Christologie 9783838549422, 3838549422

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Christologie
 9783838549422, 3838549422

Table of contents :
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung (Karlheinz Ruhstorfer)
I. Messianische Erwartungen im Alten Testament (Oliver Dyma)
Einleitung
1. Hermeneutische Hinführung
2. Der König als Gesalbter
2.1 Saul als Gesalbter
2.2 Einblicke in die Königsideologie – die Königspsalmen
2.3 Der ewige Bestand der davidischen Dynastie – 2Sam 7
2.4 Hat Gott seinen Bund mit David aufgekündigt? – Psalm 89
2.5 Das Hirtenbild für den König wie für Gott
3. Entwicklungen der Herrschererwartungen
3.1 Der persische König Kyros als Gesalbter – das Kyros-Orakel
3.2 Frühnachexilische Hoffnungen im Haggai- und Sacharjabuch
3.3 Ein Friedensherrscher – Erwartungen in den späten Teilen des Sacharjabuches
3.4 Entwicklungen von Herrschererwartungen – das „messianische Triptychon“ im Jesajabuch
3.5 Ein Herrscher aus Bethlehem – Mi 5,1–4
4. David als identitätsstiftende Figur
4.1 Die messianische Redaktion des Psalters – Ps *2–89
4.2 Die Chronikbücher
5. Die Herrschaft des Menschengleichen – Dan 7
6. „Musste der Messias nicht all dies erleiden?“ (Lk 24,26) – weitere Deutungsangebote
6.1 Das vierte Lied vom Knecht JHWHs – Jes 53
6.2 Kultisch geprägte Vorstellungen
6.3 Personifizierte Weisheit
7. Nachalttestamentliche Entwicklungen
7.1 Der Menschensohn in den Bilderreden des Äthiopischen Henochbuches und in 4Esra
7.2 Messiasvorstellungen in Qumran
7.3 Die Messiaserwartung in den Psalmen Salomos
8. Rekapitulation
Literatur
II. Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus (Stefan Schreiber)
1. Anfänge und Grundlegung – die ältesten Überlieferungen
1.1 Der historische Rahmen
1.2 Formeln und Traditionen
1.3 Titel und christologische Modelle
1.4 Ergebnis
2. Rückblick – der Anspruch des historischen Jesus
2.1 Im Zentrum der Verkündigung Jesu: Gottes Königsherrschaft
2.2 Stellte sich Jesus als Messias dar?
2.3 Der Anspruch Jesu: Bote und Bevollmächtigter der Gottesherrschaft
2.4 Übergang und Neudeutung – Ansätze einer „Christologie“ nach Ostern
3. Entfaltungen – Stationen neutestamentlicher Christologie
3.1 Die endzeitliche Herrschaft des erhöhten Christus als Basis
3.2 Paulus
3.3 Die deuteropaulinischen Briefe
3.4 Katholische Briefe
3.5 Hebräerbrief
3.6 Synoptische Evangelien und Apostelgeschichte
3.7 Johannesevangelium und Johannesbriefe
3.8 Die Offenbarung des Johannes
4. Rückblick und Entwicklung
Literatur
III. Christologie im antiken Christentum (Roland Kany)
1. Antike Christologie und ihre Kritiker
1.1 Ein anti-christologischer Affekt
1.2 Bibel versus Metaphysik?
1.3 Die Vielfalt antiker Perspektiven auf Christus
2. Christologische Konzeptionen des zweiten und dritten Jahrhunderts
2.1 Frühe Christologien unter Rückgriff auf jüdische und pagane Modelle göttlicher und gottbegnadeter Instanzen
2.2 Gnostische Christologien, Logos-Christologien, Monarchianismus
3. Von Origenes zur Phase der Streitigkeiten des vierten Jahrhunderts
3.1 Zur Christologie des Origenes und des übrigen dritten Jahrhunderts
3.2 Christologie bei Arius und im Konzil von Nizäa 325
3.3 Einige Entwicklungen in der weiteren christologischen Diskussion des vierten Jahrhunderts
4. Der Streit zwischen Kyrill und Nestorius bis zum Konzil von Ephesus 431
4.1 Der Streit zwischen Nestorius und Kyrill
4.2 Das Konzil von Ephesus 431
4.3 Der Abschluss des Konzils von Ephesus in der Unionsformel von 433
5. Das Konzil von Chalcedon 451 und seine unmittelbare Vorgeschichte
5.1 Die Phase vor dem Konzil von Chalcedon
5.2 Das Konzil von Chalcedon
6. Christologische Debatten nach Chalcedon
Literatur
IV. Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte (Karlheinz Ruhstorfer)
1. Die onto-theo-logische Christologie
1.1 Die Entwicklung im Mittelalter
1.2 Der Umbruch im 16. Jahrhundert
1.3 Jesus Christus und der Geist der Freiheit
2. Die bio-anthropo-logische Christologie der Moderne
2.1 Strauß, Feuerbach, Kierkegaard als Aufbruch in die moderne Deutung Jesu
2.2 Marx, Nietzsche, Heidegger als antichristliche Christologie
2.3 Wege moderner protestantischer Christologie
2.4 Schlaglichter auf die moderne katholische Christologie
3. Die tele-semeio-logische Christologie der Postmoderne
3.1 Die dekonstruktive Spur der Christologie in der postmodernen Philosophie
3.2 Kontextuelle Christologien am Rande der Postmoderne
3.3 Die dritte Rückfrage und darüber hinaus …
4. Christologie der Geschichte
Literatur
Personenregister
Sachregister
Die Autorinnen und Autoren

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Karlheinz Ruhstorfer (Hg.)

Christologie

Ferdinand Schöningh

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart UTB-Band-Nr: 4942 E-Book ISBN 978-3-8385-4942-2 ISBN der Printausgabe 978-3-8252-4942-7

Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 (Karlheinz Ruhstorfer)

I.

Messianische Erwartungen im Alten Testament . . . . . . . . . . . 15 (Oliver Dyma)

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 1.

Hermeneutische Hinführung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2. Der König als Gesalbter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Saul als Gesalbter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Einblicke in die Königsideologie – die Königspsalmen. . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Psalm 72. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Psalm 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Psalm 110. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Psalm 45. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Der ewige Bestand der davidischen Dynastie – 2Sam 7. . . . . . . . . . . . . 2.4 Hat Gott seinen Bund mit David aufgekündigt? – Psalm 89 . . . . . . . . . 2.5 Das Hirtenbild für den König wie für Gott. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 21 23 24 26 27 28 29 30 32

3. 3.1 3.2 3.3

34 35 37

Entwicklungen der Herrschererwartungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der persische König Kyros als Gesalbter – das Kyros-Orakel. . . . . . . . . Frühnachexilische Hoffnungen im Haggai- und Sacharjabuch. . . . . . . . Ein Friedensherrscher – Erwartungen in den späten Teilen des Sacharjabuches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Entwicklungen von Herrschererwartungen – das „messianische Triptychon“ im Jesajabuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Ankündigung des Immanuel – Jes 7,14. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Geburt des Friedensfürsten – Jes 9,5. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Ein Spross aus dem Baumstumpf Isais – Jes 11. . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Das Triptychon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Ein Herrscher aus Bethlehem – Mi 5,1–4. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. David als identitätsstiftende Figur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 4.1 Die messianische Redaktion des Psalters – Ps *2–89. . . . . . . . . . . . . . . 47 4.2 Die Chronikbücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

6

5.

Inhalt

Die Herrschaft des Menschengleichen – Dan 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

6. „Musste der Messias nicht all dies erleiden?“ (Lk 24,26) – weitere Deutungsangebote. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Das vierte Lied vom Knecht JHWHs – Jes 53. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Kultisch geprägte Vorstellungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Personifizierte Weisheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Nachalttestamentliche Entwicklungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Der Menschensohn in den Bilderreden des Äthiopischen Henochbuches und in 4Esra. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Messiasvorstellungen in Qumran . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Die Messiaserwartung in den Psalmen Salomos . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.

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Rekapitulation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

II. Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus. . . . 69

(Stefan Schreiber)

1. Anfänge und Grundlegung – die ältesten Überlieferungen. . . . . . . . . . . 1.1 Der historische Rahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Formeln und Traditionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Die grundlegende Überzeugung: Gott erweckte Jesus. . . . . . . . . 1.2.2 Jesus als Herrscher der Endzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Titel und christologische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Sohn Gottes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Menschensohn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Kyrios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Ergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. 2.1 2.2 2.3

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Rückblick – der Anspruch des historischen Jesus. . . . . . . . . . . . . . . . . . Im Zentrum der Verkündigung Jesu: Gottes Königsherrschaft. . . . . . . . Stellte sich Jesus als Messias dar?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Anspruch Jesu: Bote und Bevollmächtigter der Gottesherrschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Übergang und Neudeutung – Ansätze einer „Christologie“ nach Ostern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3. 3.1 3.2

3.3 3.4 3.5

3.6

3.7

3.8

Entfaltungen – Stationen neutestamentlicher Christologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die endzeitliche Herrschaft des erhöhten Christus als Basis. . . . . . . . . Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Sterben und Erweckung Christi als Zuwendung Gottes. . . . . . . . 3.2.2 Der Tod Jesu als Heilsereignis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Der Tod Jesu als Entmachtung der Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Das Kreuz als neuer Maßstab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Erweckung, Erhöhung und Kommen des Christus. . . . . . . . . . . . 3.2.6 Sendung und Präexistenz – die Herkunft Jesu von Gott. . . . . . . 3.2.7 Divine Christology? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die deuteropaulinischen Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katholische Briefe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hebräerbrief. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Gottes Wort als Ermächtigung des Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Der himmlische Hohepriester als Zugang zu Gott . . . . . . . . . . . 3.5.3 Das einmalige Opfer des Hohepriesters Jesus. . . . . . . . . . . . . . . Synoptische Evangelien und Apostelgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Erzählungen über Jesus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Das Markusevangelium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3 Das Matthäusevangelium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.4 Lukasevangelium und Apostelgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannesevangelium und Johannesbriefe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.1 Die Logos-Christologie im Prolog Joh 1,1–18 . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.2 Der „göttliche“ Logos und der eine Gott Israels . . . . . . . . . . . . . 3.7.3 Jesus als König, Lamm Gottes und erhöhter Menschensohn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.4 Jesus als Offenbarer und Offenbarung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.5 Lebenshingabe für die Freunde aus Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.6 Bleibende Präsenz Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.7.7 Narrative Christologie: Das Leben Jesu als Spiegel Gottes. . . . . Die Offenbarung des Johannes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Rückblick und Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

III. Christologie im antiken Christentum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

(Roland Kany)

1. 1.1 1.2 1.3

Antike Christologie und ihre Kritiker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein anti-christologischer Affekt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibel versus Metaphysik?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vielfalt antiker Perspektiven auf Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8

Inhalt

2.

Christologische Konzeptionen des zweiten und dritten Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2.1 Frühe Christologien unter Rückgriff auf jüdische und pagane Modelle göttlicher und gottbegnadeter Instanzen. . . . . . . . . . . 155 2.2 Gnostische Christologien, Logos-Christologien, Monarchianismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3.

Von Origenes zur Phase der Streitigkeiten des vierten Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Zur Christologie des Origenes und des übrigen dritten Jahrhunderts. . . 3.2 Christologie bei Arius und im Konzil von Nizäa 325. . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Einige Entwicklungen in der weiteren christologischen Diskussion des vierten Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Der Streit zwischen Kyrill und Nestorius bis zum Konzil von Ephesus 431 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Der Streit zwischen Nestorius und Kyrill. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Das Konzil von Ephesus 431. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Der Abschluß des Konzils von Ephesus in der Unionsformel von 433. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5.

Das Konzil von Chalcedon 451 und seine unmittelbare Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.1 Die Phase vor dem Konzil von Chalcedon. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 5.2 Das Konzil von Chalcedon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 6.

Christologische Debatten nach Chalkedon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210

IV. Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

(Karlheinz Ruhstorfer)

1. Die onto-theo-logische Christologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Entwicklung im Mittelalter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.1 Anselm von Canterbury. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.3 Das Spätmittelalter oder das Werden der Neuzeit. . . . . . . . . . . . 1.2 Der Umbruch im 16. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Martin Luther. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.2 Ignatius von Loyola. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Johannes Calvin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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1.3 Jesus Christus und der Geist der Freiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Die Aufklärung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Immanuel Kant. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Friedrich Schleiermacher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Die bio-anthropo-logische Christologie der Moderne. . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Strauß, Feuerbach, Kierkegaard als Aufbruch in die moderne Deutung Jesu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 David Friedrich Strauß – „Das Leben Jesu kritisch betrachtet“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Feuerbach – die anthropologische Wende. . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Kierkegaard – antispekulative Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Marx, Nietzsche, Heidegger als antichristliche Christologie . . . . . . . . . 2.3 Wege moderner protestantischer Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Ernst Troeltsch und die liberale Modernität. . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Karl Barth als moderne Neo-Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Paul Tillich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Spätmoderne Entwicklungen in der protestantischen Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Schlaglichter auf die moderne katholische Christologie. . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Karl Rahner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Hans Urs von Balthasar. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Die weitere Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

3. Die tele-semeio-logische Christologie der Postmoderne. . . . . . . . . . . . . 3.1 Die dekonstruktive Spur der Christologie in der postmodernen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Michael Foucault. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Jacques Derrida . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Kontextuelle Christologien am Rande der Postmoderne. . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Jesus als Symbol Gottes (Roger Haight) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die Christologie nach Auschwitz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Christologie der Armen (Gustavo Gutiérrez, Jon Sobrino). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Die interreligiöse Dimension. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Die interkulturelle Christologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6 Die feministische Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die dritte Rückfrage und darüber hinaus …. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

332

281 281 285 287 290 296 296 300 306 311 317 319 324 329

335 335 338 344 344 349 351 353 358 362 364

4. Christologie der Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369

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Inhalt

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Die Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

Einleitung Christós übersetzt das hebräische Wort maschiach, was etwa soviel wie „Gesalbter“ bedeutet und eine religiös-politische Befreier- und Erlösergestalt bezeichnet. Mit diesem Titel belegt eine jüdische Splittergruppe den Wanderprediger Jesus von Nazaret. Seine Anhänger lösen sich rasch aus dem Kontext der Mutterreligion, um dann als eigenständige Religionsgemeinschaft unter der Bezeichnung „Christen“ Weltgeschichte zu schreiben – mit Auswirkungen, die weit über die Grenzen der Religionsgeschichte hinausreichen. Schon früh wird Jesus in eine einzigartige Nähe zum Gott Israels gerückt. Nach zahlreichen Auseinandersetzungen betrachten die Christen Jesus schließlich als den Gottmenschen. In Chalkedon bei Konstantinopel definiert eine Bischofsversammlung, dass in Jesus das Wesen Gottes und das Wesen des Menschen untrennbar und unvermischt verbunden seien. Diese christologische Grundformel prägt die meisten christlichen Kirchen bis in die Aufklärungszeit und darüber hinaus bis heute. Doch nicht nur im Horizont der Kirchen spielt der Gedanke der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur eine fundamentale Rolle. Auch der christliche Kulturraum, besonders in seiner westlichen Ausprägung, ist von einer bemerkenswerten Dynamik geprägt, die sich dadurch auszeichnet, dass der menschlichen Natur als solcher eine nicht mehr zu überbietende Rolle zugesprochen wird. Dasjenige, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, ist von Alters her das Göttliche. Die Entäußerung Gottes ins menschliche Individuum wird aber auch zum Movens der so genannten Säkularisierung. Der Prozess der Entgöttlichung zeichnet in eigentümlicher Weise den Gedanken der Menschwerdung Gottes nach, so dass schließlich auch außerhalb des religiösen Kontextes die Würde des Menschen eine unüberbietbare und unantastbare Qualität erhält. Insofern sich die europäische Kultur weltgeschichtlich entgrenzt, kommt der Person Jesu nicht nur  – direkt  – über die Missionierung und Kolonisierung eine globale Rolle zu, vielmehr prägt die Gestalt Jesu – indirekt – auch durch Derivate des Christentums wie demokratisches Gemeinwesen und Menschenrechte die Weltgeschichte in höchstem Maß.1 Welche Rolle die Person und die theologische Gestalt Jesu von Nazaret in einer

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Einleitung

globalisierten, polykulturellen und postsäkularen Welt spielen kann, ist noch nicht abzusehen.1 Der vorliegende Band bietet eine gleichermaßen aktuelle und fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Person Jesu von Nazareth auf einem ersten Reflexionsniveau. Ausgangspunkt sind die messianischen Erwartungen im Alten Testament. Oliver Dyma führt in die schwer zu übersehende Vielfalt alttestamentlicher Vorgaben für die christologische Theoriebildung ein. Im Herzen der messianischen Vorstellungen steht das davidische Königtum als Urbild religiös legitimer Herrschaft. Aber auch die Gottesknechtlieder aus dem Jesajabuch oder Daniels Rede vom „Menschensohn“ werden in ihrer christologischen Relevanz ausgeleuchtet. Der Neutestamentler Stefan Schreiber gibt daraufhin einen Einblick in die Lehre und Leben des Juden Jesus von Nazaret. Er zeichnet aber auch die Entwicklung nach, die von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus führt. Dabei werden sowohl die Kontinuitäten als auch die Brüche herausgearbeitet. Die Auferweckung Jesu ist die grundlegende Überzeugung der ersten Christen, doch bleibt gerade auch die Deutung des Todes Jesu für die Glaubenden höchst relevant. Ausgehend von der Erinnerung an Tod und Auferstehung Jesu entwickelt sich die Fülle neutestamentlicher Jesusbilder, die bis heute die Basis des christlichen Glaubens darstellen. Auf dem biblischen Schrifttum ruht die Entfaltung der Christologie in Termini griechischer Philosophie. Roland Kany zeigt, dass zwischen Bibel und Metaphysik keine unüberbrückbare Kluft besteht, sondern die dogmatische Entwicklung zu Recht versucht, die urchristlichen Vorgaben rational zu durchdringen und widerspruchsfrei darzustellen. Die konkrete Durchführung dieser Aufgabe führt freilich in die komplexen Denkwege der patristischen Christologie. Es zeigt sich, dass gerade die amtlichen Festlegungen etwa der Konzilien von Nizäa (325) und Chalkedon (451) stets neue offene Fragen produzieren und dass diese durchweg von jeweiligen geschichtlichen Konstellationen geprägt sind. Die Spuren spätantiker Christologie führen bis ins Umfeld des sich ausbildenden Islam.

  1 Zu dieser nicht ganz selbstverständlichen These siehe Ruhstorfer, Karlheinz: Freiheit – Würde – Glauben. Christliche Religion und westliche Kultur, Paderborn u.a. 2015.

Einleitung

Mein systematisch-theologischer Beitrag skizziert einerseits die weitere Entwicklung vom Mittelalter über die Neuzeit und die klassische Moderne zur Postmoderne. Dabei wird der Versuch unternommen, „von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte“ fortzuschreiten. Die offene und plurale Dialektik von Logos und Sarx lässt erahnen, dass die Dynamik der Kulturgeschichte nicht nur des so genannten Westens von der gottmenschlichen Einheit im Individuum getragen wird. Die Geschichte des Mannes aus Nazareth ist eine bleibende Quelle der Inspiration nicht nur für den christlichen Glauben, sondern auch für die Geschichte der Menschheit, denn nie wurde vom menschlichen Subjekt höher gedacht als im christologischen Kontext. Dieser Band hat seinerseits eine lange Geschichte. Doch was lange währte, wurde schließlich gut. Und so habe ich zu danken. Zuerst den Verfassern der Beiträge für ihre große Zuverlässigkeit und Geduld. Dank gilt aber auch Herrn Michael Nixdorf für seine äußerst sorgfältige und hochkompetente Arbeit am Manuskript. Ohne seine Hilfe wäre dieses Buch nicht entstanden. Auch meiner Freiburger Crew – Franca Spies, Stephan Tautz, Robert Pfeiffer, Franziska Schienmann und Florian Elsishans – danke ich herzlichst für Korrekturarbeiten und das Erstellen der Register. Schließlich möchte ich auch Frau Nadine Albert vom Verlag Schöningh für die geduldige und nachdrückliche Begleitung danken. Gewidmet sei der Band meinen Hörerinnen und Hörern, aber auch den Kolleginnen und Kollegen in Dresden. Freiburg im Breisgau am 28. Januar 2018 Karlheinz Ruhstorfer

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I. Messianische Erwartungen im Alten Testament Oliver Dyma Einleitung Die Hoffnung auf den Messias, der Israel erlösen werde, entwickelte sich aus der Königsideologie Israels. Nachdem Jerusalem 586 v. Chr. von den Babyloniern erobert worden war, bestand zunächst die Hoffnung, dass die auf David zurückgehende Dynastie wieder neu installiert werden könne. Nachdem sich dies zerschlagen hatte, setzte man die Hoffnung auf einen neuen David, der die Geschichte zum Besseren wenden sollte. In spät-hellenistischer und früh-römischer Zeit sah man das baldige Ende der Welt gekommen, das Ende der einen Weltzeit, des einen Äons, und erwartete den Anbruch einer neuen Zeit, eines neuen Äons, der mit schrecklichen Umbrüchen einherging. Vor diesem Hintergrund apokalyptischer Erwartungen ersehnte man den Messias als einen endzeitlichen Retter. Die Messias-Erwartung ist eine spezifische Form der Hoffnung auf die Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes, die innergeschichtlich oder eschatologisch gedacht werden kann. Nicht alle Texte, die vom Anbrechen der Gottesherrschaft sprechen, verbinden dies mit dem Auftreten eines messianischen Retters, der die Feinde besiegen und dem die Herrschaft übertragen wird. In Jes 35 beispielsweise wird „Gott selbst kommen und euch retten“ (35,4). Die Königsherrschaft Gottes ist in jedem Fall aber eine Heilszeit: Die Augen der Blinden und die Ohren der Tauben werden geöffnet, der Lahme springt wie ein Hirsch (35,5–6).

1. Hermeneutische Hinführung Um zu verstehen, wer Jesus ist, wenden sich die frühen Christen an die ihnen überlieferten Schriften, die wir nun überwiegend als Altes Testament kennen. Diese geben ihnen verschiedene Deutungsmöglichkeiten an die Hand, die auf den Gekreuzigten und Auferstandenen übertragen werden. Dass sie dies konnten,

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Jesus als der Christus

Vielgestaltigkeit der Zukunftserwartung

hängt auch damit zusammen, dass sich das Christentum in einer Umwelt innerhalb des Judentums zu entwickeln beginnt, die von verschiedensten Zukunftshoffnungen und -erwartungen geprägt ist. Diese sind aus den alttestamentlichen Texten gespeist, wenn auch nicht vollständig aus diesen erklärbar. Die Annahme, dass das Ende der Welt unmittelbar bevorstehe (Naherwartung), war verbreitet. Die Menschen suchten Vergewisserung in den Schriften, speziell den Prophetenschriften. Diesen kam zur Zeit Jesu bzw. zur Zeit der neutestamentlichen Autoren eine eminent wichtige Rolle zu, wie beispielsweise die Schrift Vitae prophetarum (Die Leben der Propheten) zeigt. Diese enthält neben biographischen Angaben jeweils eine Zusammenfassung dessen, was die Propheten über das Weltende sagen wollten. Der Selbstanspruch Jesu, sein Auftreten und seine Verkündigung sind in den Schriften Israels begründet. Nach der Kreuzigung und der Begegnung mit dem Auferstandenen wird diese Linie weiterverfolgt und mit weiteren Schriftbeweisen gezeigt, dass Jesus selbst der von jüdischen Heilshoffnungen her erwartete Retter, der Messias ist. Diese Überzeugung wird in dem Kurzbekenntnis zusammengefasst, dass Jesus der Christus ist, noch stärker komprimiert in der quasi als Namenserweiterung gefassten Benennung „Jesus Christus“. Das griechische Wort „christos“ (χριστός) heißt übersetzt „der Gesalbte“ und ist das griechische Äquivalent des hebräischen Terminus maschiach (māšī aḥ ‫)מ ִׁש ַיח‬, ָ welches als „Messias“ ins Griechische und Lateinische transkribiert wird (Joh 1,41; 4,25). Die Einführung mit bestimmtem Artikel („der Christos [des Herrn]“, z.B. Lk 2,26) zeigt bereits an, dass mit der Bezeichnung ‚Christos‘ eine bestimmte Vorstellung verbunden ist, die Hoffnung auf eine singuläre Heilsgestalt, von der man meinte, sie sei in Jesus aus Nazareth erfüllt. Deutlich wird, dass der erwartete Gesalbte etwas mit Rettung und Heil speziell für Israel zu tun hat und dass er in enger Verbindung mit Gott steht. Für die Untersuchung alttestamentlicher Hintergründe dieser neutestamentlichen Vorstellungen ist es wichtig, zwei Dinge zu berücksichtigen: (1) Vom Alten Testament her geurteilt, steht die Erwartung eines bzw. die Hoffnung auf einen rettenden Messias nicht im Zentrum der Zukunftserwartungen. Dass diese einen zentralen Punkt im Alten Testament betreffe, ist eine christliche Perspektive. (2) Die alttestamentlichen Zukunftserwartungen sind vielgestaltig. In der neutestamentlichen und weiteren christlichen Rezeption werden verschiedene Aspekte miteinander ver-

1. | Hermeneutische Hinführung

bunden. Das Resultat ist dabei eine Konzeption messianischer Erwartung, die man in Jesus Christus erfüllt glaubte. Ein schönes Beispiel für die aus christlicher Perspektive notwendig neue Interpretation der überlieferten Schriften gibt Lukas in seiner Erzählung der Begegnung zweier Jünger auf dem Gang nach Emmaus mit dem Auferstandenen in Lk 24. Die resignierte Haltung der Jünger nach dem Tode Jesu speist sich aus der bisherigen Hoffnung auf einen Retter (Lk 24,21: „Wir hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde.“). Aus dieser Perspektive können sie mit dem Tod und der Auferstehungsnachricht nichts anfangen. Erst die Begegnung mit dem Auferstandenen öffnet ihnen die Augen und eröffnet ihnen die Schrift neu (dianoigō, 24,32). Aus dieser Perspektive ist verständlich, dass der Messias „all das erleiden musste“ (24,26), wie die Frage Jesu suggeriert. Von der Begegnung mit dem Auferstandenen her kann dargelegt werden, was die Schrift über ihn sagt. Als autoritative Quelle verweist Lukas auf Mose und die Propheten sowie alle Schriften (24,27). Lk 24 ist damit auch eine Reflexion darüber, was christliche Lektüre des Alten Testaments ist, und insofern ein Beispiel reflektierter Schrifthermeneutik. Definition

Messias/messianisch Die Bezeichnung Messias ist die über das Griechische und Lateinische übernommene hebräische bzw. aramäische Bezeichnung maschiach bzw. meschiach, die „Gesalbter“ bedeutet. Das griechische Äquivalent ist christos. Als maschiach wird in alttestamentlicher Zeit zunächst der weltliche König von Israel bezeichnet. Als es keine Könige aus der davidischen Linie mehr gibt, entwickelt sich die Hoffnung auf einen zukünftigen Heilsbringer, der dann als Messias bezeichnet wird. Meist handelt es sich um eine königliche Gestalt von davidischer Abstammung („Sohn Davids“). In diesem Beitrag wird „Gesalbter“ verwendet, wenn es um die Übersetzung des hebräischen Terminus maschiach geht. Die Bezeichnung „Messias“ beinhaltet darüber hinaus, dass schon eine künftige, endzeitliche Heilsgestalt damit gemeint ist. Das Adjektiv „messianisch“ bezeichnet zunächst einmal etwas als „auf den Messias bezogen“. Im engeren Sinne, und so wird es hier verwendet, bezieht es sich auf die Erwartung eines endzeitlichen Heilsherrschers.

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Schrifthermeneutik bei Lukas

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Königsideologie

I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Im Folgenden wird untersucht, aus welchen Vorstellungen sich jüdische Zukunftshoffnungen zur Zeit Jesu speisten. Dabei spielt die Vielgestaltigkeit der alttestamentlichen Vorstellungen eine entscheidende Rolle. Zunächst soll nachgezeichnet werden, wie sich die messianische Hoffnung aus der Königsideologie entwickelt. Verschiedene Aspekte der Königsideologie des Alten Israel, die altorientalisch geprägt ist, finden sich bei den Vorstellungen des Messias und schließlich in den christologischen Aussagen wieder: so etwa die Gottessohnschaft oder die Richterfunktion. Die entsprechenden Texte werden dann auch im Neuen Testament christologisch rezipiert. Diese im engeren Sinne messianischen Vorstellungen waren zur Zeit Jesu sicher so prävalent, dass Auftreten und Botschaft Jesu eine Identifikation nahelegten. Sie sind jedoch nicht das einzige alttestamentliche Interpretament. Ergänzend werden andere Vorstellungen auf Jesus übertragen wie die Vorstellung der personifizierten Weisheit, des leidenden JHWH-Knechtes aus dem vierten Gottesknechtslied oder die Figur des Menschensohnes aus dem Danielbuch, daneben auch unpersönliche Vorstellungen wie die der Sühne. Auch auf diese Vorstellungen ist also einzugehen, da sie wichtige Hintergründe für die neutestamentlichen Verständigungen über die Person Jesu bilden. Dabei geht es in der Regel nicht um simple 1:1-Identifikationen, wie Lukas noch an einer anderen Stelle deutlich macht: In Apg 8 berichtet er vom Schatzmeister der äthiopischen Königin, der auf der Rückfahrt in einer JesajaSchriftrolle das vierte Lied vom Gottesknecht liest. Philippus, der dies hört, fragt ihn, ob er auch verstehe, was er da lese. Die Antwort des Schatzmeisters ist eine Gegenfrage: „Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“ Genauer will er wissen, von wem der Prophet in der gelesenen Textstelle redet: „Von sich selbst oder einem anderen?“ Nun lässt Lukas Philippus nicht einfach antworten, dass es sich um Jesus handelt. Vielmehr bildet der Schrifttext den Anlass, über das Evangelium zu reden: „Ausgehend von diesem Schriftwort verkündete er ihm das Evangelium von Jesus.“ (Apg 8,35) Einzelne Texte wurden zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich verstanden und gelesen. Dieser Prozess der Relecture zeichnet sich zum Teil in den Texten selbst ab, zum Teil schlägt er sich in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments nieder, die Septuaginta oder kurz LXX genannt wird, zum Teil wird er erst in der späteren Rezeption der Texte sichtbar. Wir

2. | Der König als Gesalbter

haben sozusagen verschiedene Bedeutungsebenen bei den einzelnen Texten vor uns: was die Texte in ihrer ursprünglichen historischen Situation sagen sollten, was sie im Verbund mit anderen Texten an Bedeutung gewinnen, wie sie in späteren Texten und speziell in den Texten des Neuen Testaments verstanden werden. Diese Bedeutungsveränderungen gehen einher mit der Entwicklung der religiösen Ideen, in unserem Fall speziell der Herausbildung der messianischen Hoffnungen nach dem Exil sowie der Entwicklung apokalyptischer Zukunftserwartungen, die sich in den späten Schriften des Alten Testaments herauszubilden beginnen, ihre volle Entwicklung aber erst in den nachalttestamentlichen Texten erfahren. Die neutestamentlichen Entwicklungen lassen sich dabei nicht rein aus den alttestamentlichen Texten ableiten. Ohne einen Blick auf die Henoch-Literatur, das in Qumran erhaltene außerbiblische Material sowie die Psalmen Salomos erhalten wir nur einen unzureichenden Blick auf die Entstehungsbedingungen und Verstehensvoraussetzungen der neutestamentlichen Theologie. Da ein guter Teil der antiken Literatur verloren gegangen sein dürfte und wir über die Verbreitung der einzelnen Schriften nur eingeschränkte Kenntnis haben, bleibt unser Bild ohnehin vage.

19 Verschiedene Bedeutungsebenen

Spätere Entwicklungen

2. Der König als Gesalbter Die Messias-Erwartungen sind grundgelegt in der Königstheologie und -ideologie des Alten Israel, die selbst wiederum eng verwurzelt sind in den altorientalischen Vorstellungen vom Königtum. Praktisch während der ganzen Zeit seiner politischen Existenz ist Israel, bzw. die beiden Staaten des Nordreiches (Israel im engeren Sinne) und des Südreiches (Juda), von den Großmächten der damaligen Zeit abhängig. Während der ägyptische Einfluss im 1.  Jt. v.  Chr. zurückgeht, üben die mesopotamischen Reiche politischen Einfluss über den Bereich Syrien-Palästina aus: zunächst das Reich der Neu-Assyrer, die ihr Herrschaftsgebiet v.a. im achten Jahrhunderts bis nach Israel ausdehnen. Die Nachfolge der Neu-Assyrer treten die Neu-Babylonier an, 612 v. Chr. erobern sie die Hauptstadt des neuassyrischen Reiches, Ninive. Die Neu-Babylonier erobern 586 v. Chr. Jerusalem, zerstören den Tempel und deportieren den Großteil der Oberschicht. Auch der König wird deportiert und fristet nun sein Le-

Politische Abhängigkeit

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Ende der davidischen Dynastie

Hoffnung auf Wiedererrichtung

Zukunftshoffnung

ben am babylonischen Hof, wo er später offensichtlich begnadigt wird (2Kön 25). De facto endet aber die davidische Dynastie mit dem Untergang Jerusalems. Sie hatte sich seit David ununterbrochen dort an der Macht halten können. Ihr kam zugute, dass das Südreich etwas im Windschatten des wirtschaftlich und politisch bedeutenderen Nordreiches lag. Dieses erlebte mehrere blutige Dynastiewechsel, die auch religiös motiviert oder legitimiert waren. Nach dem babylonischen Exil, in der Phase des Wiederaufbaus des Tempels, gab es ganz offensichtlich Hoffnungen auf die Wiederbelebung der davidischen Dynastie, die sich mit der Person des Serubbabel verbanden, einem späten Abkömmling der Dynastie aus Babylon. Jedoch verschwindet dieser sang- und klanglos aus den Texten, ohne dass wir wissen, was der Grund dafür war. Die davidische Dynastie war von Beginn an religiös legitimiert. Durch den Mund des Propheten Nathan gibt Gott David die Zusage, dass seine Nachkommen auf ewig auf dem Jerusalemer Thron sitzen werden (2Sam 7, s.u.). Nach dem faktischen Untergang der Dynastie wird diese Zusage letztlich nicht in Frage gestellt. Sie führt vielmehr zur Entwicklung der Hoffnung, dass in der Zukunft wieder ein königlicher Herrscher aus dem Hause Davids auftreten und Israel von der Herrschaft der anderen Völker erretten werde. Die Königsideologie, die sich bislang mit dem Jerusalemer Herrscher verband, wird nun also in die Zukunft transponiert und so zur Grundlage der messianischen Hoffnungen. Exkurs

Überblick über die Geschichte Israels

vor 1000 v. Chr.: sog. vorstaatliche Periode – Stadtstaaten und lokale Königtümer, die unter dem Einfluss Ägyptens stehen Königszeit, ca. 1000 bis 586 v. Chr. ab ca. 1000 v. Chr.: Entstehung des israelitischen Königtums: Saul als gescheiterter König, David und Salomo

als Herrscher über ein „Großreich“ als ideale Gründerzeit des Königtums danach Zeit der geteilten Königreiche: ein Königreich im Norden mit v.a. Samaria als Hauptstadt; ein Königreich im Süden mit Jerusalem als Hauptstadt; auf dem Jerusalemer Thron sitzt immer ein Nachkömmling aus der davidischen Familie

2. | Der König als Gesalbter

722 v.  Chr.: das Nordreich wird durch die Neu-Assyrer erobert und in eine unselbstständige assyrische Provinz umgewandelt 586 v.  Chr.: das Südreich wird von den Neu-Babyloniern erobert, Jerusalem mitsamt dem Tempel zerstört, ein Großteil der Oberschicht deportiert; faktisches Ende der davidischen Dynastie; Beginn des babylonischen Exils Exilszeit, 586 bis ca. 520 v. Chr. 539 v.  Chr. erobert der persische König Kyros d. Gr. Babylon; der Wiederaufbau des Tempels wird begonnen, vielleicht schon während der Herrschaft des Kyros, evtl. erst später unter Darios I. 515 v.  Chr. Wiedereinweihung des Tempels; etwaige Hoffnungen auf die Reaktivierung der davidischen Dynastie verlaufen offensichtlich im Sande

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Hellenistische Zeit, 332 bis 63 v. Chr. 332 v. Chr. Eroberung durch Alexander d. Gr.; nach seinem Tode wird sein Reich aufgeteilt: die hellenistischen Nachfolgereiche, die sog. DiadochenReiche der Seleukiden (Bereich Mesopotamien) und Ptolemäer (Bereich Ägypten) bekriegen sich 164 v.  Chr. makkabäischer Aufstand gegen die seleukidische Herrschaft; Antiochus IV. Epiphanes hatte die Ausübung jüdischen Kultus verboten und einen Zeuskult im Jerusalemer Tempel einrichten lassen; Jerusalem wird erobert, Wiedereinweihung des Tempels; Beginn der Herrschaft der Hasmonäer, die königliche und hohepriesterliche Würde in Anspruch nehmen 63 v. Chr. Beginn der römischen Herrschaft

2.1 Saul als Gesalbter Nach biblischer Tradition ist Saul der erste König Israels. Anders als in anderen Kulturen des Alten Orients war man sich in Israel immer der Tatsache bewusst, dass das Königtum zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte eingesetzt wurde. Es ist keine Institution, die von Anbeginn der Welt in der Schöpfungsordnung grundgelegt wäre. Was dabei alte Überzeugung und was aus der Reflexion auf die leidvollen Erfahrungen im Nachhinein in die israelitischen Vorstellungen vom Königtum eingetragen wurde, ist nicht immer ganz deutlich. Das Scheitern dieses Königtums wird nach 586 v.  Chr. sicherlich auch schon als Problem, das in der Gründung des Königtums angelegt ist, in den Texten reflektiert. Dennoch geben uns die Texte auch einen Einblick in die Frühzeit des Königtums und insbesondere in den Königspsalmen auch Einblick in die Königsideologie. Die Vorstellung, dass der König der Gesalbte JHWHs ist, reicht offensichtlich bis in die Frühzeit des Königtums zurück.

Reflexion auf Scheitern

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Rituelle Salbung des Herrschers

Gesalbter JHWHs

Salbung von Saul und David

Schutz JHWHs

Der Titel geht zurück auf die rituelle Handlung der Bezeichnung des Herrschers mit Salböl. Das Verb maschach (mšḥ ‫)מׁשח‬ wird u.a. auch für das Salben von Priestern (z.B. Lev 4,3.5.16; 6,15; 8,12), seltener von Propheten (1Kön 19,16) oder kultischen Gegenständen verwendet. In analoger Weise wird das zugehörige Nomen maschiach (māšīaḥ ‫)מ ִׁש ַיח‬ ָ „Gesalbter“ überwiegend für den König verwendet, speziell Saul (1Sam 12,3.5; 24,7.11; 26,9.11.16.23; 2Sam 1,14.16.21; Sir 46,19) und David (2Sam 19,22; 22,51‖Ps 18,51; 2Sam 23,1; Ps 132,17; 2Chr 6,42). Der König gilt als Gesalbter JHWHs. Dies drückt die göttliche Legitimierung des Herrschers sowie die Verwiesenheit des Herrschers auf Gott aus. Zugleich zeigt es an, dass der Herrscher unter dem Schutz Gottes steht und Gott ihn den Feinden gegenüber siegreich sein lässt. Der König heißt nicht nur Gesalbter JHWHs, sondern diese Salbung wird auch in Erzählungen beschrieben. So salbt Samuel, der in der biblischen Erzähltradition die Verbindung von Richter- und Königszeit gewährleistet, sowohl Saul (1Sam 9) als auch David (1Sam 15), wobei dieser nochmals durch die Judäer (2Sam 2) sowie durch Vertreter ganz Israels (2Sam 5) zum König über Juda bzw. Israel gesalbt wird. Das ist wohl so zu verstehen, dass diese die Salbung veranlassen. Dass der König unter dem spezifischen Schutz JHWHs steht und dadurch eine besondere Stellung innerhalb des Volkes innehatte, zeigt eine kleine, humoristisch ausgearbeitete Episode in 1Sam 24: David ist auf der Flucht vor Saul und dessen Gefolge. Er versteckt sich mit seinen Männern in einer Höhle, in welcher dann Saul seine Notdurft verrichtet. David schneidet einen Zipfel von Sauls Mantel ab, obwohl ihn seine Männer dazu drängen, Saul ganz zu überwältigen und dies als Geschenk JHWHs bezeichnen. (Der Mantel ist auch schon königsideologisch aufgeladen.) David lehnt dies jedoch mit dem Verweis auf den Status Sauls als Gesalbten JHWHs ab:

Zitat

„Es sei fern von mir um JHWHs willen, meinem Herrn, dem Gesalbten JHWHs, so etwas anzutun und Hand an ihn zu legen; denn er ist der Gesalbte JHWHs.“ (2Sam 24,7, vgl. 11)

2. | Der König als Gesalbter

Die Vorstellung vom Schutz des Gesalbten durch JHWH findet sich auch verbreitet in den Psalmen (Ps 18,51; 20,7; 28,8; 89,21f.; vgl. 84,10; 132,10; Hab 3,13; 1Sam 2,10). In der sog. Jotam-Fabel (Ri 9) wird die Bedeutung des gesalbten Königs sehr kritisch reflektiert.

