgestalt oder eine eschatologische Repräsentationsfigur sonstiger Art. Ein typischer Vertreter dieser Auffassung ist Rudolf Bultmann. Nach ihm ist Jesus als Rabbi, Prophet und Exorzist aufgetreten. Weder waren sein Leben und Wirken am traditionellen Messiasgedanken gemessen messianisch, noch habe er sich selbst als den Menschensohn bezeichnet. Während in den Worten der synoptischen Tradition vom gegenwärtig wirkenden „Menschensohn“ ein titularer Sinn fehle und der Begriff schlicht mit Mensch wiederzugeben sei, müsse man die Worte vom leidenden und auferstehenden Menschensohn als vaticinia ex eventu beurteilen. Allein die Gruppe der synoptischen Sprüche, die in der dritten Person vom kommenden Menschensohn sprechen, enthalten nach Bultmann älteste Überlieferung. Sie können auf Jesus zurückgeführt werden, stellen aber keine Selbstaussagen dar. Eine dritte Forschergruppe führt alle Menschensohnworte auf nachösterliche Gemeindebildungen im Anschluss an apokalyptische Traditionsbestände zurück. Diese Auffassung dürfte exegetisch am wenigsten haltbar sein. Gegen die Annahme, die synoptischen Worte vom Menschensohn seien ganz auf urgemeindliche Traditionsbildungen zurückzuführen, wurde mit Recht die Tatsache geltend gemacht, dass die Bezeichnung fast ausschließlich in synoptischen Sprüchen Jesu begegnet. Dies legt einen Ausgangspunkt in Jesu eigener Rede nahe. Doch bleibt die Frage, in welcher Weise er tatsächlich vom Menschensohn geredet hat. Folgt man Ferdinand Hahn, dann hat eine Beantwortung dieser Frage vom Diktum Jesu Lk 12,8f. auszugehen, wonach sich der Menschensohn vor den Engeln Gottes zu demjenigen bekennen wird, der sich zu ihm, also zu Jesus, bekennt vor den Menschen. Nach Hahn identifiziert sich Jesus in diesem als authentisch anzusehenden Wort nicht selbst mit dem Menschensohn, sondern spricht die gewisse Überzeugung aus, dass die apokalyptische Gestalt des vom Himmel herabkommenden Menschensohns im eschatologischen Gericht denjenigen anerkennen wird, der

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sich gegenwärtig zur Person und Reichgottespredigt Jesu bekennt. Eine Identifikation Jesu mit dem kommenden Menschensohn und eine entsprechende Ausbildung sonstiger Menschensohnworte habe erst unter österlichen Bedingungen stattgefunden. Diese Auffassung ist historisch nicht unplausibel. Zum eschatologischen Charakter der jesuanischen Basileiabotschaft fügt sich die apokalyptische Zukunftsgestalt des himmlischen Menschensohnes von Dan 7,13 durchaus passend. Auch sprechen Wahrscheinlichkeitsgründe dafür, dass Jesus den Repräsentanten Gottes im eschatologischen Gericht nicht unmittelbar mit sich gleichsetzte, sondern ihn von sich selbst unterschied, aber dergestalt, dass der untrennbare Zusammenhang zwischen dem gegenwärtigen Wirken Jesu und der künftigen Wirklichkeit des mit dem Reiche Gottes kommenden Menschensohns deutlich wurde. Andere höchstwahrscheinlich ebenfalls authentische Jesusworte wie Lk 17,14.26 und Lk 11,30 weisen in eine ähnliche Richtung und können verständlich machen, warum nach seiner das Eschaton antizipierenden Auferstehung Jesus mit dem kommenden Menschensohn gleichgesetzt und der Titel auf das Wirken und Geschick seiner irdischen Person insgesamt bezogen werden konnte. Trotz plausibler Erklärungsmodelle bleiben viele Fragen. Die bisher geführte Debatte um Exegetischer Dissens Herkunft, Verwendungsweise und Bedeutung der neutestamentlichen Menschensohnthematik hat noch zu keinen einvernehmlichen Lösungen geführt und wird voraussichtlich auch in Zukunft mit keinen definitiven Resultaten aufwarten können. Definitiv fest steht lediglich, dass für die Christologie des ältesten Evangeliums die Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn grundlegend ist. „Überall, wo im Markusevangelium der Ausdruck Menschensohn begegnet, wird auf die hoheitliche Würde Jesu aufmerksam gemacht, die Jesus als demjenigen zukommt, der trotz aller Widerstände das Heil der Gottesherrschaft herbeibringt.“ (Kmiecik, 296; zum Befund in den übrigen Evangelien und in der Johannesoffenbarung vgl. etwa U. B. Müller). Dass dabei apokalyptische Traditionen im Hintergrund stehen, ist naheliegend, auch wenn manche Zusammenhänge im Dunkeln bleiben. Dies ist nicht nur durch die urchristliche Überlieferungslage, sondern auch durch die Komplexität der traditionellen Messianologie und durch das Problem bedingt, ob von einem geschlossenen Menschensohnanschauungskreis in der frühjüdischen Apokalyptik überhaupt gesprochen werden darf. Mit den christologischen Hoheitstiteln des Neuen Testaments sind viele Unwägbarkeiten verbunden. Was den Menschensohnbegriff anbelangt, so hat man sogar die Möglichkeit erwogen, dass der Ausdruck ursprünglich eine polemische, abwertende Fremdbezeichnung war, die erst in der frühchristlichen Rezeption antipolemisch und pointiert zur Selbstbezeichnung umfunktioniert wurde. Menschensohn stehe zunächst für einen gewöhnlichen Menschen in Antithese zu seiner Autorisierung durch Gott. Der Begriff sei sonach keine primär christliche oder gar jesuanische Prägung zum Ausdruck einer Selbstbewertung, sondern eine „Prägung

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von Opponenten, die sich einem an sie gerichteten Anspruch widersetzen und entziehen“ (Schenk, 226). So abwegig diese These auch anmutet: Sie ist doch nur ein weiterer Beleg für die Unübersichtlichkeit der Forschungslage, die es als wenig ratsam erscheinen lässt, „die christologischen Bezeichnungen des Neuen Testaments zum Ausgangspunkt einer neutestamentlichen Theologie“ (Balz, 127) oder gar zur Grundlage einer Beurteilung des Autoritätsanspruches zu machen, der vom irdischen Jesus selbst oder seinem Umfeld mit seiner Sendung verbunden wurde. Gegen ein solches Vorgehen sprechen im Übrigen nicht nur Probleme historischer Überlieferung, sondern auch Sachgründe, die unmittelbar in der Eigentümlichkeit der Reich-Gottes-Botschaft Jesu selbst angelegt sind. Es duldet keinen Zweifel, dass mit der Reich-Gottes-Botschaft, die Jesus in Wort und Tat verkündigte, ein eigentümlicher Vollmachtsanspruch verbunden war, der nicht nur den Inhalt der Verkündigung, sondern auch den Verkündiger selbst betraf. Von manchen seiner Zeitgenossen wurde Jesus sicherlich für einen Rabbi gehalten. Doch ist diese Kennzeichnung unzureichend, um seine Sendung historisch zu erfassen. Zwar hat Jesus „manches mit zeitgenössischen jüdischen Lehrern gemeinsam, aber noch auffälliger sind die Unterschiede. Wie andere Lehrer wurde er mit ‚Rabbi‘ und ‚Rabbuni‘ angeredet, aber er besaß keine ‚höhere‘ schriftgelehrte Ausbildung. Jesus konnte auch von sich selbst als Lehrer sprechen, doch eine Analyse seiner Worte zeigt, wie wenig sich sein Anspruch darin erschöpfte.“ (Riesner, 499) Auch Jesu Verhältnis zu seinen Jüngern gleicht nur sehr bedingt demjenigen eines Lehrers zu seinen Schülern. Sachlich angemessener als Jesu Charakterisierung als Rabbi sind Assoziationen mit dem namentlich von Johannes dem Täufer repräsentierten Typ des Endzeitpropheten, wie sie in der synoptischen Tradition breiten Raum einnehmen. Offenkundig hat Jesus mit einem eschatologischen Propheten wie Johannes Grundlegendes gemein. Bedenkt man, dass unter frühjüdischen Bedingungen mit eschatologischem Prophetentum messianologische Erwartungen durchaus verbunden werden konnten, dann sind die Grenzen der Prophetenchristologie bei weitem nicht so eng gesteckt, wie man sich das häufig vorgestellt hat. Doch hilft diese Feststellung in der historischen Sachfrage nur bedingt weiter: Ob „der irdische Jesus in der Zeit seines Wirkens von seinen Jüngern als Gesalbter bezeichnet und von seinen Gegnern mit diesem Begriff abgelehnt wurde“ (Karrer, 406), bleibt ebenso offen, wie etwa die Frage, ob Jesus selbst „das Wissen, Nachkomme Davids zu sein, bei seinem Auftreten bestimmt hat“ (Burger, 165). Wie in der Menschensohnproblematik bleibt auch hinsichtlich sonstiger Titulaturen in der historischen Jesusforschung auch dann vieles unsicher, wenn man, wie geboten, vom eschatologischen Prophetentum Jesu seinen Ausgang nimmt. Zwar mehren sich neuerdings zumindest im Bereich der deutschsprachigen Exgese die Stimmen, denen zufolge nicht erst die christliche Gemeinde in Jesus den Christus und Kyrios erkannt habe; vielmehr habe schon dieser selbst sich von Gott ausersehen gewusst, als Menschensohn und Messias für Israel und die Völker zu wirken. Doch von einer mehrheitlichen Akzeptanz dieser Annahme kann nicht die Rede sein.

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Als ein möglicher Ausweg aus dem exegetischen Dilemma bietet sich der Versuch an, die Sendungsbewusstsein Jesu Frage nach dem persönlichen Autoritätsanspruch, den Jesus mit seiner eschatologischen Reich-Gottes-Botschaft verband, von spezifischen Titulaturproblemen tendenziell abzulösen, um so eine umfassendere Perspektive ihrer möglichen Beantwortung zu erlangen. In der Tat kann nicht ausgeschlossen werden, dass Jesus den Anspruch auf seine göttliche Sendung auf andere Weise als durch den mehr oder weniger traditionellen Gebrauch spezifischer Titel erhoben hat. So ist darauf hingewiesen worden, dass die ganze Überlieferung der Worte Jesu ein emphatischer, in der Umwelt analogieloser Gebrauch von Ichformeln durchziehe, der sich keineswegs nur in den johanneischen Bildreden finde. Er erinnere an einen in der religiösen Umwelt und zumindest in einigen Partien des Alten Testaments „fest geprägten Ich-Stil, der bestimmte Eigentümlichkeiten aufweist und in der Regel für die Gottesrede reserviert bleibt“ (Schweizer, 42f.). Namentlich das „Ich aber sage euch“ der Antithesen der Bergpredigt, die zumindest in Teilen authentisch seien, belege einen unvergleichlichen Autoritätsund Absolutheitsanspruch, der in seiner Radikalität ohne Parallele sei. Auch mit der Wendung „Ich bin gekommen“ und ähnlichen Einleitungen seiner Logien habe Jesus seinen autoritativen Anspruch dezidiert zum Ausdruck gebracht. Hat die skizzierte Argumentation einerseits den Vorzug, die Frage des Autoritätsanspruchs Jesu nicht unmittelbar mit derjenigen des Gebrauchs überkommener Hoheitstitel gleichzusetzen, so darf das dezidierte Geltendmachen des jesuanischen Ichs doch andererseits die eigentümliche Reserve Jesu nicht übersehen lassen, seine eigene Person zum Thema zu machen und seinem Hoheitsanspruch auf direkte Weise Ausdruck zu verleihen. Jesus verzichtete, so wurde vermerkt, nicht nur darauf, neue Hoheitstitel zu prägen, um seine Rolle griffig zu definieren, sondern machte auch von den Titeln, die ihm die Tradition vorgab, keinen eindeutigen und fixierenden Gebrauch. Auffällig sei ferner, „dass Jesus immer dann, wenn er auf seinen Anspruch zu sprechen kam, Gottes eschatologischer Repräsentant zu sein, sich einer sehr zurückhaltenden Ausdrucksweise hinsichtlich seiner eigenen Person bediente“ (Kreplin, 272). Göttliche Hoheit und Ehre habe er während seiner vorösterlichen Wirksamkeit gerade nicht beansprucht. Seine Autorität sei keine andere als diejenige der Gotteskindschaft, zu der er im Zeichen der nahenden Gottesherrschaft und im Namen seines göttlichen Abba vollmächtig berufen habe. Dieser Hinweis verdient weiterverfolgt zu werden, sofern er die Frage der persönlichen Autorität Jesu unmittelbar mit derjenigen nach der Geltung des Inhalts seiner Botschaft verbindet und daran hindert, zu separieren, was zusammengehört. Sachlicher Gehalt und persönliche Gestalt der jesuanischen Sendung lassen sich unterscheiden, nicht aber trennen. Dies wird im Zusammenhang der Thematik von Gotteskindschaft bzw. Gottessohnschaft besonders deutlich. Deshalb gebührt ihr spezielle Aufmerksamkeit über die reine Titelfrage hinaus. Dass sich das neutestamentliche Zeugnis zur Gottessohnschaft Jesu, wie es in dem an exponierter Stelle zitierten Gotteswort Ps 2,7 pointiert ausgesprochen ist, in alttestamentlich-jüdi-

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schen Traditionszusammenhängen ausgebildet hat, wurde bereits vermerkt. Unzutreffend ist dagegen die in der älteren Forschung gelegentlich vertretene Annahme, dass die frühen Christen Jesus aufgrund einer hellenistischen theios aner-Vorstellung als Gottesssohn bezeichnet hätten. Diese Hypothese darf mittlerweile als widerlegt gelten, da Wendungen wie göttlicher Mensch und sinnverwandte Begriffe in der Literatur der römischen Kaiserzeit nirgends als Bezeichnungen für Gottmenschen oder Göttersöhne benutzt werden. Eine solche ehemals vorausgesetzte Benutzung ist in den Texten nicht zu finden. Steht die überlieferungsgeschichtliche Herkunft der neutestamentlichen Rede vom Gottessohn bzw. „dem Sohn“ demnach fest, bleibt zu fragen, ob es sich dabei um eine Christusbezeichnung der Gemeinde oder um eine Selbstbezeichnung Jesu handelte (vgl. Van Jersel). Dass der historische Jesus den Sohn-Gottes-Begriff im christologischen Sinne einer messianischen Prädikation mit titularem Charakter unmittelbar und exklusiv für sich beansprucht hat, ist in Anbetracht des exegetischen Befunds nicht anzunehmen. Doch obschon sich Jesus laut der synoptischen Tradition niemals als Sohn Gottes bezeichnet hat, verweist er durch die Art und Weise, wie er Gott als Vater anredet und anderen gegenüber seinen Vater nennt, auf sein spezifisches Gottesverhältnis. Namentlich die Abba-Anrede Gottes, deren jesuanische Authentizität unbestritten und unbestreitbar ist, hat offenkundig ein einzigartiges Bewusstsein der Gotteskindschaft und eines intimen Sohnesverhältnisses zu Gott zur Voraussetzung. Die Intimität des Sohnesverhältnisses Jesu zum göttlichen Vater, dessen eschatologische Nähe er verkündet, wird durch die Tatsache unterstrichen, dass Abba als Gebetsanrede in der vorjesuanischen Tradition nirgends begegnet. Jesus ist, was er ist und zu sein beansprucht, ganz von seinem göttlichen Vater her, dessen nahegekommenes Reich er verkündet. Jesu Selbstbewusstsein lässt sich von seinem Gottesverhältnis ebensowenig sondern, wie sein Selbstverständnis von seinem Gottesverständnis zu trennen ist. Er weiß sich als der Sohn dessen, den er seinen göttlichen Vater nennt. Durch die bei den Synoptikern wiederholt anzutreffende Rede „mein Vater“ wird dies bestätigt. Diese Wendung benennt ein singuläres, aber kein exklusives Gottesverhältnis und ist mit Formeln wie „euer Vater“ bzw. „unser Vater“ unveräußerlich verbunden. So wie Jesu Verhältnis zum väterlichen Gott und dem kommenden Reich Gottes sein Selbstverhältnis bestimmt, so bestimmt es offenbar auch sein Verhältnis zu Mitmensch und Welt. Nach allem, was wir wissen, hat der irdische Jesus sein Sohnesverhältnis zu Gott nicht exklusiv sich selbst vorbehalten. Der absolute Sprachgebrauch „der Sohn“ und „der Vater“, der Jesus ein nicht nur singuläres, Sohn des Vaters sondern ausschließlich ihm vorbehaltenes Sohnesverhältnis zum göttlichen Vater zuerkennt, findet sich bei den Synoptikern nur in der johanneischem Schrifttum vergleichbaren Stelle Mt 11,27par. Dass der irdische Jesus den absolut gebrauchten Titel des Sohnes für sich nicht explizit in Anspruch genommen hat, wird fernerhin durch die Tatsache nahegelegt, dass er die Bezeichnung „Sohn Gottes“ selbst nie verwendete. Zwar soll diese Bezeichnung

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gemäß synoptischer Überlieferung von verschiedenen Seiten an ihn herangetragen worden sein: doch wird man in diesem Zusammenhang mit redaktionellen Motiven zu rechnen haben, die auf die Situation der frühen Gemeinden und weniger auf die der Erdentage Jesu verweisen. Wie dem auch sei: das Bewusstsein Jesu, Sohn seines göttlichen Vaters zu sein, lässt sich von dem für seine Botschaft charakteristischen Ruf zu eschatologischer Gotteskindschaft nicht trennen. Jesus wollte Sohn seines himmlischen Vaters nicht ohne die Gemeinschaft der zur Gotteskindschaft Berufenen und insbesondere nicht ohne jene verlorenen Söhne und Töchter sein, die sich von ihrem göttlichen Vater abgekehrt hatten. Erst von hieraus können die nachösterlichen Aussagen über Jesu Gottessohnschaft einschließlich der Aussagen zu Prä- und Postexistenz des auf die Welt gekommenen Gottessohnes angemessen und ohne Leugnung der Brüche gewürdigt werden, deren tiefgreifendster Jesu Hinrichtung am Kreuz ist; Jesu Kreuzigung war von Innen her geurteilt eine Folge der Gemeinschaft des Gottessohnes mit den verlorenen Menschensöhnen und -töchtern, denen er im Namen seines himmlischen Vaters die Basileiabotschaft ihrer Gotteskindschaft verkündete. Stellen wie Dt 14,1 oder Ex 4,22f. (vgl. Jes 63,8; Hos 11,1) geben zu erkennen, dass es im Judentum zur „Ausbildung des Vorstellungskomplexes der Gottessohnschaft Israels“ (Huonder, 83) gekommen ist. Nicht nur von Söhnen, sondern auch von Töchtern des Herrn ist in Dt 32,19 und Jes 43,6 die Rede. Eine Störung der sohnschaftlichen Beziehung Israels zu Gott wird in Dt 32,20; Jes 1,2.4; 20,1.9 und Jer 3,14.19.22; 4,22 benannt. Auch wenn Stellen dieser Art für das christliche Bekenntnis der Gottessohnschaft Jesu nur von sekundärer Bedeutung sind, so dürfen sie doch nicht vernachlässigt werden. Denn für den irdischen Jesus stand offenbar sein singuläres Verhältnis zum göttlichen Vater in einem unveräußerlichen Zusammenhang zur Gotteskindschaftsbestimmung derer, denen er das kommende Gottesreich verkündete. Weil er Sohn des himmlischen Vaters nicht sein wollte ohne die verlorenen Söhne und Töchter, zu denen er sich gesandt wusste, erwuchs Jesus aus seiner Sendung ein Problem, das in ans Kreuz brachte. Der historische Jesus wusste sich gewiss in einem einzigartigen Verhältnis zu seinem Gott, und er hat dies, ohne sich explizit Sohn Gottes zu nennen, u.a. durch die Gottesanrede „Abba“ und die betonte Wendung „mein Vater“ klar zum Ausdruck gebracht. Ja, man wird vermuten dürfen, dass das Bewusstsein seines singulären Sohnesverhältnisses zum göttlichen Vater das Zentrum und den Inbegriff seines Vollmachtsanspruchs ausmachte, ob dieser nun im förmlichen Sinne messianisch zu nennen ist oder nicht. Wann immer Jesus zu seinem eschatologischen Sendungsbewusstsein gelangt sein mag, ob im Zusammenhang seiner Taufe oder erst später, untrennbar verbunden mit diesem ist sein Wille zu denken, Sohn des göttlichen Vaters im Verein mit den verlorenen Söhnen und Töchtern zu sein, zu denen er sich vor allem gesandt wusste. Das theologische Problem, das in dieser mit dem Nahen der kommenden Gottesherrschaft begründeten jesuanischen Hinwendung zu den Gottlosen und Sündern beschlossen lag, darf nicht unterschätzt

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werden. Es brachte Jesus nicht nur in Konflikt mit den Torafrommen, sondern drohte ihn auch vom gerechten Gott Israels zu entfremden, den er seinen Vater nannte. Der christologische Sinn des jesuanischen Gleichnisses vom verlorenen Sohn lässt Der verlorene Sohn sich ohne Wahrnehmung des Konflikts, der ins Zentrum christlicher theologia crucis führt, nicht erfassen. Die Hoheit des Herrn, die christlicher Glaube bekennt, hängt untrennbar zusammen mit der Niedrigkeit seines Kreuzes, die bar jeder Herrlichkeit ist. Entsprechend erschließt sich der Sinn christologischer Hoheitstitel nicht am Faktum der Erniedrigung des Sohnes vorbei, die sein Sohnesbewusstsein in eine Krise führte, über die hinaus eine größere theologisch nicht gedacht werden kann. Nach dem Zeugnis des christlichen Glaubens, wie er in den österlichen Erscheinungen des auferstandenen Gekreuzigten gründet und vom Geist Gottes pfingstlich erschlossen ist, setzte der Menschensohn Jesus seine göttliche Sohnschaft daran, seine in Sünde verirrten und in Schuld verstrickten Menschengeschwister zu retten und sie ihrer gotteskindschaftlichen Bestimmung zuzuführen. Der von Gott erwählte Sohn wollte nicht sein, was er ist, ohne die verlorenen Söhne und Töchter des Menschengeschlechts. Das führte den „Helfer“ (Biser) in die Hilflosigkeit und den Sünderfreund in den Tod sowie in den höllischen Abgrund der Sündenverfallenheit hinein, der sich am Kreuz auftat, an welchem nach christlichem Bekenntnis das Heil von Menschheit und Welt hängt. An der bis ins Äußerste reichenden Sünderliebe des irdischen Jesus fand dieses Zeugnis bleibenden Anhalt, um als konstitutives Erinnerungsmoment im Gedächtnis Christi unveräußerlich erhalten zu werden. In Jesus Christus, so bekennt es das Christentum, ist die unbedingte und vorbehaltlose Versöhnungsliebe Gottes in eschatologischer Endgültigkeit offenbar. Verträgt sich dieses Bekenntnis mit dem Glauben an die Gerechtigkeit Gottes, und kann es sich wirklich zu Recht auf die Reich-Gottes-Botschaft Jesu berufen? In welchem Verhältnis steht diese zur Verbindlichkeit des jüdischen Gesetzes, und welches Ethos hat Jesus selbst mit seiner Basileiaverkündigung verbunden? Einige Vorbemerkungen sollen die Beantwortung dieser Fragen vorbereiten, wie sie eingehend und ausführlich im nächsten Kapitel erfolgen wird. Dass sie zu den schwierigsten und am meisten problematischen sowohl der Jesusforschung als auch der christologischen Lehrbildung gehören, ist offenkundig und jedem Kenner bekannt. Entsprechend kontrovers fallen die Antworten aus, die auf sie gegeben werden. Dies enthebt nicht der Pflicht, den Versuch einer eigenen Antwort zu unternehmen und ihn im Bewusstsein der Strittigkeit der Thematik, die nicht zuletzt das Verhältnis von Christentum und Judentum im Innersten berührt, zur Diskussion zu stellen. Judentum vermag ohne Christentum zu existieren; Christentum ohne Judentum gibt es nicht und kann es niemals geben. Im Wesentlichen darin liegt die äußerste Spannung begründet, die sich für den christlichen Glauben mit der Torafrage und den Fragen in ihrem Umfeld bis heute und wohl nicht erst seit Paulus verbindet.

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Jesu Toraverständnis ist nie bloß theoretischer Art. Eine eigentliche theologische Doktrin über das Gesetz hat er im Unterschied etwa zu Paulus oder zu Matthäus nicht entwickelt. Sein konkretes Gesetzesverständnis lässt sich vor allem an seinem praktischen Verhalten zu Einzelgeboten in besonderen, meist kritischen Situationen ablesen. An welche Beispiele zu denken ist, hat Martin Hengel in einer instruktiven Studie detailliert dargelegt (vgl. ferner: Berger, Hübner). Bestimmend für Jesu Haltung zur Tora, deren Grundsinn er im Doppelgebot der Liebe bündig zusammengefasst hat (vgl. Mk 12,28–34), ist seine Verkündigung der Zuwendung Gottes zu den Fernen, denen er die Nähe seiner kommenden Herrschaft bescheren will, um sie heimzuholen in sein Reich. „Das Gebot, Gott mit ganzer Hingabe zu lieben, wurzelt in der Liebe, die Gott den Verlorenen und Sündern erwiesen hat und ständig neu erweist. Die Nächstenliebe ist die selbstverständliche Konsequenz, wie ja auch Gottes Vergebung und Versöhnung mit den Mitmenschen nicht auseinandergerissen werden können.“ (Hengel, 171) Deshalb empfiehlt Jesus dem Opferwilligen, etwaige Zerwürfnisse mit seinen Nachbarn zu bereinigen, bevor der Gang in den Tempel angetreten wird. Eine grundsätzliche Ablehnung des Kults und der rituellen Gesetze, die ihn regeln, ist dabei nicht vorauszusetzen; aber es werden „neue Präferenzen“ (Hengel, 168; bei H. kursiv) gesetzt. Dieser Sachverhalt wird durch Jesu Aufhebung der rituellen Differenz von rein und unrein ebenso bestätigt wie durch seine Haltung zum Sabbatgebot, die Gegenstand besonders intensiver Auseinandersetzungen mit den pharisäischen Gesprächspartnern bildete. Jesu Absicht, die Weisungen der Tora konstruktiv und kritisch auf Gottes ursprünglichen Schöpfungswillen zurückzuführen, zeigt sich exemplarisch am Verbot der Ehescheidung oder an den Antithesen der Bergpredigt, die zu prinzipiellem Gewaltverzicht und vorbehaltloser Feindesliebe aufrufen. Eine eschatologische Radikalisierung erfährt das weisheitliche Verbot des Sorgens. Insgesamt gilt, dass alles Tun und Lassen auf das kommende Reich Gottes auszurichten ist, dem in allen Lebensbelangen absoluter Vorrang gebührt. Dies kann bis zu einer Absage an die Verpflichtungen der Pietät und der üblichen humanen Gesittung zugesteigert werden. Jesu Konflikt mit seiner eigenen Familie und „das unsagbare schroffe Wort Mt 8,21f“ (Hengel, 158) gehören in diesen Zusammenhang. Das eschatologische Ethos, das für Jesu Weisung und sein Verhältnis zur Tora kennzeichnend ist, ergibt sich aus der gespannten Erwartung der Herrschaft des nahenden Gottes, der den Menschen und zwar auch und gerade denjenigen, die ihm fern stehen und feind sind, zum Nächsten werden will, um sie zurechtzubringen und ihrer Bestimmung zuzuführen. Aus dieser Spannung heraus erklärt sich auch die häufig vermerkte und kontrovers diskutierte Verbindung von sog. Normverschärfung und Normentschärfung in Jesu Toradeutung. Als charakteristisches Beispiel für Normverschärfung werden zumeist die Antithesen der Bergpredigt angeführt. Genannt werden kann ferner das auf die Liebe des Fremden (Lk 10,25– 37), des Feindes (Mk 5,43–48 par) und des Sünders (Lk 7,36–50) hin entgrenzte Gebot der Nächstenliebe. Als Normentschärfung wird hingegen beispielsweise

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Jesu Verhältnis zum kultischen Opfer- und Reinheitsgebot, zum Zehntgebot und insbesondere zum Sabbatgebot gedeutet; erwähnt seien die Konflikte um Heilungen bzw. um das sog. Ährenausraufen am Sabbat. In welchem Verhältnis stehen die beiden Jesu Haltung zur Tora betreffenden Tendenzen zueinander? Handelt es sich um einen Gegensatz, um eine Verhaltensambivalenz, oder lassen sich die vermeintlichen Gegenläufigkeiten als Aspekte eines Zusammenhangs deuten, der auf ein einheitliches und in sich kohärentes Toraverständnis Jesu schließen lässt? Die Eigentümlichkeit des Toraverständnisses Jesu liegt nicht „im Nebeneinander thoraverschärToraverständnis Jesu fender und -entschärfender Tendenzen“ (Theißen, 330) begründet, sondern in deren differenzierter Einheit, die inbegriffen ist im Doppelgebot der Liebe und der eschatologischen Auslegung, die Jesus ihm zuteil werden lässt. Nur wer der Sorge ums Eigene auch und gerade in religiöser Hinsicht in der Gewissheit des Kommens Gottes, der seinen Feinden zum Nächsten werden will, von Grund aus entledigt ist, ist zu radikaler Hingabe fähig und in der Lage, selbstlose Fürsorge zu üben für Mitmensch und Welt. Der alle Aspekte des Daseins umfassende und keine Beschränkung duldende Dienst für Gott und die Menschen, den Jesus in Anbetracht des kommenden Gottesreiches vorbehaltlos erwartet, ist ohne die Zuversicht nicht denkbar, dass das Kommen der Basileia nicht durch menschliches Zutun, sondern ganz und allein von Gott gewirkt wird. Ausschließliches Vertrauen auf Gott, dessen Herrschaft allem Eigenvermögen des Menschen zuvorkommt, und bedingungsloser Gehorsam seinem Liebesgebot gegenüber gehören zusammen und lassen sich ebenso wenig trennen wie die vermeintlich gegenläufigen, in Wahrheit konvergierenden Tendenzen der Toraauslegung Jesu, die mit den Begriffen Normverschärfung und Normentschärfung sehr missverständlich umschrieben sind. Leben in eschatologischer Erwartung ist abschiedliche Existenz, die Gott und seinem kommenden Reich absoluten Vorrang einräumt vor allen Dingen und mithin die innerweltlichen Bindungen einschließlich der Bindung ans Eigene relativiert. Indes verwirklicht sich die abschiedliche Existenz, wie Jesu Reich-GottesVerkündigung sie hervorruft und fordert, nicht gemäß apokalyptischer Art in abstrakter Negation der vorhandenen Welt, deren ursprüngliche Herkunft aus Gott Jesus nicht nur nicht leugnet, sondern entschieden voraussetzt. Schöpfungsanamnese ist ein konstitutives Moment der jesuanischen Zukunftserwartung und seiner Reich-Gottes-Botschaft. Jesu Eschatologie enthält daher protologische Bezüge, ohne deren Wahrnehmung sie zwangsläufig missverstanden werden muss. Ein Indiz hierfür ist die umfängliche Verwendung weisheitlicher Motive und Aussageformen in der Jesusüberlieferung, wie sie etwa in der Q-Tradition begegnen. Was Jesus über die Einstellung zu Besitz und Eigentum, über Lebenssicherung, Sorge um den Lebensunterhalt, aber auch zum Thema mitmenschlicher Güte sagt, hat nicht selten den Charakter von Schöpfungsweisheit. Die Bezugnahme auf Schöpfung und kreatürliche Erfahrung ist für die eschatologische Verkündigung Jesu keineswegs unmaßgeblich. Erbringt doch das nahende Gottesreich nicht das

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nihilierende Ende, sondern die erneuernde Vollendung der Schöpfung. Obzwar die Identität von Protologie und Eschatologie nicht aus der gegebenen Welt- und Selbsterfahrung begründet werden kann, so ist doch der Gott, dessen Reich im Kommen ist, kein anderer als derjenige, welcher Himmel und Erde erschaffen hat und seine Schöpfung trotz Übel und Sünde zu erhalten gedenkt. Dass dem so ist, daran lässt Jesus keinen Zweifel. Die Zukunft des Gottesreiches, der seine eschatologische Sendung gilt, kann daher angemessen nicht ohne protologischen Rückbezug auf die kreatürliche Herkunft der Welt verkündet werden, die im Schöpfergott ihren Ursprung und ihre ursprüngliche Güte begründet findet. Jesu eschatologische Reich-Gottes-Erwartung ist mit der Erinnerung urständischer Schöpfungsgüte untrennbar verbunden. Im Zusammenhang der sog. Wunder Jesu tritt der schöpfungstheologische Aspekt besonders deutlich zutage. Denn unbeschadet sonstiger Bedeutungselemente sind diese immer auch Zeichen der Weisheit Jesu und Hinweise auf den ursprünglichen Schöpfungswillen Gottes, der Gutes und nichts als Gutes für seine Geschöpfe und die sie umgebende kreatürliche Welt will und der in väterlicher Fürsorge um sie bemüht ist. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass die eigentliche Pointe der meisten Zeichenhandlungen, die Jesus als Naturheiler, weiser Arzt und therapeutischer Exorzist unter erklärter Ablehnung von Erweiswundern der Überlieferung zufolge getan hat, nicht in der Erlösung von äußeren Übeln und in der Wiederherstellung leibhaft-natürlicher Integrität besteht, so wichtig gewiss auch dieser Aspekt ist, sondern in der Versöhnung schaffenden Vergebung der Sünde. Das hat damit zu tun, dass sich für Jesus wie für die alttestamentlich-jüdische Tradition insgesamt die göttliche Schöpfungsintention primär nicht durch die äußere Ordnung der Natur, sondern durch die Gebotsordnung der Tora bezeugt, durch die sich der Wille Gottes geschichtlich vermittelt, um sich von innen her den Menschen zu erschließen. Mit dieser Feststellung ist nicht geleugnet, dass Schöpfungsweisheit und Schöpfungsweisheit und Gesetzeserkenntnis in Gesetzeserkenntnis enger Beziehung zueinander stehen. Beider Verbindung ist bereits für die vorjesuanische jüdische Tradition vorauszusetzen und wird im Toraverständnis Jesu erneut virulent, etwa wenn er, wie in den Antithesen der Bergpredigt, gegenüber der geübten Gesetzespraxis auf den genuinen göttlichen Willen rekurriert, um die Gebote im Sinne der ursprünglichen Schöpfungsintention Gottes zur Geltung zu bringen. Ein protologischer Aspekt ist wie in der Botschaft Jesu insgesamt auch in seiner Toraauslegung unübersehbar. Er ist freilich nur ein – wenngleich unveräußerliches – Element der prophetisch-eschatologischen Verkündigung, die den bestimmenden Kontext aller protologisch-weisheitlichen Bezugnahmen einschließlich der gesetzestheologischen bildet. Dies ist nicht nur deshalb der Fall, weil unter alttestamentlich-jüdischen Voraussetzungen, die von Jesus geteilt werden, von Gottes Schöpfung nicht auf naturhaft-ursprungsmythische, sondern nur auf geschichtliche Weise angemessen gesprochen werden kann: wie die Schöpfungserkenntnis Israels geschichtlich vermittelt ist, so ist auch

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die Schöpfung im geschichtlichen Werden begriffen und nur als im geschichtlichen Werden begriffene zu begreifen. Wichtiger noch als dieser Gesichtspunkt, der in isolierter Betrachtung nach wie vor noch den Schein einer lediglich naturhaften Perspektive hervorrufen kann, ist der Aspekt, dass die geschöpfliche Bestimmung von Mensch und Welt durch das gesetzes- und gottwidrige Unwesen der Sünde faktisch verkehrt und bis zur Unkenntlichkeit verstellt ist. In einer Situation, wie sie durch die Faktizität der Sünde gegeben ist, ist der weisheitliche Rekurs auf Ursprungsverhältnisse nur bedingt hilfreich, weil er sich entweder in Hybris zu versteigen oder in der resignativen Einsicht in die prinzipielle Vergangenheit urständischer Schöpfungsgüte zu verzehren droht. Anders als protologisch orientierte Weisheitstraditionen richtet Jesus daher – zumindest insofern eins mit der apokalyptischen Tradition – alle Aufmerksamkeit erwartungsvoll auf die eschatologische Zukunft der Herrschaft Gottes, der seine Schöpfung der jesuanischen Erwartung zufolge nicht nur dadurch vollenden wird, dass er ihr unfertiges Werden zum Ziel führt und verbleibende Restübel beseitigt, sondern als Versöhner derjenigen in Erscheinung tritt, deren Sünde nicht nur Konsequenz einer kreatürlichen Unfertigkeit und damit ein notfalls verkraftbares Übel, sondern eine Radikalverkehrung geschöpflicher Ursprungsbestimmung und das übelste aller Übel darstellt, welches in Wahrheit Schlimmeres ist als alle naturhaften Übel zusammen.

12. Reich Gottes und Tora: Jesu Stellung zum jüdischen Gesetz

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Jesu trat mit autoritativer Vollmacht auf. Diese Feststellung gilt unabhängig davon, ob er seine Person explizit zum Thema machte und seinem Autoritätsanspruch direkten Ausdruck verlieh, etwa durch Übernahme überlieferter Hoheitstitel oder dadurch, dass er solche Titel von seinen Anhängern auf sich anwenden ließ. Das exousia-Motiv ist nicht nur ein Leitmotiv der Christologie des ältesten Evangeliums, sondern schon für Jesu historische Erscheinung charakteristisch (vgl. im Einzelnen Scholtissek, 29ff., 81ff.). Mit einem entwickelten Sendungsbewusstsein Jesu muss gerechnet werden. Dies wird in der Regel auch von Vertretern der These eines sog. unmessianischen Lebens Jesu nicht in Abrede gestellt. Das Sendungsbewusstsein Jesu ist von seiner Botschaft bestimmt, von deren Inhalt es sich nicht trennen lässt. Jesus verkündete das nahende Gottesreich, von dessen Kommen er seine ganze Person in Anspruch genommen wusste. Die traditionelle Erwartung, die sich mit der Ankunft der göttlichen Basileia verband, war auf die Realisierung der Gerechtigkeit Gottes gerichtet. Jesus widersprach dieser Erwartung nicht, aber er transfinalisierte sie, wenn man so will, durch die Zusage bedingungslosen Heils für alle, die ihr Vertrauen auf die Väterlichkeit Gottes richten, dessen Herrschaft Gerechtigkeit mit versöhnender Liebe vereinen wird. Für diesen Zentralgehalt seiner Botschaft stand Jesus persönlich ein. Insofern lassen sich die Gestalt des Verkündigers und der Gehalt seiner Botschaft nicht separieren; sie gehören unveräußerlich zusammen. Selbst wenn es kein unzweifelhaft echtes Logion Gottes väterliches gibt, in welchem sich Jesus explizit zum Sohn Entgegenkommen und der Gottes bzw. zu „dem Sohn“ erklärt hat, so bleibt Menschensohn davon die Tatsache unberührt, dass er den Gott Israels in einem Sinne seinen himmlischen Vater geheißen hat, der einzigartig zu nennen ist. Zwar ist die Rede von Gott als Vater nicht neu. Neu indes ist die Art und Weise, in der Jesus von ihr Gebrauch macht, wenn er die Väterlichkeit Gottes gerade denen zusagt, die als verlorene Söhne und Töchter Gottes zu gelten haben. Der väterliche Gott will in seinem endzeitlichen Kommen nicht nur denen, die ihm nahe, sondern auch denen, die ihm fern und feind sind, zum Nächsten werden. Es ist dieser Gehalt, der die Einzigartigkeit der eschatologischen Verkündigung Jesu ausmacht und der Gestalt ihres Verkündigers jene Stellung gibt, die ihm eigentümlich ist. Inhalt der Botschaft und persönlicher Vollmachtsanspruch des Botschafters verweisen aufeinander und bedingen sich gegenseitig. Es ist nicht ihr Exklusivanspruch, sondern im Gegenteil ihre Inklusivität, welche die Einzigartigkeit der eschatologischen Botschaft Jesu und die singuläre Stellung seiner Person ausmacht – und zugleich die Anstößigkeit beider begründet, die zu Streit nicht zuletzt theologischer Art führen musste und tatsächlich führte. Von der Eigentümlichkeit des Sohnesbewusstseins her, wie es sich in der eschatologischen Verkündigung Jesu vom väterlichen Entgegenkommen Gottes aus-

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sprach, dürfte am ehesten auch die strittige Menschensohnfrage einer Lösung zuzuführen sein, die inhaltlich bestimmt und nicht von lediglich formaler Art ist. Die Menschensohnthematik ist traditionell endzeitlich konnotiert und passt insofern stimmig zur eschatologischen Basileiabotschaft Jesu. Auch wenn nicht auszuschließen ist, dass Jesus die mit dem kommenden Reich Gottes einhergehende Gestalt des Menschensohns von sich unterschieden hat, spricht einiges dafür, dass er sich mit ihr in einer Weise verbunden wusste, die zu einer Selbstidentifikation tendierte. Doch geschah diese Ineinssetzung, wenn sie denn statthatte, auf inhaltlich vermittelte Weise. Die Autorität des endzeitlichen Menschensohns ergibt sich aus seinem Zusammenhang mit dem kommenden Reiche Gottes und nicht unmittelbar aus einem erhobenen Vollmachtsanspruch. Erschließt sich das Geheimnis des Menschensohns nur vom Mysterium des Reiches Gottes her, dann bedeutet dies im Falle Jesu, dass die Menschensohnfrage vom spezifischen Inhalt der jesuanischen Verkündigung nicht abgelöst werden kann, an deren Strittigkeit sie teilhat. Diese Strittigkeit lässt sich durch keinen formalen Autoritätsanspruch, sondern nur durch Gott selbst beheben, dessen väterliches Kommen Jesu Endzeitbotschaft zusagt. Bis dahin musste die Vollmacht Jesu gerade nach Maßgabe der inhaltlichen Bestimmung, die ihr eignete, nicht nur verborgen, sondern auch strittig sein und bleiben, sofern der Gehalt, den sie autorisierte, in erkenntlicher Spannung stand zu überkommenen Erwartungen, die sich sowohl mit dem Menschensohn als auch mit vergleichbaren messianischen Gestalten der Tradition verbanden. Das frühe Christentum hat um diese Spannungen gewusst und sich erinnert, dass auch die Anhänger Jesu vom Streit um seine Botschaft nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich insofern betroffen waren, als sie Jesus und den Sinn seiner Sendung nicht nur vielfach nicht erkannten, sondern verkannten. Erst im Lichte Osterns vermochten sie das Verhältnis Jesu zum Menschensohn als unzweideutige Identität zu erfassen und Jesu Messianität in jener Eindeutigkeit zu bekennen, die ihr gemäß ist. Daraus erhellt zugleich, dass unter Absehung vom Kreuz, an das Jesus seine Sendung führte, über seine Menschenund Gottessohnschaft bzw. seine Messianität nicht angemessen befunden werden kann. Wie immer man über den Vollmachtsanspruch des irdischen Jesus und das Bewusstsein urteilen mag, das er von seiner Bedeutung hatte: jesuanische Selbstaussagen von seiner Person und etwaige Würdetitel, die mit ihr verbunden wurden, lassen sich christlich nur dann verstehen, wenn man sie auf das Kreuz als ihr eigentliches Prüfmittel bezieht. Der Anspruch, den Jesus mit seiner Sendung und deren Inhalten und Zielen verband, war gewiss nicht nur hoch, sondern eschatologisch aufs äußerste gespannt und von dezidiert theologischer Art. Ohne entschiedenes Vollmachts- und Sendungsbewusstsein ist der irdische Jesus nicht vorstellbar. Doch wurde er in dem, was er beanspruchte, von seinen Zeitgenossen vielfach nicht nur nicht anerkannt, sondern dezidiert abgelehnt. Mangelnde Erkenntnis bis hin zu Missverstehen und Verkennen gab es – noch einmal! – selbst bei seinen Anhängern, und die Erinnerung hieran blieb, wie mehrfach erwähnt, als ein unver-

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gessliches Moment im Gedächtnis der österlichen Gemeinde erhalten. Auch unter den Jesus Fernstehenden und bei seinen Gegnern wird es viele Missverständnisse im Zusammenhang seiner Person und seiner Sendung gegeben haben. Doch wird man die fehlende Anerkenntnis und offene Ablehnung, mit der man Jesus und dem Gehalt seiner Sendung begegnete, nicht nur auf mangelnde Erkenntnis bzw. auf Missverstehen zurückführen können. Gerade diejenigen Gegner, denen es mit ihrer Religion und Theologie ernst war, dürften durchaus ein klares Bewusstsein der Gründe ihrer Gegnerschaft gehabt und ihre Ablehnung Jesu in der Gewissheit vollzogen haben, die rechte Erkenntnis seiner Person und der Inhalte zu haben, für die sie stand. Will man es nicht dabei belassen, die Anlässe für den Konflikt, der Jesus ans Kreuz führte, ins Die Strittigkeit Jesu Reich des historischen Zufalls zu verweisen, auf kontingente Einzelereignisse zu reduzieren oder mit der Feindseligkeit Einzelner sowie irregeleiteter Gruppen in Verbindung zu bringen, dann wird man die Gründe für die bis zur Todfeindschaft gesteigerte Gegnerschaft, mit der es Jesus zu tun bekam, in der religiös-theologischen Sphäre zu suchen haben. Zweifellos haben nichtreligiöse und außertheologische Faktoren bei der Hinrichtung Jesu und den Vorhaltungen, die ihr vorangingen, eine erhebliche Rolle gespielt. Doch dürfen darüber die religiös-theologischen Ursachen des Konflikts nicht übersehen oder gering geschätzt werden. Sie verweisen in die innerste Mitte jüdischer Religion und ihres Toramonotheismus. Mögen zuletzt Fernstehende wie der römische Ignorant Pontius Pilatus über das Todesgeschick Jesu äußerlich befunden haben: das Epizentrum der Verwerfungen, die Jesu irdische Erscheinung auslöste, lag nicht im römischen, sondern im jüdischen Jerusalem, für das, hält man sich an die Frommen, die Stellung zum Gesetz des einen und universalen Gottes von alles entscheidender religiös-theologischer Bedeutung war. Die Frage des Verhältnisses Jesu zum jüdischen Gesetz gehört zu den aktuellsten und zugleich umstrittensten Problemen der historischen Jesusforschung. Ihre Beantwortung ist nicht nur für die Beurteilung des ans Kreuz führenden Konflikts mit den jüdischen Autoritäten entscheidend, sondern für die christliche Sicht des Judentums insgesamt in hohem Maße bedeutsam. Dabei zeigen sich in der Geschichte der Problemwahrnehmung nicht unerhebliche Schwankungen, deren Mitverursachung durch außerexegetische Faktoren einer eigenen Erörterung wert wäre. Um nur die beiden letzten Jahrhunderte grob ins Auge zu fassen: In prominenten Jesusdarstellungen des 19. Jahrhunderts ist das Thema der Gesetzeskritik Jesu und ihrer Folgen üblicherweise nicht annähernd so zentral wie in späteren Publikationen. Häufig begnügt man sich mit dem schon bei Spinoza begegnenden Hinweis, Jesus habe das Gesetz von aller nomistischen Äußerlichkeit befreit und auf seinen originären Sinngehalt zurückgeführt. Dass Jesus die Geltung der Tora außer Kraft gesetzt hätte, wird kaum je behauptet. Auslegungsgeschichtliche Untersuchungen zu einzelnen Jesusgleichnissen bestätigen diesen Befund. So wird in den traditionellen Interpretationen etwa der Erzählung vom Barmherzigen Sama-

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riter der Akzent „überwiegend auf den ethischen Gesichtspunkt gelegt“ (Monselewski, 180; vgl. Klemm), der die Gehalte und Geltungsansprüche der Tora im Grundsatz affirmiert. Nach David Friedrich Strauß hielt Jesus an der Gültigkeit des mosaischen Gesetzes grundsätzlich fest, „obwohl ihm nur der ethische Dekalog und das doppelte Liebesgebot das wahre Gesetz darstellten“ (Broer [Hg.], 63). Die Gesetzesthematik ist nach seinem Urteil daher nur bedingt ursächlich für die Hinrichtung Jesu. Andere Forscher des 19. Jahrhunderts haben den Unterschied in der Gesetzesfrage stärker betont, ohne ihm deshalb die Funktion eines Prinzipiengegensatzes beizumessen, wie das in Teilen der Forschung des 20. Jahrhunderts der Fall war. Folgt man z.B. Ernst Käsemann, dann sind Jesu Verhalten zum Sabbat, seine Beziehungen zu Sündern und Unreinen, seine generelle Ignorierung ritueller Reinheitsvorschriften und seine ausdrücklichen Stellungnahmen gegen jüdische Gesetzesinterpretationen seiner Zeit eindeutige Indizien für einen Grundsatzkonflikt um die Geltung der Tora, der zur entscheidenden Ursache für die Kreuzigung wurde. Käsemanns Auffassung war keineswegs eine Einzelmeinung, sondern durfte als verbreiteter Konsens der neutestamentlichen Wissenschaft gelten. Erst seit geraumer Zeit werden dezidierte Antithesen formuliert, die einen prinzipiellen Konflikt Jesu mit dem jüdischen Gesetz generell in Abrede stellen und für die älteste Stufe der Jesustradition weder eine prinzipielle noch eine partielle Kritik der Tora oder einzelner ihrer Bestimmungen als gegeben erachten. An die Stelle der Annahme eines durch das Gesetzesverhältnis bedingten Gegensatzes von Jesus und Judentum tritt diejenige einer weitgehenden Konformität, was durch den Hinweis auf die Vielfalt möglicher Torainterpretationen im Frühjudentum unterstrichen wird. „Jesus war kein Kind seiner Zeit. Er hat mit der Theologie seiner Zeit gebrochen.“ (Stauffer, 271) Dieser ehedem mit unterschiedlichen Begründungen vertretene exegetische Auffassung wird von nicht wenigen gegenwärtigen Exegeten die These eines prinzipiellen „Judaism of Jesus“ (Vermes, 11ff.) entgegengesetzt, die auch in Sachen „Jesus and the Law“ ihre Gültigkeit habe, ohne dass die hierfür angeführten Gründe völlig einheitlich wären. Differenzen sind am ehesten durch Differenzierung zu beheben. Dies trifft insbesondere Gesetz und Evangelium dann zu, wenn es sich bei der zu erörternden Angelegenheit um ein Großthema vom Range der Gesetzesfrage handelt, die ein traditionelles Musterbeispiel für die Verhandlung theologischer Grundsatzprobleme darstellt. Ist doch, um ein hervorragendes Exempel zu nennen, nach Luther nur derjenige ein rechter Theologe, der Gesetz und Evangelium angemessen zu unterscheiden und nach erfolgter Erfassung der Differenz die Bezogenheit beider zu bestimmen weiß. Fügt man hinzu, dass die bereits für sich genommen eine Fülle soteriologischer und ethischer Implikationen enthaltende Gesetz-Evangelium-Thematik gelegentlich zur Grundlegung einer Generalbestimmung des Verhältnisses von Synagoge und Kirche, Altem und Neuem Testament etc. herangezogen wurde, dann leuchtet die Notwendigkeit sachlicher Differenzierung umso klarer ein.