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Jotam-Fabel

2.2 Einblicke in die Königsideologie – die Königspsalmen Unter Königsideologie versteht man im neutralen Sinne die Gesamtheit der Vorstellungen, die mit dem König verbunden sind. Dazu zählen alle weltanschaulichen, speziell kosmologischen und anthropologischen Vorstellungen, die im Alten Orient grundsätzlich religiös geprägt sind. Daher ist die Königsideologie im Alten Israel theologisch ausgerichtet. Sie ist eng mit den Vorstellungen vom Königtum in den Kulturen Mesopotamiens und Ägyptens verwurzelt, die hier nicht ausführlich dargestellt werden können. Auch wenn die Datierungen der Psalmen im Einzelnen umstritten sind, so kann doch grundsätzlich angenommen werden, dass die Königspsalmen in ihren Grundzügen in die Königszeit zurückreichen und etwas von den mit dem Königtum verbundenen Vorstellungen vermitteln können. Die Texte und Vorstellungen stammen aus höfischem Kontext. Sie spiegeln also die Ideologie der Jerusalemer Eliten wider, die dem Königtum gegenüber positiv eingestellt sind. Es ist zu berücksichtigen, dass dies nicht das ganze Bild des Königtums darstellt. Aber diese positive Sicht des Königtums prägt maßgeblich die Entwicklung der messianischen Zukunftshoffnungen. Es ist daher auch nicht verwunderlich, wenn gerade Königspsalmen wie Ps 2 und Ps 110 im Neuen Testament aufgegriffen und christologisch gedeutet werden. Im Folgenden werden einzelne Psalmen in ihren Grundzügen präsentiert, wobei der Fokus auf den königsideologischen Aussagen liegt. Für ausführlichere Auslegungen sei auf die Kommentare verwiesen. Königspsalmen haben für den Gesamtaufbau des Psalmenbuches eine wichtige Funktion, da sie an strukturell wichtigen Punkten verankert sind (Zenger, Einleitung). Ps 2 eröffnet in der nun vorliegenden Gestalt den Psalter zusammen mit Ps 1 und führt so gleich zu Beginn das Thema des Königtums ein. Es schließt sich daran das erste Buch des Psalters mit dem ersten Davidpsalter an. Ps 72 und Ps 89 stehen am Ende des zweiten und dritten Buches des Psalters, Ps 110 be-

Altorientalische Vorstellungen

Datierungen  umstritten

Positive Sicht des Königtums

Strukturelle Funktion

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Messianischer Psalter

schließt im fünften Buch die vierte, kurze Sammlung von Davidpsalmen. Die durch Ps 2 und Ps 89 gerahmte Sammlung wird auch als messianischer Psalter bezeichnet, aber auch außerhalb davon finden sich messianisch interpretierte Psalmen. 2.2.1 Psalm 72

Gerechtigkeit als Weltordnung

Loyalität

Sorge um Personae miserae Auswirkungen auf Natur

Ps 72 wird durch die kurze Überschrift in V.  1 Salomo zugeschrieben. Anders als viele andere Psalmen ist er nicht David zugeordnet worden, da V. 1 im Weiteren vom Königssohn spricht. Die Septuaginta, die griechische Übersetzung des Alten Testaments, deutet den Psalm als „für Salomo“ verfasst. Der Rest von V. 1 gibt überschriftartig die inhaltliche Ausrichtung an: „Recht“ (mišpāṭ) und „Gerechtigkeit“ (ṣedaqā) bzw. (entsprechend der Einheitsübersetzung) „Richteramt“ und „gerechtes Walten“. Der hier mit „Recht“ übersetzte Ausdruck mišpāṭ stellt einen Ordnungsterminus dar, der sowohl die Rechtsordnung insgesamt wie das einzelne Urteil oder die einzelne Rechtsregelung beschreiben kann. Dass das Recht dem König von Gott verliehen wird, ist eine Vorstellung, die nicht auf Israel beschränkt ist. Sie findet ihren bildlichen Ausdruck auf der Stele des Codex Ḫammurapi, die sich heute im Louvre befindet (18. Jh. v. Chr., Babylon). Auch die Gerechtigkeit (hebr. ṣædæq bzw. ṣedaqā, gr. dikaiosynē) soll dem König von Gott übergeben werden. Was hier mit „Gerechtigkeit“ übersetzt ist, geht weit über ein bloßes ethisches Verständnis hinaus. Gerechtigkeit ist vielmehr im Sinne einer Weltordnung zu verstehen, wie auch die folgenden Verse zeigen. Sie ist mit der ägyptischen Ma’at vergleichbar. Die Weltordnung wird von Gott errichtet, und der König trägt durch sein gerechtes Wirken zur Aufrechterhaltung bei, sodass sie sich segensreich für Volk und Land erweisen kann. Derjenige erweist sich als gerecht, der entsprechend seiner Stellung in der Weltordnung handelt. Das hebr. ṣædæq beinhaltet auch den Aspekt der gegenseitigen Verpflichtung, sodass „Loyalität“ bzw. „loyal“ oft eine passende Übersetzung ist. Das gerechte Walten des Königs besteht vor allem in der gerechten Ausübung des Richteramtes. Besonders soll er sich dabei der sog. Personae miserae annehmen, die aufgrund ihrer Stellung in der Gesellschaft des besonderen Schutzes bedürfen. Das gerechte Regiment des Königs hat Auswirkungen auf die Natur und die Gesellschaft, die miteinander verknüpft sind. Die-

2. | Der König als Gesalbter

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Abb. 1: König Ḫ ammurapi im Gebets-Gestus vor dem thronenden Sonnengott Šamaš (c) Stiftung BIBEL+ORIENT Freiburg CH (Keel 1996, Abb. 390)

se Aussage lässt sich nur vor dem Hintergrund des damaligen Weltbildes nachvollziehen. So bringen die Berge und Hügel nach V. 3 Frieden und Gerechtigkeit für das Volk. Der König wird in V.  6 in metaphorischer Redeweise mit dem fruchtbarkeitsbringenden Regen verglichen. Insofern soll seine Herrschaft auch mit „Korn in Fülle“ (V. 16) gesegnet sein. Dem König wird ewiger Fortbestand gewünscht (V. 5.17), eine Aussage, die auf die Dynastie zu beziehen ist. Der König bekleidet also eine besondere Position innerhalb der als Weltordnung verstandenen Gerechtigkeit, zu deren Aufrechterhaltung er durch sein gerechtes Regiment beiträgt. Dies hat positive Auswirkungen für das Volk, die sich vor allem in der Fruchtbarkeit des Landes äußern. In den späteren Zusätzen (V. 8­–11.15.17cd) zeigt sich eine Fortentwicklung des Königsbildes. Der König erscheint als Herrscher der Welt, dem die Völker von den Enden der Erde ihren Tribut bringen. Diese Formulierungen sind aus Jerusalemer Perspektive reines Wunschdenken: Zu keinem Zeitpunkt seiner Geschichte konnte ein Jerusalemer König ein solches Weltreich beherrschen, vielmehr waren sie alle von den damaligen Großreichen politisch abhängig.

Ewiger Fortbestand der Dynastie

König als Herrscher der Welt

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

2.2.2 Psalm 2

Militante Aspekte

Gesalbter JHWHs

Herrscher der Welt Chaoskampfmotivik

Psalm 2 ist von außerordentlicher Wichtigkeit für die neutestamentliche Rezeption. Über ihn kommen militante Aspekte in das Christusbild. Das Setting des Psalms ist die Inthronisation des Jerusalemer Königs, auch hier in einer für das Jerusalemer Königtum in historischer Hinsicht unrealistischen Weise. Der Text offenbart daher umso deutlicher, welches Idealbild man sich vom König machte. Er erscheint hier in Wirkeinheit mit JHWH und wird als sein Gesalbter, sein maschiach (V. 2) bzw. sein König (V. 6) bezeichnet. Im Moment der Inthronisation sind die anderen Völker in Aufruhr gegen JHWH und den König, jedoch wird dem König von JHWH die Gewalt über die anderen Völker verliehen (V. 8–9). Er kann sie „mit eisernem Stab“, d.h. mit militärischen Mitteln, durchsetzen (V. 9). Das Motiv des Aufruhrs scheint auf Erfahrungen im Kontext des Interregnums in den Großreichen zurückzugehen, in dem Vasallen versucht haben, das Machtvakuum zu nutzen, das sich beim Tod des Großkönigs ergab. Der König erscheint als mächtiger Herrscher der Welt im Einklang mit Gott, der selbst auch gegen die Herrscher der Völker vorgeht (V. 4–5). Hier findet sich Chaoskampfmotivik, die wiederum eng mit dem Zion verknüpft ist. JHWH selbst ist es, der den König auf dem Zion einsetzt (V. 6). Das hebräische Verb ist nicht sicher zu deuten, in der Regel wird hier nach dem griechischen Text übersetzt. Möglicherweise war die Aussage ursprünglich mythisch geprägt und enthielt schöpfungstheologische Anspielungen. Die Verbindung des Königs mit JHWH gipfelt in der Aussage von V. 7:

Zitat

Ich will berichten über den Beschluss JHWHs: / Er sprach zu mir: Mein Sohn bist du. / Ich (selbst) habe heute dich gezeugt. (Ps 2,7)

Sohn Gottes

Der König gilt demnach als Sohn Gottes. Diese Aussage ergeht im Kontext von Ps 2 im Moment der Inthronisation: Das „heute“ von V. 7d ist das Heute der Inthronisation. Es ist mythisch aufgeladene Sprache. In mythischem Denken stellt es keinen Widerspruch dar, dass der König biologisch Sohn seines menschlichen

2. | Der König als Gesalbter

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Abb. 2: Szene aus dem ägyptischen Geburtszyklus: Amon erkennt den Neugeborenen als seinen Sohn an (c) Stiftung BIBEL+ORIENT Freiburg CH (Keel 1996, Abb. 339)

Vaters – d.h. des vorangegangenen, nun verstorbenen Königs – und seiner Mutter ist und dass zugleich die enge Verbindung mit dem Gott des Volkes als Gottessohnschaft zum Ausdruck gebracht wird. Das Vater-Sohn-Verhältnis beinhaltet von Seiten des Vaters, dass er für seinen Sohn anderen gegenüber eintritt, von Seiten des Sohnes Gehorsam gegenüber dem Vater. Ps 2 verbindet auf ganz eigene Weise ägyptische und assyrische Motive der Legitimation des Königs. Der zitierte V. 7 weist dabei eine besondere Nähe zum ägyptischen Zyklus von der Zeugung und Geburt des Gottkönigs auf, in dem der Gott Amun den künftigen Pharao mit der Aussage präsentiert: „Mein geliebter leiblicher Sohn, den ich eines Leibes mit mir (= mir zum Ebenbild) gezeugt habe“ (Übersetzung Otto 2003).

Ägyptische und assyrische Motive

2.2.3 Psalm 110 Die Vorstellungen von Psalm 110 weisen einige Parallelen zu denen von Psalm 2 auf. Insbesondere bieten die ersten beiden Verse die analoge Vorstellung eines vom Zion über die Völkerwelt herrschenden Königs. Das Eintreten Gottes für den König ergibt sich aus den Versen 5 und 6, die Motive des Völkergerichtes enthalten. Die Aufforderung an den König, er solle sich zur Rechten

Herrscher über die Völker, Völkergericht

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Alte Jerusalemer Königsideologie?

JHWHs setzen, zielt auf die Regentenvollmacht, die der König in Übereinstimmung mit JHWH ausübt. Es handelt sich dabei nicht nur um eine reine Ehrenbezeichnung, sie ist auch von den Gegebenheiten auf dem Zion geprägt: Der Tempel war das oberste Gebäude an der Stelle des heutigen Felsendomes. Er war nach Osten, Richtung Ölberg ausgerichtet. Stellt man sich JHWH als im Tempel thronend vor, so blickte er nach Osten, während zu seiner Rechten der Königspalast lag. Mythische Vorstellungen des Königtums könnten in V. 3 aufbewahrt worden sein, wobei unterschiedliche Deutungen vorgeschlagen werden. Die Deutung von V. 7 bleibt dunkel. Von besonderem Interesse ist V. 4. Der König wird hier als „Priester (kohēn) auf ewig nach der Ordnung/Weise Melchisedeks“ bezeichnet. Obwohl der König in verschiedenen Kontexten kultische Aufgaben übernimmt, wie etwa das Darbringen von Opfern oder die Einweihung des Tempels, wird er im Alten Testament ansonsten nicht als Priester bezeichnet, während die priesterliche Legitimation sonst über die Ahnväter Aaron und Levi läuft. Der Name Melchisedek ist aus Gen 14,18–20 bekannt. Das Alter dieses Textes ist wie das von Ps 110 umstritten. Melchisedek ist nach Gen 14,18 der König von Schalem (Salem) und Priester des höchsten Gottes (’ēl ‘ælyōn), der als Schöpfer (qōnēh) von Himmel und Erde bezeichnet wird. Der Name lässt sich als theophorer Personenname mit der Bedeutung „König ist [der Gott] ṣædæq“ verstehen. Es ist möglich, dass ṣædæq „Gerechtigkeit“ der Name des in Jerusalem verehrten Gottes war, bevor David es durch Eroberung zu seiner Hauptstadt machte und sich JHWH als Gott durchsetzte. Möglicherweise haben wir hier also eine Reminiszenz der alten Jerusalemer Königsideologie vorliegen, nach der Könige zugleich als Priester wirkten.

Melchisedek

2.2.4 Psalm 45

Hochzeitslied, allegorisiert

Kurz ist noch auf Psalm 45 einzugehen. Der Psalm ist zunächst ein recht weltliches Lied auf die Hochzeit des Königs mit seiner Braut. Möglicherweise stammt er ganz aus vorexilischer Zeit. In den Psalter, die offizielle Sammlung der Gebete Israels, kam er jedoch nicht als weltliches Hochzeitslied, sondern in allegorisierter Deutung. Man sah in ihm die Beziehung JHWHs zu seinem Volk oder später des Messias zu Israel ausgedrückt. Die Beziehungen zur apokalyptisch geprägten Vorstellung des Hoch-

2. | Der König als Gesalbter

zeitsmahles, die im Neuen Testament zu finden ist, ist deutlich. V. 18 bezieht den Psalm offensichtlich bereits auf Gott. Die allegorische Deutung des Psalms basiert vor allem auf den Attributen des Königs, die später nicht mehr geteilt werden konnten. V. 3 beschreibt die Schönheit des Königs, ein nahezu universeller Topos (vgl. V.  9.12). Die Verse 4 bis 6 stellen den außenpolitischen, militärischen Erfolg des Königs dar: Er ist ein Kriegsheld (gibbōr) mit Hoheit und Pracht (V. 4). V. 7 und 8 benennen die ebenfalls schon bekannte Verbindung zu Recht und Gerechtigkeit (mīšōr, ṣædæq). Auch der Wunsch nach dem Fortbestand der Dynastie findet seinen Ausdruck (V. 17). Besonderes Augenmerk bedarf jedoch die Aussage in V.  7a: „Dein Thron, Gott, steht für immer und ewig.“ Wird der Text als Lied auf die Hochzeit des Königs verstanden, so ist es der König, der hier als Gott (’ælohīm) angesprochen wird. Dies ist auf dem Hintergrund der altorientalischen Vorstellungen vom Königtum sicher keine ungewöhnliche Vorstellung. In späterer Zeit wurde V. 7 nicht mehr als Aussage über den weltlichen König, sondern über das Königtum JHWHs verstanden. Die messianische Deutung wurde durch V. 8 begünstigt: „Darum hat dich Gott (d.h. JHWH), dein Gott, gesalbt (mšḥ) mit dem Öl der Freude vor deinen Gefährten.“ Sobald man einen künftigen Heilsherrscher erwartete, der als Messias bezeichnet wurde, lag eine messianische Deutung von Ps 45 nahe.

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Schönheit des Königs

Militärischer Erfolg, Kriegsheld Recht und Gerechtigkeit Fortbestand der Dynastie

König als Gott

2.3 Der ewige Bestand der davidischen Dynastie – 2Sam 7 Für die Entwicklung der messianischen Hoffnung ist die NathanVerheißung in 2Sam 7 von besonderer Bedeutung. In ihr zeigt sich die religiöse Legitimierung der davidischen Dynastie, die nach alttestamentlicher Tradition in ihre Gründungszeit zurückreicht. Das genaue Alter und der ursprüngliche Umfang der Verheißung sind umstritten. Für unsere Zwecke reicht die Feststellung aus, dass sie zumindest in den Grundzügen aus der frühen Königszeit stammt. Zur Zeit der Bedrohung der Dynastie im Vorfeld der babylonischen Eroberung Jerusalems griff man auf diese grundlegende Zusage Gottes an David zurück (Ps 89; 132, s.u.). Im literarischen Kontext ergeht die Zusage an David durch den Hofpropheten Nathan als Reaktion auf den Wunsch Davids, JHWH einen Tempel zu bauen. Auch die Sorge um den Kult sowie die Errichtung und Erhaltung der Tempel ist ein Topos der

Sorge um den Kult

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Außenpolitischer Erfolg

Ewiger Bestand der Dynastie

Sohn Gottes

altorientalischen Königsideologie. Dieser Wunsch wird David nicht gewährt, erst sein Nachfolger Salomo wird den Tempel errichten. Stattdessen erhält David eine Zusage, die vor allem zwei Dinge umfasst: (a) außenpolitischen Erfolg: JHWH verschafft Ruhe vor den Feinden (V.  11); (b) die Begründung einer dauerhaften Dynastie (V. 12–13.16). Die Zusage einer sicheren Wohnstatt für das Volk (V. 10) kann dem außenpolitischen Erfolg zugeordnet werden; hier spiegeln sich spätere Krisenerfahrungen. JHWH erinnert an die Berufung Davids zum König („von der Weide und von der Herde weggeholt“, V. 8) und den bereits gewährten militärischen Erfolg (V. 9). Der ewige Bestand der Dynastie erscheint besonders wichtig, er wird gleich mehrfach zum Ausdruck gebracht und im letzten Vers der Weissagung nochmals betont (V. 16). Gott sagt außerdem zu, dass er seine Gnade nicht von Davids Nachkommen wegnehmen wird, wie es bei Saul der Fall war (V. 15). So wird die Dynastiezusage nochmals bekräftigt. Das anschließende Gebet Davids geht abermals darauf ein (V. 26.29). Wie in Ps 2 wird der König als Sohn Gottes bezeichnet: „Ich werde für ihn Vater sein und er wird für mich Sohn sein.“ (V. 14) Historisch gesehen kann sich die davidische Linie in Jerusalem bis zur Eroberung durch die Babylonier im Jahr 586 v. Chr. auf dem Thron halten. Diese lange Zeit unterstreicht die bleibende Gültigkeit der Zusage. 2.4 Hat Gott seinen Bund mit David aufgekündigt? – Psalm 89

Schöpfungstheologie, Chaoskampf Gerechtigkeit und Recht, Gnade und Treue Salbung Davids

Angesichts der unverbrüchlich geglaubten Zusage ist der Niedergang der Dynastie umso schmerzvoller. Psalm 89 wird meist für nachexilisch gehalten, könnte aber auch in der Zeit unmittelbar vor dem Untergang Jerusalems verfasst worden sein, d.h. zwischen der ersten Eroberung Jerusalems im Jahr 597 und der endgültigen Zerstörung 586 v. Chr. Der Text setzt an bei der göttlichen Gnade (V. 3) und erinnert an die Zusage an David (V. 4­–5). Anschließend wird Gottes Herrlichkeit und Unvergleichlichkeit herausgestrichen, wobei Elemente der Schöpfungstheologie und des Chaoskampfes eingespielt werden. Schließlich wird Gott an Gerechtigkeit und Recht (ṣædæq und mišpāṭ) sowie Gnade und Treue (ḥæsæd und ’æmæt) erinnert (V. 15). Der anschließende Rückblick auf die Erwählung und Salbung (mšḥ) Davids, die den Schutz vor den Feinden bein-

2. | Der König als Gesalbter

haltet, kommt wieder auf Treue und Gnade zurück (V. 25). Die Königsherrschaft umfasst auch hier die Gottessohnschaft (V. 27). Die Zusage, dass die Dynastie auf ewig bestehen soll und die göttliche Gnade nicht von ihr weichen soll, wird dann nochmals ausführlich betont (V. 29–38), wobei sich auch Anklänge an Ps 72 ergeben. Ab V. 39 wechselt der Text abrupt zur unmittelbaren Anklage Gottes: Die gegenwärtige Situation wird als Verwerfung des Königs wahrgenommen, der als „Knecht“ und „Gesalbter“ bezeichnet wird (V. 39). Die Verwerfung zeigt sich in der militärischen Niederlage (V. 41–44), sie wird als Schande wahrgenommen. Ps 89 zeigt deutlich, dass die Zusage Gottes, wie sie in 2Sam 7 narrativ entfaltet wird, als unverbrüchliche Zusage gewertet wurde: Immer sollte ein Nachkomme Davids auf dem Jerusalemer Thron sitzen. Die Zusage wird in Ps 89 als Bund (89,4.29.35.40) bzw. Schwur (89,50) bezeichnet. Der Bund aber ist nun verworfen und verstoßen (V. 40). Der Schluss von Ps 89 bringt die Perspektive des Volkes ein (89,50–52). Dass die göttlichen Gnadenerweise ausbleiben, betrifft nicht nur den König, sondern das ganze Volk. Daher wird Gott gebeten, die Schmach des Volkes zu beseitigen. Der spätere Text Jes 55,1–5 geht einen Schritt weiter. Er nimmt wie Ps 89 auf die Nathanweissagung 2Sam 7 Bezug. Die David zugesagten Gnadenerweise sollen sich in einem ewigen Bund realisieren, der dem Volk verheißen wird, nicht mehr einem Nachfahren Davids (55,3). Was passiert mit der festen Zusage an David, wenn die Dynastie aber tatsächlich abbricht? Bevor wir uns dieser Frage zuwenden, sei noch ein kurzer Blick auf Ps 132 geworfen. Der Text gehört zur Sammlung der sog. Wallfahrtspsalmen (Ps  120–134), die von Zionstraditionen geprägt sind. Eingebettet ist die Bitte an Gott, doch seinen Gesalbten (maschiach), d.h. den König, nicht abzuweisen (V. 10). Begründet wird dies ebenfalls mit der Dynastiezusage an David (V. 11), die geschichtstheologisch eingebunden ist. Der Aufruf von V. 8: „Steh auf, JHWH!“, zeigt die Bedrohlichkeit der Situation und die Dringlichkeit der Bitte von V. 10. Gegenüber Ps 89 enthält Ps 132 eine entscheidende Änderung: Während Ps 89,31–35 noch daran festhält, dass das Übertreten der Weisung (Tora) nicht mit dem Entzug der Gnade geahndet wird – was aber dennoch eingetreten ist (V. 40) –, wird die Fortsetzung der Dynastie in Ps 132,12 an die Bedingung geknüpft, dass die Nachfahren Davids den Bund bzw. die Gesetze einhalten, die Gott sie lehrt.

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Gottessohnschaft

Verwerfung des Königs

Bund mit David

Ps 132

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

1Kön 8

Babylonier als Strafwerkzeug JHWHs

In dieser Hinsicht trifft sich Ps 132 mit der deuteronomistischen Deutung, die ins Gebet des Salomo eingefügt ist. Nach 1Kön 8,25 werden Nachkommen aus davidischer Linie herrschen unter der Bedingung, dass sie ihre Lebensweise an David ausrichten (vgl. 1Kön 2,4). Diese Konditionierung bereitet die deuteronomistische Deutung des Untergangs des Südreiches vor: Die Babylonier sind Strafwerkzeug JHWHs für die Übertretungen des Volkes (vgl. nur 2Kön 22,16–17; 24,2–4). Immerhin endet die große Geschichtsdarstellung in ihrer heutigen Form in 2Kön 25 mit der Begnadigung des letzten verbliebenen Königs in babylonischer Gefangenschaft, Jojachin – zumindest ein kleines Hoffnungszeichen. Auch babylonische Rationenlisten erwähnen Jojachin zusammen mit seinen fünf Söhnen. 2.5 Das Hirtenbild für den König wie für Gott

JHWH als Hirte

Ez 34: Sorge JHWHs für sein Volk

Das Bild des Hirten für den Herrscher ist im Alten Orient fest verankert. Im Alten Testament wird es sowohl für den König wie für Gott verwendet. So wird beispielsweise David vom Hüten der Herde weg zum König gesalbt (1Sam 16). Wichtiger für den hiesigen Kontext ist das Bild des Hirten für JHWH und die damit verbundene Hoffnung auf die Durchsetzung der Gottesherrschaft. Zentral ist dabei die Vorstellung, dass sich Gott als Hirte oder Eigentümer seiner Herde bzw. seiner Schafe, die im Bild für Israel stehen, annehmen werde und zwar nach seinem selbst herbeigeführten Gericht. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in der sog. Hirtenrede in Ez 34 aus der Zeit des Exils nach der Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr.: Weil die „Hirten“, d.h. die Herrscher Israels, sich nicht in entsprechender Weise um das Volk, die „Schafe“, gekümmert haben, wird JHWH nun selbst gegen diese „Hirten“ vorgehen und sich selbst um „seine Schafe“ kümmern. Hierbei werden andere Motive des Gerichtes („Tag des Gewölks und Wolkendunkels“) angeführt. Die Sorge des Hirten JHWH für sein Volk resultiert in einer Rückführung Israels aus dem Exil, wo er sie „auf fetter Weide“ weiden wird. Dabei muss betont werden, dass Israel hier nicht als Ganzes gerettet wird, sondern innerhalb des Volkes eine Teilung beim Gericht stattfindet. Die politische Oberschicht, die sich selbst bereichert hat, die „fetten Schafe“, darunter die Könige, die eben nicht nach dem Ideal des Hirten am Volk gehandelt haben, fallen dem Gericht anheim, während sich JHWH liebevoll um die

2. | Der König als Gesalbter

kranken, versprengten und schwachen Schafe kümmern wird. Diese bezeichnet er als „meine Schafe“, denen er zur Hilfe kommt (34,22). Während bis an diese Stelle im Text Gott selbst als Hirte auftritt, führen die Verse 23–24 eine neue Figur ein: David als Hirten des Volkes.

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David als Hirte des Volkes

Zitat

„Ich werde über sie einen einzigen Hirten einsetzen, der sie weiden wird, meinen Knecht David. Er ist es, der sie weiden wird. Er ist es, der für sie Hirt sein wird. Ich selbst, JHWH, werde für sie Gott sein und mein Knecht David wird Fürst sein in ihrer Mitte. Ich, JHWH, habe gesprochen.“ (Ez 34,23–24)

Die folgenden Verse beschreiben die künftige Segenszeit, die durch einen Friedensbund gekennzeichnet ist. In der Zeit der Bedrängnis, des Exils nach der Zerstörung Jerusalems, wo das Land und der Segen JHWHs verloren erscheint, wird eine Zukunftshoffnung formuliert, die von der heilvollen Zuwendung JHWHs geprägt ist, die die Rückführung ins eigene Land beinhaltet und die von erneuter Fruchtbarkeit geprägt ist. Dafür wird bzw. wurde bereits die bisherige Elite zur Rechenschaft gezogen. Die Gerichtsvorstellungen sind wohl mit der Vernichtung Jerusalems verbunden. Gleichzeitig erscheint nun der Begründer der Dynastie, David, als idealer Herrscher. Seine Herrschaft wird künftig wieder aufgerichtet werden. In ähnlicher Weise ist in Jer 23,1–8 davon die Rede, dass JHWH selbst als Hirte handeln, die versprengten Schafe zurückbringen und neue Hirten einsetzen wird. V.  5 beschreibt den neuen König als gerechten Spross aus davidischer Linie. Nicht in allen Texten ist diese Verbindung von der Sorge JHWHs als des Hirten Israels mit der Wiedererrichtung der davidischen Herrschaft verbunden. Jes 40 ist ebenfalls ein Text der Hoffnung aus exilischer Zeit, hier wird aber lediglich von JHWHs Stärke und Macht gesprochen und davon, dass er wie ein Hirte seine Herde zur Weide führen wird (Jes 40,10–11) und die Völker unterwirft. Im weiteren Verlauf wird dann Kyros als Gesalbter eingeführt, wovon gleich zu sprechen ist.

Zukunftshoffnung

David als idealer Herrscher Jer 23: König aus davidischer Linie

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Zusammenfassung

Die Königspsalmen und andere Texte geben Einblick in die Jerusalemer Königsideologie. Diese beinhaltet u.a. folgende Elemente: – Der König wird als Gesalbter JHWHs bezeichnet. – Der König ist in seiner Funktion Sohn Gottes. – Beide Attribute zeigen die enge Verbindung des Königs mit Gott an. – Gott überträgt dem König die Herrschaft und gewährt außenpolitischen, militärischen Erfolg. – Der König beherrscht die anderen Völker. – Der König ist Richter und kümmert sich speziell um die Benachteiligten. – Durch sein gerechtes Regieren hält er die Weltordnung aufrecht und dämmt das Chaos ein. – JHWH hat der davidischen Dynastie ewigen Bestand zugesagt. Dieser ist durch die Eroberung Jerusalems und die Deportierung der Oberschicht aber in Frage gestellt. – Das Bild des Hirten kann auf den König oder auf JHWH als den eigentlichen Besitzer oder Hüter Israels bezogen werden. Damit verbinden sich Hoffnungen auf ein Ende des Exils.

3. Entwicklungen der Herrschererwartungen

Hoffnungen auf Wiedererrichtung der david. Herrschaft

Der Kontrast von der Unverbrüchlichkeit der Zusage auf der einen Seite und des faktischen Untergangs des Königtums auf der anderen Seite führt zu einer vielschichtigen theologischen Entwicklung. Hoffnungen auf die Wiedererrichtung der davidischen Dynastie, die zunächst offensichtlich noch gehegt wurden, scheinen sich rasch zerschlagen zu haben. Trotzdem hält man fest an der göttlichen Zusage, jedoch projiziert man sie in die Zukunft und erhofft die Ankunft eines neuen davidischen Königs. Diese Hoffnung verbindet sich schließlich mit apokalyptischen Erwartungen eines Endes der Welt, das in der Aufrichtung der Herrschaft Gottes resultiert. Hierbei sind unterschiedliche Konzeptionen hinsichtlich der Frage zu verzeichnen, ob auf der Seite JHWHs eine weitere Gestalt, der Messias, wirkt oder ob JHWH selbst in die Geschichte eingreift. Diese Entwicklung nimmt für das Alte Testament in den späten Texten des Zwölfprophetenbuches ihren Anfang. Das für die christliche Rezeption wichtige Danielbuch bringt diese apokalyptischen Vorstellungen dann voll zum Ausdruck. Zunächst aber beschränkten sich die Hoffnungen schlicht auf die Wiedererrichtung der davidischen Herrschaft mit all ihren

3. | Entwicklungen der Herrschererwartungen

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positiven Attributen und auf das Abschütteln der Fremdherrschaft (vgl. Jes 16,5; Jer 17,24f.; 23,5–6; 30,8–9; 33,12–26; Ez 34,23–31; 37,21–25, vgl. oben). Im Heilsschluss, der an das Amosbuch angefügt wurde, kündigt Gott an, die „zerfallene Hütte Davids“ wieder aufzurichten und ihre Risse auszubessern (Am 9,11f.). 3.1 Der persische König Kyros als Gesalbter – das Kyros-Orakel Der Grundbestand des zweiten Teils des Jesajabuches ab Kapitel 40 (Deuterojesaja) entstand im Babylonischen Exil. Er diente dazu, bei den Exilierten die Hoffnung auf ein Ende des Exils aufrecht zu erhalten. Und die Möglichkeit schien nahe. Am Horizont zeichnete sich eine neue Macht ab, die sich anschickte, das Reich Babylon zu erobern: die Perser mit ihrem König Kyros. In ihn wurden große Hoffnungen gesetzt, dass er das Exil beenden und die Rückkehr nach Jerusalem ermöglichen würde. Gleichwohl wird nicht politisch, sondern theologisch argumentiert. Israel hat die Schuld beglichen, sodass es nun nicht länger die Strafe des Exils erdulden muss. Streng theozentrisch geht der Trost für das Volk Israel (Jes 40,1) und die Ansage des Gerichtes über die anderen Völker von JHWH aus, der als Schöpfergott über dem Erdenrund thront (40,21). Die schöpfungs- und geschichtstheologische Reflexion begründet die Vorrangstellung JHWHs, seine Herrschaft über Israel wie über die anderen Völker. In die umfangreichen Ausführungen zur Schöpfungstheologie ist ein theoretisch ausformulierter Monotheismus eingeflochten (vgl. Jes 41,21–29; 44,6–8.9–20; 45,5–7), der insbesondere im Hinblick auf Israel ausgedrückt ist (43,11–13). Er wird seine Herrschaft über Israel aufrichten und das Volk zurück in sein Land führen. Die Einzigkeit JHWHs ist somit geschichtstheologisch begründet und an den Aufstieg des persischen Königs Kyros zum Herrscher über die bekannte Welt geknüpft. Die Gründungstraditionen Israels werden auf den Prüfstand gestellt: Für Deuterojesaja hat die alte Exodus-Tradition ausgedient (Jes 43,14–21), da der Auszug aus Ägypten letztlich in eine Unheilsgeschichte mündete. Hingegen kann auf die vorgelagerte Erzeltern-Tradition in positiver Weise zurückgegriffen werden: So wird Israel überwiegend mit dem aus den Erzählungen der Genesis bekannten Namen Jakob angesprochen (vgl. nur Gen 32,29) und als Nachfahre „meines Freundes Abraham“ be-

Kyros als Hoffnungsträger

Trost Israel im Exil

Einzigkeit JHWHs

Exodus-Tradition

ErzelternTradition

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Kyros als Instrument der Rettung Hirt

Gesalbter

Kyros-Zylinder

Christologisch rezipiert

zeichnet (Jes 41,5). Jakob ist Knecht JHWHs (Jes 44,21 u.ö.). Zugunsten Jakobs will JHWH nun handeln und es aus der Hand der Babylonier befreien. Die Darstellung variiert dabei: Auf der einen Seite agiert JHWH selbst wie ein Kriegsmann und erhebt das Kriegsgeschrei (Jes 42,13), auf der anderen Seite bedient er sich eines menschlichen Instrumentes bei der Rettung Israels: des persischen Königs Kuruš II. (ca. 559–530 v. Chr.; gr. Kyros, lat. Cyrus). So wie in der theologischen Erklärung der Israeliten die Assyrer und Babylonier Instrumente des Strafgerichtes Gottes an seinem Volk waren, so ist nun der fremde König Instrument der Rettung. Er wird mit den Prärogativen des Jerusalemer Königs bezeichnet: JHWH sagt zu ihm: „Mein Hirt  – alles, was ich will, wird er vollenden!“ (Jes 44,28) Im selben Vers ist vom Wiederaufbau Jerusalems und der Wiedererrichtung des Tempels die Rede. Kyros soll die Aufgaben des Königs übernehmen. Direkt im Anschluss wird er als „sein Gesalbter “, also „sein Messias“, bezeichnet (Jes 45,1), den JHWH „bei der rechten Hand gefasst hat, um ihm die Völker zu unterwerfen“ (ebd). Die militärischen Aspekte der Jerusalemer Königsideologie, wie sie etwa in Ps 2 greifbar werden, sind deutlich. Das sog. Kyros-Orakel in Jes 45,1–7 weist deutliche Parallelen zu einem babylonischen Text auf, dem Kyros-Zylinder, der die Eroberung Babylons aus der Perspektive des Kyros schildert. Die Parallelen zeigen den engen Austausch mit babylonischen Schreibern. Jes 45 wurde wahrscheinlich noch vor der tatsächlichen Eroberung Babylons abgefasst. Die biblischen Autoren waren sich dabei völlig bewusst, dass ihre theologische Deutung des Geschehens nicht der eigenen Interpretation der Perser entsprach. Denn JHWH tritt an die Seite Kyros’, „ohne dass du mich kanntest“ (V. 4.5). Der Gesalbte ist in Jes 45 ein Instrument göttlicher Rettung ganz in der Linie der Jerusalemer Königsideologie. Hier handelt es sich um eine historische Person, nicht um eine Figur der Hoffnung einer unbestimmten, fernen Zukunft. Zudem entstammt dieser Hoffnungsträger gerade nicht der davidischen Königslinie. Trotzdem wurde der Text christologisch rezipiert, speziell V. 8 nach seiner lateinischen Fassung („Tauet, Himmel, von oben, Wolken, regnet herab den Gerechten! Die Erde öffne sich und bringe hervor den Retter.“) wurde als Antiphon aufgegriffen und gab den Rorate-Messen ihren Namen.

3. | Entwicklungen der Herrschererwartungen

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3.2 Frühnachexilische Hoffnungen im Haggai- und Sacharjabuch Die Hoffnungen der frühnachexilischen Zeit prägen das Haggaibuch und den vorderen Teil des Sacharjabuches, Sach 1–8. Hier findet noch keine Verschiebung der Hoffnung auf einen Friedensherrscher in ferner Zukunft statt. Vielmehr knüpfen sich die Hoffnungen an den Wiederaufbau des Tempels, der wie früher für Fruchtbarkeit im Lande sorgen soll. Eine zentrale Rolle spielen bei diesem Wiederaufbau zwei Personen: der Hohepriester Jehoschua und ein Mann namens Serubbabel, Sohn des Schealtiël. Serubbabel wird als pæḥā, Statthalter, bezeichnet. Er stammt offensichtlich aus davidischer Linie, sein Name bedeutet wahrscheinlich „Spross Babylons“. Mit diesen beiden Männern haben wir die religiöse und politische Führung derer vor uns, die aus Babylon nach Jerusalem zurückgekehrt waren und nun zur Zeit des persischen Königs Darios I. (ca. 522–486 v.  Chr.) das Projekt des Tempelbaus in Angriff nahmen, wobei sie aber offensichtlich auch auf Widerstand stießen. Mit der Person Serubbabel verbanden sich wohl weitergehende Hoffnungen, wie das Orakel am Ende des Haggaibuches zeigt. Der hervorgehobene Schlussvers Hag 2,23 legitimiert den Anspruch Serubbabels auf die Herrschaft. Er wird wohl bewusst nicht als König tituliert. Die Herrschaft ist in der jetzigen Textgestalt mit der Vernichtung der Völker (2,21b–22) verbunden. Auffallend sind die ansonsten relativ bescheidenen, mit Serubbabel verknüpften Erwartungen der bloßen Fortsetzung der davidischen Dynastie. In Hag 2,20–23 ist diese Erwartung universal durch die Gerichtserwartung ausgeweitet. In der Leuchtervision im Sacharjabuch (Sach 4) werden Jehoschua und Serubbabel zusammen als die beiden Ölsöhne, die vor dem Herrn der ganzen Erde stehen, bezeichnet (Sach 4,14). Die Einheitsübersetzung verwendet hier den Terminus „Gesalbte“, aber im hebräischen Text steht nicht maschiach. Serubbabel wird in diesem Kapitel die Grundsteinlegung zugerechnet und die Fertigstellung des Tempels wird angekündigt. Damit tritt Serubbabel für die Bevölkerung klar sichtbar in die Nachfolge des Königsamtes, selbst wenn er auch hier – vielleicht aus Gründen der politischen Opportunität – nicht König genannt wird. Die beiden Würdenträger, Priester und Regent, erscheinen gleichgeordnet. Vermutlich steht auch hinter dem „Spross“ (ṣæmaḥ, gr. anatolē) genannten Mann in Sach 6 Serubbabel. Denn dieser

Wiederaufbau des Tempels

Mit Serubbabel verknüpfte Erwartungen

Sach 4: zwei Ölsöhne

Spross

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Hohepriester gewinnt an Gewicht

wird auch mit dem Tempel in Verbindung gebracht, der wiederum zum „Sprießen“, zur Fruchtbarkeit führen wird. Vielleicht lag die Verbindung von Serubbabel über die Bedeutung des Namens zur Person des „Sprosses“ ohnehin nahe. Nach 6,13 wird dem „Spross“ königliche Würde zuteil, die sich in der Herrschaft äußert. Die Krönung scheint also Serubbabel zugedacht gewesen zu sein und nicht Jehoschua, der keine königliche Stellung erhält. Die Herrschaft wird aber auch nicht durch die davidische Linie begründet. Der hebräische Text lässt Priester und Regent gleichberechtigt erscheinen, benennt aber keine Aufgaben für den Priester. Nach der griechischen Übersetzung steht der Priester zur Rechten des Regenten, erscheint ihm also untergeordnet. Gleichwohl besteht friedlicher Rat zwischen beiden. Die in Serubbabel gesetzten Hoffnungen scheinen sich rasch zerschlagen zu haben, denn er verschwindet sang- und klanglos aus den Texten. Damit haben sich wohl vorerst auch die messianischen Hoffnungen erledigt. Eine Relecture des Sacharjabuches, die in Sach 3 zu finden ist, spiegelt diese Entwicklungen wider. Hier wird der Hohepriester vor JHWH gereinigt und bekommt den Turban (ṣānīph) aufgesetzt, der als königlicher Kopfschmuck gewertet werden kann. Die Ankündigung JHWHs in 3,8 nimmt dagegen die nahe Zukunft in den Blick: „Siehe, ich bin dabei meinen Knecht, (den) Spross, zu bringen.“ Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass gegenüber dem königlichen Gesalbten der Hohepriester an Gewicht gewinnt; ähnlich werden die levitischen Priester in Jer 34,14–26 hervorgehoben. 3.3 Ein Friedensherrscher – Erwartungen in den späten Teilen des Sacharjabuches Das Sacharjabuch wurde mehrfach nach hinten erweitert. Die Überschriften gliedern die Kapitel 9–11 und 12–14 zusammen, aber beide Blöcke sind in sich nicht einheitlich. Es verwundert daher nicht, dass wir hier aus unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Zukunftserwartungen finden. Für die christliche Rezeption ist besonders der Freudenaufruf an Jerusalem über den kommenden Friedensherrscher wichtig geworden:

3. | Entwicklungen der Herrschererwartungen

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Zitat

Juble laut, Tochter Zion! / Jauchze, Tochter Jerusalem! / Siehe: dein König kommt zu dir. / Gerecht und gerettet (ist) er, / demütig und reitend auf einem Esel, / und auf einem Hengst, dem Jungen einer Stute. (Sach 9,9)

Besonders im Matthäusevangelium wird ab dem Einzug Jesu in Jerusalem das Sacharjabuch als Matrize für die Deutung der letzten Tage Jesu verwendet. Der an Jerusalem gerichtete Freudenaufruf ist mit der Ankündigung eines Friedenskönigs verbunden. Sein Auftrag, Frieden zu sprechen, und seine weltumfassende Herrschaft werden vorbereitet durch die Vernichtung des Kriegsgerätes, offenbar durch JHWH selbst. Altorientalischer Königsideologie entsprechend ist der König gerecht und trägt durch sein gerechtes Regiment zur Erhaltung der Weltordnung bei. Während der König in Ps 72 die Aufgabe hat zu retten, wurde ihm nach Sach 9,9 in der hebräischen Fassung selbst Rettung zuteil. Die griechische Fassung deutet messianisierend, denn der angekündigte König wirkt selbst als Retter. Er tritt nicht in militärischer Macht auf wie in Ps 2,9 oder Ps 45,6, sondern als Friedensbote gegenüber den Völkern. Er kommt auf einem Esel, der im Kontrast steht zu Ross und Streitwagen, die im Krieg eingesetzt werden (V. 10). Diese werden hier von JHWH beseitigt. Bei der Erwähnung des Bundesblutes in V. 11 bezieht sich das „du“ im Hebräischen auf Jerusalem. Der Bezug ist in der griechischen Übersetzung unklar und kann so in der Rezeption auch auf den Friedenskönig bezogen werden. Möglicherweise bezieht sich gar das Kelchwort auf diese Sacharja-Stelle. Die Verwendung von Juda und Ephraim als Kriegswaffen durch JHWH leitet zur JHWH-Theophanie über, die mit kriegerischen Handlungen verbunden ist und in der Rettung des Volkes resultiert. Dass hier die Griechen erwähnt werden, zeigt an, dass wir schon über die Perserzeit hinaus sind. Sach 10 greift ähnlich wie Ez 34 die Hirtenmetaphorik auf. Sie wird in Kap. 11 in eine prophetische Zeichenhandlung überführt. Diese gipfelt in der Ankündigung eines Hirten, den JHWH aufstehen lassen wird, der aber gerade nicht dem Herrscherideal entspricht und deswegen dem Schwert anheimfallen soll (Sach 11,15–16). Von der Idee eines einzelnen königlichen Retters hat sich das Sacharjabuch an dieser Stelle verabschiedet. Sie wird auch nicht wieder aufgegriffen.

Ankündigung eines Friedenskönigs

Esel im Kontrast zu Ross und Streitwagen Bundesblut

Hirte, der dem Schwert anheimfallen soll

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Völkergericht durch JHWH Königsherrschaft Gottes

Sach 12: Klage um den Durchbohrten

Dies gilt speziell für die beiden protoapokalyptischen Texte Sach 12 und 14, die ein endzeitliches Geschehen in den Blick nehmen, wobei hier nicht ein absolutes Ende der Geschichte im Fokus steht, sondern eine Beendigung der gegenwärtigen Zustände sowie die Begründung einer neuen Heilszeit. JHWH bringt die Völker nach Jerusalem und führt so das Gericht herbei, an Israel wie an den Völkern. Der daraus hervorgehende Rest wird in der neuen Heilszeit die Königsherrschaft Gottes im Laubhüttenfest alljährlich feiern. JHWH handelt hier selbstständig im Gericht; erst später sieht man in Sach 14,5 Engel als Gerichtsvollstrecker erwähnt. Rätselhaft bleibt die Klage um den Durchbohrten in Sach 12,10, die im Neuen Testament auf Christus bezogen wird (Joh 19,37; Offb 1,7). Wer der Durchbohrte ist, wer ihn warum durchbohrt hat, lässt sich auch aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten in diesem Vers kaum mehr aufhellen. So bleibt die ganz positive Erwartung des Friedenskönigs nach 9,9–17 im Sacharjabuch singulär. Er steht in enger Verbindung mit JHWH, der nach Kap. 14 König der ganzen Welt ist. 3.4 Entwicklungen von Herrschererwartungen – das „messianische Triptychon“ im Jesajabuch Drei Texte aus dem vorderen Teil des Jesajabuches werden manchmal als „messianisches Triptychon“ bezeichnet, obwohl der Titel „Messias“ nicht verwendet wird. Sie entstammen unterschiedlichen Zeiten und präsentieren uns ein hermeneutisches Problem: Die Texte bleiben nicht ihrem Ursprungszusammenhang verhaftet, sondern durch neue, erweiterte Kontexte ergibt sich auch ein neuer Verstehenshorizont, der zu einer Neudeutung der Texte führt. 3.4.1 Ankündigung des Immanuel – Jes 7,14

Zeichen von JHWH

Am deutlichsten ist diese Verschiebung wohl beim ersten Text, der Ankündigung eines Kindes in Jes 7,10–17, die als Ankündigung der Jungfrauengeburt im Neuen Testament aufgegriffen wird (Mt 1,23; Lk 1,31). Weil der Jerusalemer König Ahas das Angebot ablehnt, als Beweis für den göttlichen Beistand ein Zeichen von JHWH zu erbitten, kündigt der Prophet Jesaja dem König ein Zeichen an, das JHWH von sich aus geben wird. Die-

3. | Entwicklungen der Herrschererwartungen

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ses Zeichen ist die Geburt eines Kindes, vermutlich am königlichen Hof: Zitat

Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, die junge Frau ist schwanger und dabei, einen Sohn zu gebären, und sie/man wird seinen Namen Immanuel (‚Gott mit uns‘) nennen. (Jes 7,14, nach dem hebräischen Text) Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau wird im Mutterleib haben und wird gebären einen Sohn. Und du wirst seinen Namen nennen: Emmanuel. (Jes 7,14, nach LXX)

Verschiedene Aspekte sind bei der Auslegung zu beachten: Die griechische Fassung weicht von der hebräischen Fassung hinsichtlich Wortwahl und Zeitgefüge ab. Die Kommunikationssituation, in die hinein das ursprüngliche Gotteswort gesprochen wurde, ist deutlich von der der Evangelisten unterschieden, die diese Prophezeiung aufgreifen. Der Textzusammenhang hat sich im Laufe der Zeit verändert, weitere Texte sind im Jesajabuch hinzugekommen. Der hebräische Text verwendet das Wort ‘almāh, das eher die Bedeutung „junge Frau“ hat; demgegenüber gebraucht die griechische Übersetzung parthénos, welches die Konnotation der virgo intacta, der Jungfrau im biologischen Sinne, tragen kann. An anderen Stellen übersetzt sie ‘almāh mit neānis „junge Frau“, wie es auch jüngere griechische Übersetzungen hier tun. Sie verwendet außerdem in Jes 7 Futur, während die Partizipialsätze des hebräischen Textes eher eine Gleichzeitigkeit („Siehe, die junge Frau ist schwanger“) oder unmittelbare Nachzeitigkeit („sie wird alsbald gebären“) nahelegen. Die frühen Christen lasen das Alte Testament vornehmlich in seiner griechischen Gestalt und konnten diesen Text gut auf die Geburt Jesu beziehen. Sind sie dabei also einem Übersetzungsfehler aufgesessen? Diese Erklärung greift zu kurz. Betrachten wir den Text in Jes 7 zunächst als historisch, aus dem achten Jahrhundert v.  Chr. stammend. Das ambivalente Zeichen, das Jesaja dem König Ahas ankündigt, wäre in der Kommunikationssituation vollkommen wertlos, wenn es sich erst mehr als sieben Jahrhunderte später erfüllte. Historisch ge-

Junge Frau/ Jungfrau

Zeitgefüge

Übersetzungsfehler?

Kommunikationssituation des 8. Jhs.

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Übersetzung ins Griechische

Christliche Rezeption

sehen liegt also die gleichzeitige Interpretation nahe. Das Jesajabuch weist jedoch eine Text- und Theologiegeschichte von einem halben Jahrtausend auf. Als es im dritten oder zweiten Jahrhundert ins Griechische übersetzt wurde, fanden die Übersetzer neben der Geburtsankündigung noch weitere, jüngere Ankündigungen in Jes 9 und 11. Sie beziehen die Ankündigung der Geburt auf den Friedensherrscher und gebrauchen daher sicherlich bewusst parthénos, Jungfrau, und das Futur. Damit geben sie eine Interpretation des Textes vor. In dieser Auslegungstradition lasen und aktualisierten die Christen dann den alttestamentlichen Text. Selbst ohne veränderten Kontext erschien die Prophezeiung ambivalent, wie die unterschiedlichen Ausdeutungen in 8,8 und 8,10 zeigen. 3.4.2 Geburt des Friedensfürsten – Jes 9,5

7. Jh., Joschija

Hoffnungen auf Ende der Fremdherrschaft Thronnamen

Ägyptisches Ritual

Der zweite Text, die zusammengesetzte Einheit 8,19–9,6, entstammt einer späteren Zeit, vielleicht dem siebten Jahrhundert v.  Chr., als das Assyrerreich seinen Zenit bereits überschritten hatte. Speziell ist an die Herrschaft des Königs Joschija in Jerusalem zu denken, der versuchte, sein Herrschaftsgebiet nach Norden auszuweiten. „Das Volk, das im Dunkel geht, sieht ein großes Licht“ (Jes 9,1)  – diese Aussage bezieht sich dann auf die Bewohner des ehemaligen Nordreiches, denen nun Hoffnung in Gestalt des neuen Königs Joschija entgegengebracht wird. Dass hier die Assyrer als Gegner in den Blick kommen, dafür spricht auch das akkadische Lehnwort für „Stiefel“, das in V. 4 gewählt wird und speziell den militärischen Stiefel bezeichnet. Die V. 3–4 beschreiben, wie die militärische Unterdrückung beseitigt und die Ausrüstung der Feinde dem Bannfluch anheimgegeben wurde. An den neuen Regenten knüpfen sich die Hoffnungen auf eine Abschüttelung der fremden Herrschaft, auf seiner Schulter soll die Herrschaft liegen, während das Joch der Fremdherrschaft von JHWH zerbrochen wird (V.  3.5). Der neue Herrscher wird in V. 5 mit Thronnamen bezeichnet: „Wunderplaner, starker Gott, Vater der Ewigkeit, Fürst des Friedens“. Zweck und Ziel ist nach V. 6 die Vermehrung der Herrschaft und Frieden ohne Ende. Der Herrscher sitzt auf dem Throne Davids. Die Thronnamen lehnen sich an das oben schon angesprochene ägyptische Ritual der Amtseinführung des neuen Pharaos an. Dort bringen die über dem neuen König ausgerufenen

3. | Entwicklungen der Herrschererwartungen

Thronnamen den Segen und Schutz des Reichsgottes sowie das politische Programm zum Ausdruck. Auch für Israel kann eine Sakralität des Königtums angenommen werden, die funktional aufzufassen ist: Der König ist eben in seiner Funktion als König Sohn Gottes (Ps 2) und kann hier auch als „Starker Gott“, ’ēl gibbōr, angesprochen werden, wobei gibbōr die Assoziation des Kriegers trägt. Die ersten drei Namen, „Planer von Wundertaten“, „Starker Gott“ und „Vater der Ewigkeit“, bringen die enge Verbundenheit des neuen Königs mit Gott zum Ausdruck und zeigen, welche Rolle Gott in der neuen Herrschaft spielen wird. Der vierte Name, „Fürst des Friedens“, macht aber klar, dass es sich beim König immer noch um einen Menschen handelt. Unter dem Segen des Gottes Israels kann er einen umfassenden Frieden schaffen. Die Septuaginta vermeidet die drei göttlichen Thronnamen und hat als einzigen Namen „Engel des großen Rates“; auch das spätere Targum kennt nur einen Namen, es deutet diese Stelle messianisch: „Der Messias, in dessen Tagen der Frieden über uns groß sein wird“. Die Herrschaft des Königs aus dem Davidshaus wird nach V.  6 gefestigt, wie JHWH es David in der Nathanweissagung (2Sam 7) zugesagt hatte. Gott gründet die Herrschaft auf Recht und Gerechtigkeit, die die grundlegenden Prinzipien der Herrschaft im Alten Orient bilden (vgl. Ps 72). Auf Recht und Gerechtigkeit basiert die göttliche Herrschaft und damit die Weltordnung, zu deren Erhalt der von Gott erwählte König durch die Sorge um den Kult und um die soziale Stabilität beiträgt. Insofern verbinden sich im König irdische und himmlische Sphäre; durch seine gerechte Herrschaft trägt er dazu bei, das Chaos einzudämmen. Die Wurzel ṣdq, „gerecht“, beschreibt Loyalität und gegenseitige Verpflichtung auch auf menschlicher Ebene, zwischen Großkönig und Vasall, zwischen König und Untergebenen.

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Sakralität des Königtums

Nathanweissagung

3.4.3 Ein Spross aus dem Baumstumpf Isais – Jes 11 Der letzte der drei Jesajatexte, Jes 11,1–10.11–16, ist nochmals später zu datieren. Er ist ein Text der Hoffnung nach dem Untergang der davidischen Linie. Sie ist im Bilde der Rodung nach V. 1 offensichtlich wie der Libanon im Kap. 10 abgehauen, sodass nur ein Stumpf übrig geblieben ist. Dieser wird mit dem Namen

Nach dem Untergang der davidischen Dynastie

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Neuer David

Geist JHWHs

Salbung Davids

Recht und Gerechtigkeit Sorge um Personae miserae Bezug zu Schöpfungserzählungen

Zeichen für die Nationen, Völkerwallfahrt

des Vaters Davids, Isaï, bezeichnet. Dieser Stumpf bringt einen neuen Trieb hervor, einen neuen Nachkommen, auf dem nun die ganze Hoffnung liegt. Es geht hier also nicht mehr um einen Nachfahren Davids, sondern um einen neuen Anfang wie ihn Gott damals mit David gemacht hatte, also um einen neuen David. Die Ankündigung des neuen Sprösslings ist direkt an das vorherige Kapitel angeschlossen, dass von der Vernichtung der Assyrer auf bildhafte Weise berichtet: JHWH fällt sie wie Bäume. Aus dem abgeschlagenen Baum des Hauses Davids – auch dies ein königliches Motiv – wächst nun ein neuer Spross. Wann dieses Ereignis erwartet wird, bleibt jedoch offen. Auf ihm wird der Geist JHWHs ruhen und ihn zu Weisheit und Einsicht, zu Planung und vor allem zu Gottesfurcht führen (V.  2). Die Ausstattung mit dem Geist JHWHs erinnert an die Salbung Davids, der ebenfalls vom Geist durchdrungen wird (1Sam 16,13). Die Attribute verbinden die Figur von Jes 11 mit dem Friedensfürst von Jes 9 und setzen ihn scharf ab vom assyrischen König (Jes 10,13), der mit militärischer Macht auftritt. Wiederum sind Recht und Gerechtigkeit die Merkmale seiner Herrschaft und auf sozialer Ebene die Sorge um die Personae miserae (V. 3–5): Er kümmert sich als Richter um die Rechtlosen und bestraft die Gewalttäter. Diese gerechte Herrschaft bewirkt, dass nun wieder paradiesische Zustände eintreten: Die V.  6–9 beinhalten Rückbezüge auf die beiden Schöpfungserzählungen in Gen 1 und 2–3; der ursprünglich gute Zustand vor dem Sündenfall und vor der Flut (auf die V. 9 anspielt) wird wiederhergestellt werden. Der umfassende Tierfrieden ist ein gemeinorientalisches Motiv. Im Folgenden zeigt sich, dass die Erneuerung des Schöpfungszustandes auf den Zion ausgerichtet ist, also einen partikularen Aspekt beinhaltet. V. 10 fungiert als Scharnierelement, das den Spross als Feldzeichen für die Nationen präsentiert und so die Verse 1–9 mit 11–16 verbindet. Als Zeichen für die Nationen setzt er eine Völkerwallfahrt in Gang. In V. 12 ist seine Aufgabe geringer: Hier dient er lediglich dazu, dass Volk aus der weltweiten Diaspora zurückzuführen. Durch JHWHs Initiative wird diese Rückführung in Gang gesetzt. Dabei werden die Feinde vernichtet, wobei Ägypten und Mesopotamien im Fokus stehen. Gleichzeitig wird die Feindschaft zwischen Efraim und Juda, also Nord- und Südreich, beendigt. Israel wird also in seinen ursprünglichen Zustand, nach dem Auszug aus Ägypten und vor der Reichstrennung zwischen Nord-

3. | Entwicklungen der Herrschererwartungen

und Südreich, d.h. in den idealen Zustand des davidisch-salomonischen Reiches, zurückversetzt und die Bedrohung durch die Nationen wird beendet. Es kommt zu einem neuen Exodus, der die Fehlentwicklungen des alten beendet. Es handelt sich aber nur noch um „den übriggebliebenen Rest seines Volkes“ (11,11). Der Spross aus der Wurzel Isaïs ist hier als innergeschichtliche Figur konzipiert, die nicht aus der himmlisch-göttlichen Sphäre kommt. Mithilfe des Geistes Gottes und vor allem durch das Eingreifen Gottes in die Geschichte wird diese hinsichtlich Israels zur Vollendung geführt.

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Idealer Zustand unter David und Salomo

3.4.4 Das Triptychon W.A.M. Beuken hat den Zusammenhang der drei Texte so zusammengefasst: „Noch stärker als der Immanuel sind die beiden Heilsmittler-Typen von 9,1–6 und als 11,1–16 als Herrscher gekennzeichnet. Dabei entsteht ein Triptychon durch den spezifischen Kontext, in dem von ihnen die Rede ist: Empfängnis des Immanuel (7,14), Geburt des Friedensfürsten (9,5) und Inthronisation von Isais Reis (11,1–5…). Zu dieser aufsteigenden Trias gehört eine Entwicklung in der Anrede der Adressaten: Der Immanuel ist dem judäischen Königshaus angekündigt (7,13–14), der Friedensfürst kommt zur Freude einer Wir-Figur, die im Namen Judas und Israels spricht (8,23–9,6) und der Wurzelstock Isais ist als ‚Feldzeichen für die Völker‘ eine Verheißung für die ganze Welt, da er sie neu ordnen wird (11,10–12). Dass sich diese drei Figuren nicht isoliert zueinander verhalten, sondern unterschiedliche Aspekte des einen Heilsmittlers anzeigen, beruht auf der Bedeutung des Namens Immanuel: ‚Gott mit uns‘. Denn diese Verheißung kehrt in den Thronnamen des Friedensfürsten zurück, die zum Teil exklusiv göttliche Titel beinhalten (9,5 …). Zudem wird Gottes Gegenwart für Israel im Geist JHWHs Wirklichkeit, der vom Reis Isais Besitz ergreift (11,2–3).“ (Beuken, Jesaja 1-12 51f.) Im Zusammenhang gelesen, zeigen diese drei Texte die Erwartung eines königlichen Retters auf, der noch nicht endzeitlich konnotiert ist. Man kann sie als früh-messianisch bezeichnen. Während nach Jes 9 dieser königliche Retter aus davidischer Linie stammt, rechnet Jes 11 mit dem Ende dieser Linie und einem göttlichen Neuanfang, einem neuen David.

Zusammenhang der drei Figuren

Noch nicht endzeitlich

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

3.5 Ein Herrscher aus Bethlehem – Mi 5,1–4

Herrscher aus Bethlehem, ideale Heilszeit

Hirte

Friede, Vernichtung der Feinde

Eschatologisch: Völkerwallfahrt und -gericht

Diese Hoffnung auf einen Neuanfang mit einem neuen David lässt sich auch in Mi 5 finden. Hier wird ein künftiger Herrscher angekündigt, der nicht aus Jerusalem stammt, dem Sitz der davidischen Dynastie, sondern aus dem judäischen Bethlehem, dessen Ursprünge in ferner Urzeit lagen, in einer idealen Heilszeit. Bethlehem war die Heimat Isaïs, dort wurde David zum König durch Samuel gesalbt (1Sam 16). Auch in Mi 5 ist die angekündigte Herrschaft charakterisiert durch die Rückkehr eines Restes (V. 2); er wird das Volk als Hirte weiden (V. 3), nun in der Kraft JHWHs und mit der Hoheit des Namens JHWHs. Seine Herrschaft ist mit Frieden verbunden (V. 4), der die Vernichtung der Feinde miteinschließt. Die zeitliche Bestimmung in V. 2 „bis die Gebärende geboren hat“ verbindet die Herrscherankündigung mit einer etwas rätselhaften Geburtsverheißung. Im Kontext ist die Gebärende als Zion zu identifizieren (Mi 4,10). Der Vers erklärt vielleicht nachträglich das Ausbleiben des neuen Herrschers und der Rückkehr mit einer Transposition in die unbestimmte Zukunft. Der Text ist eingebettet in Vorstellungen der Völkerwallfahrt und des Völkergerichtes. Das unterstreicht den eschatologischen Charakter. Zusammenfassung

– Zunächst bestand die Hoffnung, dass die davidische Dynastie nach dem Exil fortgesetzt werden kann. Diese ist insbesondere mit Serubbabel verbunden. – Manche Texte, z.B. die Leuchtervision Sach 4, sehen eine prominentere Rolle für den Hohepriester, der ebenfalls gesalbt ist. – Der Messias-Titel wurde in Deuterojesaja auf den Perserkönig Kyros übertragen, der an die Stelle der davidischen Könige tritt. – Jes 11 und Mi 5 erwarten einen neuen David, allerdings innergeschichtlich. – Innerhalb des Jesajabuches bilden die Texte Jes 7, 9 und 11 ein „Triptychon“ von der Ankündigung des Immanuel, der Geburt des göttlichen Kindes und der Herrschaft eines Friedensfürsten, die bereits eschatologische Züge aufweist. – Ein wichtiges Charakteristikum ist in Sach 9 und in Jes 11 die friedvolle Ausübung der Herrschaft. – In Sach 14 wird die Gottesherrschaft ohne eine messianische Figur herbeigeführt.

4. | David als identitätsstiftende Figur

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4. David als identitätsstiftende Figur Obwohl also einzelne Erwartungen vorlagen, die eine Rettung Israels nicht in der Linie Davids, sondern in einem neuen Anfang in Analogie zu David sehen, wird David selbst für die Identitätsbildung des nachexilischen Juda eminent wichtig. Dies lässt sich an zwei Punkten sehr gut nachvollziehen, die hier kurz benannt seien: 4.1 Die messianische Redaktion des Psalters – Ps *2–89 Das Psalmenbuch ist nicht an einem Stück verfasst worden, sondern weist eine lange Entstehungsgeschichte auf. In deren Verlauf wurden verschiedene Teilsammlungen miteinander verbunden, wobei die Redaktoren durch Überschriften und Eingriffe in den Text Akzente setzen konnten. Die messianische Redaktion schafft im fünften Jahrhundert v. Chr. die Sammlung der Psalmen 2 bis 89, indem sie vorliegende Sammlungen zusammenführt und diese durch die Königspsalmen 2 und 89 rahmt. In beiden kommt der Terminus maschiach „Gesalbter“ an prominenter Stelle vor. Die Sammlung ist inhaltlich geprägt von der Hoffnung auf die Wiederherstellung der davidischen Herrschaft. David kommt nicht nur in den Überschriften der Psalmen, sondern in den Psalmtexten vor (Ps 18,51; 89,4.21.36). „David ist nun nicht mehr in erster Linie der königliche Beter, sondern die Schlüsselfigur des Königtums. Mit dem Hinweis auf ihn und die ihm von Gott gegebenen Zusagen stellen die Redaktoren die heilvollen Möglichkeiten des Königtums heraus. Nicht Gott selbst, sondern der von Gott eingesetzte König tritt jetzt den äußeren Feinden siegreich entgegen. Er wird dem Spott und Hohn der Feinde ein Ende bereiten. Erst mit der Wiederherstellung des Königtums wird sich das Schicksal des Volkes zum Guten wenden.“ (Rösel, messianische Redaktion des Psalters 191.) Hinweise auf den Gesalbten werden in verschiedenen Psalmen hinzugefügt (Ps 18; 20; 28; 84). Die Sammlung zeigt den Beterinnen und Betern die heilvolle Wirkung des Königs David und weckt die Hoffnung auf die Wiederherstellung des davidischen Königtums.

Hoffnung auf Wiederherstellung der davidischen Herrschaft David als Schlüsselfigur des Königtums

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

4.2 Die Chronikbücher

Königtum, Tempel und Kult

Theokratie

Ideale Gründungszeit: David und Salomo

Die Chronikbücher sind am Übergang von der persischen zur hellenistischen Zeit zu datieren, also gegen Ende des vierten Jahrhunderts v. Chr. Sie beschäftigen sich mit der Identität des nachexilischen Juda, indem sie dessen Vorgeschichte neu erzählen. David und Salomo verkörpern dabei die ideale Gründungszeit. Als Begründer des Tempelkultes und des Tempels werden sie ausführlich behandelt. David trifft die Vorkehrungen für den Tempelbau und fällt grundlegende Entscheidungen bezüglich des Tempelkultes, Salomo baut den Tempel und nimmt den Kultbetrieb auf. Königtum, Tempel und Kult sind für den Chronisten untrennbar miteinander verbunden. Es wird unterschiedlich beurteilt, ob die Chronikbücher eine Erneuerung des davidischen Königtums anstreben, vielleicht gar eine messianische Hoffung zum Ausdruck bringen, oder ob Kyros an die Stelle der judäischen Könige getreten ist mit seiner Aufforderung, den Tempel wieder aufzubauen (2Chr 36,32). Das politische Ideal der Chronikbücher wird oft als „Theokratie“ bezeichnet, wobei der Begriff unterschiedlich bestimmt wird und missverständlich ist. Festgehalten werden kann jedenfalls, dass die Treue zum Gesetz des Mose und zum Kult die grundlegenden Forderungen sind, die beide die Legitimität des Zweiten Tempels begründen. Die politische Orientierung an der idealen Gründungszeit unter David und Salomo sowie die kultische Orientierung am Jerusalemer Tempelkult bildet für die Chronikbücher die Basis für „ganz Israel“. Während das Südreich an David und am rechten Kult festgehalten haben, ist das Nordreich von David und damit von JHWH abgefallen. Die Zugehörigkeit wird genau mit der Frage „Welchen Anteil haben wir an David?“ (2Chr 10,16) zugespitzt. Prinzipiell steht den Bewohnern des ehemaligen Nordreiches der Weg zurück zu David und dem Jerusalemer Kult offen. Zusammenfassung

David wird für die Identitätsbildung des nachexilischen Juda sehr wichtig. Dies zeigt sich in der messianischen Bearbeitung des Psalters und in den Chronikbüchern. Es besteht weiterhin die Hoffnung auf die Wiederherstellung der davidischen Herrschaft.

5. | Die Herrschaft des Menschengleichen

5. Die Herrschaft des Menschengleichen – Dan 7 Definition

Apokalyptik und Apokalypsen Apokalypse bedeutet wörtlich „Enthüllung, Offenbarung“. In einem weiten Sinne bezeichnet man mit Apokalypse das gewaltsame, durch ein göttliches Gericht herbeigeführte Ende der Welt bzw. der gegenwärtigen Weltzeit. Hierfür wird auch die Bezeichnung „jüngstes Gericht“ verwendet. Durch dieses Gericht beginnt eine neue Weltzeit, ein neuer Äon, und zwar für die Frommen, die dem Gericht entronnen sind. In diesem neuen Äon sind die Leiden der jetzigen Zeit überwunden und ein Leben in der Gegenwart Gottes ist durch die Beseitigung der Sünden bzw. der Frevler ermöglicht. Im spezifischeren Sinne versteht man nach einer Definition, die auf John J. Collins zurückgeht, unter einer Apokalypse eine literarische Gattung. Diese zeichnet sich durch einen narrativen Rahmen aus, in welchem eine Offenbarung durch ein himmlisches Wesen (einen Deuteengel, angelus interpres) einem Menschen vermittelt wird. Dem menschlichen Empfänger wird eine sowohl zeitlich wie räumlich transzendente Wirklichkeit offenbart: Die Offenbarung hat eine zeitliche Dimension, insofern sie sich auf die eschatologische Rettung bezieht, und eine räumliche, insofern sie eine himmlische, überweltliche Dimension beinhaltet. Es ist Intention der Apokalypse, den gegenwärtigen Zustand der Welt im Lichte der übernatürlichen Welt und der Zukunft zu interpretieren und das Verständnis und Verhalten der Rezipientinnen und Rezipienten durch Rückgriff auf die göttliche Autorität zu beeinflussen. Apokalyptik ist als komplexe Konzeption zu sehen, die in einzelnen Texten zum Ausdruck kommt. Sie ist geprägt von dualistischen Vorstellungen, die sich vor allem in der Erwartung eines neuen Äons äußern. Der Anbruch des neuen Äons ist mit gewaltsamen Umwälzungen der gegenwärtigen Welt verbunden. Die gegenwärtige Weltzeit wird als zutiefst unheilvoll wahrgenommen. Nur durch Gottes Eingreifen kann diese Situation beendet und die Königsherrschaft Gottes aufgerichtet werden. Insofern kann man auch von einem Determinismus der Geschichte sprechen. An den Zeichen der Zeit lassen sich der bevorstehende Umsturz und das künftige Gottesreich erahnen. Daher muss man sich für die richtige Seite zu entscheiden. Apokalyptische Konzeptionen setzen dabei oft Geheimwissen voraus, das nicht allen zugänglich ist.

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Dazu gehören häufig komplexe zeitliche Berechnungen zum Ablauf der Weltgeschichte und dem Eintreffen des Gerichtes. Das Danielbuch ist das einzige apokalyptische Buch im Alten Testament. Vorstufen apokalyptischen Denkens finden sich jedoch in der alttestamentlichen Prophetie, vielleicht schon in der Berufungsvision Ezechiels, noch deutlicher aber bei Sacharja, besonders den protoapokalyptischen Texten Sach 12 und 14. Auch die Beschäftigung mit der Durchsetzung des Königtums Gottes in Deuterojesaja und die Vorstellungen eines der Heilszeit vorausgehenden Kampfes (Jes 24–27; Ez 38–39) sind zu den Vorläufern dieser Konzeptionen zu sehen.

Menschensohn

Antiochos IV. Epiphanes

Mit der Wende zur Apokalyptik werden die Vorstellungen des königlichen Retters im eigentlichen Sinne zu messianischen Zukunftserwartungen: Das Heil wird endgültig durch eine einzelne Gestalt, den Messias, herbeigeführt, wodurch ein neuer Äon anbricht. Dadurch werden die unheilvollen Zustände der jetzigen Welt beendet und ein Leben in Gottes Gegenwart für die Auserwählten ermöglicht, während die anderen unter das Gericht fallen. In Dan 7 ist nicht explizit vom Messias die Rede, sondern „von einem wie ein Menschensohn“, d.h. von einem, der einem Menschen gleicht. Verkürzt, aber eigentlich falsch, wird er manchmal lediglich als „Menschensohn“ bezeichnet, weil eine andere praktikable Bezeichnung fehlt. In der Rezeption wird diese Figur messianisch interpretiert. Das Buch Daniel ist in hebräischer und aramäischer Sprache verfasst. Es ist das jüngste Buch der hebräischen Bibel und zugleich die älteste Apokalypse. Es wurde in einer Zeit der politischen und religiösen Bedrängnis verfasst: Der seleukidische Herrscher Antiochos  IV. Epiphanes (175–164 v.  Chr.) eroberte nach innerjüdischen Auseinandersetzungen um das Hohepriesteramt die Stadt 169/168 v. Chr. Er verbot die Ausübung des jüdischen Kultes und widmete den Jerusalemer Tempel nun der Verehrung des Zeus Olympios. 168 v. Chr. wurde auf dem Tempelberg ein heidnischer Altar aufgerichtet, der als „Gräuel der Verwüstung“ (1Makk 1,54; vgl. 2Makk 6,5; Dan 9,27; 11,31) bezeichnet wurde; ein heidnisches Opfer wurde vollzogen, möglicherweise ein Schweineopfer. Jüdische kultische Handlungen wie Opfer und Sabbatheiligung wurden verboten, Teilnahme am Zeuskult verpflichtend gemacht. In breiten Teilen vor allem der Landbevölkerung regte sich großer Unmut, der schließlich zum makkabäischen Aufstand führte.

5. | Die Herrschaft des Menschengleichen

In dieser Situation soll die Aussicht Trost spenden, dass die Weltgeschichte auf ein baldiges Ende hinsteuere und die Durchsetzung der Königsherrschaft Gottes unmittelbar bevorstehe. Die beiden Visionen in Kap. 2 und 7 beschreiben dafür eine Abfolge von vier Weltreichen, die als Babylonier, Meder, Perser und Griechen (Alexander d. Gr., Ptolemäer und Seleukiden) verstanden werden können. Die Vierzahl steht für die Vollständigkeit und man befindet sich bereits in der Herrschaft des vierten Weltreiches. Die Vision in Dan 7 stellt die Weltreiche in der Vision mit vier Tieren dar: Löwe, Bär, Panther sowie ein schreckliches Tier mit zehn Hörnern und einem kleinen, zusätzlichen Horn. Der Fokus liegt auf dem letzten Tier, das zusätzliche Horn steht für Antiochos IV. Dan 7 enthält nach kurzer Einleitung (V. 1–2) einen fünfteiligen Visionsbericht (V.  2–14), der anschließend interpretiert wird (V.  15–18); das vierte Tier wird dann nochmals ausführlich behandelt (V. 19–27), es folgt ein kurzer narrativer Schluss (V. 28). Ein „Hochbetagter“ mit weißem Haar auf einem feurigen Thron hält Gericht, verurteilt und vernichtet das Tier (Dan 7,9– 12). Nun wird ein neuer Herrscher eingeführt:

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Abfolge von vier Weltreichen

Dan 7: Vision mit vier Tieren

Zitat

„Da kam mit den Wolken des Himmels einer wie ein Menschensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten und wurde vor ihn geführt. Ihm wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen müssen ihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige, unvergängliche Herrschaft. Sein Reich geht niemals unter.“ (Dan 7,13f.)

Anders als die vorherige bestialische Herrschaft wird die künftige ein menschliches Antlitz haben. „Menschensohn“ ist die Bezeichnung eines einzelnen Menschen, „einer wie ein Menschensohn“ meint dann eine Figur, die einem Menschen gleicht. V. 18 spezifiziert dann: „Das Königtum aber werden die Heiligen des Höchsten erhalten und sie werden es behalten für immer und ewig.“ (Vgl. auch V. 22.27) Auf der Bildebene haben wir es also mit einer einzelnen Figur zu tun, dem Menschengleichen, auf der Ebene der Interpretation der Vision wird diese Figur kollektiv ausgedeutet. Der Men-

Individuell, kollektiv

52

I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament Königliche Attribute

Baals-Zyklus

Chaoskampfmotivik

Kommen mit den Wolken

Beiname Anani Identität des Menschengleichen

schengleiche hat königliche Attribute: Ihm werden Herrschaft, Würde und Königtum verliehen; seine Herrschaft wird unvergänglich sein. Zugleich signalisiert das Kommen mit den Wolken göttliche Qualitäten. Die mit dem Meer in Verbindung stehenden Tiere wecken Erinnerungen an den alten Mythos des Chaoskampfes, wie er etwa im ugaritischen Baals-Zyklus (KTU 1.1–6, S. Niehr, Ba‘al-Zyklus) zu finden ist. In diesem besiegt der Wettergott Baal, der mit Wolken assoziiert wird, den Meerersgott Jammu und dessen Diener Lo¯ta¯n (biblisch: Leviathan) und erringt so die Herrschaft (KTU 1.2 IV 10: „Übernimm dein ewiges Königtum, deine immerwährende Herrschaft!“). Reflexe der Chaoskampfmotivik finden sich in verschiedenen alttestamentlichen Texten (Jes 27,1; Ps 74,14; 89,10; Ij 26,12–13; 40,25ff.). Das Kommen mit den Wolken bezeichnet ansonsten eine JHWH-Theophanie (Dtn 33,26; Ps 68,5; 104,3), hier ist der Menschengleiche jedoch dem Hochbetagten untergeordnet. Dies kann vielleicht verstanden werden auf dem Hintergrund des Verhältnisses von El und Baal in den ugaritischen Texten, wo El als alter Gott präsentiert wird, der als Richter fungiert und von einem himmlischen Thronrat umgeben ist. In anderen Texten des Alten Testaments hat JHWH diese Funktion übernommen (Ps 82). Die Opposition zwischen dem Meer und dem, der mit den Wolken kommt, die Präsenz zweier göttlicher Figuren sowie die Übertragung der Herrschaft an denjenigen, der mit den Wolken kommt, sind jedenfalls starke motivliche Parallelen. Dass der Menschengleiche hier mit den Wolken (aram.: ‘im ‘anānê šemayyā’) kommt, führt in der späteren Tradition dazu, dass der Messias den Beinamen Anani bekommt (so dass z.B. auch 1Chr 3,24 messianisch aufgefasst wird). Die Identität des Menschengleichen wird im Text nicht näher ausgeführt; er steht in Verbindung mit den Heiligen des Allerhöchsten, die ebenfalls die Herrschaft übertragen bekommen. Wie auch in anderen Visionsschilderungen werden im Danielbuch Engel als menschenähnlich beschrieben (8,15; 9,21; 10,5; 12,5–7). Daher könnte mit dem Menschengleichen ihr Anführer, der Erzengel Michael gemeint sein. Jüdische und christliche Interpretationen deuten die Figur individuell. Die rabbinische Literatur versteht ihn überwiegend messianisch, aber die Tradition ist nicht einförmig. Christliche Interpretationen beziehen ihn in der Regel auf Jesus. Die frühesten Rezeptionen in den Bildreden des Henochbuches, 4Esra und den Evangelien fassen ihn durchweg als überirdisches Wesen auf.

6. | Weitere Deutungsangebote

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Diese individuelle Deutung bildet also die Voraussetzung für den neutestamentlichen Bezug des „Menschensohnes“ auf Jesus. Zusammenfassung

Mit der Entstehung apokalyptischer Zukunftserwartungen wird der Messias nicht mehr innergeschichtlich erwartet, sondern sein Kommen als Anbruch einer neuen Weltzeit verstanden, die die jetzige Weltzeit beendet. In der Vision von Dan 7 tritt nach den vier Tieren, die für vier Weltreiche stehen, „einer wie ein Menschensohn“ auf, dem die Herrschaft übertragen wird. Diese Figur spielt in der späteren Rezeption, auch im Neuen Testament, eine wichtige Rolle.

6. „Musste der Messias nicht all dies erleiden?“ (Lk 24,26) – weitere Deutungsangebote Der Terminus christos, der – wie oben dargelegt – nichts anderes heißt als „Gesalbter“, entstammt der alttestamentlichen Königsideologie, insofern als diese mit den Aspekten der Herrschaft, des Gerichts sowie der politisch-nationalen Ausrichtung auf einen erhofften Retter in der bald eintreffenden Endzeit übertragen wurde. Die angeführten alttestamentlichen Texte können jedoch aus zwei Gründen die frühe Christologie nicht vollständig erklären. Zum einen wurden andere alttestamentliche Konzepte, die von sich aus nicht mit der Messias-Vorstellung in Verbindung stehen, herangezogen, um zu verstehen und zu erklären, wer dieser Jesus von Nazareth ist. Zum anderen haben sich die im Alten Testament greifbaren Vorstellungen weiterentwickelt. Dies zeigen einige spätere Rezeptionen alttestamentlicher Texte, die zwar Kernmotive aufgreifen, diese aber kreativ weiterentwickeln und um wichtige neue Vorstellungen wie die der Präexistenz erweitern. Beide Aspekte werden im Folgenden kurz umrissen. Zunächst betrachten wir alttestamentliche Konzeptionen, die mit der Messias-Vorstellung verbunden werden. Diese Verbindung wurde nicht unbedingt erst durch christologische Überlegungen gelegt, sondern findet sich bisweilen auch in anderen jüdischen Schriften.

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

6.1 Das vierte Lied vom Knecht JHWHs – Jes 53

Leiden des Gerechten Stellvertretung

Individuelle und kollektive Deutungen

Der erste zu behandelnde Text ist das sog. vierte Lied vom Knecht JHWHs (oder auch: Gottesknecht), Jes 52,13–53,12, vereinfachend oft nur als Jes 53 bezeichnet. Es hat vom oben angeführten Zitat in Apg 8,32f. bis zur Verwendung in der Liturgie des Karfreitags eine reichhaltige Wirkungsgeschichte entfaltet, die hier nicht ausgeschöpft werden kann. Die ursprüngliche Bedeutung des Textes ist umstritten und Gegenstand einer umfangreichen Forschungsliteratur. Der Text beinhaltet zwei wichtige Vorstellungen, die den frühen Christen als geeignet erschienen, den Tod Jesu als etwas Heilvolles zu beschreiben: das Leiden des Gerechten verbunden mit der Vorstellung der Stellvertretung oder genauer des stellvertretenden Leidens. Jes 53 ist der letzte von vier Texten in Deuterojesaja, die sich um einen Knecht JHWHs drehen, der eine Aufgabe an Israel wie an den Völkern hat. Sie werden kurz als Gottesknechtslieder oder Ebed-JHWH-Lieder (kurz EJL) bezeichnet. Diese vier Texte weisen innerhalb von Deuterojesaja eine gewisse Sonderstellung auf, jedoch sind die Kontextbezüge in der jüngeren Forschung wieder stärker betont worden. Die Frage der Einheitlichkeit und der zeitlichen Verortung wird unterschiedlich beantwortet. Die Identität des Knechtes bleibt im Text unbeantwortet. Man kann individuelle und kollektive Deutungen unterscheiden. Individuelle Deutungen beziehen sich entweder auf verschiedene Personen der Geschichte Israels, angefangen von Abraham, Mose, Hiskija, Serubbabel über viele weitere bis hin zu Onias III., ohne dass eine überzeugende Deutung gelungen wäre. Oder man sieht in dem Knecht den anonym bleibenden Propheten, der hinter dem Werk Deuterojesaja steht oder auch eine zukünftige messianische Figur. Die kollektive Deutung sieht im Knecht entweder ganz Israel inmitten der Völkerwelt oder den Knecht als eine Teilmenge des Gottesvolkes, z.B. die heimgekehrte Gola (d.h. die aus dem Exil nach Juda Zurückgekehrten), eine prophetische Gruppe, das ideale Israel oder den Teil des Gottesvolkes, der ganz Israel wieder zu JHWH führen soll. Um die individuellen und kollektiven Deutungen zu integrieren, spricht Ulrich Berges lieber von der Personifikation statt von der Person des Knechtes, womit die literarische Funktion stärker betont wird.