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Dass das Verhältnis von Gesetz und Evangelium mit demjenigen von Altem und Neuem Testament nur höchst bedingt analogisierbar ist, zeigt abgesehen von der komplexen Semantik des Gesetzesbegriffes in den biblischen Sprachen (vgl. Broer [Hg.], 37ff.) die Tatsache, dass sich „Ansätze zur Unterscheidung von ‚Gesetz und Evangelium‘ im Alten Testament“ (vgl. Schmidt, 11) selbst finden. Sie betreffen sowohl die Zuordnung von Werk Gottes und Menschenwerk im Allgemeinen, als auch das Verständnis der Tora im Besonderen, sofern diese selbst eine Folgegestalt göttlicher Verheißungen (Ex 3; 6) und Rettungen (Ex 14–17) darstellt, die allen Gesetzen (Ex 21ff.) vorangehen. „Der ihnen zusammenfassend vorangestellte Dekalog (Ex 20) spiegelt dieselbe Struktur wider. Er erinnert (wie schon Hos 13,4) im Vorspruch an die Tat Gottes, um so vor allen Forderungen die von ihm gewährte Gemeinschaft zu bezeugen: ‚Ich bin Jahwe, dein Gott.‘ Erst aus dieser Zusage und der zuvor erfahrenen Hilfe ergeben sich die Gebote; als Empfangender wird der Mensch auf sein Handeln angesprochen.“ (Schmidt, 27) Durch seine Verbindung von heilsgeschichtlichem Proömium sowie von erster und zweiter Tafel hält der Dekalog „in kaum überbietbarer Weise“ strukturell bewusst, „dass Gottes Zuwendung seinem Anspruch vorausgeht und menschliches Handeln, sofern es am Nächsten orientiert ist, durch Gottes zuvorkommendes Handeln ermöglicht ist“ (Reventlow [Hg.], 94f.). Die Einsicht, dass das Gesetz im Alten Testament Evangeliumscharakter hat, weil alles gebotene Werk des Menschen in der zuvorkommenden Wirklichkeit Gottes seinen Grund hat, kann für die Bestimmung des Alten Testaments als Gesetz nicht folgenlos bleiben. Ansätze einer Zusammenfassung alttestamentlichen Schrifttums unter dem Signum Gesetz finden sich nicht erst im Neuen Testament, wo mit nomos keineswegs nur alttestamentliche Rechtskorpora, sondern auch Psalmen und Prophetentexte bezeichnet werden, sondern bereits in der hebräischen Bibel, sofern unter Tora neben Rechtssätzen und Gesetzestexten auch paränetische und narrative Stücke begriffen werden. Der Gesetzesbegriff ist also von Hause aus differenziert. Die Notwendigkeit einer Binnendifferenzierung tritt ferner zutage, wenn man die Sonderstellung des Dekalogs im Torazusammenhang bedenkt, die es nahelegt, zwischen dem Zehngebot und den restlichen pentateuchischen Gesetzen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist „offensichtlich eine tragende Aussage“ (Lohfink, 86) des ganzen Alten Testaments und soll „zwischen prinzipiellem und unwandelbarem Gotteswillen einerseits und dessen wandelbarer und jeweils zeitbedingter Konkretion andererseits“ (Lohfink, 87) differenzieren. „Mit der Unterscheidung von Dekalog und restlichen Formulierungen des Gotteswillens ist im alttestamentlichen Kanon die Möglichkeit eröffnet, ja die Pflicht gesetzt, dass auch kommende Generationen vom gleichbleibenden Grundwillen Gottes her neu nach der konkreten Formulierung des Gotteswillens für das Gottesvolk der eigenen Zeit fragen.“ (Ebd.) Auch im Frühjudentum bildete der Dekalog, obwohl literarisch relativ schmal bezeugt, „eine Art von Orientierungsrahmen“: „Wie kaum ein zweiter Text war er in der Lage, den wesentlichen Inhalt der Tora prägnant zu bündeln und das Proprium jüdischen Glaubens in konzentrierter Form

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zum Ausdruck zu bringen. Seine lebenspraktische und damit alltagsweltliche Tauglichkeit bestand gerade darin, auf der Basis der in der ersten Tafel kodifizierten Gottesbeziehung ein aus dieser Beziehung resultierendes Ethos zu propagieren.“ (Reventlow [Hg.], 112; vgl. 146ff.) Die Bezeichnung Dekalog leitet sich von der Septuagintaübersetzung einer entsprechenden Dekalog Wendung in Dt 10,4 ab, wo wie zuvor schon in Dt 4,13 im Blick auf die Gesetzgebung am Gottesberg ausdrücklich von den „Zehn Worten“ die Rede ist. In Ex 20 und Dt 5 findet sich eine solche zusammenfassende Bezeichnung für die göttlichen Gebote bzw. Verbote noch nicht. Hingegen ist Ex 34,28f. zu entnehmen, dass Mose die mit den Worten des Bundes identifizierten Zehn Worte auf zwei Tafeln geschrieben vom Sinai herabgetragen habe. Der talmudischen Lehrüberlieferung und der christlichen Katechismustradition blieb es vorbehalten, die zwei Dekalogtafeln vom Gottesberg (vgl. Ex 20,2–17; Dt 5,6–21) „entweder auf drei plus sieben, vier plus sechs oder fünf plus fünf Gebote“ (Reicke, V) zu verteilen, wobei die Zehn Worte innerhalb dieser Gruppen verschiedene Nummern tragen. Die literarischen und traditionsgeschichtlichen Fragen, die durch die Doppelüberlieferung des Dekalogs aufgeworfen sind, müssen im gegebenen Zusammenhang ebenso wenig erörtert werden wie das Verhältnis der beiden Fassungen zueinander. Es genügt die Feststellung, dass den „Zehn Geboten“ zeitig fundamentalethische Bedeutung und eine regulative Funktion für alles Recht zuerkannt wurde. In frühjüdischen Deutungen wurde der Dekalog zum „Grundprinzip der Tora“ (vgl. Köckert, 84ff.). Er galt als Summe und norma normans des Sinaigesetzes, wobei das hellenistische Judentum dazu neigte, die Satzungen der Zehn Gebote mit den Regeln praktischer Vernunft überhaupt zu identifizieren. An diese Tendenz konnte die Alte Kirche mit ihrer Auffassung anschließen, der Dekalog vermittle kein Sonderethos Israels, sondern das alle Menschen umfassende und ihrer Natur eingestiftete Sittengesetz, dessen universale Gültigkeit in seiner vernünftigen Verallgemeinerungsfähigkeit begründet liege. Trotz und unbeschadet seiner enormen Wirkungsgeschichte im Christentum „begegnet der Dekalog im gesamten Neuen Testament nicht ein einziges Mal vollständig“ (Köckert, 95). Die seltenen Zitate und Anspielungen „betreffen lediglich Einzelgebote und Teilreihen“ (ebd.). Doch bleibt davon unberührt, dass der erste Evangelist die Bergpredigt Jesu in Analogie zur Gottesbergszene setzte, um die messianische Tora als Vollendung des im Dekalog zusammengefassten Gesetzes Israels zu charakterisieren. Fernerhin ist zu bedenken, was in Lk 10,25–28 zu lesen steht. Auf die Frage eines Gesetzeslehrers, was er tun müsse, um das ewige Leben zu gewinnen, antwortet Jesus mit der Gegenfrage, was im Gesetz zu lesen stehe. Nach der unter Bezug auf Dt 6,5 („Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“) und Lev 19,18 („Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“) erfolgten Antwort anerkennt Jesus ausdrücklich die Befolgung des Doppelgebots der Liebe zu Gott und zum Nächs-

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ten als Weg zum Leben. Ob das Liebesdoppelgebot für die zeitgenössischen Gesetzeslehrer mehr war „als eine Koppelung zweier großer Gebote“ (Nissen, 416) mag dahingestellt bleiben; für Jesus wird es die Summe der Tora und das Maß des gesamten Gotteswillens dargestellt haben, wie er im Dekalog nach frühjüdischer Einschätzung seinen konzentriertesten Ausdruck fand. Diese Feststellung erlaubt es, ein erstes Zwischenergebnis der komplexen Erörterungen zu Jesu Verhältnis zur Tora zu umschreiben. Während die Sammlung prophetischer Schriften erst „an der Wende von der Ptolemäer- zur Seleukidenzeit Palästinas“ (Steck, 167) voll ausgebildet war, stand der als Tora bezeichnete Teil des hebräischen Kanons spätestens um 350 v.Chr. fest. Für die Folgezeit gilt, „dass ‚Gesetz‘ in zunehmendem Maße der Inbegriff alles dessen wird, was man von außen gesehen als ‚jüdische Religion‘ bezeichnen könnte“ (Berger, 84). Doch bedarf diese Sicht binnenperspektivischer Differenzierung. Denn innerhalb des frühjüdischen Gesetzesverständnisses zeichnen sich zumindest zwei Entwicklungstendenzen ab: Die eine ist auf kasuistische Ausdehnung und Vervielfältigung gerichtet: „Nomos wird identisch mit der gesamten jüdischen Lebensordnung.“ (Ebd.) Ein gegenläufiger Trend ist durch Konzentration gekennzeichnet: „Für eine bestimmte Schicht des jüdischen Hellenismus ist Nomos de facto nicht das atl Gesetz, sondern lediglich ein Monotheismus, verbunden mit allgemeinen und sozialen Tugendgeboten.“ (Berger, 85) Eine Koalition mit der griechischen Tugendlehre lag von daher nicht fern, wie sich etwa an der Rezeption der Lehre von den Kardinaltugenden in hellenistisch-jüdischen Texten beobachten lässt (vgl. Reventlow [Hg.], 29–60). Obwohl sich bei Jesus keine Verbindung von ToInbegriff des Willens Gottes raweisheit und griechischem Ethos findet, ist nichtsdestoweniger die in Teilen des Frühjudentums erkennbare Konzentrationsbewegung auch für sein Gesetzesverständnis charakteristisch. Die Tora ist der Inbegriff dessen, was Gottes Willen gemäß und von ihm gefordert wird. Der Inbegriff der Tora hinwiederum ist im Dekalog enthalten, der seinerseits im Doppelgebot der Liebe seine Zusammenfassung findet. Mit dieser im Frühjudentum anzutreffenden Auffassung stimmt Jesus zwar nicht explizit, jedoch im Grundsatz überein, ohne dass sich die spezifische Eigentümlichkeit seiner Gebotsauslegung übersehen ließe, wie sie beispielhaft in den Antithesen der Bergpredigt (Mt 5) zutage tritt. Von ihnen lassen sich mit einiger Sicherheit die erste (Mt 5,21.22a), die zweite (Mt 5,27f.) und die vierte (Mt 5,33.34a) auf Jesus selbst zurückführen; dies gilt sowohl für den Inhalt als auch für die antithetische Form. Fraglich allerdings ist, ob sich Jesus mit seinen Antithesen gegen die Tora überhaupt und nicht lediglich gegen eine spezifische Form ihrer Auslegung gewendet hat. Sollte sich Jesus gegen Mose gestellt haben, um selbst als zweiter Mose eine neue messianische Tora im Gegensatz zur überkommenen alten zu verkünden? Moses nimmt im Neuen Testament eine auffällig prominente Stellung ein. Er erscheint „as the greatest of Israel’s prophets, as Israel’s king and redeemer, and as her lawgiver“ (Lierman, 293). „Perfect prophet, redeeming King, authoritative

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lawgiver, spiritual unifier: perhaps it was this appraisal of Moses which suited him for the role as a focus of Jewish loyality and the source of Jewish identity. This central position of Moses in relation to Israel seems to be particularly prominent in the New Testament, although it can be detected in other Jewish sources.“ (Lierman, 293f.) Die neutestamentliche Hochschätzung von Moses hat in der Alten Kirche dazu geführt, in Jesus selbst einen „alter Moses“ und einen zweiten Gesetzgeber zu sehen. Der Rede vom „Neuen Gesetz“, das Jesus Christus gegeben habe, ist eine wahrscheinlich aus dem syrischen Judenchristentum stammende „Begriffsbildung des zweiten Jahrhunderts“ (Kühneweg, 311). Ursprünglich unabhängig von ihr dürfte die Prädikation Jesu Christi als Gesetzgeber entstanden sein. Wie dem auch sei: Die im gegebenen Zusammenhang entscheidende Frage bleibt, ob Jesus durch seine Bergpredigtantithesen in einen Gegensatz zu Mose und zur mosaischen Tora getreten ist. Dies ist sehr unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass die jesuanischen Antithesen die Tora im Zuge der gekennzeichneten Konzentrationsbewegung auf das Doppelgebot der Liebe hinordnen und im Lichte der kommenden Gottesherrschaft auf ihre originäre Bedeutung im Sinne ursprünglichen göttlichen Schöpferwillens zurückführen wollten. Der Mensch kommt in der Verkündigung Jesu in erster Linie als Gottesgeschöpf in Betracht, das durch seine Geschöpflichkeit dazu bestimmt ist, dem göttlichen Schöpferwillen zu entsprechen. Der ursprüngliche Schöpferwille Gottes, der nach jesuanischem Urteil identisch ist mit der recht verstandenen Tora, wird durch die kommende Basileia, die Jesus verkündet, nicht negiert, sondern im Gegenteil restituiert und vollendet. Jesu Verhältnis zur Tora bestimmt sich wesentlich von der in Erwartung des kommenden Gottesreiches intendierten Restitution und Vollendung des genuinen Schöpferwillens Gottes her. Auf die eschatologische Wiederherstellung und Vollendung genuiner Schöpfungsordnung zielen nicht nur die Antithesen der Bergpredigt, sondern auch die übrigen in Wort und Zeichenhandlungen geltend gemachten Weisungen Jesu bis hin zum Gebot der Feindesliebe. Gottes Wille ist universal, beansprucht ganz und lässt weder Vorbehalte noch Eingrenzungen zu. Jesu Toraverständnis ist radikal und sein ethischer Radikalismus darauf angelegt, dem genuinen Schöpferwillen angesichts des nahenden Gottesreiches ganz und uneingeschränkt Geltung zu verschaffen. „Ihrem Wesen nach unbegrenzt und nur im Horizont des nahenden Gottesreiches verstehbar, fordern die Radikalismen ein Verhalten, das sich ausschließlich von Gott bestimmt weiß. Im Anbruch des Gottesreiches wird der Wille Gottes nochmals neu, radikal und endgültig proklamiert.“ (Schnelle, 27) Diese Proklamation erfolgt in drastischer Form und unter Inanspruchnahme von Authentizität und Vollmacht, jedoch inhaltlich so, dass dadurch der Rahmen des unter aktuellen jüdischen Bedingungen Möglichen nicht grundsätzlich gesprengt wird. Im jüdischen Rahmen seiner Zeit bleibt auch die eigentümliche Verbindung zwischen weisheitlich-protologischen und eschatologischen Motiven in Jesu Toraverständnis. Dass die Botschaft von der Gottesherrschaft als das Zentrum seiner Verkündigung zugleich das bestimmende Motiv der

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Ethik Jesu darstellt, duldet keinen Zweifel. Die Art seiner Toraauslegung und sittlichen Weisung ist durchweg eschatologisch geprägt. Für Jesus ist „die Gottesherrschaft das Prinzip ..., das den Menschen formal zu einem neuen Handeln provoziert und zugleich das provozierte Handeln auch inhaltlich in ganz bestimmter Weise (nämlich wie es in den konkreten Forderungen Jesu zutage tritt) festlegt“ (Merklein, 15). Als formales und inhaltliches Handlungsprinzip Gottesherrschaft als fungiert die Reich-Gottes-Botschaft als Integral, Handlungsprinzip das alle Momente des jesuanischen Ethos einschließlich der protologisch-weisheitlichen umfasst. Dass sich in der jesuanischen Auslegung des göttlichen Willens protologische Aspekte und weisheitliche Motive finden, ist evident und wurde wiederholt gesagt. Aber Jesus war primär kein Weisheitslehrer, sondern ein endzeitlicher Prophet. „Wenn er sich bei der Entfaltung seiner Botschaft in einem erheblichen Ausmaß weisheitlicher Ausdrucks- und Denkformen bediente, so erfuhren diese durch den neuen Kontext eine tiefgreifende Umdeutung: Jesus verkündigte ‚eschatologische Weisheit im Horizont des Reiches Gottes‘ (W. Grundmann).“ (Reventlow [Hg.], 28) Auch Jesu Verständnis der Tora ist unter Integration der mit dem Gesetz als Wertordnung ursprünglichen Schöpferwillens verbundenen protologischen Aspekte eschatologisch geprägt. Eine konstitutive Differenz von kommender Gottesherrschaft und Tora lässt sich nicht registrieren. Denn die Herrschaft Gottes in seinem erwarteten Reich ist auch nach Jesus, wie in der Zeit des zweiten Tempels allgemein angenommen, die Realisierung göttlichen Willens und die Durchsetzung der Tora jedenfalls insofern, als diese dem genuinen Schöpferwillen Gottes und der geschöpflichen Bestimmung des Menschen entspricht. Die Gegenüberstellung von „Reich Gottes“ und „Gesetz“ bleibt problematisch und in Bezug auf die jesuanische Botschaft und Weisung unsachgemäß, solange das Gesetz nur hinsichtlich seiner einzelnen Bestimmungen und nicht hinsichtlich derjenigen Bestimmtheit in Betracht kommt, die es an sich selbst prägt: nämlich ius talionis zu sein, vergeltendes Gesetz, welches nach Maßgabe göttlicher Gerechtigkeit jedem das Seine zuteilt und zuteilen muss, wenn es dem göttlichen Schöpferwillen gemäß sein soll. Erst unter diesem Gesichtspunkt tritt eine mögliche Differenz zwischen jesuanischer Reich-Gottes-Botschaft und traditionellem Toraverständnis ins Blickfeld, und der Satz gewinnt Brisanz, „dass in Jesusüberlieferungen mit Anspruch auf Authentizität die Teilhabe am Heil der Gottesherrschaft nicht von der Toraobservanz abhängig gemacht wird“ (Broer [Hg.], 19), obwohl die Herrschaft Gottes doch auch nach jesuanischer Auffassung nichts anderes sein kann als die Realisierung universaler göttlicher Gerechtigkeit. Dass die sog. Talionsformel die alttestamentliche Religion und Rechtspraxis entscheidend bestimmt und der Gedanke des vergeltenden Gottes für beide zentral ist, galt in der exegetischen Wissenschaft lange als selbstverständlich. Nicht nur F. D. E. Schleiermacher erklärte in der fünften seiner Reden über die Religion von 1799 die Vorstellung einer allgemeinen unmittelbaren Vergeltung zur religiösen

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Zentralanschauung des Judentums. Bedeutende Alttestamentler sind ihm in dieser Auffassung gefolgt. Nach H. Gunkel hat die israelitische Religion „den V(ergeltungs)glauben von Anfang an besessen“ (Art. Vergeltung. II. Im AT und im Judentum, in: RGG2 V, 1529). Sei Sittlichkeit in vorstaatlicher Zeit theologisch nur ein Moment gewesen, so hätten die Propheten das sittliche Wesen Jahwes mit größtem Nachdruck betont und damit dem Vergeltungsgedanken jene Fassung gegeben, die für Gesetzgebung und Geschichtsbetrachtung bestimmend geworden sei. Vergleichbares gelte für Sprüche und Psalmen, wo die Vergeltung vor allem auf Geschick und Ergehen des Einzelnen bezogen sei. Zwar habe der Vergeltungsglaube Krisen erwirkt und erfahren, wie namentlich das Hiobbuch belege. Doch habe er sich in eschatologisierter Form auch in der äußersten Anfechtung erhalten, um zum entscheidenden Grund für die endzeitliche Hoffnung der Frommen zu werden. Auch im Christentum bleibt der Vergeltungsgedanke nach Gunkel „eine unveräußerliche Grundlage der Religion“ (RGG2 V, 1533), wenn anders die Liebe, von der das Evangelium kündet, nicht zu einer willkürlichen Beliebigkeit degenerieren soll, die der göttlichen Gerechtigkeit Hohn spricht. Gunkels Zunftgenossen haben seine Sicht in aller Regel geteilt und das theologische Prinzip ausgleichender Gerechtigkeit und göttlicher Vergeltung zu einem der wichtigsten Traditionsgüter alttestamentlicher Religion erklärt. Strittig war nicht die Zentralstellung des Vergeltungsgedankens als solche, sondern lediglich die Frage, seit wann er diese erlangt habe. So hob die literarkritische Schule von Julius Wellhausen hervor, dass der Gedanke der Vergeltung für die israelitische Religion erst mit dem Exil zu grundlegender Bedeutung gelangt sei. Für das nachexilische Judentum bis zur Zeit Jesu und darüber hinaus sei die Vergeltungsidee dann allerdings ein unzweifelhafter Mittelpunkt religiösen Denkens gewesen. Dass zwischen Lebensführung und Ergehen ein proportionales Verhältnis im Sinne genauer Kongruenz von Ursache und Wirkung statthabe, war nach exegetischer Mehrheitsmeinung Gemeingut frommer Überzeugung ungeachtet der Frage, ob man den Wahrheitserweis ausgleichender Gerechtigkeit Gottes noch für die irdischen Lebtage oder erst für das Ende der Zeiten erwartete. Blieb der hervorragende Rang des Vergeltungsbegriffs für alttestamentliches Denken lan- Vergeltende Gerechtigkeit? ge unkontrovers, wie immer man seine geschichtliche Genese einschätzte, so wurde er in jüngerer Zeit Gegenstand heftiger Kritik und nicht selten auf ein „groteskes Missverständnis“ zurückgeführt, „erwachsen aus dem übermächtigen Einfluss der griechischen und lateinischen Bibelübersetzungen zu einer Zeit, als das Hebräische zur bloßen Sakralsprache reduziert und in seinem Sinngehalt auf weite Strecken unverständlich geworden war“ (Koch [Hg.], VIII). Orientiere man sich an der genuinen Bedeutung der hebräischen Vokabeln, Wendungen und Sätze, die auf der Basis der Septuaginta im Deutschen herkömmlicherweise mit Vergeltung und vergleichbaren Umschreibungen wiedergegeben worden seien, dann werde rasch klar, dass diese Übersetzungen auf eine Fehldeutung hinausliefen. Nicht der Vergeltungsgedanke sei für die hebräische Sprache

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und die ihr korrespondierende Denkungsart kennzeichnend, sondern die Annahme einer schicksalswirkenden Tatsphäre: „die Tat bildet eine unsichtbare Sphäre um den Täter, durch die eines Tages das entsprechende Geschick bewirkt wird; die Gottheit wacht über diese innermenschliche Ordnung und setzt sie ständig dort in Kraft, wo sie sich abzuschwächen droht.“ (Koch [Hg.], XI) Um die skizzierte Position am Beispiel von K. Koch, der sie exemplarisch ausgeführt und exegetisch begründet hat, näher zu entfalten: Als Basis seiner Argumentation bringt Koch ein unauflösliches Korrespondenzverhältnis von Tun und Ergehen in Anschlag, dessen Regel die von Gott in Kraft gesetzte und gewährleistete Daseinsordnung dergestalt bestimmt, dass eine böse Handlung Unheil zur zwangsläufigen Folge hat, wohingegen der Guttat von selbst heilvolles Ergehen entspringt. Das Schicksal des Menschen wird sonach selbsttätig insofern entschieden, als der Sünde-Unheil- wie der Guttat-Heil-Zusammenhang unverbrüchliche Geltung hat und von Gott, in dem er gründet, garantiert wird. Anfangs vielfach kollektiv gefasst, wird die Tun-Ergehen-Ordnung nach Koch fortschreitend individualisiert, ohne dass sich dadurch am Grundverständnis einer schicksalswirkenden Sphäre menschlichen Tuns Wesentliches ändern würde. Entscheidend sei in beiden Fällen die Annahme einer in sich wirksamen Tat, kraft welcher das Gute mit seinem Lohn ebenso unveräußerlich verbunden werde wie die Schuld mit ihrer Strafe. Diese Einsicht, welche die alttestamentliche Tradition durchgehend bestimme, halte sich selbst im Falle der Bezweiflung ihrer innerweltlichen Bewährung in eschatologisch modifizierter Form durch; der Gedanke, dass der Mensch sein Ergehen durch eigenes Handeln selbsttätig bewirkt, weil die Folgen seiner Tat dieser nicht äußerlich sind, sondern gleichsam dinghaft anhaften, bleibe sonach auch im spätjüdischen Schrifttum unverkennbar erhalten, um seine Prägekraft bis ins Denken der frühen Christenheit hinein zu entfalten. Erst unter dem Einfluss der Septuaginta und an sie anschließender Bibelübersetzungen ist nach Koch die für den masoretischen Text bestimmende „synthetische Lebensauffassung“ (K. H. Fahlgren; vgl. Koch [Hg.], 87–129) einer schicksalsentscheidenden Tatsphäre unkenntlich gemacht und durch ein Vergeltungsdenken ersetzt worden, das dem Alten Testament von Hause aus völlig fremd gewesen sei. Am deutlichsten zeige sich dies an den Übersetzungen des alttestamentlichen Gerechtigkeitsbegriffs, der nun im Gegensatz zu seiner Ursprungsbedeutung normativ und juristisch verstanden werde. Auch an anderen Wörtern lasse sich der Prozess einer sinnentstellenden Umwandlung in Rechtsbegriffe beobachten, dessen Resultat nach Koch schließlich zur rückwirkenden Folge hatte, den Vergeltungsbegriff im Zentrum des Alten Testaments anzusiedeln, obwohl er allenfalls an seinen Rändern in Erscheinung trete. „Gibt es ein Vergeltungsdogma im Alten Testament?“ (Vgl. Koch [Hg.], 130– 180) Sieht man von dem in jedem Fall anachronistischen Dogmabegriff ab, dann hängt die Beantwortung der zur Diskussion stehenden Frage entscheidend davon ab, was man jeweils unter Vergeltung versteht. Koch bestätigt dies indirekt selbst, wenn er registriert, dass manche Exegeten am Vergeltungsbegriff festhalten, ob-

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wohl sie seinen Ergebnissen im Grundsatz zustimmen oder ihnen jedenfalls nicht grundsätzlich widersprechen. Assoziiert man mit dem Vergeltungsgedanken, wie dies bei Koch der Fall ist, einen Rechtsformalismus, der den Zusammenhang von Tat und Tatfolge auflöst, um ihn erst in einem richterlichen Akt nach Maßgabe einer externen Norm äußerlich wiederherzustellen, dann ist rasch klar, dass dieser Gedanke dem alttestamentlichen Befund weder in theologischer noch in sonstiger Hinsicht gerecht wird. Doch melden sich zugleich Bedenken, ob er in dieser Form der späteren Entwicklung entspricht und nicht ebenso auf eine Verzeichnung griechischer und lateinischer Gerechtigkeitsbegriffe hinausläuft. Wie auch immer: dass nach Maßgabe alttestamentlichen Denkens „Tat und Ergehen innerlich zusammenhängen und nicht erst nachträglich aufeinander bezogen werden müssen“ (Koch [Hg.], 133), ist ebenso evident wie die Tatsache, dass die gottgefügte Ordnung dieses Zusammenhangs nicht den Charakter eine förmlichen Norm hat, die dem Sachverhalt äußerlich ist, um den es sich handelt. Fraglich ist allerdings, ob sich der Zusammenhang von Tun und Ergehen dinghaft und im Sinne einer der Tat inhärierenden Schicksalsmächtigkeit angemessen erfassen lässt. Will man eine Fatalisierung des Tat-Folge-Zusammenhangs vermeiden, dann wird man die Wirklichkeit, die ihn begründet, nicht primär in Kategorien naturhafter Mächtigkeit, der gegebenenfalls magisch zu begegnen wäre, sondern im Sinne jener geschichtlichen Verantwortungsordnung zu fassen haben, deren Maß die göttliche Gerechtigkeit selbst ist, die weder schicksalshaft noch nach Belieben, sondern in jener gebundenen Freiheit waltet, die der Gottheit Gottes und dem Bund gemäß ist, den er mit seinem Volke geschlossen hat. Zu vermeiden ist also sowohl eine Auffassung des alttestamentlichen Tun-Ergehen-Zusammenhangs im Sinne eines nicht am Handlungssachverhalt, sondern an externen Normen orientierten äußerlichen Rechtsformalismus, als auch ein naturalistisches Verständnis, das dem transnaturalen Charakter göttlicher Gerechtigkeit und der entsprechenden Verantwortungspflicht des Menschen nicht hinreichend Rechnung trägt. Hält man ihn in diesen Grenzen und unterscheidet ihn von triebhafter bzw. lediglich subjektiv motivierter Rache ebenso sorgfältig wie von Fehlformen juridischer Berechnung, dann ist dem Vergeltungsbegriff keineswegs generell jene Stellung streitig zu machen, die er in der alttestamentlichen Wissenschaft und darüber hinaus lange Zeit unangefochten innehatte. Auch wenn gute Gründe dafür sprechen, dass die Talionsformel ursprünglich auf einen spezifischen Rechtsfall beschränkt und keineswegs Prinzip alttestamentlichen Rechtsdenkens gewesen war (vgl. im Einzelnen Koch [Hg.], 325ff., 407ff.): Die Annahme eines dem Täter um seiner Tat willen objektiv und nach Maßgabe universal generalisierbarer Verbindlichkeit gebührenden und zuzuteilenden Gegenausgleichs gehört ebenso konstitutiv zu jedem denkbaren Gerechtigkeitsgedanken wie die urteilende Scheidung zwischen Gut und Böse, deren Differenz nicht vergleichgültigt werden darf, wenn Recht gerecht und Gerechtigkeit richtig, also ihrem Begriff entsprechend gedacht werden soll. Nach Maßgabe des vom gerechten Willen Gottes gesetzten und dauerhaft gewährleisteten Ordnungsgefüges der Schöpfung, dem willentlich zu entsprechen

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die Bestimmung des Menschen ist, sind Tat und Tatfolge, Lebenshaltung und Lebensgeschichte gesetzmäßig dergestalt miteinander verbunden, dass der Täter für seine Taten haftbar gemacht werden kann. Zwar haftet die Tat ebensowenig naturhaft am Täter wie die Konsequenz der Handlung ihrer Verursachung in schicksalshafter Zwangsläufigkeit folgt. Das Geschick als Konsequenz der Tat ist nicht durch eine blinde Natur oder durch fatale Willkür, sondern durch Gottes Gerechtigkeit geordnet, die zwar nicht berechenbar, aber nichtsdestoweniger von derselben unverbrüchlichen Verlässlichkeit ist wie das Eintreten seines Gerichts, das jede Egalisierung der Differenz von Gut und Böse mit definitiver Endgültigkeit verhindert. Zwar erschöpft sich der Begriff der Gerechtigkeit Gottes im Alten Testament nicht in dem der gesetzgebenden oder zuteilenden Gerechtigkeit; aber ohne sie ist er theologisch ebensowenig zu fassen. In diesem Sinne gehört der Vergeltungsgedanke durchaus elementar zu ihm hinzu, und es wäre unter der Voraussetzung seines richtigen Verständnisses verfehlt, ihn preiszugeben. Lässt sich der Vergeltungsgedanke aus dem biblischen Zeugnis nicht streichen und aus dem Begriff göttlicher Gerechtigkeit nicht entfernen, so stellt sich umso dringlicher die Frage, wie sich die vergeltende Gerechtigkeit zur rechtfertigenden verhält, von der das Evangelium kündet. Ist der Zuspruch der Rechtfertigung des Sünders mit dem Anspruch göttlicher Gerechtigkeit kompatibel? Kann die vergeltende zu einem prinzipiell vergangenen bzw. aufgehobenen Moment der rechtfertigenden Gerechtigkeit herabgesetzt werden? Setzt nicht auch die göttliche Vergebung der Sünden, sosehr sie der Vergeltung Grenzen setzt und im Alten Testament stets gesetzt hat, die vergeltende Gerechtigkeit voraus und zwar so, dass ihre prinzipielle Gültigkeit anzuerkennen und nicht etwa zu negieren ist? Könnte andernfalls die rechtfertigende Gerechtigkeit ernsthaft gerecht genannt und von willkürlichem Belieben unterschieden werden? Treffen diese und ähnliche Fragen Richtiges, wie steht es dann um die Einsinnigkeit des biblischen Gerechtigkeitsbegriffs? Wird er nicht gänzlich äquivok gebraucht, wenn er sowohl die vergeltende als auch die rechtfertigende – umsonst Vergebung gewährende – Gerechtigkeit bezeichnet? Man hat die Gerechtigkeit Gottes „als Signatur und Abbreviatur der paulinischen Theologie“ (Stuhlmacher, 203) bezeichnet und die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade zur Summe und zum Inbegriff des Evangeliums erklärt, welches Paulus bezeugt. Trifft, was für Paulus gilt, vergleichbar schon für Jesus zu? Peter Stuhlmacher meinte diese Frage bejahen und die These vertreten zu dürfen: „Jesus fasst mit dem für sein Werk entscheidenden Begriff der basileia ein mit der paulinischen These von der dikaiosyne theou vergleichbares, wenn nicht sogar identisches Phänomen und Ereignis ins Auge: das Recht, das Gott sich gerade an den Gottlosen zu nehmen gewillt ist.“ (Stuhlmacher, 246) Begründet wird diese These anhand einschlägiger Gleichnisse (Lk 18,9–14; Mt 18,23–35; Mt 20,1–16; Mt 18,23–35), der Gesetzespredigt Jesu und am Vaterunser. Zwar lasse sich im Unterschied zum pharisäischen und apokalyptischen Judentum der Zeit bei Jesus keine Tun und Ergehen

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ausgesprochene Rechtfertigungslehre nachweisen. Doch sei die jesuanische ReichGottes-Botschaft unveräußerlich mit der Proklamation des die Gottlosen umgreifenden „Liebesrechtes Gottes“ (Stuhlmacher, 251) verbunden, welche die innere Mitte der jesuanischen Verkündigung, nämlich der Reich-Gottes-Botschaft ausmache. Die paulinische Rechtfertigungsbotschaft habe insofern an Jesu eigener Verkündigung einen Anhalt, ohne dass deshalb die grundlegende Bedeutung von Karfreitag und Ostern für die christliche Theologie verkannt werden dürfte. Der historische Jesus war kein Christ, sondern ein Jude, dem die Tora als verbindlicher Ausdruck göttlichen Willens galt. Jesus hielt sich von Ausnahmen abgesehen, welche die Grundsatzregel bestätigen, an das mosaische Gesetz und verwies andere auf dessen normativen Anspruch, wobei er die Forderungen der Tora nicht nur gelegentlich verschärfte, sondern auch auf einen Grundsatz von universaler Geltung vereinigte. Selbst wenn die ausdrückliche Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe im Doppelgebot der Liebe nicht auf Jesus zurückgehen sollte, „darf man annehmen, dass die späteren Gestalter und Tradenten der Intention Jesu naheblieben“ (Schnackenburg, 95). Damit ist allerdings nicht gesagt, dass mit der Absicht, die Gebote der Tora liebesethisch zu bündeln, ein jesuanisches Spezifikum gegenüber dem frühjüdischen Gesetzesverständnis namhaft gemacht sei. Versuche einer Vereinheitlichung des Gesetzes und einer Verknüpfung von Gottes- und Nächstenliebe im Anschluss an Dt 6,5 und Lev 19,18 hat es bereits vor Jesus gegeben, und auch der Hinweis, dass die Gottesherrschaft die motivierende Größe des jesuanischen Liebesethos sei, führt insofern nicht grundsätzlich weiter, als die Verbindung von Gesetzeslehre und Eschatologie für weite Teile des Frühjudentums bestimmend war. Seine Zukunftshoffnungen sind bei allen Unterschieden im Einzelnen von der einheitlichen Erwartung sich durchsetzender und endgültig offenbar werdender Gottesherrschaft bestimmt. Gott wird in seinem Reich nach Maßgabe der Tora regieren, welche die Gottes- und Menschenliebe zum Kriterium und zur Richtschnur allen rechten Handelns erklärt. In diesem Sinne gehören Gesetz und Eschatologie im Frühjudentum untrennbar zusammen. Das Gesetz „bewahrt den Frommen auf diese Heilszeit hin. Es stellt den Maßstab des Endgerichts. Es bildet die Ordnung der zukünftigen Heilszeit.“ (Kellermann, 125) Das Kommen des Gottesreiches, auf das sich die Hoffnung richtet, gehört im eschatologisch gespannten Frühjudentum mit der verheißenen „Nähe der Tora bzw. in ihr präsenten Weisheit“ (Liebers, 173) untrennbar zusammen. Darin liegt kein Unterschied zu Jesus. Auch die Universalisierung des Gesetzesgedankens, die mit einer Identifizierung von Gesetz und Weisheit einhergehen konnte, sowie die tendenzielle Relativierung des Bundesgedankens vom Gesetzesgedanken her deuten auf keinen grundsätzlichen Unterschied hin. Die Auffassung, dass „der Gesetzesgehorsam des einzelnen über dessen Zugehörigkeit zum wahren Gottesvolk“ (Hoffmann, 322) entscheidet, steht in keinem Gegensatz zur Auffassung Jesu. Differenzen treten erst zutage, wenn man die endzeitliche Funktion des Gesetzes und die förmliche Bestimmung ins Auge fasst, die sein Gehalt in eschatologischer Hinsicht erhält. Das Gesetzesverständnis der frühjüdischen Apokalyptik ist we-

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sentlich durch den gekennzeichneten Vergeltungsgedanken geprägt. „Das Gesetz erscheint in erster Linie als Gottes Gerichtsnorm im Endgericht. Der Gesetzesgedanke trägt dafür Sorge, dass der innergeschichtlich gestörte Tun-Ergehen-Zusammenhang am Ende der Zeit wiederhergestellt wird. Die endzeitliche Strafe der Sünder wird deren geschichtlicher Schuld, der endzeitliche Lohn der Gerechten deren irdischem Verdienst entsprechen.“ (Hoffmann, 321) Erst mit dem so verstandenen Vergeltungsgedanken, wie er dem Gedanken eines göttlich garantierten, wenngleich gegebenenfalls erst eschatologisch zu realisierenden Tun-Ergehen-Zusammenhangs entspricht, ist die Reflexionsebene erreicht, auf der sich über Jesu Verhältnis zum jüdischen Gesetz und über die Beziehung befinden lässt, die zwischen diesem und dem bei allen möglichen Entwicklungen und Wandlungen (vgl. Schnelle) in seinen Grundkonturen präzise identifizierbaren paulinischen Gesetzesverständnis besteht. Trifft es wirklich zu, dass die Unterschiede zwischen Jesus und Paulus hinsichtlich ihrer Stellung Jesus und Paulus zum alttestamentlichen Gesetz „nicht prinzipieller Natur“ (Benz, 72) sind? Statt einer abstrakten Erörterung dieser Frage empfiehlt es sich, ihre Beantwortung historisch oder besser gesagt: wirkungsgeschichtlich anzugehen. Nach einer Zeitspanne von nur wenigen, vielleicht nur zwei bis drei Jahren nach Jesu Kreuzigung „verfolgt Paulus die Anhänger der Jesusbotschaft in Damaskus. Da Paulus in Gal 1,13 und Phil 3,6, wo er hierauf zu sprechen kommt, jeweils auch seinen Eifer für das Gesetz erwähnt, ist es sehr wahrscheinlich, dass es auch bei der Verfolgung der Jesusbewegung in Damaskus um Gesetzesfragen ging. Dafür spricht auch die Verfolgung des Stephanus. Andere Gründe für die Verfolgung des Stephanus und für die paulinische Aktion anzunehmen, wie etwa die Verehrung eines Gekreuzigten als Bedrohung des Gesetzes, erscheinen eher unwahrscheinlich. Offensichtlich gab es schon bald nach Jesu Kreuzigung nicht nur eine Gemeindegruppe in Damaskus, sondern diese hielt auch nicht mehr so am Gesetz fest, wie ein frommer Jude sich das vorstellte. Da solche, so früh erfolgte Abweichung vom Gesetz gegen Jesu Intention wenig wahrscheinlich ist, ist sie als Hinweis für eine gewisse Torakritik von Seiten des historischen Jesus zu werten.“ (Schenke u.a., 252) Motiv für Jesu Gesetzeskritik, für deren Faktizität die Wirkungsgeschichte seiner Botschaft eindeutig spricht, war die Einsicht in die Barmherzigkeit des Willens Gottes, dessen eschatologisches Kommen er verkündete. Zwar schärft Jesus gleich dem Täufer die radikale Gerichtsverfallenheit ein. „Im Gegensatz zum Täufer kommt bei ihm aber auch das Heilshandeln Gottes in umfassender Weise zur Sprache. Der Mensch kann durch Gottes Güte und Vergebung in eine neue Beziehung zu Gott treten.“ (Schnelle, 30) Namentlich in seinen Gleichnissen und Zeichenhandlungen zeigt Jesus Gott als denjenigen, der das Verlorene sucht und sich des Sünders annimmt, welcher in Anbetracht des Schöpferwillens und des unmittelbar bevorstehenden Reiches Gottes nichts als seine Schuld vorzuweisen vermag. Jesus verkündete Gottes voraussetzungslose Vergebung. Dass er selbst Sünden ver-

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geben hat, wird im Neuen Testament nur zweimal berichtet (Mk 2,1–12; Lk 7,36– 50), ohne dass über die historische Authentizität der Berichte eindeutig befunden werden könnte. Ob Jesus eine förmliche Sündenvergebungsvollmacht in Anspruch genommen hat, muss daher fraglich bleiben. Davon bleibt die Tatsache unberührt, dass Jesus allgemein einen Umgang mit Sündern praktizierte, der unter den religiösen Bedingungen seiner Zeit nicht nur als außergewöhnlich, sondern als anstößig empfunden werden musste. Auch wenn Jesus Sünde nicht unmittelbar und unter Berufung auf eigene Vollmacht vergeben hat, wird er doch Schuldbeladene des unbedingten Vergebungswillens Gottes versichert und insofern die Sündenvergebung Gottes zugesprochen haben. Dieser Zuspruch hat am Gesetz insofern einen Anhalt, als die Tora Opferund namentlich Sühnopfergebote enthält, welche die Annahme einer grundsätzlichen Versöhnungsbereitschaft Gottes zur Voraussetzung haben. In die Urkunde offenbaren göttlichen Willens ist der Versöhnungswille Gottes eingezeichnet. Dies bietet Anlass zu der Feststellung, dass die Bedeutung der Kultgesetze ungeachtet der zentralen Stellung des Dekalogs in der Tora nicht unterschätzt werden darf. Indes ist die Zusage des Erbarmens Gottes bei Jesus nicht kultisch bedingt, sondern von jener bedingungslosen Unbedingtheit, wie sie in den Seligpreisungen zur Sprache kommt. Es ist wahrscheinlich, „dass Mt und Lk die von ihnen wiedergegebene Form der Seligpreisun- Seligpreisungen gen im wesentlichen schon vorgefunden haben“ (Broer, 32). Die meisten Differenzen zwischen Bergpredigt und Feldrede werden schon in der Tradition vor den beiden Evangelisten entstanden sein. „Lk dürfte ... eine wesentlich weiterentwickelte Tradition als Mt vorgefunden haben, die schon Makarismen und Wehe, und zwar beide in 2. Person, aufwies, während die Tradition des Mt die Wehe nicht enthielt und die Makarismen in der 3. Person anführte.“ (Broer, 38) Für die Gattung der Makarismen ist ihr unbedingter Zuspruchscharakter kennzeichnend, der die Seligkeit nicht von Bedingungen abhängig macht. Der zu ihnen gehörige Attributivsatz ist nicht primär konditional zu verstehen (vgl. Broer, 52). Die Makarismen haben in erster Linie einen „indikativen Charakter“ (Broer, 98). Sie halten keine Tugendtafel als Einlassbedingung für das Gottesreich vor, sondern sprechen das Heil vollmächtig denen zu, die seiner am meisten bedürfen. Am meisten heilsbedürftig sind nach Einschätzung Jesu die Sünder. Denn ihr Unheil ist nicht von natürlicher Art, auch nicht einfachhin sozial bestimmt, sondern durch persönliche Schuld verursacht. Das Unheil der Sünder hat keinen anderen Grund als den bodenlosen Abgrund der Sünde, dem sie schuldhaft verfallen sind. Das durch das sündige Unwesen bedingte Unheil ist sonach auf seine – verkehrte – Weise unbedingt. In der Konfrontation mit dem Gesetz wird dies offenbar. Zugleich ist es das Gesetz, welches die Schuld der Sünde nicht gut sein lässt, sondern als böse, der Gerechtigkeit Gottes nicht nur nicht entsprechend, sondern widersprechend identifiziert. Die Bosheit der Sünder ist dem Willen Gottes

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zuwider und mit seiner gerechten Heiligkeit unvereinbar. Das heilige Gesetz der göttlichen Tora drängt daher auf Scheidung. Ohne richtendes Urteil ist Gerechtigkeit nicht denkbar. Lohn und Verdienst sind daher nach Maßgabe des Gesetzes demjenigen vorbehalten, die ihm entsprechen, wohingegen Gesetzeslose und torawidrige Sünder an ihrer eigenen Bosheit zugrunde gehen. Der Vergeltungsgedanke ist, wie erwähnt, seit geraumer Zeit in Misskredit geraten, und man rechnet ihn in der Regel den natürlichen Neigungen des menschlichen Herzens, wenn nicht der Bosheit der Rachsucht zu. Der Kern des Vergeltungsgedankens bleibt von dieser Kritik allerdings gänzlich unbetroffen, und er hat Bestand, solange der Gedanke der Gerechtigkeit besteht. Denn dieser ist nicht denkbar ohne jenes rechte Ordnungsgefüge zwischen Tat und Tatfolge, Tun und Ergehen, wie es nach alttestamentlich-jüdischem Urteil dem gerechten, im Gesetz offenbaren Willen Gottes gemäß ist. Der Tora zufolge ist die Beziehung von Tat und Tatfolge gottgeordneter Art und auf dem Verschuldensprinzip basierend, demzufolge jeder Täter für seine Tat haftbar gemacht werden muss. Es ist demnach nicht ein subjektiver Drang im Sinne blindwütiger Rache, der die Vergeltung motiviert. Das Gesetz der Vergeltung ist im Gegenteil in der göttlichen Gerechtigkeit gegründet, die jedem das Seine zuteilt und vom Gebührenden nicht willkürlich abweicht. Zwar hat im nachexilischen Israel, nachdem der Gedanke eines geordneten Zusammenhangs von Tun und Ergehen einmal etabliert war, das schmerzliche Empfinden der Diskrepanz zwischen dem Glauben an Gottes Gerechtigkeit und der irdischen Erfahrung ungerechten Leids zu ergreifender Klage und zu mancherlei Anfechtungen und Zweifeln Anlass gegeben. An den Psalmen, am Hiobbuch oder an anderen Teilen jüdischer Weisheitsliteratur lässt sich dies unschwer ersehen. Aber aufgegeben hat das Frühjudentum den Glauben an Gottes Gerechtigkeit und das Vertrauen auf sein gerechtes Gericht auch in verzweifeltster Lage nicht. Im Gegenteil: die apokalyptische Bewegung und ihre Erwartung eines jüngsten Gerichts hat zwar den Gedanken vergeltender Gerechtigkeit eschatologisiert, aber gerade dadurch bewiesen, dass man lieber die gegebene Erfahrungswelt dem Vergehen preisgab als um des bestehenden Äons willen den Glauben an die Realisierung der Gerechtigkeit Gottes aufzugeben, wie die Tora sie bezeugt. Paulus hat nicht nur von der Ohnmacht des Gesetzes über die Sünde, sondern auch von einer Indienstnahme durch sie und davon gesprochen, dass das Gesetz an sich selbst zur Kraft der Sünde werden könne. Den Schluss, den theologischen Begriff der gesetzgebenden und vergeltenden Gerechtigkeit unmittelbar durch denjenigen der rechtfertigenden zu ersetzen, hat er daraus gleichwohl nicht gezogen. Die rechtfertigende Gerechtigkeit hebt das Recht der vergeltenden theologisch ebenso wenig auf wie das Evangelium das Gesetz. Nur im Gekreuzigten vergibt Gott. Ohne das Wort vom Kreuz kann nach Paulus von göttlicher Sündenvergebung nicht, jedenfalls nicht recht die Rede sein. Man sollte daher christlicherseits Abstand davon nehmen, der Botschaft Jesu von der kommenden Herrschaft des liebenden, gerade dem gottlosen und gottwidrigen Sünder zuge-

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wandten Gottes, wie er sie in Wort und Tat verkündete, vermittlungslos, will heißen: unter Absehung von der österlich offenbaren Mittlerschaft des Gekreuzigten gegenüber den Weisungen der Tora und dem jüdischen Gesetz gerechter Vergeltung den Vorzug zu geben, um sie unter legitimierender Berufung entweder auf evidente Einsicht oder auf eine autoritative Vollmacht des irdischen Jesus zum Ausdruck einer vermeintlich besseren Gerechtigkeit zu erklären. Der theologische Konflikt, zu dem Jesus Anlass gab, ist durch die Entgegensetzung einer an- Urteilende Gerechtigkeit geblich schlechteren und einer besseren Gerechtigkeit nicht zu fassen. Dass die Kluft zwischen Gottes Gebot und dem Wollen des menschlichen Herzens nur von Gott her und dadurch geschlossen werden kann, dass Gott seine Tora ins Innerste des Menschen einschreibt, sagt auch das Alte Testament (Jer 31,33a) unter Verheißung eines neuen Bundes, der in die Liebe zum Nächsten die Feindesliebe einschließt. Dieser neue Bund kann aber nach jüdischem Verständnis nicht darauf angelegt sein, Recht und Gesetz Gottes zur Disposition zu stellen und den Glauben an seine vergeltende Gerechtigkeit zugunsten einer Liebesbotschaft zu suspendieren, welche die verlässliche Geltung der Differenz von Gut und Böse und mit ihr die Möglichkeit rechter Unterscheidung und gerechten Urteils aufzuheben in Gefahr steht. Dass es genau jene Gefahr ist, die von Jesu Botschaft her droht, war der wesentliche Vorbehalt und Einwand der jüdischen Frommen gegen sie. Man wird das theologische Recht ihrer Bedenken, die schließlich die Gestalt manifester Gegnerschaft annahm, nicht leichtfertig bestreiten dürfen, weil man sonst die notwendige Strittigkeit übersieht, die sowohl den Inhalt der Botschaft Jesu als auch den Vollmachtsanspruch seiner Person betreffen musste und tatsächlich betraf. Jesus, so wurde gesagt, verkündete die Nähe Gottes und das Kommen des göttlichen Reichs als Ankunft der Gnade, die Gerechtigkeit wirkt, indem sie mit der Sünde zugleich jene urteilende Sonderung von Gerechten und Ungerechten aufzuheben sucht, die nicht nur für die Ungerechten, sondern auch für die Gerechten heillos ist, sofern sie diese in einen für ihre Gerechtigkeit konstitutiven Gegensatz zu dem Ungerechten zwingt und ihnen die Möglichkeit der Feindesliebe entzieht, in der sich das göttliche Gebot erfüllt, ohne deshalb die Differenz von gerecht und ungerecht zu nivellieren oder gar zu vergleichgültigen. Dass letzteres der Fall sei und die Reich-Gottes-Botschaft Jesu, wie er sie in Wort und Tat verkündete, auf eine antinomistische Aufhebung der Tora und auf eine Vergleichgültigung der Differenz von Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht, fromm und gottlos hinauslaufen könnte, war die ernst zu nehmende Befürchtung derjenigen, die, nachdem sich ihre Sorge zur Gewissheit verdichtet hatte, zu den entscheidenden theologischen Gegnern Jesu wurden. Hinsichtlich der Entwicklung des Konflikts lassen sich nach Auffassung einiger Exegeten drei Etappen identifizieren, deren Abfolge sich in Jesu eigenem Verhalten reflektiert. Am Anfang steht das Bemühen, die Gottesfürchtigen des Volkes, die den von der göttlichen Weisung vorgeschriebenen Weg der Gerechtigkeit konse-

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quent zu beschreiten bestrebt waren, in die Zuwendung zu den Randständigen und Abgeirrten zu integrieren. Als die Einladung mit Ablehnung quittiert wird, sucht Jesus die Gegner durch verschärfte Appelle an ihre Einsicht von ihrer Haltung abzubringen. Nachdem auch dies ohne Erfolg geblieben war, drohte er der exklusiven Gruppe der Frommen und Gerechten, die sich um der Herrschaft Gottes willen von den Gottlosen und Sündern sonderten und trennten, selbst den Ausschluss vom Gottesreich an. Ob es sich bei dieser Phasenabfolge um historisch verifizierbare Etappen der jesuanischen Geschichte handelt, kann dahingestellt bleiben; unwahrscheinlich ist es nicht. Als sehr wahrscheinlich hingegen darf gelten, dass die Auseinandersetzung mit den Torafrommen den theologischen Hintergrund des Konfliktes bildet, dessentwegen Jesus der Prozess gemacht wurde, der mit seiner Hinrichtung endete. Auch wenn andere Faktoren bei Jesu Verurteilung zum Kreuzestode entscheidend mitwirkten: der innere Grund der Hinrichtung, der zugleich ihre eigentümliche theologische Bedeutung ausmacht, lässt sich vom Konflikt um die Tora nicht ablösen, im Vergleich zu dem sich alle anderen Auseinandersetzungen im Umkreis des Lebens und Sterbens Jesu als theologisch zweitrangig ausnehmen. Die Radikalität der Reich-Gottes-Botschaft Jesu ist oftmals vermerkt und hervorgehoben worden. Sie duldet keinen Kompromiss, fordert rigorose Entschiedenheit und Nachfolge ohne weitere Rücksichten. Am radikalsten und rücksichtslosesten aber ist sie dort, wo sie von Gottes unbedingter und bedingungsloser Hinwendung zu den Sündern spricht. Wie verträgt sich diese ungeteilte Ganzhingabe des väterlich liebenden Gottes mit seiner Gerechtigkeit? Gibt er durch seine hingebungsvolle Zuwendung zu den Gottlosen nicht sein gerechtes Wesen und damit seine Gottheit preis? Nicht in der Peripherie, sondern im innersten Zentrum der Botschaft Jesu liegt die eigentliche Ursache des Konflikts mit den Frommen seines Volkes: Er ist von strikt theologischer Art. Zwar wird man nicht sagen können, dass Jesus diesen Konflikt förmlich gesucht hat; dass er ihn scheute, trifft aber mindestens ebenso wenig zu. Dass das Verhältnis von Sündern und Gerechten im Zentrum der Botschaft Jesu steht, ist nicht überraschend, sondern kennzeichnend für die prophetische Verkündigung seit alters bis hin zur apokalyptischen Predigt des Täufers. Überraschend hingegen und aus der prophetisch-apokalyptischen Tradition keineswegs kontinuierlich folgend ist die Art und Weise, wie Jesus auf dieses Verhältnis Bezug nimmt und mit ihm umgeht. Nach logischen Kategorien ebenso wie nach Maßgabe des Gesetzes ist das Verhältnis von Sündern und Gerechten dasjenige des Gegensatzes. Sündersein und Gerechtsein schließen sich wechselseitig aus. Wo angemessen geurteilt und recht gerichtet wird, muss zwischen beiden geschieden werden. Das ist offenkundig sowohl ein Gesetz der Logik, als auch ein Gebot göttlicher Weisung, wie sie in der Tora Israels enthalten ist. Nach ihr hat jeder fromme Jude seinen Lebensweg so zu gestalten, dass er sich rein erhält und sündige Abwege vermeidet. Wer der Tora folgt und ihre Gebote einhält, ist gerecht, wer sie missachtet und ihr zuwider handelt, ein Frevler. Am Verhältnis zur Tora entscheidet sich

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nicht weniger als Heil und Unheil. Zwar bietet der Opferkult des Tempels für Bußwillige durch Bereitstellung von Sühne Möglichkeiten der Reinigung von Sünde und Vergebung von Schuld. Aber dadurch ist die Verbindlichkeit der Tora ebenso wenig aufgehoben wie die klare Grenze, die sie zwischen Gesetzestreuen und Abtrünnigen zieht. Ohne oder gar wider die Tora kann es kein Heil geben. Selbst die Zugehörigkeit zum auser- Ist die Rechtfertigung des Ungerechten gerecht? wählten Gottesvolk wird denjenigen nicht vor Heilsverlust bewahren, der gegen ihre Weisungen handelt. Denn nur Menschen, die den Geboten Gottes gehorsam sind, werden als gerecht befunden und der Heilsgemeinde der Erlösten zugerechnet werden. Es liegt in der Konsequenz dieser Einsicht, dass sich Gesetzestreue von Abtrünnigen abgrenzen und sich von deren frevlerischem Treiben äußerlich und innerlich fernhalten. An solcher Scheidung war nicht nur den pharisäischen Gesetzeslehrern gelegen, welche die Umkehr zur Tora zum Ziel ihrer Volkserziehung erklärten, sondern mehr noch Gemeinschaften wie etwa derjenigen der Essener, welche die Toragerechtigkeit im Vergleich zu den Pharisäern radikalisierten und deren Wüstenexistenz als solche bereits ein Indiz ihrer strikten Absonderungsbestrebungen ist. Die apokalyptische Tradition trug ein Weiteres zur Steigerung solcher Sonderungstendenzen bei, die sicherlich auch bei Johannes dem Täufer gegeben waren. Radikale Umkehr, durch die Jordantaufe ratifiziert, ist die letzte Möglichkeit, dem endzeitlichen Strafgericht Gottes zu entgehen, dessen nach Maßgabe der Tora getroffenes eschatologisches Urteil definitiv und endgültig zwischen Gerechten und Ungerechten sondern und scheiden wird. Angesichts der auf Sonderung und Scheidung angelegten Frömmigkeitssituation seiner Zeit muss es umso erstaunlicher anmuten, wenn Jesus nicht nur den körperlich Unreinen seine ungeteilte, eschatologisch motivierte Zuwendung schenkt, sondern in Wort und Zeichenhandlungen das Heil der nahen Gottesherrschaft auch jenen zusagt, die sich von Gottes Gebot und seiner Gerechtigkeit innerlich abgewendet haben und die wegen ihres torawidrigen Verhaltens nicht nur als Sünder gelten, sondern tatsächlich gottlose Sünder sind. Dies musste unter den Frommen im Lande aus guten theologischen Gründen Irritationen, Bedenken und scharfe Kritik hervorrufen, wie es tatsächlich der Fall war. Jesus begegnete den Einwänden und Vorhaltungen, die bald schon zum Anlass von Nachstellungen werden sollten, mit dem Zeugnis, das ins Innerste seiner Botschaft und seines Wirkens verweist, wonach der kommende Gott sich primär nicht in der Absicht naht, seine eschatologische Herrschaft durch endgültig richtendes Urteil und definitive Scheidung zu erweisen, sondern um nachgerade jenen nahezukommen und seine väterliche Nähe zu schenken, die sich aus eigener Schuld von ihm entfernt haben. Ohne sich dem Verdacht unstatthafter Allegorisierung auszusetzen, darf das Gleichnis vom verlorenen Sohn als eines der schönsten Beispiele für dieses eschatologische Gotteszeugnis Jesu angesehen werden und das umso mehr, als es auch der Parabelgestalt des im Hause des Vaters Gebliebenen Verständnis entgegenbringt.