6. | Weitere Deutungsangebote

Der Knecht, der mit seiner Aufgabe im ersten Lied (Jes 42,1– 4) präsentiert wird, handelt anders als der Herrscher Kyros, nämlich ohne militärische Gewalt, mit seinem Mund (Jes 49,2). Auf ihm ruht der Geist Gottes. Er hat eine Aufgabe an Israel wie den Nationen. Der Knecht, der im zweiten und dritten Lied selbst spricht (Jes 49,1–6; 50,4–9), stößt mit dieser Aufgabe offensichtlich auf Widerstand und scheitert. Das vierte Lied behauptet nun, dass durch dieses Scheitern Gottes Plan gelingen wird (52,13; 53,10). Er wird als geschlagen und niedergebeugt beschrieben, als Mann der Schmerzen. Er ist geradezu das Gegenbild zum schönen König. Üblicherweise erklärte man schlimmes Leiden mit dem Fehlverhalten der entsprechenden Person. Vereinfachend wird dies als Tun-Ergehen-Zusammenhang bezeichnet: Mein Verhalten bestimmt mein zukünftiges Ergehen. Doch dieser Zusammenhang ist hier durchbrochen: Es tritt im Text eine Wir-Gruppe auf, die einen Erkenntnisprozess durchläuft. Zunächst waren sie der Meinung, dass der Knecht wegen seiner eigenen Verschuldungen leiden musste. Weil er jedoch erhöht wird (53,13), kommen sie dann zur Einsicht, dass der Unschuldige wegen ihrer Vergehen leiden musste, dass JHWH die Folgen ihrer Sünden den Knecht treffen ließ (53,4–6), der diese geduldig ertrug. Dass der Knecht also stellvertretend die Schuld der Wir-Gruppe trägt und so im Leiden des Unschuldigen das Heil der eigentlich Schuldigen begründet ist, und dass JHWH den Knecht mit Absicht dafür leiden lässt, sind gewagte neue Ideen, die im Alten Testament auch nicht weiter aufgegriffen werden. Nach 53,8 ist der Knecht „abgeschnitten vom Land der Lebenden“, er wird jedoch erhöht (52,13), wird Nachkommen sehen (53,10) und erhält Anteil unter den Großen (53,12). Diese Metaphorik von Tod und Überwindung des Todes wurde später auch als Hinweis auf die Auferstehung verstanden. Israel wird durch das stellvertretende Leiden des Knechtes gerettet, während der Knecht zugrunde geht. Israel wird durch die Erkenntnis der Heilsbedeutsamkeit des Todes verwandelt und wieder zu JHWH geführt. Die Schmähungen und das Leiden des Knechtes dienen, im Kontext der Gottesknechtslieder, dem Ziel Gottes der Errettung Israels wie der Völker.

55 Aufgabe des Knechtes

Tun-ErgehenZusammenhang

Erkenntnisprozess

Stellvertretendes Leiden

Metaphorik vom Tod und seiner Überwindung

Heilsbedeutsamkeit des Todes

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

6.2 Kultisch geprägte Vorstellungen

Sühnetheologie der Priesterschrift Sühnende Funktion des Blutes

Jom Kippur: Sündenbock

Pesachlamm

Apotropäische Funktion des Blutes

In Jes 53 haben wir es nicht mit einer kultischen Vorstellung zu tun. Das Leiden und Sterben des Knechtes wird nicht als Opferhandlung verstanden. Wenn der Tod Jesu jedoch als Sühnetod verstanden wird, sind wir im Bereich der kultischen Vorstellungen. Der schwierige Begriff „Sühne“ (hebr. Wurzel kpr) bezeichnet die gnadenhaft gewährte Möglichkeit des Weiterlebens, wo das Recht auf Leben eigentlich verwirkt war. Dies gilt im profanen Kontext (vgl. Ex 21,30) wie im religiösen. Die priesterschriftliche Theologie, die im Exil als Theologie für den Neuanfang konzipiert wird, entwirft einen Kult, der zentral von der Idee der Sühne getragen ist: Gott gibt seinem Volk durch den Opferkult die Möglichkeit, die Folgen der eigenen Versündigungen zu beseitigen und so wieder in einen Zustand der Heiligkeit zu kommen. Dadurch kann Gott weiterhin in seinem Volk wohnen bleiben. Eine besondere Rolle spielt dabei das Blut durch die in ihm wohnende Lebenskraft, wie Lev 17,11 prägnant formuliert: „Denn das Leben/die Lebenskraft (næfaeš) des Fleisches ist im Blut. Und ich habe es euch auf den Altar gegeben (d.h. für den Kult vorgesehen), um Sühne zu schaffen für eure Leben. Denn das Blut ist es, das durch die Lebenskraft (in ihm) Sühne schafft.“ Eine weitere wichtige Vorstellung aus der priesterlichen Theologie ist die des Sündenbocks. In Lev 16 wird das Ritual des großen Versöhnungstages (Jom Kippur) beschrieben. Dieses dient dazu, einmal jährlich eine kultische Grundreinigung des Heiligtums und seiner Einrichtungen, des Kultpersonals sowie des ganzen Volkes vorzunehmen. Eine besondere Rolle kommt dabei einem der beiden Böcke zu: Der Hohepriester (Aaron) bekennt über ihm alle Versündigungen der Israeliten und lädt sie so dem Bock auf, der dann in die Wüste getrieben wird (Lev 16,21). Der Bock trägt so die quasi materiell verstandene Schuld bzw. deren Folgen aus der Gemeinschaft fort und eliminiert sie so. Schließlich ist noch die Vorstellung des Pesachlammes zu nennen. Aufgrund der zeitlichen Nähe des Todes Jesu zum Pesachfest – die Chronologie ist bei Johannes und den Synoptikern unterschiedlich – lag die Übertragung auf Jesus nahe. Nach Ex 12,7 sollen die Israeliten mit dem Blut eines Lammes ihre Türpfosten bestreichen, damit Gott bzw. der Verderber diese Häuser verschont, wenn er die Erstgeburt im Lande erschlägt (12,13.23). Das Blut hat hier eine apotropäische Funktion: Es wendet den

6. | Weitere Deutungsangebote

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Tod von den Häusern der Israeliten ab. In der späteren Rezeption wird auch dem Blut des Pesachlammes sühnende Kraft zugeschrieben, obwohl hiervon in Ex 12 noch nichts zu finden ist. 6.3 Personifizierte Weisheit Einen ganz anderen Vorstellungsbereich betreten wir mit der Weisheitsliteratur des Alten Testaments. Hier findet sich die Vorstellung von der Weisheit als einer eigenständigen Person, die von Gott vor der übrigen Welt geschaffen wird und eine aktive Rolle bei der Erschaffung dieser spielt. Mit mythischen Bildern wird in Spr 8,22–31 berichtet, dass die Weisheit am Anfang oder als Anfang der übrigen Schöpfung erschaffen wurde, noch bevor es die Urflut gab (V. 24). Nach V. 30 ist sie die Freude Gottes, die allezeit vor ihm spielt, zugleich will sie bei den Menschen sein (V. 31). In Sir 24,3–6 geht die Weisheit wie das Wort Gottes aus dem Mund JHWHs hervor, ist aber zugleich Person. Sie besitzt einen Thron im Himmel (V. 4) und Macht über die Fluten des Meeres, das Land sowie alle Völker (V. 5). Schließlich wird sie auf dem Zion eingesetzt (V. 10) und mit der Tora identifiziert (V. 23). In der Interpretation durch den Midrasch Genesis Rabbah wird die Tora dann zum ersten Schöpfungswerk und zum Instrument der weiteren Schöpfung. Im Buch der Weisheit Salomos aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. finden sich neben der Vorstellung einer personifizierten Weisheit eine Reihe von eher philosophischen Beschreibungen. Sie war nach Weish 9,9 zugegen, als Gott die Welt erschuf. V. 1–2 dieses Kapitels parallelisieren die Weisheit mit dem göttlichen Wort, dem logos: Gott hat das All durch sein Wort und den Menschen durch seine Weisheit geschaffen.

Weisheit als eigenständige Person bei der Schöpfung

Aus dem Mund JHWHs

Zusammenfassung

Neben den königsideologischen Motiven der Messiasvorstellungen werden andere alttestamentliche Konzepte in der Christologie aufgegriffen, wie etwa – das stellvertretende Leiden des unschuldigen Gottesknechtes nach Jes 53, – die kultische Konzeption der Sühne und des Sündenbockes nach Lev 16, – die Vorstellung des todabwehrenden Blutes des Pesachlammes oder – die personifizierte Weisheitsvorstellung, die die Präexistenz vor der übrigen Schöpfung beinhaltet.

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

7. Nachalttestamentliche Entwicklungen

Vielfältige Strömungen im Judentum

Die neutestamentliche Rezeption der dargestellten alttestamentlichen Konzeptionen und Erwartungen lässt sich letztlich nicht verstehen, ohne weitere Entwicklungen zu berücksichtigen. Diese Entwicklungen sind zweifelsohne in den Texten des Alten Testaments angelegt, kommen aber in ihnen noch nicht voll zum Tragen. Bestimmte Entwicklungen laufen parallel zu den späten Schriften des Alten Testaments ab und finden ihren Niederschlag in außerbiblischen Texten. Das Christentum entwickelt sich aus einem Judentum heraus, das von den verschiedensten Strömungen geprägt ist. Nach dem Untergang des Zweiten Tempels im Jahr 70 n. Chr. setzt sich das pharisäische Judentum durch. Es stellt dabei nur einen Ausschnitt der verschiedenen Erwartungen innerhalb eines äußerst vielfältigen religiösen und kulturellen Lebens im Juda des ersten Jahrhunderts dar. Unterschiedliche Erwartungen und Hoffnungen waren im Umlauf, die nicht alle miteinander kompatibel waren. Wie deutlich die verschiedenen inhaltlichen Strömungen auch soziographisch als gesellschaftliche Gruppierungen zu Tage traten und wie stark die gegenseitigen Abgrenzungen waren, lässt sich bei der derzeitigen Quellenlage schwer beurteilen. Das Christentum entwickelt sich zunächst als Strömung innerhalb dieses vielfältigen Judentums, bevor es zu einer konfessorischen, eigenständigen Gruppierung wird. Diese Entwicklung wird in der Literatur unter der Bezeichnung „The parting of the ways“ diskutiert. Diese zeichnet sich aus durch das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus sowie die Taufe als Zugehörigkeitsmerkmal. Anhand von drei Beispielen soll die Vielgestaltigkeit dargestellt werden: die Vorstellung des Menschensohnes in der Henochliteratur, die in der Literatur von Qumran greifbare Messiasvorstellung sowie die Psalmen Salomos. 7.1 Der Menschensohn in den Bilderreden des Äthiopischen Henochbuches und in 4Esra

Bilderreden (1Hen 37–71)

Im sog. Äthiopischen Henochbuch (auch 1Henoch) sind Texte aus unterschiedlichen Zeiten versammelt. Die Sammlung geht wohl auf eine eigene Strömung innerhalb des Judentums zurück. Die Bilderreden (1Hen 37–71) stammen wahrscheinlich aus der Zeit um die Wende des ersten Jahrhunderts v. Chr. zum ersten Jahrhundert n. Chr.

7. | Nachalttestamentliche Entwicklungen

Sie greifen auf die Figur des Menschensohnes aus Dan 7 zurück, der hier auch „Erwählter der Gerechtigkeit“ (1Hen 39,6 u.ö.) und Gesalbter (1Hen 48,10; 52,4) heißt. Er ist präexistent und ihm kommt Anbetung wie einem Gott zu (1Hen 48,3.5). In 1Hen 62 wird der Menschensohn inthronisiert; er richtet und tötet die Sünder mit der „Rede seines Mundes“ (V.  2); ihm kommt wiederum Verehrung zu (V.  6). Der präexistente Menschensohn, der auf dem Thron sitzt, das Endgericht abhält und angebetet wird, trägt eindeutig göttliche Züge. Die Anspielungen an die besprochenen alttestamentlichen Texte sind deutlich. In einer überraschenden Wendung wird in Kap. 70f. plötzlich der Mensch Henoch, der bislang als Seher aufgetreten ist, mit dem Menschensohn identifiziert. Diese Kapitel sind vielleicht ein späterer Nachtrag, belegen aber die Vorstellung, dass ein Mensch göttlich oder gottähnlich wird und in messianischer Funktion für Gerechtigkeit und Frieden sorgt. Das noch spätere 4. Buch Esra (um 100 n. Chr.) greift ebenfalls auf Dan 7 zurück. Die Darstellung in 4Esr 13 ist vom endzeitlichen Völkergericht geprägt, das der Menschengleiche durch Feuer, das aus seinem Mund kommt, durch den Flammenhauch seiner Lippen ausführt. Wiederum ist es das Gesetz, das mit dem Feuer gleichgesetzt wird (13,27f.). Dieser Menschengleiche wird als „mein Sohn“ (13,32; in einer arabischen Fassung: „mein Knecht“) und „Gesalbter“ bezeichnet, der aus dem Samen Davids hervorgeht, in 4Esr 7,28 schließlich „mein Sohn, der Messias“ (lat.: filius meus Jesus), der in der Endzeit offenbart werden und 400 Jahre herrschen soll. Danach werden alle Menschen sterben, es kommt zu einer allgemeinen Auferstehung sowie dem Endgericht. Hier verbinden sich also die Vorstellung der Präexistenz und des endzeitlichen Gerichtes mit den Attributen der davidischen Könige, der Gottessohnschaft und dem Gesalbtsein.

59 Erwählter und Gesalbter

Göttliche Züge des präexistenten Menschensohnes

4Esra Endzeitliches Völkergericht

7.2 Messiasvorstellungen in Qumran Messianische Erwartungen scheinen nicht im Zentrum der Gemeinschaft von Qumran gestanden zu haben, wenn man die wenigen Textstellen in Betracht zieht, die darauf eingehen. Die Messiasvorstellungen sind vielfältig. Die Kriegsrolle (1QM) beschreibt zwar endzeitliche Kämpfe zwischen den Söhnen des Lichtes und den Söhnen der Finsternis, in denen aber eine einzelne messianische Figur keine Rolle spielt. Andere Texte (das Damaskus-Do-

Messiasvorstellungen vielfältig

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Priesterlicher und königlicher Messias Melchisedek

kument, CD, und die Gemeinderegel, 1QS) kennen  – wohl im Anschluss an die Leuchtervision in Sach 4 – einen Gesalbten Aarons und Israels, also einen priesterlichen und einen königlichen Messias, wobei nicht immer klar ist, ob es sich um zwei verschiedene Messias-Gestalten oder nur um eine handelt. Auch wird ihre Funktion nicht wirklich deutlich. Im fragmentarischen Text 11QMelchisedek ist Melchisedek ein himmlischer Opponent Satans. Der Text weist Bezüge zu Dan 9 auf; ob der erwähnte Gesalbte mit Melchisedek identifiziert wird, bleibt unklar. Ob und, wenn ja, welche Art von Messias in weiteren Texten vorausgesetzt wird, bleibt undeutlich (4Q 246, 285, 521). 7.3 Die Messiaserwartung in den Psalmen Salomos

Politischer Messias

Die Psalmen Salomos sind eine Sammlung von 18 Psalmen, die Salomo zugeschrieben sind. Sie entstanden wohl im ersten Jahrhundert v. Chr. als Reaktion auf die Eroberung Jerusalems durch Pompeius (63 v.  Chr.). In den letzten beiden Psalmen, PsSal 17+18, wird ein königlicher Heilsbringer verheißen, der Sohn Davids und Gesalbter des Herrn genannt wird (PsSal 17,21.32; 18,5.7). Die beiden Texte greifen auf zahlreiche alttestamentliche Formulierungen zurück. Die apokalyptischen Anspielungen sind zurückgedrängt, die politische Befreiung steht im Vordergrund: Der Sohn Davids soll ungerechte Herrscher vernichten und Jerusalem von den Heidenvölkern reinigen, indem er sie mit eisernem Stab zerschlägt (17,22–25). Dazu soll Gott den König mit Stärke umgürten. Er ist ausgestattet mit der Furcht Gottes, der Weisheit des Geistes, der Gerechtigkeit und der Stärke. Ein himmlischer Ursprung dieses königlichen Retters wird durch nichts nahegelegt. Über die Dauer seiner Herrschaft wird nichts gesagt.

Zusammenfassung

Die neutestamentliche Rezeption der Messiasvorstellungen kann nicht aus dem Alten Testament alleine erklärt werden. Verschiedene Texte geben einen Einblick, auf welch vielfältige Weise sich die einzelnen Konzeptionen weiterentwickelt haben, z.B. die Vorstellung des Menschsohnes, der in den Bilderreden des äthiopischen Henochbuches einerseits präexistent ist, andererseits das Endgericht abhält und deutlich göttliche Züge trägt. Die Psalmen Salomos hingegen erwarten einen sehr weltlichen Herrscher, der die Fremdherrschaft beenden soll.

8. | Rekapitulation

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8. Rekapitulation Die Pluralität der Messiaserwartungen zur Zeit des Neuen Testamentes zeigt sich besonders deutlich in den divergenten Texten aus Qumran, aber auch an dem Nebeneinander der Konzeption von 1Hen und PsSal 17+18. Wir müssen einen breiten Strom der Überlieferung annehmen, auf den wir nur punktuell Blicke werfen können. Je nach geschichtlicher Situation konnte die Grundidee, dass Gott seine Herrschaft mit der Hilfe eines Messias durchsetzen wird, ganz unterschiedlich zum Ausdruck gebracht werden. Dabei stehen sich innerweltliche Restaurationshoffnungen und apokalyptische Endzeiterwartungen gegenüber. Man konnte sich den Messias mit göttlichen Zügen, als präexistente Gestalt, die im Endgericht die Feinde besiegt, vorstellen oder aber als ziemlich weltlichen Herrscher, der die Fremdherrscher in dieser Welt hier vertreibt. Auch wird die Herrschaft ganz unterschiedlich beschrieben, sei es militant: „mit eisernem Stab“ oder eher friedlich mit dem Hauch der Lippen, der aber auch zum Untergang der Frevler führt. Oder der König reitet auf dem Esel ein und verkündet den Frieden, nachdem JHWH das Kriegsgerät schon beseitigt hat. Die einzelnen Aspekte lassen sich nicht in eine einfache chronologische Reihenfolge oder Systematik bringen. Gerade die späten Texte zeigen, dass Vorstellungen immer wieder reaktiviert werden konnten, insbesondere die politisch-nationalen Untertöne. So wurde auch die ursprünglich vielleicht auf David bezogene Weissagung Bileams aufgrund ihrer vagen zukünftigen Einordnung leicht als Ausdruck des militanten politischen Messias verstanden: „Ich sehe ihn, aber nicht jetzt, ich erblicke ihn, aber nicht nahe:  Ein Stern tritt hervor aus Jakob auf, und ein Zepter erhebt sich aus Israel und zerschlägt die Schläfen Moabs und zerschmettert die Söhne Sets.“ (Num 24,17; vgl. auch Gen 49,8–10) Dieser Text wurde in Qumran (CD 7,18–21) oder auch im späteren Bar-Kochba-Aufstand messianisch ausgelegt. Die Perspektive der verschiedenen Konzeptionen ist jeweils Gerechtigkeit und Frieden in einer neuen Heilszeit, sei es für das Volk Israel, die Auserwählten des Volkes oder die dem Gericht Entronnenen.

Pluralität der Messiaserwartungen

Innerweltliche Restaurationshoffnungen, apokalyptische Endzeiterwartungen

Weissagung Bileams

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

Zitat

PsSal 17 (Septuaginta Deutsch) 21 Siehe, Herr, und richte ihnen ihren König auf, den Sohn Davids, zu der Zeit, die du, Gott, bestimmt hast, als König zu herrschen über Israel, deinen Knecht; 22 und umgürte ihn mit Stärke, zu vernichten ungerechte Herrscher, zu reinigen Jerusalem von den Heidenvölkern, die (es) vernichtend zertreten, 23 in weiser Gerechtigkeit zu verstoßen die Sünder vom Erbe, zu zerschlagen die Überheblichkeit des Sünders wie Töpfergefäße, 24 mit eisernem Stab sie völlig zu zerschlagen, zu vernichten gesetzbrecherische Heidenvölker durch das Wort seines Mundes, 25 durch seine Drohung die Völker in die Flucht zu schlagen, weg von seinem Angesicht, und zu überführen die Sünder durch die Überlegung ihrer Herzen. 26 Und er wird ein heiliges Volk versammeln, das er führen wird in Gerechtigkeit, und er wird die Stämme des Volkes richten, das geheiligt ist durch den Herrn seinen Gott; 27 und er wird nicht zulassen, dass Unrecht weiterhin in ihrer Mitte weilt, und kein Mensch wird mit ihnen wohnen, der Böses kennt, denn er wird sie erkennen, dass sie alle Söhne ihres Gottes sind. … 45 Gott erweise schnell Israel seine Barmherzigkeit, er errette uns von der Unreinheit der Gottlosen Feinde. 46 Der Herr selbst (ist) unser König bis in alle Ewigkeit. PsSal 18,5 Gott reinige Israel für den Tag der Barmherzigkeit durch Segen, für den auserwählten Tag, an dem sein Gesalbter (christou autou, χριστοῦ αὐτοῦ) heraufgeführt wird.

Literatur

Literatur

(Kommentare sind nur angegeben, wenn im Text auf sie verwiesen ist; Sammelbände mit mehreren relevanten Beiträgen sind als ganze aufgeführt.) 1. Allgemeine und einführende Darstellungen: Becker, Joachim: Messiaserwartung im Alten Testament (SBS 83), Stuttgart 1977. Collins, Adela Yarbro/Collins, John J.: King and Messiah as Son of God: Divine, Human, and Angelic Messianic Figures in Biblical and Related Literature, Grand Rapids, MI 2008. Dassmann, Ernst u.a. (Hg.): Der Messias (JBTh 8), Neukirchen-Vluyn 1993. Day, John (Hg.): King and Messiah in Israel and the Ancient Near East. Proceedings of the Oxford Old Testament Seminar (JSOT.S 270), Sheffield 1998. Fabry, Heinz-Josef: Altes Testament, in: ders./Scholtissek, Klaus: Der Messias. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (NEB Themen 5), Würzburg 2002. Fitzmyer, Joseph A.: The One Who is to Come, Grand Rapids, MI 2007. Frevel, Christian: Geschichte Israels (Kohlhammer-Studienbücher Theologie 2), Stuttgart 2016. Grabbe, Lester L.: Judaic Religion in the Second Temple Period. Belief and Practice from the Exile to Yavneh, London 2000. Jeremias, Jörg: Theologie des Alten Testaments (ATD.E, GAT 6), Göttingen 2015. Kaiser, Otto: Der eine Gott Israels und die Mächte der Welt. Der Weg Gottes im Alten Testament vom Herrn seines Volkes zum Herrn der ganzen Welt (FRLANT 249), Göttingen 2013. Kaiser, Otto: Der Messias nach dem Alten und Neuen Testament, in: BThZ 31 (2014), 64–107. Laato, Antti: Josiah and David Redivivus. The Historical Josiah and the Messianic Expectations of Exilic and Postexilic Times (Coniectanea Biblica OT 33), Stockholm 1992. Laato, Antti: A Star is Rising. The Historical Development of the Old Testament Royal Ideology and the Rise of the Jewish Messianic Expectations (International Studies in Formative Christianity and Judaism 5), Atlanta, GA 1997.

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

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I. | Messianische Erwartungen im Alten Testament

7. Spätere Entwicklungen: Ábel, František: The Psalms of Solomon and the Messianic Ethics of Paul (WUNT II 416), Tübingen 2016. Atkinson, Kenneth: I cried to the Lord. A Study of the Psalms of Solomon’s Historical Background and Social Setting (JSJ.S 84), Leiden 2004. Boccaccini, Gabriele (Hg.): Enoch and the Messiah Son of Man. Revisiting the Book of Parables, Grand Rapids, MI 2007. Boyarin, Daniel: Der Menschensohn in 1. Henoch und 4. Esra. Andere jüdische Messiasse im 1. Jahrhundert, in: BThZ 31 (2014), 41–63. Collins, John J.: The Messiah in Ancient Judaism, in: BThZ 31 (2014), 17–40. Collins, John J.: The Scepter and the Star. The Messiahs of the Dead Sea Scrolls and other Ancient Literature (The Anchor Bible Reference Library), New York, NY 1995. Dunn, James D.G. (Hg.): Jews and Christians. The Parting of the Ways; A.D. 70 to 135 / The Second Durham Tübingen Research Symposium on Earliest Christianity and Judaism (WUNT 66), Tübingen 1992. Dunn, James D.G.: The Parting of the Ways. Between Christianity and Judaism and Their Significance for the Character of Christianity, London 22006. Horbury, William: Messianism among Jews and Christians. Biblical and Historical Studies, London 22016. Koch, Klaus: Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur. Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, Neukirchen-Vluyn 1996. Lichtenberger, Hermann: Messianische Erwartungen und messianische Gestalten in der Zeit des Zweiten Tempels, in: Stegemann, Ekkehard (Hg.): Messias-Vorstellungen bei Juden und Christen, Stuttgart 1993, 9–20. Zimmermann, Johannes: Messianische Texte aus Qumran. Königliche, priesterliche und prophetische Messiasvorstellungen in den Schriftfunden von Qumran (WUNT II 104), Tübingen 1998.

II. Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus Stefan Schreiber Im Zentrum der Schriften der ersten Christen, die heute das Neue Testament bilden, steht die Person Jesu Christi. Die Bücher erzählen von Jesus und reflektieren über seine Bedeutung, entfalten aber keine systematische Christologie. Die ersten Christen sprechen über Jesus Christus, weil sie von seiner Bedeutung für die eigene Gegenwart überzeugt sind. Mit unterschiedlichen Modellen, die sich dem kulturellen Weltwissen des ersten Jahrhunderts verdanken, werden durch Anpassungen und Modifikationen Deutungen der Person Jesu erarbeitet. Die Entwürfe der einzelnen Bücher sind, je nach Entstehungssituation, durchaus unterschiedlich, weisen aber auch wesentliche gemeinsame Grundzüge auf, die auf die Überlieferung der ersten Christus-Gruppen in der Zeit nach Jesu Tod zurückgehen. Sie sind für die Christen bis heute grundlegend geblieben.

Modelle zur Deutung Jesu

Definition

Neutestamentliche Christologie Eine Definition soll zu Beginn die Perspektive auf die Texte grundlegen und klären. Neutestamentlicher Christologie „geht es um die Anerkennung der Person Jesu und um dessen Relation zu Gott“, wobei sie eng mit der Soteriologie, der Bedeutung Jesu für die Menschen und seiner Beziehung zu ihnen, verbunden ist (Hahn, Theologie II 194f.).

Wer eine neutestamentliche Christologie darstellen will, ist mit mehreren Problemen konfrontiert. (1) Bei den Quellen, den Schriften der ersten Christen, handelt es sich um ganz unterschiedliche Texte, die alle keine systematische Christologie entfalten. Heutige Ausleger/innen stellen diese Christologie also erst her, was ein hohes Maß an Interpretation der Texte bedeutet. (2) Mit Ostern entstand eine neue Perspektive auf Jesus: Als der

Probleme einer neutestamentlichen Christologie

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Vorgehen

Erweckte steht er in einer spezifischen Beziehung zu Gott, was zu Fortschreibungen der Deutung Jesu führte. Es stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Verkündigung Jesu selbst und dem Bekenntnis zu Jesus nach Ostern. Besteht dabei eine Kontinuität und welche Rolle spielen die Erfahrungen von Ostern bei der Bekenntnisbildung? (3) Es ist in der Exegese umstritten, wie das Verhältnis Jesu zu Gott adäquat zu beschreiben ist. Kann man bereits von der „Gottheit“ Jesu sprechen, von „divine Christology“ (Tilling, Christology)? Wurde Jesus bereits so liturgisch verehrt, dass man an einen „binitarischen“ Monotheismus denken kann, der Christus als „göttlich“ versteht (so Hurtado, Lord)? Oder bleibt die Unterscheidung Jesu von Gott und die alleinige Gottheit Gottes, damit auch dessen Überordnung über Jesus leitend? Und soll man die philosophisch-ontologisch geprägte Sprache der ersten Konzilien (Nizäa 325 n. Chr., Chalcedon 451) übernehmen oder bei der umschreibenden, metaphorischen und narrativen Sprache der neutestamentlichen Texte bleiben? Meine Darstellung der christologischen Prozesse und ihrer literarischen Niederschläge im Neuen Testament geht in drei großen Schritten vor. Zuerst werden die Anfänge der Jesus-Deutungen in den ältesten Überlieferungen gesichtet. Der zweite Schritt stellt einen Rückblick auf die Ansätze für diese Entwicklung beim historischen Jesus dar, bevor im dritten Teil wichtige Stationen der Darstellung Jesu in einzelnen Schriften des Neuen Testaments als Entfaltungen der ältesten Überlieferung betrachtet werden.

1. Anfänge und Grundlegung – die ältesten Überlieferungen 1.1 Der historische Rahmen

Neues Verständnis Jesu nach Ostern

Kurz nach dem Tod Jesu, der um das Jahr 30 n. Chr. in Jerusalem als politischer Verbrecher gekreuzigt wurde, ereigneten sich bei einigen seiner Anhänger/innen visionäre Erscheinungen Jesu, die die Überzeugung vermittelten, dass Jesus von den Toten erweckt wurde. Diese Erfahrungen bewirkten eine neue Sammlung des Schülerkreises in Jerusalem, die sogenannte Urgemeinde, und ein vertieftes Verständnis Jesu auf der Basis der Tradition Israels und der Botschaft Jesu. Spuren dieses grundlegenden Deutungsprozesses haben sich in der urchristlichen

1. | Die ältesten Überlieferungen

Überlieferung erhalten: Formeln und Titel enthalten die ersten „christologischen“ Überzeugungen. Bald schlossen sich Juden mit griechischer Muttersprache und Herkunft aus den hellenistisch geprägten Städten des östlichen Mittelmeerraums, der Diaspora, der Gemeinde an („Hellenisten“). Die junge Christus-Bewegung breitete sich über Jerusalem hinaus aus und es entstand ein zweites Zentrum in der syrischen Großstadt Antiochia. Dort wurden auch die ersten Nichtjuden in die Gemeinde aufgenommen (Apg 11,20f.). Die Übergänge zwischen Jerusalem und Antiochia, zwischen jüdischer und hellenistischer Kultur waren fließend: Sprachlich verlagerte sich das Gewicht vom Aramäischen zum Griechischen. Wahrscheinlich sprachen jedoch bereits einige Schüler Jesu und vielleicht sogar dieser selbst etwas Griechisch. So verwundert es nicht, dass die ältesten christlichen Formeln in griechischer Sprache, aber mit jüdischen Denkkategorien überliefert sind. Die alttestamentlich-frühjüdische Grundlage der Jesus-Deutungen blieb jedenfalls in der Zeit der ersten christlichen Generationen bestimmend.

71

Jüdische und hellenistische Kultur

1.2 Formeln und Traditionen Die Formeltradition spiegelt frühe Stationen auf dem Weg der Deutung Jesu, die auf so grundlegende Fragen antwortet wie: Wer ist Jesus wirklich? Was bedeutet er für uns? Formeln sind kurze Aussagen oder Sätze, die ein Überzeugungssystem sprachlich auf den Punkt bringen. Meist handelt es sich um Bekenntnisse, die eine doppelte Funktion erfüllen: Sie geben Zeugnis vom Glauben an Jesus und artikulieren die persönliche Anerkennung Jesu, die eigene Beziehung zu ihm. Damit werden die zentralen Glaubensinhalte der ersten Christen weitergegeben. Solche Formeln dürften bereits in den ersten Jahren nach Jesu Tod entstanden sein. Sie wurden in den ältesten Schriften der Christen aufgegriffen, vor allem in den Briefen des Paulus, in denen sie die gemeinsame Überzeugung des Paulus und der Briefadressaten zum Ausdruck bringen. Einen deutlichen Hinweis darauf, dass Paulus eine Überlieferung aufgreift, finden wir in der Formulierung der Traditionsweitergabe in 1Kor 15,3: „Denn ich überlieferte euch als erstes, was auch ich übernahm“. Auch die auffällige sprachliche Gestaltung durch die Form eines Parallelismus (siehe unten) spricht für Tradition: Die Formel ist einprägsam und lässt sich gut memorieren. Nicht

Überlieferte Formeln

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

jede Formel ist klar gekennzeichnet, so dass deren Identifizierung im Einzelnen in der Forschung diskutiert wird (Wengst, Formeln; Vielhauer, Geschichte 9–57). Da christliche Texte wie die Paulusbriefe die christologischen Grundgedanken, die sich in Formeln finden, aufgreifen, ist Trennschärfe in der Abgrenzung von Überlieferungsstücken nicht immer möglich. In vielen Fällen empfiehlt es sich, nicht von klar erkennbaren Formeln, sondern von sprachlich geprägten Traditionen auszugehen (wie z.B. „Gott erweckte Jesus“). 1.2.1 Die grundlegende Überzeugung: Gott erweckte Jesus Gott erweckte Jesus

Die zentrale und grundlegende christologische Aussage nach Ostern lautet: Gott erweckte Jesus von den Toten. Beispiele sind: Zitat

Röm 4,24: Gott, „der erweckte Jesus, unseren Herrn, von den Toten“ Röm 8,11: „der Geist dessen, der Jesus von den Toten erweckte“ 1Kor 15,4f.: „Christus starb für unsere Sünden / nach den Schriften / und wurde begraben und ist erweckt worden am dritten Tag / nach den Schriften / und erschien Kephas, dann den Zwölf.“ Apg 4,10b: Jesus, „den ihr gekreuzigt habt, den Gott erweckt hat von den Toten“ (vgl. auch Apg 2,23f.36; 3,13–15; 5,30; 10,39f.; 13,28–30)

egeiroˉ

Die zuletzt genannte Stelle Apg 4,10b, die als Kontrastformel bezeichnet wird, lässt noch den ursprünglichen Sitz im Leben in der ersten Verkündigung in Jerusalem erkennen. Der Anklage an die jüdischen Hörer/innen, Jesus zu Unrecht gekreuzigt zu haben, entspricht implizit der Aufforderung zur Umkehr, zur Anerkennung Jesu. Die Grundaussage bedient sich metaphorischer Sprache: Das griechische Verb egeirō meint eigentlich ‚wach machen‘, ‚wecken‘ und kann übertragen auch für ‚auferwecken‘ verwendet werden, d.h. der Tod wird mit der Metapher des Schlafes, die Überwindung des Todes mit der Metapher des Weckens beschrieben. In den schlichten Aussagen findet sich ein hohes Deutungspotenzial:

1. | Die ältesten Überlieferungen

Theozentrik: Gott handelte an Jesus bei der Erweckung. Das bedeutet die Rehabilitation des von den römischen Behörden als Verbrecher gekreuzigten Jesus – sein Auftreten und seine Botschaft werden von Gott bestätigt. Die Basis bleibt das frühjüdische theozentrische Gottesbild. Äonenwende: Erst wenn man die Vorstellung der „Erweckung von den Toten“ auf dem Hintergrund eines apokalyptischen Weltbildes versteht, kommt ihre ganze Bedeutung zum Tragen. Mit der Totenerweckung durch Gott beginnt die Endzeit, der neue Äon (Zeitalter), die Zeit der vollendeten Herrschaft Gottes über die ganze Schöpfung, die endgültige Gerechtigkeit bringt. Dazu trennt das Zorngericht Gottes gerechte Menschen und Strukturen von ungerechten und schafft so die Voraussetzung für heilvolles Leben. Laut den Formeln ist die Gottesherrschaft mit Jesu Erweckung in Gang gekommen, seine Erweckung bedeutet den Anfang vom Ende der durch Unheil, Krankheit und Tod bedrohten Geschichte. Die Äonenwende bringt Gal 1,1.4 deutlich zum Ausdruck: Gott, „der ihn (Jesus) von den Toten erweckte, […] auf dass er uns herausreiße aus dem gegenwärtigen bösen Äon […]“.

73 Theozentrik

Äonenwende

1.2.2 Jesus als Herrscher der Endzeit Verstanden die ersten Schüler Jesu dessen Erweckung im apokalyptischen Deute-Modell, so schließt sich die Frage nach der Funktion des erweckten Jesus selbst im endzeitlichen Geschehen an. Der Erweckte besitzt eine besondere Stellung im eschatologischen Plan Gottes und verbürgt die Teilhabe der Glaubenden am endzeitlichen Heil. Teilhabe: Die Zugehörigkeit zu Jesus setzt die Hoffnung frei, dass alle Anhängerinnen und Anhänger Jesu an der endzeitlichen Totenerweckung und der neuen Heilszeit Gottes Anteil erhalten werden. Die Metapher von Jesus als dem „Erstling“ bzw. „Erstgeborenen“ der Toten bringt diesen Gedanken zum Ausdruck: Zitat

1 Kor 15,20: „Jetzt aber ist Christus erweckt worden von den Toten als Erstling der Entschlafenen.“ Röm 8,29: „damit dieser (Jesus) der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern und Schwestern“

Teilhabe

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Röm 10,9: „Denn wenn du bekennst in deinem Mund / als Herrn Jesus und glaubst in deinem Herzen: / Gott erweckte ihn von den Toten, wirst du gerettet werden.“

„Erstgeborener“

Jesus als himmlischer Herrscher

„Zur Rechten Gottes“

Die metaphorische Rede vom „Erstgeborenen“ bezieht sich dabei nicht auf eine biologische Zeugung, sondern auf die Erhöhung und Einsetzung Jesu in die endzeitliche Sohnschaft Gottes (vgl. Ps 89,28 [LXX 88,28]). Das Bekenntnis zu Jesus als Herrn und die Überzeugung von seiner Erweckung von den Toten verbürgen die Rettung, wie die parallel strukturierte Formel in Röm 10,9 festhält. Die Glaubenden sind in Jesu himmlisches Herrsein hineingenommen. Rettung meint hier umfassend die Teilhabe an Gottes Heilszeit – bereits im Erdenleben und vollendet im neuen Äon. Jesus als himmlischer Herrscher: Die Konzentration auf einen „Ersten“ ist innerhalb des apokalyptischen Denkens neu. Die besondere endzeitliche Funktion Jesu bei Gott wird zu einem wesentlichen Faktor, wie Paulus in seinem ältesten Brief zusammenfasst: „seinen (Gottes) Sohn aus den Himmeln zu erwarten, den er erweckte von den Toten, Jesus, der uns aus dem kommenden Zorngericht rettet“ (1Thess 1,10). Drei grundlegende Aussagen ergänzen sich: Jesus befindet sich nach der Erweckung in unmittelbarer Nähe zu Gott („Himmel“); er wird von dorther seine eschatologische Funktion auf der Erde aufnehmen; diese besteht wesentlich in der endzeitlichen Rettung der Seinen, die im Zorngericht Gottes Heil und Gerechtigkeit erhoffen dürfen. Röm 8,34 verbindet Rehabilitation und Erhöhung Jesu mit seinem „Eintreten“ für die Seinen, was eine besondere Position bei Gott impliziert: „Christus Jesus, der Gestorbene, vielmehr aber der Erweckte, der auch zur Rechten Gottes ist, der auch für uns eintritt“. Eine Anspielung auf Ps 110,1 („Setze dich zu meiner Rechten“) ist hörbar. Der Königspsalm umschreibt Inthronisation und Legitimation des Königs Israels durch Gott. Wenn sich Jesus „zur Rechten Gottes“ befindet, ist die Teilhabe Jesu an Gottes Herrschaft, seine Stellung als himmlischer Mitherrscher Gottes, ausgesagt. Die Tradition in Röm 1,3f. verbindet diese himmlische Herrschaft mit der Bedeutung des irdischen Lebens Jesu und entwickelt eine Art „Stufen-Christologie“: (a) Der irdische Jesus erscheint aufgrund seiner Herkunft aus der Königsdynastie Davids (vgl. 2Sam 7,14) als Messias. (b) Die Erhöhung

1. | Die ältesten Überlieferungen

nach Ostern zeigt Jesus darüber hinaus in einer himmlischen Machtposition, die als Einsetzung zum „Sohn Gottes“ hörbar wird. Ps 2,7 lässt Gott selbst zum König sprechen: „mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“ (vgl. Ps 110,3). Jesus fungiert als endzeitlicher, königlicher Mitherrscher Gottes. Parusie: Vom Himmel her konnten die ersten Christen auch die Parusie erwarten, das endzeitliche Wiederkommen Jesu, das die Verwirklichung der Herrschaft Gottes über die ganze Erde einleitet. Nach 1Thess 1,10; 2,19; 3,13; 4,15; 5,23 gehörte die Parusie zu den wesentlichen Überzeugungselementen der ChristusGemeinde in Thessaloniki. Auch der alte aramäische Ruf „maranatha“ (1Kor 16,22; vgl. Did 10,6), der sich mit Offb 22,20 imperativisch als „Unser Herr, komm!“ übersetzen lässt, zeigt eine frühe Erwartung der baldigen Wiederkunft Christi. Diese Zukunftserwartung prägt das Leben und das Selbstverständnis der Gemeinde bereits in der Gegenwart, indem es ihre Wahrnehmung verändert: Die Welt erscheint in neuem, endzeitlichem Licht, weil die endzeitliche Wende unmittelbar bevorsteht – und die Gemeinde ist bereits jetzt Teil dieser neuen Wirklichkeit Gottes. Die Naherwartung der Parusie scheint für die Christen auch noch in der Zeit des Paulus selbstverständlich. Nach 1Thess 4,15–17 und 1Kor 15,51f. werden endzeitliche Totenerweckung und Parusie noch in der lebenden Generation erwartet. 1.3 Titel und christologische Modelle In der zentralen Funktion Jesu in der Endzeit Gottes liegt der Ansatz für weiteres Nachdenken über seine Person, das in sogenannten Hoheitstiteln Ausdruck findet. Titel greifen auf umfassendere Konzeptionen zurück, die den Hörerinnen und Hörern aus ihrer frühjüdischen (und teilweise paganen) Umwelt bekannt sind und die durch die Verwendung eines bestimmten Titels wachgerufen werden. In erster Linie betreffen die Titel Jesu Verhältnis zu Gott und seine Stellung im Heilsplan Gottes für die Welt. Sie leisten religionsgeschichtlich eine Identifizierung Jesu mit frühjüdischen Mittlerfiguren, wobei das Spezifikum Jesu integriert wird. Die wichtigsten Titel sind Christus, Sohn Gottes, Menschensohn und Herr.

75

„Sohn Gottes“

Parusie

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

1.3.1 Christus

Messias

Grundzüge der MessiasKonzeption

Variationen

Anwendung auf Jesus Modifikationen: Tod und Erweckung

Der Titel „Christus“ (griechisch christos) ist das Übersetzungsäquivalent des hebräischen „Messias“ (māschiach, aramäisch meschichā) und bedeutet wörtlich „Gesalbter“. Damit verbindet sich ein im Frühjudentum bekannter Vorstellungskern, der von etlichen Schriften (Qumran, Psalmen Salomos, apokalyptische Literatur, Andeutungen bei Josephus) aufgegriffen und variiert wird (dazu Schreiber, Gesalbter 537–554; ders., Anfänge 12–31). Auch wenn sicher nicht alle Juden um die Zeitenwende eine akute Messiaserwartung teilten, waren wohl die Grundzüge der Gesalbten-Konzeption allgemein bekannt. Das Grundgerüst der Messias-Vorstellung lässt sich so zusammenfassen: • Der Messias wird als königliche Herrschergestalt im politischnationalen Raum der Geschichte zum Heil Israels zukünftig bzw. apokalyptisch-endzeitlich erwartet. • Er wirkt als Repräsentant Gottes, der von Gott als alleinigem universalem König erwählt und mit Vollmacht begabt wird. Als Repräsentant partizipiert er an Gottes Macht und Eigenschaften wie Heiligkeit, Weisheit und vor allem Gerechtigkeit. • Auf der Basis seiner einzigartigen Gottesbeziehung kann der Messias eine Friedensherrschaft zugunsten Israels aufrichten, die als ideales Gegenbild zu den aktuellen sozial-politischen Verhältnissen unter dem Imperium Romanum bzw. den judäischen Herrschern (den Hasmonäern) fungiert. Um diesen Vorstellungskern herum entstanden in verschiedenen Trägergruppen Variationen der Messiaskonzeption, die von einer ganz innergeschichtlichen Funktion (PsSal 17 und 18) über die endzeitliche Herrschaftsaufrichtung (äthHen 37–71; 4Esr 7; 12f.; syrBar 29f.; 39f.; 70–74) bis zu einer doppelten Erwartung eines königlichen und eines priesterlichen Messias (1QS 9,11; CD 12,23f.; 14,19; 19,10f.; 20,1) reichen. Wichtige Referenztexte aus den Schriften Israels, auf die immer wieder Bezug genommen wird, sind Gen 49,10; Num 24,17; 2Sam 7,14; Jes 11,1–5. Die Variabilität der Konzeption ermöglichte auch die Anwendung des Christus-Titels auf Jesus aus Nazaret. Wenn seine Anhänger Jesus nach Ostern als Christus bekennen, heben sie seine Bedeutung als einzigartigen Repräsentanten Gottes hervor, der wie kein anderer in seinem Reden und Handeln, aber auch in Tod und Erweckung Gott sichtbar werden lässt. Die Ereignisse von Tod und Erweckung Jesu machten freilich einschneidende Modifikationen der frühjüdischen Messias-

1. | Die ältesten Überlieferungen

Erwartungen notwendig, denn traditionell leidet und stirbt der frühjüdische Messias nicht, sondern setzt sich machtvoll durch. Um den Messias-Titel auf Jesus anwendbar zu machen, musste der Kreuzestod Jesu integriert werden. Dieser Prozess spiegelt sich in den Traditionen von 1Kor 15,3–5 und Röm 5,6.8, die den Titel „Christus“ mit einer soteriologischen Deutung des Todes Jesu verbinden („für unsere Sünden“, „für uns Gottlose/Sündigende“): Jesu Tod ist weder Unfall noch Schicksal, sondern absichtsvoller Ausdruck der eschatologischen Zuwendung von Gottes Liebe und Gerechtigkeit für sein Volk. In der EmmausErzählung Lk 24,13–35 erklärt der „Unbekannte“ den beiden Schülern Jesu, dass der Christus gemäß der Schrift leiden und in die Herrlichkeit eingehen muss. In der Integration von Kreuzestod und Erweckung Jesu in die frühjüdische Messias-Konzeption besteht die entscheidende theologische Leistung der ersten Christen. Der Titel „Christus“ wird nun exklusiv auf die Person Jesus aus Nazaret bezogen, so dass er allmählich wie ein Eigenname für Jesus verwendet wurde. Dadurch aber veränderte sich das Angesicht der Christus-Gestalt: Sowohl in seinem Leiden und Sterben als auch in seiner himmlischen Herrscherposition ist Jesus der einzigartige Repräsentant Gottes. Das immer noch jüdische Gottesbild gewinnt die Komponente einer radikalen Nähe zu Menschen und Welt.

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Repräsentant

1.3.2 Sohn Gottes Der Titel „Sohn Gottes“ steht in enger Beziehung zur MessiasTradition und verdankt sich alttestamentlicher Königs-Theologie. In Ps 2,6f. spricht Gott zum König Israels bei dessen Inthronisation: „Mein Sohn bist du; ich habe dich heute gezeugt“. In 2Sam 7,12–16 verkündet Gott durch den Propheten Natan dem König David Beistand für seinen Nachkommen: „Ich will ihm Vater sein, und er soll mir Sohn sein“ (vgl. auch Ps 89,27f.; 110,3; Jes 9,5f.). Die nach dem Modell einer Adoption formulierte Beziehung des Königs zu Gott garantiert dem König einzigartige göttliche Legitimation, Vollmacht und Unterstützung (Schreiber, Gesalbter 497f.). Die lange nach dem Untergang des Königtums Israels entstandene Schrift 4Q174 III 10–13 deutete diese Worte auf einen zukünftigen Heilskönig, den Messias. Daran kann der christliche Gebrauch des Titels für Jesus anschließen. In der schon genannten Tradition Röm 1,3f. wird der Christus Jesus als „Sohn Gottes“ bestimmt: „eingesetzt als Sohn Gottes in

Königs-Theologie

Adoption

Einsetzung Jesu

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Nähe zu Gott

Antike Göttersöhne

Römischer Kaiser als divi filius

Macht nach dem Geist der Heiligung aus der Auferstehung von den Toten“. Die alte Vorstellung der Königsinthronisation, gedacht im Modell der Adoption durch Gott, wird nun auf die Erweckung Jesu als das entscheidende Ereignis der Einsetzung in die königliche Sohnes-Position bezogen. Mit der Erweckung steht Jesus als „Sohn“ in einem unmittelbaren Verhältnis zu Gott und ist durch ihn für seine Aufgabe legitimiert (vgl. Apg 13,33; Mk 9,7; Joh 1,49). Die Verwendung des Titels für Jesus stellt vor allem seine ganz besondere Nähe zu Gott heraus. Als „Sohn“ hat er Zugang zur Welt Gottes und kann dessen Willen und Zuwendung zu den Menschen vermitteln. An dieser Beziehung erhalten alle Anhänger Jesu Anteil, wie durch die Anwendung von Familienmetaphorik auf alle Glaubenden zum Ausdruck kommt: Sie sind in Gottes Geist Söhne und Töchter Gottes (Röm 8,14; Gal 4,6f.). Nach dem Bild des Sohnes werden sie diesem „gleichgestaltet“, so dass er zum „Erstgeborenen“ vieler Geschwister wird (Röm 8,29). Der Titel „Sohn Gottes“ war neben diesem jüdischen Hintergrund auch in der griechisch-römischen Kultur verständlich, weil dort die Vorstellung von „Göttersöhnen“ bekannt war. So galten antike Helden wie Theseus und Herakles als Söhne des Zeus (und einer menschlichen Mutter), auch Städtegründern schrieb man solche göttliche Abkunft zu (Romulus); Seher und Sänger der Vorzeit konnten als Söhne des Apollon oder des Hermes gepriesen werden, der Heilheros Asklepios galt als Sohn Apollons – besondere Kraft, Klugheit und Begabung fanden damit eine Erklärung. Der Mythos ließ sich auf geschichtliche Gestalten übertragen, wobei besonders der Gebrauch für den römischen Princeps, der göttliche Abstammung zur Legitimation nutzte, in der Lebenswelt der ersten Christen einschlägig war: Seit Augustus wird der römische Kaiser auf Münzen und Inschriften als divi filius, Sohn seines vergöttlichten Vorgängers, bezeichnet. Der römische Kaiser als bekannteste Persönlichkeit der damaligen Welt erscheint in seiner Bindung an den göttlichen Vorgänger und damit an die göttliche Welt als Gottessohn, und nur für ihn findet in der griechisch-römischen Kultur der Titel „Sohn Gottes“ (divi filius, theou hyios) ohne Nennung einer Gottheit Verwendung. Dabei spielte die Adoption in der Zeit des frühen Prinzipats eine wichtige Rolle bei der Nachfolgeregelung: Fehlten leibliche Söhne, wurde der kaiserliche Status der Familie durch die Adoption öffentlichkeitswirksam an den Sukzessor weitergegeben. Das bekannteste Beispiel bildet Augustus selbst als divi filius, adoptierter Sohn des Iulius Caesar (dazu Peppard,

1. | Die ältesten Überlieferungen

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Son of God 31–85). Damit stand auch in der griechisch-römischen Welt ein Denkmodell bereit, um den Titel „Sohn Gottes“ in Anwendung auf Jesus zu verstehen. Es ist kein Zufall, wenn ausgerechnet der römische Hauptmann unter dem Kreuz als erster Mensch im Markusevangelium Jesus als Sohn Gottes bekennt (Mk 15,39). 1.3.3 Menschensohn Die Bezeichnung „Menschensohn“ wird vor allem in der Erzählüberlieferung der Evangelien auf Jesus angewandt. Sie verdankt sich der Tradition Israels: Im Ezechiel-Buch dient sie der Anrede des Propheten, in der apokalyptischen Literatur bezeichnet das Syntagma „(wie) der Sohn eines Menschen“ eine endzeitliche Herrscher- und Richtergestalt als Repräsentant Gottes gegenüber israelfeindlichen Herrschern (Dan 7,13f.; äthHen 37–71; 4Esr 13). Dabei werden Messias und Menschensohn bisweilen gleichgesetzt (äthHen 48,10; 52,4; vgl. 4Esr 13), so dass eine funktionale Überschneidung beider Titel vorliegt (Schreiber, Gesalbter 323–363). Bei der christlichen Verwendung in den Evangelien fällt auf, dass an manchen Stellen Jesus als Sprecher mit dem Titel „Menschensohn“ auf einen Dritten, eine zukünftige Gerichtsgestalt im Sinne der frühjüdischen Tradition verweist, die in einer Beziehung endzeitlicher Bestätigung zu ihm steht (z.B. Mk 8,38). An anderen Stellen spricht Jesus mit diesem Titel in der dritten Person von sich selbst: So kann er mit Bezug auf den gegenwärtig auftretenden Menschensohn indirekt seine Vollmacht über Sünden und über den Sabbat behaupten (Mk 2,10.28) bzw. seine soziale Heimatlosigkeit erklären (Lk 9,58). Die Verwendung des Titels setzt dabei eine hintergründige Legitimation seines abweichenden Verhaltens durch Gott frei. Wenn Jesus vom leidenden, sterbenden und erweckten Menschensohn spricht, z.B. in den Leidensweissagungen Mk 8,31; 9,31; 10,33f., stößt man wieder auf das Phänomen der christlichen Modifikation einer frühjüdischen Vorstellung: Der Menschensohn, eigentlich eine machtvolle endzeitliche Richtergestalt, wird hier vom Geschick Jesu her umgedeutet. Der Titel fehlt bei Paulus völlig und geht in der christlichen Tradition bald verloren, vielleicht weil er zu wenig spezifisch und zu offen, vielleicht weil er missverständlich oder im römischen Kulturkreis unverständlich war.

Endzeitliche Herrscher- und Richtergestalt

Jesus als Menschensohn

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

1.3.4 Kyrios

Der Erhöhte als Herr

Der Herr der Gemeinde

Allgemein dient „Kyrios“ (Herr) im griechischen Sprachgebrauch der Anrede einer höhergestellten Autoritätsperson; auch der römische Kaiser kann so angesprochen werden. Als Kyrios kann speziell ein göttliches Wesen angeredet werden, dem sich der antike Mensch im Gestus der Verehrung, besonders auch im Kult, nähert. In Anwendung auf Jesus bezeichnet Kyrios das Verhältnis der Jesus-Anhänger zu ihrem erhöhten Herrn. Die schon erwähnte Tradition in Röm 10,9, die den Titel „Herr“ mit der Erweckung Jesu von den Toten parallelisiert, zeigt, dass der Titel im Osterglauben wurzelt: Die Erweckung bedeutet die Aufnahme Jesu in die himmlische Herrscherstellung bei Gott. Die Überlieferung des aramäischen Rufes „maranatha“ („Komm, Herr“) in 1Kor 16,22 und Did 10,6 (übersetzt in Offb 22,20) – in einer Zeit, in der die Gemeinden längst Griechisch sprachen – deutet auf einen frühen Gebrauch des Titels hin, der wohl bereits auf die Urgemeinde in Jerusalem zurückgeht. Der Ruf drückt Naherwartung und Sehnsucht der Gemeinde aus, die sich auf den Herrschaftsantritt Jesu als ihres „Herrn“ richten. Vorausgesetzt ist, dass der Erweckte als machtvolle himmlische Hoheitsgestalt zugleich der Herr der Gemeinde ist. Seiner Macht unterstellt sich der, der das Bekenntnis spricht: „Herr (ist) Jesus“ – so die Kurzformel in 1Kor 12,3. Die einzigartige Hoheit Jesu wird in Phil 2,10f. durch universale Verehrung ausgesagt: „jedes Knie beuge sich, der Himmlischen und Irdischen und Unterirdischen, und jede Zunge bekenne: Herr (ist) Jesus Christus“. Diese Hoheit Jesu impliziert zugleich ein Gegenbild zum römischen Kaiser und dessen universalem Machtanspruch; das Bekenntnis zum Kyrios Jesus erhält politisch-soziale Brisanz und lässt die Gemeinde nicht vergessen, dass sie unter einem anderen Herrn lebt – und selbst der „Vorposten“ dieser Herrschaft in der Welt ist. 1.4 Ergebnis

Einzigartige Nähe zu Gott

Die Christologie der ersten christlichen Generation hat sich in Formeln, Traditionen und Titeln für Jesus niedergeschlagen. Sie ist wesentlich von der Vorstellung bestimmt, dass Jesus als Christus, Sohn Gottes und Herr in einzigartiger, unmittelbarer Nähe zu Gott lebt und göttliche Funktionen in der bereits angebrochenen Endzeit übernimmt. Der Zugang zum Gott Israels öffnet sich speziell in Jesus. Ein apokalyptisches Weltbild bildet

2. | Der Anspruch des historischen Jesus

den kulturgeschichtlichen Denkrahmen für dieses christologische Verständnis. Entscheidend für das Bekenntnis und die Identität der ersten Christen ist die Überzeugung, dass Jesu göttliche Macht nicht nur alle hellenistisch-römischen Götter und Kulte überbietet, sondern die Macht des einzigen Gottes vermittelt und verkörpert – die paganen Götter sind nichtig, bestenfalls als Dämonen begreifbar (1Kor 8,4–6; 10,19f.). Nur so ist die Zugehörigkeit gerade zu Jesus sinnvoll. Dies impliziert auch von Anfang an eine Konkurrenz Jesu zum römischen Kaiser, denn beide beanspruchen die Weltherrschaft für sich. In den Titeln dokumentiert sich eine Deutung Jesu mittels zeitgenössisch bekannter Modelle, die Jesu einzigartige Vollmacht und Nähe zu Gott profilieren. Das grundlegende theologische Modell, das besonders in der Christus-Konzeption sichtbar wird, ist das der Repräsentanz: Im Christus wirkt und offenbart sich der eine Gott Israels selbst. Wichtig ist, dass das Modell der Repräsentanz im Rahmen des Monotheismus Israels bleibt; es wird noch kein Gedanke an ein „göttliches Wesen“ Jesu (im ontologischen Sinne) erkennbar. Christus wird dabei gerade nicht mit JHWH, dem einen Gott Israels, identifiziert; er bleibt klar von JHWH unterschieden und ihm als Beauftragter und Bevollmächtigter untergeordnet. Mit der „Christus“-Vorstellung steht das entscheidende Modell bereit zur Beschreibung des Verhältnisses Jesu zu Gott, das für die ersten Generationen von Christen gültig bleibt. Das Christus-Modell wird später durch philosophisch orientierte, „ontologische“ Modelle fortgeschrieben, wofür der Streit um die christologischen Thesen des Arius zu Beginn des vierten Jahrhunderts und die Konzilien von Nizäa (325) und Chalcedon (451) Meilensteine setzen. Bevor die neutestamentlichen Entfaltungen der Christologie betrachtet werden, soll der Blick zurück auf den historischen Jesus geworfen werden. Findet nach Ostern in den ältesten Christus-Deutungen ein Bruch mit dem Auftreten Jesu statt? Differenzen und Verbindungslinien zwischen der Verkündigung Jesu und dem verkündeten Christus sind zu diskutieren.

2. Rückblick – der Anspruch des historischen Jesus Der geschichtliche Mensch Jesus von Nazaret ist uns heute nur noch durch die Schriften der ersten Christen, vor allem durch die Evangelien zugänglich. Diese sind aber weniger an den historischen „Tatsachen“ des Lebens Jesu als an seiner Bedeutung

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Modell der Repräsentanz

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Rückfrage nach dem historischen Jesus

für das Leben der ersten Christen interessiert, stellen also keine Protokolle, sondern Glaubenszeugnisse dar. Daraus ergeben sich die Berechtigung und die Notwendigkeit historischer Quellenkritik und Rückfrage (Theißen/Merz, Jesus 21–122; Schreiber, Begleiter 189–201). Nach über zweihundert Jahren JesusForschung herrscht heute eine gewisse Übereinstimmung in der historischen Konstruktion der Verkündigung Jesu. Innerhalb seiner jüdischen Lebenswelt in Palästina initiierte Jesus eine innerjüdische Reformbewegung mit eschatologischer Ausrichtung. Jesus erwartete das Eingreifen des Gottes Israels in die Geschicke der Welt zugunsten Israels und damit das Ende der gegenwärtigen (Unheils-)Geschichte in naher Zukunft, ja er verstand es als bereits im Anbruch befindlich. Gott ist der gute König der Welt und das kann man jetzt schon erfahren. Mit dieser Botschaft zog Jesus durch Galiläa und suchte die Menschen dort auf, wo sie lebten. 2.1 Im Zentrum der Verkündigung Jesu: Gottes Königsherrschaft

Gott als König

Vision Jesu: Beginn der Königsherrschaft Gottes

Im Frühjudentum zur Zeit Jesu war die theologische Vorstellung verbreitet, JHWH, der Gott Israels, ist König im Himmel. Dort steht sein Thron und dort umgeben ihn himmlische Heerscharen. Ein kleiner Abglanz seiner königlichen Majestät war bereits im Jerusalemer Tempel zu erahnen und hier konnte man am besten mit JHWH Kontakt pflegen. Manche Kreise erwarteten, dass Gott seine Herrschaft auch direkt auf der Erde aufrichten wird – aber erst in einer unbestimmten Zukunft. Von ihr ersehnte man sich Gerechtigkeit für Israel und bessere Lebensverhältnisse. Diese Sehnsucht stand mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Israel in Verbindung: Zwischen Großgrundbesitzern und reichen Jerusalemer Priesterfamilien einerseits und der ärmeren Landbevölkerung andererseits bestand ein erhebliches soziales Ungleichgewicht. Zudem war der Einfluss Roms als fremde Besatzungsmacht gerade für die einfache Landbevölkerung als politische Unfreiheit und wirtschaftliche Abhängigkeit spürbar. In diesem Kontext gewinnt die Botschaft Jesu ihre Bedeutung. Am Anfang stand vielleicht eine Vision Jesu: „Ich schaute den Satan wie einen Blitz aus dem Himmel stürzen“ (Lk 10,18). Wenn der Satan, der Urheber alles Bösen, bereits im Himmel überwunden ist, ist seine Entmachtung auch auf der Erde nur noch eine

2. | Der Anspruch des historischen Jesus

Frage der Zeit – Gott wird bald auch auf der Erde vollendetes Heil schaffen. Entscheidend ist jedoch, dass Gottes Königsherrschaft (basileia) bereits in Israel begonnen hat, denn Jesus sagte Gottes Königsherrschaft nicht nur an, sondern verwirklichte sie punktuell in seinem Auftreten. Die Überzeugung, dass Gottes Königsherrschaft jetzt schon begonnen hat, bildete die zentrale Botschaft des Auftretens Jesu. Diese gegenwärtige Erfahrungsdimension des eschatologischen Heils Gottes wird sichtbar, wenn Jesus Kranke heilt und Menschen von Dämonen befreit (Mk 3,24–27; 10,52; Lk 8,2; 10,9; 11,20). Jesus interpretiert dies als Handeln, das von Gott ausgeht und dem Menschen ohne vorausgehende Bedingung geschenkt wird. Darin wird JHWHs Heilswille für Israel konkret. Den Denkrahmen für diese „Theologie“ Jesu bildet das Gottesbild Israels: Im Bund mit den Vätern, in der Gabe der Tora am Sinai, in der Heilsgeschichte wie z.B. beim Exodus hat Gott seinen Heilswillen gezeigt. In Jesus wird er nun hier und jetzt heilende und rettende Wirklichkeit. Jesu Botschaft von der anbrechenden basileia Gottes erweist sich als grundlegend theozentrisch, denn Gott selbst wirkt im Auftreten Jesu. Dabei stellte Jesus eine Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft der Gottesherrschaft her, wie besonders an den sogenannten Wachstums-Gleichnissen deutlich wird: Wie die Saat, das Senfkorn und der Sauerteig zunächst nur kleine Keimzellen darstellen, dann aber große Wirkung entfalten, so wird dies auch mit der Gottesherrschaft sein, die im Auftreten Jesu in kleinen Anfängen bereits begonnen hat (Mk 4,26–29; Mk 4,30–32 parr; Mt 13,33/Lk 13,20f.). Die Vollendung der Königsherrschaft Gottes steht also noch aus. Hier denkt Jesus ganz in apokalyptischen Bahnen, die ein Neuwerden, eine Neuschöpfung der ganzen Welt, von Natur, Politik und Gesellschaft erwarten. Nur durch diese Neugestaltung durch Gott kann es letztgültig gerechte und gute Verhältnisse geben – und unverlierbares Leben jenseits der Todesgrenze. Jesus selbst scheint sich sicher gewesen zu sein, an der vollendeten basileia Gottes Anteil zu erhalten. Im Kontext des letzten Mahls Jesu ist seine Überzeugung überliefert: „Amen, ich sage euch: Sicher trinke ich nicht mehr von der Frucht des Weinstocks bis zu jenem Tag, wenn ich sie neu trinke in der Königsherrschaft Gottes“ (Mk 14,25). Jesus hat an der Vollendung der basileia teil, auch wenn er sich selbst dabei keine besondere Rolle zuschreibt.

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Heilung und Rettung

Beginn der Gottesherrschaft in der Gegenwart

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

2.2 Stellte sich Jesus als Messias dar?

Stellte sich Jesus als Messias dar?

Messiasbekenntnis des Petrus

Einzug in Jerusalem

Damit ist die Frage nach der Rolle der Person Jesu selbst innerhalb der basileia Gottes gestellt. Ein „Selbstbewusstsein“ oder „Selbstverständnis“ Jesu ist uns nicht mehr zugänglich, so dass genauer gefragt werden muss, ob sich Jesus bei seinem Auftreten in der jüdischen Öffentlichkeit oder vor seiner Schülergruppe selbst als Messias darstellte bzw. die Erwartung weckte, er würde als Messias die Römer gewaltsam aus dem Land treiben. In der Evangelientradition bezieht der erzählte Jesus den Titel „Christus“ auffallend selten direkt (Mt 16,20; Joh 4,25f.; 17,3) oder indirekt (Mk 9,41; 14,61f.par; Mt 23,10; Lk 22,67; 24,26.46; Joh 10,24f.) auf sich selbst. Besonders drei Stellen werfen die Frage nach messianischen Erwartungen der Zeitgenossen an Jesus auf. (1) Die Einführung zum Messiasbekenntnis des Petrus in Mk 8,27f. spricht gegen eine öffentliche Identifizierung Jesu als Messias in der Bevölkerung Palästinas, denn die referierten Meinungen deuten Jesus allesamt mit der Kategorie eines Propheten: Man denkt an Johannes den Täufer oder Elia (die beide wiedergekehrt sein müssten; vgl. Mal 3,23f.) oder an einen endzeitlichen Propheten (vgl. Dtn 18,15). Petrus spricht daraufhin in Mk 8,29f. für die Schülergruppe, wenn er bekennt: „Du bist der Christus“. Jesus wehrt in der Erzählung dieses Bekenntnis eher ab, indem er sein Leiden integriert und den Titel somit „korrigiert“ (8,31–33; vgl. auch Joh 6,15). Das aber entspricht einer nachösterlichen Perspektive. Historische Kritik wird auch die Möglichkeit erwägen, dass sich in der Figur des Petrus das Bekenntnis der ersten Christen nach Ostern niedergeschlagen hat. Der historische Wert des Messias-Bekenntnisses bleibt daher begrenzt, ohne dass ausgeschlossen wäre, dass manche Schüler Jesu über eine messianische Sendung Jesu nachdachten. (2) Die Erzählung von der Königsakklamation Jesu vor dessen Einzug in Jerusalem in Mk 11,8–10 schildert eine symbolische messianische Inszenierung durch Jesus und eine mit ihm verbundene messianische Erwartung. „Viele“ auf dem Weg preisen ihn als den, der „im Namen des Herrn kommt“ und mit dem die „Königsherrschaft unseres Vaters David“ anbricht (11,9f.). Eine national-politische Hoffnung auf die Restauration des davidischen Reiches und einen messianischen Herrscher wird laut. Das Motiv des jungen Esels als Anspielung auf Sach 9,9f. lässt den Messias als demütigen Friedenskönig, für den Gott selbst die Herrschaft gegenüber den Feinden Israels durchsetzt, er-

2. | Der Anspruch des historischen Jesus

scheinen. Dass man Jesus nach Ostern als Friedenskönig verstehen konnte, liegt auf der Hand. Daher fällt die historische Beurteilung der Erzählung schwer (kritisch Ebner, Jesus 194–199; positiv Theißen, Dimension 120; Schwemer, Jesus 219–221). Selbst bei positiver historischer Beurteilung bleibt offen, wer die „Vielen“ (11,8) sind, die ein messianisches Handeln Jesu erwarten – der Schülerkreis, jüdische Gruppen aus Jerusalem, Pilgergruppen aus anderen Landesteilen? Es bleibt möglich, dass in manchen Kreisen im Zusammenhang mit seinem Weg nach Jerusalem messianische Erwartungen mit Jesus verbunden wurden. (3) Jesus wird von den römischen Behörden laut Mk 15,26 als „König der Juden“ hingerichtet, was nach 15,32 mit „Messias“ gleichzusetzen ist. Historisch muss man differenzieren: Jesus wird von der führenden Gruppe der Jerusalemer Priester-Aristokratie als potentieller Messias und damit als politischer Terrorist vor den römischen Behörden angeklagt, die diese Anklage aufnehmen und Jesus hinrichten (Theißen/Merz, Jesus 399–410). Die Frage des Pilatus, ob Jesus der „König der Juden“ sei (Mk 15,2), geht auf diese Anklage ein. Auf ein tatsächliches messianisches Auftreten Jesu lässt sich daraus nicht schließen, denn die Anklage kann rein pragmatisch formuliert sein. In diesem Zusammenhang versteht sich auch die von Jesus bejahte Messiasfrage des Hohenpriesters in 14,61f.: Die Häufung der Titel (Christus, Sohn des Hochgelobten, Menschensohn) und der Verhörkontext lassen die Szene als Spiegelung einer BekenntnisSituation der ersten Christen nach Ostern erscheinen. Fazit: Eine historische Betrachtung der Texte lässt m.E. keinen messianischen Anspruch Jesu innerhalb seiner Schülergruppe erkennen. Die Jesusbewegung präsentierte sich nicht als messianische Bewegung, Jesu Auftreten zeigte keine nationalpolitischen Züge. Die Verkündigung Jesu von der angebrochenen Gottesherrschaft aus eigener (eher prophetischer) Vollmacht ohne Berufung auf einen Titel spricht dagegen, dass Jesus selbst messianische Ansprüche erhob. Vielleicht wurden in der Bevölkerung vereinzelt messianische Erwartungen an Jesu Auftreten herangetragen, doch blieben diese ein Randphänomen.

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Hinrichtung als „König der Juden“

Fazit

Keine messianische Bewegung

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Exkurs

Wie hat Jesus sich selbst bezeichnet?

Es bleibt noch die Frage, ob Jesus sich als „Menschensohn“ bezeichnet hat. (1) Wo Leiden, Tod und Auferstehung des Menschensohnes angesagt werden (Mk 8,31; 9,31; 10,33f.), liegt eine Integration von Passion und Ostern in die traditionelle Menschensohn-Vorstellung vor, was auf nachösterliche Formulierung weist. (2) An einigen Stellen referiert der Titel „Menschensohn“ auf einen Dritten, eine zukünftige Gerichtsgestalt, wie sie in der frühjüdischen Tradition bekannt ist; dieser wird nach Mk 8,38 Jesu Botschaft bzw. Bedeutung im Endgericht bestätigen (vgl. Lk 12,8f.). Jesus unterscheidet hier seine Person vom endzeitlich kommenden Menschensohn, auch wenn er eine enge Beziehung zwischen seiner Verkündigung und ihrer eschatologischen Bestätigung durch den Menschensohn herstellt. Eine Identifizierung Jesu mit dem Menschensohn wird nicht deutlich. Diese konnten freilich die ersten Christen nach Ostern leisten (indirekt in Mk 14,62), da sie die Erhöhung Jesu vor-

aussetzten. (3) Schließlich überliefern die Evangelien noch einige Menschensohn-Aussagen, mit denen Jesus auf sich als gegenwärtig auftretenden Menschensohn verweist: seine Vollmacht über Sünden und über den Sabbat in Mk 2,10.28, seine soziale Heimatlosigkeit in Lk 9,58, seine Außenseiterrolle in Lk 7,34; 12,10. Darin drückt sich einerseits die besondere Sendung Jesu durch Gott aus, andererseits scheint die Bezeichnung eher generisch im einfachen Sinne von „Mensch“ verwendet. Der Mensch Jesus kann so seine Erwählung und Indienstnahme von Gott her ausdrücken (analog zur Anrede des Propheten Ezechiel als „Menschensohn“ in Ez 2–3), ohne die volle titulare Bedeutung des Menschensohnes als endzeitlich-himmlischer Richtergestalt zu evozieren. Es wird also durchaus ein besonderer Anspruch Jesu, etwa im Rahmen eines prophetischen Auftretens, aber keine Selbstinszenierung als himmlischer Menschensohn sichtbar.

2.3 Der Anspruch Jesu: Bote und Bevollmächtigter der Gottesherrschaft

Anbruch der Gottesherrschaft in Jesus

Jesus hat den gegenwärtigen Anbruch der Gottesherrschaft an seine Person gebunden. In seiner Botschaft und seinem Wirken ist die Gottesherrschaft in Israel präsent. In Jesu Exorzismen wurde das Wirken Gottes als Überwindung der dämonischen Macht erfahrbar: „Wenn ich aber mit dem Finger Gottes die Dämonen hinauswerfe, kam also zu euch die Königsherrschaft Gottes“ (Lk 11,20). Jesus sagt die basileia Gottes nicht nur an, sondern seine Person ist selbst Teil ihrer Verwirklichung.

2. | Der Anspruch des historischen Jesus

Diesen hohen Anspruch haben Jesu Zeitgenossen durchaus verstanden – und teilweise kritisch beantwortet. In der Beelzebul-Kontroverse ist der Versuch jüdischer Autoritäten überliefert, den Anspruch Jesu dadurch zu falsifizieren, dass man seine Exorzismen auf die Macht Beelzebuls, des Oberdämons, und damit letztlich auf den Satan zurückführte (Mk 3,22–30; dazu Ebner, Jesus 131–137). Jesus dagegen ordnet seine Exorzismen in den Raum der Gottesherrschaft ein, die durch die Überwindung Satans bereits begonnen hat, und bestimmt sein Wirken damit theozentrisch: Jesus wirkt in dem Anspruch, Gottes Bote und Bevollmächtigter zu sein. Er benutzt jedoch kein zeitgenössisches Modell, um diesen Anspruch einzuordnen. Für seine Zeitgenossen lag es daher nahe, sein Auftreten als das eines Propheten zu verstehen. Seine Anhänger konnten den Anspruch, in göttlicher Sendung und Vollmacht zu wirken, in verschiedenen Handlungen und Worten Jesu wahrnehmen (dazu auch Theißen/Merz, Jesus 455–462; Hahn, Theologie II 198–204; Konradt, Vollmachtsanspruch 147–159): • Jesus verkündet die basileia als endzeitliche Sammlung Israels und setzt den Schülerkreis der „Zwölf“ als Symbol dafür ein: Die (faktisch längst zerstreuten) zwölf Stämme Israels sind nun um Jesus im Land Israel wieder vereint. Die Restitution der zwölf Stämme stellt nach Jes 11,12 und Mich 2,12f. ein Kennzeichen der Endzeit Gottes dar. Jesus selbst zählt sich nicht zu den Zwölf, sondern versammelt sie, was seinen besonderen Anspruch dokumentiert. • Jesus zeigt seine Vollmacht in Exorzismen und Heilungswundern (Lk 11,20) und gibt seine Sendung in Vollmacht an seine Schüler weiter (Mt 10,40). Er erhebt den Anspruch, dass mit ihm eine „neue Zeit“ beginnt, so dass seine Gruppe im Unterschied zur verbreiteten jüdischen Praxis nicht fastet  – vielmehr ist Hochzeit, Neues hat begonnen; die neue Zeit fordert auch ein neues Verhalten und steht in Spannung zur alten Ordnung, im Bild: Ein neuer Stoffflicken zerreißt das alte Gewand, neuer Wein sprengt alte Schläuche  – neuer Wein gehört in neue Schläuche (Mk 2,18–22). • Zur Restitution Israels gehört für Jesus die Integration gesellschaftlich Ausgegrenzter: Zöllner und Sünder, die in den Augen der Frommen als Kollaborateure der römischen Besatzungsmacht galten und so die Identität Israels verletzten, erfahren durch Jesus Gottes Vergebung (Lk 15,1–32; 19,1–10). Jesus spricht Vergebung von Sünden allein durch sein Wort in

87 Hoher Anspruch Jesu – und Konflikte

Sammlung Israels: die „Zwölf“

Vollmacht

Integration Ausgegrenzter in Israel

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Autorität zur Tora-Auslegung

Amen-Worte

Tempel-Kritik

Fazit

der Vollmacht Gottes zu – ohne Kultakt oder Ritus (Mk 2,16; Lk 7,34). Kranke und Besessene, die aus Angst vor Verunreinigung und unkontrollierbaren Einflüssen auf das Zusammenleben ausgegrenzt wurden, erfahren Heilung und soziale Reintegration (Mk 5,21–43). Jesus stellt Gottes Heilswillen für ganz Israel über die Beachtung der traditionellen Grenzen von Reinheit und Identität. • Jesus beansprucht die Autorität zur endzeitlichen Auslegung der Tora. In Bezug auf kultisch-rituelle Gebote wie Sabbatobservanz oder Reinheitsvorschriften lehrt er eine weite, offene Anwendung (Mk 2,23–28; 3,1–6; 7,15; Mt 23,25f.), in Bezug auf zwischenmenschliche Gebote wie Eheregeln, Liebesgebot oder Tötungsverbot eine bewusst zugespitzte Anwendung (Mt 5,21f.27f.; Mk 10,11f.28–34; dazu Schreiber, Begleiter 264– 268). Die Nöte und Bedürfnisse konkreter Menschen stellt Jesus über die traditionellen religiösen und rituellen Normen. In den Antithesen (Mt 5,21f.27f.) gibt Jesus seine Autorität zur Festsetzung von Torabestimmungen klar zu verstehen durch die Formulierung „ich aber sage euch“. • Die Autorität Jesu zur Lehre in Gottes Vollmacht spiegeln auch die „Amen“-Worte als autoritative Bekräftigung seiner Botschaft (Mt 6,2.16; Mk 3,28 u.ö.). Wie ein Prophet spricht Jesus im Auftrag Gottes. Zudem zeigt sich Jesu Rede von Gott als „meinem Vater“ (z.B. Lk 10,22) als Ausdruck seines besonderen Gottesverhältnisses. • Schließlich stellt Jesus die Funktion des Jerusalemer Tempels in Frage. Dieser bildete zur Zeit Jesu das religiöse, politische und wirtschaftliche Zentrum der jüdischen Welt. Dort hatte die Priesteraristokratie ihren Sitz, die zusammen mit den römischen Behörden die Geschicke des Landes lenkte. Jesu Tempelwort relativiert dieses sozio-religiöse Machtsystem: „Ich will diesen Tempel, der mit Händen gemacht ist, abbrechen und in drei Tagen einen anderen, nicht mit Händen gemachten, aufbauen“ (Mk 14,58; vgl. 11,15–17). In Jesu offener Kritik am Tempel wird sein Anspruch deutlich: Wenn Gott in Jesu Wirken Heil schenkt, wird die Funktion des Tempels, von Verfehlungen zu reinigen, letztlich überflüssig. Und wenn Gott selbst König für Israel ist, relativiert dies die Position der priesterlichen Machtelite. Fazit: Jesus trat mit dem Anspruch auf, Bote und Bevollmächtigter der anbrechenden Gottesherrschaft zu sein. Die Konstituierung einer eigenen Endzeit-Gruppe und die Novellierung jüdi-

2. | Der Anspruch des historischen Jesus

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scher Traditionen belegen die von ihm beanspruchte Autorität, den Willen Gottes für Israel authentisch auszulegen. Jesus erhob diesen Anspruch, ohne sein Verhältnis zu JHWH, dem Gott Israels, theoretisch zu erklären. Sein Auftreten blieb dabei durchgehend im Rahmen des (monotheistischen) Gottesbildes Israels. Hinweis

Manche Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einer „impliziten Christologie“, die im Anspruch Jesu zu finden sei (z.B. Hahn, Theologie II 199). Bei einer solchen Bewertung ist zu berücksichtigen, dass es sich dabei um eine Rückprojektion handelt, die von einer entwickelten Christologie ausgeht und nach Ansätzen beim historischen Jesus sucht. Nur insofern ist die Rede von der „impliziten Christologie“ legitim. Fragt man jedoch in historischer Perspektive nach der Selbstpräsentation des historischen Jesus, trifft die Bezeichnung nicht zu und suggeriert zu Unrecht ein christologisches Selbstverständnis Jesu, das er noch zurückhielt, um das theologische Fassungsvermögen seiner Schüler nicht zu überlasten. Solche Konstruktionen werden der theozentrischen Orientierung Jesu nicht gerecht, der die anbrechende Gottesherrschaft vor die Deutung und Bedeutung seiner Person stellte.

„Implizite Christologie“?