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Nicht dass durch Jesu Verkündigung die Differenz zwischen gerecht und ungerecht vergleichgültigt werden sollte. Ein Antinomismus, der die Tora abstrakt negiert, darf mit ihr nicht assoziiert werden. Nicht die Gerechtigkeit, sondern allein die Scheidung, die in ihrer Folge liegt, zu beheben, ist Ziel der väterlichen Liebe des kommenden Gottes, dessen Nähe Jesus verkündet. Ob damit der göttlichen Gerechtigkeit Genüge getan und ihre berechtigte Forderung erfüllt ist, ist eine offene Frage gerade dann, wenn man sie theologisch stellt, wie die ernsthaften Gegner Jesu dies getan haben. Dass sie Jesu Botschaft für nicht nur fraglich, sondern für irrig hielten, darf keineswegs primär dem Unverstand oder persönlichem Fehlverhalten von Pharisäern oder sonstigen Gegner Jesu zugerechnet werden. Sie hatten durchaus ein frommes, torabegründetes, mithin auf Gott selbst zurückzuführendes Recht zu ihrer Gegnerschaft. Man verstellt sich die Härte des tatsächlich bestehenden Konflikts, wenn man die Liebe Gottes, die Jesus proklamierte, umstandslos zur höheren Form der göttlichen Gerechtigkeit erklärt, welche der richtenden und urteilenden Gerechtigkeit – um im Bilde des Doppelgleichnisses von den beiden Söhnen des Vaters zu bleiben – gewissermaßen von Haus aus überlegen ist. Davon kann nicht die Rede sein. „Liebe“, welche die Differenz von richtig und falsch, recht und unrecht nivelliert oder vergleichgültigt, ist nicht nur nicht gerecht, sondern ungerecht und von willkürlichem Belieben kaum zu unterscheiden. Die Frage nach dem Verhältnis von göttlicher Gerechtigkeit und göttlicher Liebe bleibt deshalb nicht von ungefähr im Leben Jesu offen, und sie bietet Anlass zu äußerstem Streit, dessen theologische Notwendigkeit zu behaupten ist. Man macht es sich – noch einmal – christlich zu leicht, wenn man es von vornherein für ausgemacht hält, das Gottesverständnis Jesu sei demjenigen seiner Gegner überlegen. Der Streit, den die jesuanische Botschaft provozierte, ist kein zufälliger, sondern ein in theologischem Sinne notwendiger. Denn es handelt sich bei ihm nicht nur um einen Gegensatz menschlichen Gottesverständnisses, sondern recht eigentlich um einen Streit, der die Gottheit Gottes selbst betrifft. Die Frage nach dem theologischen Recht der Gottesverkündigung Jesu kann nicht unmittelbar aus dieser selbst heraus, auch nicht aus der Gesamtheit seines irdischen Lebens oder unter Verweis auf sein singuläres Sendungs- und Selbstbewusstsein einer Antwort zugeführt werden. Die Antwort auf die offene und strittige Frage, die Jesu irdische Person und seine Botschaft hinterließen, ist erst mit der österlichen Erscheinung des Gekreuzigten gegeben, der aus dem Tod erweckt wurde, den er infolge seiner Sünderliebe um der Gerechtigkeit des Gesetzes willen erlitten hat. Ohne Ostern gibt es keine Christologie, ohne den auferstandenen Gekreuzigten keine christliche Theologie, sondern allenfalls eine Jesulogie, in welcher der Streit um das Recht der jesuanischen Botschaft zwangsläufig perpetuieren muss. Nachgerade im jüdisch-christlichen Dialog darf diese Grundtatsache des Christentums christlicherseits nicht geleugnet werden. Christologie als christliche Lehre von Jesus als dem Christus wird das Judesein Jesu, die Religions- und Theologiegeschichte des Volkes, aus dem er stammte, sowie die bleibende Erwählung Israels ernst- und als konstitutiven Bestandteil ihrer

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selbst wahrzunehmen und jede Form von Antijudaismus strikt zu meiden und zu verurteilen haben (vgl. Schönemann, 77ff.), ohne deshalb das jüdische Nein zu Jesus als dem Christus zu übergehen und das Spannungsverhältnis von jüdischer und christlicher Religion dadurch aufzulösen, dass man Letztere als Teil von Ersterer versteht, wie das tendenziell in Konzeptionen wie etwa derjenigen von F. W. Marquardt der Fall ist. Nach christlichem Glauben bestimmt der Neue Bund, den Gott in Jesus Christus in der Kraft des Hl. Geistes bestimmt hat, den mit Israel geschlossenen zu dem vorhergehenden Alten, was zwar dessen Valenz nicht aufhebt, wohl aber relativiert mit entsprechenden Folgen für das Verständnis Gottes einschließlich seiner Tora, deren Weisungen verbindlich bleiben, ohne als Mittel des in Jesus Christus manifesten göttlichen Gnadenheils fungieren zu können.

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Lit.: J. Adna, Jesu Stellung zum Tempel. Die Tempelaktion und das Tempelwort als Ausdruck seiner messianischen Sendung, Tübingen 2000. – G. Barth, Der Tod Jesu Christi im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen 1992. – J. Blinzler, Der Prozess Jesu. Das jüdische und das römische Gerichtsverfahren gegen Jesus Christus aufgrund der ältesten Zeugnisse dargestellt und beurteilt, Regensburg 31960. – W. Bösen, Der letzte Tag des Jesus von Nazareth, Freiburg/Basel/Wien 1994. – I. Broer (Hg.), Jesus und das jüdische Gesetz, Stuttgart/Berlin/Köln 1992. – R. E. Brown, The Death of the Messiah. From Gethsemane to the Grave, Vol. I and II, New York 1994. – R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 445–469. – G. Fischer/K. Backhaus, Sühne und Versöhnung, Würzburg 2000. – M. Gielen, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte, Bodenheim 1998. – M. Hengel/A. M. Schwemer, Jesus und das Judentum (Geschichte des frühen Christentums Bd. I), Tübingen 2007. – J. Jeremias, Golgotha, Leipzig 1926. – K. Kertelge (Hg.), Der Tod Jesu. Deutungen im Neuen Testament, Freiburg/Basel/Wien 1976. – Ders. (Hg.), Der Prozess gegen Jesus. Historische Rückfrage und theologische Deutung, Freiburg/Basel/ Wien 1988. – R. Leuze, Das Christentum. Grundriss einer monotheistischen Religion, Göttingen 2010. – M. Limbeck (Hg.), Redaktion und Theologie des Passionsberichtes nach den Synoptikern, Darmstadt 1981. – E. Lohse, Die Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Christi, Gütersloh 1964. – M. Meiser, Die Reaktion des Volkes auf Jesus. Eine redaktionskritische Untersuchung zu den synoptischen Evangelien, Berlin/New York 1998. – Chr. Metzdorf, Die Tempelaktion Jesu. Patristische und historisch-kritische Exegese im Vergleich, Tübingen 2003. – L. Oberlinner, Todeserwartung und Todesgewissheit Jesu. Zum Problem einer historischen Begründung, Stuttgart 1980. – K. Paesler, Das Tempelwort Jesu. Die Traditionen von Tempelzerstörung und Tempelerneuerung im Neuen Testament, Göttingen 1999. – R. Pesch, Das Abendmahl und Jesu Todesverständnis, Freiburg/Basel/Wien 1978. – W. Reinbold, Der älteste Bericht über den Tod Jesu. Literarische Analyse und historische Kritik der Passionsdarstellungen der Evangelien, Berlin/New York 1994. – Ders., Der Prozess Jesu, Göttingen 2006. – J. Roloff, Jesus, München 2000. – L. Schenke u.a., Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004. – G. Schneider, Die Passion Jesu nach den drei älteren Evangelien, München 1943. – J. Schreiber, Die Markuspassion. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung, Berlin/New York 1993. – W. Stegemann, Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010. – G. Strecker, Die Passionsgeschichte im Markusevangelium, in: F. W. Horn (Hg.), Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments. Symposion zum 65. Geburtstag von Georg Strecker, Berlin/New York 1995, 218–272. – G. Wenz, „Bin ich es etwa Herr?“ (Mt 26,22) Judas Iskariot, der Jünger, der Jesus verriet, in: ders., Lutherische Identität. Studien zum Erbe der Wittenberger Reformation, Bd. 2, Hannover 2002, 71–84. – P. Winter, On the Trial of Jesus, Berlin 1961.

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Jesus von Nazareth wurde durch Anordnung des römischen Prokurators Pontius Pilatus zum Tode Gekreuzigt und gestorben am Kreuz verurteilt. Das Todesurteil wurde von Soldaten umgehend vollstreckt. Die Kreuzigung, der Geißelung und Verspottung vorangegangen waren, erfolgte auf einer oberhalb eines Steinbruches gelegenen Felskuppe im Nordwesten Jerusalems außerhalb der Stadtmauern an einem Ort namens Golgatha. Der Tag der Kreuzigung war ein Freitag nahe dem Passahfest. Ob es sich dabei um den Rüsttag vor dem Passahfest, also um den 14. Nisan, handelte, wie das Johannesevangelium voraussetzt, oder um den ersten Tag des Passahfestes, also um den 15. Nisan, wie die Synoptiker annehmen, ist schwer zu entscheiden, da beide Datierungen theologisch motiviert sein können. Zur synoptischen Chronologie passen die Jahre 27 und 34 n.Chr., zur johanneischen die Jahre 30 und 33 n.Chr. Man wird sich historisch mit der Feststellung begnügen müssen, dass Jesus um das Jahr 30 gekreuzigt wurde. Die Hinrichtungsart der Kreuzigung war eine der grausamsten der Antike. Im Judentum der Zeit galt ein Gekreuzigter als von Gott verflucht. Zwar war das Aufhängen am Holze gemäß Dt 21,23 ursprünglich keine Todesstrafe, sondern eine postmortale Entehrung des Leichnams eines wegen Götzendienstes oder Gotteslästerung Hingerichteten. Doch konnte das Wort, wonach jeder, der am Holze hängt, von Gott verflucht sei, auch auf das Skandalon des Kreuzes gedeutet werden. Keiner der Jünger war in der Todesstunde Jesu bei ihm; nur drei Frauen hielten sich vermutlich in seiner Nähe auf, darunter Maria aus Magdala. Nach markinischer Überlieferung waren die letzten Worte dem jüdischen Sterbegebet Psalm 22 entnommen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen.“ Dem Augenblick des Sterbens soll ein unartikulierter Schrei vorangegangen sein. Darf man die historische Authentizität einschlägiger neutestamentlicher Angaben voraussetzen, was allerdings heftig umstritten ist, dann wurde der Leichnam Jesu infolge eines administrativen Gnadenaktes von Pilatus freigegeben und von einem dem weiteren Jüngerkreis zugehörigen Synedriumsmitglied namens Joseph von Arimathäa, der wahrscheinlich der Partei der Pharisäer angehörte, noch vor Sabbatanbruch am Freitagabend in einem eigenen neuen Felsengrab bestattet. Genaue topographische Angaben in den Evangelien lassen vermuten, dass die Begräbnisstätte Jesu bekannt war und von den frühen Christen aus Verehrungsgründen besucht wurde. Unstrittig ist in der Forschung indes auch dies nicht. So wurde etwa die These, wonach die Geschichte der Ortsüberlieferungen in der Zeit vor den Kreuzzügen belege, dass die Stätte von Golgatha und dem Grab Jesu „mit Recht in der heutigen Grabeskirche gesucht wird“ (Jeremias, 33), von einer Reihe von Exegeten dezidiert abgelehnt. Historische Unsicherheiten in Bezug auf Umstände und unmittelbare Folgeereignisse des To- Geschichte der Passion des Jesu verbleiben. Dies gilt noch mehr hinsichtlich der einzelnen Ereignisse, die der Kreuzigung Jesu vorangingen. Zwar stimmen die Passionsgeschichten der Evangelien in wesentlichen Grundzügen überein;

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doch weichen sie zugleich in Einzelzügen nicht unerheblich voneinander ab. Ein Textvergleich ergibt folgende Gemeinsamkeiten: „Jesus zieht unter dem Jubel der Menge in Jerusalem ein, seine Widersacher, allen voran die Hohepriester, beschliessen seinen Tod (vor oder nach dem Einzug); nach einem Abschiedsmahl lassen sie ihn nachts unter Mitwirkung des Judas verhaften und verhören ihn, während Petrus ihn verleugnet; vor Pilatus setzen sie ihren Willen durch; Jesus stirbt am Kreuz und wird von Joseph von Arimathäa bestattet.“ (Reinbold, 20) Den Gemeinsamkeiten der Passionsgeschichten der Evangelien stehen beträchtliche Unterschiede zwischen ihnen gegenüber. Manche Ereignisse werden nur von einem der Evangelien überliefert: „Nur Lukas berichtet von einem Verhör Jesu durch den Tetrarchen Herodes Antipas (Lk 23,6–16). Die berühmte Szene des seine Hände in Unschuld waschenden Pilatus findet sich allein bei Matthäus (Mt 27,24–26). Nur Johannes tradiert das vielzitierte Gespräch zwischen Pilatus und Jesus (Joh 18,33–38). Andere, in der späteren Tradition selbstverständliche Bestandteile der Passionsgeschichte fehlen in einem der Evangelien: Lukas kennt keine Geißelung (Lk 23) und keine Salbung durch Maria in Bethanien (Lk 22). Das Abendmahl sucht man bei Johannes ebenso vergeblich wie das Verhör durch den Hohen Rat samt der Frage, ob Jesus der Messias sei (Joh 13; 18). Von der Vertreibung der Händler aus dem Tempel berichtet Johannes nicht in der Passionsgeschichte, sondern schon in Kap. 2 (Joh 2,14–17). Darüber hinaus finden sich unzählige Differenzen in den Einzelheiten: bei Johannes und Matthäus treten u.a. die Pharisäer als Gegner Jesu auf, bei Markus und Lukas nicht. Bei Markus und Matthäus fliehen die Jünger bei der Verhaftung (Mk 14,50; Mt 26,56), bei Lukas und Johannes nicht. Bei Matthäus leitet der Hohepriester Kaiphas das Verfahren (Mt 26,57), bei Johannes ist es der ehemalige Hohepriester Hannas (Joh 18,13), bei Markus und Lukas agiert ‚der Hohepriester‘ (Mk 14,53; Lk 22,54).“ (Reinbold, 21) Für die historisch-kritische Rekonstruktion der Grundbestände der Passionsüberlieferung sind Bezugnahmen auf Texte außerhalb der Evangelien wie 1. Thess 2,14–16 oder außerbiblische Dokumente nur sehr eingeschränkt hilfreich. Weiterführend ist die Beobachtung, dass die in den Evangelien begegnenden Passionsberichte eine literarische Besonderheit darstellen. Sie sind als fortlaufende Erzählungen mit innerer Konsequenz gestaltet und mit genauen örtlichen und zeitlichen Angaben versehen. Während Rahmung und Erzählungszusammenhang der übrigen Evangelienstoffe meistens sekundär sind und Perikopen erkennbar den Elementarbestand der Überlieferung bilden, ist die Passionserzählung offenkundig schon früh als große literarische Einheit gestaltet worden. Die Mehrheit der Exegeten rechnet entsprechend mit einem bereits dem Markusevangelium (vgl. im Einzelnen Strecker) vorangehenden zusammenhängenden Passionsbericht. Sein Umfang ist strittig; wahrscheinlich hat er in Mk 14 begonnen. Strittig ist auch der genuine Gehalt und die Frage, ob der vormarkinische Passionsbericht Stufen einer Bearbeitung durchlaufen hat und überhaupt der einzige seiner Art war. Wie immer man hier urteilen wird: Außer Frage steht, dass nicht erst die Markuspassion redak-

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tionell bearbeitet wurde (vgl. im Einzelnen Schreiber), sondern „dass schon der älteste Passionsbericht mehr als nur ein historisches Referat von den letzten Lebenstagen Jesu gewesen sein musste“ (Limbeck, 4). Entscheidende Deutungs- und Gestaltungsprinzipien bieten für die Passionsüberlieferung von Anfang an die Hl. Schrift und namentlich der Psalter, wobei die Psalmen 22, 31 und 69 motivgeschichtlich besonders hervortreten. Neben der bibeltheologischen Gesamtprägung ist fernerhin mit einer von dogmatischen, paränetischen, apologetischen, politischen oder auch kultätiologischen Interessen beeinflussten Fassung sowohl des vormarkinischen Passionsberichts als auch der synoptischen und johanneischen Leidenserzählungen zu rechnen. Schon der Passionsbericht, der dem ältesten Evangelium aller Wahrscheinlichkeit nach bereits als literarische Einheit vorgelegen hat, gibt daher neben ungelösten quellenkritischen Fragen und Fragen der literarischen Identifikation erhebliche traditionsgeschichtliche Probleme auf; es ist nicht leicht, ihm präzise Auskünfte über die historischen Vorgänge am Ende des Lebens Jesu zu entnehmen. Dennoch besteht die Chance, zwischen primären und sekundären Überlieferungsbeständen zu unterscheiden. Folgt man der sorgfältigen historischen Analyse von W. Reinbold, dann ergeben sich als „Urgestein der alten Tradition, dem bei der historischen Rückfrage nach den Umständen des Todes Jesu die Priorität gebührt“, acht Szenen: „1) Jüdische Autoritäten planen den Tod Jesu. 2) Jesus zieht mit seinen Jüngern nach Jerusalem ein. 3) Bei dem Abendessen kündigt er seine Verhaftung und die Verleugnung durch Petrus an. 4) Er wird unter Mitwirkung des Judas verhaftet. 5) Er wird vom Hohenpriester verhört. 6) Er wird von Pilatus verhört und von den Soldaten verspottet. 7) Er wird als ‚König der Juden‘ gekreuzigt. 8) Joseph von Arimathäa begräbt ihn.“ (Reinbold, 70; vgl. Winter, 136f., zu Judas vgl. Wenz) Trotz plausibler Gründe, die für die überlieferungsgeschichtliche Priorität der genannten Szenen sprechen, kann von einem exegetischen Konsens in der historischen Bewertung der Passionsgeschichte weder im Allgemeinen noch in Bezug auf spezielle Probleme die Rede sein. Strittig sind neben der viel verhandelten Thematik, ob es sich bei dem im Rahmen der Passionsberichte geschilderten letzten Mahl Jesu mit seinen Jüngern um ein feierliches Abschiedsmahl oder um ein wirkliches Passahmahl gehandelt hat, insbesondere die Prämissen und der Verlauf des Prozesses Jesu. Es ergeben sich u.a. folgende Streitfragen: „a) Wurde Jesus am 14. Nisan, am Rüsttag des Paschafestes, oder am 15. Nisan, am Paschafest selbst, verurteilt und hingerichtet? Ist also die im Johannesevangelium oder die bei den Synoptikern vorausgesetzte Chronologie zutreffend? b) Wurde die Gefangennahme und Verurteilung Jesu von der jüdischen Obrigkeit oder von den Römern betrieben? c) Hatten die Juden zur Zeit Jesu das Recht, ein Todesurteil auszusprechen und zu vollziehen? Wenn ja, weshalb wurde Jesus dann aber von den Römern hingerichtet? d) Wurde überhaupt ein formelles Todesurteil durch das jüdische Gericht gefällt? Gab es also zwei Prozesse, einen jüdischen und einen römischen? Oder beschloß das Synedrium nach der Feststellung der Todeswürdigkeit Jesu nur, Jesus vor dem römischen Gericht anzuklagen? e) Wurde der Prozeß gegen Jesus nach sadduzäi-

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schem Recht oder nach dem in der Mischna kodifizierten pharisäischen Recht geführt?“ (Limbeck, 8) Was den Prozess gegen Jesus betrifft, so stellen Prozess und Verurteilung ihn die vier neutestamentlichen Evangelien als Jesu einen doppelten Vorgang dar: „als Verhandlung vor dem jüdischen Synedrium und als Verhandlung vor dem römischen Prokurator Pilatus. Im vierten Evangelium ist erstere allerdings nur in der reduzierten Form des Verhörs Jesu durch den Hohenpriester Hannas und seiner Überstellung an den Hohenpriester Kajaphas überliefert. Die Beteiligung der jüdischen und der römischen Instanzen am Prozeß gegen Jesus ist historisch nicht zu bezweifeln. Umstritten ist bis heute, in welcher Form sie beteiligt waren.“ (Kertelge [Hg.], Prozess, 7) Ein Grund für die Unsicherheit besteht darin, dass die Rekonstruktion der rechtshistorischen Lage in Judäa zur Zeit der Verurteilung Jesu schwerwiegende Probleme aufwirft. Während in der älteren Forschung die These vertreten wurde, man habe im Verfahren gegen Jesus „zwei selbständige Prozesse zu unterscheiden, einen Religionsprozess vor dem Synedrium und einen politischen Prozess vor dem Statthalter“ (Blinzler, 178), zog die neuere Exegese die historische Haltbarkeit dieser Annahme in Zweifel. Als evident und unstrittig darf gelten, dass Jesus von Pilatus, dem römischen Statthalter von Judäa in den Jahren 26–36 n.Chr., zur Strafe des Kreuzestodes verurteilt wurde. Pilatus hatte nicht nur den militärischen Oberbefehl, sondern auch die oberste zivilrechtliche Autorität inne. Dass die potestas gladii bei ihm lag, darf angenommen werden. Die causa damnationis im Falle Jesu ist durch den Kreuzestitel überliefert, an dessen historischer Echtheit zu zweifeln wenig Anlass besteht. Die Anklage gegen Jesus lautete demnach auf „Anmaßung des Königstitels als Verletzung der römischen Majestät“ (Kertelge [Hg.], Prozess, 33). Der förmliche Rechtsgrund der Hinrichtung Jesu bestand offenbar im Vorwurf eines crimen laesae maiestatis. Mit dem Verdikt der Gefährdung der politischen Ordnung im Allgemeinen und der tempelstaatlichen im Besonderen ließ sich dieser Vorwurf unschwer in Verbindung bringen. Die Kreuzigung Jesu erfolgte in erster Linie als ordnungspolitische Maßnahme des römischen Besatzungsregimes in Judäa. Gleichwohl sprechen starke Gründe historischer Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Initiative für das strafrechtliche Vorgehen des römischen Statthalters gegen Jesus vom jüdischen Synedrium ausging. Dies schließt nicht aus, dass die Römer Jesus in alleiniger Verantwortung und ohne aktive Beteiligung jüdischer Autoritäten verurteilt und hingerichtet haben. Für die Kapitalgerichtsbarkeit war wahrscheinlich der römische Prokurator allein, umfassend und in nicht delegierbarer Weise zuständig; das Recht über Leben und Tod dürfte bei ihm gelegen haben, ohne auf andere Personen oder Personengruppen übertragen werden zu können. Die Strafe der Kreuzigung wurde im Übrigen als Instrument uneingeschränkter statthalterlicher Rechtskompetenz in der Provinz Judäa zunehmend bevorzugt. Streng limitiert und rein privilegrechtlicher Art dürften hingegen die von den Römern eingeräumten Zuständigkeiten jüdischer Gerichte in Kapitalangelegenheiten gewesen sein (vgl. im Einzelnen Kertelge

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[Hg.], Prozess, 41ff.). Selbst wenn das Synedrium die Vollmacht, ein Todesurteil auszusprechen, gehabt haben sollte, bedurfte es zur legalen Vollstreckung dieses Urteils der Autorität des römischen Statthalters. Zweifelhaft ist darüber hinaus, ob eine förmliche Verurteilung Jesu durch das Synedium überhaupt stattfand. Wie auch immer: die Kreuzigung als eigentümliche Hinrichtungsart der Römer setzt das Urteil von deren zuständiger Autorität voraus, im gegebenen Fall dasjenige des Pilatus. Juristisch sind im Prozess Jesu die Römer die entscheidende Instanz. Eine begrenzte Mitwirkung der jüdischen Obrigkeit am Verfahren und eine mögliche Kooperation zwischen Synedrium und Statthalter ist damit nicht ausgeschlossen. Von der Mehrzahl der Exegeten wird angenommen, dass der Anstoß für das Vorgehen gegen Jesus von sadduzäischer Seite, also seitens der herrschenden Tempelaristokratie ausging. Dabei spielt die Beobachtung eine Rolle, dass in den Passionsüberlieferungen die Pharisäer, die sonst als die Hauptgegner Jesu zu gelten haben, in den Hintergrund treten. Ob sich hieraus Schlüsse in Bezug auf die Zusammensetzung der jüdischen Anklagevertretung und den Modus des Gerichtsverfahrens ziehen lassen, muss offenbleiben. Dass die Mitglieder des Synedriums den Römern empfahlen, aus politischen Stabilitätsgründen und aus Gründen der Staatsräson gegen Jesus vorzugehen, ist nicht unplausibel. In Bezug auf dieses Motiv kann eine beiderseitige Interessenskonvergenz erwartet werden. Als konkreten Anlass für das Vorgehen gegen Jesus und für seine Gefangennahme in Jerusalem Jesu Tempelaktion nehmen die meisten Exegeten die sog. Tempelreinigung und das im Verhör zitierte Tempellogion an. Das Tempellogion ist das im Neuen Testament meistzitierte Herrenwort (vgl. Joh 2,19; Mk 14,58 par Mt 26,61 sowie Mk 15,29 par Mt 27,40; Apg 6,14; 2. Kor 5,1; Mk 13,2 [nach Lesart von D und W]). Den traditionsgeschichtlichen Hintergrund bildet die frühjüdische Erwartung eines eschatologischen Tempels. „Am Anfang des Textwachstums des Tempelworts wird ein rein apokalyptisches Logion gestanden haben, das – als Reflex auf die in Mk 13,2* erhaltene jesuanische Tempelzerstörungsandrohung – die Aufhebung des Jerusalemer Heiligtums und seine eschatologische Erneuerung ... ansagte. Durch die Hinzufügung der Dreitagefrist (= Joh 2,19*) wurde das Tempelwort zu einem christologischen Logion, das den auferweckten Christus als den wahren, endzeitlichen Ort der Gottesgegenwart und wahrscheinlich auch als den eschatologischen Sühnort verkündigte. Die für diese theologische Leistung verantwortlichen Christen dürften am ehesten in den Kreisen der hellenistischen Judenchristenheit Jerusalems zu suchen sein, die das Tempelwort bis hin zu seiner Interpolation in den vormarkinischen Passionsbericht tradierten.“ (Paesler, 228) Die vermutlich authentische Jesustradition in Mk 13,2* enthielt wahrscheinlich nur eine Ansage der Zerstörung des Tempels. Zwar „hat Jesus den Jerusalemer Tempel und die mit ihm verbundenen Kultgesetze grundsätzlich respektiert; jedoch konnte er, wie Mt 5,23f. zeigt, ihre Verbindlichkeit dort relativieren, wo die

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neue Wirklichkeit der Gottesherrschaft von Menschen ein unmittelbares, anderes Tun forderte, oder wo der Tempel gar als Mittel der religiös begründeten Selbstgewissheit der Predigt Jesu entgegenstand (Lk 13,34f.). So hat Jesus auch das Ende des Tempels angesagt (Mk 13,2*) – nicht aus einer Aversion gegen den Kult an sich heraus, sondern weil dort, wo Jesus die Ablehnung seiner Botschaft von der Gottesherrschaft erfuhr und wo diese Ablehnung womöglich mit einer Suffizienz des Jerusalemer Kultbetriebes begründet wurde, der Kultus zu einem Vehikel des sich gegen Gott verschließenden menschlichen Willens geworden war – und somit zum Götzendienst.“ (Paesler, 262) Sollte Jesus die Worte von der drohenden Tempelzerstörung und seiner eschatologischen Erneuerung bei Gelegenheit der sog. Tempelreinigung gesprochen und diese als eine Aktion inszeniert haben, die zeichenhaft das Ende des Jerusalemer Zentralheiligtums ansagte, dann wäre damit ein plausibler Grund für das Einschreiten der Priesteraristokratie und die Anordnung der Verhaftung Jesu namhaft gemacht. Tatsächlich wird bereits in den frühesten Dokumenten ihres altkirchlichen Verständnisses die Geschichte von der Tempelreinigung „als historischer Anlass für die Verhaftung und den Prozess Jesu beurteilt“ (Metzdorf, 119). Die Vorstellung einer ursächlichen Verbindung zwischen Jesu Tempelaktion und seiner Passion findet sich zuerst in Justins „Dialog mit Tryphon“ (Dial 17,3), um dann etwa bei Eusebius von Caesarea (In Ps 68,10–13) und bei anderen Kirchenvätern wiederholt zu begegnen. „Nach der Ansicht Justins führte die Provokation der religiösen Eliten Jerusalems, die Jesus mit seiner Aktion im Tempel auslöste, geradewegs zur endgültigen Realisation des bereits früher gefassten Tötungsbeschlusses.“ (Metzdorf, 119f.) Obzwar die Auffassungen in Bezug auf den historischen Kerngehalt der Aktion und ihre Bedeutung im Einzelnen divergieren, kann auch in der heutigen Exegese die Annahme eines kausalen Zusammenhangs der sog. Tempelreinigung Jesu mit seiner Gefangennahme, seinem Prozess, seiner Verurteilung und seinem Kreuzestod mit vergleichsweise breiter Zustimmung rechnen. Vielfach wird indes betont, dass die Evangelisten die Publikumsresonanz der Zeichenhandlung übertrieben und Jesus in Wirklichkeit kaum Schaden angerichtet habe. Dennoch halten die meisten Exegeten den Zentralbestand der Überlieferung für historisch authentisch. Selbst wenn Jesus keinen größeren Tumult ausgelöst und nur einigen Geldwechslern Münzen ausgeschüttet bzw. eine oder mehrere ihrer Tische umgestoßen habe, lasse sich doch vermuten, dass die Tempelpolizei auf die in symbolischer Absicht getätigte Aktion direkt oder auf Umwegen aufmerksam wurde und entsprechende Gegenmaßnahmen einleitete. Diese Vermutung ist auch dann begründet, wenn die Intention, die Jesus mit der Tempelaktion verfolgte, sich nur tendenziell erheben lässt und teilweise im Dunklen bleibt. Einer Deutung der Tempelaktion als messianischer Offenbarung, wie sie in der patristischen Exegese dominierte, begegnet man heute zumeist mit Zurückhaltung. Aktuell wird neben kultkritischen Absichten insbesondere die Funktion Jesu als eines eschatologischen Propheten hervorgehoben, der Zerstörung und endzeitliche Erneuerung des Heiligtums im

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Kontext seiner eschatologischen Botschaft von der kommenden Gottesherrschaft ankündigte. Bereits in der patristischen Auslegungsüberlieferung der Tempelaktion Jesu begegnen viele der „Differenzen, Widersprüche und zahllosen Varianten“ (Metzdorf, 2) der heutigen exegetischen Forschung. Man darf nicht ausschließen, dass die zu konstatierende Ambivalenz ihrer Wahrnehmung jedenfalls zum Teil in der Mehrdeutigkeit der Zeichenhandlung selbst ihren Grund hat. In der bloßen Bereinigung von Missständen auf der Linie der Kult- und Priesterkritik alttestamentlicher Prophetie wird sich ihr Sinn kaum erschöpft haben. Auch ist die Tempelattacke auf Verkäufer und Geldwechsler im sog. Vorhof der Heiden kaum von der alleinigen Absicht bestimmt, jüdische Kultprivilegien zu beseitigen und nationalreligiöse Abgrenzungen in universalistischer Absicht aufzuheben, obwohl dieser Motivationsaspekt nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Denkbar ist auch, dass die jesuanische Zeichenhandlung als Symbol für die Notwendigkeit endzeitlicher Umkehr von einer tempelfixierten Religion der Heilssicherheit zum eschatologischen Vertrauen auf die kommende Herrschaft Gottes zu verstehen ist, der seine Vaterliebe gerade den vom Tempel Ferngehaltenen und kultisch Unreinen zuwendet. Inwieweit die Tempelaktion zudem eine Kundgebung war, in der Jesus seine Messianität demonstrieren wollte, ist, wie gesagt, historisch ebenso schwierig zu entscheiden wie die Frage, ob sie einen eindeutigen Hinweis enthält auf den bevorstehenden „Sühnetod Jesu als definitiven Ersatz des Sühnopferkultes im Jerusalemer Tempel“ (Adna, 446). Faktum allerdings ist, dass in der österlichen Folge der Tempelaktion der Kreuzestod Jesu in seiner Heilsbedeutung an die Stelle des überkommenen Sühnopferkultes getreten ist, womit neben allen Israeliten grundsätzlich auch den Heiden der Zugang zum Innersten des Heiligtums eröffnet wurde. Die Bedeutungsvielfalt der Tempelaktion Jesu in ihrer Traditionsgeschichte ändert nichts an der Tatsache, dass sie im Verein mit dem Tempellogion aller Wahrscheinlichkeit nach den unmittelbaren Anlass für eine Intervention der Tempelaristokratie und das nachfolgende Vorgehen gegen Jesus geliefert hat. Man wird sogar nicht ausschließen können, dass ihre Unein- bzw. Mehrdeutigkeit selbst ein Motiv behördlichen Einschreitens abgegeben hat. Im Übrigen darf das theologische Konfliktpotential generell nicht unterschätzt werden, das Jesu Reich-GottesBotschaft enthielt, in deren Zusammenhang seine Tempelkritik gehört. Dies gilt umso mehr, als die jesuanische Verkündigung im Publikum keineswegs ohne jede Resonanz geblieben war, wenngleich sich diese in Grenzen hielt und von massenhafter Zustimmung nicht die Rede sein kann. Eine Analyse der synoptischen Aussagen über die Reaktion des Volkes auf Jesus zeigt, dass die Resonanz im Volk drei ersten Evangelien in ihrer Zeichnung des Bildes der Volksmenge der alttestamentlich-jüdischen Sicht weitaus näher stehen als der pagan-antiken, die grundsätzlich zu abwertenden Urteilen neigte. Der für die Synoptiker verpflichtende Gedanke des Gottesvolkes verhindert eine pejorative Pauschaleinschätzung und führt zu einer Hervorhebung der Zuwendung Jesu

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zu ganz Israel in allen seinen Schichten. Dabei wird das Volk keineswegs generalisierend als eine Masse von Ignoranten gekennzeichnet, denen von vornherein jedes Verständnis für die jesuanische Sendung abging, weil es allem Außerordentlichen gegenüber grundsätzlich feindlich gestimmt war. Diese Sicht dürfte dem geschichtlichen Sachverhalt nicht ungemäß sein: „Historisch ist ein gewisser Erfolg Jesu bei dem Volk in Galiläa durchaus wahrscheinlich; anders wäre die Opposition der Eliten Israels und ihr Einschreiten gegen ihn kaum erklärbar.“ (Meiser, 1 Anm. 1) Kaum erklärbar wäre ohne jesuanische Anfangserfolge beim Publikum auch die relativ rasche und zügige Expansion der Jesusbewegung nach Ostern. Die Resonanz, die Jesu endzeitliche Reich-Gottes-Verkündigung zumindest in Teilen des Volkes gefunden hat, wird bereits vor und unabhängig von der Tempelaktion die Aufmerksamkeit der religiösen und politischen Autoritäten auf sich gezogen haben, so differenziert die historischen und theologischen Urteile gerade in diesem Zusammenhang ausfallen müssen. Nach Urteil der herrschenden Exegetenmeinung zeichnet sich in den synoptischen Evangelien eine Tendenz ab, die jüdischen Gegner Jesu immer mehr als homogene Gruppe darzustellen und interne Unterscheidungen aufzugeben, wie sie sich noch bei Markus beobachten ließen. So seien es bei Mt fast ausschließlich die pharisäischen Schriftgelehrten, die als Antagonisten Jesu agierten. Erklärt wird diese Tendenz zur Homogenisierung der Gegnerschaft Jesu in der Regel mit dem Hinweis, die matthäischen Gemeinden hätten sich in ihrer geschichtlichen Situation vor allem in Konfrontation mit einem pharisäisch geprägten Judentum befunden, von dem sie sich dezidiert abzugrenzen und abzusetzen suchten. Dem skizzierten Befund sowie der Annahme, das Matthäusevangelium sei von einem ebenso polemischen wie pauschalen Antijudaismus bestimmt, ist mit dem Hinweis widersprochen worden, das Selbstverständnis des Matthäus und seiner Gemeinde sei im Grundsatz durchaus jüdisch bzw. auf prinzipiellen Erhalt des Zusammenhangs mit dem Judentum bedacht. Mit einer bereits vollzogenen generellen Trennung von den sich nicht zu Jesus Christus bekennenden Juden dürfe nicht gerechnet werden. „Wenngleich der reale Autor von den religiösen Führern der nichtchristusgläubigen Juden keine Öffnung für die Botschaft des Evangeliums mehr erwartet, hegt er noch eine gewisse Hoffnung, die nichtchristusgläubigen Synagogenmitglieder dem Einfluss ihrer Führer zumindest teilweise entziehen zu können und will in diesem Sinn auch seine realen Erstadressaten motivieren, damit sich das Schicksal Jerusalems nicht wiederholt und das Volk erneut Opfer seiner Führer wird.“ (Gielen, 473) Erst unter heidenchristlichen Rezeptionsbedingungen sei das Matthäusevangelium zu einem antijüdischen Buch geworden und der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes auf einen antagonistischen Gegensatz von Christentum und Judentum hin gedeutet worden. Wie sich der Konflikt Jesu mit den politischen und religiösen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der Passiongeschichte des Matthäusevangeliums darstellt, ist hier nicht weiter zu verfolgen. Außer Zweifel steht, dass in ihr Auseinandersetzungen

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der matthäischen Gemeinde mit pharisäischen Schriftgelehrten und einem mehr und mehr gruppenspezifisch geprägten Judentum nach 70 n.Chr. ihren Niederschlag gefunden haben. Die Zuweisung der Verantwortung an den Passionsereignissen in Mt gehört in diesen Zusammenhang, auch wenn von antijudaistischen Tendenzen nur mit Vorbehalt gesprochen werden kann, da die matthäische Gemeinde ihrem Selbstverständnis nach das Judentum keineswegs als Fremdreligion beurteilte. Der aktuelle Streit zwischen ihr und den Führern der sich nicht zu Jesus Christus bekennenden Juden stellte keinen Gegensatz alternativer Religionen dar, sondern betraf konkrete Auseinandersetzungen um den Willen Gottes und seine Erfüllung. Wie der matthäische Bericht von Prozess und Passion Jesu spiegelt auch derjenige des ältesten Evangeliums nach Mk die Ablehnung der Botschaft vom auferstandenen Gekreuzigten durch das zeitgenössische Judentum und seine führenden Repräsentanten wider. Dies macht historische Sachkritik erforderlich und mahnt zu einer prinzipiellen Reserve gegenüber allen Versuchen, den Grund für die Anklage und Hinrichtung Jesu in einem pauschalen Gegensatz seiner Botschaft gegen die Religion seines Volkes zu suchen. Auch gegenüber generalisierenden Gesetzesbruchhypothesen ist Vorsicht am Platze. Eine Verabschiedung der Tora lag nicht in der Absicht Jesu. Doch ebenso wenig kann man sagen, dass das Gesetzesverständnis Jesu jedweden Konfliktpotentials entbehrte. Dass es im Zusammenhang der endzeitlichen Reich-Gottes-Verkündigung Jesu und seiner eschatologischen Zeichenhandlungen zu Konflikten um das Toraverständnis kam und kommen musste, lässt sich, wie gezeigt, kaum in Abrede stellen. Als unwahrscheinlich darf gelten, dass diese Konflikte im Jerusalemer Verfahren gegen Jesus keinerlei Rolle spielten. Zwar wird die demonstrative Tempelaktion den Anlass zum behördlichen Einschreiten gegeben haben. Aber eine Notwendigkeit, diesen Anlass von der öffentlichen Gesamterscheinung Jesu zu isolieren und zum einzigen Motiv einer Prozessinitiative der jüdischen Obrigkeit zu erklären, ist nicht gegeben. Plausibilitätsgründe sprechen vielmehr dafür, die Tempelaktion und den hauptsächlich durch sie veranlassten Prozess Jesu in eine Verbindung mit seinem vorangehenden Wirken zu setzen. Worte und Zeichen gegen den Tempel werden die Aktionen des Synedriums ausgelöst und den primären Gegenstand des jüdischen Verfahrens gegen Jesus gebildet haben. Die Verfahrensführung lag beim Hohenpriester und den Spitzen der Tempelaristokratie, deren Interesse auf die Sicherung des Tempelkultes ausgerichtet war, zu der sie die Römer legitimierten und in der ihre eigentliche Rechtskompetenz gründete. Die Pharisäer spielen im Vorgehen gegen Jesus nur eine unterbzw. nachgeordnete Rolle. Nicht von ungefähr tritt ihre Gruppe in den Passionsberichten auffällig zurück. Dies ist ein bemerkenswerter Befund. Gleichwohl erscheint es als schwer denkbar, „daß der Entschluss, Jesus zu Tode zu bringen, erst in den unmittelbar seiner Ausführung vorangehenden Tagen entstanden ist, und zwar nur in den Köpfen derer, die ihn dann auch geschickt betrieben. Zwar wird ein Ereignis der letzten Tage in Jerusalem den Gang der Dinge unmittelbar in Be-

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wegung gebracht oder beschleunigt haben, hier aber den Anlaß dafür überhaupt finden zu wollen, dürfte falsch sein.“ (Broer [Hg.], 136) Auch wenn Jesu Verhalten im Tempel in seinen Äußerer Anlass und innerer letzten Jerusalemer Tagen wahrscheinlich den Grund der Gefangennahme äußeren Anlass zum Einschreiten der jüdischen Obrigkeit und zu dem abwegigen Vorwurf politischer Verführung und Majestätsbeleidigung gegeben haben wird, der schließlich Verurteilung und Hinrichtung bewirkte, so geht der innere Grund des Vorgehens darin nicht auf. „Es muß vielmehr ein tiefergreifender Ansatz im Auftreten und in der Verkündigung Jesu vorhanden gewesen sein, der die jüdischen Instanzen zu einer letzten, tödlichen Konfrontation herausgefordert hat. Es muß um die Grundlage der jüdischen Existenz gegangen sein, um das Gesetz.“ (Broer [Hg.], 137) Nicht als ob Jesus ein Antinomist gewesen wäre: Doch wird man den von der synoptischen Überlieferung als selbstverständlich vorausgesetzten Befund, „daß Jesus mit den maßgeblichen Vertretern des Judentums in scharfem Konflikt über die Frage der Geltung und der Praxis fundamentaler Bestimmungen des Gesetzes stand“ (Broer [Hg.], 138), auch aus Gründen der Wirkungsplausibilität nicht einfach für unhistorisch bzw. als bloßen Reflex einer späteren Situation abtun können. Dabei waren es weniger einzelne Gebote der Tora, von denen Jesus abwich. Solche Abweichungen sind eng begrenzt und halten sich materialiter im Rahmen dessen, was der Tora als gerecht zu gelten vermag. In förmlichen Widerspruch zu ihr gerieten die Gesetzesvorbehalte Jesu weniger aus inhaltlichen Gründen, sondern weil sie das Formgesetz der Tora betrafen, das in der Notwendigkeit einer urteilenden Scheidung zwischen gerecht und ungerecht begründet liegt. Im Kern seiner Basileiaboschaft bricht Jesus „mit der an sich berechtigten Logik des notwendigen Gerichts, um ‚unberechtigt‘, unerwartet und dramatisch die bedingungslose Barmherzigkeit Gottes zu proklamieren“ (Fischer/Backhaus, 74). Diese Proklamation lässt zum einen eine innere Distanz zum offiziellen Sühnekult Israels zutage treten; nicht ohne Grund hatte daher die sadduzäische Tempelaristokratie die eschatologische Zeichenhandlung der sog. Tempelreinigung zum Anlass ihrer gegen Jesus gerichteten Initiative genommen. Die unbedingte und auch nicht an die Bedingungen der Gesetzeserfüllung gebundene Zusage der Nähe des kommenden Gottes beinhaltete aber zum anderen und darüber hinaus einen Gesamtkonflikt mit jenem Toraverständnis, das die Phariäser mit guten Gründen für allgemeinverbindlich erachteten und an dem auch Johannes der Täufer festhielt. „Nicht nur der Umkehrruf als solcher, sondern die Frohbotschaft von der Versöhnung, wie sie untrennbar mit der Person Jesu verbunden war, hat zum Kreuz geführt.“ (Fischer/Backhaus, 75) Nur wo dies im Blick ist, wird der eigentlich religiöse Charakter des Konflikts und der theologische Grund wahrgenommen, der im Verfahren gegen Jesus wirksam war. Seine Verurteilung erfolgte theologisch betrachtet weder bloß nach römischem Gesetz, noch allein nach dem Gesetz der jüdischen Tora, sondern nach Maßgabe der in ihr erschlossenen Gerechtigkeit des über Bosheit und Sünde richtenden Gottes. Konnte es dessen Wille sein, auch dem

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Gottlosen und dem Gottwidrigen seine Zuwendung und die heilsame Nähe seines kommenden Reiches zu verheißen, wie Jesus dies unter Berufung auf Gott tat? Diese Frage ist bei allen Versuchen einer Deutung des Kreuzestodes Jesu einschließlich derer, die er möglicherweise selbst zu seinen irdischen Lebzeiten vorgenommen hat, sorgsam zu beachten. Ist dies der Fall, dann ergeben sich weitere Fragen: „Konnte überhaupt jemand Jesu Tod ‚deuten‘ außer Gott?“ (Oberlinner, 167) Hat daher nicht insbesondere die soteriologische Interpretation des Kreuzesgeschehens, wie sie für das Christentum charakteristisch ist, die aus dem historischen Leben und Sterben Jesu nicht unmittelbar ableitbare Gottestat Osterns zur Voraussetzung? Die christliche Ostererfahrung ist mit der Erkenntnis der Bedeutung des Todes Jesu nicht nur untrennbar verbunden; man kann darüber hinaus sagen, dass das Osterereignis die entscheidende Grundlage jeder Sinndeutung des Kreuzes ist. Gleichwohl hat es geraume Zeit gedauert, bis die Christenheit den durch Ostern prinzipiell erschlossenen Sinngehalt des Kreuzestodes förmlich explizierte und begrifflich entfaltete. Am Anfang stand die Einsicht in die theologische Notwendigkeit, in das göttliche „Muss“ (dei) des Sterbens Jesu. Jesu Tod ist Gottes Tat. In einem nächsten Stadium wurde Jesu Sterben als Leiden des Gerechten und als Prophetengeschick interpretiert. Von zentraler Bedeutung wurden ferner der Gedanke stellvertretender Sühne oder der Loskaufgedanke. Auch als Sieg über die Todesmächte wurde Jesu Sterben interpretiert (vgl. im Einzelnen Barth). Haben diese Interpretationen einen Anhalt an Jesu eigenem Todesverständnis? Hat bereits Jesus selbst seinen Tod als theologisch notwendig gedeutet und heilsmittlerisch verstanden? Dass Jesus aufgrund der Vorkommnisse in JeTodeserwartung und rusalem während der letzten Tage seines öffentli- Todesverständnis Jesu chen Wirkens mit einem gewaltsamen Tod rechnen musste und tatsächlich gerechnet hat, wird man historisch annehmen dürfen. Schwieriger ist die Frage nach einer möglichen Todeserwartung Jesu in der vorhergehenden Zeit zu beantworten. Die sog. Leidensweissagungen (Mk 8,31; 9,31; 10,33f. par) bieten keine sichere Entscheidungsgrundlage. Eine grundsätzliche Bereitschaft Jesu, für seine Sendung in den Tod zu gehen, wird man voraussetzen dürfen. Die Möglichkeit eines gewaltsamen Endes war nicht erst in den allerletzten Stunden vor seiner Festnahme in der Folge der Tempelaktion, sondern schon vorher infolge eines sich abzeichnenden Konflikts mit führenden Kräften des Judentums seiner Zeit gegeben. Wie der Prozess Jesu nicht lediglich in einem punktuellen Ereignis seinen Grund hat, so hat auch die Todeserwartung Jesu gewiss eine längere Vorgeschichte, wenngleich er zur Gewissheit seines bevorstehenden Todes wahrscheinlich erst nach den Ereignissen im Anschluss an seinen Einzug in Jerusalem gekommen sein wird, von denen Mk 11,1–10 zwar in kerygmatisch geprägter Form berichtet, ohne dass man deshalb einen historischen Gehalt des Textes in Abrede stellen könnte. Die Konflikte, die seine Reich-Gottes-Botschaft provozierte, werden Todeser-

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wartungen Jesu beizeiten hervorgerufen haben. Gesteigerte Form nahmen sie in den letzten Jerusalemer Tagen an, auch wenn nicht zu entscheiden ist, wann Jesus sein bevorstehender Tod zur Gewissheit geworden ist. Zur Aufklärung von Jesu möglichem eigenen Todesverständnis ist man daher vor allem auf die Überlieferung vom Mahl „in der Nacht, da er verraten ward“ (1. Kor 11,23) verwiesen. Ob die bei den Synoptikern (Mk 14,22–25; Mt 26,26–29; Lk 22,19f.) und bei Paulus (1. Kor 11,23–26) bezeugte Abendmahlstradition historisch zuverlässige Auskünfte über Jesu Todesverständnis gibt, ist unter den Exegeten strittig. Exegetisch umstritten ist ferner, „ob das gegebenenfalls aus der Abendmahlstradition erhebbare Todesverständnis Jesu mit seiner Gottesreichverkündigung vereinbar ist“ (Pesch, 16). Lässt sich ein mögliches vorgängiges Wissen Jesu von der Heilsnotwendigkeit seines Sterbens mit dem Grundduktus seiner Reich-Gottes-Verkündigung in Einklang bringen? Steht nicht ein eventuelles heilsmittlerisches Todesverständnis Jesu in Widerspruch zu seiner Botschaft von der unbedingten Zuwendung Gottes? „Kann es als wahrscheinlich gelten, dass Jesus, der den schon im Alten Testament gelegentlich in geradezu anstößiger Weise bezeugten absoluten Vergebungswillen und Triumph der Liebe Gottes pointiert proklamierte, auch nur angesichts seines Todes auf den Gedanken kam, hinter diese Gottesverkündigung zurückzugehen und seinen Tod als von eben diesem Gott herbeigeführten und damit verlangten Sühnetod zu verstehen?“ (Kertelge [Hg.], 113) Während einige Forscher Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft und die Idee stellvertretender Sühne für inkompatibel halten, beurteilen andere die Erwartung sühnenden Sterbens als eine zwar extreme, aber stimmige Konsequenz seiner Basileia-Botschaft. Es sei gut denkbar, dass Jesus um der Lösung des Konfliktes willen, der aus der Ablehnung seiner endzeitlichen Heilsbotschaft resultierte, seinen Tod als Sühnetod gedeutet habe, wobei der Sühnegedanke in Jesu Deutung seines Todes der Sache nach als exklusiv und universal verstanden werden müsse. „Jesu Todesverständnis, nach dem er sein Leben für die Vielen hingibt, nach dem sein Tod Israel entsühnt (das den letzten Boten Gottes zu Tode bringt), ist höchster Ausdruck seiner Gewißheit des Heilswillens Gottes wie seines Selbstverständnisses als des entscheidenden Boten des Heils Gottes, des eschatologischen Heilsmittlers. Jesu Sühnetod konkurriert nicht mit seiner Gottesreichverkündigung, sondern ist deren sie selbst aufgipfelnde, in eine neue heilsgeschichtliche Lage überführende Konsequenz: die Stiftung des Neuen Bundes.“ (Pesch, 108f.) Die gedankliche Vereinbarkeit einer durch Jesus erfolgten heilsmittlerischen Deutung seines Todes mit den Inhalten jesuanischer Reich-Gottes-Botschaft kann nicht grundsätzlich bestritten werden, insofern sich die Bereitschaft zu williger Selbsthingabe in den Tod als eine Folge des fürsorglichen Wirkens begreifen lässt, durch das Jesus dem Gehalt seiner Botschaft zeichenhaft entsprochen hat. So wie er für sein Volk leben wollte, so wird er auch bereit gewesen sein, gegebenenfalls für es zu sterben. Die Möglichkeit, dass Jesus seinen bevorstehenden Tod im Sinne stellvertretender Sühne gedeutet hat, lässt sich sonach nicht prinzipiell in Abrede stellen. Ob eine solche Deutung tatsächlich erfolgte, ist hingegen eine andere Fra-