2.4 Übergang und Neudeutung – Ansätze einer „Christologie“ nach Ostern Für die christologischen Entwicklungen nach Ostern sind zwei Faktoren maßgeblich, die sowohl die Kontinuität zum Auftreten Jesu als auch einen Neuanfang der Deutung nach Jesu Tod einschließen: (1) die Ansätze im Auftreten des historischen Jesus; (2) der entscheidende Einfluss der Oster-Erfahrungen. Der Anspruch Jesu fließt in die ältesten christologischen Formeln und Titel ein, wo er jedoch im Licht von Ostern interpretiert wird. Als „Menschensohn“ bezeichnete sich Jesus selbst, vielleicht wurden bisweilen messianische Erwartungen an ihn herangetragen, und die Schuldangabe „König der Juden“ am Kreuz Jesu (Mk 15,26) konnte Reflexionen über die tiefere Bedeutung Jesu anregen, die in ihm tatsächlich Gottes „königlichen Gesalbten“, Gottes Christus sehen. Die mit den Titeln verbundenen Konzeptionen waren geeignet, um Jesu Bedeutung auszudrücken. Jesus,

Kontinuität und Neuanfang nach Ostern

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Kontinuität Jesus – Christus

Bedeutung Jesu im Licht von Ostern

der als Bote und Bevollmächtigter der anbrechenden basileia Gottes auftrat, wird nun selbst zum endzeitlichen Herrscher, zum Christus und Kyrios. Während Jesus vor Ostern eher als Prophet Gottes erscheint, wird er nach Ostern selbst zum Gegenstand des Überzeugungssystems. Zahlreiche Texte des Neuen Testaments zeigen noch Spuren dieses Prozesses der Deutung Jesu nach Ostern. Zwei Gesichtspunkte sind entscheidend. (1) Kontinuität zwischen vorösterlichem Jesus und nachösterlichem Christus. Paulus, der in seinen Briefen nur selten Interesse an Überlieferungen über den irdischen Jesus zeigt, hält gleichwohl die Kontinuität zwischen vorösterlichem Jesus und nachösterlichem Christus fest, wenn er in 1Kor 12,3 die Formel zitiert: „Kyrios (ist) Jesus“. Der irdische Jesus ist derselbe wie der erhöhte Kyrios. – Mk 1,22.27 spricht explizit aus, was Jesus selbst voraussetzte: dass er eine (neue) Lehre „in Vollmacht“ zu verkünden hat. Sowohl Paulus (Gal 4,4f.; Röm 8,3) als auch das JohEv (Joh 6,44.57; 12,49 u.a.) greifen den Gedanken der Sendung Jesu durch Gott auf und bauen ihn aus. (2) Integration des Oster-Ereignisses in die Erinnerung an Jesus. Die oben erwähnte Formel in Röm 1,3f. fügt zum irdischen Leben Jesu seine Erhöhung hinzu: die Einsetzung Jesu zum Sohn Gottes aus der Auferstehung der Toten. Interessant ist, dass als Merkmal des irdischen Lebens Jesu gerade seine Abstammung aus dem Geschlecht Davids gewählt wird. Die messianische Herkunft des irdischen Jesus wird in nachösterlicher Perspektive zum Anknüpfungspunkt für den Gedanken der Erhöhung zum messianischen Sohn Gottes. Das Merkmal „Messias“ liefert die Kontinuitätslinie zwischen beiden Stufen in der Wahrnehmung des Christus Jesus. Sowohl das Geheimnismotiv im MkEv (siehe 3.6.2, Nr. 3) als auch direkte Aussagen im JohEv (z.B. Joh 2,22; 12,16) machen den Rezipienten klar, dass die volle Bedeutung Jesu erst nach Ostern, nach seiner Verherrlichung zu verstehen ist. Besonders deutlich spiegelt die Emmaus-Erzählung in Lk 24,13–35 die österliche Modifikation des Verständnisses Jesu: Während die beiden Schüler auf dem Weg Jesus in vorösterlicher Perspektive als Propheten beschreiben, bringt der Unbekannte den Titel „Christus“ als Deuteoption ins Gespräch und entfaltet dessen nachösterliche Anwendung auf Jesus (siehe 3.6.4, Nr. 3). Der Christus-Titel integriert nun Erweckung und Erhöhung Jesu.

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

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3. Entfaltungen – Stationen neutestamentlicher Christologie 3.1 Die endzeitliche Herrschaft des erhöhten Christus als Basis Eine wesentliche Grundlage für die frühen Christologien bildet die Überzeugung von der Erhöhung und endzeitlichen Herrscherfunktion des Christus Jesus. Die Herrschaft des Erhöhten stellt dabei eine vom Osterereignis her gedachte Weiterentwicklung und Transformation der Verkündigung Jesu von der angebrochenen Gottesherrschaft dar, die unmittelbar mit seiner Person verbunden war. Diese Vorstellung kommt in den Schriften der ersten Christen nahezu durchgängig zum Ausdruck. Besonders deutlich wird sie in 1Kor 15,20–28, wo wesentliche Elemente der frühen Christus-Deutung, die sich in Formeln und Titeln niedergeschlagen hat, vereint sind. Die Darstellung des Ablaufs der Endzeitereignisse zeigt, wie die Gestalt Jesu darin mit zentraler Funktion eingeordnet werden konnte. Die Grundlage bildet das apokalyptische Denkmodell der Äonenwende, des Neuanfangs Gottes mit seiner Schöpfung. Den Ausgangspunkt der Endzeitereignisse bildet dabei die Erweckung Jesu von den Toten (15,20). Daraus entsteht seine wesentliche soteriologische Funktion: Als „Erstling“ verkörpert er die begründete Hoffnung für alle Anhänger Christi auf ein Leben über den Tod hinaus (15,20–23). Das Modell, mit dem Jesu Endzeitherrschaft gedacht wird, ist das des „Messias“: Als Erhöhter fungiert er als endzeitlicher Stellvertreter und Bevollmächtigter Gottes, der die Aufrichtung der endzeitlichen Herrschaft Gottes verwirklicht – hier zeitlich begrenzt, denn schließlich übergibt er die vollendete Herrschaft Gott allein (15,24–28). Das MessiasModell bleibt also theozentrisch fundiert und lässt die Christologie als eine Funktion des Gottesbildes verstehbar werden. Bemerkenswert ist das Zitat aus Ps 110,1 in 1Kor 15,25. Ps 110,1 proklamiert die Einsetzung des „Herrn“ (gemeint ist der König Israels) zur Rechten Gottes und die Zusicherung des göttlichen Beistands gegen seine Feinde. Die Inthronisation des Königs als Stellvertreter Gottes auf Erden wird nun für den erhöhten Christus in Anspruch genommen, womit – unter der Prämisse einer christologischen Schrift-Hermeneutik – die endzeitliche Funktion Christi aus der Schrift legitimiert wird. Als solcher Herrscher wird der Christus die Vollendung der Endereignisse nach der von Gott festgesetzten Ordnung durchführen.

Die Herrschaft des Erhöhten

Äonenwende Ablauf der Endereignisse

Inthronisation

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Gegenwart Christi

Die Überzeugung von der endzeitlichen Herrschaft des Christus bildete im Denken der ersten Christen eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit, von der Gegenwart Christi im Leben der Gemeinden auszugehen und von ihm her Gottes Zuwendung, Rettung und Erlösung zu erwarten. Erst die himmlische Vollmacht Christi gibt ihm die Möglichkeit, zugunsten der Seinen in der Welt zu wirken und bei ihnen gegenwärtig zu sein. 3.2 Paulus Bei den Briefen des Paulus handelt es sich um Gelegenheitsschriften, die mit einem bestimmten Anliegen an einzelne Gemeinden gerichtet sind. Eine systematische oder spekulative Christologie entfaltet Paulus darin nirgends. Charakteristisch für ihn ist, dass er die traditionellen christologischen Überzeugungen auf bestimmte Problemhorizonte anwendet. Im Zentrum stehen dabei Tod und Erweckung Jesu als die zentralen Heilsereignisse, während auf Erinnerungen an den irdischen Jesus nur sehr selten Bezug genommen wird (1Thess 4,15; 1Kor 7,10; 9,14; 11,23). Überblickt man die sieben echten Briefe des Paulus, erkennt man in ihnen eine grundlegende Einheit in der Christus-Deutung. 3.2.1 Sterben und Erweckung Christi als Zuwendung Gottes

Tod und Erweckung als Zuwendung Gottes

Die Bedeutung Christi erschließt sich für Paulus  – in Übereinstimmung mit der urchristlichen Tradition –, indem er vom Sterben und der Erweckung Jesu als christologischen Zentralereignissen aus denkt. Für Paulus kulminiert darin Gottes heilvolle Zuwendung zu den Menschen: Im Sterben Jesu wird sichtbar, dass Gott das Heil (Glück, Wohlergehen) der Menschen will, weil er die Menschen liebt. In der Erweckung Jesu zeigt Gott, dass er die Verwirklichung dieses Heilswillens bereits begonnen hat. Das bedeutet auch, dass nur im Licht der Erweckung und Erhöhung durch Gott Jesu Sterben als Heilstod verstanden werden kann. Wesentlich ist für Paulus die persönliche Anerkennung des Christus – darauf liegt in seinen Briefen das Gewicht, nicht auf theoretischen Klärungen christologischer Fragen. Die Probleme in den Gemeinden, mit denen sich Paulus auseinandersetzt, sind offenbar nicht oder nicht vorrangig christologischer Natur, so dass Paulus und die Gemeinden im Wesentlichen auf einem

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

gemeinsamen christologischen Fundament stehen. Dass die Beziehung zu Christus das Ziel ist, wird in der Verankerung christologischer Formeln im Bekenntnis deutlich; das Bekenntnis aktualisiert die Beziehung (so in Röm 10,9; 1Kor 12,3; Phil 2,10f.).

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ChristusBeziehung

3.2.2 Der Tod Jesu als Heilsereignis Paulus deutet den Tod Jesu mit Hilfe verschiedener Metaphern und Modelle, die er aus seiner kulturellen Welt aufgreift. Dabei verbindet sich die christologische Vorstellung der Repräsentanz Gottes durch Christus mit einem starken soteriologischen Impetus. Theologisch ist entscheidend, dass diese Deutungen nicht auf ein anthropologisches Defizit antworten (die Menschheit muss erlöst werden, daher musste Jesus sterben), sondern auf die Frage, wie sich Jesu Tod als Ereignis des Heilswillens Gottes verstehen lässt (dazu Wolter, Paulus 98). Zwei politische Metaphern: Loskauf und Versöhnung. Die Deutung des Todes Jesu als „Kaufen“ (agorazein 1Kor 6,20; 7,23) bzw. „Loskaufen“ (exagorazein Gal 3,13; 4,5; apolytrōsis 1Kor 1,30; Röm 3,24) greift bekannte römische Sozialformen auf: den Kauf von Sklaven bzw. den Freikauf von Kriegsgefangenen, die von ihren siegreichen Gegnern in aller Regel versklavt wurden. Diese Metaphorik vermittelt die rettende und befreiende Wirkung des Todes Jesu für die Menschen. Käufer ist im Bild Gott selbst, der Menschen unter seine Heilsherrschaft stellt und sie so aus der Gewalt der gottfeindlichen Mächte befreit. Gott bezahlt den höchsten Kaufpreis zugunsten der Menschen  – im Tod seines einzigartigen Repräsentanten Jesus. Das betont den Wert jedes einzelnen Gekauften, aber auch seine ethische Verpflichtung, sich seinem Herrn gemäß zu verhalten. Die Metapher der Versöhnung (katallagē) spielt auf Friedensschlüsse oder Friedensverträge zwischen politischen Parteien oder Völkern an, so in 2Kor 5,19: „Denn Gott war im Christus, als er die Welt mit sich selbst versöhnte, indem er ihnen ihre Übertretungen nicht anrechnete und hinstellte unter uns das Wort der Versöhnung“ (vgl. Röm 5,10f.; 11,15). Gott ist Subjekt des Handelns im Tod Christi, denn Christus erscheint als sein Repräsentant. Die Versöhnung bedeutet eine Neuwerdung des Menschen, eine „neue Schöpfung“ (2Kor 5,17) und damit die Erfahrung einer neuen, versöhnten Beziehung zu Gott. Ein hellenistisches Modell: Sterben für – aus Liebe. An etlichen Stellen spricht Paulus davon, dass Christus „für (hyper) uns ge-

Metaphern und Modelle

Loskauf

Versöhnung

Sterben für andere – aus Liebe

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

storben“ ist (1Thess 5,10; 2Kor 5,14f.; Röm 5,6.8; 14,15; vgl. 1Kor 11,24; Röm 8,11; 14,15) bzw. „sich für mich hingegeben hat“ (Gal 2,20; vgl. Röm 8,32). Die hellenistische Kultur kennt die Vorstellung, dass Menschen für andere Menschen (oder für die Stadt, das Vaterland) sterben, um Tod und Unheil von ihnen abzuwenden (Belege bei Wolter, Paulus 104; Schröter, Sterben 272– 274.282f.). Eine besondere Motivation dafür greift der wichtige Text Röm 5,5–8 auf: Zitat Röm 5,5–8

Sterben für die Freunde

Gottes Liebe zu uns

Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den heiligen Geist, der uns gegeben ist. Denn Christus starb, als wir noch schwach waren, noch zu der Zeit für (uns) Gottlose. Denn kaum wird einer für einen Gerechten sterben; für das Gute wagt vielleicht auch einer zu sterben. Gott stellt aber seine Liebe zu uns dar, weil Christus für uns starb, als wir noch Sünder waren.

Das Motiv der „Liebe“ (vgl. auch in Gal 2,20; 2Kor 5,14) führt uns zu einem hellenistischen Denkmodell: die Vorstellung des Sterbens für die Freunde. Das klassische Ideal dafür stellt die Gestalt der Alkestis aus dem gleichnamigen Drama des Euripides dar, die aus Liebe bereit ist, für ihren Gatten Admetos zu sterben, dessen Tod die Schicksalsgöttinnen verlangt hatten. Doch kein Verwandter oder Freund war bereit, für Admetos zu sterben, so dass die einzigartige Tat der Alkestis die Größe ihrer Liebe zeigt. Im antiken Freundschaftsideal gilt es dann als höchster Ausdruck der Liebe, sein Leben für die Freunde zu lassen (Epikur, Epiktet, Cicero, Seneca; zum Hintergrund Schröter, Sterben 277.284; Wolter, Paulus 104). Für Paulus wird in Jesu Sterben – entsprechend dem Gedanken der Repräsentanz  – Gottes höchste Liebe für uns sichtbar. Und Gott überbietet das antike Freundschaftsideal sogar noch, indem Christus nicht für Freunde und Gerechte, sondern für Gottlose und Sünder sein Leben gibt. Eine größere Liebe ist unvorstellbar. Dieses vorbehaltlose Geliebtsein von Gott macht die christliche Würde und Identität der Glaubenden aus. Dies ist keine kultische Kategorie und hat nichts mit kultischer Sühne zu tun, sondern ist theozentrisch im Sinne der direkten Zuwendung Gottes gedacht: Gott nimmt aus engagierter Liebe die persönliche Beziehung zu den Menschen auf, indem er von seiner

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

Seite aus alle Hindernisse wegräumt, die dieser Beziehung im Weg stehen könnten. Genau dieses Wegräumen des Trennenden ist gemeint, wenn Christus „für unsere Sünden“ gestorben ist (1Kor 15,3) bzw. sich hingegeben hat (Gal 1,4; vgl. Röm 4,25). Christi Sterben „für“ die Sünden befreit von diesen und wendet das Unheil der Sünde(n) ab (vgl. 2Kor 5,21; dazu 3.2.3). Das betrifft nicht nur einzelne Menschen in ihrer Qualität als Sünder, sondern hat umfassendere Bedeutung, indem der „alte Äon“, die Gegenwart als Unheilszeit an sich, den Zugriff auf die Geretteten verliert (Gal 1,4).

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„für unsere Sünden“

Definition

Sühne Der Begriff „Sühne“ kommt in den Quellen nicht vor, sondern gehört zur theologischen Beschreibungssprache. Er stammt aus dem germanischen Rechtswesen, wo er eine „Entstörung“ eines belasteten sozialen Verhältnisses bezeichnete. In der Theologie wird er aber häufig mit der Konnotation kultischer Opferhandlungen, die „Sühne“ (als Wiedergutmachung) vor Gott bewirken, verwendet. Letztlich bleibt der Begriff unscharf und eignet sich nicht, um die Sprache des Paulus (und der ersten Christen) adäquat wiederzugeben (vgl. Wolter, Paulus 102f.; Schröter, Sühne). In der Forschung wird häufig der Begriff hilastērion in Röm 3,25 als „Sühneort“ verstanden und mit dem kultischen Ritus des Versöhnungstages nach Lev 16,11–16 LXX verbunden. Ein am hilastērion, der Deckplatte auf der Bundeslade im ersten Tempel (586 v. Chr. zerstört) vollzogener Blutritus wirkt dabei die kultische Reinigung des Priesters, seines Hauses und ganz Israels. Daran knüpft die typologische Deutung von Röm 3,25 an: Jesus tritt an die Stelle des „Sühneortes“ bzw. Sühnerituals und leistet so in seinem Tod ein für allemal Sühne für die Vergehen der Menschen (vgl. Hahn, Theologie I 213; Schnelle, Theologie 228f.). Doch lässt sich der Begriff auch anders verstehen: In einigen antiken Inschriften und Texten wird hilastērion für bestimmte „Weihegeschenke“ verwendet. Weihegeschenke gehören zu der verbreiteten antiken Praxis, einer Gottheit ein Gelübde (votum) in einem drängenden Anliegen wie Krankheit, Kinderwunsch oder einer gefahrvollen Reise abzulegen, das bei glücklichem Ausgang mit der versprochenen „Votivgabe“, eben dem Weihegeschenk, einzulösen ist. Der Begriff hilastērion enthält dabei den Aspekt der Versöhnung, so dass man

„Sühne“?

hilasteˉ rion

Sühneort?

Versöhnendes Weihegeschenk?

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

von „Versöhnungsgeschenk“ oder „versöhnendem Weihegeschenk“ sprechen kann. Nimmt man diese Alltagspraxis als Metaphernbereich, bedeutet Röm 3,25 eine bezeichnende Umkehrung: Gott stellt im Tod Jesu ein Versöhnungsgeschenk für die Menschen hin. Gott nimmt die Menschen in ihren persönlichen Erfahrungen und Nöten geschenkweise, d.h. ohne Voraussetzungen zu fordern, an und versöhnt sie trotz aller menschlichen Unzulänglichkeit mit sich (Schreiber, Weihegeschenk; ders., Anfänge 83–87). 3.2.3 Der Tod Jesu als Entmachtung der Sünde

Befreiung aus der Macht der Sünde

Überwindung der Sündenmacht

Adam-ChristusTypologie

Dass mit Jesu Tod nicht nur einzelne menschliche Verfehlungen getilgt sind, sondern die Macht der Sünde bereits endzeitlich gebrochen ist, hält Gal 1,4 fest: Christus, „der sich selbst für unsere Sünden gegeben hat, auf dass er uns herausreiße aus dem gegenwärtigen bösen Äon, nach dem Willen unseres Gottes und Vaters“. Der Heilstod Christi besitzt eschatologische Bedeutung, so dass Paulus ihn mit der Rettung vor dem „Zorn“ Gottes (seinem Gericht) verbinden kann (1Thess 5,9f.; Röm 5,9). Der liebende Heilswille Gottes, der sich im Sterben Jesu zeigt, bedeutet die prinzipielle Befreiung aus der Macht der Sünde. Das ist insofern universal gedacht, als Gottes Heilswille sowohl Juden als auch die Heidenvölker umfasst, sofern sie – und das ist die Einschränkung  – die Befreiung annehmen („glauben“). Jesu Sterben für die Seinen eröffnet die neue, eschatologische Heilszeit, deren Angebot allen Menschen immer neu gilt (vgl. den „neuen Bund“ in Jesu Blut in 1Kor 11,25, der auf den eschatologischen neuen Bund aus Jer 31,31 anspielt). Diese endzeitlich-übergreifende Bedeutung profiliert 2Kor 5,14–21, wo am Ende die Überwindung der Sünde ins Spiel kommt: Gott hat „den, der Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gerechtigkeit Gottes werden in ihm“ (5,21). Der Text arbeitet mit einem starken Kontrast: Christus war wegen seiner Gottes-Beziehung an sich nicht von der Macht der Sünde betroffen, doch er stellte sich im Auftrag Gottes „für uns“ unter die Sündenmacht – so dass Gott gerade in ihm die Sünde an ihrem Wirkort selbst überwindet, von ihr befreit (vgl. Gal 3,13f.). Bezugspunkt des „zur Sünde Machens“ ist im Kontext (2Kor 5,14f.) der Kreuzestod Jesu, in dem Gott die Sünde für die Seinen wirkungslos macht. Auch in der sogenannten Adam-Christus-Typologie in Röm 5,12–21 wird die grundsätzlich universale Bedeutung des Todes Jesu sichtbar. Wie Adam, der erste Mensch, als Urbild des

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

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Menschen die Sünde in die Welt brachte und seither alle Menschen davon betroffen sind, so befreite Christus ebenfalls für alle Menschen wirksam von der Macht der Sünde. Für die ersten Gemeinden als politisch ohnmächtige und sozial randständige Minderheiten in der dominierenden römischen Kultur wird das Bewusstsein, jetzt schon exklusiv an Gottes endgültiger Heilszeit teilzuhaben und als neue Existenz zu leben, grundlegendes Merkmal einer eigenen, unverwechselbaren Identität gewesen sein. 3.2.4 Das Kreuz als neuer Maßstab Wenn Paulus an einigen Stellen vom Kreuz Jesu spricht, stellt er den Tod Jesu in einen speziellen Fokus. In der kulturellen Semantik der römischen Antike steht das Kreuz für einen unehrenhaften, schändlichen Tod: die „erbärmlichste“ (Josephus, Bellum Iudaicum 7,203) bzw. „grausamste und abstoßendste“ (Cicero, In Verrem 2,5,165) Todesart, die vor allem als Strafe für Sklaven in den Provinzen, die als Aufrührer oder Gewaltverbrecher auffällig wurden, verhängt wurde. Nach Dtn 21,23 ist ein „Aufgehängter von Gott verflucht“. Paulus wendet das Kreuz auf die Opposition der Gemeinden zu den Leitwerten der gesellschaftlichen Mehrheit und damit auf die Bestimmung ihrer Identität an. In 1Kor 1,10–2,5 stellt Paulus das „Wort vom Kreuz“ (1,18) gegen die für die Einheit der korinthischen Gemeinde bedrohlichen Spaltungen in konkurrierende Gruppen, von denen einzelne ihre geistige Überlegenheit gegenüber anderen ausspielen. Das Kreuz Christi durchbricht dieses Denken; es ist den Juden ein „Skandalon“ und den Heiden eine „Torheit“, aus der Perspektive der Glaubenden aber bedeutet es Rettung (1,21.23f.; vgl. Gal 5,11). Daher kann Paulus am Kreuz aufweisen, dass Gott gesellschaftliche Maßstäbe wie den hohen Stellenwert von Bildung und Redekunst („Weisheit“) und, damit verbunden, das Streben nach Ansehen und Statusgewinn radikal durchbricht. Darum muss sich das Gekreuzigtsein des Christus, das Paulus betont (1Kor 1,23; 2,2; Gal 3,1), in der konkreten Gestalt der Gemeinde spiegeln, in der gerade das in den Augen der Welt „Geringe“ und „Verachtete“ von Gott erwählt ist (1Kor 1,28). Gal 6,12–16 nimmt das Kreuz zum „Maßstab“ (kanōn, 6,16), um den an der Beschneidung als Identitätsmerkmal festgemachten Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden zu relativieren. Eine grundlegende Beschreibung christlicher Existenz liefert die metaphorische Vorstellung des „Mitgekreuzigtseins“ mit

Kreuz

Das Kreuz durchbricht gesellschaftliche Maßstäbe

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus „Mitgekreuzigtsein“

Christus (Röm 6,6; Gal 2,19). Im Röm ist es die Taufe, die die rituell erfahrbare Teilhabe der Getauften an Christi Tod und Erweckung ermöglicht, was eine Lebenswende bezeichnet: Die Glaubenden existieren nun in der „Neuheit des Lebens“ (Röm 6,3–6), d.h. sie sind von der Sündenmacht frei geworden und leben neu als befreite Existenz (6,6–11). 3.2.5 Erweckung, Erhöhung und Kommen des Christus

Erweckung als Basis

Erhöhung zur Rechten Gottes

Wiederkunft als Vollendung der Herrschaft Gottes

Erweckung: Die Erweckung Jesu vom Tod durch Gott bildet die Basis aller christologischen Aussagen des Paulus (z.B. 1Thess 1,10; 4,14; 1Kor 15,3–5.12; 2Kor 4,14; Röm 4,24; 8,11). Sie ist Voraussetzung des Glaubens (1Kor 15,14.17) und stets theozentrisch verstanden. Die Erweckung impliziert die göttliche Rehabilitation des Gekreuzigten und seine bleibende eschatologische Bedeutung. Mit ihm als „letztem Adam“ hat Gottes Endzeit und damit die Rettung der Seinen, die in ihm „alle lebendig gemacht werden“, begonnen (1Kor 15,21f.45). In der Erweckung Christi ist die Hoffnung der Christen auf persönliche Auferstehung verbürgt, wie die Metapher vom „Erstling der Entschlafenen“ in 1Kor 15,20 prägnant ausdrückt. Der Erweckte besitzt Macht über den Tod (Röm 14,9). Erhöhung: Zur Erweckung Jesu gehört seine Einsetzung als himmlischer Herrscher der Endzeit, wie 1Kor 15,20–28 entfaltet (siehe 3.1; vgl. Röm 1,3f.). Röm 8,34 interpretiert die Erhöhung Christi als Inthronisation nach Ps 110,1 („zur Rechten“) und verbindet sie mit seiner Heilsfunktion als Fürsprecher bei Gott: „Christus ist der Gestorbene, vielmehr jedoch der Erweckte, der auch zur Rechten Gottes ist, der auch für uns eintritt“. Die himmlische Machtposition bildet die Voraussetzung für die bleibende Gegenwart und das heilvolle Wirken Christi im Leben der Seinen. Wiederkunft: Die begonnene Heilsherrschaft Gottes wird in der Zukunft ihre Vollendung finden. In 1Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23; 1Kor 15,23 ist es die Erwartung der Parusie Christi, seiner Ankunft vom Himmel her, die die Verwirklichung der Herrschaft Gottes über den ganzen Kosmos einleitet; in 1Thess 5,2; 1Kor 1,8; 5,5; 2Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,16 spricht Paulus vom „Tag des Herrn“ oder „Tag Christi“. Nach Jesu Ankunft werden die Seinen „allezeit mit dem Herrn sein“ (1Thess 4,17; vgl. 5,10; Röm 14,8f.). Diese Erwartung prägt das Leben der Gemeinde bereits in der Gegenwart: Weil die endzeitliche Wende unmittelbar be-

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

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vorsteht, erscheint die Welt in neuem, endzeitlichem Licht. In diesem Licht feiert die Gemeinde das Herrenmahl, „bis er kommt“ (1Kor 11,26). Zeitlich erwartete Paulus die Ankunft Jesu offenbar noch zu Lebzeiten seiner Generation (1Thess 4,15.17; 1Kor 15,51; 16,22; Phil 4,5; Röm 13,11). 3.2.6 Sendung und Präexistenz – die Herkunft Jesu von Gott Sendung: Der Gedanke der Sendung betont die göttliche Herkunft und Funktion des Sohnes, wie Röm 8,3 zeigt: „Gott, der seinen Sohn sandte im Gleichsein des Fleisches der Sünde und wegen der Sünde, verurteilte die Sünde im Fleisch“. Gott selbst ist in der Sendung seines Sohnes in der Lebenswelt der Menschen präsent und entmachtet gleichsam vor Ort die Macht der Sünde. Nach Gal 4,4f. stellte Gott Jesus durch die Sendung unter die Bedingungen menschlicher (und speziell jüdischer) Existenz: „Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, geboren unter dem Gesetz“ (4,4). Ziel ist der Freikauf derer, die „unter dem Gesetz (d.h. unter dem Urteil des Gesetzes) sind“ (4,5). Damit bedeutet die Sendung Jesu durch Gott, dass Jesus inmitten der menschlichen Existenz die Gegenwart Gottes repräsentiert und Gott in ihm inmitten der Welt Heil wirkt. Präexistenz und Sündlosigkeit Jesu werden dabei nicht thematisiert. Präexistenz: Präexistenz bedeutet ein Sein Jesu bei Gott vor seinem menschlichen Leben; sie verdeutlicht die universale endzeitliche Bedeutung Christi, die in seinem göttlichen Ursprung gründet. Klar zum Ausdruck kommt der Präexistenz-Gedanke bei Paulus nur im Christus-Hymnus Phil 2,6–11, der drei Stufen des Christus-Geschehens beschreibt: 1. himmlische Existenz bei Gott (2,6); 2. Entäußerung und Erniedrigung ins Menschsein, sogar bis zum Tod am Kreuz (2,7f.); 3. Erhöhung durch Gott und Übertragung der endzeitlichen Herrschaft (2,9–11). Im Kontext von Phil 2,2–4 wird der Verzicht Christi auf seinen höchsten, himmlischen Status zum Vorbild für das Verhalten innerhalb der Gemeinde (vorausgesetzt ist Jesu Präexistenz auch in 1Kor 8,6; 10,4; 2Kor 8,9).

Sendung

Präexistenz

100

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

3.2.7 Divine Christology? Definition

Divine Christologie

Gottgleichheit?

Kritik

In der Exegese findet derzeit eine Diskussion um eine „divine Christology“, um die „Gottheit“ Jesu bei Paulus statt (Überblick bei Tilling, Christology 11–62; Schreiber, Anfänge 99–101). Genauer geht es um die Frage, ob Jesus auf der „göttlichen Seite“ der im monotheistischen Denken vorausgesetzten Trennungslinie steht, die Gott und Schöpfung trennt (so Tilling, Christology 1f.244). Besagt der Hymnus Phil 2,6–11, dass Christus „Gott gleichgestellt war“ (so Hahn, Theologie I 207)? Verlieh Gott Christus „den Status der Gottgleichheit“ (Schnelle, Theologie 200)? Als wichtiger Exponent einer „divine Christology“ geht Larry Hurtado von einer liturgischen Verehrung Jesu in den Gemeinden als entscheidendem Kriterium aus (Hurtado, Lord 3.47.137f.), wobei er sogar von „cultic worship“ spricht (ebd. 152). Diese Verehrung lasse an einen „binitarischen“ Monotheismus denken, da sie Christus quasi als „göttlich“ versteht (z.B. ebd. 31f.). Entsprechend deute auch die Bezeichnung Jesu als „Sohn Gottes“ auf Jesu transzendenten, göttlichen Status (ebd. 101–108.358–363). Andrew Chester sieht eine „high Christology“ bereits früh ausgeprägt (Chester, Christology). Nach Chris Tilling drücke Paulus bewusst die Christus-Beziehung „in terms of Jewish relational monotheism“ aus, also in der Sprache, die für die Beziehung zwischen JHWH und Israel verwendet wird (Christology 72f.), sodass man von „divine Christology expressed as relationship“ sprechen könne (244). Andere Forscher bleiben kritisch (Überblick bei Peppard, Son of God 21– 26). „Sohn Gottes“ lässt sich z.B. gut aus der zeitgeschichtlichen Verwendung als Herrscher-Titel verstehen und setzt dann weder Präexistenz noch Inkarnation voraus (Dunn, Christology 19–21).

Entscheidend ist die Verwurzelung christologischer Aussagen bei Paulus im jüdischen Gottesbild seiner Zeit, in dem nur einer Gott ist, JHWH, zu dem freilich die ganze „himmlische Welt“ gehört. Tendenzen einer „Vergöttlichung“ von Menschen (z.B. des römischen Kaisers), wie sie in der hellenistisch-römischen Kultur durchaus geläufig waren, wurden daher gerade nicht auf

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

Jesus übertragen. Paulus denkt das Verhältnis Christi zu Gott in den frühjüdischen Modellen, die hinter den Titeln Christus, Kyrios und Sohn Gottes stehen. Zentral sind Jesu einmalige Nähe zu Gott („Sohn Gottes“), seine endzeitliche Herrschaft („Herr“) und seine Funktion einzigartiger Repräsentanz Gottes („Christus“; vgl. Christus als „Bild Gottes“ in 2Kor 4,4). Der Gedanke der Repräsentanz erklärt gut die Übertragung göttlicher Eigenschaften und Sprachmuster auf Jesus, ohne dass dieser selbst als „göttlich“ (d.h. im Wesen Gott) gedacht werden muss. Eine Gleichstellung oder gar Identifizierung Jesu mit Gott ist nicht im Blick. Aufschlussreich ist 1Kor 8,6, wo Jesus als „Herr“ in größtmögliche Nähe zu Gott gestellt wird: „Aber für uns ist ein Gott, der Vater, aus dem das alles und wir auf ihn hin, und ein Herr, Jesus Christus, durch den das alles und wir durch ihn“. Für Gott und Jesus werden hier unterschiedliche Präpositionen („aus“/ „auf … hin“ und „durch“) zur Beschreibung verwendet. Das „durch“ zeigt den Herrn Jesus in der Rolle des Mittlers bei Schöpfung und Erlösung (frühjüdisches Vorbild: die Weisheit; siehe 3.7.1), der aber selbst ganz vom Wirken Gottes umgriffen ist, das vor der Schöpfung beginnt und in dem die eschatologische Zukunft ihr letztes Ziel findet. Israels Monotheismus bleibt gewährleistet: Christus fungiert als Gottes einzigartiger Repräsentant und Mittler. Die theozentrische Rückbindung des Christus an Gott prägt auch die Schilderung der Endereignisse in 1Kor 15,23–28. Am Ende, wenn die eschatologische Funktion des Christus vollständig erfüllt ist, d.h. wenn Gott durch Christus seine Herrschaft gegen alle widergöttlichen Mächte endgültig aufgerichtet hat, wird Christus alle Herrschaft Gott zurückgeben und sich ihm unterwerfen (15,24.28). Die Herrschaft Christi, die mit Ostern ihren Anfang nahm, ist also zeitlich befristet und findet ihr Ende mit der Vollendung der Gottesherrschaft (dazu Wolter, Paulus 225f.). Der Christus-Hymnus von Phil 2,6–11 beginnt in 2,6 mit der Aussage über Christus: „der in morphē theou war“. Das Lexem morphē bedeutet die „Gestalt“ als sichtbaren Ausdruck der Existenz; Status, Identität, Existenzweise drücken sich in der Gestalt aus. Dabei hat die Auslegung die Antithetik zu 2,7 („Gestalt eines Sklaven“) ebenso zu beachten wie den metaphorischen Charakter der Aussagen (Jesus war kein Sklave). Es geht dem Text also um die Sichtbarkeit zweier diametral entgegengesetzter Existenzweisen des Christus. Der präexistente Christus war dem-

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Frühjüdische Modelle Repräsentanz

Der Herr als Mittler

Gott als Herrscher

„In der Gestalt (Sphäre) Gottes“

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

nach in der Gestalt eines Wesens, das ganz der göttlichen Sphäre zugehört, an der göttlichen Wirklichkeit teilhat, Gott unmittelbar nahe ist (im frühjüdischen Denken vergleichbar den Engeln oder der personifizierten Weisheit). Mit dem einen Gott Israels identisch ist er dabei nicht. Auch die Erhöhung setzt Christus nicht mit Gott gleich, vielmehr bleibt Gott der Handelnde, der Jesus erhöht und ihm den höchsten Namen verleiht (2,9). In der Huldigung Gottes durch den ganzen Kosmos „im Namen Jesu“ und im Bekenntnis zu Jesus als „Herr Jesus Christus“ vollzieht sich letztlich die Verehrung Gottes, die das letzte Ziel darstellt: „zur Herrlichkeit Gottes, des Vaters“ (2,10f.). 3.3 Die deuteropaulinischen Briefe

Kolosserbrief Kosmische Dimension

Das Haupt der Gemeinde

Epheserbrief

Die deuteropaulinischen Briefe (Kol, Eph, 2Thess, 1/2Tim, Tit) greifen vielfach christologische Modelle und Motive des Paulus auf, setzen aber auch eigene Akzente. Hier können nur einige davon herausgegriffen werden. (1) Eine Besonderheit im christologischen Denken des Kol (verfasst um 70 n.  Chr.) tritt im Hymnus 1,15–20 hervor: Der Brief stellt die kosmische Dimension ins Zentrum (vgl. Schnelle, Theologie 506; Hahn, Theologie I 345). Der Hymnus führt zunächst breit Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft des „Sohnes“ aus (1,15–17). Seine Schöpfungsmittlerschaft umgreift alle kosmischen und politischen Herrschaften („Throne, Herrschaften, Mächte, Gewalten“, 1,16), doch seine Herrschaft konzentriert sich auf die Gemeinde, deren „Haupt“ Christus bildet (1,18)   – anders als bei Paulus, wo Christus mit dem Leib der Gemeinde als Ganzem verbunden, nicht als Haupt exponiert ist (1Kor 12,12; Röm 12,4f.). Die Herrschaft Christi über die Gemeinde steht damit indirekt in Konkurrenz zur Herrschaft Roms bzw. des Kaisers als Haupt des Erdkreises (so bei Ovid, Tacitus, Seneca). Auch die Versöhnung Gottes in Christus zeigt kosmische Dimensionen, denn der im Kreuz geschenkte Friede umgreift Erde und Himmel (1,20). Darin wird ein konkurrierendes Bild zur pax Romana, dem umfassenden Frieden im römischen Imperium, hörbar. Christus steht über allen konkurrierenden Weltbildern der Antike, sei es in Politik, Philosophie oder „Volksfrömmigkeit“, die seinem Einfluss gegenüber bedeutungslos werden – was wichtig für die Identität der ersten Christen wird. (2) Im Eph (etwa 80–90 n. Chr.) dominiert wie im Kol, seiner literarischen Vorlage, der Gedanke der kosmischen Herrschaft

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

Christi, der, von den Toten erweckt, zur Rechten Gottes sitzt und über die gesamte Schöpfung und jede Macht herrscht (Eph 1,20– 23; vgl. 5,5). Die Eigenart des Eph besteht in der gezielten Anwendung dieser Macht-Konzeption auf das Gemeindebild. Die Gemeinde wird im Eph bereits als über die lokale Gruppe hinausreichende Mehrzahl von Versammlungen vor Ort verstanden; sie partizipiert an Gottes bzw. Christi Herrschaft, d.h. Gott wendet seine Macht fokussiert der Gemeinde zu, die er bereits vor der Schöpfung erwählt hat (1,4f.). Grundlegend ist – wie im Kol – die Leib-HauptMetaphorik: Gott gab Christus „als Haupt mehr als allem der Gemeinde, die sein Leib ist, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“ (1,22f.; vgl. 4,15f.; 5,23). Entscheidend ist dabei der Zusammenhang von (a) der überragenden kosmischen Macht Christi (Gott „legte alles unter seine Füße“, 1,22) mit (b) der Gemeinde als exklusiver Partizipantin (Haupt – Leib) – speziell die Gemeinde ist der lebendige Ort der Fülle Christi in der Welt. In Christus ist sie als lebendiger, im Wachsen begriffener Bau errichtet (2,20–22). Darin erfährt die Gemeinde in ihrem Selbstverständnis höchste Aufwertung – und weiß um ihre Bedeutung als überbietende Alternative zum römischen Kaiser und Imperium. Im Sinne seines ekklesiologischen Akzents betont Eph die fortdauernde Beziehung Christi zu seiner Gemeinde: Er wohnt in den Herzen und im Bewusstsein der Glaubenden (3,17) und erleuchtet sie (5,14); sie empfangen Rettung und Anteil am Evangelium „in ihm“ (z.B. 1,7.11.13; 2,6.10; 3,6), sie sind Glieder seines Leibes, der Gemeinde (5,30), die durch ihn wächst (4,15f.) und die er nährt und umsorgt (5,29); er ist „Retter des Leibes“ (5,23). Wie Paulus deutet auch Eph den Tod Jesu mit dem Motiv der Liebe, ergänzt es aber durch die Metapher des kultischen Opfers: „wie auch der Christus uns liebte und sich hingab für uns als Darbringung und Opfer für Gott zum Duft des Wohlgeruchs“ (5,2). Jesu Tod war kein kultisches Opfer, geschieht aber  – wie der „Duft des Wohlgeruchs“ eines Opfers – in Gottes Nähe und unter seinem Wohlgefallen (Schreiber, Anfänge 113f.). (3) 2Thess (nach 70 n. Chr.) verwendet bevorzugt den Titel „Herr“ für Jesus und hebt entsprechend seine Funktion als endzeitlicher Herrscher in Stellvertretung Gottes hervor. Bei seiner Offenbarung am Ende der Zeit wird der Herr Vergeltung üben an den Widersachern und Feinden des Evangeliums und der Gemeinden (2Thess 1,7–10); den „Gesetzlosen“, der als großer Widersacher Gottes auftritt (dahinter verbirgt sich wohl der politi-

103

Das Haupt der Gemeinde

Gemeinde als Ort der Fülle Christi

ChristusBeziehung

OpferMetaphorik

2. Thessalonicherbrief

Der stärkere endzeitliche Herr

104

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Pastoralbriefe

Retter

Die Erscheinung Jesu

Soteriologische Intention

sche Herrscher, der Kaiser), wird er vernichten (2,8). Der Herr wird sich letztlich als stärker erweisen als die verführerische Macht der gottfernen (römischen) Kultur (2,3–12). Die Erwartung dieses Herrn bestimmt und stärkt das Selbstverständnis der Gemeinden. Die „Erlangung der Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus“, also die vollendete Christus-Gemeinschaft, verheißt 2,14 als Heilsziel. Doch schon jetzt sind die Gemeinden „vom Herrn geliebte Geschwister“ (2,13); das Leben in der Beziehung zu Christus bestimmt ihre Existenz. In ihnen wird „der Name unseres Herrn Jesus verherrlicht“ (1,12). Der Herr handelt in Gottes endzeitlicher Vollmacht, tritt aber nicht auf die Stufe Gottes (so ist 1,12 zu übersetzen: „durch die Gnade unseres Gottes und des Herrn Jesus Christus“). (4) Die Pastoralbriefe (1/2Tim, Tit; um 100 n. Chr.) entwickeln keine ausgeprägte eigenständige Christologie, zeigen aber in der Verwendung von zwei christologischen Zentralbegriffen Profil: Retter (sōtēr) und Erscheinung (epiphaneia). Die Bezeichnung „Retter“ (2Tim 1,10; Tit 1,4; 2,13; 3,6) hebt die soteriologische Bedeutung Christi hervor. Da sonst in den Past Gott selbst als „Retter“ tituliert wird, tritt Jesus als Retter in eine wesentliche Funktion Gottes ein: Gerade er vollzieht den eschatologischen Heilswillen Gottes. Die „Erscheinung“ Jesu bezieht sich sowohl auf sein irdisches Leben (2Tim 1,10; 4,8; Tit 1,3; 2,11) als auch auf seine endzeitliche Wiederkunft (1Tim 6,14; 2Tim 4,1; Tit 2,13); die Funktion des Gerichts ist darin eingeschlossen (2Tim 4,1.8). Die Erscheinung meint das gesamte rettende Eingreifen Gottes in Christus, das nicht auf ein einzelnes Ereignis fokussiert wird (Schnelle, Theologie 546; Läger, Christologie 119). Hinter den Begriffen „Retter“ und „Erscheinung“ steht eine christologische Denkstruktur, die drei Aspekte in einen Zusammenhang bringt: den vorzeitigen Heilswillen Gottes, sein Rettungshandeln in Christus und die eschatologische Hoffnung (2Tim 1,9f.; Tit 2,11–14; 3,4–7). Das ausgeprägte soteriologische Interesse der Christologie in den Past wird in 1Tim 2,5f. deutlich. Es handelt sich um ein Bekenntnis in geprägter, feierlicher Sprache (das an 1Kor 8,6 erinnert):

Zitat

Denn einer ist Gott, einer auch Mittler zwischen Gott und Menschen, der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gab als Lösegeld für alle.