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ge, die nur durch eine historisch-kritische Analyse namentlich der Abendmahlsüberlieferung zu beantworten ist. Denn abgesehen von den Abendmahlsberichten und ihren Deuteworten lassen sich keine aussichtsreichen Textbelege zum Beweis dafür beibringen, dass Jesus seine abschließende Lebensaufgabe im willigen Sterben zum Zwecke stellvertretender Sühne gesehen hat. Der bisherige Diskussionsverlauf in der Exegese und der aktuelle Stand ihrer Forschungen erwecken wenig Hoffnung, dass bald eine einvernehmliche Lösung des Problems möglicher staurologischer Selbstdeutungen Jesu erreicht ist. Mit einer Todeserwartung, ja einer möglichen Todesgewissheit Jesu muss nach Lage der Dinge für die Jerusalemer Tage gerechnet werden. Ob und auf welche Weise Jesus seinen drohenden Tod gedeutet hat, lässt sich hingegen nicht mit Sicherheit erheben. Die exgetische Diskussionslage bestätigt diesen Befund. Weder vermittelt sie hinreichende Klarheit, inwieweit die Abendmahlsüberlieferung auf den historischen Jesus zurückzuführen ist, noch kann sie mit einer auch nur einigermaßen übereinstimmenden Interpretation der Deuteworte aufwarten. Eine klare Entscheidung, ob und wie Jesus dem ihm drohenden gewaltsamen Tod heilsmittlerische Bedeutung zuerkannte, lässt sich daher nicht treffen. Unklar muss ferner bleiben, ob und inwieweit Jesus sein Ende willig hinnahm oder gar förmlich provozierte. In seinem berühmten Heidelberger Akademievortrag von 1960 über „Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus“ stellte Rudolf Bultmann fest, weder könne man wissen, wie Jesus sein Ende verstanden und ob er in ihm einen Sinn gefunden habe, noch dürfe man sich die Möglichkeit verschleiern, dass er am Kreuz zusammengebrochen sei (Bultmann; vgl. ferner Leuze, 69ff.). Diese Feststellung hat seither ausdrückliche Zustimmung, aber namentlich in jüngster Zeit auch heftigen Widerspruch gefunden. Der Widerspruch entzündete sich vor allem an der von Bultmann angenommenen Möglichkeit, Jesus sei in Verzweiflung gestorben und sein Tod könne historisch als sinnloses Schicksal betrachtet werden, weil die Hinrichtung nicht aus innerlich notwendiger Konsequenz heraus, sondern aufgrund eines Missverständnisses seines Wirkens als eines politischen erfolgte. „Der letzte Tag des Jesus von Nazareth“ (vgl. Bösen): desaströses Ende eines Lebens, das zu so viel Hoffnung Anlass gegeben hatte? Diese provozierende Frage drängt darauf, zusammenfassend die historischen Möglichkeiten zu erwägen, Jesu Tod und die Gründe, die ihn herbeiführten, aus seiner Lebensgeschichte heraus zu verstehen, ohne sich die äußeren und inneren Grenzen zu verschleiern, die einem solchen Unternehmen naturgemäß gesetzt sind. Trotz der verhältnismäßig klaren Chronologie, nach welcher der dramatische Bericht über die Jesu letzte Tage Geschehnisse der letzten Tage Jesu vom Jerusalemer Einzug bis zur Verhaftung in Gethsemane in Mk 11,1–14,52 aufgebaut ist, verbleiben in Bezug auf die historische Abfolge der Ereignisse Unsicherheiten, die kaum zu beheben sind. Auch die Geschehnisse selbst lassen sich nur noch annähernd aufklären. Dass die sog. Tempelreinigung in den Zusammenhang der letzten

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Auseinandersetzungen in Jerusalem gehört, wird man trotz Joh 2 annehmen dürfen. Zu vermuten ist auch, dass Jesu provokatives Verhalten im Tempel der Anlass und einer der Gründe des Einschreitens der jüdischen Obrigkeit gegen ihn war, auch wenn Umfang und Bedeutung seiner prophetischen Zeichenhandlung nur schwer zu rekonstruieren sind. Schwierig ist ferner das Problem aufzuklären, durch welche sonstigen Ursachen das behördliche Vorgehen der Gegner Jesu motiviert war. Die bei Mk überlieferten Streitgespräche in Jerusalem enthalten trotz ihres stark kerygmatisch geprägten Charakters den historisch sicher zutreffenden Hinweis, dass sich Jesus in seinen letzten Tagen in einer eskalierenden Konfliktsituation befand, die monokausal nicht erklärbar ist. War die Messiasfrage im Verein mit manifester Kritik am Tempelkult der auslösende Faktor der Verhaftung Jesu? Ist der Grund seiner Hinrichtung in dem vermeintlichen Anspruch begründet, der König der Juden zu sein, wie dies der titulus crucis besagt, dessen Historizität wahrscheinlich ist? Dass die Römer in Jesus einen möglichen politischen Messiasprätendenten sahen und um der Vermeidung öffentlichen Aufruhrs willen schnellen Prozess mit ihm machten, ist eine naheliegende Vermutung. Vermuten lässt sich auch, dass die jüdischen Volksführer sich durch Jesus auf die eine oder andere Weise in ihrer Herrschaftsstellung bedroht fühlten und einen Vorwand suchten, ihn bei sich bietender Gelegenheit durch die Römer zur Strecke bringen zu lassen. Doch sind damit die Beweggründe für das Vorgehen gegen Jesus schon hinreichend erfasst? Man hat in jüngster Zeit gelegentlich eine jüdische Beteiligung am Strafverfahren gegen Jesus generell in Abrede gestellt und behauptet, die Verantwortlichkeit für seine Hinrichtung sei allein bei den Römern zu suchen. Diese These verdient insofern genaue Prüfung, als das Problem der juristischen Kompetenzen und Zuständigkeiten im Prozess Jesu viele Fragen aufwirft. Doch zumindest die Initiative zur Verhaftung Jesu dürfte nicht von den Römern, sondern von der obersten jüdischen Religionsbehörde ausgegangen sein, wofür das Zeugnis der gesamten neutestamentlichen Überlieferung spricht. Noch einmal ist deshalb die Frage auszugreifen: Was konnten unter jüdischen Bedingungen die Beweggründe für die Verhaftungsinitiative sein? Das politische Missverständnis des Wirkens Jesu, aus dem die Römer aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Gründe für seine Hinrichtung bezogen, wird man jüdischerseits kaum geteilt haben. Mag sein, dass für das jüdische Einschreiten gegen Jesus die Messiasfrage in anderer Weise entscheidend war. Doch in welcher? Muss die Tempelaktion Jesu notwendigerweise als messianische Zeichenhandlung verstanden werden, und wie steht es generell mit dem Messianitätsanspruch Jesu? Steht er im Zentrum seiner Sendung? Oder ist er nicht allenfalls ein aufgehobenes Moment seiner Botschaft vom kommenden Reich, die er in Wort und Tat bezeugte und aus deren Gehalt er seine Autorität und Vollmacht bezog? Lässt sich zeigen, dass gute historische Gründe dafür sprechen, die Frage der Vollmacht Jesu primär unter dem Aspekt des Gehalts seiner Botschaft und erst mittels dessen unter dem Gesichtspunkt seines persönlichen Autoritätsanspruchs in Betracht zu ziehen, so kann dies für die Frage nach den Anfangsgründen des

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Einschreitens gegen ihn nicht folgenlos bleiben. Muss man sich bei dem Hinweis bescheiden, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Gehalt der Botschaft Jesu und seinem gewaltsamen Todesgeschick nicht mehr zu erkennen ist? Oder gibt es hinter den äußeren Anklagegründen, die politischen Charakter annehmen mussten, um nach Lage der Dinge wirksam zu sein, noch tiefergreifende, nämlich das Innere der Religion betreffende Motive des Einschreitens gegen Jesus von Seiten der obersten jüdischen Behörde? Genügt es in diesem Zusammenhang neben der Tempelaktion allein auf die in vieler Hinsicht ja durchaus offene Messiasfrage zu verweisen? Ist dieser Hinweis nicht viel zu formal und unspezifisch, um historisch überzeugen zu können? Bedarf es nicht auch hinsichtlich des irdischen Endes Jesu und der Ursachen, die es bewirkten, einer viel stärker inhaltlich orientierten, auf den eigentümlichen Gehalt der Botschaft Jesu konzentrierten Argumentation? Traditionellerweise ist die Frage nach der religiösen Hauptursache der Passion Jesu mit dem Verweis auf seine Kritik am jüdischen Gesetz beantwortet worden. Auch dieser Hinweis ist sicherlich zu pauschal und undifferenziert, um überzeugend alle Probleme ausräumen zu können. Doch auch eine konträre Position vermag nicht zu überzeugen, welche die Bedeutung von Torakonflikten für das Todesgeschick Jesu meint generell ignorieren zu können? Zwar ist es richtig, dass die Römer an Gesetzesstreitigkeiten unter den Juden nur sehr bedingt interessiert waren. Für die jüdischen Religionsbehörden wird man dies indes keineswegs sagen können. Daher kann die überkommene Annahme, Auseinandersetzungen um die Tora seien einer der Konfliktursachen gewesen, die das Einschreiten der jüdischen Oberen gegen Jesus bewirkten, nicht von der Hand gewiesen werden. Ein anderes Vorgehen wäre unkritisch. Initiative und Durchführung der Verhaftung Jesu gingen aller Wahrscheinlichkeit nach von den jüdischen Religionsbehörden aus. Die Motive hierzu müssen daher konsequent aus ihrem Verantwortungskontext heraus erklärt werden, um plausibel zu sein. Weil aber die Kapitalgerichtsbarkeit vermutlich nicht beim Synedrium, sondern allein beim römischen Präfekten lag, konnte der Zweck der Verhandlungen im religiösen Rat der Juden nur sein, die Anklage Jesu vor Pontius Pilatus ins Werk zu setzen und ihre Erhebung mit den nötigen Gründen zu versehen. Dabei ist die Vermutung naheliegend, dass sich die vorgebrachten Beschuldigungen deshalb auf den Vorwurf messianischer Aufwieglerschaft und antirömische Rebellion konzentrierten, weil andere Schuldvorwürfe die Römer im Allgemeinen und den Präfekten im Besonderen kaum oder doch sehr viel weniger beeindruckt hätten. Über das Recht dieser Vorhaltungen ist damit ebenso wenig befunden wie über die historische Frage, ob sie den inneren Kern des Konflikts der Vertreter der jüdischen Religionsbehörde mit Jesus bezeichnen. Nachdem Jesus an Pontius Pilatus ausgeliefert und das römische Gerichtsverfahren in Gang gesetzt war, lag alles Weitere in der Hand des Präfekten. Dass die Grundfrage des Prozesses von Anfang bis zum Ende die Messiasfrage war (vgl. Hengel/Schwemer, 601ff.), kann man allenfalls unter dem Vorbehalt sagen, dass Pilatus an ihr nur unter Gesichtspunkten ihrer möglichen politischen Relevanz

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interessiert war, wohingegen ihn ihre religiösen Implikationen gänzlich kalt gelassen haben dürften. Von Belang war für ihn, wie anzunehmen, ausschließlich die Frage, ob die Behauptung, Jesus habe sich als König der Juden aufgespielt, eine Anklage wegen Friedensgefährdung, Hochverrat oder Aufruhr gegen die Herrschaft Roms und die Hoheit des römischen Kaisers rechtfertigen könne. Schnell und nach kurzer Zeit schon hat er sich aus welchen Erwägungsgründen auch immer davon überzeugt und nach erfolgter Verurteilung und Geißelung Jesus am Kreuz hinrichten lassen. Damit war für ihn, wie es scheint, die causa Jesu erledigt. Eine Veranlassung, sich der Bitte um Freigabe des Leichnams Jesu zu widersetzen, sah Pilatus offenbar nicht, wenn er denn überhaupt mit der Angelegenheit befasst war. Auch von einer Verfolgung der Anhängerschaft Jesu durch den Prokurator ist nichts bekannt. Er machte schnellen Prozess und ließ die Sache dann auf sich beruhen. Die religiösen Dimensionen des Falles Jesu lagen gänzlich außerhalb seines auf den politischen Aspekt beschränkten Horizonts, was bei den Repräsentanten der jüdischen Religionsbehörde gewiss anders war. Ihnen oder Teilen von ihnen wird der schmähliche Tod Jesu vermutlich als gerechte Strafe und als Bestätigung der Richtigkeit ihres theologischen Urteils erschienen sein. Man wird nicht leugnen können, dass sie neben äußeren auch innere Gründe für diese Auffassung geltend machen konnten. Dies schließt die Behauptung nicht aus, dass der juristisch entscheidende Grund für Jesu Hinrichtung politischer Art war. Für diese Annahme spricht durchaus die historische Wahrscheinlichkeit. Leicht konnte Jesus „als anti-römischer Rebell von den Römern (bzw. der einheimischen politischen Elite) verdächtigt“ (Stegemann, 379), aus Anlass des sog. Tempelzwischenfalls (Mk 11,15–19 par) verhaftet und nach einem Schnellverfahren um der Aufrechterhaltung von öffentlicher Ruhe und Ordnung willen hingerichtet worden sein. Man wird dann allerdings zugleich feststellen müssen, dass das römische Verfahren im Falle Jesu auf äußerem Schein beruhte und eines inneren Rechtsgrundes entbehrte. Denn ein Rebell im herkömmlichen Sinn, ein politischer Aufrührer oder gar ein krimineller Bandit war der historische Jesus erkenntlich nicht. Zumindest den jüdäischen Instanzen konnte dies nicht gänzlich entgangen sein, deren Beteiligung am Prozess Jesu schwerlich völlig in Abrede zu stellen ist, auch wenn ein regelrechtes Gerichtsverfahren gegen ihn vor dem Synedrium unwahrscheinlich ist. Während die von Pilatus zu verantwortende, im Justizskandal und religiöser Namen des Imperium Romanum vollzogene Ernst Verurteilung und Hinrichtung Jesu wegen politischer Umtriebe einen eklatanten Justizskandal darstellt, weil die Anklage in jeder Hinsicht unhaltbar ist, kann man die Vorwürfe, die jüdischerseits gegen Jesus geltend gemacht wurden, zwar in gewisser Hinsicht als irreführend bezeichnen, nicht aber einfachhin als irrig abtun. Mögen die obersten jüdischen Religionsrepräsentanten Pontius Pilatus aus Gründen politischen Kalküls bewusst getäuscht haben, so geschah sicherlich selbst dies nicht aus reinen Machtinteressen heraus, sondern in der gewissen Annahme, das Vorgehen gegen Jesus sei auch und nicht zuletzt aus

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religiösen Gründen erforderlich und geboten. Will man die jüdischen Ankläger Jesu ernst nehmen und nicht vorweg zu ausgemachten Schurken herabwürdigen, dann darf bei der Beurteilung ihrer Motive nicht nur das äußere Interesse der Herrschaftssicherung in Betracht gezogen werden, so sehr gewiss auch dieses Motiv wirksam war; man muss zugleich und vor allem religiösen Beweggründen die nötige Beachtung schenken, von denen sich annehmen lässt, sie seien mit der Gewissheit untrennbar verbunden gewesen, der Sache Gottes zu dienen. Unter Christen gilt es vielfach als selbstverständlich, dass der Sünderfreund Jesus im Sinne jener besseren Gerechtigkeit der Liebe handelte, die ihm von Hause aus theologische Überlegenheit sowohl über die pharisäische als auch über die Denkungsart jener Hohenpriester, Ältesten und Schriftgelehrten verschaffte, aus denen sich das Synedrium als die oberste jüdische Religionsbehörde zusammensetzte, die Jesus bei Pilatus verklagte. Nun wird man zwar nicht leugnen können, dass bei führenden Priesterfamilien wie etwa dem Hannasclan, der mit dem unter Pontius Pilatus amtierenden Kaiphas nur einen von vielen Hohenpriestern stellte, aber auch bei anderen Mitgliedern des Synedriums aus den Reihen der Schriftgelehrten sowie der Vertreter der Laienaristokratie mannigfache Motive des Machterhalts und der persönlichen oder kollektiven Interessendurchsetzung wirksam waren. Auch verdient der Gesichtspunkt gebührende Beachtung, dass im Synedrium die von der priesterlichen Oberschicht Jerusalems beherrschte Partei der Sadduzäer die Mehrheit bildete, wohingegen die dem einfachen Volk zugewandten Pharisäer trotz ihres großen Einflusses, den sie im Land außerhalb der Metropole hatten, in einer Minderheitsposition waren. Doch wird man neben den Pharisäern, deren frommer Ernst aufs Ganze gesehen außer Zweifel steht, auch den anderen in der obersten jüdischen Behörde vertretenen Autoritäten ihren Anspruch, rechtmäßige Repräsentanten des Judentums ihrer Zeit zu sein, und den Willen, diesem Anspruch im Sinne der Tora zu genügen, nicht pauschal bestreiten können. Wird dies konzediert, dann muss auch in Bezug auf das Vorgehen gegen Jesus religiöser Ernst in Rechnung gestellt werden, wobei die Verteidigung des Tempelkults als mögliches Motiv nicht zu trennen ist von dem Insistieren auf der Rechtsgeltung der Tora, welche auf die Differenz von rein und unrein, gerecht und ungerecht etc. angelegt ist und einen Verstoß gegen das Unterscheidungsgebot mit Strafsanktionen belegt. Um die Dramatik des Geschehens nicht schon im Ansatz zu verkennen, muss man der Frage standhalten, ob Jesus unter den Bedingungen der Tora nicht tatsächlich Recht geschah, wenn er vom Synedrium angeklagt und Pontius Pilatus mit dem Ziel überantwortet wurde, ihn hinzurichten. Erst von dieser Frage her erhält jene andere ihr theologisches Gewicht, von der die abschließenden Erwägungen zu Prozess und Kreuzestod ihren Ausgang nahmen, ob nämlich Jesu Leben im Desaster subjektiver Verzweiflung und objektiver Sinnlosigkeit endete. Man denke sich um den Punkt, der durch das Kreuz Jesu markiert ist, konzentrische Kreise und setze das geometrische Bild mit den Konstellationen in Beziehung, welche die Passionsgeschichte bestimmen: Die Zuordnung ist geeignet, Ein-

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sichten zu erschließen, die für die historische Erkenntnis des Kreuzesgeschehens nicht unbedeutsam sind. Signifikant sind insbesondere die herrschenden Missverhältnisse und die Disproportionalitäten, die zwischen Tun und dem Verständnis dessen walten, was getan wird. Je wirkmächtiger sich die Akteure des Passionsgeschehens im äußeren Sinne erweisen, umso weniger werden sie, so scheint es, dessen inne und gewahr, was Grund und Anlass dieses Geschehens ist. Pontius Pilatus, um bei ihm zu beginnen, weiß, obwohl er das Urteil gesprochen und die Hinrichtung veranlasst hat, recht eigentlich nicht, was in der causa Jesu der Fall ist. So zentral seine Stellung unter den Akteuren des Passionsgeschehens ist, so kenntnislos und ignorant erweist er sich in Bezug auf dessen genaue Ursachen. Entsprechendes gilt für seine Erfüllungsgehilfen; die Stellung der Römer im Passionsgeschehen ist peripher, obwohl sie im rechtlichen Sinne für die Hinrichtung Jesu verantwortlich sind. Sie repräsentieren, wenn man so will, die Heiden am äußersten Rand und im Vorhof des Geschehens, die allenfalls für die politischen, nicht aber für die religiösen Dimensionen des am Kreuz ausgetragenen Konflikts empfänglich sind. Näher zur Mitte hin kommen die jüdische Menge und ihre religionspolitischen Repräsentanten zu stehen, als die in erster Linie die Sadduzäer zu gelten haben. Obwohl auch ihre Motive eher äußerlicher Art und nicht zum Geringsten auf Machterhalt ausgerichtet gewesen sein dürften, werden ihnen die theologischen Aspekte des Falles Jesu nicht gänzlich entgangen sein, wobei für sie neben dem Verhältnis zu den Römern wohl die Tempelfrage von entscheidendem Interesse war. Tiefer sahen, wie man annahmen darf, die Frommen im Lande wie namentlich die Pharisäer. Mag ihr Anteil am äußeren Verlauf des Prozesses Jesu auch verhältnismäßig gering gewesen sein, so gehören sie doch in die innere Mitte des Passionsgeschehens, weil sie wie vielleicht nur noch die erklärten Anhänger Jesu einen Sinn hatten für die religiösen und theologischen Hintergründe des Streits, der am Kreuz endete. Sie wussten oder ahnten doch zumindest, dass es in dem Streit um die Fundamente der Religion, näherhin um die Gottheit des einen und einzigen Gottes ging, der Israel in der Tora seine Gerechtigkeit offenbart hatte, die eine Rechtfertigung der gesetzeswidrigen Gottlosen nicht zuließ. Die Ursachen für Prozess und Hinrichtung Jesu sind komplex und historisch schwer zu fassen, weil zum einen die Quellen nur noch einen annähernden Eindruck vom tatsächlichen Geschehensverlauf ergeben und zum anderen schon unter den Zeitgenossen divergierende – aus perspektivischen Wahrnehmungsdifferenzen hervorgehende – Beurteilungen der Gründe für den Schuldspruch Jesu im Umlauf gewesen sein dürften. Reduziert man die Problemlage unter Abstraktion von ihren tieferen religiösen Implikationen auf einen Konflikt mit den äußeren politischen und geistlichen Autoritäten der Zeit, dann treten die Römer mit Pilatus an der Spitze sowie im Verein mit ihnen die Sadduzäer und die Interessen der Tempelaristokratie ins Zentrum des Blickfelds. Bewertet man den Streit hingegen dezidiert theologisch, dann verlagern sich die Gewichte und diejenigen treten aus dem Hintergrund der Szene in ihre Mitte, die mit Recht als die Repräsentanten der Frommen Israels und als die authentischen Sachwalter der Tora zu gelten haben,

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die Pharisäer. Sie standen Jesus näher als alle anderen jüdischen Gruppen der Zeit, und sie wussten am besten den zentralen Sinngehalt seiner Botschaft und mit ihm die Konfliktpotentiale einzuschätzen, welche diese in Bezug auf das traditionelle Gesetzesverständnis enthielt. Gott ist gerecht: Dieser Grundsatz bestimmt Gerechtigkeit Gottes und den mosaischen Bund und das Grundethos der Kreuz Weisung, das dem Volk Israel in der Tora gegeben war. Im Zehnwort und im Doppelgebot der Liebe ist diese Weisung bündig zusammengefasst und zur Grundlage nicht nur für den ethischen Monotheismus des Judentums, sondern zur sittlichen Basis der drei großen monotheistischen Religionen, ja zum Kern eines gemeinsamen Menschheitsethos geworden. Weltethosprogramme im Sinne Kants und anderer können sich mit Recht auf einen historischen Zusammenhang mit dem jüdischen Toramonotheismus berufen, wie er zur Zeit Jesu nicht nur, aber in besonders echter und glaubwürdiger Weise durch die Pharisäer repräsentiert wurde. Diese und ihre Anhänger waren in der Regel alles andere als selbstgerechte Nomisten, und ihr religiöser Grundsatz unbedingter Gerechtigkeit Gottes war mit dem Vertrauen auf göttliche Barmherzigkeit und dem Gebot uneingeschränkter Menschenliebe durchaus verbunden. Doch mit bloßem Belieben wollten sie weder die gebotene Menschenliebe noch gar die barmherzige Liebe Gottes verwechselt wissen, da diese nach ihrer – und man darf wohl sagen: gesamtjüdischer, ja sittlicher Allgemeinüberzeugung – die göttliche Gerechtigkeit nicht aufhebt, sondern in ihrem Dienste steht. Deshalb insistierten sie – und zwar mit einem im innersten Zentrum jüdischer Religion begründeten Recht – darauf, dass die Verheißung der Liebe Gottes dem Gesetz seiner Gerechtigkeit nicht widersprechen dürfe. Jesu Auftreten und Verhalten gab Anlass, einen solchen Widerspruch und damit eine Gefährdung der Grundwerte der Religion des Volkes zu befürchten, sofern er im Zeichen der kommenden Gottesherrschaft die göttliche Vaterliebe auch und gerade denen verhieß, die als Gesetzeslose und torawidrige Sünder zu gelten hatten, welche der Gerechtigkeit Gottes feind sind. Ist solche in Wort und Tat proklamierte Verheißung gerecht und theologisch zu rechtfertigen? Man wird diese Frage auch in historischer Hinsicht berücksichtigen müssen, um zu einer nicht nur äußerlichen Bewertung des Prozesses Jesu und seiner Verurteilung zu gelangen.

14. Die Auferweckung des Gekreuzigten

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Nach H. Frhr. v. Campenhausen sind für eine Die Osterereignisse und ihr zusammenhängende Rekonstruktion der Oster- Ablauf eignisse und ihres Ablaufs folgende beiden Begebenheiten von grundlegender Bedeutung: erstens eine Reihe von Ostererlebnissen von Jesu Jüngern, die berichten, der Herr sei ihnen erschienen, und zweitens die Entdeckung des leeren Grabes des Gekreuzigten in Jerusalem. Für die Erscheinungsberichte bietet nach allgemeiner Auffassung der Forschung das 15. Kapitel des 1. Korintherbriefes die „älteste und zuverlässigste Nachricht“ (Campenhausen, 8). Sie benennt eine Abfolge von Ereignissen, die von Paulus gemäß der ihm vorliegenden Tradition chronologisch und mit dem Anspruch auf historische Faktizität aufgezählt werden, wobei auch die Angabe des „dritten Tages“ zeitlich zu verstehen und nicht auf die österlichen Erscheinungen als solche, sondern auf das geschichtliche Datum der ihnen vorhergehenden Auferstehung des Gekreuzigten selbst bzw. auf die Entdeckung ihres Erfolgtseins zu beziehen sei. Dies werde durch die von der vorpaulinischen Tradition nahegelegte und durch eine Analyse der synoptischen Überlieferungsgeschichte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu plausibilisierende Annahme bestätigt, dass die ersten Erscheinungen des Auferstandenen nicht nach Jerusalem, sondern ausnahmslos nach Galiläa gehören. Trifft dies zu, dann kann in Anbetracht der Länge des zwischen Jerusalem und Galiläa zurückzulegenden Weges nach v. Campenhausen die Angabe der „drei Tage“ unmöglich auf die Erstbegegnungen des österlichen Herrn mit seinen nach Jesu Kreuzestod von Jerusalem in ihre galiläische Heimat entflohenen Jünger bezogen werden. Die Kürze des Zeitraums der drei Tage spreche vielmehr eindeutig für einen Bezug auf ein vorausliegendes Geschehen. Sind die Jerusalemer Erscheinungstraditionen sekundär und die Erstbegegnungen des Petrus, der sonstigen Jünger sowie der sog. Fünfhundert und wohl auch des Jakobus mit ihrem auferstandenen Herrn ausschließlich in Galiläa zu lokalisieren, wie die Nachrichten, die Paulus liefert, und die synoptische Überlieferungsgeschichte dies wahrscheinlich machen, dann müssen nach v. Campenhausen die untrennbar mit Jerusalem verbundenen Berichte vom leeren Grab als den Erscheinungsberichten gegenüber eigenständige Traditionen auch historisch ernst genommen werden, statt sie vorweg und pauschal als späte und nachträgliche Legenden abzutun. Genaue Analysen des markinischen Grundberichts und der sonstigen Angaben über das leere Grab sollen deren Authentizität im Kernbestand erweisen. Formal entscheidend ist dabei die bereits vermerkte Annahme Campenhausens, dass die Überlieferungen vom leeren Grab mit den Erscheinungstraditionen anfänglich nichts zu tun hatten. „Das leere Grab ist ein Geschehen für sich, dessen Zeugnis zu den Erfahrungen, die die Jünger später in Galiläa machen werden, erst nachträglich hinzugetreten ist: es verdient darum doppelt Glauben und Beachtung, die Jünger selbst aber hatten nichts mit ihm zu schaffen.“ (Campenhausen, 37) Inhaltlich spricht nach v. Campenhausen für die historische Glaubwürdigkeit der Nachrichten vom leeren Grab nicht zuletzt die apologetische Auseinandersetzung mit ihren Bestreitern, von denen bereits die letzte Markus-

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perikope Zeugnis gebe. Denn gerade die offenkundige Schwierigkeit, die Behauptung der Leere des Grabes Jesu gegen mögliche Falsifikationen zu verteidigen, mache ihren generell legendarischen Ursprung unwahrscheinlich. Für die historische Authentizität des Kernbestands der Nachrichten vom leeren Grab und seiner frühen Entdeckung lässt sich nach v. Campenhausen fernerhin die unter der Voraussetzung der Annahme legendarischer Fiktion schwer erklärliche Tatsache anführen, dass Frauen als entscheidende Zeugen benannt werden, die nach damals geltendem jüdischen Recht gar nicht zeugnisfähig waren. Im Übrigen deute der Name des Josephs von Arimathäa darauf hin, dass die Umstände der Bestattung Jesu nicht gänzlich unbekannt gewesen seien. „Gab es aber in der ersten Gemeinde über die Bestattung Jesu irgendeine sachlich begründete Kunde, so müssen die Nachforschungen nach dem Grabe zum mindesten sehr bald begonnen haben. Man fand und zeigte aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich ein leeres Grab, und wenn wir nicht alles im Sinne der Juden für Schwindel und nachträgliche Mache erklären wollen, so ist es nicht einzusehen, warum dessen Entdeckung nicht so, nicht durch die Personen und zu dem Zeitpunkt erfolgt sein sollte, wie es uns die älteste Überlieferung an die Hand gibt. Alles andere ist unkontrollierbar.“ (Campenhausen, 42) Neben der nach seinem Urteil ausschließlich in Galiläa zu lokalisierenden Reihe von Osterereignissen ist nach v. Campenhausen in der Fülle des überlieferten Stoffes der Nachricht vom leeren Grab und seiner Entdeckung im Kernbestand historische Zuverlässigkeit und Authentizität nicht abzusprechen. Beide Überlieferungsdaten, die galiläischen Erscheinungen und das leere Grab, seien anfangs unabhängig voneinander tradiert worden und nicht aufeinander zurückführbar, sondern selbständige Größen, auch wenn ihre traditionsgeschichtliche Verbindung zeitig begonnen habe. Ein Beleg hierfür sei das in den Evangelien erkennbare Bestreben, die ersten Erscheinungen ans offene Grab und schließlich ganz nach Jerusalem zu verlegen. Diese Tendenz ist nach v. Campenhausen theologisch motiviert und traditionsgeschichtlich sekundär. Die Behauptung der historischen Authentizität der Jerusalemer Erscheinungen lässt sich seinem Urteil zufolge nach Lage der Quellen ebenso wenig halten wie der Versuch, das Osterereignis historisch allein auf die galiläischen Erscheinungen zu begründen und die Überlieferungen vom leeren Grab als legendarisch zu streichen. Nimmt man die Beobachtungen hinzu, die in Bezug auf den Aufbruch der Jünger von Jerusalem nach Galiläa im Anschluss an Jesu Kreuzestod angeführt werden, dann ergibt sich aus dem traditionsgeschichtlichen Befund als historisches Ergebnis folgender Verlauf der Osterereignisse: „1. Nach der Verhaftung und dem Tode Jesu blieben die Jünger zunächst in Jerusalem (alle Evgl.), traten aber in der Öffentlichkeit nicht mehr hervor (Mk., Mt.). Über ihre Stimmung sind wir nicht näher unterrichtet; sie wird ratlos und niedergeschlagen, aber mit dem Geschehenen noch keineswegs fertig geworden sein (Lk.). 2. Sehr bald, wahrscheinlich ‚am dritten Tage‘, entdeckten Frauen des Anhängerkreises Jesu, dass seine Grabstätte geöffnet und leer war (alle Evgl.). Erscheinungen Jesu erfolgten hier zunächst nicht

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(Mk., Lk.). 3. Die Nachricht rief unter den Jüngern Unruhe hervor. Petrus vor allem scheint das leere Grab als Unterpfand der erfolgten Auferstehung verstanden und die andern in diesem Sinne beeinflusst zu haben (Lk.). 4. Die Jünger begaben sich daraufhin unter der Führung des Petrus nach Galiläa (Mk., Mt., [Pt.]) in der Hoffnung, hier Jesus anzutreffen (Mk., Mt.). 5. Es erfolgte zunächst eine Erscheinung vor Petrus allein (Pls., Lk.), dann vor den ‚Zwölfen‘ (Pls., alle Evgl.), dann vor fünfhundert Brüdern (Pls.), dann vor Jakobus (Pls., Hb.) und dann vor ‚allen Aposteln‘ (Pls.). Man wird sich diese Vorgänge am ehesten in rascher Folge ablaufend zu denken haben. Doch ist es möglich, dass die letzte oder die beiden letzten dieser Erscheinungen bereits in Jerusalem stattfanden. Hier sind später jedenfalls Petrus, Jakobus, die ‚Zwölf‘ und ein weiterer Kreis von galiläischen Jüngern zu finden (Pls., Act.). 6. Viel später ist die letzte Erscheinung vor Paulus erfolgt, die in jeder Hinsicht aus der Reihe fällt (Pls., Act.). Es ist nicht ausgeschlossen, dass in der ersten Zeit noch weitere Auferstehungsbegegnungen erfolgt sind. Aber alle diesbezüglichen Nachrichten sind im höchsten Grade zweifelhaft.“ (Campenhausen, 51) V. Campenhausens Rekonstruktion des Ablaufs der Ostergeschehnisse beansprucht erklärtermaßen nicht die Frage zu beantworten, wie das Grab Jesu geöffnet und sein Leib daraus entschwunden sei. Der Ursprung der Osterereignisse bleibe, wie es heißt, rätselhaft und nach biblischem Zeugnis jeder Augenzeugenschaft entzogen. Er stehe daher für unterschiedliche Deutungen offen, deren Verschiedenheit, ja Gegensätzlichkeit sich durch historische Argumentation nicht beheben lasse. Dies ändere aber nichts daran, dass das christliche Bekenntnis zur leiblichen Auferstehung Jesu von den Toten neben den österlichen Erscheinungen die Nachricht vom leeren Grab für sich geltend machen könne und geltend machen müsse. Überzeugende Gründe, ihre historische Authentizität prinzipiell zu bestreiten, gebe es nicht. Zwar verlasse, wer die leibliche Auferstehung Jesu im Glauben annehme und bekenne, „den Bereich des analogisch Verständlichen und damit den Bereich jeder mit historischen Mitteln durchführbaren Diskussion“ (Campenhausen, 52). Doch dürfe dies nicht hindern, das „in jedem Sinne einzigartige Ereignis“ (ebd.) der das Eschaton vorwegnehmenden Auferstehung Jesu, zu dem der christliche Glaube sich bekenne, als ein Geschehen von geschichtlicher Tatsächlichkeit zu behaupten, auch wenn diese Behauptung nach den Gesetzen des alten Äons den Schein der Unmöglichkeit nicht nur mit sich führe, sondern mit sich führen müsse. Weil die Auferstehung Jesu nach v. Campenhausen unbeschadet ihres gegenwärtigen und zukunftserschließenden Sinnes immer auch als wirkliches Ereignis der geschichtlichen Vergangenheit „überliefert, verkündigt und geglaubt“ (Campenhausen, 53) wird, kann ihr Gehalt gegen historische Prüfung nicht immunisiert werden. Das christliche Osterbekenntnis darf daher der historischen Frage nicht ausweichen und die behauptete Tatsache der Auferstehung Jesu nicht mit dem bloßen Verweis auf den Osterglauben selbst begründen. „Das Bündnis, das ein vermeintlich besonders radikaler Glaube auf diese Weise mit dem historischen Skeptizismus schließt, dient in Wirklichkeit nur dazu, ihn der eigentlichen Anfechtung

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durch die Geschichte und die geschichtliche Vernunft überhaupt zu entziehen.“ (Campenhausen, 54) Dies aber sei sowohl aus apologetischen als auch aus Gründen, die den christlichen Glauben an sich selbst betreffen, unstatthaft und theologisch zu vermeiden. Denn der christliche Osterglaube habe nicht nur aus Solidarität mit der geschichtlichen Welt, der er sich trotz seiner Weltüberlegenheit verbunden wissen müsse, sondern auch um seiner selbst willen an der realen Möglichkeit bzw. der möglichen Realität des Osterereignisses festzuhalten, auch wenn diese faktisch erst durch die Wirklichkeit Osterns selbst der Einsicht erschlossen worden sei. Der Osterglaube ist historisch nicht andemonstOstergeschehen und rierbar, die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu Osterberichte geschichtlich nicht zu beweisen, weil sie die Realitäten und Möglichkeiten des alten Äons eschatologisch transzendiert. Dennoch betrifft die Auferstehung Jesu die Welt und geht diese dergestalt an, dass sie von ihren natürlichen und geschichtlichen Zusammenhängen nicht einfachhin abgehoben und distanziert werden kann. Die systematische Bedeutung dieser These steht und fällt nicht mit der Richtigkeit der durch v. Campenhausen gegebenen historischen Rekonstruktion der Abfolge der Osterereignisse und behält ihre Gültigkeit auch für den Fall, dass die Überlieferungen vom leeren Grab traditionsgeschichtlich kritischer zu beurteilen sind. Schon zu Zeiten v. Campenhausens wurde, wie er ausdrücklich vermerkt, der Quellenwert der Überlieferung namentlich der Grabesgeschichte wesentlich negativer beurteilt als von ihm selbst. Als Beispiel wird auf das umfangreiche Werk von Hans Graß über „Ostergeschehen und Osterberichte“ verwiesen. Graß’ kritische Prüfung der Ostergeschichten der Evangelien führt zwar ebenso zu dem Ergebnis, dass Grabes- und Erscheinungserzählungen „in der älteren Überlieferung ursprünglich unverbunden nebeneinander gestanden zu haben“ (Graß, 86) scheinen. Doch enthalten die Geschichten vom leeren Grab nach Graß kaum historisch verlässliche Nachrichten, sondern sind schon in ihrer traditionsgeschichtlich ältesten Form legendarisch und von dem kerygmatisch-apologetischen Interesse geprägt, die Leiblichkeit der Auferstehung Jesu hervorzuheben. Als historischer Kern der auch ansonsten aus mannigfachen theologischen Motiven legendär ausgestalteten Ostergeschichten der Evangelien ergibt sich für Graß, dass in einem zeitlichen Abstand zu Karfreitag dem Jüngerkreis und primär Petrus in Galiläa Erscheinungen zuteil wurden, aus denen der Osterglaube und die Gewissheit entstanden, zur Fortführung des Werkes des Herrn beauftragt zu sein. Ob hinter den Grabesgeschichten noch irgendeine verlässliche Kunde vom leeren Grab stehe, sei unsicher. Das Osterzeugnis des Paulus, der in 1. Kor 15,1–8 den ältesten und am besten beglaubigten Auferstehungsbericht des Neuen Testaments biete, bestätige diesen Befund und die Wahrscheinlichkeit der Annahme, „dass die Osterereignisse für die Jünger in Galiläa begannen“ (Graß, 119). Traditionsgeschichtlich spreche alles dafür, „dass nicht das leere Grab, sondern die Erscheinungen der entscheidende Anstoß waren, der alles ins Rollen brachte“ (ebd.). Der ge-

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genteiligen These v. Campenhausens wird ausdrücklich widersprochen. Die Lösung des Lokalisierungsproblems kann entsprechend „nicht lauten: Jerusalem – Galiläa – Jerusalem, sondern nur Galiläa – Jerusalem“ (ebd.). „Die Osterereignisse nahmen für den ersten Jüngerkreis in Galiläa ihren Anfang, die Osterverkündigung jedoch in Jerusalem.“ (Graß, 125) Nachdem sie nach der Katastrophe des Kreuzes nach Galiläa geflohen waren, begegnete Petrus und bald darauf dem Rest der Zwölf der Auferstandene, was für sie den Rückruf nach Jerusalem bedeutete und zum Auftrag wurde, die Osterbotschaft zu verkünden. In der sich bildenden Gemeinde werden sodann für geraume Zeit noch weitere Erscheinungen des Auferstandenen erlebt worden sein, so dass nach Graß auch Jerusalem mit Recht die Würde eines Erscheinungsortes kat exochen beanspruchen kann. Was aber die mit Jerusalem als dem Ort der Kreuzigung Jesu verbundene Tradition vom leeren Grab betreffe, so lasse sich nach kritischer Prüfung kein Argument benennen, das zwingend dessen Historizität beweise. Offen bleiben müsse zum einen die Möglichkeit, „dass Jesus nicht nur von den Seinen verlassen gestorben ist, sondern dass sich auch keiner fand, der ihm den letzten Liebesdienst einer ordnungsgemäßen Bestattung erwies“ (Graß, 194). Zu rechnen sei zum anderen damit, dass die Jünger nach ihrer Rückkehr nach Jerusalem keine sichere Auskunft über den Verbleib des Leichnams mehr erhalten hätten und ein Nachforschen bei Freund und Feind vergeblich geblieben sei. Von den Freunden Jesu sei diese Nachforschung ohnehin nicht mit besonderem Eifer betrieben worden, weil man der Auferstehungswirklichkeit durch die Erscheinungen gewiss gewesen sei. Entsprechend habe sich die älteste Auferstehungsverkündigung einer Beweisführung mit dem leeren Grab nicht bedient. Ein direktes Interesse an ihm finde sich erst in einer späteren Zeit, die nach Graß keine Ostererscheinungen mehr nach Art derjenigen kannte, wie sie Petrus und den Jüngern zuteil geworden waren. Erst für diese Zeit habe die Vorstellung vom leeren Grab feste Form angenommen, um die Tatsächlichkeit des Ostergeschehens, die Leiblichkeit der Auferstehung und die Identität des Auferstandenen mit dem gekreuzigten Jesus zu beglaubigen. Der ursprüngliche Osterglaube hingegen ist nach Graß „fern von der Grabstätte und unabhängig von ihr entstanden“ (Graß, 185). Die durch v. Campenhausen einerseits und Kontroverse Diskussionsdurch Graß andererseits repräsentierte Konstellage bei basaler Übereinlation lässt sich auch in den gegenwärtigen Dis- stimmung kussionen um das Osterereignis in mancherlei Varianten wiederfinden. Um lediglich zwei Beispiele zu geben: Nach M. Hengel ist die Grabesfrage durch H. v. Campenhausen „längst überzeugend beantwortet“ (Hengel 180; vgl. 119 Anm. 1) worden. Auch gemäß seinem Urteil bestand für die früheste Urgemeinde und die ersten Hörer der Auferstehungsbotschaft ein innerer Zusammenhang zwischen dem Begräbnis Jesu, der Entdeckung des leeren Grabes und den Erscheinungen des Gekreuzigten, die zum Auferstehungsbekenntnis führten. Das Zeugnis vom leeren Grab sei zwar für sich genommen ambivalent, aber historisch insofern plausibel, als es je auf besondere Weise in Widerspruch

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stehe zu den jüdischen und zu den paganen Vorstellungen postmortaler Existenz. Für nichtjüdische Hörer des Auferstehungszeugnisses wäre nach Hengel die Verkündigung einer himmlischen Entrückung und Erfüllung der vom irdischen Vergänglichkeitsleib getrennten Seele ungleich glaubhafter erschienen als die Botschaft vom leeren Grab, die auch im zeitgenössischen Judentum analogielos sei, sofern dieses die Öffnung der Gräber und die leibliche Auferstehung erst im endzeitlichen Zusammenhang der allgemeinen Totenerweckung erwartet habe. Die Vorstellung einer Aufnahme Jesu unter die Märtyrer am Throne Gottes wäre für palästinische Juden sehr viel einleuchtender gewesen als die Kunde von der Entdeckung des leeren Grabes Jesu. Sie lasse sich daher nicht als bloße Interpretation eines bereits gegebenen Osterglaubens durch nachträgliche Legendenbildung erklären, sondern sei historisch ernst zu nehmen. Auch Paulus setze in 1. Kor 15,3– 5 das Faktum des leeren Grabes und das Datum seiner Entdeckung am dritten Tage als unveräußerlich zur ursprünglichen Osterüberlieferung gehörig voraus. Ohne das unleugbare Phänomen des leeren Grabes, das auch von der Gegenüberlieferung vom Diebstahl des Leichnams Jesu durch die Jünger nicht bestritten, sondern angenommen worden sei, wäre die Ausrichtung der Osterbotschaft nachgerade in Jerusalem von Anfang an unmöglich gewesen. Die an die Position v. Campenhausens anschließende und sie affirmierende Auffassung Hengels blieb in der gegenwärtigen exegetischen Diskussion nicht unwidersprochen. Es ist im Gegenteil so, dass die Mehrheit der Exegeten von der als erwiesen erachteten Annahme ausgeht, dass für eine historische Erklärung der Entstehung des Osterglaubens nur die Erzählungen und Formeln in Frage kommen, die von Ostererfahrungen der Jünger berichten, die als Apokalypsis bzw. als Visionen verstanden worden, im Übrigen aber unter Gesichtspunkten historischer Kausalität unableitbar seien. Die Entscheidung über die Historizität des leeren Grabes wird zumeist nicht einmal als offen bezeichnet. Vielmehr gilt es als ausgemacht, „dass für die erste Christenheit die Erscheinungen des Auferstandenen nicht nur den historischen Ansatzpunkt bedeuteten, sondern auch den sachlichen Grund für ihre Verkündigung und Existenz“ (Bartsch, Auferstehungszeugnis, 17). Um auch diese Sicht nur an einem Beispiel genauer zu exemplifizieren: Von J. Becker wird der Annahme erweisbarer oder gar erwiesener Historizität der Auffindung des leeren Grabes entgegengehalten, dass aufgrund der Quellenlage von vorneherein keine seriöse Beantwortung der Frage zu erwarten sei, wie, wo und von wem Jesus begraben worden und welche Kenntnisse über Jesu Grab in der Urchristenheit vorhanden gewesen seien. Die Tradition vom leeren Grab und seiner Entdeckung könne auch in ihrer ältesten zugänglichen Gestalt bei Mk „keinen Anspruch auf Wiedergabe einer historischen Begebenheit vorzeigen“ (Becker, Auferstehung Jesu Christi, 249). Dies sei auch nicht Absicht, da es sich bei den Grabesgeschichten in Form und Inhalt um erzählte Christologie handle. „Der Ersterzähler gestaltete sie auf der Basis ihm bekannter Topik und Erzählstrukturen und tat damit handwerklich dasselbe, was etwa Mt in Mt 28,9–11.16–20 ... und Joh in Joh 20,11–18 ... nach ihm fortsetzen werden, nämlich mit Hilfe von typi-

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schen Erzählformen Ostererzählungen zu generieren. Historisch gesehen, beginnen die Osterereignisse also nicht mit der Auffindung des geöffneten und leeren Grabes, sondern mit der Selbstbekundung des Auferstandenen – ganz im Sinne von 1. Kor 15,3b-5.“ (Ebd.) Becker steht mit dieser Auffassung im Gegensatz sowohl zu Hengel als auch zu v. Campenhausen, von dessen Rekonstruktion der Osterereignisse und ihres Ablaufs er auch im Detail abweicht. Was die Lokalität der österlichen Erscheinungen anbelangt, so ist nach seinem Urteil ihr Hauptort Jerusalem. „Die galiläische Ausnahme bildet in jedem Fall Jakobus. Eine Ausnahme mit Damaskus stellt auch Paulus dar. Eine Wanderung der Jünger nach Galiläa vor der ersten Ostererfahrung hat es danach nicht gegeben (gegen Mk und Mt). So erhalten nachträglich Lk und Joh (ohne Joh 21) mit ihren geographischen Optionen bei den Erscheinungen unter Zurückstellung von Jakobus und Paulus eine Zustimmung.“ (Becker, 260) Dies hatte auch Graß anders gesehen. Zur temporalen Fixierung des Ostergeschehens bemerkt Becker, man habe offenbar zunächst „einen Abschluss der Osterzeit gar nicht in den Blick genommen. Paulus war wohl der erste, der dies tat. Der Fortgang der Geschichte förderte dann das Bewusstsein, die Zeit der Ostererscheinungen sei endgültig vergangen. Jetzt sei nur noch die Zeit des Geistes aktuell. Innerhalb des Orientierungsrahmens formulieren Lk und Joh ihre Konzepte. So entstehen im Urchristentum insgesamt drei Weisen, das Ostergeschehen mit einem begrenzten Zeitmaß zu versehen, 1. Kor 15, Lk 24–Apg 2 und Joh. Sie stellen je selbständige Entwürfe dar, die sich in ihrer eigenständigen Konzeptionalität gegenseitig ausschließen.“ (Becker, 263) Die aktuelle exegetische Diskussionslage ist in hohem Maße differenziert und uneinheitlich, und sie ist dies seit geraumer Zeit. Man fühlt sich von Ferne an Mk 9,10 erinnert, wobei es allerdings auch zu vermerken gilt, was ein Exeget so gesagt hat: „The evangelist clearly expected no one to be surprised that a representative group of Jesus’ disciples simply did not understand what Jesus could have meant by his ‘resurrection’.“ (Harvey, 69) Wie auch immer: Trotz vieler Unklarheiten und mancher Verwirrung lässt sich eine basale Übereinstimmung identifizieren, die zu benennen ist, bevor in die Detailanalyse zweier Texte eingetreten werden soll, von denen am ehesten Aufschlüsse über die Grundbestände christlicher Osterüberlieferung zu erwarten ist. „So kontrovers die Exegese und ihr Erscheinungsbild heute auch sind, so gibt es doch keine Zweifel daran, dass es keine Zeugen der Auferstehung gibt. Diese begegnen erst in der Form von zu Tode erschrockenen Wachhabenden bei Mt (28,2–4) und im Petrusevangelium. Was wir haben, sind nur Zeugen von Erscheinungen und Zeugen des leeren Grabes, die aufgrund dieser ihrer Zeugenschaft aussagen: Er ist auferstanden. Bezeichenderweise sagen ja die älteren Auferstehungsformeln auch nichts darüber, ob der Gesehene mit den Erscheinungsempfängern gesprochen und ihnen seine Auferstehung selbst angesagt hat. Die massiven Vorstellungen von der Körperlichkeit des Auferstandenen finden sich demgemäß erst in den spät entstandenen Schriften des NT.“ (Broer, Glaube, 54) Doch auch in ihnen wird nirgends von einer bloß physischen Wiederbelebung

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des Gekreuzigten zu einem fortgesetzten körperlichen Leben in der sinnlichen Welt gesprochen. Der nach Maßgabe üblicher Welterfahrung wahrnehmbare Körper des vorösterlichen Jesus bleibt entzogen, selbst wenn die Sinnenfälligkeit seiner österlichen Erscheinung betont wird. Dass es keine unmittelbaren Augenzeugen der Auferweckung Jesu bzw. des Auferstehungsvorgangs als solchen gibt und dass das Osterereignis kategorial anderes bewirkt als die Revitalisierung eines Leichnams zu fortgesetztem physischen Leben in befristeter Zeit und begrenzten Räumen, darf als exegetischer common sense gelten. Auch wird von niemandem bestritten, dass sich der Osterglaube von den Erscheinungen des Auferstandenen nicht trennen lässt. „Eindeutig ist, dass nach allen Berichten die Entdeckung des leeren Grabes keinen Glauben geweckt hat, sondern erst der auferstandene Jesus selbst, der den Jüngern entgegentrat.“ (Schweizer, 52) Ohne die Erscheinungen müsste das leere Grab ein bloßes Fragmal bleiben, selbst wenn seine Historizität fraglos erwiesen wäre. Herrscht soweit exegetisches Einvernehmen, dann lässt sich der fortwährende Streit auf das Problem konzentrieren, das in folgender Frage umschrieben ist: „Beruht ... das Kerygma von der Auferweckung Jesu von den Toten nur auf einem interpretierenden Schlussverfahren der Erscheinungszeugen: Weil er uns erschienen ist und sich vor uns so als lebend erwies (vgl. Apg 1,3), ist er folglich von den Toten auferstanden?“ (Mussner, 122f.) Eine Reihe von Exegeten bejaht diese Frage und erklärt den Auferweckungsbzw. Auferstehungsgedanken zu einem Interpretament, das aus einem Reflexionsurteil hervorgeht: Die Aussage von der Auferstehung Jesu ist „erschlossen worden, und zwar vom eigenen Glauben aus“ (Marxsen, 141; vgl. etwa auch Broer, Glaube, 54) Andere melden genau an dieser Stelle entschiedenen Widerspruch an, weil sie durch besagtes Rückschlussverfahren die klassische Form des Osterzeugnisses als einer perfektischen Realitätsaussage bedroht sehen, wobei nicht immer klar ist, ob bzw. in welcher Weise eine perfektische Realitätsaussage eine mit Mitteln historisch-kritischer Forschung zu verifizierende Aussage sein muss. U.a. auf dieses Problem ist bei der folgenden Auswertung zentraler neutestamentlicher Ostertexte die Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Als vorläufiges Zwischenresümee kann eine gewisse Einigkeit der Exegeten dahingegehend notiert werden, „dass der Glaube der Jünger an die Auferweckung Jesu durch die Erscheinungen des aus dem Tode Erweckten – wie auch immer diese zu begreifen und zu erklären sind – veranlasst wurde; umstritten jedoch ist, ob die Auferstehung Jesu notwendig ein leeres Grab impliziert und ob ein solches in Jerusalem am Ostermorgen gefunden und vielleicht sogar später gezeigt wurde, d.h.ob den Geschichten von der Auffindung des leeren Grabes, mit denen bei allen vier Evangelisten die Frohbotschaft von der Auferstehung Jesu beginnt, ein historisches Geschehen zugrunde liegt oder nicht.“ (Broer, Urgemeinde, 1) Die formgeschichtliche Erforschung der AuferVorpaulinisches Osterzeugnis stehungsberichte sucht diese nach Gattungen zu gruppieren, um auf diese Weise zusammen mit

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quellenkritischen Beobachtungen zu geschichtlichen Ergebnissen zu gelangen. Unterschieden werden u.a. katechismusartige Stücke, Erzählungen von Christophanien und Angelophanien, prä- und postdatierte sowie eigentliche Auferstehungsberichte und Schrift- und Weissagungsbeweise bezüglich des Ostergeschehens. Zu den sachlich gewichtigsten Osterzeugnissen des Neuen Testaments zählt zweifellos die katechismusartige Glaubens- und Bekenntnisformel, die Paulus Mitte der 50er Jahre des 1. Jahrhunderts nach Chr. in 1. Kor 15,3b-5 überliefert hat. Ihr genuiner Traditionsbestand geht wahrscheinlich auf die palästinische Urgemeinde zurück und gehört mithin der ältesten Phase urchristlicher Theologie an. Die Formel, die Paulus nach eigenem Bekunden (1. Kor 15,3) selbst empfangen und der Gemeinde bei ihrer Gründung überliefert hat, besteht aus zwei ihrerseits jeweils zweigliedrigen Parallelsätzen, die in einem kontrastierenden Entsprechungsverhältnis stehen und Tod und Auferstehung Jesu Christi als messianische Heilsereignisse proklamieren: „Christus ist gestorben für unsere Sünden nach den Schriften und ist begraben worden. Er ist auferweckt worden am dritten Tage nach den Schriften und ist Kephas erschienen, danach den Zwölfen.“ (Vgl. 1. Kor 15,3– 6) Zur Wendung, wonach Christus Kephas erschienen ist, muss ergänzt werden, dass ophthe als 3. Person Aorist Passiv von horao grammatikalisch auf dreierlei Weise übersetzt werden kann: „1. Passivisch: Er wurde von Kephas gesehen. 2. Deponential: Er ließ sich dem Kephas sehen, er zeigte sich ihm. 3. Theologisches Passiv: Er wurde durch Gott dem Kephas sichtbar gemacht, Gott hat ihn den Kephas sehen lassen.“ (Lüdemann, Auferstehung, 70) Wie die Tatsächlichkeit seines Todes im Begräbnis definitiv manifest ist, so wird die Faktizität der Auferweckung Jesu in seiner österlichen Erscheinung offenbar. In ihr zeigt sich der gekreuzigte Jesus als derjenige, welcher er ist: der Messias, der für unsere Sünden nach den Schriften gestorben und am dritten Tage nach den Schriften auferweckt worden ist. Als Wirkursache der Auferweckung und Voraussetzung der österlichen Erscheinungen kommt niemand anderes als Gott selbst in Frage. Der Gekreuzigte ist nicht von selbst aus dem Grabe erstanden, sondern von Gott zu unvergänglichem Leben erweckt worden. Aber das göttliche Handlungsgeschehen der Auferweckung belässt den Auferweckten nicht in der Passivität, sondern lässt ihn selbst aktiv werden und als auferstandenen Gekreuzigten und damit als jenen in Erscheinung treten, in dessen österlichem Sein der Gegensatz von Passion und Aktion, von Tod und Leben heilsam behoben ist. Christus ist zwar nicht unmittelbar von sich aus der, welcher er ist, sondern von Gott her, in welchem seine Identität gründet. Aber der göttliche Grund ist der Identität des auferweckten Gekreuzigten nicht äußerlich, sondern die implizite Voraussetzung seiner Auferstehungswirklichkeit, in der er sich als er selbst und als derjenige erweist, in dem der von ihm unterschiedene Gott väterlich offenbar ist. In der Manifestationsgestalt des von sich aus in Erscheinung tretenden auferstandenen Gekreuzigten ist mithin in der Weise der Differenzeinheit, auf welche die Heilsaussage von 1. Kor 15,3–5 in Form und Inhalt angelegt ist, Gott selbst offenbar, welcher den toten Jesus als seinen Christus erweckt hat.