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

In die theozentrische Grundstruktur dieses Bekenntnisses tritt Christus hier (mit einem gegenüber Paulus neuen Begriff; vgl. noch Hebr 8,6; 9,15; 12,24) als „Mittler“ zu den Menschen ein. Dazu war Jesus selbst Mensch, sein ganzes Leben und Auftreten geschah unter den Menschen. In der Selbsthingabe klingt zurückhaltend sein Sterben als Heilsereignis an. Die Metapher des „Lösegelds“ für die soteriologische Bedeutung Jesu greift auf ein paulinisches Modell zurück, verwendet jedoch den Begriff antilytron. Dieser bezieht sich in der antiken Verwendung auf Kriegsgefangene, Sklaven oder Verschuldete, die um einen „Lösepreis“ freigekauft werden können (Kertelge, lytron 901). Damit entspricht die Bildwelt jener, die bereits Paulus verwendete. Die universale Reichweite des Rettungsgeschehens ist betont („für alle“).

105

Mittler

Lösegeld

3.4 Katholische Briefe Der Name „katholische (= allgemeine) Briefe“ wird seit der Zeit der Frühen Kirche für Jak, 1/2Petr, 1/2/3Joh, Jud verwendet, weil diese Briefe als nicht mehr an Einzelgemeinden, sondern an die Kirche als Ganze adressiert galten. In der Christologie setzen diese Briefe kaum eigene Akzente, doch bleibt für sie entscheidend, dass in Christus Gottes einzigartiges Heilswirken geschah und in ihm der Zugang zu Gott zu finden ist. Ich greife als Beispiel 1Petr heraus (um 90 n. Chr.). 1Petr 1,18– 21 beschreibt die weite heilsgeschichtliche Linie des ChristusEreignisses von der Präexistenz bis zur himmlischen Erhöhung, verbunden mit einer soteriologischen Deutung des Todes Jesu. Ziel ist die lebendige Beziehung zu Gott, die die christliche Identität ausmacht. 1,18f. hebt die einzigartige Bedeutung des Loskaufs durch Christus hervor: (a) Er geschieht nicht mit Silber oder Gold, sondern durch das wertvolle Blut Christi; die Zuwendung Gottes im Sterben Jesu ist wertvoller und weitreichender als alles Irdisch-Vergängliche. (b) Das Bild des Loskaufs (lytroō) verdankt sich der antiken Praxis des Freikaufs von Kriegsgefangenen, Sklaven oder Verschuldeten (siehe 3.3, Nr. 4); es dient der Abgrenzung gegenüber der traditionellen Lebensweise der hellenistisch-römischen Gesellschaft, von der die Christen losgekauft sind. (c) Der Vergleich („wie“) mit einem „untadeligen (amōmos) und makellosen Lamm (amnos)“ könnte auf die Vorstellung des fehlerfreien Opferlammes (z.B. Lev 23,12f.; Num 6,14; 19,2: amōmos) hinweisen, dürfte aber eher das Motiv des unschuldig

1. Petrusbrief

Loskauf durch Christus

„Wie ein makelloses Lamm“

106

Handeln Gottes

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

leidenden Gerechten wachrufen (dazu bei Joh 1,29 unter 3.6.5), das im Gottesknecht von Jes 52,12–53,12 verkörpert ist: Er wird wie ein wehrloses Lamm (amnos) zum Schlachten geführt (Jes 53,7 LXX) und ist unschuldig (hat keine Gesetzlosigkeit getan, in ihm ist kein Trug, Jes 53,9; vgl. die Zitate aus Jes 53 in 1Petr 2,22– 25). Der Vergleich betont die Unschuld, die Sündlosigkeit Jesu und vielleicht auch seine Wehrlosigkeit, so dass Gott an ihm handelt. Auch in 1Petr 2,23 liegt der Akzent auf dem Handeln Gottes in Christus: Christus „übergab (sc. seine Sache) dem gerecht Richtenden“. Die Figur des wehrlosen Gottesknechts verweist in sich auf den machtvollen Gott, der hinter ihm steht und in ihm handelt. Nur so kann Christi Leiden soteriologisch gefüllt sein (vgl. 3,18–22). 3.5 Hebräerbrief Der Hebräerbrief (ca. 80–100 n.  Chr.) entwickelt eine eigene christologische Sprache und Denkwelt, die auf bekannte Traditionen zurückgreift, aber auch ganz neue Elemente aufnimmt. 3.5.1 Gottes Wort als Ermächtigung des Sohnes

Überlegenheit des Sohnes über die Engel

Das Proömium in Hebr 1,1–4 arbeitet die höchste himmlische Stellung des Sohnes, seine einzigartige Bedeutung als Repräsentant Gottes und seine bleibende soteriologische Funktion heraus. Der Abschnitt Hebr 1,5–14 entfaltet dann eine besondere Christologie des „Sohnes“, der in Gottes Höhe und Erhabenheit hinaufrückt, und enthält urchristliche Spitzenaussagen zur Christologie. Der Text belegt die Überlegenheit des Sohnes über die Engel (vgl. 1,4) aus der Schrift mit zahlreichen Zitaten aus der Septuaginta. Bezeichnend ist die durchgängig angewandte Schrift-Hermeneutik: In den Schrift-Texten spricht Gott selbst, und er spricht den Sohn performativ an, d.h. das Gesagte wird an ihm wirksam. Den Anfang bilden die beiden urchristlich einschlägigen Texte Ps 2,7 („mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“) und 2Sam 7,14 („ich werde ihm zum Vater sein, und er wird mir zum Sohn sein“), die in der Königstheologie Israels die besondere Nähe des Königs zu Gott, seine Erwählung und Vollmacht artikulieren und so messianisch deutbar wurden. Am Ende steht Ps

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

110,1 (109,1 LXX; „Sitze zu meiner Rechten …“), der in urchristlicher Tradition auf die Erhöhung Jesu bezogen wird. Das Modell der Königsinthronisation und damit der Erhöhung des Sohnes durch Gott wird durch die Zitate eingeblendet und bildet den christologischen Rahmen für die Aussagen, die dazwischen stehen. In 1,6a wird der Sohn als „Erstgeborener“, den Gott in den „Erdkreis“ (oikoumenē) einführt, angesprochen. Es handelt sich um eine Königstitulatur, wie Ps 89,28 zeigt: Dort nennt Gott Israels König seinen Erstgeborenen und erhöht ihn über die Könige der Erde. Der Zeitpunkt der Erhöhung bleibt in Hebr 1,6a offen. Ein politischer Beiklang wird hörbar, denn den Anspruch auf Weltherrschaft, auf Herrschaft über die ganze oikoumenē, erhebt eigentlich der römische Kaiser, zu dem der „Sohn“ so in implizite Konkurrenz tritt. Herausragend sind die Prädikate, die der „Sohn“ in 1,8f. und 1,10–12 erhält. In der Darstellung von Hebr 1,8f. redet im Zitat aus Ps 45,7f. (44,7f. LXX) Gott selbst den Sohn als „Gott“ an und spricht ihm eine ewige und gerechte Herrschaft zu. Im Psalm diente das Prädikat „Gott“ gleichsam als Amtstitel des Königs Israels. In der hellenistischen Antike ist es weniger auffällig, da dort das theos-Prädikat häufiger für Menschen verwendet wird, in denen göttliche Macht überwältigend erscheint. Im jüdischen Kontext bleibt der Gebrauch auffällig, ja anstößig. Doch kann Ex 4,16; 7,1 auch Mose das Prädikat „Gott“ (elohim) beilegen. Eine indirekte Relativierung der politischen Machtverhältnisse des Imperium Romanum, in dem der Kaiser als „Gottessohn“ (divi filius) gelten kann, schwingt bei der Verwendung in Hebr 1,8f. mit. Hebr 1,10–12 verwendet im Zitat von Ps 102,26–28 (101,26– 28 LXX) die Anrede des Sohnes mit Gottes eigenem Namen als kyrios/Herr und verbindet damit seine Schöpfungstätigkeit und sein ewiges Bleiben, auch wenn Himmel und Erde vergehen. An beiden Stellen rückt so der Sohn in die höchste, Gott ganz unmittelbare himmlische Position, er übernimmt Funktionen Gottes, in ihm wirkt und erscheint Gott selbst. Er hat teil an Gottes ewiger Herrschaft und damit am Gottsein Gottes selbst. Wichtig bleibt, dass Gott ihm diese Stellung durch seine Anrede, sein Wort überträgt; in Hebr 1,9 salbt ihn Gott, was auf den alten Ritus der Königssalbung anspielt. Damit lässt sich die christologische Vorstellung zusammenfassen: Der Gedanke der Teilhabe hält die Unterscheidung zwischen Gott (dem einen Gott Israels) und dem Sohn fest, macht den Sohn jedoch zugleich zu Gottes einzigartigem Repräsentanten. Nach 8,1; 10,12; 12,2 sitzt Jesus zur Rechten Gottes (jedoch

107

Königsinthronisation „Erstgeborener“

Prädikat „Gott“

Gottesname „Herr“

Teilhabe

108

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Ermächtigung durch Gottes Wort

nicht auf dem Thron Gottes selbst). Die Wirkweise dieses Geschehens stellt das göttliche Wort dar: Die Teilhabe an Gottes Möglichkeiten geschieht durch Gottes gestaltendes, schöpferisches Wort; er spricht dem Sohn die Teilhabe wirksam zu. Ermächtigung durch Gottes Wort ist also das christologische Grundmodell des Hebr (der damit noch nicht, wie dann die Christologie der Alten Kirche, ontologisch denkt; vgl. Karrer, Brief I 144). 3.5.2 Der himmlische Hohepriester als Zugang zu Gott

Hebr 4,14–16

Hohepriester

Himmlischer Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks

Spezifisch für die Christologie des Hebr ist die Inszenierung Jesu als des himmlischen Hohepriesters, die der ganze Briefteil 4,14–10,31 entfaltet. Thesenhaft formuliert 4,14–16 die Zusammenhänge: (1) Jesus, der Sohn Gottes, ist unser großer Hohepriester im Himmel. (2) Dieser fühlt dennoch mit den Seinen (Mitleiden) und hatte teil an den Schwächen der menschlichen Existenz. (3) Daher dürfen wir in Freimut (parrēsia) zum Thron Gottes treten und empfangen Barmherzigkeit und Gnade. (1) Mit dem „Hohepriester“ (vgl. 2,17; 3,1) bringt der Hebr ein neues Bild für die soteriologische Funktion Christi in den christologischen Diskurs ein (vgl. dann 1Clem 36,1; 61,3; 64; Anfang des 2. Jhs. IgnPhld 9,1). Als Bildspender dienen sowohl der Hohepriester im Jerusalemer Tempel als auch Hohepriester in hellenistisch-römischen Kulten, besonders auch der römische Kaiser als pontifex maximus des Staatskultes. Die Aufgabe bestand in der Kontaktpflege des Gemeinwesens mit Gott bzw. den Göttern, wobei der Akzent auf dem korrekten Vollzug des Kults liegt, der die Götter gnädig stimmen und für die Anliegen der Gemeinschaft gewinnen sowie der Versöhnung bei Verfehlungen der Menschen dienen sollte. Der Hohepriester steht in seiner Funktion in besonderer Beziehung zu Gott und vollzieht den Kult zugunsten der Menschen des ihm anvertrauten Gemeinwesens. Die Besonderheit des Hohepriesters Jesus bringt der Hebr durch Rückgriff auf Ps 110,4 zum Ausdruck, den er mehrmals zitiert: Jesus ist ewiger Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks (Hebr 5,6; 7,17.21; vgl. 5,10; 6,20). Jesu besondere Funktion als Hohepriester besteht demnach darin, dass er als eine himmlische Gestalt erscheint, die, anders als alle irdischen Priester, von Gott selbst durch das Wort ernannt und bevollmächtigt ist (Hebr 5,5.10). Wenn dazu in 5,5 noch die Königsinthronisation von Ps 2,7 zitiert wird, sind in Jesus herrscherliche

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

und priesterliche Würde vereint (eine Kombination, die wieder an den römischen Kaiser erinnert). Einen Zeitpunkt der Einsetzung legt Hebr nicht fest, doch fallen Tod und Erhöhung dabei zusammen (vgl. 5,8–10 und Hahn, Theologie I 434)  – ähnlich wie im JohEv Kreuz, Erhöhung und Verherrlichung Jesu eine Einheit bilden. Unablässig und ohne zeitliche Begrenzung tritt der Hohepriester Jesus bei Gott für die Seinen ein (7,25). (2) Hebr 2,14–18 und 5,1–10 akzentuieren das irdische Leben Jesu, das in Leiden und Sterben gipfelt. Jesus begab sich ganz unter die Bedingungen menschlicher Existenz, wurde selbst im Leiden versucht (2,18), kennt die Not der Menschen (5,7f.) – und kann so am Ort der Menschen selbst den Tod als größten Feind der Menschen und den Teufel als Verursacher des Todes überwinden (2,14f.). So wurde er ein „barmherziger und treuer Hohepriester auf Gott hin, damit er versöhne (hilaskomai) die Sünden des Volkes“ (2,17). Diese Versöhnung angesichts der Sünden geschieht in direkter, unvermittelter Zuwendung („barmherzig und treu“) – es steht also nicht, wie im antiken Kult üblich, die rituelle Korrektheit im Zentrum. Jesus als Hohepriester repräsentiert selbst das Handeln Gottes, der die Sünden gnädig wegnimmt. (3) Der soteriologische Akzent tritt stark hervor, wenn in 2,10 Gott „den Anführer ihrer Rettung durch Leiden vollendete“ und in 5,9 Jesus nach seiner Vollendung als „Urheber der Rettung“ für die Seinen gilt (vgl. 2,9; 12,2; 13,12). Durch seinen Tod hat Jesus die frei gemacht (apallassō), die sonst „von der Furcht vor dem Tod“ versklavt sind (2,15). Rettung bedeutet, „Teilhaber des Christus“ zu sein (3,14). Daher besitzt die Gemeinde am Thron Gottes, bei Gott den ihr entsprechenden Ort; dort erfüllt sich für sie das antike Ideal der freien politischen Rede des Polis-Bürgers (parrēsia, Rede in Freimut), das ihr in ihrer Lebenswelt gesellschaftlich verwehrt ist (4,16).

109

Irdisches Leben Jesu

Versöhnung

Rettung durch Jesu Tod

3.5.3 Das einmalige Opfer des Hohepriesters Jesus Im Zentrum der Hohepriester-Inszenierung des Hebr steht der Tod Jesu als einmaliges Opfer vor Gott (7,27; 9,12; 10,10.19). Diese Einmaligkeit streicht der Hebr – gegenüber den täglich wiederholten Opfern irdischer Priester – stark heraus (ephapax/„ein für alle Mal“, 7,27; 9,12.26; vgl. 10,11f.14). Ebenso entscheidend ist, dass Jesus nicht irgendein Opfer, sondern sich selbst darbrachte (7,27; 9,14; 10,10). Damit überschreitet Hebr das kultische Op-

Jesu Tod als einmaliges Opfer

110

Überwindet alle anderen Opfer

Bund Gottes mit Israel als Basis

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

fer hin zur Hingabe der Person Jesu selbst. Voraussetzung dafür ist sein Freisein von Sünde und vom Bösen (7,26; er ist „untadelig“/amōmos, 9,14) – wieder im Unterschied zum irdischen Hohepriester, der auch für sich, für seine Sünden opfert (5,3; 7,27; 9,7.25). Durch sein unvergängliches Priestertum kann Jesus die Seinen für immer retten und für sie eintreten (7,24f.). Weil er in das himmlische Heiligtum Gottes selbst hineinging, erreichte er den ewigen Loskauf (lytrōsis) der Seinen (9,12) und die Reinigung ihres Gewissens (9,14; vgl. 10,22). Die Metaphorik vom einmaligen Selbstopfer des himmlischen Hohepriesters Jesus bedeutet vor dem Hintergrund einer blühenden antiken Kultpraxis für die verschiedensten Gottheiten, dass in Christus alle anderen Opfer und kultischen Handlungen überflüssig und nichtig geworden sind. Die christlichen Gemeinden unterscheiden sich von ihrer religiösen Umwelt signifikant darin, dass sie keinen Kult, keine Opfer und keine Priester haben. Was aus der Sicht der römischen Kultur als Mangel erscheinen mag, stellt in Wirklichkeit die Stärke der Christen dar: Ihr Kult findet direkt bei Gott im Himmel statt, er ist wirklich wirksam und besitzt Geltung auch über die Todesgrenze hinaus. In Christus finden die Hörer/innen des Hebr einen festen, verlässlichen Fixpunkt bei Gott für die eigene Existenz. Der Bund Gottes mit Israel bleibt dabei die unaufgebbare Basis für das Verständnis des neuen Bundes, den der Hohepriester Jesus in seinem Tod vermittelt. Dazu wird die Tradition Israels neu interpretiert; die kultische Tradition wird auf den Hohepriester Jesus übertragen, der einen neuen, mit seiner Person verbundenen Zugang zu Gott eröffnet (Hebr 9,1–10,18; vgl. Schreiber, Anfänge 147–152). Das kultische Opferverständnis der antiken Welt wird gebrochen, indem in Christus als Hohepriester das göttliche Heilsgeschehen zum unmittelbaren Beziehungsgeschehen wird. 3.6 Synoptische Evangelien und Apostelgeschichte 3.6.1 Erzählungen über Jesus In den vier ältesten Jesus-Erzählungen, die man der antiken Gattung der vita (Biographie) zuordnen kann (dazu Ebner, „Evangelium“; Schreiber, Begleiter 34f.), passiert etwas christologisch Entscheidendes: Die einzigartige Bedeutung des erhöhten Christus als des vollmächtigen endzeitlichen Repräsentanten Gottes,

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

die die älteren Traditionen, aber auch Paulus an der österlichen Erhöhung Jesu festmachten, wird nun bereits im Leben, Wirken und Lehren Jesu gesehen und dargestellt. Charakteristisch für die ersten Jesus-Viten ist die Perspektive der rückblickenden Erinnerung, in der sie bereits im Leben des irdischen Jesus die Züge des erhöhten Christus erkennen und in ihrer Darstellung beides zur Deckung bringen. Die Überzeugung von der Erweckung und Erhöhung Jesu wirft Licht auf sein gesamtes Auftreten; das Glauben an Jesus als den einzigartigen Stellvertreter Gottes, als Christus und Sohn Gottes prägt die Erinnerung an sein Wirken. Christologische Überzeugungen sind als motivierende und mitgestaltende Kraft in die Erinnerung an das irdische Leben Jesu integriert, eine Entwicklung, die in den JesusViten zu einer Gesamterzählung ausgebaut wird. Es entsteht eine narrative Christologie. Die theologische Bedeutung dieser narrativen Integration der Christologie in die Biographie Jesu kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden: Das Leben des irdischen Jesus wird zur bleibenden und unhintergehbaren geschichtlichen Basis für die Christologie. Diese ist damit so fest in der Geschichte verankert, dass eine Enthistorisierung und rein spekulative Entwürfe (wie die Gnosis) theologisch äußerst fragwürdig werden. Speziell die einmalige, konkrete Geschichte des Menschen Jesus von Nazaret wird transparent für das Handeln Gottes in und durch Jesus.

111

Der erhöhte Christus im irdischen Jesus

Narrative Christologie

Geschichtliche Basis

3.6.2 Das Markusevangelium Beim MkEv (um 70 n. Chr.) handelt es sich um die älteste JesusVita, die auf vielfältige Traditionen (Erinnerungen) über Jesus zurückgreift und von grundlegenden christologischen Aussagen geprägt ist. (1) Jesus verkörpert Gottes endzeitliche Königsherrschaft: Als Verkünder und Bringer der basileia wirkt Jesus in der Vollmacht Gottes; mit ihm hat die basileia punktuell bereits begonnen. Jesu Vollmacht (exousia) interpretiert seine Beziehung zu Gott so, dass er als umfassend Bevollmächtigter Gottes zur Verwirklichung der basileia erscheint (vgl. Mk 1,15.22.24.27). In Worten und Taten, in Lehre und Wundern übt Jesus diese Vollmacht im Rahmen der Gottesherrschaft aus. Im Zentrum der Lehre Jesu stehen die Gleichnisse, die nach 4,11 für den Schülerkreis das „Geheimnis der basileia Gottes“ vermitteln. Jesu Wunder sind Orte des Einbruchs der Gottesherrschaft in die bedrohte Welt. In

Verkünder und Bringer der Königsherrschaft Gottes

112

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Sohn Gottes

Christus

Menschensohn

ihnen tritt Jesu göttliche Vollmacht besonders deutlich zu Tage (z.B. 3,10f.22–27). Heilungen und Exorzismen erscheinen als „Rettung“ vor bösen Mächten (3,4; 5,23.28.34; 6,56). Geschenkwunder wie die Brotvermehrung (6,35–44; 8,1–10), Rettungswunder wie die Stillung des Seesturms (4,35–41) und Epiphanien wie der Seewandel Jesu (6,45–52) und die Verklärung (9,2–10) lassen die Präsenz göttlicher Vollmacht und Kraft in Jesus besonders augenfällig hervortreten. (2) Christologische Titel: Die christologische Sinnlinie des Sohnes Gottes bildet die innere theologische Erzählachse des MkEv. Das einzigartige Verhältnis des messianischen Sohnes zu JHWH, dem Gott Israels, das der Titel traditionell konnotiert (siehe 1.3.2), gibt der Jesus-Gestalt des MkEv ihre christologische Tiefenschärfe. Bei der Taufe Jesu (1,9–11) proklamiert ihn eine Stimme aus dem Himmel als „Sohn Gottes“, was eine Übertragung von Status, Macht und Herrschaft des messianischen Königs bedeutet – die „Herrschaft“ Jesu beginnt. Hinter der Einsetzung zum Sohn steht die sowohl in der Königstheologie Israels als auch der römischen Kaiserlegitimation bekannte Konzeption der Adoption zum „Sohn“ (Peppard, Son of God 93–124). Bei der Verklärung Jesu wird seine göttliche Erwählung epiphan, und eine Himmelsstimme bezeichnet ihn als „Sohn Gottes“ (Mk 9,7). Zum ersten Mal im Bekenntnis eines Menschen fällt der Titel im Mund des römischen Zenturio unter dem Kreuz (15,39) – er hat die göttliche Präsenz im gekreuzigten Jesus erkannt. Wenn ein römischer Offizier dieses Bekenntnis spricht, werden zugleich wieder politische Untertöne hörbar: Nicht der römische Kaiser als divi filius, sondern Jesus ist der wahre Sohn Gottes. Den Titel Christus nennt das MkEv eher selten. Er wird jedoch beim Petrus-Bekenntnis in 8,27–30 relevant und bestimmt dort Jesu Identität zutreffend: „Du bist der Christus“. Doch es fehlt noch etwas Wesentliches, denn Jesus fordert die Schüler zum Schweigen über diese Einsicht auf; der Weg Jesu führt nach Jerusalem – und lenkt damit die Perspektive auf den Kreuzestod (siehe Nr. 3). Messianische Konnotationen besitzt auch die Anrede Jesu als Sohn Davids (10,47f.; 11,10). Der Titel Menschensohn schließlich signalisiert die endzeitliche Vollmacht Jesu, der frei über die Auslegung jüdischer Traditionen entscheidet (2,10.28). Die zukünftig-endzeitliche Funktion des Menschensohnes wird in 8,38; 13,26 und 14,62 zentral (siehe unten). Dazu tritt aber eine andere Sinnlinie, die das Leiden und den Tod des Menschensohnes hervorhebt (8,31; 9,9.12.31; 10,33.45; 14,21.41).

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

(3) Integration der Passion: Das MkEv als Vita Jesu ist als erinnerter Weg Jesu nach Jerusalem und damit auf die Passion hin angelegt. Darauf verweisen die drei Leidensweissagungen in Mk 8,31, 9,31 und 10,33f., die Ablehnung, Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu voraussagen. In Verbindung mit dem Titel „Menschensohn“ leisten sie die Integration des Kreuzestodes in die Christologie. Auffällig ist freilich die Reaktion der Schüler Jesu auf die Leidensankündigungen – sie verstehen diese nicht (8,32; 9,32; 10,32). Damit begegnet man einem literarischen Kunstgriff des MkEv, dem so genannten Geheimnismotiv. Dazu zählen Schweigegebote Jesu an Dämonen (1,25.34; 3,11f.), wunderbar Geheilte (1,44f.; 5,19), Zeugen eines Wunders (5,43; 7,36) und Schüler Jesu (8,30; 9,9). Die Intention des Schweigegebots verrät 9,9, denn dort soll es gelten, „bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist“ – das volle Verstehen Jesu ist erst nach Ostern möglich, Jesus ist als der Gekreuzigte und Erweckte der Menschensohn und Sohn Gottes. Zur hoheitlichen Christologie muss notwendig die Christologie des Kreuzestodes treten, will man Jesus richtig verstehen. Durch die narrative Integration von christologischen Hoheitstiteln in die Passion, wo sie in krassem Kontrast zu Jesu menschlicher Ohnmacht, seinem Ausgeliefertsein an die politische Macht und seinem Tod am Kreuz stehen (Mk 14,61f.; 15,2.9.12.18.26.32), gelingt es dem Verfasser auf subtile Weise, die Semantik des traditionellen Messias-Titels  – eine national-politische Herrschergestalt mit himmlischer Vollmacht  – christologisch umzuprägen. Irdische Machtlosigkeit und himmlische Hoheit stehen in spannungsvoller Einheit, die sich für die Christologie des MkEv nicht auflösen lässt. (4) Deutungen des Todes Jesu: In zwei Worten Jesu spielt das MkEv soteriologische Deutungen des Todes Jesu ein, die auf ältere urchristliche Tradition zurückgehen. Nach Mk 10,45 ist der Menschensohn gekommen, „zu dienen und sein Leben als Lösegeld (lytron) für viele zu geben“. Die Metapher des Lösegeldes stammt aus der antiken Erfahrungswelt, denn es bestand die Möglichkeit, sowohl Kriegsgefangene als auch Sklaven oder Verschuldete für einen „Lösepreis“ freizukaufen (Kertelge, lytron 901). Hinter der Hingabe des eigenen Lebens Jesu (psychē/Seele bedeutet hier ‚Leben‘) klingt die antike Vorstellung des „Sterbens für“ einen anderen als höchste Ausprägung menschlicher Liebe an (siehe 3.2.2). Durch die freiwillige Hingabe seines Lebens schafft der Menschensohn den Freikauf aus der Gefangenschaft der Sündenmacht. Er vermag dies freilich deswegen, weil

113 Passion Leidensankündigungen

Geheimnismotiv

Hoheitstitel in der Passion

TodesDeutungen

Lösegeld

„Sterben für“

114

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

„Blut des Bundes“

Erweckung und Erhöhung

Parusie

Gott selbst hinter ihm als Menschensohn steht (vgl. Mk 14,36). Mit den „Vielen“, für die Jesus sein Leben gibt, sind nur potentiell alle Menschen gemeint. Konkret ist an die aus Juden und den Völkern gesammelte Gemeinschaft derer, die in der Beziehung zu Jesus leben, gedacht. Soteriologisch relevant ist auch das Modell, mit dem beim Abschiedsmahl Jesu in Mk 14,24 sein Tod als „Blut des Bundes“ gedeutet wird: das Schließen eines neuen Bundes. Das Syntagma „Blut des Bundes“ spielt auf Ex 24,8 an, den Bundesschluss JHWHs mit Mose am Sinai. Mose vollzieht auf menschlicher Seite den Bundesschluss, indem er JHWH an einem Altar das Blut von Opfertieren darbringt. Mit dieser intertextuellen Referenz wird der Tod Jesu als Bundesritus (nicht als Sühnopfer) gedeutet, mit dem Gott einen neuen Bund schließt. Die besondere Art dieses Bundes besteht darin, dass der Repräsentant Gottes selbst das Bundesblut liefert. Dadurch entsteht eine besondere, in Christus greifbare Nähe des bundesstiftenden Gottes zu seinem Bundesvolk. Gott selbst bringt gleichsam das Bundesblut dar und eröffnet im Bund die Beziehung neu. Dieser neue Bund steht in der Tradition der verschiedenen Bundesschlüsse Gottes mit Israel, erlangt jedoch eine „Endgültigkeit“ im Sinne eschatologischer Geltung (vgl. 14,25). An diesem eschatologischen Bund können nun – so ist zu implizieren – auch die Völker teilhaben. (5) Erweckung, Erhöhung, Parusie: Die Erzählung vom leeren Grab Jesu in Mk 16,1–8 stellt die Aufnahme Jesu zu Gott dar. Die Botschaft des „jungen Mannes“ am Grab fasst diese urchristliche Überzeugung zusammen: Der gekreuzigte Jesus „wurde erweckt“ (Mk 16,6; vgl. 1  Kor 15,3–5). Die Bestätigung liefert das Motiv des fehlenden Leichnams („er ist nicht hier“, 16,6), das für antike Hörer/innen vielsagend war. Das klassische Modell dafür bietet Herakles, nach dessen Selbstverbrennung keine Knochen gefunden wurden; so konnte das Fehlen des Leichnams als Zeichen für die Entrückung und Erhebung eines Menschen unter die Götter verstanden werden (vgl. Diodorus Siculus 4,38,5; Livius 1,16; Plutarch, Romulus 27,4–8; Numa 2). Jesu Aufnahme bei Gott schließt die göttliche Legitimation des Gekreuzigten ein. Sie bedeutet zugleich ein Gegenbild zur Apotheose der römischen Kaiser; in Christus, dem eigentlichen „Sohn Gottes“ (divi filius), ist das den Tod überwindende Leben zu finden, das kein Kaiser geben kann. Auch die zukünftige Bedeutung Jesu bringt das MkEv in seine Darstellung ein, indem es Jesus kurz vor seinem Tod in die Zukunft blicken lässt. In 13,24–27 spricht er vom endzeitlichen

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

Kommen des Menschensohnes „in Wolken mit viel Kraft und Herrlichkeit“ zur Sammlung der Erwählten, nachdem die Ordnung des Kosmos zusammengebrochen sein wird (vgl. 8,38; 14,62). Die Hörer/innen werden unschwer darin den ParusieChristus erkannt haben. Die Naherwartung der Parusie wird einerseits festgehalten  – ihr Kommen steht nahe bevor, noch in diesem Geschlecht (13,30) –, andererseits aber auch zeitlich relativiert – nur der Vater kennt den Termin (13,32). (6) Die bleibende Gegenwart Jesu: Am Ende stehen nicht die Erhöhung und himmlische Herrscherstellung Jesu, sondern die Furcht und das Schweigen der Frauen nach der Begegnung am leeren Grab. Durch diesen offenen Schluss in 16,8 akzentuiert das MkEv die bleibende Gegenwart Jesu bei den Seinen. Denn zuvor hatte der junge Mann im Grab angekündigt, wo man den Erweckten finden kann: „er geht euch voran nach Galiläa“ (16,7). In Galiläa aber begann im MkEv das Auftreten Jesu; unwillkürlich werden die Hörer/innen an den Anfang der Jesus-Vita zurück verwiesen. Dort, in der erzählten Erinnerung des MkEv, wird die Begegnung mit dem erweckten Jesus in der Gegenwart möglich.

115

Bleibende Gegenwart

3.6.3 Das Matthäusevangelium Das MtEv (etwa 80–90 n. Chr.) übernimmt die literarische und auch christologische Grundstruktur des MkEv, setzt jedoch im Vergleich zum MkEv eigene Akzente, die sich in drei Schlagworten andeuten lassen: Jesus als Sohn Davids, als Lehrer Israels und als bleibender Herr der Gemeinde. (1) Herkunft Jesu: Die Geburtsgeschichte in Mt 1,2–2,23 klärt, wie in einer antiken Vita üblich, die Herkunft Jesu. Seine besondere göttliche Herkunft und Bevollmächtigung sieht das MtEv dabei bereits mit der Zeugung und Geburt Jesu gegeben (anders das MkEv: mit der Taufe). Der Stammbaum Jesu in Mt 1,2–17 beginnt mit Abraham und zeigt Jesus tief verwurzelt in der Heilsgeschichte Israels, andererseits aber in prinzipieller Offenheit für die Völker (dem entsprechen die nicht-jüdischen „Stammmütter“ Tamar, Rahab, Rut und die Frau des Uria). Die Erzählung von Jesu Empfängnis in 1,18–25 hebt die Geistzeugung hervor – Maria war schwanger aus dem heiligen Geist (1,18.20). Das Motiv der Geistzeugung entspricht dem Gottesbild Israels (der Geist, nicht Gott selbst handelt) und betont die besondere göttliche Herkunft Jesu. Mt 1,23 deutet es mit einem Zitat aus Jes

Herkunft Jesu

Geistzeugung

116

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Hinweis

Das Motiv der göttlichen Zeugung des Königs war in der antiken Welt allgemein bekannt. Zentral war es in der Hoftheologie Ägyptens (der Pharao galt als ohne Zutun eines menschlichen Vaters von einem Gott mit der Königin gezeugt), drang in griechische Mythen ein (Perseus) und wurde von herausragenden hellenistischen bzw. römischen Herrschern erzählt: Alexander d.Gr. und Augustus (dazu Schreiber, Begleiter 31).

Jes 7,14

Der Lehrer der Königsherrschaft der Himmel

Sohn Davids

7,14 LXX: Eine „Jungfrau“ wird schwanger werden und einen Sohn gebären, sein Name wird „Emmanuel“ sein, was Mt übersetzt: „Gott mit uns“. Von Anfang an wird also die Geschichte des irdischen Jesus transparent für das heilvolle Wirken Gottes. Diese Schrift-Hermeneutik ist für das MtEv grundlegend: Die Geschichte des Christus Jesus erweist sich als Erfüllung der Schriften Israels und ist damit in Gottes Heilsgeschichte verankert. Daher bietet das MtEv häufig „Reflexionszitate“, die oft speziell mit der Wendung „damit erfüllt wird“ eingeleitet werden (1,23; 2,6.15.18.23; 4,15f.; 8,17; 12,18–21; 13,35; 21,5; 27,9f.). (2) Der Lehrer der Himmelsherrschaft: Wie im MkEv verkündet und repräsentiert Jesus im Wort und in Wundertaten die „Königsherrschaft der Himmel“ (basileia tōn ouranōn betont die Majestät des im Himmel thronenden Gottes; Mt 4,17.23; 9,35; 10,7). Dabei legt das MtEv den Akzent stärker als Mk auf die Offenbarung des Willens Gottes durch Jesus; das Geheimnismotiv tritt demgegenüber zurück. In fünf großen Reden tritt Jesus als Lehrer Israels in der Autorität Gottes hervor (Mt 5–7, 10, 13, 18 und 24f.). Die Fünfzahl erinnert an den Pentateuch, die fünf Bücher des Mose als Herzstück der Tora, so dass Jesu Reden den Anspruch einer neuen Auslegung der Tora erheben. Als vollmächtiger Lehrer vermittelt Jesus die grundlegende Weisung zum gelingenden Leben mit Gott, die über seinen Tod hinaus bleibende Gültigkeit besitzt (28,20). (3) Titel und Narration: Christologische Hoheitstitel verwendet das MtEv ähnlich wie das MkEv. Jesu Bedeutung als Messias (Christus) wird ergänzt durch den Titel Sohn Davids, wobei das MtEv den Titel bevorzugt mit wunderbaren Heilungen in Verbindung bringt (9,27; 12,23; 15,22; 20,30f.), also das heilvolle Wirken des Messias Jesus hervorhebt (11,2: die „Taten des Christus“). Diese Verwendung bedeutet eine Modifizierung der königlichen Messias-Tradition von der Überlieferung des Wundertä-

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

ters Jesus her und damit eine christologische Umprägung des Messias von einer politischen zu einer heilenden Gestalt. Wie Jesus seine Stellung als Sohn Gottes umsetzt, zeigt die Versuchungsgeschichte in 4,1–11: Nicht Machttaten und irdische Herrschaft bestimmen sein Wirken, sondern der schriftgemäße Gehorsam Gott und seinem Wort allein gegenüber. Nach 11,27 resultiert aus dem (messianischen) Vater-Sohn-Verhältnis Gottes zu Jesus die einzigartige Offenbarer-Funktion des Sohnes, der Gottes Willen authentisch und in Vollmacht auslegen kann. In der Fortsetzung 11,28–30 wird klar, dass diese Offenbarung in erster Linie ein Heilsangebot Gottes an die unter „Mühen und Lasten“ leidenden Menschen ist, eine Einladung, sich im Lernen der Lehre Jesu auf die heilvolle Beziehung zu Gott einzulassen. Von ihm zu lernen bedeutet, nach seinem Vorbild zu leben, der seine messianische Macht und Hoheit nicht ausspielt, sondern den anderen „dient“ (vgl. 20,28; 21,5). Beim Menschensohn betont das MtEv das Kommen zum Gericht (13,41f.; 16,27f.; 24,39; 25,31f.). Die Gemeinde darf einerseits auf die endzeitliche Gerechtigkeit, die der Menschensohn im Gericht bringt, hoffen, soll aber andererseits wachsam und sich ihrer Verantwortung für das eigene Verhalten im Sinne der Lehre Jesu bewusst bleiben. Im MtEv sind die christologischen Titel weniger stark als im MkEv mit Leiden und Tod Jesu verbunden, sondern bezeugen seine göttliche Herkunft und Vollmacht zur Offenbarung, was die Bedeutung des Leidens freilich nicht ausschließt. (4) Tod, Erweckung und bleibende Gegenwart: Mt 26,28 ergänzt beim Becherwort das „Blut des Bundes“ durch den Zusatz „zum Nachlass von Sünden“, womit Sündenvergebung zur speziellen Wirkung des Todes Jesu wird. Folgerichtig lässt Mt 3,2 die Sündenvergebung als Wirkung der Johannestaufe (anders als Lk 3,3) weg. Die Erweckung Jesu profiliert das MtEv narrativ durch Erscheinungserzählungen (28,1–20). Es stellt auch die Erhöhung Jesu heraus (19,28; 25,31; 26,64; 28,18), die die unausgesprochene Voraussetzung für die bleibende Gegenwart Jesu bei den Seinen bildet. Diese akzentuiert das MtEv bei der abschließenden Erscheinung Jesu in 28,16–20: Der Erweckte offenbart seine umfassende Vollmacht im Himmel und auf der Erde (28,18); er erteilt den Auftrag, allen Völkern seine Botschaft zu verkünden, weitet also seine Herrschaft über das Judentum hinaus auf Menschen aus allen Völkern aus (28,19f.); er gibt den Seinen die Zusage bleibender Gegenwart: „Ich bin bei euch alle Tage bis zur Vollendung der Weltzeit“ (28,20), wo-

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Sohn Gottes

Menschensohn

Tod Jesu als Nachlass von Sünden

Erhöhung und bleibende Gegenwart

118

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

mit sich der Kreis zur Emmanuel-Verheißung von 1,23 („Gott mit uns“) schließt. 3.6.4 Lukasevangelium und Apostelgeschichte

Geburt des Messias – Neubeginn in Israel

Geistzeugung

Retter der Welt

Goldenes Zeitalter

Das lukanische Doppelwerk (80–90 n. Chr.) setzt die Jesus-Vita (LkEv) durch eine historische Monographie über die Anfänge der christlichen Verkündigung (Apg) fort. (1) Die Geburt des Messias Jesus als Neubeginn in Israel: Die Geburtsgeschichte in Lk 1–2 zeichnet die Geburt Jesu als messianischen Neuanfang innerhalb der Geschichte Gottes mit Israel. Dass seine neue Herrschaft eine bislang unerreichte Heilsqualität besitzt, zeigen die psalmartigen Texte, die die Geburtsgeschichte prägen: Es herrschen Friede (Lk 1,79; 2,14.29) und Freude (1,14; 2,10), leitende Prinzipien sind Heiligkeit und Gerechtigkeit (1,75), es geschieht Befreiung und Rettung für Israel und die Völker (1,47.68f.71.74; 2,11.30.38). Den roten Faden bildet dabei die Deutung des Jesus-Kindes als Messias Israels, als verheißenen davidischen Heilskönig: Das Kind ist „Sohn des Höchsten“, der den Thron seines Vaters David erhalten und ewiger König über das Haus Jakob sein soll (1,32f.; vgl. 1,27.69; 2,4.11). Zur Erklärung verweist der Engel auf die Zeugung Jesu durch den heiligen Geist, weswegen er „heilig“ und „Sohn Gottes“ genannt wird (1,34f.). Das Motiv der Geistzeugung (siehe 3.6.3) bringt die einzigartige Nähe Jesu zu Gott und seine königliche Bevollmächtigung zum Ausdruck. Im anschließenden Lied der Maria erhält die Herrschaft des Messias Jesus Konturen: Sie wird als Heilsherrschaft unter dem Vorzeichen politischer und sozialer Gerechtigkeit dargestellt (1,51–53). Die Szene um die Geburt Jesu in 2,1–20 baut die messianischen Dimensionen weiter aus, indem der Engel gegenüber den Hirten das neugeborene Kind als „Retter“, „Christus“ und „Herr“ ankündigt (2,11). Als „Retter“ (sōtēr) und „Herr“ (kyrios) galt auch der römische Kaiser, doch nun kommt dem Kind die heilvolle Weltherrschaft zu. Die „Zeichen“ des Christus Jesus sind nicht die typischen Insignien der Macht, sondern Windeln und Futtertrog (2,12), womit sich bereits andeutet, dass Jesus auf eine ganz eigene Weise der Christus ist. Liest man die Geburtsgeschichte auf dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der politischen Konzeption eines Goldenen Zeitalters, das seit der Regierung des römischen Princeps Augustus (vgl. 2,1) als in der Herrschaft des römischen Kaisers verkörpert

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

gefeiert wurde, gelangt ihre politische Dimension in den Blick. Mit dem Goldenen Zeitalter verband man Frieden (pax Romana), Sicherheit und Wohlstand. Lukas baut den messianischen Neuanfang in Jesus als Konkurrenzmodell zu diesem Leitbild römischer Politik auf (Schreiber, Weihnachtspolitik 63–83). (2) Das Auftreten Jesu als Heilswirken Gottes in Israel: Die Zeit des öffentlichen Wirkens Jesu wird im LkEv besonders qualifiziert: Nach der misslungenen Versuchung weicht der Satan von Jesus (4,13), um erst mit dem Verrat des Judas wieder an ihm wirksam zu werden (22,3). Dazwischen besitzt Jesus – aus der Kraft Gottes  – Macht über den Satan (11,14–23; 13,10–17; vgl. 10,18). Die Zeit Jesu wird so zum Inbegriff des heilvollen Wirkens Gottes in Israel. Eine programmatische Charakterisierung seines Wirkens bietet die Antrittsrede in Lk 4,16–30, die Jesus durch die Kombination der Prophetentexte Jes 61,1f. und 58,6 in prophetischer Vollmacht zeichnet. Als „Prophet“ erscheint Jesus häufig bei Lukas (Lk 7,16.39; Apg 3,22f.), wobei ein besonderer endzeitlicher Prophet „wie Mose“ nach Dtn 18,15.18 im Blick sein kann (Apg 7,37). Zur prophetischen Botschaft gehört Jesu Zuwendung zu den Armen, Sündern und Ausgegrenzten in der Gesellschaft, die einen wesentlichen Zug des lukanischen Christus-Bildes ausmacht (Lk 5,27–32; 6,20–45; 7,34.36–50; 15,1–32; 16,19–31; 19,10; 23,42f.). Die Deutung als Prophet erlaubt aber auch eine Interpretation des Todes Jesu: Lk 13,33f. und Apg 7,52 reflektieren die Ablehnung und Ermordung Jesu auf dem Hintergrund der deuteronomistischen Tradition Israels von der gewaltsamen Ablehnung und Verfolgung der Propheten (Neh 9,26; 1 Kön 19,10.14; 2 Chr 36,15f.). Auch im LkEv verkündet Jesus die angebrochene Königsherrschaft Gottes als Evangelium (Lk 4,43; 8,1; 9,11; 16,16; 17,21). In seinen Heilungen und Exorzismen, die er in der Vollmacht Gottes wirkt (11,20; vgl. 17,20f.; Apg 2,22; 10,38), aber auch in seinen Mahlgemeinschaften mit Zöllnern und Sündern (5,27–32; 7,34; 15,2; 19,1–10) ist die basileia bereits heilvoll gegenwärtig. Jesu besonderes Verhältnis zu Gott hält Lukas mit den üblichen christologischen Titeln fest. Der Titel „Herr“ wird zur geläufigen Bezeichnung Jesu. Er impliziert Hoheit und göttliche Vollmacht (z.B. Lk 7,13.19; 10,1.39.41; 11,39) und wird auch für den Erhöhten verwendet (Apg 2,34–36; 7,55–59: Sitzen zur Rechten Gottes nach Ps 110,1 LXX). Interessant ist, dass Jesus im LkEv häufig zu Gott betet, also aus der Gebetsgemeinschaft mit Gott lebt (5,16; 6,12; 9,18.28f.; 22,41–45). Für Lukas gehören die göttliche Sendung Jesu und sein Menschsein selbstverständlich zusammen.