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Was die soteriologischen Implikationen der Selbsterschließung Gottes im auferstandenen Gekreuzigten betrifft, so wird das nach den Schriften erfolgte Sterben als für unsere Sünden geschehen interpretiert. Diesem Interpretament korrespondiert in Kontrastparallele die Aussage von der Auferweckung nach den Schriften am dritten Tage. Die österliche Wirklichkeit, wie sie in der Erscheinung des von Gott Erweckten manifest ist, lässt mithin den Kreuzestod Jesu nicht vergangen sein, sondern offenbart ihn in seiner vollendeten Heilsbedeutung, wie sie in der Gestalt des auferstandenen Gekreuzigten beschlossen ist. Das Kreuz des erweckten und erstandenen Christus ist so das wirksame Heilszeichen der Versöhnung Gottes und des Menschen, welche das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders in österlicher Wahrnehmung der Passionsgeschichte nach Maßgabe der Schriften, also in Erfüllungsgewissheit der biblischen Verheißungen verkündet, die Gott seinem Volke gegeben hat. Der parallele Bezug der präpositionalen Wendung „nach den Schriften“ auf das Auferweckungsgeschehen unterstreicht den untrennbaren Zusammenhang von Kreuz und Auferstehung, dessen Einheit freilich allein in Christus und in dem in ihm offenbaren Gott gründet, wohingegen ansonsten die Differenz von Sünde und Tod einerseits und göttlichem Leben andererseits als nichtsynthetisierbar und unaufhebbar zu gelten hat. Dies bestätigen auf ihre Weise auch mit 1. Kor 15,3b-5 vergleichbare, in ihrem Grundbestand ebenfalls sehr altes Traditionsgut enthaltende Kontrastformeln, wie sie etwa in den Petruspredigten der Apostelgeschichte begegnen (Apg 2,23f.; 3,15; 4,10; 5,30; 10,39f.): dem heillosen Handeln der Menschen, deren Schuld Jesus ans Kreuz brachte und in den höllischen Abgrund des Todes sinken ließ, wird dort nicht minder pointiert als bei Paulus die göttlich gewirkte Osterwirklichkeit kontrastiert, welche allein den durch die Sünde aufgerichteten Gott-Mensch-Gegensatz heilsam zu beheben vermag, um in der Erscheinung Jesu Christi offenbar werden zu lassen, dass dieser wegen unserer Verfehlungen dahingegeben und wegen unserer Gerechtmachung auferweckt wurde (vgl. Röm 4,25). Besondere exegetische Aufmerksamkeit hat aus naheliegenden Gründen die Wendung in 1. Kor Am dritten Tage 15,4b auf sich gezogen, wonach Jesus am dritten Tage gemäß der Schrift auferweckt wurde. Umstritten ist, wie die Formel „am dritten Tag“ zu verstehen und in ihrem Verhältnis zu derjenigen „gemäß der Schrift“ zu bestimmen ist. Soll der Schriftbeweis für die Auferstehung speziell am dritten Tage oder lediglich generell erbracht werden? In letzterem Fall wären beide Wendungen gleichzuordnen und je für sich auf die Aussage zu beziehen, dass Jesus auferweckt worden sei. Für den anderen Fall ergibt sich die Frage, an welche konkreten Stellen zu denken ist, aus denen sich ein Schriftbeweis für die Wendung „am dritten Tage“ ergeben könnte. Zahlreiche mögliche Kandidaten sind von den Exegeten hierfür in Vorschlag gebracht worden. Zum einen wurde unter Verweis auf Mt 12,40 ein Bezug zu Jona 1,7 und zu den drei Tagen und Nächten hergestellt, die der Prophet im Bauch des Fisches zugebracht hatte. Angeführt hat man zum zweiten die Gottesbotschaft Jesajas in 2 Kön 10,5, derzufolge dem König Hiskia geboten wird,

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nach Erhörung seiner tränenereichen Bitten und erfolgter Genesung am dritten Tage hinaufzugehen zum Hause des Herrn. Von einigen Forschern wurde ferner mit der Möglichkeit gerechnet, die frühe Christenheit habe in der Gesetzesvorschrift Lev 23,4–21 einen Schriftbeleg für die Auferstehung ihres Herrn am dritten Tage gefunden. Weitaus größere Zustimmung fand dagegen die These, wonach der Schriftbeleg für die Wendung in 1. Kor 15,4b durch die Rückkehraufforderung an das Volk und die Verheißung in Hos 6,1f. gegeben sei, wonach Gott gerissene Wunden heilen und verbinden werde: „Nach zwei Tagen gibt er uns das Leben zurück, am dritten Tag richtet er uns wieder auf, und wir leben vor seinem Angesicht.“ Für die Annahme, Hosea 6,2 habe als Beweistext für 1. Kor 15,4 und als Schriftgrundlage für die in der Wendung „am dritten Tag“ umschriebene Tradition gedient, wurde gelegentlich angeführt, die Rabbinen hätten die Stelle zumindest im 3., wahrscheinlich aber bereits im 1. nachchristlichen Jahrhundert vorrangig im Sinne der Auferstehung interpretiert und auch durch ihre sonstige Exegese das Drei-Tage-Motiv nahegelegt. Doch bleiben die Belege hierfür wie das Verhältnis des neutestamentlichen Schrifttums zur rabbinischen Literatur überhaupt unsicher. Fest steht hingegen, dass Hos 6,2 weder bei Paulus noch im sonstigen Neuen Testament je ausdrücklich zitiert wird. Vergleichbare Vorbehalte lassen sich gegen die anderen Versuche geltend machen, eine geeignete Schriftquelle für die Wendung „am dritten Tage“ in 1. Kor 15,4b zu finden. Die Annahme, sie sei auf eine spezielle Stelle der Schrift bezogen bzw. könne aus dieser hergeleitet und als interpretatives Konstrukt erwiesen werden, bleibt daher fragwürdig. Insofern gewinnt der Vorschlag an Plausibilität, die Formel „gemäß der Schrift“ in 1. Kor 15,4b sei auf die generelle Aussage der Auferweckung Jesu von den Toten und nicht auf die spezielle Aussage zu beziehen, wonach diese am dritten Tage stattgefunden habe. Lässt sich die Angabe, wonach die Auferweckung Jesu am dritten Tag erfolgt sei, nicht überzeugend aus dem Alten Testament herleiten, weil ein eindeutiger Bezugstext fehlt, so bleibt zu fragen, aus welchen anderweitigen Gründen die chronologische Notiz im apostolischen Kerygma aufgenommen worden sein könnte. Verschiedene Antworten auf diese Frage sind vorgeschlagen worden: „(1) Man hielt Parallelen in den Mysterienreligionen für bedeutsam, denn man vermutete, dass diese eine ursprüngliche Beziehung zum werdenden Christentum hatten. (2) In Übereinstimmung mit dem Denken vieler antiker Menschen dachten auch die Juden, die Seele schwebe drei Tage lang in der Nähe des Leichnams und verschwinde dann. (3) Man glaubte, die Verwesung setze am vierten Tag nach dem Tod ein (vgl. Joh 11,39), und weil Gott durch den Psalmisten (16,10) verheißen hatte, er werde seine Heiligen die Verwesung nicht schauen lassen, leitete die frühe Kirche daraus ab, dass sich die Auferstehung am dritten Tag ereignet haben musste.“ (Metzger, 131) Als weitere mögliche Antwort wurde erwogen, die chronologische Dreitagenotiz wolle analog zur altorientalischen Vorstellung, wonach „drei Tage als vorübergehendes Wohnen gelten, während der vierte Tag einen ständigen Wohnsitz bedeutet“ (Metzger, 132), unterstreichen und versichern, dass Jesus bloß ein

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Besucher im Hause des Todes und kein Dauerbewohner gewesen sei. Ob durch eine dieser Erklärungen das bestehende Problem plausibel zu beheben ist, darf bezweifelt werden. Zusammenfassend ergibt sich folgender Befund: Dass die Auferweckung gemäß 1. Kor 15,4b „am dritten Tage“ nach Jesu Tod erfolgte, entspricht den Ostererzählungen der Evangelien vom leeren Grab, deren älteste Form in Mk 16,1–8 vorliegt. Abwegig ist der gelegentlich unternommene Versuch, die in der urchristlichen Überlieferung als fixe Formel begegnende Wendung (vgl. Apg 10,40) auf die Aussage in Hosea 6,2 zurückzuführen, derzufolge Gott die von ihm Verwundeten am dritten Tage wieder aufrichten wird. Denn ein solcher Bezug ist im ganzen urchristlichen Schrifttum nirgends gegeben und in 1. Kor 15,4 erkennbar nicht intendiert. Auch aus dem Mt 12,40 vorgenommenen Vergleich der Auferstehung Jesu mit dem Geschick des Propheten Jona, der drei Tage und drei Nächte im Bauch eines Riesenfisches hatte zubringen müssen (Jon 2,1), bis er auf Befehl des Herrn aus dem höllischen Schlund freikam (Jon 2,11), lässt sich die Wendung nicht stimmig erklären. Da sonstige plausible Erklärungen nicht zur Verfügung stehen, wird man die vorpaulinische Formel von der Auferweckung am dritten Tage in 1. Kor 15,4 primär als eine Aussage zu deuten haben, die das Osterereignis als ein Geschehen in der Zeit und als einen zeitlich identifizierbaren Vorgang zu verstehen gibt, wie das auch in Mt 16,1ff. und den entsprechenden Ostererzählungen der anderen Evangelien der Fall ist. Diese Deutung wird durch den Folgevers 1. Kor Geschichtsbezogenes 15,5 bestätigt, demgemäß die Nennung der ZeuGeschehen gen der österlichen Erscheinung Jesu unter dem Gesichtspunkt einer zeitlichen Sequenz geschieht: zuerst gibt sich der auferstandene Gekreuzigte dem Kephas, danach den Zwölfen zu erkennen. Dies entspricht, wie gesagt, den Ostererzählungen der Evangelien, wo sowohl die Auffindung des leeren Grabes zeitlich terminiert und vom Zeitpunkt des Todes unterschieden als auch die österlichen Erscheinungen als Ereignisse vorgestellt werden, die in der Zeit und in einer bestimmten zeitlichen Frist geschehen sind. Der Fortgang des paulinischen Erscheinungszeugnisses in 1. Kor 15 unterstreicht dies, wenn es in den Versen 6–8 heißt: „Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln. Als letztem von allen erschien er auch mir, dem Unerwarteten, der ‚Missgeburt‘.“ Wie immer man diese Verse im einzelnen historisch zu beurteilen hat, unbestreitbar ist, dass sie das österliche Inerscheinungtreten des auferstandenen Gekreuzigten als einen Vorgang mit einem Bezug zu Geschichte und geschichtlicher Zeit bezeugen, deren Befristung durch die in Gestalt einer späten österlichen Erscheinung erfolgte Berufung des Paulus nicht in Zweifel gezogen, sondern im Sinne einer Ausnahme von der Regel bekräftigt wird. Die Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit der Erscheinungen des Auferstandenen wird ferner durch die Tatsache ihrer Mehrzahl und durch die Benenn- und Bezifferbarkeit ihrer Empfänger unterstrichen: die einem engeren Kreis Zugehörigen

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werden entweder namentlich oder durch vergleichbare Hinweise klar identifiziert, die mehr als fünfhundert Brüder des weiten Kreises als reale Personen vorausgesetzt, die zum Teil noch als lebende Zeugen befragbar sind. Hinzuzufügen ist, dass das Ostergeschehen nach Maßgabe der neutestamentlichen Quellen nicht nur temporal identifizierbar und auf eine bestimmte Anzahl real existierender Personen bezogen, sondern auch mit lokalisierbaren Örtlichkeiten untrennbar verbunden ist. Das gilt für die Erscheinungen, ob sie nun in Galiläa oder in Jerusalem stattfanden, und das gilt auch, wenngleich in einer Weise, die zu historischen Fragen Anlass gibt, im Hinblick auf die Begräbnisstätte Jesu und die Erzählungen vom leergefundenen Grab. Vom Begräbnis Jesu, das auch in der Formeltradition in 1. Kor 15,4 erwähnt wird, berichtet die frühchristliche Überlieferung auf zweierlei Weise. Nach Mk 15,42–47 par wurde die Grablegung von Joseph von Arimathäa, gemäß Apg 13,29 von Juden vorgenommen, was man auch in Joh 19,31–37 angedeutet finden kann; zu vergleichen ist ferner Joh 19,38–42. Wie sich beide Versionen überlieferungsgeschichtlich und sachlich zueinander verhalten, ist in der Forschung strittig, was für alle mit dem Grab Jesu zusammenhängenden historischen Fragen folgenreich ist. Haben die jüdischen Behörden den Leichnam Jesu in eine anonyme Grabstätte für Verbrecher geworfen, wie manche Exegeten meinen, ist die frühchristliche Kenntnis von deren Ort weit weniger wahrscheinlich als im Fall einer förmlichen Bestattung. Die Stelle 1. Kor 15,4 hilft beim Entscheid dieser Streitfrage nicht weiter. Auch für die Beurteilung der Tradition vom leeren Grab ist sie kaum ergiebig, da man nicht weiß, ob diese stillschweigend vorausgesetzt wird oder nicht. Was 1. Kor 15,3–5 an historischen Tatsachen eindeutig in Anschlag bringt, ist das Faktum von Jesu Kreuzestod sowie seiner Bestattung, welche die Realität des Todes Jesu unterstreicht. Die Überlieferung vom leeren Grab und seiner Entdeckung findet sich in Mk 16,1–8 am ur- Die Grabesüberlieferung sprünglichen Ende des ältesten Evangeliums. Auch alle folgenden neutestamentlichen Evangelien (Mt 28,1–10; Lk 23,54– 24,11; Joh 20,1f.) berichten, dass Jesu Grab leer gewesen sei. Die Beurteilung der Historizität dieser Tradition ist kontrovers und hat bisher zu keinem definitiven Resultat, sondern eher zu dem Ergebnis geführt, dass eine endgültige Entscheidung nicht herbeizuführen ist. „Mit historisch-kritischen Methoden lässt sich das leere Grab weder beweisen noch widerlegen.“ (Theißen/Merz, 438) Zwei Hauptrichtungen, die in Opposition zueinander stehen, begegnen, um es zu wiederholen, in der aktuellen Forschung. Von der einen Seite wird die Geschichte vom leeren Grab für eine unhistorische Legende erachtet. Mit dem Faktum des leeren Grabes wird dabei in der Regel auch die Annahme bestritten, dass die Urgemeinde eine Kenntnis des genauen Bestattungsortes Jesu gehabt habe. Dies ist insofern stimmig, als unter der Voraussetzung urchristlicher Kenntnis des Grablegungsortes Jesu schwer vorstellbar ist, dass die Osterverkündigung in Jerusalem und Judäa ohne Stellungnahme zu Jesu Grab und dem in ihm befindlichen Leichnam erfolgt

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sei. Von der anderen Seite wird ein historischer Kerngehalt der Tradition vom leeren Grab für möglich gehalten und die Existenz desselben affirmiert. Diese Position tritt in hauptsächlich zwei Varianten auf: „Der durch Ostererscheinungen hervorgerufene Auferstehungsglaube führte zur Nachfrage nach dem Grab Jesu. Ein in der Nähe von Golgatha gelegenes ungenutztes Grab wurde sekundär als Grab Jesu gedeutet – wo Jesus wirklich begraben war, wusste niemand. An dieses Grab knüpfte sich dann die neutestamentliche Grabesüberlieferung. Möglicherweise wusste man jedoch um Jesu Grab. Joseph von Arimathia hatte ihn in einem (vielleicht seinem eigenen) ungenutzten Grab bestattet. Die Frauen fanden dies Grab am Ostermorgen leer vor. Sie schwiegen, weil sie nicht des Grabraubes beschuldigt weden wollten. Erst die Nachricht von den Ostererscheinungen gab dem rätselhaften ‚leeren Grab‘ eine Deutung. Diese Deutung wurde dann dem ‚Engel‘ am Grab in den Mund gelegt.“ (Theißen/Merz, 438f.) Der Streit der Exegeten über die Grablegungstradition im Allgemeinen und die Überlieferung vom leeren Grab im Besonderen ist bisher nicht entschieden, und es ist auch nicht zu erwarten, dass er in absehbarer Zukunft entschieden werden wird. Hingegen besteht weitgehende Einigkeit, dass die Überlieferungen vom leeren Grab in ihrer österlichen Bedeutung nur von den Erscheinungstraditionen her eindeutig erschlossen werden können. Auch wenn die Christen in Jerusalem in den 40er und 50er Jahren ein leeres Grab vorweisen konnten, so ist dies kein Beweis für die Auferstehung, deren Wirklichkeit nicht ohne den Selbsterweis des österlichen Christus zu denken ist, der mit dem Gekreuzigten Jesus ein und derselbe ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist auf die Bedeutung der neutestamentlichen Geschichte vom leeren Grab und ihre Implikationen noch einmal eigens zu reflektieren, um zu einem differenzierten systematischen Urteil zu gelangen. Systematische und historische Urteilsbildung lassen sich nicht trennen, sie sind aber zumindest in der Weise zu unterscheiden, dass es zu den Aufgaben der Systematik gehört, ein historisches Urteil eigens auf seine Voraussetzungen und Konsequenzen hin zu befragen. Gesetzt, alle historisch zugänglichen Informationen deuten darauf hin, dass Jesu Grab bekannt und tatsächlich leer war, so ist damit, da ein Grab aus vielerlei Gründen leer sein kann, weder die äußere Faktizität der Auferstehung eindeutig erwiesen noch gar der innere Grund ihres Vollzugs erfasst. Letzteres wird auch von dezidierten Verteidigern der Historizität der Auferstehung eingeräumt, etwa wenn gesagt wird: „The event of the resurrection occurs within human history, but the cause of the resurrection is outside human history.“ (Craig, 418) Was hinwiederum die historische Tatsächlichkeit der Auferstehung betrifft, so sind die möglichen Zweifel an ihr auch durch den Hinweis nicht zu widerlegen, dass das christliche Osterbekenntnis den Zeitgenossen ohne Annahme der Leere des Grabes Jesu wenig plausibel, ja in sich widersprüchlich erschienen wäre. Kurzum: Mehr als ein deutungsbedürftiges Hinweiszeichen auf die österliche Wirklichkeit kann das leere Grab Jesu auch für den Fall nicht sein, dass sich seine faktische Existenz historisch erweisen lässt. Doch sind im Gegenzug Erinnerungen auch an die Adresse derer zu richten,

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welche die Überlieferungen vom leeren Grab „als freie Erzeugnisse der Legende der zweiten christlichen Generation“ (Hirsch, 27) erachten. Zum einen ist darauf hinzuweisen, dass einem noch so ungewöhnlichen Sachverhalt oder Ereignis Historizität nicht generell oder allein deshalb bestritten werden darf, weil alles als historisch Behauptete notwendigerweise analog oder gleichartig zu gewohntem Geschehen zu sein hätte; das Postulat prinzipieller Gleichartigkeit alles Geschehens und die Forderung seiner grundsätzlichen Analogizität ist zu relativieren. Selbst aber für den Fall, dass die Erscheinungsgeschichten „in ihrer ursprünglichen Gestalt ganz unabhängig von jeder Beziehung zum Grabe Jesu oder gar dessen Leerfinden sind, dass vielmehr diese Beziehung erst nachträglich an sie herangewachsen ist“ (Hirsch, 26f.), so ist damit systematisch keineswegs entschieden, dass ihnen die Überlieferungen vom leeren Grab der Sache nach, nämlich um der Einsicht in die Jesus-Christus-Identität willen, nicht konstitutiv zugehören müssen. Als Indiz der Identität des Auferstandenen mit dem Gekreuzigten und als Korrelat der Leiblich- Zur Leerheit des Grabes keit des österlichen Christus, der Jesus ist und kein anderer, sind die Überlieferungen vom leeren Grab den Erscheinungstraditionen nicht nur äußerlich verbunden. Ohne mit dem Anspruch eines Beweises für die Wirklichkeit der Auferstehung versehen werden zu können, ist die Vorstellung vom leeren Grab für das christliche Verständnis der Auferstehungsrealität insofern bedeutsam, als die Grabesleere die Funktion eines Zeichen einerseits für die Abwesenheit und das durch den Tod erfolgte Entzogensein der Daseinsgestalt Jesu in ihrer sinnlichen Unmittelbarkeit und andererseits dafür hat, dass der Auferstandene mit dem gekreuzigten Jesus eins ist. Er ist selbst Jesus und zwar nicht nur auf lediglich spirituelle, sondern auf leibliche Weise. Zwar ist die Leiblichkeit des auferstandenen Jesus von anderer Art als seine irdische. Aber die das Leibhafte umfassende und integrierende personale Identität Jesu Christi wird dadurch nicht in Abrede gestellt. Die Leerstelle des Grabes ist ein Hinweiszeichen hierfür. Sie ist das Negativ dessen, was in den Ostererscheinungen zur Darstellung kommt. Mag auch mit kontingenten Restbeständen des körperlichen Daseins Jesu in der äußeren sinnlichen Welt zu rechnen sein: sie sind keiner weiteren Erinnerung wert und können in Anbetracht Osterns getrost vergessen werden, weil Jesu Leib über alle Grenzen des bloß Körperlichen hinaus verherrlicht und der Verwesung entnommen ist. Die Vorstellung des leeren Grabes hat eine purifizierende Funktion, ohne welche die Ostererscheinungen nicht in der ihnen eigenen lebendigen Reinheit wahrgenommen werden können. Der österliche Leib des auferstandenen Gekreuzigten ist rein und ohne alle Spuren körperlicher Verwesung. Von einem Kult des Leichnams Jesu und einer Verehrung möglicher körperlicher Reliquien ihres Herrn weiß das Christentum nichts und will das Christentum nichts wissen. Die Grabstätte Jesu ist, wenn überhaupt, von Interesse nur als leere und wegen ihrer Leere. Mag auch Mk 16,1–8, was keineswegs unzweifelhaft ist, „als Quelle für die Entdeckung des leeren Grabes ohne historischen Wert“ (Lüdemann, Zwischen Kar-

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freitag und Ostern, 26) sein, so steht doch das erste Evangelium als ganzes dafür, dass der österliche Herr leibhaftig dem Grabe entstiegen und als der Christus Jesus lebendig bei den Seinen ist. Damit ist nicht gesagt, dass das Markusevangelium konzeptionell darauf angelegt sei, die sinnliche Abwesenheit des Irdischen kerygmatheologisch zu kompensieren (vgl. du Toit); dies trifft auch für die anderen Evangelien und sonstigen neutestamentlichen Schriften nicht zu. Weder ist der Gekreuzigte direkt ins Kerygma hinein auferstanden noch ist der Leib des Auferstandenen unmittelbar mit dem seiner Kirche identisch. Die Identität, die das kirchliche Kerygma bezeugt, ist vielmehr diejenige dessen, der sich in seinen österlichen Erscheinungen als der einige Christus Jesus bezeugt hat, um dies unter Bezug auf dieses Ursprungszeugnis in der Kraft des Geistes auch fernerhin zu tun. Dem Positiv, das die Epiphanie- und im Anschluss an sie die Pfingsttraditionen entwickeln, entspricht das Negativ der Überlieferungen vom leeren Grab, das sich nicht von ungefähr mit ihm verbindet. Es ist darüber diskutiert worden, ob die Behauptung der Auferweckung Jesu als falsifiziert gelten müsste, wenn das Grab, in das man seinen Leichnam legte, nicht leer gewesen wäre. „Ist Jesus nur auferstanden, wenn das Grab leer ist?“ (Dalferth, 294; bei D. kursiv) Eine Reihe von Theologen hat diese Frage dezidiert verneint und zwar aus theologischen Gründen. Wie immer es sich mit der Historizität und Existenzannahme des leeren Grabes Jesu verhalten mag: auch für den Fall seiner Faktizität sei ein leeres Grab im Umfeld des Kreuzes Jesu keine notwendige Bedingung der Auferstehungswirklichkeit, deren Tatsächlichkeit die christliche Osterbotschaft bezeuge. Begründet wird diese These nicht nur mit dem Hinweis, dass in Bezug auf die Historizität des leeren Grabes nur Wahrscheinlichkeitsurteile möglich seien, welche die gegebene Deutungsambivalenz nicht aufzuheben und Interpretationen wie etwa die Betrugstheorie, die den Osterzeugnissen entgegenliefen, keineswegs zu beseitigen in der Lage seien. Wichtiger noch ist die daran anschließende Feststellung, wonach durch die Voraussetzung, die Leere des Grabes Jesu sei die conditio sine qua non der Tatsächlichkeit seiner Auferweckung und seiner österlichen Wirklichkeit, einem empirizistischen Missverständnis Vorschub geleistet werde, das den Auferstandenen als eine sinnliche Welterscheinung gleich dem vorösterlichen Jesus in seiner historischen Fassbarkeit vorstellig mache, wodurch der Tod als Ende seines irdischen Lebens unter beschränkten Raumbedingungen und unter Bedingungen befristeter Zeit verharmlost und in seiner Faktizität unterbestimmt werde. Daran schließt das weitere, wohl wichtigste Argument an, demzufolge zusammen mit Sterblichkeit auch Verweslichkeit ein Kennzeichen leibhaften Daseins des Menschen in der Welt sei. Jesu wirkliches Menschsein schließe demnach wenn nicht notwendigerweise die Tatsächlichkeit, so jedenfalls die Möglichkeit ein, dass der irdische Körper des Gekreuzigten unbeschadet seiner Auferweckung zu österlicher Herrlichkeit im Grabe geblieben und verwest sei. Christologisch spreche nichts gegen einen Anteil Jesu am menschlichen Verwesungsschicksal. Durch Soteriologie und Eschatologie würde solche Partizipation sogar nahegelegt. Sei doch Jesu Tod für uns heilsam nur, wenn er tatsächlich unse-

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ren Tod samt all seinen Implikationen wie körperliches Gewesensein und Verwesung auf sich genommen habe. Auch in eschatologischer Hinsicht müsse jeder doketische Schein der Christologie vermieden werden, da sonst den im Glauben an Jesus Christus Sterbenden, deren Tod die Verwesung ihrer Körper zwangsläufig nach sich ziehe, die Hoffnung auf leibliche Auferstehung genommen werde. „Würde das Bekenntnis von Jesu Auferweckung durch Gott unmöglich, wenn Jesu Grab voll gewesen wäre, könnten wir unsere Hoffnung auf eine Auferweckung in Gottes Leben angesichts unserer vollen Gräber nicht auf Jesus gründen.“ (Dalferth, 296 Anm. 47) Kurzum: Dass das Grab leer war, belegt nicht die Auferweckung Jesu, und dass er „auferweckt wurde, muss nicht bedeuten, dass sein irdischer Leib nicht mehr im Grab sein konnte“ (Dalferth, 293f.). Gegen diese, gelegentlich radikalisierte These (Lüdemann, Zwischen Karfreitag und Ostern, 27: „Die Tatsachenaussage der Verwesung Jesu ist für mich Ausgangspunkt aller weiteren Beschäftigung mit den Fragen im Umkreis seiner ‚Auferstehung‘.“) ist eingewendet worden, dass die österliche Aussage „Jesus lebt“ zwar die Wirklichkeit seines Sterbens und die Faktizität seines Todes zur Voraussetzung habe, ohne sie zu revozieren, dass sie aber in einem kontradiktorischen Widerspruch zu der Vorstellung stehe, er sei weiterhin tot und der Verwesung anheim gefallen. Statt die beiden Sätze „Jesus ist tot“ und „Jesus lebt“ als gleichzeitig gültig zu behaupten, sei es vom biblischen Zeugnis her geboten, das österliche Leben Jesu als vollzogenen Sieg über seinen Tod zu denken, durch den zwar nicht dessen Faktizität beseitigt, wohl aber seine Macht gebrochen sei, das Leben des Irdischen der Vergangenheit definitiven Gewesenseins und seinen Leib der Verwesung anheim fallen zu lassen. Weder habe Jesus seinen Tod nur zum Schein erlitten und physisch überlebt, noch sei er so ins irdische Leben zurückgekehrt, dass seine österliche Wirklichkeit eine lineare Fortsetzung seines irdischen Lebens im Sinne ununterbrochener und ungebrochener Kontinuität darstellen würde: gleichwohl habe Jesus als der österliche Christus den Tod dergestalt hinter sich gelassen, dass er als Jesus ewig lebe und nicht lediglich als derjenige verewigt werde bei Gott, welcher gelebt habe, nun aber tot sei. Um dies deutlich werden zu lassen, dürfe nicht von der spezifischen Leiblichkeit der Ostererscheinungen abstrahiert werden, die keine formlosen Phänomene, sondern Epiphanien der Jesusgestalt gewesen seien. Die Annahme einer erfolgten leiblichen Auferstehung Jesu von den Toten sei demgemäß nicht nur ein sekundäres Reflexionskonstrukt und nachgängiges Interpretament der Erscheinungstraditionen, sondern deren konstitutives Element, welches der Sache nach unmittelbar mit ihnen verbunden sei, auch wenn sich die reflexive Vermittlung dieser Einsicht erst allmählich und auf differenzierte Weise eingestellt habe. Entsprechendes gelte für die Erzählungen vom leeren Grab, in denen die Leiblichkeit des den Seinen erscheinenden Auferstandenen via negationis thematisch würde. „Sie illustrieren die Entzogenheit des irdischen Leibes Jesu und verhindern dadurch ein doketisches Auseinandertreten zwischen dem verwesenden Körper Jesu einerseits und seinem dann rein spirituell zu verstehenden Fort- oder Neubestehen andererseits. Insofern ist die Beantwortung der Frage ‚Ver-

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west oder nicht?‘ kein theologisches Adiaphoron. Es gibt vielmehr gute Gründe zu behaupten: Das Grab muß leer gewesen sein.“ (Oberdorfer, 177) Der Streit um das leere Grab ist mehr als eine Österlicher Christus und Kontroverse um die historische Glaubwürdigkeit gekreuzigter Jesus der Osterzeugnisse, obwohl er auch dies ist. Er ist zugleich Medium der Reflexion von Problemen, die den Gesamtzusammenhang der Christologie und ihrer Organisation und inbesondere das Problem betreffen, wie das österliche Grundbekenntnis, wonach Jesus der Christus ist, und die personale Identität Jesu Christi als des auferstandenen Gekreuzigten zu verstehen seien. Dabei wird eine Lösung des Problems nicht selten durch abstrakte Alternativen verstellt, welche die gegnerischen Lager verbinden, sosehr sie ansonsten geschieden sind. Dazu gehört die Annahme, dass Jesus entweder physisch und in unmittelbar sinnlich wahrnehmbarer Weise wiederbelebt worden sei oder lediglich im Geiste derjenigen, die an ihn glaubten. Diese Alternative ist falsch gestellt und „kann einem Sachverhalt nicht gerecht werden, der nur als zugleich innergeschichtlich und ‚endgeschichtlich‘ erschließbar ist und zu dessen Verständnishorizont es wesentlich gehört, dass er nur von Gott selbst herbeigeführt werden kann“ (Oberdorfer, 180). Die Kontinuität, die zwischen dem irdischen Jesus und dem österlichen Christus sowie der ihn bezeugenden Urchristenheit waltet, ist kein Datum von chronologischer oder sonstiger Bruchlosigkeit. Dagegen steht der Kreuzestod Jesu. Doch gilt ebenso, dass die Ostererscheinungen Selbstvergegenwärtigungen des gekreuzigten Jesus in der ganzen Lebensfülle seiner Person darstellen. „Nicht am vorösterlichen historischen Jesus vorbei und in doketischer Weise über ihn hinaus bringt sich der Auferstandene und sein nachösterliches Leben zur Geltung. In neuer, schöpferischer und neuschöpferischer Weise wird dieses gewaltsam beendete Leben durch Gottes Wirken zu segensreicher ewiger Geltung gebracht.“ (Welker, 328) Deshalb hat die Urchristenheit „aufgrund jenes Ereignisses, das Martin Kähler das allein Gewisse in der Geschichte Jesu genannt hat, der Auferstehung, ein Interesse an der Identität des erschienenen Christus mit dem gekreuzigten Jesus gehabt“ (Bartsch, Jesus, 11), und dieses Interesses hat in der gewissen Erkenntnis selbst ihren Grund, die der auferstandene Gekreuzigte in der Kraft des göttlichen Geistes von seiner Wirklichkeit erschließt. Zu einem theologischen Verständnis der Osterwirklichkeit gehört die Einsicht, dass Gott sie begründet und die Identität Jesu Christi als des auferstandenen Gekreuzigten gestiftet hat. Der auferstandene Christus ist nicht aufgrund körperlicher, unmittelbar sinnlich fassbarer Kontinuitäten derselbe wie der gekreuzigte Jesus von Nazareth, sondern durch Gottes schöpferisches Auferweckungshandeln. Gleichwohl ist es problematisch, daraus zu folgern, die Identität des auferstandenen Gekreuzigten hänge nicht so am irdischen Leib Jesu, dass dessen Verbleib im Grabe und die schließlich erfolgte Verwesung christologisch unerheblich sei. Diese Folgerung findet sich im neutestamentlichen Zeugnis nicht nur nicht, sondern sie wird faktisch verstellt. Zwar überließ das Neue Testament viele Aspekte der körperlichen Existenz des irdischen Jesus getrost dem Vergessen und insofern dem Gewe-

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sensein, ja, wenn man so will, der Verwesung. Doch geschieht dies auf stillschweigende Weise und ohne eigens thematisiert zu werden, eben weil es unter österlichen Bedingungen nicht der Rede wert ist. Vorstellungshaft wird diese von Sprachlosigkeit bestimmte Leerstelle durch die Erzählungen vom leeren Grab besetzt, die Nachfragen nach dem Verbleib des Leichnams Jesu definitiv unterbinden: „er ist nicht hier.“ (Mk 16,6) Die positive Kehrseite dazu ist das Zeugnis von der Auferstehung, die den Leib Jesu dergestalt umfasst, dass nach verbliebenen Körperresten und Reliquien zu suchen als Verkennung der österlichen Wirklichkeit gelten müsste. Das neutestamentliche Zeugnis vom leeren Grab ist ein äußeres Verweiszeichen, das auf den inneren Sinn des Osterereignisses hindeutet, der in den Erscheinungen des auferstandenen Gekreuzigten beschlossen liegt. Als äußeres Zeichen für die Auferstehung steht es für historische Rückfragen offen, die auf durch leibhafte Sinnlichkeit vermittelte Welterfahrungen ausgerichtet sind. Doch erschöpft sich die Bedeutung des neutestamentlichen Zeugnisses vom leeren Grab nicht in demjenigen, was Gegenstand historischer Rückfrage im gekennzeichneten Sinn und auf sinnliche Weise zugängliches Objekt menschlicher Welterfahrung sein kann, sei diese von unmittelbarer oder durch Traditionen vermittelter Art. Zwar kann und darf im Horizont von Überlegungen zur Historizität der Auferstehung nach dem historischen Faktum des leeren Grabes gefragt werden. Ja, diese Frage muss in gewisser Weise mit förmlicher Notwendigkeit gestellt werden, wenn anders der lebendige Christus nicht bei den Toten gesucht werden soll. Gleichwohl ermöglicht die historische Rückfrage nach der Faktizität des leeren Grabes nur Wahrscheinlichkeitsurteile, welche die österliche Gewissheit nicht zu begründen vermögen. Dazu bedarf es der Erscheinungen des österlichen Herrn, in denen dieser die Wirklichkeit seiner Auferstehung gleichsam von innen heraus als göttliches Offenbarungsereignis erschließt. Das Erschließungsgeschehen, wie es in den österlichen Erscheinungen statthat, macht die Geschichte vom leeren Grab nicht überflüssig, sondern setzt sie in bestimmter Weise als conditio sine qua non seiner Geltung voraus, indem sie die abstrakt durchaus denkbare Möglichkeit, Gott habe den gestorbenen Jesus mit dem Tode auch der definitiven Verwesung überlassen und in Form einer creatio ex nihilo zu neuer Leiblichkeit erweckt, bestimmt verneint, damit die Auferweckung Jesu zugleich als Jesu Auferstehung gedacht werden kann. Scheint an sich und bei abstrakter Betrachtung nichts dagegen zu sprechen, die Auferstehung Jesu auch für den Fall als möglich zu erachten, dass sein Grab nicht als leer, sondern als Verwesungsstätte seines irdischen Leibes zu erinnern sei, so schließt die konkrete Schau des Auferstandenen, wie sie den Osterzeugen zuteil wurde, die Vorstellung des verwesenden oder verwesten Jesus konkret aus. Die Leerstelle des Grabes gehört unverzichtbar zum österlichen Vorstellungsgehalt, wie er in den österlichen Erscheinungen ausgeprägt ist. Dies bedeutet nicht, dass Jesus den Tod und den körperlichen Verfall, der durch ihn bewirkt wird, nicht wahrhaft und gänzlich erlitten hätte. Gewesensein bis hin zum restlosen körperli-

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chen Verschwinden ist von der Wirklichkeit des Todes Jesu nicht zu trennen, sondern gehört ihr untrennbar zu. Doch hat Gott Jesus nicht dem Tod und sein leibhaftes Individuum nicht dem Gewesensein überlassen, sondern den Gekreuzigten, Gestorbenen und Begrabenen zu jener Leibhaftigkeit erweckt, in der er sich in den Erscheinungen zeigte. Gilt dies, „so muss die Theologie notwendig mit der realen Möglichkeit rechnen, dass das Grab (sc. Jesu) leer war – und zwar nicht aus ‚irgendwelchen‘ Gründen, sondern weil Gott in Jesus von Nazareth in der Welt an der Welt handelt und der Beginn der Neuschöpfung der Welt in dieser Welt eine Spur hinterlassen hat“ (Thomas, 220). Der Verweis auf das leere Grab vermag keinen Beweis für die Wirklichkeit Osterns zu erbringen, aber ein Hinweiszeichen auf ein Bedeutungselement zu geben, das ihr konstitutiv zugehört.

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Ostern ist das Urdatum der Christologie. Die Beantwortung der Frage, in welcher Beziehung der österlich erscheinende Christus zu dem am Kreuz hingerichteten Jesus von Nazareth steht, begann mit allgemeinen Erörterungen zum Verhältnis von Christologie und historischem Jesus, die mit Notizen zur Geschichte der historischen Leben-Jesu-Forschung verbunden waren. Bemerkungen zu Quellen und Grunddaten sowie zu den politischen und soziokulturellen Kontexten der Historie Jesu schloßen sich an. Dass die kommende Gottesherrschaft den eschatologischen Inbegriff der Botschaft Jesu darstellt, duldete keinen Zweifel. In Bezug auf sein Verhältnis zu Johannes dem Täufer waren Gericht und Heil in der Eschatologie Jesu, deren futurischer und präsentischer Aspekt sowie charakteristische Formen von Jesu Bezeugung der kommenden Gottesherrschaft genauer ins Auge zu fassen. In Betracht kamen neben diversen Zeichenhandlungen insbesondere die Gleichnisrede Jesu, welche die kommende Gottesherrschaft als Reich der Vatergüte des allmächtigen Gottes und als Reich der Gotteskindschaft auf Glauben hin zuspricht, damit Mensch und Welt von Sünde und Übel befreit und ihrer Bestimmung zugeführt werden. Als Künder kommender Gottesherrschaft war der irdische Jesus zugleich Mittler ursprünglichen Gotteswillens. Ist die kommende Gottesherrschaft der eschatologische, so der genuine Gotteswille protologischer Inbegriff der Botschaft Jesu. Eschatologische Prolepse und protologische Rekapitulation bilden einen differenzierten Zusammenhang, dessen Richtungssinn indes eindeutig durch die kommende Gottesherrschaft bestimmt ist. Auch als Lehrer und Täter der Tora konnte Jesus daher nur in eschatologischer Perspektive recht gewürdigt werden. Die von ihm proklamierte und in Wort und Tat bezeugte Sünderliebe des gerechten Gottes, die auf die Erneuerung verlorener Gotteskindschaft des Menschen ausgerichtet war, hob den ursprünglichen Gotteswillen zwar nicht auf, transfinalisiert ihn aber in einer Weise, die nur eschatologisch zu fassen ist, unter irdischen Daseinsbedingungen aber zu unauflösbaren Spannungen und Aporien führen musste. Im Tod des irdischen Jesus wird dies manifest. Im Kreuz Jesu manifestiert sich nicht nur die Krise seines Verhältnisses zu Mitmensch und Welt, sondern auch die Krise seines Selbst- und Gottesverhältnisses. Um dies zu verstehen, musste vom Konflikt Jesu mit seinen Gegnern, von deren Anklage sowie von Prozess und Verurteilung Jesu gehandelt werden. Im Hintergrund standen seine Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, die Szene der sog. Tempelreinigung, aber auch das letzte Jüngermahl und die Passionsbereitschaft des leidenden Gerechten. Für sich genommen ist das Ende des irdischen Jesus am Kreuz nicht nur physisches Verderben, sondern Strafgericht, ja göttlicher Fluch. Seine Sendung zur Sammlung des eschatologischen Gottesvolkes erscheint am Kreuz als definitiv gescheitert. Ohne Ostern gibt es daher kein heilsames Wort vom Kreuz und keine Erinnerung des irdischen Jesus, die anderes wäre als historisches Totengedenken. Erst vom Osterereignis her erscheint der irdische Jesus eindeutig als derjenige, welcher er ist und welcher er nicht wäre, hätte Gott ihn nicht Der Auferweckte als Auferstandener

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auferweckt. Erst vom Osterereignis her leuchtet der Kreuzestod Jesu von Nazareth als Wirkzeichen auf und ein, in welchem das Heil von Menschheit und Welt beschlossen liegt. Sakrament der kreatürlichen Bestimmung des Menschen und seiner Versöhnung mit Gott ist der irdische Jesus in seinem Leben und Sterben nur unter österlichen Voraussetzungen, wohingegen er ohne das Ostergeschehen bestenfalls ein hervorragendes Exempel von soteriologisch ambivalenter Relevanz wäre, dessen Imitation zwangsläufig auf ein zweideutiges Unternehmen hinauslaufen müsste. Die Zweideutigkeit des Lebens und Sterbens Jesu und der Nachfolge Jesu lässt sich ohne Ostern nicht beseitigen. Es ist im Gegenteil so, dass Ostern die Zweideutigkeit der Sendung Jesu erst eigentlich ins rechte Licht rückt, um sie eindeutig als ein Kennzeichen der Proexistenz dessen zu identifizieren, der wegen unserer Sünde gestorben und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt worden ist. So gesehen ist die Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten die Bedingung der Möglichkeit heilsamen Gedächtnisses Jesu von Nazareth in seinem Leben und Sterben. Das österliche Gedächtnis seines irdischen Lebens wird von Ostern her zur Schöpfungsanamnese gestaltet, mittels derer dem Geschöpf sein Schöpfer und seine eigene kreatürliche Bestimmung vorstellig werden. Sie gründlich verfehlt zu haben macht das peccatum originale des Menschengeschöpfs und seine Schuld aus, die im Kreuz des inkarnierten Logos und wahren Adams manifest und unverkennbar ist. Der auferstandene Gekreuzigte aber erscheint an Ostern als derjenige, dessen Kreuz Versöhnung und Erlösung stiftet für Menschheit und Welt und der in Herrlichkeit wiederkommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten nach Maßgabe des Rechtfertigungsevangeliums, welches er selbst in Person ist. Durch die Auferweckung des Gekreuzigten ist Vom Schandmal zum das Kreuz des Auferstandenen als wirksames Heilszeichen Heilszeichen aufgerichtet zur Versöhnung der Menschheit und zur Erlösung der Welt. Im Wort vom Kreuz hinwiederum, in welchem sich der göttliche Logos selbst zur Sprache bringt, wirkt der Geist, der die Einsicht in die theologische Notwendigkeit der Passion Jesu erschließt und zu heilsamer Erkenntnis bringt, dass der Gekreuzigte für uns und für die Vielen dahingegeben wurde. Vielfältig sind die soteriologischen Deutungsschmemata, um diese heilsame Wahrheit zum Ausdruck zu bringen: ob das Kreuz in medizinanaloger Perspektive als Tod des Todes, unter kultischem Aspekt als Sühnopfer oder forensisch-juridisch als Wirkzeichen der Rechtfertigung des Sünders gedeutet wird, stets ist es als ein soteriologisches Mittel verstanden, das Erlösung und Versöhnung des Menschen mit Gott, mit sich selbst und mit Mitmensch und Welt wirkt. Dabei ist durchweg vorausgesetzt, dass die Soteriologie ohne christologische Fundierung grundlos wäre. Die göttliche Versöhnung von Menschheit und Welt findet in der Verherrlichung dessen ihre Basis, der als erniedrigter Gottessohn zugleich der erhöhte Menschensohn, als wahrer Mensch zugleich wahrer Gott ist. Knechtsgestalt und Hoheit Jesu Christi, Höllen- und Himmelfahrt bilden einen zwar untrennbaren, aber ein-

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deutig gerichteten Zusammenhang. Ihn in der nötigen Differenziertheit zu erfassen, ist die wesentliche Aufgabe des altkirchlichen Dogmas vom trinitarischen Personsein des Gottmenschen Jesus Christus als des inkarnierten Logos. Im pneumatologischen Kontext wird hierauf und auf die soteriologischen Implikationen und Folgen der Lehrentscheidungen der Alten Kirche näher einzugehen sein. Zuvor jedoch ist den Anfängen systematischer Deutung des Kreuzes in der frühen Christenheit nachzuspüren, was eine erneute Bezugnahme auf den Prozess Jesu und die historischen Gründe seiner Hinrichtung erforderlich macht. Manches von dem, was in Abschnitt 13 bereits gesagt wurde, wird dabei in zusammenfassender Absicht erneut zur Sprache kommen. Wiederholungen sind in Anbetracht der entscheidenden und weichenstellenden Bedeutung des Problems in Kauf zu nehmen und das umso mehr, als die historisch-kritischen Problemlösungsversuche in der Forschung notorisch disparat ausfallen. Es ist nicht leicht, im exegetischen Dickicht einen halbwegs gangbaren Weg zu finden. Dass dieser schnurstracks und geradlinig zu systematischen Resultaten führt, darf nicht erwartet werden. Dennoch wird man auf die Mühe, ihn ausfindig zu machen und tastend zu beschreiten, auch aus dogmatischen Gründen nicht verzichten können. Ohne Kenntnis der historischen Ursachen des Kreuzestodes Jesu lassen sich seine soteriologischen Deutungen (vgl. Wenz), wie sie im Lichte Osterns erfolgten, schwerlich angemessen verstehen. Das gesichertste Faktum des Lebens Jesu ist die Tatsache, dass er von den Römern zum Tode verurteilt und am Kreuz gestorben ist. Bezüglich der Gründe für Jesu Hinrichtung ergeben die Passionsberichte der Evangelien kein eindeutiges Bild. Verhältnismäßige Klarheit besteht darüber, dass Jesus aufgrund einer politischen bzw. einer auf ein politisches Vergehen hindeutenden Anklage verurteilt wurde. Doch bleiben die genauen Einzelheiten der Vorwürfe im Dunkeln. Fraglich ist ferner, welche Rolle die jüdischen Oberen im Zusammenhang der Hinrichtung Jesu gespielt haben. Die Behörden schritten wohl „wegen prophetisch-eschatologischer Umtriebe“ (Egger, 211) gegen Jesus ein. Dass der Prozess vor Pilatus auf Anzeige des Hohepriesters erfolgte, wird man annehmen dürfen. Den äußeren Anlass zu dieser Anzeige mag der Einzug in Jerusalem und die Zeichenhandlung der sog. Tempelreinigung geboten haben, die Verdächtigungen politischen Aufruhrs nahelegte. Möglicherweise wurde beim Verhör durch die jüdischen Behörden auch der Blasphemievorwurf gegen Jesus erhoben. Die Szene Mk 14,61–64 „as a summary of trial events has a strong claim to authenticity, a stronger claim to it than to the alternative that the scene was created by Mark or by the early church“ (Bock, 236). Pilatus wird daraufhin als römischer Prokurator Jesus eines politischen Verbrechens für schuldig befunden haben. Die Verhängung der Todesstrafe dürfte für ihn eine Routineangelegenheit gewesen sein. Der Eindruck eines skrupulös agierenden Pilatus konnte erst infolge der in der synoptischen Tradition unschwer zu identifizierenden Tendenz der christlichen Überlieferung entstehen, die Schuld am Tode Jesu einseitig den Juden zuzuerkennen und die Römer zu entlasten. In Wirklich-

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keit wird der römische Statthalter die Härte und Rücksichtslosigkeit, die ihm von Zeitgenossen attestiert wurde, auch im Falle Jesu unter Beweis gestellt haben. Die religiös-theologischen Dimensionen des Geschehens werden ihm weithin entgangen sein. Sein Verhalten war offenbar gänzlich äußerlich motiviert, darin erkenntlich von demjenigen der jüdischen Oberen unterschieden. Kaiphas hat, wie immer seine Rolle im Prozess Jesu im Einzelnen zu beurteilen ist, „aus anderen Motiven gehandelt als Pilatus“ (Strobel, 140), nämlich aus dem Beweggrund „seiner bedingungslosen Bindung und Treue zum Gesetz“ (Strobel, 139). Dass letztlich die Römer und namentlich ihr Statthalter Pontius Pilatus die Verurteilung und Kreuzigung Jesu juristisch zu verantworten haben, wird durch die Hinrichtungsart belegt, die im Unterschied zur Steinigung und Enthauptung typisch römisch war. Im Übrigen dürfte das „ius gladii“, also die Kapitalgerichtsbarkeit zur damaligen Zeit in Judäa ausschließlich den Römern vorbehalten gewesen sein. Wenn die Juden Joh 18,31 sagen, ihnen sei es nicht gestattet, jemanden hinzurichten, so ist der historische Sachverhalt aller Wahrscheinlichkeit nach zutreffend wiedergegeben. Vieles spricht dafür, dass die jüdische Behörde zur Zeit Jesu keine Kapitalsgerichtsbarkeit besaß und allein der römische Statthalter ein Todesurteil fällen und vollziehen lassen konnte. Als sachlicher Grund für die Verurteilung Jesu durch die Römer kommt ausschließlich ein poli- Titulus crucis tischer in Frage. Der titulus crucis (Mk 15,26 par) „König der Juden“ bestätigt dies. Selbst wenn er, was nicht wahrscheinlich ist, unhistorisch sein sollte, konnte für die Römer nur der Verdacht eines politischen Machtanspruchs Motiv und Grund für eine Anklage Jesu und seine schließliche Hinrichtung bieten, wobei es dahingestellt bleiben kann, ob Pilatus ein förmliches Verfahren nach gültigen Rechtsregeln durchführte oder mit Jesus, der kein römischer Bürger, sondern ein Provinziale minderen Rechts war, kurzen Prozess machte. Wie immer es sich damit verhalten haben mag: in beiden Fällen ist der gegen Jesus geltend gemachte Vorwurf, ein Königsprätendent zu sein und sich damit sei es schweren Landfriedensbruchs sei es eines Majestätsverbrechens schuldig gemacht zu haben, sachlich unzutreffend. Denn weder zielte Jesu Predigt vom kommenden Gottesreich auf einen durch Rebellion und Aufruhr zu bewirkenden Herrschaftsumschwung noch verstand er sich selbst, wie immer man über sein messianisches Selbstbewusstsein ansonsten urteilen mag, als ein politischer Messias. Der Grund für die Verurteilung Jesu durch die Römer beruhte also entweder auf einem Missverständnis oder auf einem bloßen Vorwand. In dem für Pilatus günstigsten Fall ist die Hinrichtung Jesu daher ein Justizirrtum aufgrund unzutreffender Anklageerhebung, andernfalls ein Akt der Willkür und des – durch wie auch immer geartete rechtsexterne Gründe motivierten – Machtmissbrauchs zu nennen. Sehr schwerwiegende Probleme sowohl historischer als auch theologischer Art sind mit der Frage verbunden, welche Funktion den jüdischen Oberen in Gestalt der Jerusalemer Lokalaristokratie beim Vorgehen gegen Jesus zukam und wie sie

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sich zu derjenigen der Römer verhielt. Der Befund, der sich diesbezüglich den Passionsberichten der Evangelien entnehmen lässt, ist uneindeutig bis widersprüchlich. Während Mk (14,55–65) und Mt (26,59–68) von einem nächtlichen Prozess mit Todesurteil vor dem jüdischen Synedrium berichten, schildern die beiden anderen Evangelisten lediglich ein Verhör, das nach Lk (22,66–71) anlässlich einer morgendlichen Synedriumssitzung, nach Joh (18,19–24) nachts im Hause des Hohenpriesters Hannas stattfand, welcher Jesus gefesselt zu Kaiphas schickte, von wo aus er am frühen Morgen zum Prätorium gebracht wurde. Geht man von der historisch wahrscheinlichen Voraussetzung aus, dass die Kapitalsgerichtsbarkeit den Römern vorbehalten war, dann wird im Verfahren der jüdischen Instanzen nach Maßgabe geltenden Rechts nur eine Anzeige Jesu bei Pilatus beschlossen worden sein. Aber selbst im unwahrscheinlichen Fall eines förmlich gefassten Todesbeschlusses war man unter der Voraussetzung fehlenden ius gladii auf den Richtspruch des Pilatus angewiesen, weil nur er zur Verhängung und Vollstreckung einer Todesstrafe befugt und in der Lage war. Anders würde sich die Angelegenheit erst unter der Bedingung darstellen, dass das Jerusalemer Synedrium zur Zeit Jesu die Kapitalsgerichtsbarkeit besaß. Dies aber ist historisch unwahrscheinlich. Fragt man nach den Ursachen des Vorgehens der jüdischen Behörde gegen Jesus, welches zur Anzeige bei Pilatus führte und jedenfalls einen Anlass, wenn auch nicht einen förmlichen Rechtsgrund der Verurteilung bot, so ist neben der Tempelkritik, die das Eingreifen der Jerusalemer Lokalaristokratie unmittelbar provoziert haben dürfte und Jesus als potentiellen politischen Risikofaktor erscheinen ließ, an die mannigfachen Konflikte im Kontext der Tora und ihres Verständnisses zu denken. Auch wenn sich Mk 3,6, wonach der erste Tötungsbeschluss von Herodianern und Pharisäern nach einem Sabbatkonflikt erfolgte, redaktionellen Interessen verdankt, so darf neben möglichen politischen Aspekten und der Kritik am Tempel der Konflikt Jesu nicht vernachlässigt werden, wie er infolge seines von der ReichGottes-Erwartung bestimmten Umgangs mit der Tora entstanden war. Will man der Innenseite der Passionsgeschichte Jesu und der theologischen Gründe, die zu seiner Die Innenseite der Passion Verurteilung und Hinrichtung führten, gewahr werden, dann muss man dem Torakonflikt die nötige Aufmerksamkeit zukommen lassen, auch wenn dieser Konflikt im historischen Prozessverlauf nicht offen zutage trat, sondern durch äußere Sachverhalte verdeckt wurde, die entweder auf Verkehrung der Tatsachen beruhten oder durch Missverständnisse und schiere Ignoranz zu ihrer Bedeutung gelangten. Nachgerade Pilatus, der als Hauptakteur der Verurteilung und Hinrichtung Jesu zu gelten hat, dürfte jedes Bewusstsein für die theologischen Hintergründe des Passionsgeschehens gefehlt haben. Er und seine römischen Helfershelfer standen der Person Jesu und dem Inhalt seiner Verkündigung ungleich fremder gegenüber als die Oberen der Juden, deren Gegnerschaft im Unterschied zur Äußerlichkeit, in der die Römer mit dem Fall Jesu umgingen, innerlich begründet war und ernsthafte religiös-theologische Ursachen hatte. Die

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erwähnte Tendenz der frühchristlichen Überlieferung, die Schuld am Tode Jesu vornehmlich den jüdischen Repräsentanten zuzuweisen und die Römer zu entlasten, ist dadurch nicht gerechtfertigt. Richtig aber ist, dass die innere Dramatik des Passionsgeschehens nur dann zu ermessen wird, wenn man den religiös-theologischen Konflikt Jesu mit den Vertretern seines Volkes nicht ausblendet. Es kommt nicht von ungefähr, dass bereits der älteste Passionsbericht der Evangelien, wie er in Mk 14,1f. (10f.),43–16,8 vorliegt, erkennbare Strukturen einer an der Glaubensüberlieferung Israels orientierten Deutung aufweist. Ohne Bezugnahme auf sie bleiben die tiefen, ja theologisch abgründigen Dimensionen des Leidens und Sterbens Jesu verschlossen. In der älteren Forschung wurde, wie erwähnt, die These vertreten, man habe im Verfahren gegen Jesus einen Religionsprozess vor dem jüdischen Synedrium und einen politischen Prozess vor dem römischen Statthalter Pontius Pilatus zu unterscheiden. Die historische Haltbarkeit dieser These ist von der neueren Exegese bezweifelt worden. Man wird um die Feststellung nicht umhin kommen, dass sich die genauen Umstände, die zur Kreuzigung Jesu führten, auf der Basis der gegebenen Quellenlage kaum mehr ganz aufklären lassen. Ein offizielles Dokument der Beurkundung des Verfahrensverlaufs liegt nicht vor. Für seine historische Rekonstruktion ist man im Wesentlichen auf die neutestamentlichen Zeugnisse verwiesen. Außerchristliche Nachrichten der Antike, wie sie sich u.a. bei dem jüdischen Historiographen Flavius Josephus oder dem großen Geschichtsschreiber Roms, Tacitus, finden, lassen immerhin erkennen, dass Jesus auf Betreiben jüdischer Autoritäten vom Prokurator Pontius Pilatus zur Todesstrafe verurteilt und am Kreuz hingerichtet worden ist. Die wichtigsten christlichen Quellen des Prozesses Jesu sind zweifellos die Passionsberichte der Evangelien, die im Unterschied zu den sonstigen narrativen Traditionen der Synoptiker, deren Einzelszenen eine Perikopenstruktur aufweisen, als fortlaufende Erzählung gestaltet und schon frühzeitig literarisch fixiert worden sind. Dabei handelt es sich erkenntlich um Glaubensüberlieferungen, die apologetische Züge aufweisen und in hohem Maße vom sog. Weissagungsbeweis geprägt sind, demgemäß das Ärgernis des Kreuzes dem im Alten Testament bekundeten Gotteswillen entspricht. Das heißt nicht, dass die Passionsberichte als ein Produkt alttestamentlichen Schriftbeweises zu gelten hätten und als fromme Dichtung bewertet werden müssten. Gleichwohl bleiben historische Unsicherheiten. Seinen Anfang nimmt der Geschehensverlauf der letzten vierundzwanzig Stunden im Leben Jesu mit seiner Verhaftung. Sie wird auf Veranlassung der jüdischen Behörden in einen Garten am Ölberg östlich von Jerusalem in der Nacht vom Donnerstag auf jenen Freitag erfolgt sein, der zum Todestag Jesu wurde. Im Anschluss an seine Verhaftung wurde Jesus dem Synedrium vorgeführt, das ein nächtliches Verhör durchführte. Von einem Vorverhör beim Hohenpriester Hannas weiß allein Johannes zu berichten. Dass die Verhandlungen vor dem Synedrium, dem der Hohepriester Kaiphas präsidierte, den Charakter eines ordentlichen Gerichtsverfahrens mit Zeugenvernehmung, förmlicher Anklage und Schuldspruch

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hatten, ist unwahrscheinlich. Den unmittelbaren Anlass für die Verhaftung Jesu hat wohl sein provokantes Auftreten im Tempel geboten. Auch der Vorwurf der Gotteslästerung und notorischen Gesetzesübertretung wird laut geworden sein. Ferner hat man mit Vorhaltungen in Bezug auf einzelne Selbstzeugnisse Jesu sowie auf seinen mit der Reich-Gottes-Verkündigung verbundenen Vollmachtsanspruch, Sünden zu vergeben, zu denken. Entscheidend wird das Toraproblem gewesen sein. Die exegetische Beurteilung der Lage ist traditionell und aktuell kontrovers; dies ist einerseits durch die divergierende Bewertung der historischen Zuverlässigkeit der markinischen und vormarkinischen Passionserzählung, andererseits aber auch durch theologische Voraussetzungen bedingt, welche die Arbeit des Exegeten ebenso bestimmen wie die Gegenstände exegetischer Arbeit. Neben historischen Fragen wie etwa derjenigen, ob die bei Mk tradierte Form der Passionsdarstellung bereits in der Aramäisch sprechenden Urgemeinde entstanden ist, sind Deutungsfragen und ihre spezifischen Implikationen stets mitzubedenken. Ideologieverdacht ist insbesondere dann angebracht, wenn die Frage nach der Verantwortlichkeit für den Kreuzestod Jesu gestellt wird. Schuldzuweisungen in antijudaistischer Absicht Todesgeschick und sind in neutestamentlichen Texten offenkundig Schuldkonflikt und mahnen zu äußerster historischer Vorsicht. Historische Reserve ist aber auch dann geboten, wenn aus gegenläufigen Interessen heraus jede Beteiligung jüdischer Instanzen Jerusalems am Vorgehen gegen Jesus, ja ein Konflikt Jesu mit dem frommen Judentum seiner Zeit generell in Abrede gestellt wird. Nach wie vor Gehör verdient das nüchterne historisch kritische Resümee W. G. Kümmels: „Die Wegerklärung aller Hinweise Jesu auf eine ihm begegnende Feindschaft während seiner galiläischen Wirksamkeit scheint mir ebensowenig haltbar zu sein wie die Bestreitung eines geschichtlichen Zusammenhangs zwischen seiner Gesetzeskritik und seiner gesetzeswidrigen Verhaltensweise und der ihm nicht erst in Jerusalem begegnenden feindlichen Ablehnung durch führende Kreise des damaligen Judentums. Dass erst in Jerusalem und nur von seiten der Sadduzäer Jesus eine feindliche Gegnerschaft gegenübertrat, die ihn veranlassen konnte und musste, mit einem gewaltsamen Tode zu rechnen, ist eine sich nicht aus den Quellen ergebende Behauptung.“ (Kümmel, 497) Darüber hinaus wird mit plausiblen Gründen geltend gemacht, „dass die kritische Eliminierung der Verhandlung der jüdischen Behörden gegen Jesus unbegründet ist, dass aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zwei Sitzungen des Synedriums stattgefunden haben, sondern dass eine Zeugenvernehmung im Hause des Hohepriesters der im Sitzungssaal des Synedriums stattfindenden Vernehmung und Verurteilung Jesu durch diese oberste Gerichtsbehörde voranging.“ (Kümmel, 532) Selbst wenn sich mit einem förmlichen Rechtsverfahren vor dem Synedrium und mit der Möglichkeit eines gefällten Todesurteils rechnen ließe, stand dessen Vollstreckung nach der geltenden Rechtslage in den römischen Provinzen zur Zeit Jesu, wie die Passionsberichte sie voraussetzen, nur dem Statthalter der römischen

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Schutz- bzw. Besatzungsmacht zu. Dem Statthalter Pontius Pilatus wird das Synedrium Jesus in den Morgenstunden des Karfreitag überstellt haben. Der Fall Jesus wird zu einer politischen Angelegenheit im engeren Sinne. Die Anklage wegen Hochverrats oder vergleichbaren Tatbeständen rückt die Vorwürfe der Gotteslästerung und notorischen Gesetzesübertretung in den Hintergrund, da es sich bei ihnen nach römischem Recht um religiöse Querelen und nicht um todeswürdige Verbrechen handelte. Ein Verfahren nimmt seinen prozessualen Verlauf, dem die inneren Gründe des Streitfalles Jesu eher äußerlich blieben. Ist Jesus selbst der Anlässe und Ursachen des Prozesses innegeworden, der zu seiner Hinrichtung führte? Hat er mit seinem gewaltsamen Tod gerechnet, sich bewusst auf ihn eingestellt und sein Leiden und Sterben am Ende gar mit einer vorgängigen theologischen Deutung versehen? Aufgrund seiner Botschaft und des Vollmachtsanspruches, der ihr innewohnte, kam es zu Konflikten, die Gefährdungen der Person Jesu zwangsläufig mit sich brachten. Dass er mit bevorstehenden Leiden, ja selbst mit der Möglichkeit eines gewaltsamen Todesgeschicks rechnen musste und tatsächlich gerechnet hat, ist naheliegend. Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob und gegebenenfalls in welcher Weise Jesus sein drohendes Leiden und Sterben bereits selbst vorgreifend gedeutet hat. Die kontroversen Antworten, welche diese Frage in der neutestamentlichen Forschung gefunden hat, sind durch die erheblich divergierenden Ergebnisse der jeweiligen Analysen der sog. Leidensweissagungen und anderer einschlägiger Stellen bedingt. Während beispielsweise Rudolf Bultmann sämtliche Leidensweissagungen für vaticinia ex eventu erklärte, wird es gegenwärtig von einer Reihe von Exegeten für wahrscheinlich gehalten, dass Jesus nicht nur mit seinem möglichen Tod in Jerusalem gerechnet, sondern diesen auch in einen Deutezusammenhang mit dem Martyrium der Propheten (vgl. Lk 13,31–33) und in Sonderheit mit der Gestalt der stellvertretend für die „Vielen“ leidenden Gottesknechtes gebracht hat, dessen Leben als Lösegeld zur Errettung der Sünder aus dem endzeitlichen Gericht im Sinne einer Lösung ihrer Schuldverpflichtung dahingegeben wird (vgl. Mk 9,31 par; 10,45 par; Lk 22,35–38 sowie Jes 43,3–4; 53,11f.). Trifft die Annahme einer vorgreifenden Todesdeutung Jesu zu, dann hätte die urchristliche Interpretation des Kreuzes im Sinne der hyper-Formel, die nicht nur für die Staurologie des Paulus und seiner Schule, sondern auch für Johannes und seinen Kreis sowie für den Hebräerbrief schlechterdings grundlegend geworden ist (vgl. 1. Thess 5,10; Gal 1,4; 2,20; 2. Kor 5,14.15.21; Röm 5,8; 8,32; 14,15; 1. Joh 3,16; Joh 6,51; 10,11.15; 15,13; Hebr 2,9; 9,24; 10,12 usw.), einen direkten Anhalt am irdischen Jesus, wie man ihn unter bestimmten exegetischen Voraussetzungen (vgl. etwa Patsch, 226ff.) auch in den Spendeworten der Abendmahlsparadosis (vgl. Mk 14,22.24 par) im Sinne stellvertretender Sühne für „die Vielen“ gegeben sieht. Auch die spezifischen Endzeitvorstellungen frühjüdischer Eschatologie sind für die Annahme ins Feld geführt worden, der historische Jesus habe mit seinem bevorstehenden Tod „redemptive efficacy“ (Pitre, 517; bei P. kursiv) assoziiert.

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„Our study of early Jewish beliefs about the tribulation shows that Jesus could quite easily have expected that he would suffer in the Great Tribulation and that such suffering would have an atoning or redemptive function that would bring the End of Exile and the restoration of Israel“ (Pitre, 517f.). Wie immer man historisch über mögliche DeuFaktizität und Deutung tungen Jesu bezüglich seines eigenen Leidens und Sterbens zu urteilen hat: sein Tod als solcher ist eine geschichtliche Tatsache, deren schiere Faktizität das irdische Leben Jesu und mit ihm das wie auch immer geartete Verständnis, das er von sich selbst in seinem Tun und Ergehen hatte, an ein definitives Ende brachte. Die historische Definitivität dieses Endes wird von frühchristlicher theologia crucis in keiner ihrer Formen in Zweifel gezogen. Es ist im Gegenteil so, dass die österlichen Erscheinungen des Gekreuzigten, welche alle frühchristlichen Deutungen des Todes Jesu zur Voraussetzung haben, dessen Tatsächlichkeit bestätigen. Jesus ist am Kreuz nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich gestorben. Sein Tod war kein Schein, sondern eine durch das Begräbnis seines Leichnams ratifizierte Wirklichkeit. Im Grab Jesu lag kein Scheintoter, sondern ein Toter. In dieser Grundaussage stimmen alle Passionsüberlieferungen überein, ob es sich nun um Erzähltraditionen oder um Formeln bzw. formelhaft strukturierte Aussagen handelt. Der Gekreuzigte entschlief nicht, um kraft verbleibenden Eigenvermögens alsbald wieder zu erwachen und zu sich zu finden; sein Tod ist definitives Ende und keineswegs vollendet in sich. Jesu Vollmacht geht mit ihm am Kreuz zugrunde. Sein im Tode endendes Sterben ist Passion, in der sich alle Aktivität und Selbsttätigkeit erschöpft. Der Gekreuzigte ist weder Herr des Geschehens noch Herr seiner selbst. Er ist dem Verhängnis des Kreuzes ohnmächtig ausgeliefert bis hin in den Abgrund des Todes und des Grabes, ja der Hölle hinein. Seinen komprimiertesten Ausdruck findet das tödliche Ausgeliefertsein des gekreuzigten Jesu in den (para)didonai-Aussagen des Neuen Testaments. Charakteristisch für die Dahingabeformulierungen ist zunächst, daß sie Jesu Auslieferung als ein von ihm passiv zu erleidendes Geschick bezeichnen und nicht, jedenfalls nicht primär als ein aktives Sich-Hingeben. Das Geschick der Auslieferung wird dabei nicht lediglich auf naturhafte Schicksalsmächte zurückgeführt, auch nicht allein auf menschliche Untat, sondern zuletzt auf Gott selbst. Gott hat Jesus ausgeliefert und ans Kreuz dahingegeben. Dies ist der äußerste Ausdruck der Abgründigkeit der Passion Jesu. Nicht Welt und Mensch allein, sondern auch und vor allem Gott selbst bereiten dem gekreuzigten Jesus sein Ende. Der Gekreuzigte ist nicht nur Zeichen der Abwesenheit Gottes in der Menschenwelt, sondern ebenso Manifestationsgestalt des göttlichen Zorns und seines Strafgerichts. Bezüge zur Geschichte von Isaaks Opferung und insbesondere zum Lied vom Gottesknecht in Jes 52,13–53,12, deren Septuagintaversion das in Gen 22 fehlende Leitverb paradidonai signifikanterweise enthält, legen sich einerseits nahe, werden aber andererseits zunächst nur entfernt wahrgenommen. Auch im Lichte Osterns hört die Gottesfinsternis des Kreuzes nicht auf, ein unbegreifliches

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Schrecknis zu sein. Statt expliziter soteriologischer Deutungen stellt sich als österliche Kreuzeswahrnehmung daher zunächst die bloße, im Einzelnen noch unthematische Einsicht ein, dass das Passionsverhängnis Jesu offenbar hatte sein müssen. Jesu Tod ist kategorisch verfügt, eine durch göttliches dei geforderte Notwendigkeit. Jesus musste leiden, er musste sterben. Er musste leiden und sterben – nicht um dieses oder jenes Zweckes willen, sondern um Gottes willen. Dabei lässt das dei, das österlich über dem Kreuz Jesu waltet, offenbar nicht nur diesem, sondern auch Gott keine Wahl. Wenn Gottes Wille den Tod Jesu verfügte, dann offenbar deshalb, weil dieser Tod für ihn selbst wesensnotwendig war und ist. Jeder arbiträre Aspekt ist durch die vom göttlichen dei verfügte Notwendigkeit aus der staurologischen Perspektive ausgeschieden. Man kann das dann auch so sagen: Ostern enthält den, ja ist der zwingende Grund, das Kreuz Jesu theologisch zu verstehen. Durch Ostern ist die Notwendigkeit eines theologischen Verständnisses des Kreuzestodes Jesu Göttliches Muß erwiesen. Die erforderlichen Potentiale der Deutung bietet das später sogenannte Alte Testament als die Bibel der Urchristenheit. „Entsprachen Passion und Ostern dem Ratschluss Gottes, dann muss auch die Schrift darüber etwas gesagt haben.“ (Friedrich, 31) Die Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten fordert mit dem Postulat der Notwendigkeit des Passionsgeschehens den Schriftbeweis förmlich heraus. Aus der Schrift ist zu belegen, dass Jesus leiden und von den Toten auferstehen musste. „Dies ‚Muß‘ bringt dasselbe zum Ausdruck wie die Wendung ‚es steht geschrieben‘.“ (Friedrich, 34) Nicht immer wird der Schriftbeweis für die göttliche Notwendigkeit des Passionsgeschehens in expliziter Form geführt. Vielfach belässt man es bei Anklängen, ohne bestimmte Bibelstellen in vollem Wortlaut zu zitieren. An einer Reihe von Psalmworten ist dies exemplarisch zu belegen. So liegt beispielsweise in der markinischen Passionsüberlieferung Mk 14,34 „ein Teilzitat aus dem Refrain von Psalm 42/43 (vgl. Ps 42,6.12 und Ps 43,5) in dessen griechischer Fassung vor“ (Schaper, 92). Weitere Belege wären unschwer beizubringen. Auf die zentrale Bedeutung von Psalm 22 für die Passionsgeschichten der Evangelien wurde bereits verwiesen. Aus ihm „stammt nicht nur das letzte Wort Jesu am Kreuz, wie Matthäus und Markus berichten, sondern er prägt auch die älteste literarische Darstellung des Kreuzigungsgeschehens“ (Sänger [Hg.], V). Viel deutlicher als der hebräische Text stellt die Septuagintaversion von Ps 22 „das Motiv der Gottesferne und Gottverlassenheit in den Kontext der Hoffnung auf Rettung“ (Sänger [Hg.], 32). In der Rezeptionsgeschichte des Psalms im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels, für die besonders die Texte vom Toten Meer ergiebig sind, lässt sich hingegen analog zum neutestamentlichen Befund eine „Vorrangstellung des Klageteils“ (Sänger [Hg.], 75) beobachten. Im Verein mit mehr oder minder förmlich geführten Schriftbeweisen haben Einzelmotive alttestamentlicher Tradition die urchristliche Deutung von Passion und Kreuzestod Jesu entscheidend geprägt. Man denke etwa an das Winzergleichnis Mk 12,1–12. Es ist nicht auszuschließen, dass sein Grundbestand auf Jesus

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selbst zurückgeht. Das Gleichnis wäre dann „am ehesten als ‚Gerichtsparabel‘ zu kennzeichnen“ (Weihs, 80 Anm. 201), die eindringlich zu Umkehr und Einsicht mahnt. In der bei Markus vorliegenden Form hingegen leistet das Winzergleichnis als Parabel von der Tötung des Sohnes einen spezifischen Beitrag zum Verständnis des Leidens und Sterbens Jesu, dessen Geschick mit dem Prophetenschicksal in Verbindung gebracht wird (vgl. im Einzelnen Weihs). In diesen Zusammenhang gehört auch das biblische Motiv des leidenden Gerechten. Nicht auszuschließen ist, dass sich bereits Jesus selbst „als leidenden Gerechten und leidenden Propheten begriff, wobei er seine in oder nach dem Tode erwartete Verherrlichung als Erhöhung und zwar in der Weise der Einsetzung zum eschatologischen Menschensohn verstanden haben kann“ (Ruppert, 75; bei R. teilweise gesperrt.). Doch ist dies ebenso strittig wie die Frage, ob Jesus sich als den deuterojesajanischen Gottesknecht gewusst und den Titel auf sich angewendet hat. Unstrittig hingegen ist, dass sein Tod am Kreuz mit Hinweis auf das Prophetenschicksal, das Leiden des Gerechten und den königlichen Knecht aus den Liedern Jes 42,1–9; 49,1–6; 50,1–11; 52–13–53,12 gedeutet wurde, mit dem ursprünglich wohl einmal „die Gola als das eigentliche Israel“ (Kaiser, 127) gemeint war. Ein weiteres Beispiel alttestamentlicher Deutungspotentiale bezüglich des Leidens und Sterbens Jesu ist, um nur noch dieses zu nennen, mit dem Exodusgedächtnis und der jüdischen Passahfeier gegeben. Während in den synoptischen Evangelien das Pesachfest nur im Rahmen der Erzählungen vom letzten Mal Jesu begegnet, sind die Passahreferenzen bei Johannes ungleich häufiger. Dies hängt selbstverständlich mit Differenzen der Passionschronologie zusammen. Was hinwiederum die über narrative Funktionen hinausgehende theologische Bedeutung des Passahthemas bei Johannes betrifft, so liegt sehr viel daran, „ob das Zitat in Joh 19,36 (in Kombination mit der Zeitangabe in Joh 19,14) als Hinweis auf eine nicht explizierte Jesus-Pesachtypologie gedeutet wird. Wo dies der Fall ist, wird das Zitat meist mit Joh 1,29 zusammengelesen: Jesus ist als Pesachtier, dessen Knochen nicht gebrochen werden sollen, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt auf sich nimmt oder wegträgt. Auf Grund dieser Zusammenschau wird die gesamte johanneische Pesach-Motivik in den Dienst einer johanneischen Sühnetod-Konzeption gestellt. Das Problem, dass das Pesach traditionsgeschichtlich nicht mit einer Sühnevorstellung verbunden ist, wird von allen Autoren konstatiert, doch sollen Verweise auf 2 Chr, Jos Ant II,312 und diverse Stellen bei Philo von Alexandrien oder im rabbinischen Schrifttum dieses Problem lösen. Gelegentlich erfüllt auch der Hinweis auf eine allumfassende Präsenz der Sühnevorstellung im nachexilischen Judentum diese Funktion oder aber die Existenz einer vorjohanneischen Verbindung zwischen Pesach und ‚Sühne‘ wird als nicht zwingend notwendig betrachtet, um das Johannesevangelium entsprechend interpretieren zu können.“ (Schlund, 2) Der Gekreuzigte wurde als unser Passahlamm Für uns gestorben geschlachtet (1. Kor 5,7). Ob es nun zutrifft oder nicht, dass der historische Jesus im Letzten Mahl

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„durch den Vergleich seiner selbst mit dem eschatologischen Passalamm ... seinen Tod als Heilstod“ (Jeremias, 216) gedeutet hat: In der Pesachthematik ist unschwer das Motiv der Erlösung und Versöhnung erkennbar, das seinen bündigsten Ausdruck in den staurologischen hyper-Formeln gefunden hat. Im Übrigen kann der Für-Bezug, der nach österlichem Zeugnis mit dem Kreuzesgeschehen untrennbar verbunden ist, auf vielfältigste Weise soteriologisch expliziert werden. Häufig begegnet das aus dem Bereich der Ökonomie entlehnte Motiv des Loskaufs, das an den Freikauf Israels aus dem Sklavenhaus Ägyptens erinnert, ohne sich in diesen Vorstellungszusammenhängen zu erschöpfen. Im Erlösungsbegriff sind schließlich die Schranken der ökonomischen Bildlichkeit transzendiert, obwohl der Zusammenhang mit der Vorstellung des Loskaufs, der Bezahlung und Schuldbegleichung im deutschen Wort ebenso unschwer zu erkennen ist wie in den griechischen Termini lytron oder apolytrosis. Ähnlich komplex wie die Bedeutung des Erlösungsbegriffs ist diejenige des Begriffs der Versöhnung und seiner Äquivalente. Die im deutschen Wort vereinten Aspekte des Sühnens und Versöhnens werden im Griechischen terminologisch unterschieden, sofern katallassein primär die Aufhebung trennender Feindschaft im politisch-sozialen Bereich bezeichnet, wohingegen hilaskesthai stärker in den Raum kultischer Sühne verweist. Gleichwohl geht es in beiden Fällen auf die eine oder andere Weise um die Vergebung von Schuld, die im Vollzug der Versöhnung behoben und verziehen wird. Wo es um Schuld und Sühne geht, stellen sich neben anderen Assoziationen stets auch solche juridischer oder ähnlicher Art ein. Nicht von ungefähr sind die Wortfelder von Erlösung, Versöhnung und Rechtfertigung, Gerechtsprechung bzw. -machung eng verknüpft. Eine in strenger begrifflicher Systematik entwickelte theologia crucis wird im Neuen Testament nirgends geboten. Die Deutungen des Todes Jesu erfolgen in multiperspektivischer Weise, wobei der gemeinsame Horizont durch das Ostergeschehen erschlossen ist. Das österliche Sinnereignis liegt allen neutestamentlichen Formen einer theologia crucis zugrunde, ja es ist nach urchristlichem Zeugnis diejenige Deutung, die Gott selbst und der erstandene Christus in der Kraft des Geistes dem Kreuzesgeschehen Jesu gegeben haben. Ohne Ostern gibt es kein heilsames Wort vom Kreuz, und auch die Erinnerung Jesu ist heilsam nur in der Weise österlichen Gedächtnisses. Erst unter den Bedingungen Osterns, wie sie durch die göttliche Epiphanie des gekreuzigten Jesus vom Himmel her gesetzt sind, erscheint dessen Kreuzestod nicht länger als das manifeste Ende der jesuanischen Sendung, sondern als die erfüllte Vollendung seines Verhältnisses zu Gott, Selbst und Menschenwelt. Eine der ersten Weisen, dem österlichen offenbaren Sinngehalt des Kreuzestodes Ausdruck zu verleihen, ist das sog. Kontrastschema, wie es sich in Apg 2,36; 5,30 und 10,39f. findet. Dabei wird dem Fluchtod des Kreuzes die göttliche Tat der Auferweckung kontrastiert, ohne die in solcher Gegenüberstellung enthaltene soteriologische Bedeutung des Leidens und Sterbens Jesu bereits explizit zu machen. Das geschieht erst in den besagten hyper hämon/hymon-Formeln, denen zufolge der Gekreuzigte für uns und unserer Sünde wegen gestorben ist (vgl.

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1. Kor 15,3b; Röm 4,25). Sie dürften schon in den vorpaulinischen Gemeinden unter Bezug auf die alttestamentliche Gestalt des leidenden Gottesknechtes ausgebildet worden sein, die möglicherweise bereits Jesu eigenes Verständnis seines zu erwartenden Todes geprägt hat. Auch wenn man in letzterer Hinsicht skeptischer urteilt, wird man nicht leugnen können, daß die urchristliche Deutung des Kreuzes des Auferstandenen in einem Sachzusammenhang steht mit der auf Versöhnung zielenden Zuwendung des irdischen Jesus zu den Sündern, wie sie mit seiner Botschaft auch seinen persönlichen Vollmachtsanspruch und entsprechend das persönliche Selbstverständnis seines Tuns und Leidens bestimmt haben wird. Trotz solcher nicht nur unbestreitbaren, sondern notwendig festzuhaltenden Kontinuitäten darf man sich nicht verstellen, dass das Faktum des Kreuzes eine fundamentale Krise nicht nur des Wahrheitsanspruches der Botschaft Jesu, sondern auch seines Vollmachtsanspruches einschließlich der möglichen Deutungen seiner selbst und seines zu erwartenden Leidens und Sterbens darstellen, wie sie durch historische Rekonstruktion mehr oder minder wahrscheinlich zu machen sind. Ohne Ostern hat das Kreuz nicht jene soteriologische Bedeutung, die es nach Maßgabe österlicher Offenbarung besitzt und zwar an sich selbst besitzt: heilsames Ereignis göttlicher Versöhnung und Erlösung zu sein für uns Menschheit und Welt. Es wäre unangemessen, die österliche Bedeutung des Kreuzes lediglich als Funktion jener Deutung in Betracht zu ziehen, welche ihr der irdische Jesus gemäß den Einsichten historischer Kritik gegeben hat. Zwar ist der auferstandene Gekreuzigte mit dem irdischen Jesus dergestalt identisch, dass das Bewusstsein des Irdischen von sich und seinem Ende in dem Selbstbewusstsein des erhöhten Herrn beständig mitgesetzt ist. Insofern muss die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu allerdings als eine Funktion der Selbstdeutung Jesu Christi gelten. Aber es handelt sich bei solcher Selbstdeutung um die österliche Selbsterschließung des auferstandenen Gekreuzigten, die von den Selbstdeutungen des historischen Jesus zwar nicht zu trennen, wohl aber zu unterscheiden ist. Anderes zu behaupten, hieße den Passionscharakter seiner Passion und die in den unbegreiflichen, alles Vorstellen und Erkennen sprengenden Abgrund der Hölle hinabreichende Tödlichkeit seines Todes zu verkennen, deren Wahrnehmung notwendiges Implikat jeder soteriologischen Deutung des Kreuzestodes zu sein hat. Ohne Wahrnehmung der Abgründigkeit des Koinzidenz des Kreuzestodes Jesu gibt es kein lebendiges OsterGegensätzlichen zeugnis, ohne Erkenntnis des österlichen Herrn kein heilsames Wort am Kreuz. Christologisches Osterzeugnis und soteriologisches Bekenntnis zum Gekreuzigten gehören auf differenzierte Weise zusammen. Dass Kreuz und Auferstehung eine differenzierte Einheit darstellen, bestätigt nicht erst das johanneische Kerygma, das Erniedrigung und Erhöhung, Passion und Aktion, Knechtschaft und Herrlichkeit in scheinbar paradoxer Weise koinzidieren lässt, um den Gekreuzigten als eschatologische Offenbarung Gottes zu verstehen und den österlich Erscheinenden als den Gekreuzigten kenntlich zu machen. Die

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untrennbare Zusammengehörigkeit von Osterzeugnis und Bekenntnis zum crucifixus wird bereits in den alten zweigliedrigen Glaubensformeln vorausgesetzt, welche die christologische Identität des auferstandenen Gekreuzigten und die soteriologische Einheit seines Sterbens für uns und seiner uns zugute geschehenen Auferstehung bezeugen. Sie im Vergleich zu eingliedrigen Aussagen für sekundär zu beurteilen, besteht kein Grund. Wie christologisch alles dafür spricht, dass im österlichen Geschehen der Auferweckte als der Gekreuzigte und der Gekreuzigte als Auferstandener wahrgenommen wurde, so lässt sich auch in soteriologischer Hinsicht die Auferstehungsbotschaft nur im Verein mit dem Wort vom Kreuz heilsam bekunden. Entsprechend lautet die alte Formel, die Paulus in Röm 4,25 anführt: „Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, / um unserer Gerechtigkeit willen wurde er auferweckt.“ Als den Osterzeugen der auferstandene Gekreuzigte erschien, da ging ihnen, wie man annehmen darf, zusammen mit der Offenbarung unvergänglichen Lebens Jesu Christi die Tatsache auf, dass sein Kreuzestod notwendig und zwar von theologisch-soteriologischer Notwendigkeit war. Was geschah, musste um Gottes willen und um unseretwillen geschehen, und in dem Gewesenen zeigt sich ein vollendetes Perfekt: es ist vollbracht (Joh 19,30). Bereits im vormarkinischen Passionsbericht über die letzten Stunden Jesu, der von Markus durch ergänzende Einzelperikopen (11,1–11; 14,3–9.12–31.32–42) zu einer chronologischen Erzählung der gesamten Leidenswoche erweitert und von Johannes (18,1–19,42) im Kontext von sog. Abschiedsreden (vgl. Weidemann) auf eigene Weise gestaltet und angereichert wurde, erscheint das Sterben Jesu als ein Ereignis, das unter einem von Gott selbst gefügten unabweisbaren „Muss“ steht. In Jesu Auferweckung erweist sich wie diese selbst auch der Kreuzestod als endzeitliches Gottesgeschehen. Die gottgewirkte österliche Erscheinung des Auferstandenen macht Leiden und Sterben des Gekreuzigten als eschatologisches Ereignis von göttlicher Notwendigkeit offenbar. Den theologischen Sinngehalt dieser eschatologischen Notwendigkeit genau zu erfassen, war von nun an zentrale Aufgabe christlicher Reflexion. Dabei ist es, wie gesagt, zunächst das Schema des Kontrasts, mit welchem die österliche Gemeinde das endzeitliche Geschehen deutet, dessen personaler Inbegriff der auferstandene Gekreuzigte ist. Der von Menschen Erniedrigte ist von Gott erhöht worden. Dieses Motiv begegnet sowohl in vorpaulinischen Formeltraditionen (1. Thess 4,14a; Röm 8,34; 14,9), als auch in kerygmatischem Überlieferungsgut, wie es in den Petruspredigten der lukanischen Apostelgeschichte (2,22f.; 3,13ff.; 4,10; 5,30f.; 10,39f.) verarbeitet ist. Der Gekreuzigte ist erweckt und auferstanden, der Geknechtete verherrlicht: er „ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende“ (Röm 14,9). Von der Herrlichkeit des auferstandenen Gekreuzigten her, welche Gott ihm österlich bereitet hat, erweist sich sein Leiden und Sterben als theologisch in einem Maße bedeutsam, die keine Steigerung denken lässt. Denn indem er ihn auferweckt hat, hat Gott selbst sich mit dem Gekreuzigten identifiziert. Der Sinngehalt christlicher „theologia crucis“, welche die eschatologische

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Notwendigkeit des Kreuzesgeschehens zu ergründen sucht, ist also zunächst christologisch-theologischer Art. Der gekreuzigte Jesus ist der österliche Christus Gottes und zwar als er selbst. Es ist die Identität Jesu Christi als des auferstandenen Gekreuzigten, die dem christlichen Glauben von Ostern her als erstes aufgeht, um im Grundbekenntnis christlichen Glaubens bündig sich auszusprechen: Jesus ist der Herr, der Gekreuzigte der göttlich Erweckte und zu ewigem Leben Erstandene. Ist es mithin der christologisch-theologische Christologie und Soteriologie Sinngehalt des eschatologischen Geschehens von Kreuz und Auferstehung, der sich österlich primär erschließt, so gehört zu ihm die soteriologische Bedeutung gleichwohl unveräußerlich hinzu. Sind im auferstandenen Gekreuzigten Jesus Christus doch Gottesbeziehung und Beziehung zu Menschheit und Welt auf elementare und personal vermittelte Weise vereint. Dass dadurch der Kontrast, dessen Schema die ältesten christlichen Deutungen des Kreuzestodes Jesu bestimmt, nicht aufgelöst, sondern im Gegenteil bestätigt wird, lässt sich exemplarisch an der von Paulus 1. Kor 15,3b–5 zitierten Glaubensformel zeigen. Der Gegensatz von Tod und Auferweckung, auf den die Parallelsätze kontrastierend abgestellt sind, wird durch das soteriologische Interpretament, wonach Christus „für unsere Sünden“ gestorben sei, keineswegs aufgelöst. Es ist der auferstandene Gekreuzigte und er allein, in dem der Gegensatz von Tod und Leben aufgehoben ist, wohingegen die sündige Verkehrtheit sich in dem Gegensatz verwirken müsste, wenn nicht Christus für uns gestorben wäre. Die soteriologische Relevanz des Kreuzes geht gänzlich aus der christologischen Bedeutung des auferstandenen Gekreuzigten hervor, dessen Funktion sie ist. Dass das christologische Kontrastschema von Tod und Auferstehung bereits in der Aramäisch sprechenden Urgemeinde soteriologisch ausgedeutet und mit Aussagen über den Heilssinn des Leidens und Sterbens versehen wurde, ist in hohem Maße wahrscheinlich. Die eschatologische Notwendigkeit des Kreuzestodes, der sich Jesus Christus im Gehorsam des leidenden Gerechten unterwarf, wird als eine heilsame erkannt, welche die abgründige Not wendet, die der Mensch sich und seiner Welt durch die Sünde bereitet hat. Es ist nicht nur, aber insbesondere die sündige Verkehrtheit, in Bezug auf welche die soteriologische Bedeutung des Kreuzes geltend gemacht wird. Das Unheil, das in der Kreuzigung Jesu von Menschen angerichtet wurde, ist von Gott zum Heil der Sünder gewendet worden. Die Passion, die der Gekreuzigte erduldete, erlitt er für uns und uns zugute. Es sind die Motive der versöhnenden Sühne, der Sündenvergebung und der proexistenten Stellvertretung, die wohl schon in der Jerusalemer Urgemeinde die soteriologische Deutung des Todes Jesu bestimmen und die dann im frühen judenchristlichen Hellenismus weiter ausgestaltet werden. Jesu Hingabe am Kreuz erfolgte um unseretwillen und zwar, wie es in 1. Kor 15,3 heißt, für unsere Sünden. Auf ihre Vergebung, wie sie durch die am Kreuz erwirkte Sühne ermöglicht wird, kommt es soteriologisch vor allem an. Dies wird nicht nur durch die bereits in der vorpaulinischen Tradition begegnende Annahme staurologisch gewirkter Versöhnung und

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Rechtfertigung, sondern auch durch Motive einer am Kreuz erfolgten Loskaufung und Befreiung unterstrichen. In den hyper-Formeln (vgl. ThWNT VIII, 510–518), denenzufolge der Kreuzestod Christi für uns (und unsere Sünden) geschah, liegt das soteriologische Grundmotiv christlicher „theologia crucis“ vor. Dabei ist der Stellvertretungsgedanke bereits insofern eingeschlossen, als die für uns und zu unseren Gunsten erlittene Passion vom Gekreuzigten an Stelle von uns und an unserer Statt erduldet wurde. Der repräsentative hängt mit dem soteriologischen Sinn der hyper-Formeln elementar zusammen. Dabei verdient es bemerkt zu werden, dass sich der Stellvertretungsgedanke und seine wichtigsten Bedeutungsaspekte der Repräsentation, der Interzession und der Schuldübernahme in vielen Zusammenhängen der alttestamentlichen Überlieferung finden lassen: der kreatürliche Mensch ist zur Gottebenbildlichkeit bestimmt, der Prophet ist als Fürbitter Israels tätig, dem Sündenbock wird die Schuld der Verfehlungen übertragen. Ps 72 und Jes 52,13–53,12 bieten weitere Fallbeispiele für Stellvertretungsaussagen im Alten Testament (vgl. Janowski, 41–97). Über Ursprung der hyper-Formeln in Aussagen über den Tod Jesu wird in der Forschung unterschiedlich geurteilt: neben der Vorstellung vom Sterben des Märtyrers, das stellvertretende Sühne wirkt, wird häufig auf den Gottesknecht verwiesen, von dem es Jes 53,5 heißt, dass er wegen unserer Verbrechen durchbohrt und wegen unserer Sünde zermalmt sei: „Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, / durch seine Wunden sind wir geheilt.“ Ergeben sich von hierher Bezüge zur soteriologischen Grundformel christlicher „theologia crucis“, so dürfte ihr Aufkommen fernerhin durch die Abendmahlsparadosis von 1. Kor 11,23ff. und namentlich durch das Kelchwort Mk 14,24 motiviert sein. Dies legt die eingangs bereits gestellte Frage einer möglichen Zurückführung der soteriologischen Deutung des Passionsgeschehens auf Jesus selbst nahe. Das bereits mehrfach erwähnte Problem einer vorgängigen Deutung seines Todes durch Jesus führt eine Fülle exegetischer Probleme mit sich, die neben der Abendmahlstradition auch das sog. Lösegeldwort Mk 10,45 par sowie den überlieferungsgeschichtlichen Ursprungsgehalt der sekundär zu Summarien des Passions- und Ostergeschehens erweiterten Leidensankündigungen Jesu betreffen. Dass Jesus seinen bevorstehenden Tod, mit dem er nach Lage der Dinge in Jerusalem rechnen musste, selbst deutete, ist nicht ausgeschlossen. Möglicherweise gestaltete er das Letzte Mahl in der Nacht des Verrats in der Weise einer Gleichnishandlung, in der er das Brotbrechen auf das zu erwartende Zerbrechen seines Leibes und den Segensbecherwein auf das Vergießen seines Blutes bezog in der Absicht, den Jüngern sein kommendes Leiden und Sterben als wegen des Reiches Gottes und wegen der Sühne menschlicher Sündenschuld geschehend verständlich zu machen. Wie immer man hier historisch-kritisch zu urteilen hat: auch wenn der historische Jesus seinen Tod nicht selbst als Sühnegeschehen begriffen hat, bleibt doch bestehen, dass die soteriologische Deutung des Kreuzes als eines für uns und an unserer statt geschehenden Ereignisses in elementarer Verbindung steht mit

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der Proexistenz, die kennzeichnend war für Jesu irdisches Leben, an dessen Ende der Kreuzestod stand. Lässt sich Jesu Kreuzestod historisch zwar nicht eindeutig als notwendige Folge seines vorangegangenen Wirkens oder gar als Konsequenz von theologisch-soteriologischer Notwendigkeit behaupten, so sind doch geschichtliche Zusammenhänge zwischen Leben und Sterben offenkundig und evidentermaßen erkennbar bis in den konkreten Prozessverlauf hinein, der zu Jesu Verurteilung und Hinrichtung führte. War deren äußere Ursache mit dem haltlosen Vorwurf politischen Aufruhrs gegeben, so wird man ihren inneren Grund in Jesu Haltung zu Gott, Mitmensch und Welt zu suchen haben, wie sie für seine eschatologisch ausgerichtete Existenz kennzeichnend war und ihn in den Augen nachgerade der jüdischen Frommen als einen Gotteslästerer und Gesetzesübertreter erscheinen ließ. Die Tempelszene, die den unmittelbaren Anlass zu Jesu Verhaftung gegeben haben wird, gehört hierher. Hierher gehört aber darüber hinaus das gesamte Welt-, Selbst- und Gottesverhältnis, das sich für Jesus aus seinem eschatologischen Sendungsbewusstsein ergab und seine Reich-Gottes-Verkündigung in Wort und Tat charakterisierte. Es war nicht nur, aber auch und gerade die Zuwendung zu den Gottlosen und gottwidrigen Sündern, die ihn in Konflikt brachte und in Konflikt bringen musste mit wichtigen Repräsentanten der religiösen Überlieferungen seines Volkes. Fasst man das innere Wesen dieses Konflikts ins Auge, der für Jesus tödlich endete, dann wird ersichtlich, warum die urchristliche Gemeinde das Sterben des Gekreuzigten im Lichte Osterns als ein für Sünder und an der Sünder Statt erlittenes Geschehen deutete und deuten musste. Dabei wusste sie sich selbst mit der Schar der Sünder vereint, so dass die Formeln für die Vielen und für uns einen hamartiologischen-soteriologischen Zusammenhang ergeben, der im Kreuzestod Jesu seinen richtenden und rettenden Grund hat. Obwohl manches dafür spricht, dass das BeStellvertretender Sühnetod kenntnis zum stellvertretenden Sühnetod Jesu bereits zum Glaubensgut der Jerusalemer Urgemeinde gehörte, verbleibt das soteriologische Schema, welches Jesu Tod als dem Sünder zugute und an des Sünders statt geschehen deutet, in der vorpaulinischen Tradition noch in statu nascendi, um erst durch Paulus in komplexer und theologisch hochdifferenzierter Weise reflektiert zu werden. Dabei durchdringen sich heilsgeschichtliche, forensisch-juridische und kultische Deutungsmotive und legen sich wechselseitig aus. Inbegriff paulinischer Heilsbotschaft ist der Logos der Versöhnung, den Gott unter uns aufgerichtet hat (2. Kor 5,19), damit im Wort vom Kreuz in der Kraft des göttlichen Geistes das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen bezeugt werde. Insofern hat Ernst Käsemann recht, wenn er die Heilsbedeutung des Todes Jesu bei Paulus ganz auf die Zusage des Rechtfertigungsevangeliums konzentriert: „Die Rechtfertigung des Gottlosen ist für Paulus die Frucht des Todes Jesu, nichts sonst.“ (Käsemann, 84) Damit ist zugleich gesagt, dass die Heilstatsache des Kreuzes darauf angelegt ist, durch die christliche Predigt proklamiert und verkündet zu werden. Auch dies ist zutreffend, solange die Tat-

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sächlichkeit des durch die Passion des Gekreuzigten bewirkten Heils nicht in ein bloßes Sprachereignis und Wortgeschehen ohne „fundamentum in re“ aufgelöst wird. Das Rechtfertigungsevangelium bedarf, das duldet nach Paulus keinen Zweifel, eines fundierenden Grundes, wie er im auferstandenen Gekreuzigten gegeben ist. Das Kreuz des Auferstandenen und die österlich offenbare Heilswirklichkeit, durch welche Gott und Mensch versöhnt sind, ist die Voraussetzung der christlichen Rechtfertigungsbotschaft und das ursprüngliche Wirkzeichen der Sakramente, welche der apostolischen Kirche eingestiftet sind. Ist doch der auferstandene Gekreuzigte selbst der manifeste Logos der Versöhnung, um als solcher in der Gewissheit seiner österlich-pfingstlichen Selbstbezeugungsfähigkeit verkündet zu werden. Das Ereignis von Wort und Sakrament, welches das Wesen der Kirche in der Nachfolge der Apostel ausmacht und nach Paulus im Evangelium von der Rechtfertigung seinen soteriologisch zentralen Sinngehalt hat, setzt das Versöhnungsgeschehen des Kreuzes als tatsächlich geschehen und in seiner Heilstatsächlichkeit österlich ratifiziert voraus. Von daher gewinnt die Frage, was das Kreuzesgeschehen an sich selbst sei, ihr soteriologisches Gewicht. Um dem soteriologischen Eigengewicht des Kreuzesgeschehens die nötige Geltung zu verschaffen, bedient sich Paulus unterschiedlicher Deutungsmuster. Das Verständnis des Kreuzesereignisses als eines Geschehens sühnender Versöhnung ist dabei zentral. Zu fragen ist allerdings, was sühnende Versöhnung genau bedeutet. In der traditionellen Exegese sind die einschlägigen Aussagen des Apostels nicht selten im Sinne eines satisfaktorischen und propitiatorischen Sühnopfers gedeutet worden, welches der sündlose Gottmensch anstelle des sündigen Menschen und diesem zugute Gott dargebracht habe, um den göttlichen Zorn über die Sünde zu stillen, der Gerechtigkeit des Allmächtigen Genüge zu leisten und seine gnädige Versöhnung mit den Sündern zu erwirken. Dem wird nicht erst von heutigen Exegeten entgegengehalten, „die Lehre von einem satisfaktorischen und propitiatorischen Sühnopfer, das Jesus vor Gott und für Gott dargebracht habe, (sei) eine ganz und gar unpaulinische, ja eine ganz und gar unbiblische Lehre“ (Hofius, 35). Denn diese Lehre verkenne, dass Gott gemäß gesamtbiblischem Zeugnis nicht Objekt, sondern Subjekt der Versöhnung sei. Die paulinische Deutung des Kreuzestodes Jesu Christi bestätige dies eindeutig: „Subjekt der Versöhnung ist einzig und allein Gott und Objekt der Versöhnung ist einzig und allein der sündige Mensch. Paulus sagt mit keinem Wort, dass Gott mit dem Sünder versöhnt worden sei, dass Christus ihn mit uns versöhnt oder dass Gott sich mit uns versöhnt habe. Sondern dies und nur dies sagt der Apostel: Wir, die Sünder, sind mit Gott versöhnt worden (Röm 5,10), und: Gott hat uns, er hat die ganze gottfeindliche Menschenwelt mit sich versöhnt (2 Kor 5,18f.).“ (Hofius, 37) Dem ist nicht zu widersprechen. Genauer Prüfung bedarf allerdings die Frage, ob damit die Annahme einer durch das Kreuzesgeschehen bewirkten „Veränderung des Verhältnisses Gottes zu dem Menschen“ (ebd.) und einer staurologisch vermittelten „Wendung in Gott“ (ebd.) definitiv der Abschied gegeben ist. Diese Frage ist mit dem zweifellos richtigen Hin-

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weis nicht entschieden, dass der Kreuzestod Jesu Christi im paulinischen Sinne „nicht bloß das Mittel der Versöhnung, sondern ihr Vollzug, nicht bloß ihre Ermöglichung, sondern ihre Verwirklichung (ist)“ (Hofius, 39). Ein exegetisches Problem besonderer Art ist Juridische und kultische durch die Frage bezeichnet, inwieweit für den Versöhnung kreuzestheologischen Sühne- und Versöhnungsgedanken des Paulus kultische Traditionen prägend sind. Folgt man neueren Untersuchungen zum Alten Testament, dann ist Sühnekult nach priesterschriftlichem Verständnis eine Heilsstiftung Gottes, welche Möglichkeiten neuer Gemeinschaft des unheiligen Volkes mit dem heiligen Gott eröffnet. Sühne ist „kein Strafakt, sondern ein Heilsgeschehen“ (Janowski, Stellvertretung, 452), nämlich Unterbrechung des Sünde-Unheil-Zusammenhangs. Als Subjekt der Versöhnung fungiert mithin auch hier Gott, sofern er und er allein die Bedingungen möglicher Sühne gewährt. Dies wird u.a. durch die Stellen Lev 10,17 und 17,11 eindeutig belegt, welche indes zugleich zeigen, dass die von Gott eröffnete Möglichkeit kultischer Sühne deren realen Vollzug zur notwendigen Bedingung der Versöhnung werden lässt. Ist versöhnende Sühne auch für die paulinische „theologia crucis“ gottgegebene Möglichkeit und theologisch geforderte Notwendigkeit in einem, so bildet den Bezugsrahmen kulttraditioneller Deutungen des Kreuzes Jesu, wie sie in signifikanter Weise in Röm 3,21–26 erfolgt, das Ritual des Großen Versöhnungstages, das Lev 16,1–34 (vgl. bes. 12–15) geschildert ist. Schon im zugrundeliegenden vorpaulinischen Überlieferungsgut ist der Sühneort (hilasterion), als den Gott den Crucifixus öffentlich eingesetzt hat, zum endzeitlichen Heiligtum erklärt, welches anstelle des zeitlichen Tempels und der in ihm geübten Sühnerituale tritt. Paulus unterstreicht und radikalisiert diese Einsicht, indem er das hilasterion des Kreuzes zum eschatologischen Sühnort erklärt, an dem Gottes Gerechtigkeit sich im Gericht als heilsam erweist für den Glauben. Das Kreuz Jesu Christi stellt für Paulus die Aufhebung des überkommenen Sühne- und Versöhnungsrituals im Sinne seiner Negation, Bewahrung und Vollendung dar. Diese Auffassung teilt auf seine Weise auch der Verfasser des Hebräerbriefs, in dessen 9. und 10. Kapitel auf dem Hintergrund des Opferkults des Alten Bundes Jesus Christus als endzeitlicher Hoherpriester gekennzeichnet wird, der durch sein einmaliges Selbstopfer am Kreuz ein für alle Mal und in endgültiger Weise die Sünde getilgt, mit Gott versöhnt und den neuen Bund besiegelt hat durch sein Blut. Weist die Vorstellung von seinem Sühnetod als eschatologischem Ersatz des Tempelkults auf die Tempelszene zurück, die am Anfang vom Ende des irdischen Jesus steht, so lässt sich im Lichte Osterns die Passion als Sinnrichtung und Ziel des gesamten Lebens Jesu erkennen, dessen Dahingabe für uns durch die Proexistenz seines gesamten Daseins präfiguriert ist. Nicht ohne sachlichen Grund wurden die Evangelien als Passionsgeschichten mit verlängerter Einleitung charakterisiert. Für die Mission des Paulus ist dabei die Einsicht entscheidend geworden, dass der Jesus in den Tod führende Konflikt mit Repräsentanten der Tora, welchen insbesondere

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sein Umgang mit den Gott- und Gesetzeslosen provoziert hatte, für die Geltung des Gesetzes nicht irrelevant, sondern im Gegenteil von höchster Bedeutsamkeit ist. Diese Einsicht, die ihm nach eigenem Zeugnis durch eine späte österliche Erscheinung des auferstandenen Gekreuzigten selbst zuteil wurde, machte Paulus aus einem Verfolger zu einem – wenngleich umstrittenen – Anführer jener aus dem Stephanuskreis hervorgehenden antiochenischen Hellenisten, für welche die Gewissheit bestimmend war, dass durch den Fluchtod Jesu Christi am Kreuz mit dem Tempel als ritualgesetzlicher Stätte der Sühne für die Sünden des Volkes Gottes auch die Tora Israels insgesamt in eine soteriologische Krise geraten sei. Die paulinische Gesetz-Evangeliums-Thematik ist unmittelbares Implikat seiner „theologia crucis“. Man wird zugleich sagen dürfen, dass durch ihr sachliches Gewicht das unter den Exegeten kontrovers diskutierte Problem relativiert wird, ob die paulinische Rede von der Heilsbedeutung des Todes Christi im Kontext kultischer Sühnevorstellungen zu verstehen oder ob sein Versöhnungsbegriff von nichtkultischer Art sei. Was diese Frage betrifft, so wird man sich getrost mit einem „sowohl – als auch“ bescheiden dürfen. Einerseits nämlich ist unbestreitbar, dass das kultische Ritual des Großen Versöhnungstages den Hintergrund des Überlieferungsstücks Röm 3,21ff. bildet. Andererseits ist es wenn nicht bereits, wie anzunehmen, die Pointe dieses Überlieferungsstücks selbst, so doch diejenige seiner paulinischen Rezeption, das Kreuz Jesu Christi als den eschatologischen Ort der Sühne zu bezeugen, in dem endgültige Versöhnung bereitet ist, weil der richtende Gott selbst als Retter erscheint, um durch den Fluchtod am Kreuz Leben und ewiges Heil zu erschließen. Genau auf diesen Zusammenhang, in welchem der Kultus zu seiner Vollendung und zu seinem Ende zugleich gelangt, ist die paulinische „theologia crucis“ konzentriert, in deren Mitte die Offenbarung der Gottesgerechtigkeit im auferstandenen Gekreuzigten steht. Das wird durch weitere Texte bestätigt, die den Bezug auf kultische Sühnevorstellungen nahelegen, wie etwa durch Röm 5,1–11, Röm 8,2f. oder 2. Kor 5,14–21 (vgl. Röm 3,25f.; 8,3; Gal 2,13). Der Skopus der Aussagen ist stets auf den Erweis der Gerechtigkeit Gottes bezogen, dessen Gesetzesgericht sich am Gekreuzigten auswirkte, der stellvertretend die Schuld der Sünde auf sich nahm und deren Strafe erlitt, damit österliche Versöhnung bereitet und das Pfingstevangelium von der Rechtfertigung des Sünders durch Glauben erschlossen werde. In der paulinischen Tradition einschließlich der Deuteropaulinen findet sich mit dem Wort hilasterion in Röm 3,25 „nur ein einziger expliziter Sühneterminus, dessen Interpretation auch noch sehr umstritten ist“ (Knöppler, 112). Allerdings wird die Belegbasis erheblich erweitert, wenn man die Herrenmahlsparadosis in 1. Kor 11,23b-25 (vgl. 1. Kor 10,16), die Stellvertretungsaussagen, die schon in der vorpaulinischen Überlieferung verhältnismäßig häufig begegnen (1. Kor 11,24; 15,3b; Gal 1,4; Röm 4,25a u. b), und weitere indirekte Anspielungen auf den Sühnegedanken in die Überlegungen einbezieht. Es ergibt sich, dass Jesu Tod nicht erst in den hellenistischen Gemeinden und auch nicht erst von Paulus als Sühnetod verstanden worden ist. Von Anfang an hat die Urgemeinde bezeugt, dass im Ster-

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ben und Auferstehen ihres Herrn die Verheißungen von Jes 53 erfüllt sind. Der wahre Gottesknecht Jesus Christus wurde dahingegeben und ans Kreuz ausgeliefert, damit er den Sühnetod für unsere Sünden sterbe (vgl. Lohse, 16; 56 etc.). Das Moment der Sühne, ob nun in kultischen, juridischen oder sonstigen Vorstellungskategorien interpretiert, bildet einerseits ein konstitutives Element des Versöhnungsgeschehens, für das der auferstandene Gekreuzigte einsteht, sofern der gerechte Gott das Unrecht richtet. Es ist aber unbeschadet seines unveräußerlich konstitutiven Charakters ein aufgehobenes Moments insofern, als sich die Gerechtigkeit Gottes nicht im Gericht erfüllt, sondern in der Rettung der Sünder, denen durch ihren Glauben an den auferstandenen Gekreuzigten Rechtfertigung gewährt wird aus der im Versöhner offenbaren göttlichen Gnade heraus. Gott selbst ist es, der kraft göttlichen Geistes in seinem Christus, welcher kein anderer ist als der gekreuzigte Jesus, aus dem von ihm verfügten endzeitlichen Zorngericht rettet. Es gilt der Grundsatz: Nemo contra deum, nisi deus ipse. Im Sinne dieses Grundsatzes sind die PassionsGott und das Kreuz geschichten der Evangelien gestaltet. Ihrem Formgesetz gemäß tendieren sie dazu, dem Gekreuzigten „alle Übel ... zu erleiden zu geben“ und „kein einziges (sc. Übel) in der Anonymität zufälligen Ursprungs zu belassen, vielmehr sie insgesamt auf menschliche Tat zurückzuführen“ (Bader, 41f.). Am Kreuz trägt Jesus Christus stellvertretend Leid und Schuld der ganzen Welt und jedes einzelnen Menschen. Dabei bleiben das Motiv des göttlichen dei und das paradidonai-Motiv entscheidend, welche beide sich schon in vormarkinischer Tradition finden und in den drei markinischen Leidensaussagen (Mk 8,27–33; 9,30–32; 10,32–34) exemplarischen Ausdruck gefunden haben. Sie verknüpfen Jesu vollmächtiges Wirken in Galiläa mit den noch ausstehenden Ereignissen in Jerusalem und richten so „das Gesamtgeschehen bewusst auf die Passionsereignisse aus“ (Weihs, Deutung, 254). Im Zeichen des Kreuzes des Auferstandenen fasst sich das ganze Christentum zusammen. Bleibt hinzuzufügen, dass nach 1. Petr 3,19 Christus zu den Geistern gegangen ist, die, wie es heißt, im Gefängnis waren, um ihnen zu predigen. Daraus hat sich die Vorstellung eines descensus ad inferna, einer Höllenfahrt Jesu Christi nach seinem Tod und seiner Grablegung entwickelt, wobei umstritten war, ob es sich dabei um das Äußerste seiner Passion oder bereits um den Anfang seine österlichen Erhöhung und den Beginn des offenen Triumphes über den Teufel handelte. Obwohl der gesamte Vorstellungskomplex am biblischen Zeugnis nur bedingt Anhalt findet, wird man beiden Varianten ein theologisches Wahrheitsmoment nicht absprechen können. Die Erniedrigung Jesu am Kreuz reicht hinab bis zur Hölle, aus welcher der auferstandene Gekreuzigte gerade deshalb zu erretten vermag, weil er sie an sich selbst für uns erlitten hat. Der bis ins Äußerste erniedrigte Sünderfreund ist der zur Rechten Gottes himmlisch Erhöhte und als der auferstandene Gekreuzigte das Evangelium in Person, das den Sünder ohne des Gesetzes Werke allein aus Gnade durch Glauben rechtfertigt.

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Lit.: R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen (1953) 31958. – X. L. Dufour, Resurrection and the Message of Easter, London 1974. – M. Ebner, Jesus von Nazareth in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge, Stuttgart 2003. – L. Goppelt, Theologie des Neuen Testaments. Hg. v. J. Roloff, Göttingen 31985. – M. Hengel/A. M. Schwemer (Hg.), Königsherrschaft Gottes und himmlischer Kult im Judentum, Urchristentum und in der hellenistischen Welt, Tübingen 1991. – J. Holleman, Resurrection and Parousia. A. TraditioHistorical Study of Paul’s Eschatology in 1 Corinthians 15, Leiden/New York/Köln 1996. – K. Koenen/R. Kühschelm, Zeitenwende. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments, Würzburg 1999. – W. G. Kümmel, Verheißung und Erfüllung. Untersuchungen zur eschatologischen Verkündigung Jesu, Zürich 21953. – M. Künzi, Das Naherwartungslogion Matthäus 10,23. Geschichte seiner Auslegung, Tübingen 1970. – G. Lohfink, Die Himmelfahrt Jesu. Untersuchungen zu den Himmelfahrts- und Erhöhungstexten bei Lukas, München 1971. – H. Preisker, Art. eggys etc., in: ThWNT 2, 329–332. – J. M. Scott (Ed.), Restoration. Old Testament, Jewish, and Christian Perspectives, Leiden/Boston/Köln 2001. – H. Weder, Gegenwart und Gottesherrschaft. Überlegungen zum Zeitverständnis bei Jesus und im frühen Christentum, Neukirchen 1993. – J. Weiß, Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, 3. Aufl., hg. v. F. Hahn, Göttingen 1964. – G. Wenz, Andacht und Zuversicht. Dogmatische Überlegungen zum Gebet, in: ZThK 78 (1981), 465–490.

Der Beginn der Wiederentdeckung neutesta- Konsequente Eschatologie mentlicher Eschatologie in der Theologiege- und existentiale schichte der Moderne wird üblicherweise mit der Interpretation 1892 erstmals erschienenen, im Jahre 1900 in überarbeiteter Gestalt neu aufgelegten Studie von Johannes Weiß über „Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes“ verbunden. Zusammen mit Albert Schweitzer gilt Weiß als Vater und exemplarischer Repräsentant der sog. konsequenten Eschatologie, mit der die bis dahin in der Ritschlschule übliche Sicht der Dinge zumindest exegetisch abgelöst wurde. Um zu wissen, was mit dem Stichwort der konsequenten Eschatologie gemeint ist, genügt es, sich einige der zehn Punkte zu vergegenwärtigen, in denen Weiß das Ergebnis seiner Untersuchung zusammenfasst: Danach war Jesu Wirken beherrscht durch die gespannte Erwartung des Gottesreiches, dessen Kommen als unmittelbar bevorstehend erachtet wurde. In Momenten prophetischer Ergriffenheit habe Jesus bereits vom gegenwärtigen Anbruch der Königsherrschaft Gottes sprechen können, deren endgültigen Erweis indes erst die nahe Zukunft erbringen sollte. Das Kommen dieser Zukunft und damit die Verwirklichung des Reiches Gottes verdankt sich in keiner Weise menschlicher Akti-

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vität oder menschlichem Zutun, sondern ausschließlich dem Wirken Gottes, der allein und durch einen übernatürlichen Eingriff von unvermittelter Plötzlichkeit den alten Äon ans Ende und den Anfang des neuen und unvergänglichen zustande bringt. Die Vorstellung einer allmählichen Entwicklung des Gottesreiches wird dezidiert abgewiesen. Dieses verwirklicht sich nicht in Kontinuität, sondern im antithetischen Gegensatz zur gegebenen Welt, welche durch Tod und Teufel beherrscht wird, um dem göttlichen Gericht zu verfallen. Die neue Welt setzt den Untergang der alten voraus, in den auch die Instanzen und Institutionen von Recht, Sitte und Religion hineingezogen werden. Indes war Jesus nach Weiß kein Prophet der Revolution. Denn auch diese ist wie das restaurative Festhalten am Überkommenen eine innerweltliche Angelegenheit und durch die Umwälzungen radikal überholt, welche das Reich Gottes mit sich bringt. Dass es sich bei all diesen Bestimmungen um Variationen einer typischen Einsicht handelt, ist unschwer zu sehen. Ob nun die radikale Zukünftigkeit, die dem menschlichen Zugriff unerreichbare Transzendenz oder die unableitbare Kontingenz des Kommens des Gottesreiches eingeschärft wird, stets handelt es sich um Momente eines Zusammenhangs. Durchweg wird das Reich Gottes zu Menschheit und Welt, wie sie sich vorfinden, in ein antithetisch-dualistisches Verhältnis gesetzt. Man kann das Ergebnis der Untersuchung von Weiß deshalb in aller Kürze und mit dessen eigenen Worten so zusammenfassen: „... das Reich Gottes (ist) nach der Auffassung Jesu eine schlechthin überweltliche Größe ..., die zu dieser Welt in ausschließendem Gegensatz steht. Damit ist ... gesagt, daß von einer innerweltlichen Entwicklung des Reiches Gottes im Gedankenkreis Jesu die Rede nicht sein kann.“ (Weiß, 236) Mit Weißens Studie schien die Eschatologie der Ritschlschule erledigt, deren kantianisierende Ausrichtung vom Gedanken kontinuierlichen Fortschritts religiös fundierter Sittlichkeit bestimmt war und die Annahme kontingenter Transzendenzeinbrüche ebenso bestimmt ablehnte wie die Erwartung kosmischer Äonenwenden. Bemerkenswerterweise blieb Weiß indes als Systematiker der Theologie seines Schwiegervaters treu, obwohl er als Exeget ihre historische Unhaltbarkeit konstatierte. Eine vergleichbare Diskrepanz oder zumindest eine ähnliche Problemkonstellation lässt sich bei Rudolf Bultmann entdecken. Historisch teilte er die in der konsequenten Eschatologie von Weiß und Schweitzer vertretene Auffassung der Reich-Gottes-Predigt Jesu. Sie stehe in apokalyptischer Tradition, ihre Eschatologie sei futurisch, von einem gegenwärtigen Kommen des Gottesreiches werde nirgends explizit geredet. Das hinderte Bultmann nicht, die sog. konsequente Eschatologie in systematischem Interesse nach Maßgabe existentialer Interpretation in eine aktuelle zu transformieren, wobei hinzuzufügen ist, dass die Verkündigung Jesu nach seinem Urteil ohnehin nur zu den Voraussetzungen der Theologie des Neuen Testaments gehört und kein Teil dieser selbst ist. Zwar stehe Jesu Botschaft eindeutig im geschichtlichen Zusammenhang der jüdischen Endzeiterwartung; auch wenn alle gelehrte und phantastische Spekulation fehle, so werde deren Zukunftsbild in reduzierter Form gleichwohl übernommen: wie das Judentum und

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wie seine spätere Gemeinde erwarte Jesus das nahe bevorstehende Hereinbrechen der Gottesherrschaft als ein wunderbares, die Welt umgestaltendes Ereignis. Worauf es bleibend ankomme, sei indes nicht diese – sowieso als Irrtum erwiesene und falsifizierte – Naherwartung, sondern der persönliche Ruf eschatologischer Verkündigung zu dezidierter Entscheidung für radikalen Gehorsam dem Liebeswillen Gottes gegenüber. Reich-Gottes-Predigt und sittliche Forderung Jesu seien so gesehen eins: beide „weisen den Menschen auf sein Gestelltsein vor Gott, auf Gottes Bevorstehen; sie weisen ihn in sein Jetzt als in die Stunde der Entscheidung für Gott.“ (Bultmann, 21) Die Eschatologie Jesu streift so ihren futurischen Charakter ab, um der endzeitorientierten Weltgeschichte tendenziell den Abschied zu geben und sich mehr oder minder ausschließlich existentialer Geschichtlichkeit des einzelnen Menschen zu widmen. In der Bultmannschule setzte sich dieser Interpretationstrend bei allen Modifikationen im Detail erkennbar fort, um sich durch systematische Einholung des historischen Gegenstandes bzw. Rehistorisierung des dogmatischen Geltungsanspruches zu vollenden: „Man hält zwar aufs Ganze gesehen fest, daß das Reich Gottes für Jesus eine überweltliche Größe sei, daß er nicht von seinem gegenwärtigen, sondern von seinem bevorstehenden Kommen redet. Aber man bestreitet nun, daß Jesus das Kommen des Reiches auch nur vorstellungsmäßig apokalyptisch gedacht habe. Was Bultmann erst durch existentiale Interpretation der apokalyptischen Erwartung als eigentliche Intention Jesu erhob, wird nun abgewandelt unmittelbar als seine Meinung gesehen.“ (Goppelt, 103; vgl. Hengel/Schwemer) Infolgedessen ergeben sich erstaunliche sachliche Konvergenzen mit Auffassungen, die von zunächst gänzlich gegenläufigen historischen Befunden ihren Ausgang genommen haben wie etwa zur „realized eschatology“ von Charles Harold Dodd, der im Gegensatz zu Bultmann exegetisch fast nur Aussagen Jesu über ein gegenwärtiges Kommen des Gottesreiches als authentisch anerkannte. Ohne dass es nötig wäre, ihn über die gegebenen Andeutungen hinaus fortzuführen, lässt sich Futurische und präsentische Eschatologie aus dem in gebotener Kürze vorgetragenen forschungsgeschichtlichen Exkurs eine sachliche Einsicht erschließen: Offenbar wird man dem materialen Befund der Texte weder historisch noch systematisch gerecht, wenn man in Anbetracht der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu sei es vom futurischen, sei es vom präsentischen Aspekt zugunsten des jeweils anderen absieht. Die Vermutung liegt nahe, dass beide Gesichtspunkte zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen sind, weil sie sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht sachlich zusammengehören. Exegetisch ist davon auszugehen, „daß Jesus aller historischen Wahrscheinlichkeit nach zugleich von einem gegenwärtigen und einem künftigen Kommen des Reiches Gottes geredet hat“ (Goppelt, 104). Dieses „zugleich“ will freilich nicht nur historisch konstatiert, sondern auch systematisch bedacht sein, insofern es Implikationen enthält, die zusammen mit dem Verhältnis von futurischer und präsentischer Eschatologie das Verständnis von Zukunft und Gegenwart des von Jesus verkündigten Reiches selbst betreffen. Lassen sich Zu-

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kunft und Gegenwart des Reiches Gottes in der Verkündigung Jesu nicht wirklich vom jeweils anderen abstrahieren, so ist vorrangig zu prüfen, ob Präsens und Futur in dieser Rede nicht dergestalt durcheinander vermittelt sind, dass sie einen zwar differenzierten, aber gleichwohl einigen Zusammenhang bilden. Erweist die Zukunft des Reiches Gottes nicht gerade darin ihren futurischen Charakter, dass sie sich einer abständigen Gegenwart, in welcher Tod und Sünde herrschen, als das Kommende präsentiert, um solcher Gegenwart zusammen mit der eigenen unheilvollen Verfassung eine andere, künftige Wirklichkeit gegenwärtig werden zu lassen? Und ist umgekehrt die Gegenwart des Reiches Gottes nach Maßgabe der Verkündigung Jesu nicht nachgerade als ein Zumvorscheinkommen jenes Künftigen aufzufassen, auf das alle präsente Wirklichkeit ihrer Bestimmung nach hingeordnet ist? Der exegetische Befund legt es nahe, diese Fragen zu bejahen. Vorausgesetzt ist dabei, dass man sich auf die eigentümliche Temporalitätsstruktur der Aussagen Jesu vom kommenden Reich Gottes einlässt und sie nicht an herangetragenen Maßstäben bemisst. Futurische und präsentische Eschatologie sind in Jesu Reich-Gottes-Botschaft nicht trennbar. Es ist im Gegenteil so, dass die jesuanische Rede vom eschatologischen Tag Gottes kraft der ihr eigenen Metaphorik eine spezifische Temporalität hervorruft und strukturiert, vermöge deren Gegenwärtiges vermittels seines Zukunftsbezugs sich selbst präsent wird, um durch das Licht des kommenden Tages über sich aufgeklärt und hinausgeführt zu werden auf Künftiges hin. Die Wörter, mit denen im neutestamentlichen Zeugnis die Nähe bzw. das Sichnähern und Nahekommen des Gottesreiches nach Maßgabe der jesuanischen Basileiaverkündigung zum Ausdruck gebracht werden, stammen zwar aus der Profangräzität, wo sie als übliche Orts- und Zeitbestimmungen verwendet wurden; gelegentlich begegnet ein solcher Gebrauch auch im Neuen Testament. Wo sie indes im eschatologischen Kontext Verwendung finden, nehmen sie einen spezifischen Sinn an, der mit ihrer üblichen Bedeutung nicht direkt vergleichbar ist. Sie werden, um den einschlägigen Artikel des theologischen Wörterbuches zum Neuen Testament zu zitieren, zu heiligen Wörtern, die vom Geheimnis der Enderfüllung künden, die Menschheit und Welt nur in Gott zu erlangen vermögen. Weit davon entfernt, bloße Orts- und Zeitangaben zu sein, „gehören eggys und eggizein im Anfang des Urchristentums zu den Wörtern, die den heiligen Schauer aller Telos-Hoffnung ahnen lassen; sie sind Ausdruck der Hoffnung auf die Gegenwartsnähe der kommenden Welt und werden, so zum Stamm der ‚heiligen‘ Worte gerechnet, nur im Zusammenhang mit der großen Vollendungshoffnung gebraucht.“ (ThWNT 2, 331f.; vgl. Koenen/Kühschelm) Dieser Hinweis mag als preziös formuliert empfunden werden; er deutet aber mit Recht an, dass die eschatologische Nähe des Reiches Gottes nicht mit denselben Maßstäben zu bemessen ist, wie sie für geläufige Raum- und Zeitangaben gelten. Zwar sind von den Begriffen der Nähe und des Nahens, die Jesus im Zusammenhang seiner Reich-GottesPredigt verwendet, raum-zeitliche Vorstellungen nicht zu trennen. Seinem Wortsinn nach bedeutet eggys zweifellos räumliche Nähe oder die Nähe eines zeitlich

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bevorstehenden Termins oder Ereignisses (vgl. Kümmel, 13ff.). Aber die Rede vom Nahekommen des Eschatons und die drängende Nähe der Endzeit rufen im Kontext der Verkündigung Jesu noch andere, theologisch weiterreichende Assoziationen hervor. Die entscheidende Frage ist insofern nicht, ob Jesus eine eschatologische Naherwartung, sondern wie er sie hegte. Um das Problem der jesuanischen Eschatologie einer Klärung zuzuführen, die ihrer Multidimensionalität gemäß ist, empfiehlt es sich, zusammen mit dem Inhalt der Basileiaverkündigung Jesu noch einmal ihrer Form die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden. Bemerkenswerterweise hat Jesus keine Belehrungen über die Gottesherrschaft abgegeben, sondern sie durch Zeichenhandlungen angezeigt und sie in Gestalt von Bildworten und Gleichnissen zur Sprache gebracht, die nicht nur auf Vorstellungen, sondern auf Einstellungen und ihren Wandel zielten. Durch die gleichnishafte Gestalt, die er ihnen gab, machte Jesus den Gehalt seiner ReichGottes-Botschaft auf eine Weise vorstellig, die eine distanzierte Betrachtung nicht zulässt, sondern persönliche Stellungnahme förmlich provoziert. Das Reich Gottes, wie es in den einschlägigen Gleichnissen zur Sprache kommt, geht die Hörerschaft unmittelbar an und hat einen direkten Bezug zum Welt-, Selbst- und namentlich zum Gottesverhältnis der Menschen, die nicht nur über allgemeine Sachverhalte belehrt, sondern konkret und in der besonderen Situation angesprochen werden, in der sie sich befinden. Jesus spricht die aramäische Muttersprache des Volkes und nicht die Hochsprache von Gelehrten. Zugleich weist die Virtuosität seines Umgangs mit den Regeln der semitischen Poetik darauf hin, dass seine Botschaft mehr und anderes enthält als Weisheiten des Alltags. Die neuere Gleichnisforschung hat sich mit besonderer Hingabe der Erhebung alltäglicher Lebensverhältnisse im damaligen Palästina angenommen, in welche die in kunstvoller Poesie gestaltete Bilderwelt der Gleichnisse Jesu wertvolle Einblicke gibt. Doch geht es in der jesuanischen Gleichnisrede primär nicht um alltägliche Lebenswelten und um allgemeine Einsichten, die Menschenweisheit aus ihrer Betrachtung zu gewinnen vermag. Ihr Skopus ist es vielmehr, aus der Alltagserfahrung heraus der kommenden Gottesherrschaft entgegenzuführen, deren Zukunft bereits gegenwärtig im Anbruch begriffen ist, was in der Zusage väterlichen Erbarmens Gottes mit den Verlorenen und Verschuldeten besonders zutage tritt, aber auch in Jesu dringendem Ruf, den Forderungen der Stunde zu genügen, und in den Warnungen vor einem drohenden Zuspät. Auch wenn es sich nicht bei allen jesuanischen Gleichnissen um förmliche Gottes-Reich-Gleichnisse handelt, so sind sie doch alle vom Geheimnis der nahen Basileia erfüllt. Ist mit den gegebenen Hinweisen erneut der eschatologische Charakter der Gleichnisrede Jesu und seiner Basileiaverkündigung unterstrichen, so sind weisheitliche Bezüge seiner Botschaft nichtsdestoweniger erkenntlich vorhanden und nicht in Abrede zu stellen. „War Jesus ein Weisheitslehrer oder ein Apokalyptiker?“ (vgl. Ebner, 4) Diese Frage ist in ihrer alternativen Form offenbar falsch gestellt. Denn Jesus war nachgerade als Verkündiger des kommenden Reiches Gottes beides zugleich und in einem. Eschatologie und Weisheit bilden in der Botschaft Jesu

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kein beziehungsloses Nebeneinander oder gar einen Widerspruch, sondern legen sich wechselseitig aus. Wo der prophetischen Verheißung der kommenden Gottesherrschaft, wie Jesus sie in Wort und Zeichen zusagt, lebensweltlich entsprochen wird, da ist die Basileia bereits jetzt präsent wie umgekehrt die Gegenwart sich erst dann erfüllt, wenn sie ganz auf die eschatologische Zukunft des Reiches Gottes als aller Weisheit Inbegriff und Schluss ausgerichtet ist. Wie Futur und Präsens so bilden in Jesu Reich-Gottes-Verkündigung, für welche die Gleichnisreden exemplarisch sind, Protologie und Eschatologie einen differenzierten, wenngleich eindeutig gerichteten Zusammenhang. Die gewisse Verheißung göttlichen Entgegenkommens bildet das rechte Maß der Zuordnung von ursprünglicher Schöpfung und künftiger Vollendung. Eine Verbindung von endzeitlich orientierter Heilsgeschichte und Schöpfung begegnet insbesondere im hellenistischen Judentum häufig, wobei das vollendete Heil entweder als Erfüllung, Wiederherstellung oder Erneuerung der Schöpfung in Betracht gezogen wird. Auch der Gedanke einer völligen Neuschöpfung findet sich (vgl. im Einzelnen Scott). Was Jesu Botschaft betrifft, so fügt sie sich nur bedingt in vorgefertigte Schemata ein, was mit der für sie signifikanten Verschränkung der Zeiten zu tun hat, die eine chronologische Scheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht zulässt. Um die der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu und ihrer charakteristischen Gleichnisgestalt eigentümliche Temporalitätsstruktur genauer zu erfassen, mag es nützlich sein, nicht nur Zeitmodi, sondern auch distinkte Formen von Zeit zu unterscheiden, ohne diese voneinander zu trennen. Die kosmische oder, wenn man so will, natürliche Zeit bemisst sich nach antikem Verständnis an den gleichmäßigen Bewegungen der Gestirnwelt bzw. an anderen periodischen Abläufen. Man kann sie die Raumzeit nennen. Nach ihrem Maß sind Nähe und Ferne des Gottesreiches nicht hinreichend zu ermessen. Dies gilt für die frühjüdische Eschatologie im Allgemeinen und für diejenige Jesu im Besonderen. Wie mehrfach vermerkt, beurteilte Jesus das Kommen des Reiches Gottes als chronologisch unberechenbar. Ja, man wird sagen müssen, dass kosmische Unberechenbarkeit geradezu ein charakteristisches Kennzeichen der Zukunft des Reiches Gottes im Sinne der Botschaft Jesu ist. Zwar wird in einigen Jesuslogien die eschatologiUnberechenbares Kommen sche Zukunft als das Kommen „jenes Tages“, nämlich des Tages Jahwes angesagt, auf den die alttestamentliche Prophetie seit Am 5,18ff. verweist. Aber jener eschatologische Tag kann, sowenig er der Zeit einfachhin entnommen und einer zeitlosen Ewigkeit anheim gegeben wird, nicht nur nicht, er darf nach dem Urteil Jesu auch nicht berechnet werden, da es just seine Unberechenbarkeit ist, mit der eschatologisch zu rechnen ist. Der Tag des Herrn kann jederzeit anbrechen. Auch Jesus nimmt für sich nicht in Anspruch, Näheres als eben dies von der raumzeitlichen Nähe des Reiches Gottes zu wissen, und wo ein weitergehender Wissensanspruch erhoben oder an ihn herangetragen wird, da weist er ihn entschieden ab und ausdrücklich

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von sich. Nicht dass damit der endzeitliche Charakter der jesuanischen Eschatologie und ihre futurische Ausrichtung bestritten wäre: es ist im Gegenteil so, dass die Abwehr chronologischer Bemessung konstitutiv zur eschatologischen Botschaft Jesu vom künftigen Reich Gottes gehört. Für die Beurteilung dessen, was im jesuanischen Sinn Naherwartung heißt, ist die Abwehr jedweder Form eschatologischer Berechnung alles andere als unbedeutsam. Denn offenbar lässt sich das Kommen des Reiches Gottes nach Jesu Urteil deshalb nicht rein äußerlich bemessen, weil es das Innerste des Menschen betrifft und nicht nur bedingt, sondern unbedingt angeht. Nicht dass Weltbezug und kosmische Dimensionen der jesuanischen Basileiabotschaft abgehen würden. Sie sind schon dadurch gegeben, dass Jesus leibhafte Menschen anspricht und in ihrer Leibhaftigkeit ernst nimmt, wie nachgerade seine Zeichenhandlungen belegen, die seiner Wortverkündigung unveräußerlich zugehören. Abwegig wäre es deshalb, die eschatologische Endzeit, von der Jesus kündet, zu enttemporalisieren sowie das Reich Gotets zu einer zeitlosen Größe und die Ansage seines Kommens zu einer bloß figürlichen Rede zu erkären. Die eigentümliche Gleichnisform der jesuanischen Reich-Gottes-Verkündigung entspricht einer solchen Erklärung nicht nur nicht, sondern widerspricht ihr. Jesus hat die Nähe des Gottesreiches zweifellos nicht ohne zeitliche Dimensionen gedacht, ja, es ist in hohem Maße wahrscheinlich, dass er den definitiven Anbruch und das endgültige Kommen des Eschatons noch für die damals gegenwärtige Generation erwartet hat, ohne deshalb irgendwelche Berechnungsversuche anzustellen, die er vielmehr dezidiert abwehrte. Die Motive der Plötzlichkeit, der gebotenen Wachsamkeit etc. gehören in diesen Zusammenhang, indem sie die Endzeit als unmittelbar bevorstehend und ihren Anbruch zugleich als unberechenbar qualifizieren. Unter den Bedingungen des alten Äons muss die Unberechenbarheit der Endzeit als bedrohlich, ja als widerlich erscheinen. Für Jesus hingegen ist sie ein eschatologisches Moment, das um der gebotenen Gottesfurcht willen zu achten ist, wegen der Väterlichkeit des kommenden Gottes, den er verkündet, aber auch geachtet und anerkannt werden kann. Unter diesem Gesichtspunkt bedarf die exegetische These eschatologischer Naherwartung und die mit ihr verbundene Annahme ihrer Enttäuschung einer kritischen Prüfung. Dass Jesus in eschatologischer Hinsicht einer zeitlichen Täuschung unterlegen sei oder sich gar einer solchen schuldig gemacht habe, sollte man jedenfalls nicht behaupten. Nicht nur dogmatisch, sondern auch historisch ist davon auszugehen, dass er sich dessen bewusst war, chronologische Zeit und Stunde des Eschatons nicht zu kennen. Ist das Bewusstsein des Nichtwissens von chronologischer Zeit und Stunde des Eschatons und seines Anbruchs fester Bestandteil jesuanischer Verkündigung des Reiches Gottes, so wird man deren Endzeitansage nicht auf ein berechenbares Futur, sondern auf eine Zukunft zu beziehen haben, die Gegenwärtiges aktuell über seine Schranken hinauszuführen und eine unvergängliche Hoffnungsgewissheit zu begründen vermag. Die Endzeit, die Jesus verkündet, hebt alle raumzeitli-

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che Fixierungen auf, weil in ihrer Künftigkeit Gott kommt, der die Zeiten nicht nur wendet, sondern vollendet. Um dieser Wahrheit gewahr zu werden, darf der Mensch nicht im Äußeren verharren, sondern muss in sich gehen, um von innen heraus bekehrt und jenem Ziel zugeführt zu werden, zu dem er von seinem Schöpfer her bestimmt ist. Die Vorstellung bemessbarer räumlicher Abstände und chronologischer Distanzen bleibt der jesuanischen Rede von der Nähe des Gottesreiches äußerlich bzw. hat für sie nur äußerliche Bedeutung. Sosehr das Kommen der göttlichen Herrschaft die Weltzeit und den Weltraum betrifft, so wenig geht es doch darin auf, weil es unbeschadet aller kosmischen Wirkungen konsequent auf die menschliche Geschichte und in dieser nicht lediglich auf das leibliche Äußere des Menschen, sondern auch und vor allem auf dessen inwendiges Leben gerichtet ist. Die Zukunft des Gottesreiches, das Jesus verkündet, geht den Menschen und die Menschenwelt primär von innen her an. Erst dadurch wird die Nähe des kommenden Gottes in der Weise bedrängend, wie Jesus dies voraussetzt, wohingegen sie sich andernfalls mehr oder minder auf Abstand halten und distanzieren ließe. Der kommende Gott, den Jesus verkündet, kommt dem Menschen näher als ihm alles in der Welt – seine Nächsten und selbst sein Ich eingeschlossen – nahe kommen kann. Darin erweist er sich als der Herr, der Herr aller Herren ist und dessen eschatologische Herrschaft Ausgang und Eingang, Anfang und Ende beherrscht. Weil das Kommen der Herrschaft Gottes, welche Jesus verkündet, auf das Herz zielt, wird der Mensch der Ankunft des Zukünftigen primär nicht etwa anhand äußerer Anzeichen, sondern dadurch gewahr, dass er seiner Gottferne und sündigen Verkehrtheit sowie der alternativlosen Notwendigkeit radikaler Umkehr innewird. Zwar hat sich Jesus sowohl in Wort als auch in aktiver und mitleidender Tat der äußeren Übel der Welt und der Menschheitsgeschichte vorbehaltlos angenommen; ein wie auch immer gearteter Leib-Seele-Dualismus war nicht seine Sache. Gleichwohl ist seine Botschaft und nachgerade die Verkündigung der nahenden Gottesherrschaft primär nicht auf die äußeren Naturgesetze, sondern auf die Wille und Verstand betreffende Reichsordnung, also auf die in der Tora beurkundeten Gebote und ihre schuldhafte Missachtung bezogen. Dieser Bezug und die Eigentümlichkeit, in der er durch Jesu Verkündigung wahrgenommen wurde, treten in den Gleichnisreden paradigmatisch zutage, welche der jesuanischen Botschaft ihr charakteristisches Format geben. Zugleich markieren sie präzise das Problem, das den Anlass und die Ursache für die Strittigkeit des Auftretens Jesu unter seinen Zeitgenossen abgegeben hat. Es ist in der Tatsache begründet, dass Anteil am Reich Gottes nach Maßgabe der Verkündigung Jesu nicht nur den Gerechten zukommen soll, die Gottes Gebote halten, sondern auch denjenigen, die als Toraverächter und gottwidrige Sünder zu gelten haben. Auch für sie soll das kommende göttliche Reich offen sein. Von dieser provokativen Pointe, die den springenden Punkt vieler seiner Gleichnisse bildet, darf nicht abgesehen werden, wenn der ihrer Gestalt entsprechende Gehalt der jesuanischen Botschaft erfasst werden soll. Ihr dynamisches Zentrum liegt in der differenzierten Einheit von Gerichtsaussagen über die

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Sünde und Versöhnungszusage für den Sünder begründet. Ob es angemessen ist zu sagen, dass in Jesu Reich-Gottes-Verkündigung an die Stelle der chronologischen Vorstellung von der kommenden Nähe der Basileia „gleichsam eine kairologische“ (Weder, 61) tritt, darf bezweifelt werden; zweifellos richtig aber ist die Annahme, dass die Zusage väterlichen Entgegenkommens Gottes für die Verlorenen das entscheidende Maß bildet, an dem sich auch das Raumzeitverständnis der jesuanischen Reich-Gottes-Verkündigung zu bemessen hat. Für Jesus ist die eschatologische Vollendung, die das kommende Reich Gottes erbringen wird, mit dem Gericht über die Sünde und dem Heil für den Sünder gegeben, den Gott, ohne seine göttliche Gerechtigkeit preiszugeben, aus väterlicher Güte zu rechtfertigen verheißt. Der Glaube lässt sich diese alle menschliche Vorstellungen übersteigende Güte Gottes gefallen, dem Unglauben hingegen gereicht ihre Zurückweisung zum Gericht. Darf diese Aussage, die den entscheidenden Skopus der Basileiabotschaft Jesu und seiner Gleichnisrede bildet, als theologisch begründet und autorisiert gelten? Man hat diese Frage mit dem Hinweis auf die persönliche Vollmacht Jesu beantwortet, die das eigentliche tertium comparationis seiner Gleichnisrede darstelle, wie Joachim Jeremias es ausgedrückt hat. Doch lässt sich nicht übersehen, dass die persönliche Autorität Jesu zu seinen irdischen Lebzeiten nicht minder umstritten war wie der Sinngehalt seiner eschatologischen Zeichenhandlungen und Gleichnisreden. Sieht man genauer zu, dann war es recht eigentlich jener Sinngehalt selbst, weswegen die Autorität Jesu von vielen Zeitgenossen als ambivalent und zweifelhaft eingeschätzt wurde. Was die Ambivalenz ihrer Einschätzung betrifft, so mag sie mit der Deutungsoffenheit der jesuanischen Gleichnisse und der ihnen entsprechenden Zeichenvollzüge in Verbindung gebracht werden. Tatsache ist, dass die – Deutungen zwar evozierende, aber nicht eindeutig vorherbestimmende – Gleichnisrede zu unterschiedlichen Hörerreaktionen führen konnte: etwa zur Jüngerbitte an den Gleichniserzähler, sich selbst zum Hermeneuten seiner Rede zu machen, um so die nötige Eindeutigkeit sicherzustellen (Mt 13,36: „Deute uns die Parabel ...“; vgl. Mk 4,13–20 par.), oder aber zur Steigerung mangelnder Einsicht in manifeste Erkenntnisverweigerung, ja zu jener bewussten Ignoranz und Verachtung, welche die markinische Verstockungstheorie literarisch reflektiert. Jesu Gleichnisreden sind wie seine eschatologischen Zeichenhandlungen nicht nur deutungsoffen, sondern offen für Streit, ja auf Strittigkeit förmlich angelegt, was mit ihrem zentralen Inhalt, der Reich-Gottes-Botschaft, nicht nur äußerlich, sondern im Innersten zusammenhängt. Gott, dessen Heiligkeit sich zu nähern nieNahen Gottes zum manden und am allerwenigsten denjenigen zu- Gottesfernen steht, die sich in Gefolgschaft des Bösen von seiner Gerechtigkeit abgekehrt haben, schickt sich gemäß Jesu eschatologischer Verkündigung an, gerade den Fernen ganz nahe zu kommen, um selbst seinen Feinden zum Nächsten zu werden. Auf diesen Skopus ist Jesu Reich-Gottes-Verkündigung in Form und Inhalt ausgerichtet, und diese Ausrichtung bestimmt zugleich sein Verhältnis zur Tora. Zwar war er als galiläischer Jude sicherlich kein

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ostentativer Gesetzesbrecher; man wird im Gegenteil historisch davon auszugehen haben, dass Jesus die Forderungen der Tora in der Regel selbstverständlich befolgt hat. Doch werden sie in ein für ihre Bedeutung konstitutives Verhältnis gesetzt zum Ruf der Gottesherrschaft und zur Proklamation der unbedingten Liebe Gottes, des himmlischen Vaters, der seine Güte auch an den Ungerechten erweisen will. Daraus ergeben sich Konflikte, deren Potential sich nicht in Auseinandersetzungen um die Konventionen kasuistischer Toraauslegung erschöpft, weil sie die Gesetzlichkeit des Gesetzes selbst betreffen. Das Konfliktpotential, das dem Auftreten Jesu inhäriert, ist in seinem inhaltlichen Anspruch begründet, von dem sich zwar ein persönlicher Anspruch nicht trennen lässt, ohne dass dieser für sich genommen die Zwangsläufigkeit der Konflikteskalation erklären könnte. Dass für den Wunsch, Jesus zu beseitigen, die Messiasfrage primär oder gar allein entscheidend war, ist eher unwahrscheinlich. Denn erstens erscheint es als zweifelhaft, ob Jesus überhaupt einen expliziten Messiasanspruch erhoben hat, und selbst unter der Voraussetzung, er habe dies getan, bleibt zweitens immer noch offen, ob dieser Anspruch ein hinreichendes Motiv für das Einschreiten gegen ihn geboten hätte für den Fall, dass er nicht mit Kritik am Tempelkult und an Grundlagen der Tora verbunden war, wie man sie in den Kreisen des Synedriums verstand. Mag sich der eschatologische Basileiaprediger aus Galiläa in Kreisen des einfachen Volkes einiger Beliebtheit erfreut haben – den offiziellen Repräsentanten der jüdischen Religion musste seine Botschaft, derzufolge Gott seine göttliche Zuneigung auch Toraverächtern zu schenken gewillt ist, aus Gründen, die nicht von der Hand zu weisen sind, als verwerflich und todeswürdig erscheinen. Im Vergleich zu diesen Gründen ist die Messiasfrage sekundär, ja sie ist, wo sie vom inhaltlichen Anspruch der Botschaft Jesu losgelöst wird, dazu angetan, die Klarheit des Blicks auf die historischen und theologischen Hintergründe des Prozesses und Todes Jesu zu verschleiern und jene Verwirrung, ja Verkennung zu reproduzieren, die untrennbar zu den Ereignissen im Umfeld der Kreuzigung gehört. Derjenige, der Jesus der Synedriumspolizei überlieferte, hat seinen Verrat vermutlich aus Enttäuschung darüber begangen, dass sein Meister sich politischen Messiaserwartungen versagte. Jesu Anklage als politischer Messias, wie sie das Synedrium Pontius Pilatus vorgetragen haben dürfte, und seine Verurteilung durch den Präfekten als ominöser „König der Juden“ steht dazu in einem eklatanten Widerspruch. Dieser Widerspruch lässt sich nicht dadurch auflösen, dass man erklärt, Jesus sei, obwohl als politischer Messiasprätendent hingerichtet, vom Synedrium nicht eigentlich als solcher, sondern um eines andersartigen Messiasanspruches willen angeklagt worden. Denn diese Erklärung bedarf, um plausibel zu sein, einer inhaltlichen Bestimmung, die durch den Verweis auf die angeblich entscheidende Messiasfrage keineswegs geleistet ist. Jesu messianischer Anspruch wird, wenn er ihn denn überhaupt erhoben hat, nicht schon durch den bloßen Verweis auf seine individuelle Person und den ihr eigentümlichen Autoritätsanspruch plausibel, weil die personale Vollmacht Jesu nur im Verein mit seiner charakteristischen Botschaft verständlich wird. Ohne die Botschaft, die ihren Inhalt aus-

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macht, würde sich die Behauptung der Vollmacht Jesu in einem formalen Autoritätsanspruch erschöpfen. Nicht zuletzt, was es mit dem Kreuz Jesu auf sich hat, lässt sich nur ergründen, wenn die Gestalt Jesu vom Gehalt ihrer Botschaft nicht getrennt wird, sondern der differenzierte Zusammenhang beider erhalten bleibt. Die Krise des Kreuzes betrifft Person und Werk Jesu gleichermaßen. Stirbt der Sünderfreund in der Gottverlassenheit, dann hat Gott offenbar auch den Sünder definitiv verlassen, um das Gericht an ihm zu vollstrecken, das er nach Maßgabe des Gesetzes zu Recht verdient. Folgt man den jüdischen Anklägern Jesu, die im Unterschied zu Pilatus wussten oder doch zu wissen vermeinten, was in der causa Jesu der Fall war, dann sind am Kreuz Jesus und die Sünder dergestalt eins, dass sie gemeinsam dem gerechten Gericht Gottes verfallen. Dass Jesu von entsprechenden Zeichenhandlungen begleitete Botschaft von der Liebe des nahen Gottes zu „Zöllnern und Sündern“ etc. von der religiösen Führungsschicht als Provokation empfunden werden musste, wird häufig betont. Weitaus seltener wird erwogen, diese Empfindung könnte aus der Verletzung einer echten religiösen Gesinnung und einem entwickelten Bewusstsein dessen erwachsen sein, was Gottes Gebot gebietet. Genau davon aber ist auszugehen, wenn die historischen Hintergründe des Prozesses Jesu in ihrer Tiefe wahrgenommen und sein Tod in der ihm eigenen theologischen Dramatik ernst genommen werden soll. Jesu irdische Sendung führte ihn ans Kreuz. Ohne Kreuzesnachfolge kann es daher auch kei- Kreuzesnachfolge ne österliche Christusgemeinschaft geben, wenn anders der auferstandene Christus der gekreuzigte Jesus von Nazareth und kein anderer ist. Die werdende Christusgemeinde gründet im auferstandenen Gekreuzigten, von dessen Epiphanie und eschatologischen Entgegenkommen sie lebt. Der pneumatologische Prozess, der die Genese der christlichen Kirche bestimmt, steht ganz im Zeichen der Zukunft des Gekommenen. In der Gegenwart des Geistes sind Erinnerung und Erwartung spannungsvoll vereint. Anamnese und Epiklese strukturieren den christlichen Gottesdienst, und im Gebet der Gemeinde verbinden sich Andacht und Zuversicht (vgl. im Einzelnen Wenz). Das für den geistesgegenwärtigen Glauben an die österliche Herrlichkeit des am Kreuz Erniedrigten kennzeichnende hoffnungsvolle Gedächtnis prägt die christliche Kirche nicht nur äußerlich, sondern charakterisiert ihre Wesensstruktur und damit zugleich das ekklesiologische Verhältnis, in dem Jüngerschaft Jesu und österliche Christusnachfolge zueinander stehen. Darauf wird zu Beginn des Nachfolgebandes näher einzugehen sein, wobei die Basis der Erörterungen das Geschehen bildet, in welchem der Botschafter des kommenden Gottesreiches als derjenige offenbar wurde, in dem die Zukunft Gottes bereits definitiv anbrach mit der Folge, dass der Verkündiger als der Verkündigte zu bezeugen ist. Als Urdatum des Christentums markiert das Osterereignis auch in eschatologischer Hinsicht den entscheidenden Dreh- und Angelpunkt. Durch die apokalyptische Vorstellung von der Totenauferweckung bzw. -auferstehung selbst endzeit-

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lich qualifiziert, bestimmt es grundlegend die Erwartungen, welche sich für die Osterzeugen und diejenigen, die dem österlichen Zeugnis glauben, von nun an mit der Zukunft Gottes verbinden. Gottes Zukunft ist zugleich und als solche die Zukunft dessen, der gekommen ist, zu suchen und zu retten, was verloren ist. Im auferweckten und auferstandenen Gekreuzigten hat die Eschatologie ihre definitive Qualifikation erlangt, sofern an Ostern die Zukunft Gottes im österlich Vollendeten schon endgültige Gestalt angenommen hat. Der Gehalt der kommenden Gottesherrschaft ist in der Erscheinungsgestalt des Auferstandenen bereits gegenwärtig manifest, wenngleich in proleptischer Weise. Ihr antizipativer Charakter hebt die Definitivität dieser Präsenz nicht auf. Denn die Zukunft Gottes wird keine andere sein als die Zukunft dessen, der um unserer Sünde willen gestorben und um unserer Gerechtigkeit willen auferstanden ist. Es ist der auferstandene Gekreuzigte, der auf uns zukommt. Auf ihn und sein Entgegenkommen ist daher alles christliche Sehnen ausgerichtet, und die Hoffnung des Glaubens findet an seinem Gedächtnis ihren beständigen Grund und Anhalt. Gottes Herrschaft und Herrlichkeit wird gemäß christlichem Bekenntnis weder als unbekannte Größe noch als ein schlechterdings Ausstehendes, sondern als die Wiederkehr dessen erwartet, dessen Werk am Kreuz vollbracht und dessen personales Dasein an Ostern definitiv erschlossen ist. Dass die Zukunft des Gekommenen unbeschadet seines vollendeten Gekommenseins gleichwohl künftig bleibt, ändert nichts am Perfekt des Heils, sondern zeigt an, dass die Gewissheit des Glaubens ihrem Wesen gemäß über sich hinausweist, damit zusammen mit den Glaubenden die gesamte Menschheit samt aller Welt kraft des Geistes von der Herrschaft Gottes in einer Weise durchformt werde, die ihrer im auferstandenen Gekreuzigten offenbaren Bestimmung entspricht. Der Osterglaube erhofft, dass die ganze Schöpfung jene Form annehme, die sie in der Gestalt des auferstandenen Gekreuzigten bereits hat. Gläubige Erinnerung und hoffnungsvolle Erwartung bilden so einen differenzierten Zusammenhang, der in der christlichen Liebe seine aktuelle Einheit findet. Für alle christliche Eschatologie ist das österliche Glaubensbekenntnis grundlegend, welches die Hoffnung in sich birgt, dass die Glaubenden und alle Welt an sich selbst werden, was sie im auferstandenen Gekreuzigten schon sind. Primär expliziert wird die eschatologische Fundamentalbedeutung des Osterereignisses in Form einer ausdrücklichen Christologie. Wie immer man das Verhältnis des historischen Jesus zum kommenden Menschensohn einschätzen mag: bereits im Aramäisch sprechenden Judenchristentum besteht an der Identität beider kein Zweifel mehr, und die Identifikation des auferstandenen Gekreuzigten mit dem messianischen David- und Gottessohn bahnt sich an. Die Gleichsetzung Jesu mit dem Menschensohn als eschatologischem Richter und Vollender war in der aramäischen Judenchristenheit mit der Erwartung der Wiederkunft des Herrn direkt verbunden, wie sie im Gebetsruf „Maranatha“, „unser Herr, komm“ (1. Kor 16,22; vgl. Apk 22,20) bündigen Ausdruck gefunden hat. Dass die Parusie des MessiasMenschensohnes Jesus als unmittelbar bevorstehend erachtet wurde, duldet kei-

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nen Zweifel. Dennoch spielte die chronologische Form eschatologischer Erwartung wie bei Jesus selbst auch in der frühesten Phase urchristlicher Entwicklung im Vergleich zu ihrem Gehalt eine vergleichsweise untergeordnete Rolle, wobei die bevorstehende Verwirklichung der Gottesherrschaft nun untrennbar mit der Gestalt des auferstandenen Gekreuzigten verbunden wurde, der die Erwartungsperspektive konstitutiv bestimmte. Nicht dass die eschatologische Naherwartung Naherwartung und durch das Osterereignis in den Hintergrund ge- Parusieverzögerung treten wäre. Sie bleibt ebenso erhalten wie der Traditionszusammenhang zur Apokalpytik, in den nicht nur die Reich-GottesPredigt Jesu, sondern auch die ursprüngliche Deutung seines Hervorgangs aus dem Tode gehört. Die sog. Terminworte Mk 9,1 und Mt 10,23 geben davon Zeugnis, selbst wenn sich im ersten möglicherweise schon die Verzögerungsproblematik andeutungsweise reflektiert; auch die altkirchliche Auslegungsgeschichte des letztgenannten Naherwartungslogions gibt interessante Belege für solche Reflexionen (vgl. Künzi). Doch wäre es abwegig, die urchristliche Naherwartung, deren Spannung durch pneumatische Erfahrungen eher noch gesteigert worden sein dürfte, primär terminlich zu bestimmen und auf den Aspekt chronologisch bemessbarer Zeit zu fixieren. Ungleich wichtiger als die temporale Erwartungsperspektive war die Gewissheit, dass das Kommen des Gottesreiches, wann immer es eintritt, einhergehen wird mit der Wiederkehr dessen, der den Seinen österlich erschien, um im Geiste weiterhin Gemeinschaft mit ihnen zu halten. Anamnese und Epiklese stellen in diesem Sinne nicht nur die wesentlichen Elemente urchristlichen Gottesdienstes dar, sondern bilden auch die Basis des eschatologischen Erwartungshorizontes der frühen Christenheit. Von daher war es dem christlichen Bewusstsein möglich, die Enttäuschung, welche die sog. Parusieverzögerung hervorgerufen haben wird, zu bewältigen und an der gläubigen Hoffnung auf die Wiederkehr des Herrn auch nach Ende aller äußerlichen Fristsetzungen festzuhalten. Von einer grundstürzenden Krise infolge enttäuschter Naherwartung ist jedenfalls nichts bekannt. Eher schon könnte von einer produktiven Enttäuschung insofern gesprochen werden, als die Aufgabe aller auch nur ansatzweise berechnenden Versuche, den Beginn der Endzeit zu terminieren, für das Christentum zur Bedingung wurde, sich kirchlich zu sammeln und auf ihre geschichtliche Weltmission zu besinnen. Die Nähe ihres Herrn blieb der Christenheit auch dann gewiss, als die Naherwartung seiner Parusie in bestimmter Hinsicht enttäuscht wurde. Aus dieser bleibenden Gewissheit heraus auf eine fortschreitende Entfuturisierung christlicher Hoffnung zu schließen, wäre gleichwohl falsch. Denn die endzeitliche Erwartung blieb erhalten. Sowohl das Griechisch sprechende vorpaulinische als auch das Christentum, wie Paulus oder etwa die synoptische Tradition es repräsentieren, blieb endzeitlich ausgerichtet und eschatologisch perspektiviert. Allenfalls von einer Korrektur des apokalyptischen Deuterahmen und einer Neujustierung des Verhältnisses von futurischer und präsentischer Eschatologie kann gesprochen

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werden. War die apokalyptische primär von der erwarteten Künftigkeit des ausstehenden Gottesreiches bestimmt, so erhielt die christliche Eschatologie ihre eigentümliche Prägung durch die Verbindung der Zukunftserwartung mit der Erinnerung an den gekreuzigten Jesus, der sich in der österlichen Kraft des Geistes als Grund seines lebendigen Gedächtnisses erwies. Ihr inhaltliches Format gewinnt die durch das Gedächtnis des auferstandenen Gekreuzigten bewirkte Transfinalisierung eschatologischer Traditionsbestände durch die pneumatische Einsicht, dass die Zukunft des Reiches Gottes die göttliche Gerechtigkeit in einer Weise realisieren wird, die Hoffnung auch für den Sünder erschließt, insofern das Entgegenkommen Jesu Christi mit ihr einhergeht. Die Wiederkehr Jesu Christi gewährleistet nicht weniger als die eschatologische Wirksamkeit der Heilswirklichkeit seines Todes, den Ostern als Versöhnung Gottes mit dem Menschen offenbar werden ließ. Nicht dass Gott am Ende der Tage nicht richten wird nach Maß seiner Gerechtigkeit. Aber um Jesu Christi willen wird das gerechte Gericht Gottes Rechtfertigung nicht nur für den Gerechten, sondern auch für den Sünder erbringen, der glaubt. Die Staurozentrik österlicher Eschatologie ist nicht erst bei Paulus gegeben, der sie konsequent ausgearbeitet hat, sondern ansatzweise schon in der vorpaulinischen Überlieferung identifizierbar. Christologie und Eschatologie gehören seit den Anfängen christlicher Theologie untrennbar zusammen, sofern das endzeitliche Futur nicht nur förmlich, sondern auch seinem Gehalt nach vom christologischen Perfekt und der österlichen Gestalt des auferstandenen Gekreuzigten erschlossen und geprägt ist, dessen Vollendung der Geist bezeugt. Die Genese christlicher Eschatologie lässt sich daher nicht ablösen vom Gang der christologischen Entwicklung, was am deutlichsten zutage tritt, wenn man die frühchristliche Geschichte der theologia crucis ins Auge fasst. Was den Aramäisch sprechenden Judenchristen nicht verborgen geblieben war, wird dem hellenistischen Judenchristentum im Umkreis des Stephanus immer bewusster, um von Paulus in seiner theologischen Tragweite voll erschlossen zu werden: Wenn Gott den gekreuzigten Sünderfreund Jesus verherrlicht hat, dann ist das kommende Gottesreich nicht nur für Juden, sondern auch für Heiden, ja mehr noch: nicht nur für fromme Gerechte, sondern auch für gottlose und gottwidrige Sünder offen, die sich auf den auferstandenen Gekreuzigten verlassen und seinem Geist sich gläubig anvertrauen. Erst mit dieser Einsicht ist der volle Sinn christlicher Eschatologie erschlossen und die Erwartung der Wiederkehr des messianischen Menschensohnes Jesus Christus auf jene Basis gestellt, die ihr gemäß ist. Zugleich wird deutlich, dass eschatologische Offenheit und christologische Vollendung sich nicht ausschließen, sondern wechselseitig aufeinander verweisen. Nachgerade bei Paulus bedingen sich „Schon“ und „Noch nicht“ gegenseitig. Wohl sind die Glaubenden bereits mit Christus gekreuzigt, gestorben und begraben und damit gerechtfertigt von ihren Sünden. Aber an sich selbst vollendet gerecht sind sie noch nicht, wie sie denn auch erst künftig auferweckt werden. Dieser eschatologische Vorbehalt schränkt die Gewissheit des Glaubens nicht ein, unterscheidet sie allerdings sorgsam von einer Sicherheit, die vorzeitig das Ende proklamiert und

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damit dem eigenen und dem Heil von Mitmensch und Welt schadet. Hoffnungsvoller Glaube wird sich dagegen in Geduld üben und auf diese Weise der Zukunft des Gekommenen dienen. Man hat exegetisch ausführlich darüber diskutiert, wie sich österliche Auferweckungs- bzw. Christi Himmelfahrt Auferstehungsaussagen zu Aussagen von der Erhöhung Jesu Christi verhalten. Manche rechnen mit zwei Urtypen von Ostervorstellungen, wobei einige von ihnen diejenige der Erhöhung einer galiläischen Überlieferung, diejenige der Auferweckung und Auferstehung der Jerusalemer Tradition zuweisen: „Christology of the risen Christ and the christology of the exalted Lord. But the relative difficulty with which we are able to re-establish the existence of the exaltation christology shows clearly that the Jerusalem type has to some extent absorbed the Galilean.“ (Dufour, 102) Nicht minder interessant und unter Exegeten strittig ist die Frage des genauen Verhältnisses zwischen der Annahme einer „revelation of the Son of man exalted to heaven“ (Dufour, 101) und der Erwartung der Widerkunft des Messias-Menschensohns Jesus Christus. Stellt die Erhöhungsannahme einerseits die Voraussetzung der Wiederkunftsvorstellung dar, so ist diese doch andererseits traditionsgeschichtlich unzweifelhaft älter als die explizite Vorstellung einer förmlich erfolgten Himmelfahrt, wie sie Lukas bezeugt. Die lukanischen Himmelfahrtserzählungen Lk 24,50–52 und Apg 1,9–12 sind kunstvolle Produkte literarischer Reflexion und nehmen innerhalb des Neuen Testaments eine singuläre Stellung ein. Nirgendwo sonst finden sich „auch nur die kleinsten Indizien einer sichtbaren Himmelfahrt beziehungsweise einer Entrückung, wie wir sie von Lukas her kennen“ (Lohfink, 95). Religionsgeschichtliche Parallelen indes sind reichlich vorhanden. Vorstellungen von Entrückung und Himmelfahrt begegnen im altorientalischen Kontext des Alten Testaments bei den Sumerern, Babyloniern, Assyrern und Ägyptern, aber auch im Alten Testament selbst, wie die Entrückungen von Elia (2. Kön 2,1–18; Sir 48,9.12; 1. Makk 2,58) oder Henoch (Gen 5,21–24; Sir 44,16; 49,14; Weish 4,7–20) sowie Psalmtexte wie Ps 49,16 und 73,24 belegen. Inwieweit sie auf die Konzeption der lukanischen Himmelfahrtserzählungen eingewirkt haben, kann offen bleiben. Zu vermerken ist lediglich die traditionsgeschichtlich plausible Vermutung, „dass Lukas noch keine Himmelfahrtsgeschichte kannte, sondern die urchristliche Erhöhungsaussage als Entrückung verstand und mit Hilfe zusätzlicher Bauelemente zu zwei kunstvollen Erzählungen erweiterte“ (Lohfink, 276). Erhöhungsaussagen, welche die österlich offenbare himmlische Vollmachtstellung Jesu bezeugen, sind zwar urchristliches Gemeingut, aber formal insofern unterschiedlich, als sie den Erhöhungsakt teils unausdrücklich voraussetzen, teils ausdrücklich benennen. In letzterem Fall kann der mit der Auferweckung Jesu verbundene Akt der Erhöhung entweder als Vorgang einfachhin in Anschlag gebracht oder terminologisch näher bestimmt werden. Eine narrative Explikation im Sinne einer eigenen Himmelfahrtsgeschichte hat der Vorgang der Erhöhung des

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auferstandenen Gekreuzigten in Anlehnung an traditionelle Entrückungsschemata erst bei Lukas gefunden. Insbesondere Bezüge zur Überlieferung der Eliaentrückung und der in ihr gegebenen Motivzuordnung von Himmelfahrt und Geistsendung sind auffällig. Für die theologische Intention der lukanischen Himmelfahrtsdarstellung, die in Anklängen im sog. unechten Markusschluss nachgewirkt hat (vgl. Mk 16,19), ist die Verbindung mit der Zeitangabe der vierzig Tage entscheidend, in denen Jesus mehrmals als Auferstandener irdisch in Erscheinung tritt, bis er endgültig in den Himmel entrückt wird. Die chronologische Differenzierung von Auferstehung und Erhöhung, wie Lukas sie in Korrespondenz zu seiner narrativen Explikation des Entrückungsakts als eines eigenen Geschehens vornimmt, will zwar nicht als Trennung von Zusammengehörigem verstanden sein; sie unterstreicht aber den konstitutiven Bezug, in dem das Osterereignis zu konkreter Geschichte steht. Trotz ihrer dezidiert geschichtlichen Intention, die für das lukanische Doppelwerk insgesamt charakteristisch ist, wird man den Erzählungen von Jesu Himmelfahrt keine Historizität im eigentlichen Sinne des Begriffs zuerkennen können. Sie sind sekundäre Legendenbildungen, die sich theologischer Reflexion ursprünglichen Osterglaubens verdanken. Indem sie das irdische Leben Jesu und die Ostererscheinungen des auferstandenen Gekreuzigten zum Abschluss bringen, öffnen sie die Heilsgeschichte zugleich auf die Wirklichkeit des Geistes und auf die Parusie Jesu Christi hin, welche die Herrschaft Gottes definitiv realisieren wird. Auch die lukanische Pfingstgeschichte weist eine ganze Reihe von legendarischen Zügen auf. Dennoch lässt sie im Unterschied zur Himmelfahrtsgeschichte einen historisch identifizierbaren Hintergrund vermuten. Geschichtlicher Bezugspunkt ist wohl nicht nur das Geschehen urchristlicher Geisterfahrung im Zusammenhang der Osterereignisse im Allgemeinen, sondern eine konzentrierte Erfahrung österlichen Geistwirkens aus einem spezifischen Anlass wie möglicherweise demjenigen des jüdischen Wochenfestes am fünfzigsten Tag nach dem Passah des Todesjahres Jesu. Das Pfingstereignis, wie vielfach versucht, mit Das Pfingstereignis der von Paulus erwähnten Erscheinung „vor 500 Brüdern“ (1. Kor 15,6) zu identifizieren, entbehrt des nötigen Anhalts am Text. Naheliegender scheint es, mit ihm eine prägende Urerfahrung der Jesusjünger im Zusammenhang ihrer Osterzeugenschaft zu assoziieren, die erkenntliche öffentliche Wirkung zeitigte, was als Zeichen eines neuen Bundes Gottes mit seinem Volk gedeutet werden konnte. Zwar ist nicht auszuschließen, dass die pfingstliche Terminierung jener Grunderfahrung analog zur Zeitangabe im Zusammenhang der Himmelfahrtsgeschichte bereits als solche ein theologisches Konstrukt sei es des Lukas, sei es einer ihm vorgegebenen Tradition darstellt. Denn zum einen wird nirgendwo sonst im Neuen Testament die Herabkunft des Heiligen Geistes mit diesem Tag verbunden, zum anderen steht noch in einem vergleichsweise späten Text wie Joh 20,19–22 zu lesen, die Geistmitteilung sei in Jerusalem am Abend des Ostertages geschehen. Es kann also durchaus sein, dass der Pfingsttermin bzw. die Verbindung der Geistausschüttung mit dem

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jüdischen Wochenfest ein im Interesse theologisch-pneumatologischer Reflexion eingeführtes Interpretament darstellt. Doch ist ebenso gut vorstellbar, dass mit dem ersten Wochenfest nach Kreuz und Auferstehung konkrete Erinnerungen der Jüngerschaft Jesu an die Geistwirkung des von ihnen bezeugten Osterereignisses verbunden waren. Dabei wird man weniger an Phänomene glossolalischer Massenekstase und spektakulärer Sprach- und Hörwunder zu denken haben als vielmehr an die pneumatische Ersterfahrung einer ihre eigenen Grenzen transzendierenden Gemeindebildung im Lichte Osterns. Diese Ersterfahrung ist sicherlich in Jerusalem zu lokalisieren und in zeitlicher Nähe zu den Osterereignissen zu datieren. Sie drängt aber zugleich über die Grenzen des Raumes und der Zeit hinaus, um fortschreitend universale Gestalt anzunehmen. Ist die förmliche Abfolge von Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten und Parusie, wie Lukas sie konzipiert hat, Produkt einer traditionsgeschichtlich fortgeschrittenene Reflexionsphase, so dürfte in der Frühzeit der Urchristenheit die Erwartung der Wiederkehr des Menschensohnes Jesus unmittelbarer mit dem Auferweckungsereignis verbunden gewesen sein. Wie das Gleichnis vom Großen Weltgericht in Mt 25,31–46 zeigt, wird der endzeitliche Menschensohn Jesus in seiner Eigenschaft als königlicher Messias erwartet (vgl. Mk 14,62), der zur Rechten Gottes sitzend das Gericht nach Maßgabe göttlicher Gerechtigkeit vollziehen wird. Dass er als Richter zugleich Retter ist, belegt ein Text wie Phil 3,20 oder das Traditionswort in 1. Thess 1,10, dem zufolge der von Gott auferweckte Sohn als derjenige erwartet wird, „der uns retten wird aus dem kommenden Gericht“ (vgl. Röm 5,8–10). Als eschatologischer Repräsentant Gottes und der Menschen steht der auferstandene Gekreuzigte dafür ein, dass göttliche Gerechtigkeit und Versöhnungsliebe für diejenigen keinen intransingenten Gegensatz mehr begründen werden, die glauben. Wie die im Zusammenhang der Parusieaussagen statthabende fortschreitende Verschmelzung von Menschensohn- und Messiasaussagen sich analog in Bezug auf Aussagen zur Vollmacht des irdischen Jesus beobachten lässt, um im Laufe der christologischen Entwicklung unter Heranziehung weiterer Hoheitstitulaturen und unter gewandelten Traditionsbedingungen entsprechend expliziert zu werden, so stellt auch die Verbindung von Erhöhungs- und Wiederkehrvorstellungen einen fließenden Prozess dar, der zwar Differenzierungen, aber keine überlieferungsgeschichtlichen Trennungen zulässt. Mag sein, dass das mit dem Gedanken göttlicher Machtübertragung auf den Auferstandenen und seiner allzeitigen Gegenwart assoziierte Erhöhungsmotiv nicht schon in der Aramäisch sprechenden, sondern erst in der hellenistischen Judenchristenheit zu allgemeiner Bedeutung gelangte, so liegt seine Ausbildung doch in der Konsequenz der christologischen Entwicklung. Wichtiger als die minutiöse Rekonstruktion ihrer einzelnen Momente, die zwangsläufig hypothetisch bleiben muss, ist ohnehin die Identifikation des in ihr kontinuierlich wirksamen Trends, den auferstandenen Gekreuzigten als denjenigen zu bezeugen, dem alle Zukunftsmacht im Himmel und auf Erden gegeben ist und der seine endzeitliche Herrschaft, die ihm als messianischem Menschensohn und Repräsentanten des Gottesreiches gegeben ist, auf eine Weise ausüben wird, die der

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göttlichen Gerechtigkeit und der versöhnenden Liebe seines himmlischen Vaters, dessen Wirkzeichen das Kreuz ist, gleichermaßen gemäß ist. Die begründete Hoffnung auf Bewahrung im Jüngsten Gericht durch den Erhöhten und Wiederkehrenden, der als Stellvertreter Gottes vorbehaltlos für die Menschen eintritt, die im Glauben an ihm hängen, ist die soteriologische Pointe, die von den entsprechenden christologischen Aussagen nicht abzulösen ist. Die Heilsrelevanz, die dem irdischen Leben Jesu und namentlich seinem Tod beigemessen wird, gehört ebenso in diesen Zusammenhang wie die Ausdehnung der eschatologischen Bedeutung des auferstandenen Gekreuzigten über alle Grenzen des Raumes und alle Schranken der Zeit hinweg. Nicht nur die räumliche, den ganzen Weltkreis und damit Juden und Heiden umfassende, auch die zeitliche Universalisierung der Bedeutung des Osterereignisses liegt im Trend der christologisch-soteriologischen Entwicklung, wie er sich trotz verbleibender Unsicherheiten seit Anbeginn des Christentums geschichtlich abzeichnet. Als Herr der Zukunft und endzeitlicher Herrscher verfügt der auferstandene Gekreuzigte über die gottgegebene Macht, alle Zeiten zu umfassen und seine Herrschaft nicht nur in Bezug auf die Gegenwart, sondern auch in die Vergangenheit hinein bis zum Anbeginn der Zeiten wirksam werden zu lassen. Der eschatologischen Zukunft des Gekommenen eignet zugleich protologische Bedeutung. Als der Messias der Juden und der Christus der Heiden ist der Menschen- und Gottessohn Jesus sowohl Inbegriff geschöpflicher Bestimmung, als auch und vor allem derjenige, der das Vergänglichkeitsgeschick des Todes zu überwinden und das schuldhafte Vergehen der Sünde zu vergeben vermag, durch deren Verkehrtheit die Menschengeschöpfe sich höllisches Verderben bereitet haben. An Ostern ist dies offenbar, um am Ende der Tage für die ganze Menschheit und alle Welt manifest zu werden. Was kommt auf uns zu? Gemäß christlichem Der Geist glaubensGlauben, wie er im Geistzeugnis Osterns grüngewisser Hoffnung und det, die Zukunft des Gekommenen, der für uns geduldiger Liebe gestorben und auferstanden ist, wobei der Auferstandene kein anderer, sondern, wenngleich anders, derselbe ist wie Jesus von Nazareth, der den Tod am Kreuz erlitt. Weil Jesus bei Gott ewig unvergessen bleibt, um als er selbst unvergänglich zu leben, darf in Jesu Namen auch der Christ mit Gewissheit auf die Verewigung seiner individuellen Person im göttlichen Leben hoffen. Im Eschaton, wie es der christliche Glaube in der durch Jesus Christus begründeten Gewissheit erwartet, geht der einzelne Mensch nicht so in Gott auf, dass er aufhören würde, er selbst zu sein. Er wird vielmehr verewigt, ohne als Individuum zu verlöschen. Zwar ist der Mensch in keiner Weise in sich selbst oder von sich aus ewig. Sein Leben endet, und dieses Ende ist durchaus definitiv in dem Sinne zu nennen, dass von einer bloßen Prolongation des irdischen Daseins nicht die Rede sein kann. Auch zur Existenz Jesu Christi gehört das Moment des Gewesenseins. Doch ist an Ostern offenbar, dass Gott den am Kreuz wirklich Gestorbenen nicht dem Tod und der Verwesung überlassen, sondern ihn dergestalt auferweckt hat, dass er als der Auferstandene zu bezeugen ist, der in Gott kraft des Hl.

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Geistes als er selbst lebt. Dabei ist der auferstandene Christus als derjenige zu bekennen, der mit dem irdischen Jesus eins ist. In dieser Identität gibt er sich in den österlichen Erscheinungen den Seinen zu erkennen, was durch die Tradition vom leeren Grab eigens unterstrichen wird. Der Herr ist in realer Leibhaftigkeit auferstanden, obzwar sein verherrlichter Leib im Erfahrungshorizont der Welt der Vergänglichkeit nur bedingt zu erfassen ist, weil er alle Schranken der Zeit und alle Grenzen des Raumes transzendiert. Dadurch schwindet seine raumzeitliche Existenz indes nicht dahin, um sich in himmlischen Sphären zu verflüchtigen; es ist im Gegenteil so, dass der irdische Jesus als er selbst unvergänglichen Anteil hat am ewigen Leben Gottes, um als der inkarnierte Logos und als derjenige bekannt zu werden, in dessen Namen das Heil aller Sterblichen begründet liegt. Der Mensch stirbt und sein Leben endet und findet keine Fortsetzung in irgendeine unendliche Zukunft hinein, deren Unbestimmtheit ohnehin wenig Anlass zu hoffnungsvoller Aussicht böte. Keine Substanz, auch nicht diejenige einer vermeintlich immortalen Menschenseele lässt sich objektiv konstatieren, die vom Tode nicht betroffen wäre. Der Tod betrifft den Menschen ganz, aber doch nicht in solcher Gänze, welche nicht die gewisse Hoffnung zuließe, dass der im Glauben mit Jesus Christus und mittels seiner kraft des Hl. Geistes mit Gott vereinte Mensch als er selbst einen unveräußerlichen Bestand in der göttlichen Ewigkeit haben werde. Im Eschaton wird offenbar sein, dass Gott ein und alles ist; aber es wird für uns offenbar sein, und Gott selbst wird alles in allem nicht ohne uns, sondern mit und in uns sein. Darauf richtet sich die christliche Hoffnung, wie sie im Glauben an den auferstandenen Gekreuzigten und in der Gewissheit seiner eschatologischen Ankunft begründet ist. In dreifacher Hinsicht suchte der Apostel Paulus den Korinthern den Blick für das, was zuletzt kommt, zu erschließen: „(a) Jesus’ resurrection is the beginning of the eschatological resurrection; (b) the eschatological resurrection will take place through participation in Jesus’ resurrection; (c) the eschatological resurrection will take place at the time of Jesus’ coming in glory.“ (Holleman, 203) Dem ist nichts bzw. nur der Verweis auf den pneumatologischen Prozess hinzuzufügen, der von dem Ereignis göttlicher Offenbarung im auferstandenen Gekreuzigten mit dem Ziel eschatologischer Vollendung hervorgeht. In den ältesten Zeugnissen des Neuen Testaments, so ist zu vermuten, werden Auferstehung und himmlische Entrückung als ein, wenngleich differenzierter Geschehenszusammenhang begriffen, von dem die christliche Parusieerwartung nicht zu trennen ist. Die österlichen Erscheinungen des auferstandenen Gekreuzigten vollziehen sich, wie dies auch bei seiner Ankunft am Ende aller Zeiten der Fall sein wird, vom Himmel herab aus dem lebendigen Sein des Erhöhten bei Gott. Dieses Sein ist wie Gottes innerstes Wesen, dessen heilschaffende Lebendigkeit den Tod in der Auferstehung des Gekreuzigten an sich selbst zugrunde gehen und die Sünde ihrem eigenen Abgrund verfallen ließ, bleibendes Dasein für uns und als solches mit der Niedrigkeit des geschichtlichen Lebens und Sterbens Jesu für immer verbunden. An der Zusammengehörigkeit Jesu mit Gott, wie sie Ostern unwiderruflich gel-

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tend macht, gibt der Auferstandene durch sein Erscheinen lebendigen Anteil, um in der Kraft des göttlichen Geistes Menschheit und Welt insgesamt in die österliche Wirklichkeit hineinzuziehen. Der Geist, wie er in den Erscheinungen des auferstandenen Gekreuzigten wirksam ist, um die Wirklichkeit, die ihre Wahrheit ausmacht, in einer alle Partikularität auf universale Teilhabe hin transzendierenden Weise zu entschränken, erschließt das Miteinander Gottes und Jesu am Ort des Verschiedenen und hält es geschichtlich präsent, damit je und je neu Osterglaube und die Gewissheit des göttlichen Heils in Christus erstehe.

Register

Namensregister erstellt von Frau Barbara Rappenglück (In den Literaturangaben aufgeführte Personennamen werden in der Regel nicht eigens benannt.) Aristipp 13f. Aristoteles 12, 16f. Barth, K. 85f. Bauer, B. 97ff. Becker, J. 288f. Borg, M. 116 Brandes, G. 126 Braun, H. 109 Buddeus, J. F. 92 Bultmann, R. 56, 62, 86ff., 105ff., 113, 120, 146, 203, 275, 311, 326f. Campenhausen, H. v. 283ff. Clemens Alexandrinus 133 Crossan, J. D. 115f. Dibelius, M. 203 Dionysios von Korinth 8 Dippel, J. K. 92 Dodd, C. H. 327 Drews, A. 126 Elia 169 Engels, F. 97ff. Epikur 14 Eusebius von Caesarea 268 Fabricius, J. A. 92 Feuerbach, L. 99

Geyer, H.-G. 74ff. Graß, H. 286f., 289 Gunkel, H. 249 Harnack, A. v. 41f., 95, 133 Hartmann, E. v. 126 Hegel, G. W. F. 97ff. Hengel, M. 66f., 287ff. Herodes Antipas 143, 150, 168, 172 Herodes d. Gr. 139, 145 Jakobus 137f. Jeremias, J. 56 Johannes d. Täufer 144f., 154, 166ff. Josephus Flavius 130, 148, 150ff., 172 Judas (Zelot) 145, 153 Jülicher, A. 207ff. Jüngel, E. 209f. Justin 268 Kähler, M. 86ff., 105f. Käsemann, E. 85, 106f., 113, 243, 320 Koch, K. 250 Kümmel, W. G. 127 Lessing, G. E. 93 Maria 137f. Marx, K. 97ff. Meyer, E. 41 Mose 246f.

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Register

Pannenberg, W. 69ff., 82 Paulus 7ff., 13, 15f., 38, 45, 52, 132, 169, 200, 224, 254, 256, 317, 321ff., 338, 343 Petrus 285 Philo von Alexandrien 147, 314 Pilatus 129, 140, 263ff., 277f., 280, 306ff., 311, 334f. Platon 12, 16 Plinius d. J. 130

Stuhlmacher, P. 56ff. Sueton 130

Reimarus, H. S. 42, 90ff., 100f. Ricoeur, P. 209f.

Ulpianus 16

Tacitus 129 Theißen, G. 119ff. Thomas 28f. Thüsing, W. 63f. Tillich, P. 86ff., 105 Toit, D. du 117 Troeltsch, E. 80ff.

Vermes, G. 115 Sanders, E. P. 116 Schweitzer, A. 85, 90f., 97, 101f., 104, 325 Semler, J. S. 101 Sokrates 11f. Stegemann, W. 85 Strauß, D. F. 90, 94ff., 243

Weder, H. 210f. Weiß, J. 101, 325f. Wellhausen, J. 41 Wilckens, U. 56, 60ff. Winter, D. 119ff. Wrede, W. 214ff.

Sachregister erstellt von Herrn Dr. Stefan Dienstbeck Abba 128, 132, 187ff., 231ff. Abendmahl/Abschiedsmahl / Letztes Mahl 58, 60, 132, 140, 197, 264f., 274f., 304, 311ff. Abschiedsreden 28, 317 Alexandria 7, 157 Allegorie/Allegorese 150, 180, 207ff., 259 Alte Kirche 9, 12, 18f., 29, 38, 68, 95, 225, 245, 247, 268, 306, 337 Alt- und Neuprotestantismus 82 Analogieprinzip 53, 57, 73, 82, 112 Antinomismus 260 Antiochia/Antiochien 24, 135, 323 Apokalyptik 20, 34, 44, 49, 97, 101f., 116, 134, 147, 152, 155, 158, 162ff., 179ff.,

197, 204, 210, 220ff., 236, 238, 252ff., 267, 288, 326ff., 335, 337 Apokryphe Texte 116ff., 130f. Apologetik 32, 88, 92, 152, 265, 283, 286, 309 Apophthegmata 203 Apostel 7ff., 29, 45, 66, 69, 91f., 98, 131, 133, 135, 194, 226, 285, 292, 294, 321, 343 Apostelgeschichte 7ff., 29, 133, 135, 169, 172, 292, 317 Apostolisches Amt 39 Aramäisch 59, 66, 135ff., 150ff., 188f., 221, 226, 228, 310, 318, 329, 336ff. Areopag 8ff.

Sachregister

Atheismus 93, 97 Athen/Athener 7ff. Auferstehung 13, 15, 18, 32ff., 47ff., 88ff., 110, 128, 134, 155, 176f., 197ff., 210, 215, 229, 283ff., 316ff. Auferweckung 29ff., 46ff., 63, 72f., 76, 107, 158, 194, 197f., 210, 213, 224, 267, 290ff., 304f., 315ff., 335ff. Aussendungsrede Jesu 195 Basileia/Basileiaverkündigung 39, 128, 175, 180ff., 208ff., 229ff., 272, 274, 328ff. Beelzebub 157, 200 Bergpredigt 231, 235, 237, 245ff., 255 Beschneidung 148, 158 Bethlehem 136ff. Betrugsthese/Osterbetrug 32, 40f., 91ff., 298 Bibel 18, 44, 86, 93, 160, 163, 226, 244, 313 Böses 18ff., 25, 37, 39, 48, 162f., 174, 182, 185, 188, 197, 201, 251ff., 333 Bund – Alter Bund/Bund Gottes mit Israel 22, 157, 166, 177, 245, 251, 253, 281, 322 – Neuer Bund 257, 261, 274, 322, 340 – Bundesnomismus 39, 116, 157 Charismatik 64, 114f., 147, 152, 195, 200 Chassidim 114f., 152, 156f. Christen 7ff., 32, 77, 94, 145, 148, 173, 200, 219, 232, 263, 279, 296 Christentum/Urchristentum/Christenheit 9ff., 29ff., 49, 52, 62ff., 92ff., 108, 114, 117ff., 126ff., 146ff., 169, 173, 200, 204, 215ff., 222f., 234, 241ff., 267ff., 288ff., 297ff., 313, 324, 328, 335ff. Christologie von oben 68ff. Christologie von unten 69ff. creatio ex nihilo 36, 301 Dämonen 157, 180. 193ff., 212f. dei (Muss des Todes Jesu) 273, 313, 324 Deismus 41, 91f. Dekalog 22, 25, 243ff., 255 Deutscher Idealismus 78

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Dialektische Theologie 75, 120 Differenzkriterium 117, 119, 121f. Doketismus 43, 100, 106f., 146, 299f. Doppelgebot der Liebe 235f., 243ff., 281 Dualismus 146, 166, 191, 326, 332 Einzigkeit Gottes 11, 190 Engel 31ff., 218f., 228, 296 Epikur/Epikureismus 13ff., 146 erchomenos 166, 171, 180 Erhöhung 28ff., 38, 48, 52, 55, 63, 106f., 109, 130, 194, 199, 204, 213ff., 305, 314ff., 324, 339ff. Erlösung/Erlösungslehre 30, 117, 146, 182, 196, 237, 305, 315f. Erniedrigung 28, 34, 48, 106, 216, 224f., 234, 305, 316f., 324, 335 Erscheinung des Gekreuzigten nach Ostern/Erscheinungsberichte 16, 28ff., 46ff., 73, 213, 234, 260, 283ff., 305, 312f., 317, 323, 340ff. Erwählung – Israels 10, 18, 21ff., 39, 143, 148, 152, 161, 165f., 176, 181, 259f. – Jesu 66, 234 – des Königs als Gottessohn 189 Eschatologie – Futurische 184, 304, 326ff., 337 – Präsentische 176, 184, 304, 327f., 337 Eschaton 36, 52f., 147, 171, 186, 189, 229, 285, 329, 331, 342f. Essener 147, 152ff., 167, 175, 259 Ethik 11, 17, 64, 108, 127, 154, 170, 243ff., 281 Exil 11, 19, 23, 137, 148, 158, 175, 181, 188, 198, 221, 249, 256, 312, 314 Exorzismus 115, 122, 128, 180, 192ff., 228, 237 Feindesliebe 186f., 235, 247, 257 Feldrede 255 Fichteanismus 99 fiducia 50, 77, 112 Formgeschichte 33, 98, 120, 161, 179, 204, 290 Fragmentenstreit 93 Frömmigkeit/Frommer/fromm 9ff., 94,

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Register

116, 128, 141, 145ff., 175ff., 201, 234, 242, 249, 253ff., 279f., 309f., 320, 338 Frühjudentum 40, 44, 49, 101, 105, 108, 159, 164f., 169, 175ff., 180f., 185, 188, 193, 198, 221f., 226, 229f., 243ff., 267, 311, 330 Galiläa 34, 60f., 104, 114f., 122, 136f., 140, 143ff., 172, 174, 183, 214, 228, 270, 283ff., 295, 310, 324, 333f., 339 Gattungschristologie 96ff. Gebot 9, 18ff., 44f., 92, 114, 148, 152ff., 177, 183, 186f., 190, 213f., 235ff., 243ff., 272, 279, 281, 332, 335 Geburt Jesu 68, 94, 132, 136ff. Genezareth, See 140, 143, 150 Gerechter 16ff., 154, 162, 176, 181, 184ff., 198, 201, 218, 254, 257ff., 273, 304, 314, 318, 332, 338 Gerechtigkeit 10, 16ff., 39, 45, 154, 159, 171, 185, 187, 201, 219, 221, 224, 240, 249ff., 260, 272, 279f., 305, 317, 336 Gerechtigkeit Gottes 10ff., 159, 162ff., 179, 184ff., 199, 201, 219, 234, 240, 248ff., 281, 322ff., 333, 338ff. Gericht 13, 18ff., 45, 48ff., 60, 97, 117, 127, 162ff., 174ff., 180ff., 197, 199, 218f., 228f., 252ff., 265ff., 304, 307ff., 322ff. Geschichtsphilosophie 75, 78f., 121 Geschichtstheologie 73ff., 164ff. Geschöpf/Geschöpflichkeit 21, 187, 237f., 247f., 305, 342 Gesetz und Evangelium 24f., 89, 243f., 323 Gesetzesgehorsam 22ff., 44, 154, 177, 181, 253 Gesetzeskritik Jesu 191, 242f., 254, 277, 310 Glaubensgewissheit 44, 89 Gleichheit 17, 115, 209 Gleichnis 34, 128, 132, 154, 157, 180, 188ff., 204ff., 217ff., 227, 234, 242, 252, 254, 259f., 304, 313f., 319, 329ff., 341 Gnade 25f., 176, 181ff., 219, 252ff., 321, 324

Gnosis 55, 146f., 170, 223 Golgatha 52, 141, 263, 296 Gottebenbildlichkeit 77, 187, 319 Gotteskindschaft/Gotteskinder 21f., 187, 189, 231ff., 304 Gottesknecht 58ff., 311ff. Gottessohn siehe: Sohn Gottes Gottesvolk 9f., 22f., 244, 253, 259, 269, 304 Gottverlassenheit 61, 63, 313, 335 Götzendienst 8, 145, 263, 268 gratis 25 Gutes 12ff., 39, 139, 185, 201, 237, 250ff. Haggada 202 Halacha 202 Häresie 118f., 130 Hasmonäer 148ff., 221 Heiden 11, 24, 45, 128, 144, 269, 280, 338, 342 Heidenchristen 118, 135, 138, 225, 270 Heil 20ff., 28ff., 44f., 50ff., 82, 87, 97, 108, 117, 131, 161ff., 183ff., 199ff., 221, 223, 229, 234, 240, 244, 248ff., 269, 273ff., 291ff., 304f., 315ff., 328ff. Heiligkeit/heilig 8, 10, 49, 94, 99, 137f., 156f., 161, 166, 189, 221, 226, 256, 267ff., 293, 340 Heiligung 157f., 181, 192 Heilung/Heilungswunder 115, 182, 188ff., 213, 236f., 319 hilasterion 322f. Himmelfahrt 29, 37ff., 305, 339ff. Historismus 78ff., 120 Historizität – der Himmelfahrt 340 – Jesu 76, 129, 136, 144, 211, – Osterns/der Auferstehung 51, 73, 76, 296, 301 Hoheitstitel, christologische/messianische 58, 68, 128, 179, 221ff., 240f. Hohepriester 149, 152, 155, 179, 221f., 264ff., 279, 306ff. Hoher Rat siehe: Synedrium Höllenfahrt 324 hyper-Formel 311, 315, 319

Sachregister

Imperium Romanum/Römisches Reich 8, 15, 136, 143ff., 278 Inkarnation/Inkarnationstheologie 28, 68ff., 98, 136, 224f. ipsissima vox 56, 205 Islam 11 iustitia distributiva 17f. Jerusalem 16, 32, 34, 60ff., 95, 117, 123, 126, 136ff., 175f., 181, 215, 242, 263ff., 283ff., 306ff. Jesulogie 36, 56, 59, 64, 90, 260 Johanneische Theologie/Christologie 28f., 33, 140, 171, 180ff., 224f., 231f., 263, 265, 314, 316 Johannesprolog 28, 68, 225 Judäa 10, 85, 129, 137f., 144f., 149, 167f., 175, 266, 278, 295, 307 Judenchristen/Judenchristentum 66f., 117, 121, 135, 138, 156, 247, 267, 336ff. Jungfräuliche Empfängnis/Geburt 136, 139 Kaiser/Kaiserzeit/Kaiserkult 7, 15f., 130, 145, 150f., 223, 232, 278 Kanon, biblischer/kanonische Texte 116ff., 130f., 150, 157, 161f., 206, 244, 246 Karfreitag 40, 42, 45, 75, 253, 282, 286, 299, 311 Kasuistik 162, 165, 180, 204, 246, 334 Kirche 24, 37, 50f., 57, 69, 96, 100f., 105ff., 138, 179, 207, 214, 216, 243, 293, 298, 321, 335, 337 Klageruf/Schrei Jesu am Kreuz 59ff., 263 König/Königsherrschaft 7, 10, 60f., 132, 148ff., 161ff., 174, 176, 180ff., 218, 221ff., 265f., 276, 278, 292, 307, 314, 325, 334, 341 Korinth/Korinther 8, 13, 283, 343 Kreuzestod 29ff., 59ff., 91, 108, 112, 128, 132, 170, 210, 258, 266ff., 279, 283f., 292, 295, 300, 305ff. Krieg, Jüdischer 133, 150ff. Kult 8ff., 60, 141, 145ff., 155ff., 170, 175, 181f., 193f., 222f., 235f., 255, 259, 265ff., 297, 305, 315, 320ff., 334 Kyrios 131, 203, 223ff.

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Leben-Jesu-Forschung 40ff., 81, 85ff., 100ff., 104ff., 120, 304 Leeres Grab 31ff., 283ff., 343 Leiblichkeit 37, 45, 48, 198, 286f., 297ff. Leidensankündigungen 214, 319 Lex naturalis 17, 77 Liberale Theologie 126 Logienquelle (Q) 29, 116, 119, 128, 132ff., 166, 175, 185, 188f., 204f., 217, 236 Logos 28, 38, 49, 68ff., 136, 146, 150, 224ff., 305f., 320f., 343 Lohn 18, 20, 218f., 250, 254, 256 Loskaufmotiv 273, 315, 319 Makedonien 7 Makkabäer 148ff., 175, 198 Menschensohn 47ff., 97, 158, 169ff., 204, 211, 213, 218f., 222ff., 305, 314, 336ff. Messias/Messianität 13, 24, 26, 40ff., 55ff., 91ff., 101, 116, 126ff., 143, 145, 153, 158, 168ff., 196, 203, 212ff., 221ff., 240ff., 264, 268, 276f., 291, 307, 334ff. Messiasgeheimnis 212ff. Metaphorik 34, 205ff., 328 Metaphysik 75f., 99, 126 Mission 8, 33, 60f., 128, 141, 143, 170, 173, 200, 203, 322, 337 Monotheismus 8ff., 39, 146, 157, 175, 198, 242, 246, 281 Mystik 102, 105, 147 Mythos 8, 41, 94f., 106f., 146f., 170 Nachfolge Jesu 30, 53, 128, 147, 183, 204, 258, 305, 335 Nag Hammadi 113, 131 Neue Rückfrage nach dem historischen Jesus 106ff., 120 Neuplatonismus 16 New Quest 85, 104ff. Nomismus 24, 165 No Quest 42, 85, 105 Old Quest 85, 90, 100 Opfer – Kultisches Opfer 8, 13, 22, 157, 194, 236, 255, 259, 269, 322 – Opfer Jesu 58ff., 269, 321, 322

350

Register

– Sühnopfer 255, 269, 321 Opferung Isaaks 312 Osterzeugen 34ff., 46, 48, 197, 301, 317, 336, 340 Parabel 131, 204ff., 259, 314, 333 paradidonai 173, 312, 324 Parakletensprüche 28 Parusie/Wiederkunft Jesu Christi 30, 35, 52f., 210f., 336ff. Passah/Passahmahl 60, 129, 136, 140, 157, 263, 265, 314f., 340 Passion – Jesu 14, 36, 59, 63, 67, 199, 214, 268, 271, 277, 291, 304f., 312f., 316ff. – Passionsbericht 31, 51, 67, 95, 129, 132ff., 263ff., 279f., 292, 306ff. – Passionstheologie 64 Paulinische Theologie/Christologie 13, 16, 19, 24, 52f., 169, 219, 224f., 252ff., 294, 320ff. Petrusbekenntnis 58, 213 Pfingsten 29, 34, 37ff., 169f., 218, 234, 298, 321, 323, 340f. Pharisäer/Schriftgelehrte 26, 94, 114, 135, 137, 147, 152ff., 165, 167, 175, 190, 208, 230, 235, 252, 259ff., 308 Philosophie 11ff., 44, 75, 78f., 90, 92, 94, 150, 172 Platonismus 14, 146 Plausibilitätskriterium 119, 122 Pneumatologie 18, 29f., 35ff., 139, 306, 335, 341, 343 Präexistenz 28, 68, 224f., 233 Proexistenz 36, 305, 318ff. Prophetie/Prophet 40, 54ff., 91, 114ff., 131, 134, 147, 153ff., 161ff., 179ff., 192ff., 204, 216f., 221f., 228, 230, 237, 244ff., 258, 268ff., 292, 294, 306ff., 325ff. Prozess Jesu 45, 129, 155, 258, 265ff., 304ff., 320, 334f. Quaddisch 181, 188 Quelle (literarische) 16, 43, 57, 66, 115, 118ff., 126ff., 153, 166, 172, 175, 221, 265, 280, 284ff., 304, 309f.

Qumran 153ff., 164, 167, 171, 176, 222 Rabbinismus 26, 57, 129, 135, 147, 152ff., 192, 202ff., 224ff., 293, 314 Rationalismus 41, 93, 104 Rechtfertigung 18ff., 101, 252, 259, 280, 292, 305, 315, 319ff., 338 Reich der Himmel 183 Reich Gottes 9, 52f., 60, 64, 115f., 122, 128, 159, 163f., 174, 179ff., 195ff., 206ff., 230ff., 239ff., 270ff., 307f., 320, 325ff. Religionsgeschichtliche Schule 146f., 223 religio rationalis 13, 92 Retroaktivität 73, 76, 113 Richter 13, 20, 57, 169ff., 185, 187, 211, 218, 251, 336, 341 Rom/Römer 7ff., 129, 145, 149, 151ff., 226, 266, 271, 276ff., 306ff. Sabbat 51, 116, 148, 158, 193, 235f., 243, 263, 308 Sadduzäer 147, 152ff., 167, 175, 197f., 265, 267, 272, 279f., 310 Salbung/Gesalbter 221ff., 264 Samaria 143, 145, 159, 153, 208 Satan siehe: Teufel Scheintodhypothese 41 Schicksal 8, 146, 173, 250ff., 270, 275, 298, 312, 314 Schöpfer 10, 19, 22f., 29f., 146, 184, 237, 247f., 254, 305, 332 Schöpfung 19ff., 30f., 35f., 98, 166, 176, 193, 224f., 235ff., 247, 251, 302, 305, 330, 336 Schöpfungsanamnese 30, 236, 305 Schriftgelehrte siehe: Pharisäer Schuld 21, 25, 30, 55, 59, 61, 94, 96, 151, 154, 162, 166, 171, 182, 191, 234, 250, 254ff., 277, 280, 292, 305ff., 329ff., 342 Schweigegebot 213f. Seewandel Jesu 192f. Seligpreisungen 183, 188, 255 Sendung – der Apostel 33, 39, 123 – des Geistes 31, 340

Sachregister

351

– Israels 23 – Jesu 43, 49, 57ff., 116ff., 128, 144f., 159, 170, 175, 185, 191, 211f., 218f., 224ff., 240ff., 270ff., 304f., 315, 320, 335 – Johannes des Täufers 169, 173ff. – der Propheten 161 Sendungsbewusstsein Jesu 57ff., 218, 231, 233, 240f., 320 Septuaginta 150, 161, 206, 224, 226, 249f. Sohn Gottes 26ff., 44, 58, 60, 66, 68, 71, 131, 136, 213, 223ff., 2321ff., 240f., 305, 336, 342 Sondergut, matthäisches bzw. lukanisches 132, 135 Soteriologie 28, 30f., 37, 63f., 69, 87, 106, 112, 243, 273, 292, 298, 305f., 315ff., 342 Spätjudentum 97, 165, 250 Spinozismus 99 Stellvertretung 58, 60, 108, 273ff., 311, 318ff., 342 Stephanuskreis 128, 323 Stoa/Stoizismus 13ff., 146, 150 Strafe/Bestrafung 17ff., 145, 162, 218f., 250, 254, 263, 266, 278, 306ff., 319, 323 Sühne 58ff., 174, 259, 269, 272ff., 311ff. Sünde/Sünder 10, 18ff., 30, 44ff., 60f., 77, 93, 96, 108, 128, 132, 154, 159, 162ff., 182ff., 214, 219, 224, 231ff., 243, 250ff., 272, 279, 281, 291f., 304f., 310ff., 328ff. Sündenvergebung siehe: Vergebung Synagoge 13, 24, 157f., 163, 181, 188, 243, 270 Synedrium 149, 263ff., 277ff., 308ff., 334 Synoptische Tradition 51, 58, 87, 108, 132, 181ff., 204, 217, 224, 228ff., 306, 337 Syrien 66, 131, 134f., 149f., 158, 164, 170, 247

175, 181, 235, 248, 259, 264ff., 308ff., 320ff., 334 Tempelreinigung/Tempelaktion 51, 140, 264, 267ff., 306 Tempelzerstörung 267f. tertius usus legis 26 Testament, Altes 18ff., 92, 143, 176, 185, 189, 206, 221, 244, 250, 252, 257, 274, 293, 309, 313, 319, 329, 339 Testament, Neues 31, 57, 109, 146, 149, 154, 166, 169, 180, 185, 192ff., 200, 223, 225, 244ff., 255, 267ff., 293, 300, 315, 328, 340 Teufel 60, 68, 157, 192, 195, 214, 218, 325f. Theanthropologie 70, 73 theios aner 192, 232 theologia crucis 13, 55, 59, 62, 216, 225, 234, 312, 315ff., 338 Thessaloniki/Thessalonicher 7, 131 Third Quest 85, 113ff., 127 Thomasevangelium 29, 116, 131, 134, 205 Tischgemeinschaft 154, 188ff., 304 Tora 9f., 22ff., 39, 44f., 59, 135ff., 162ff., 175, 180ff., 198ff., 234ff., 239ff., 271f., 277ff., 304, 308ff., 322f., 332ff. Toragehorsam siehe: Gesetzesgehorsam Torakritik Jesu siehe: Gesetzeskritik Jesu Toramonotheismus 39, 198, 242, 281 Traditionsgeschichte 31, 52, 68ff., 92, 98, 117, 139, 158, 181, 185, 192, 204, 222, 224, 245, 265ff., 284, 286, 314, 339, 341 Transfinalisierung 77, 240, 304, 338 Trinitarisch-christologisches Dogma 29f. Trinität/Trinitätslehre 9f., 29f., 68ff., 93, 95, 101, 225, 306 Tugend 14ff., 104, 172, 246, 255 Tun-Ergehen-Zusammenhang / Tun und Ergehen 18ff., 155, 162, 198, 219, 250ff., 312

Taufe 57, 60, 62, 94, 122, 136, 139, 144, 166ff., 182, 184, 186, 194, 212, 233, 259 Tempel/Tempelkult/Tempeldienst 8, 13, 60, 123, 128, 140ff., 150ff., 163, 167,

Ungerechter 17ff., 181ff., 201, 257, 259, 334 Ungerechtigkeit 17, 20, 22, 187 Unreine/Unreinheit 154, 157, 182, 193ff., 235, 243, 259, 269, 279

352

Register

Unterwelt 8, 200 Urgemeinde 32, 52, 66, 87, 155, 174, 203, 215f., 228, 287ff., 310, 318ff. Urmarkushypothese 132 Vaterunser 188ff., 252, Vergebung 21f., 167, 171, 176, 182, 189, 235, 237, 252ff., 274, 315, 318 Vergeltung 19ff., 248ff. Verheißung – Eliaverheißung 169 – Gottes (allgemein) 21f., 44, 53, 165, 171, 175ff., 199, 219, 226, 244, 257, 281, 292f., 324, 330 – Immanuelverheißung 139 – Verheißung der Sündenvergebung siehe: Vergebung Verherrlichung 10, 42, 54, 297, 305, 314, 317, 338, 343 Verhör Jesu 264ff., 306ff. Verkennen 33, 36, 55, 77f., 211, 213, 241, 301, 334 Verklärung Jesu 41f., 139, 192, 213 Versöhnung/Versöhnungslehre 22, 26, 30, 58, 60, 92f., 147, 158, 189, 191, 234ff., 255, 272, 292, 305, 315ff., 333, 338, 341 Versuchung 60, 134, 189

Vertrauen, gläubiges 19, 21f., 26, 50, 128, 183, 189f., 198, 236, 240, 256, 269, 281, 338 Verwesung 31, 47, 63, 293, 297ff., 342 Vorösterlicher Jesus 43f., 48, 53ff., 64ff., 110, 113, 179, 217, 231, 290, 298, 300 Weihnachtsgeschichten 139, 224 Weisheit 8, 13, 15, 115, 118, 131, 134, 147, 157ff., 179f., 188, 204, 212, 221, 224, 235ff., 246ff., 329f. Weltenrichter siehe: Richter Weltkrieg, Erster 86, 120 Wiederkunft/Wiederkehr Jesu Christi siehe: Parusie Wille Gottes 18, 23, 25, 158, 237, 246f., 255, 313 Wunderberichte 51, 191ff., 213f., 327 Zehn Gebote siehe: Dekalog Zeloten 40, 145, 147, 152ff. Zeugenbewusstsein der Jünger/Apostel 74f. Zöllner 154, 157, 183, 188ff., 208, 214, 304, 335 Zorn Gottes 166, 170ff., 312, 321, 324, Zwei-Naturen-Lehre 93, 225 Zwölferkreis der Jünger 33f., 123, 285, 287, 291, 294