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Heilswirken in Israel

Prophet

Königsherrschaft Gottes

Herr

Gebet

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus Emmaus: Christologie nach Ostern

(3) Österliche Christologie in der Emmaus-Erzählung: Die Emmaus-Perikope in Lk 24,13–35 enthält ein kleines Kompendium lukanischer Christologie, das zugleich den Prozess der nachösterlichen Reflexion über die Bedeutung Jesu abbildet. Entscheidend ist dabei die Integration der Passion, die die Schüler in ihrer Überzeugung von Jesus massiv verunsicherte. Das Gespräch entwickelt sich in mehreren Schritten: 1. Jesus wird als Prophet charakterisiert, mächtig in Tat und Wort (24,19). 2. Von den Jerusalemer Hohepriestern und Vorstehern wurde Jesus zum Todesurteil übergeben und er wurde gekreuzigt – die Hoffnung auf den „Loskauf“ Israels wurde enttäuscht (24,20f.). 3. Die Erweckungsbotschaft wird durch Hinweise auf den fehlenden Leichnam Jesu und die Engelsbotschaft am Grab vorbereitet (24,22–24). 4. Die eigentliche „christologische“ Erklärung liefert Christus selbst: Die Notwendigkeit (edei/„musste“) des Leidens und des Eingehens Christi in seine Herrlichkeit erschließt er als Auslegung der Schriften des Mose und der Propheten (24,25– 27; vgl. das „Muss“ in Lk 9,22; 17,25; 24,7; Apg 17,3); wieder wird die grundlegende christologische Schrift-Hermeneutik sichtbar. Die Notwendigkeit des Leidens Jesu liegt im Entschluss und Vorauswissen Gottes, also in seinem Heilsplan begründet (Apg 2,23; 3,18). Der traditionelle Messias-Titel wird durch die Integration von Leiden, Tod und Erweckung/ Erhöhung modifiziert (vgl. 1 Kor 15,3–5). 5. Die Möglichkeit bleibender Begegnung mit Jesus in der Schrift und im Ritus des Brotbrechens deutet sich an (24,30f.). Hinweis

Der erhöhte Christus als Retter

Wenn die Schüler in Lk 24,21 die Hoffnung auf den „Loskauf“ (lytrousthai) Israels mit dem gesamten Auftreten Jesu verbinden, ist dies soteriologisch interessant. Es fällt auf, dass Lukas kaum eine soteriologische Aussage speziell mit Jesu Tod verbindet. Ausnahmen bilden lediglich das Sterben „für euch“ aus der Tradition vom letzten Mahl (Lk 22,19f.) und das traditionelle Loskauf-Motiv in Apg 20,28. Die Soteriologie konzentriert sich auf den erweckten und erhöhten Christus, in dem „Rettung“ (4,12) zu finden ist; er ist der „Retter“, der Israel Umkehr und Nachlass von Sünden bringt (5,31; vgl. 3,26; 13,38; Lk 24,47).

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

(4) Erweckung, Erhöhung und bleibende Gegenwart Jesu in der Apg: Häufig wird in den Missionsreden der Apg das Christus-Ereignis knapp zusammengefasst, wobei Jesu Erweckung in den Mittelpunkt tritt (vgl. Hahn, Theologie I 566; Schnelle, Theologie 459). Die christologische Bedeutung der Erweckung zeigt z.B. die Pfingstrede des Petrus in Apg 2,14–36: 1. Die Erweckung Jesu bedeutet die göttliche Legitimation des Gekreuzigten, was in einem Kontrast ausgedrückt wird: Die jüdischen Bewohner Jerusalems veranlassten die Tötung Jesu – Gott selbst erweckte ihn von den Toten (2,23f.36). 2. Die Erweckung Jesu bedeutet zugleich die grundsätzliche Überwindung des Todes für die Seinen: „Er löste die Wehen des Todes“ (2,24). 3. Die Erweckung wird als Erfüllung der Schrift verstanden (2,25–32). 4. Die Erhöhung Jesu „zur Rechten Gottes“ nach Ps 110,1 bedeutet eine endzeitliche Vollmachtsübertragung (Apg 2,34f.), die Lukas dadurch konkretisiert, dass Jesus den heiligen Geist vom Vater empfängt und nun aussenden kann (2,33). Der irdische Geistträger Jesus wird nun selbst zum endzeitlichen Geber des Geistes. Durch den Geist, der in seinen Zeugen wirkt, bleibt Jesus präsent (Lk 24,49; Apg 1,8). 5. Die Erhöhung besitzt unmittelbare soteriologische Konsequenzen: „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden“ (2,21). Das bleibende Wirken des Erhöhten prägt die Apg, z.B. in der Präsenz Jesu in seinem „Namen“ (3,16; 4,10.30; 8,12.16). Die Taufe geschieht auf den Namen Jesu (2,38; 10,48), der Erhöhte ist im Gebet ansprechbar (7,59; 8,24 u.ö.). (5) Übergänge – Von der Himmelfahrt zur Wiederkunft: Nur Lukas erzählt die Himmelfahrt Jesu, seine Aufnahme in den Himmel (Lk 24,51; Apg 1,9–11), womit er den abstrakten Gedanken der Erhöhung narrativ darstellt. Religionsgeschichtlich handelt es sich um eine Entrückung, wie sie in der antiken Welt bekannt war und bei der Apotheose römischer Kaiser politisch relevant wurde; prominent waren Romulus und Herakles (Diodorus Siculus 4,38,5; Livius 1,16; Plutarch, Romulus 27,4–8; Numa 2), aber auch Augustus (Sueton, Augustus 100,4). Weil Jesus mit der Entrückung Teil der göttlichen Welt ist, gilt ihm, dem endzeitlichen Stellvertreter und Mitherrscher Gottes, nun als Reaktion die Verehrung der Schüler (proskynein, Lk 24,52). In ihm als himmlischem Herrscher setzt sich der messianische Neuanfang von Lk 1–2 auch in der Zeit nach Jesu Tod fort.

121

Das ChristusEreignis in der Apostelgeschichte Erweckung

Erhöhung zur Rechten Gottes

Rettung

Himmelfahrt

Entrückung

122

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Wiederkunft

Die Himmelfahrt verbürgt auch die Verlässlichkeit der Wiederkunft Jesu, denn er „wird so kommen, wie ihr ihn weggehen saht“ (Apg 1,11). Bleibt der Zeitpunkt auch im Wissen Gottes verborgen (1,7), so wird der (längere) Zeitraum dazwischen positiv gefüllt als Zeit des Geistwirkens und der Zeugenschaft für Christus (1,4f.8). Damit ist sowohl die Verzögerung der Wiederkunft theologisch aufgefangen, als auch die bleibende Bedeutung des Erhöhten für die Seinen betont. 3.7 Johannesevangelium und Johannesbriefe

Nachösterliche Perspektive

Das JohEv lässt sich auf synchroner Ebene als literarisch und theologisch einheitlicher Text lesen (zu Modellen seiner Entstehung vgl. Kügler, Johannesevangelium 212–219; Theobald, Johannes 30–74), der ungefähr um 90 n. Chr. entstand. Die johanneische Christologie bietet im Vergleich mit den Synoptikern einen eigenständigen Entwurf, indem sie die Exklusivität Jesu als Offenbarer und Repräsentant des Gottes Israels stark herausarbeitet. Sie bleibt dabei freilich im Rahmen des frühjüdischen Gottesbildes und zieht zur Interpretation Jesu frühjüdische Modelle heran (Messias, Weisheit). Im JohEv trifft man auf eine vielfältige Vernetzung christologischer Titel, Motive und narrativer Darstellungsmuster. Die Einheit von irdischem und erwecktem Jesus prägt die Erzählung noch stärker als bei den Synoptikern, die nachösterliche Perspektive der Erzählung auf Jesus wird wiederholt offengelegt (2,22; 12,16; 13,7; 14,26; 16,13). Die drei Johannesbriefe stehen in der Tradition des JohEv und werden daher hier mitbehandelt; v.a. 1Joh teilt wesentliche christologische Aspekte mit dem JohEv. 3.7.1 Die Logos-Christologie im Prolog Joh 1,1–18

Prolog Joh 1,1–18

Logos

Der Prolog in Joh 1,1–18 dient als Verstehensschlüssel für das ganze Buch und gibt am Anfang der johanneischen Jesus-Vita die Herkunft Jesu an; darin sind seine Bedeutung und sein Geschick angedeutet. Der Prolog führt ein neues Modell in die frühe Christologie ein: den Logos. Der personifizierte himmlische Logos tritt in die Welt der Menschen ein, womit er der personifizierten Weisheit in der Weisheitstheologie Israels entspricht (Weish 9,1f.; 18,15; Philo, Legum allegoriae 1,65). Damit deutet der Prolog Jesu Herkunft auf dem Hintergrund des frühjüdi-

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

123

schen Weisheitsmythos (vgl. Weish 2; 7–9; Sir 24; Spr 1; 8; äthHen 42,1f.; Philo; dazu Wengst, Johannesevangelium I 37–39). Zum Weisheitsmythos zählen folgende Elemente: (a) Die Weisheit (der Logos) erscheint als erstes Geschöpf Gottes und wirkte selbst bei der Schöpfung der Welt mit (Schöpfungsmittlerschaft). (b) Daher besitzt sie einzigartige Nähe zu Gott und unmittelbare Vertrautheit mit ihm; sie kennt sowohl die Gesetze der Schöpfung als auch den Willen Gottes und kann Gott so gegenüber Israel offenbaren. (c) Sie wollte in Israel wohnen, erfuhr jedoch Ablehnung. (d) Wer sie aber annimmt, findet Orientierung zum gelungenen Leben. Genau diese mythische Grundstruktur prägt auch den Prolog in Joh 1,1–18, freilich mit einer auffälligen Besonderheit: Der Logos wird „Fleisch“ (1,14; vgl. 1Joh 4,2; 2Joh 7), d.h. ein Mensch, eine geschichtliche Gestalt in ihrer Bedingtheit und Endlichkeit. Die Menschwerdung des himmlischen Logos in der Person Jesu ist eine christliche Innovation, die die Präexistenz und die göttliche Offenbarerqualität Jesu stark betont. Die Inkarnation beinhaltet die Überzeugung, dass Gott gerade in Jesus offenbar wird; Jesus erscheint als exklusiver Zugang zu Gott (vgl. 14,6; Schnelle, Theologie 636). Für die Christologie sind drei Aspekte wichtig: (1) Der umfassende Anspruch Jesu: Der Beginn in 1,1 mit „im Anfang“ spielt auf Gen 1,1 LXX an und zeigt den Logos so bereits vor der Schöpfung bei Gott und als Mittler bei der Schöpfung, so dass er Relevanz für die ganze Schöpfung besitzt. Mit diesem Anspruch auf einen spezifischen Zugang zu Gott in Jesus verbindet sich eine neue Auslegung der Tora und der Tradition Israels, mit den Worten von 1,17: „Das Gesetz wurde durch Mose gegeben, die Gnade und die Wahrheit geschahen durch Jesus Christus“. Das Gesetz verliert keineswegs seine Gültigkeit, aber in Christus eröffnete sich eine neue Beziehung zu Gott („Gnade und Wahrheit“), von der aus neues Licht auf die Auslegung der Tora fällt. (2) Der personale Charakter der Offenbarung: Der Logos erscheint, entsprechend der frühjüdischen Weisheit, als personifizierte Gestalt und trägt so personalen Charakter. So kann ihn 1,14–17 mit dem Menschen Jesus identifizieren. Die Personifizierung verweist auf die frühjüdische Weisheit als Denkmodell und spricht gegen eine Herleitung aus dem Vernunft-logos der griechischen Philosophie (so aber Schnelle, Theologie 649). Die Rede vom „Einzigen (monogenēs) vom Vater“ (1,14) greift auf die urchristlich geläufige Sohn-Metaphorik zurück, spitzt diese aber zu auf die Exklusivität der Nähe des Logos zum Vater und seine einzigartige Offenbarerfunktion. Jesus wird zum „biographischen“ Ausleger Gottes (1,18:

Weisheitsmythos

Menschwerdung

Gott wird in Jesus offenbar Umfassender Anspruch

Personaler Charakter

124

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

exēgēsato/er legte aus), in seiner ganzen Existenz und Biographie Heilsintention

offenbart er Gottes Gegenwart und Heilsintention. (3) Die Heilsintention: Die Beziehung zu Jesus trägt soteriologischen Charakter: Es sind die „Glaubenden an seinen Namen“, denen er „Vollmacht gab, Kinder Gottes zu werden“ (1,12); diese sind „aus Gott geboren“ (1,13; vgl. 1 Joh 5,1.18) und dürfen sich des Heils bewusst sein: „aus seiner Fülle nahmen wir alle Gnade um Gnade“ (1,16). 3.7.2 Der „göttliche“ Logos und der eine Gott Israels

Logos und Gott

Gemäß dem Logos/Weisheits-Modell gehört der Logos zur himmlischen Sphäre Gottes und in dessen unmittelbare Nähe. Er ist engster Vertrauter Gottes, Gott wirkt und offenbart sich durch ihn. Wird Jesus damit selbst zu „Gott“? Der Prolog beginnt mit feinen Unterscheidungen in 1,1f.: Zitat

Im Anfang war der Logos, und der Logos war bei Gott (pros ton theon/bei dem Gott), 1c und Gott (theos) war der Logos. 2 Dieser war im Anfang bei Gott (pros ton theon/bei dem Gott). 1a

1b

theos

ho theos

Unmittelbare Nähe zu Gott

Der Text markiert deutlich, dass der Logos nicht mit Gott, dem einen Gott Israels, identisch ist („bei Gott“, 1,1b.2). Theos in 1,1c ist Prädikatsnomen und bezeichnet die Qualität des Subjekts Logos. Der Logos ist also von Gott unterschieden und hat zugleich Anteil an der himmlischen Qualität Gottes. Weiter hilft eine sprachliche Differenzierung, die sich auch bei Philo, De somniis 1,229f. findet: Nur der eine und einzige Gott ist ho theos (mit Artikel), theos (ohne Artikel) ist sein ältestes Wort, d.h. eine Wirkweise Gottes, die ganz eng mit Gott verbunden, aber dennoch klar von ihm unterschieden und ihm untergeordnet ist (vgl. Philo, Legum allegoriae 2,86; De somniis 1,239–241). Diese sprachlich feine, aber theologisch klare Unterscheidung zwischen dem einen Gott und dem Logos wird auch in Joh 1,1f. erkennbar. Damit bleibt das monotheistische Gottesbild Israels in Geltung, aber der Logos rückt in größtmögliche Nähe, in Unmittelbarkeit zu Gott (zur Diskussion Schreiber, Anfänge 194–201). So

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

heißt es zugespitzt in Joh 10,30: „Ich und der Vater sind eins“. Die Einheit bedeutet weder, dass sie in einer Gestalt zusammenfallen, noch in gleicher Weise Gott sind, sondern sie ist funktional begründet und kennzeichnet ihr Wirken mit identischer Intention: die Möglichkeit authentischer Offenbarung und Repräsentanz (vgl. 3,34; 12,45; 14,9). So sehr wird Gott im erweckten Jesus sichtbar, dass Thomas im Angesicht der österlichen Erscheinung Jesu in 20,28 das Bekenntnis spricht: „mein Herr und mein Gott“ (vgl. 1,18). In der Erweckung von den Toten kann Thomas nur die Macht Gottes am Werk sehen, die im erweckten Jesus unmittelbar sichtbar wird. Es handelt sich um eine Spitzenaussage neutestamentlicher Christologie (sonst nur noch in Hebr 1,8f.), die im Gesamtrahmen des Weisheits-Modells interpretiert werden muss und das Ringen um eine prägnante Sprache zur Beschreibung der Bedeutung Jesu zeigt. Diese Sprache steht vor der Herausforderung, die Einzigkeit Gottes einerseits, die Gottunmittelbarkeit des Logos andererseits zu erfassen. So ist in 1Joh 5,20 Jesus einerseits der „Sohn“, andererseits der „wahre Gott und ewiges Leben“. Das Bekenntnis zum einen Gott Israels spiegelt sich im Bekenntnis zu Jesus als einzigartigem Repräsentanten Gottes. Damit bleibt Gott die Ursache und das Zentrum von Offenbarung und heilvoller Zuwendung, entfaltet aber seine Wirksamkeit in Jesus. Eine gewisse Analogie bietet die frühjüdische Mose-Tradition: Um seine einzigartige Nähe zu Gott und seine Vollmacht als authentischer Mittler auszusagen, schreiben Ex 7,1 und Philo (De vita Mosis 1,158) Mose das Prädikat theos (Gott) zu. Mose repräsentiert in einmaliger Weise JHWH, den einen Gott Israels  – gleichgesetzt wird er dabei nicht mit ihm. Anderen Juden zur Zeit des JohEv konnten die Spitzenaussagen über Jesus als Verletzung des Gottesbildes Israels gelten, wie die jüdischen Vorwürfe in 5,18 („er macht sich selbst Gott gleich“) und 10,33 („du, der du ein Mensch bist, machst dich selbst zu Gott“) zeigen. Aber auch das Gefälle von Gott zu Jesus bleibt im JohEv präsent. In 5,19f. vermittelt der Sohn den Vater und bezieht seine gesamte Vollmacht nicht aus sich selbst, sondern vom Vater: Zitat

Der Sohn kann nichts von sich aus tun, wenn er es nicht den Vater tun sieht; denn was immer dieser tut, dies tut gleicherweise auch der Sohn. Denn der Vater liebt den Sohn und zeigt ihm alles, was er selbst tut […].

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Thomas: „mein Herr und mein Gott“

Mose als theos

Vollmacht vom Vater

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Gott bleibt der „eine Gott“ (5,44; 17,3), der „Vater ist größer als“ der Sohn (14,28), Jesus betet selbst zum Vater (17,1), Gott ist ebenso der Gott und Vater Jesu wie der Glaubenden (20,17). Im gesandten Christus ist der sendende Gott präsent (17,3). Hinweis

Konzilien von Nizäa und Chalzedon

Theologiegeschichtlich ist der Weg von den christologischen Spitzenaussagen im JohEv zu den trinitarischen Formulierungen der ersten Konzilien in Nizäa und Chalcedon nachvollziehbar. Er setzt ein verändertes Denkmodell voraus, das den Logos selbst als Teil Gottes denken kann. Statt des Weisheitsmythos wird die Philosophie des Neuplatonismus entscheidend, und auf dem Konzil von Nizäa (325) treten neue Kategorien wie „Wesen“ (ousia) und „wesensgleich“ (homoousios) hinzu. Im JohEv war das Verhältnis Jesu zu Gott noch nicht ontologisch, sondern offenbarungstheologisch reflektiert, und das monotheistische Gottesbild Israels blieb der selbstverständliche theologische Rahmen der Christologie.

3.7.3 Jesus als König, Lamm Gottes und erhöhter Menschensohn

Christus

König

(1) Christus und König: Was im Prolog mit dem Logos-Modell vorgezeichnet wurde, setzt das Christus-Modell in Joh 1,19–2,11 fort: Jesus wird als einzigartiger Repräsentant Gottes für Israel erkennbar. Die ersten Schüler Jesu bekennen sich zu Jesus als „Sohn Gottes“ (1,34), als „Messias, übersetzt Christus“ (1,41; vgl. 4,25), als den, „über den Mose im Gesetz schrieb und die Propheten“ (1,45), als „Sohn Gottes und König Israels“ (1,49). Das Motiv des Königseins Jesu ruft die königlich-nationale Messias-Tradition auf, entfaltet aber das eigene Profil des Königs Jesus (4,42; 6,1–15; 10,1–18; 12,1–8.12–19; 18,1–11; 19,19–22.38– 42). Jesu Antwort auf die Königs-Frage beim Verhör durch Pilatus bildet den Höhepunkt der Königs-Erzähllinie und enthält die zentrale Deutung: „Meine Königsherrschaft ist nicht aus dieser Welt […]. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, damit ich Zeugnis gebe für die Wahrheit“ (18,36f.). Jesu messianisches Königsein besteht also nicht in der Durchsetzung seiner Macht, sondern im Zeugnis für die Wahrheit, d.h. in der Offenbarung Gottes in seiner ganzen Existenz. Gott beherrscht die Welt nicht mit Gewalt, er setzt sich nicht über alle Widerstände hinweg

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

durch, sondern offenbart sich in einem machtlosen Menschen. Wenn die Verspottung Jesu durch die Soldaten in 19,2f. als Krönungs-Persiflage erscheint, kann man den eigentlichen König nur hinter Spott und Demütigung erkennen; er ist ein „himmlischer“ König. (2) Lamm Gottes: Die Integration des Todes Jesu in die Messias-Konzeption leistet am Anfang des JohEv die Metapher vom „Lamm“: Johannes der Täufer charakterisiert Jesus als „Lamm Gottes (amnos tou theou), das die Sünde der Welt wegnimmt“ (1,29; vgl. 1,36). Dabei ist wohl weniger an das Passalamm als Hintergrund zu denken, sondern an das Modell des wehrlosen, leidenden Gerechten, wo ebenfalls die Lamm-Metapher begegnet (mit Rusam, Lamm). Der Gottesknecht wird wie ein Lamm zur Schlachtbank gebracht, er trägt die Sünden der Welt (Jes 53,7; vgl. Jer 11,19f. LXX; PsSal 8,23). Das Modell beinhaltet (a) Unschuld und Verletzlichkeit/Wehrlosigkeit; (b) Verfolgung, Leiden, Tod; (c) Rehabilitation durch Gott. Damit lässt sich auch Jesu Todesgeschick als hintergründige Interpretation des machtvollen, königlichen Messias deuten: Als wehrloses Lamm wirkt Jesus Heil. Dabei trägt Jesus nicht nur die Sünden (wie der Gottesknecht in Jes 53,7), er nimmt die Sünde der Welt weg. Die Sünde als Unheils- und Todesmacht (im Singular als Kollektivum) ist gebrochen und damit schon in der Gegenwart eschatologisches Heil geschaffen. (3) Menschensohn: Das JohEv zeichnet den Menschensohn als endzeitlichen Ort der Offenbarung und Gegenwart Gottes. In Joh 1,51 steht er über einen regen Engelverkehr in direkter Verbindung zum geöffneten Himmel; in ihm wird der Traum Jakobs von der Himmelsleiter aus Gen 28,12 wahr. In Jesus findet nun eine authentische Begegnung mit Gott statt und er besitzt nun die gleiche Funktion wie Jakob, die Tradition und das Gottesbild Israels (endzeitlich neu) grundzulegen. So übernimmt Jesus auch die Funktion des Tempels in Jerusalem, des religiösen Zentrums Israels und Ortes des Wohnens Gottes (der seit der Eroberung Jerusalems durch römische Truppen im Jahr 70 n. Chr. zerstört ist). Denn das Wort Jesu „Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten (egerō)“ (2,19), das die Tempelaktion (2,13–22) deutet, wird ausdrücklich auf den „Tempel seines Leibes“ bezogen (2,21) – nun ist die Person Jesu der Ort der Gegenwart Gottes. Jesu Erweckung (2,22) bestätigt und legitimiert seinen Anspruch auf Verkörperung der Gott-Gegenwart, zugleich ermöglicht sie die bleibende Präsenz Jesu bei den Seinen nach seinem Weggang.

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Lamm Gottes

Leidender Gerechter

Menschensohn: Ort der Gegenwart Gottes

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Kreuz und Erhöhung

Verherrlichung

Eng mit dem Titel Menschensohn verbunden ist ein weiterer wichtiger Vorstellungskomplex: Erhöhung bzw. Verherrlichung Jesu. In Joh 3,14 fallen Kreuz und Erhöhung zusammen, was mit einem Vergleich aus der Schrift dargestellt wird: Wie Mose nach Num 21,4–9 die Schlange in der Wüste erhöhte, so muss auch der Menschensohn erhöht werden. Das Kreuz, das untrennbar mit Jesu Erweckung verbunden ist, wird zum Ereignis der Erhöhung (vgl. 8,28; 12,32f.). Das hat soteriologische Konsequenzen, wie der Text fortfährt: damit jeder „Glaubende“ das ewige Leben hat (3,15). Ist die Vorstellung der Erhöhung sonst mit Jesu Erweckung (als Inthronisation) verbunden (Phil 2,9; Apg 2,32f.; 5,31), erscheint im JohEv bereits der Tod als End- und Zielpunkt der Sendung Jesu, so dass Jesus mit dem Wort sterben kann: „Es ist vollendet“ (19,30). Die Erhöhung ist aber nicht auf den Tod Jesu beschränkt, sondern impliziert auch die Erweckung und die Rückkehr zum Vater (13,34), wie das Motiv des Hinaufgehens des Menschensohnes, wo er vorher war (6,62; vgl. 7,33; 14,28; 16,5.10.28; 17,11; 20,17), und das Motiv der Verherrlichung zeigen. In 12,27–33 sind Erhöhung und Verherrlichung verbunden. 12,23f. verknüpft die unmittelbar bevorstehende Verherrlichung des Menschensohnes im Bild des Weizenkorns mit seinem Sterben. Dies wird in 12,27f. theologisch präzisiert: Gott, der Vater, verherrlicht seinen Namen in „dieser Stunde“ (des Todes Jesu). Damit beginnt die endzeitliche Heilszeit, das Gericht über die Welt, bei dem der „Herrscher dieser Welt“ (der Satan) hinausgeworfen wird (12,31). Tod Jesu, Erweckung und Rückkehr zum Vater bilden im JohEv eine christologische Einheit, bei der Gottes Gegenwart in Jesus aufscheint. 3.7.4 Jesus als Offenbarer und Offenbarung

Selbstoffenbarung Jesu

In der literarischen Fiktion des JohEv hält Jesus etliche lange Reden, in denen er vor allem sich selbst offenbart. Die narrative Stilisierung als Selbstoffenbarung erlaubt es, die Offenbarung auf Jesus als ihre innere Mitte zu konzentrieren. Inhaltlich steht dabei erstens das Verhältnis Jesu zum Vater als dessen exklusiver Gesandter und Repräsentant im Zentrum und zweitens die Beziehung des Menschen zu Jesus und über ihn zu Gott als Möglichkeit, ein gelungenes und vollendetes Leben zu finden (vgl. das Nikodemus-Gespräch in 3,10–21; die Lebensbrot-Rede in 6,26–58; die Hirtenrede in Joh 10,1–18). Theologie und Soteriologie finden ihren Schnittpunkt in der Christologie. Drei Eigen-

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

tümlichkeiten der johanneischen Christologie verdienen besondere Aufmerksamkeit. (1) Vater-Sohn-Metaphorik und Sendung: Die im JohEv häufig verwendete Familien-Metaphorik von Vater und Sohn zielt auf die einzigartige Gemeinschaft beider, aus der sich Jesu Offenbarerfunktion ergibt. Der Vater wirkt und offenbart sich im Sohn; der Sohn ist Repräsentant und Stellvertreter Gottes auf Erden (Hahn, Theologie I 629). Wichtig ist dabei das Motiv der Sendung des Sohnes durch den Vater (z.B. 4,34; 5,36f.; 8,16.18.29.42; 12,44f.49; 13,20; 17,3.8.21.23; 1 Joh 4,10.14), das sich häufig mit einem soteriologischen Fokus verbindet (3,17: „damit die Welt durch ihn gerettet wird“). Sendung (griechisch apostellō bzw. pempō) meint Beauftragung und Bevollmächtigung des Gesandten, der damit alle Befugnisse erhält, die für seinen Auftrag erforderlich sind. Im JohEv umfasst die Sendung Jesu die authentische Repräsentation Gottes, so in 12,44f.: „Der an mich Glaubende glaubt nicht an mich, sondern an den mich Sendenden, und der mich Sehende sieht den mich Sendenden“. (2) Ich bin-Worte: Typisch für das JohEv ist die Sprachform der „Ich bin“-Worte, z.B.: Ich bin das Brot des Lebens (6,35.48), das Licht der Welt (8,12), der gute Hirte (10,11.14). Hinweis

Zur Sprachform der Ich bin-Worte existieren verschiedene religionsgeschichtliche Parallelen, die die Selbstoffenbarung einer Gottheit, eines göttlichen oder himmlischen Wesens ausdrücken, z.B. Ex 3,14 LXX: „Ich bin der Seiende“; Isis-Aretalogien: „Ich bin Isis, die Beherrscherin des ganzen Landes […]“; die Weisheit in Sir 24,18; Spr 8,12–31 (Material bei Theobald, Johannes 464–466). Eine direkte Ableitung ist freilich nicht möglich, vielmehr handelt es sich um Analogien, und die Form im JohEv bleibt in ihrer Metaphorik spezifisch.

Die Ich bin-Worte dienen der Selbstoffenbarung Jesu und wollen die Beziehung zu ihm als einzigartiger Bezugsperson eröffnen. Dabei legen sie das Gewicht der Offenbarung auf die Person des Offenbarers selbst. Jesus offenbart sich als umfassender Vermittler von Heil, der als der einzigartige Stellvertreter des Vaters vom Himmel kommt und mit den Menschen in Beziehung tritt. Die verwendeten Metaphern umschreiben die heilvolle Bedeutung

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Vater-SohnMetaphorik

Sendung

Ich bin-Worte

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Immanenz: Bleiben in Jesus

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Jesu für die Seinen. Besonders schön zeigt dies die Bildrede vom Weinstock und den Reben, die nur in enger Verbindung mit diesem Frucht bringen können (15,1–8). (3) Immanenzaussagen: Das gegenseitige Bleiben der Seinen in Jesus und umgekehrt (sog. reziproke Immanenz) spricht das JohEv häufig an, z.B. in 6,56 („der bleibt in mir und ich in ihm“); 14,10.20; 15,4–7.9f.; 1Joh 2,24; 3,24. Dieses Bleiben gründet aber in der reziproken Immanenz von Jesus und dem Vater: Jesus ist im Vater und der Vater in ihm (Joh 10,38; 14,10). Dabei handelt es sich um eine Beziehungsaussage (keine ontologische Aussage), die die Offenbarungs-Einheit von Vater und Sohn bedeutet (17,6–8). Beide Formen des Bleibens, das der Seinen in Jesus und das Jesu im Vater (und jeweils umgekehrt), gehören zusammen (14,20; 17,11.21–23; 1Joh 2,24; 4,15). Diese doppelte Beziehung spricht 15,9–12 als Bleiben in der Liebe an und führt sie weiter im Gebot der gegenseitigen Liebe der Schüler Jesu. 3.7.5 Lebenshingabe für die Freunde aus Liebe

Lebenshingabe als Vollendung der Liebe Jesu

Versöhnung wegen der Sünden

Mit Joh 13,1 beginnt der Eintritt Jesu in die Passion und sogleich erfolgt eine programmatische Deutung: In seinem Sterben gelangt Jesu Liebe zu den Seinen zur Vollendung, zu ihrem Höhepunkt (eis telos). Die Fußwaschung als symbolische Handlung demonstriert dann im Anschluss die Liebe Jesu (13,2–11). 15,9–17 vertieft das Motiv der Liebe: „Eine größere Liebe als die hat keiner, dass er sein Leben gibt für seine Freunde“ (15,13; vgl. 1Joh 3,16). Das Modell des „Sterbens für“ aus Liebe ist im antiken Freundschaftsideal bekannt (siehe 3.2.2). Damit erscheint Jesu Sterben für die Seinen nicht nur als höchste Form der Liebe, sondern spiegelt, da Jesus in seiner Person als Offenbarer und Stellvertreter Gottes auftritt, auch Gottes einzigartige Liebe zu uns. Bereits in Joh 3,16 heißt es: „denn so liebte Gott die Welt, dass er den einzigen Sohn gab“ (vgl. 1Joh 4,9). Wichtig ist, dass es sich beim Sterben Jesu aus Liebe um ein Beziehungsgeschehen handelt, das im Heilswillen Gottes begründet ist; eine Sühne- oder Opfervorstellung ist nicht im Blick. In 1Joh 4,10 tritt ein weiteres Motiv hinzu. Gott liebte uns, obwohl wir ihn nicht geliebt haben, was sich in der Sendung des Sohnes als „Versöhnung (hilasmos) wegen unserer Sünden“ konkretisiert (vgl. 2,2). Sucht in der Regel der antike Mensch die Versöhnung mit einer Gottheit (durch Gebet, Opfer oder Weihe-

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

131

geschenke), so wird hier Gott selbst zugunsten der in Sünden verstrickten Menschen aktiv – was seine Liebe zeigt. 3.7.6 Bleibende Präsenz Jesu Die Erscheinungserzählungen in Joh 20,1–21,23 gestalten die Zeitspanne zwischen dem Tod Jesu und seiner Rückkehr zum Vater (20,17). Die Erweckung ermöglicht die bleibende Präsenz Jesu bei den Seinen: Die Weitergabe der Sendung Jesu durch den Vater an die Schüler und die Verleihung des Geistes an diese, verbunden mit der Vollmacht zur Sündenvergebung, setzen ekklesiologische Akzente (20,21–23; vgl. 14,26). Der Geist fungiert als bleibende Wirkmacht Gottes in der Welt (3,5f.8; 4,24; 7,39). Jesus, selbst Geistträger von Anfang an (1,32f.), vermittelt den Geist, der vom Vater ausgeht (3,34; 6,63; 14,16f.26; 15,26; 16,7). Stehen im JohEv das in der Gegenwart erfahrbare Heil und die andauernde Präsenz Jesu bei den Seinen (14,15–21) im Vordergrund, so liegt in deren Glauben, ihrer Annahme Jesu, auch die Hoffnung auf ein Leben über den Tod hinaus begründet (5,25–29; vgl. 6,39f.44.54; 11,25f.). In 14,2f. findet sich ein Hinweis auf Jesu eschatologisches Kommen: „dann komme ich wieder und werde euch zu mir holen“; zuvor aber hat er einen Ort im „Haus meines Vaters“ für die Seinen bereitet. Die urchristlich geläufige Erwartung des Wiederkommens Jesu bleibt also auch im JohEv lebendig, wobei der Aspekt des Heils für die Seinen dominiert (vgl. 12,32; 16,16–22; 17,24; 21,22; 1Joh 3,2). 1Joh verwendet den Begriff „Parusie“ (1Joh 2,28) und blickt auf den „Tag des Gerichts“ aus (4,17). 3.7.7 Narrative Christologie: Das Leben Jesu als Spiegel Gottes Die Erzählung des Lebens Jesu im JohEv konzentriert die heilvolle Offenbarung des Gottes Israels in der Person Jesu. Die nachösterliche Perspektive und damit die Herrlichkeit des erhöhten Gottessohnes durchdringt stärker als bei den Synoptikern das Bild des irdischen Menschen Jesus. Präexistenz und nachösterliche Erhöhung, beides bei Paulus diskursiv ausgebildet, prägen in der narrativen Darstellung des JohEv die Vita Jesu selbst. Die unmittelbare Herkunft Jesu von Gott und die Möglichkeit des Menschen Jesus, in seiner Person, seiner ganzen Exis-

Verleihung des Geistes

Eschatologische Hoffnung

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Jesus als authentischer Repräsentant Gottes

tenz Gott authentisch zu repräsentieren, stehen im Zentrum der johanneischen Christologie. Der Gedanke der Sendung Jesu durch den Vater tritt gegenüber den Synoptikern wesentlich stärker hervor. Ziel ist es, durch die Lektüre der Erzählung in ihrer repetitiven, umkreisenden und damit meditativen Gestalt in die persönliche Beziehung zu Jesus und darin zu Gott zu führen: christologisches Erzählen als Beziehungsstiftung. 3.8 Die Offenbarung des Johannes

Mittler eschatologischer Offenbarung

Endzeitherrscher und Befreier

Loskauf aus Liebe

In der Offb (90er Jahre des 1.  Jhs.) steht die Christologie im Dienst der Kritik am kulturellen und politischen Einfluss des Imperium Romanum auf die jungen Christengruppen (zu den historischen Fragen Schreiber, Begleiter 71f., 180–188). Der himmlische Christus erscheint von Anfang an als Mittler eschatologischer Offenbarung (Offb 1,1), die er von Gott selbst empfangen hat. Sie vermittelt die Einsicht in verborgene Sinndeutungen der Weltgeschichte, die letztlich in Gottes endzeitlichem Handeln gründen. Christologische Akzente begegnen im Präskript und in den vier großen Christus-Visionen, die Christus als Menschensohn (1,9– 20; 14,14–16), als Lamm (5,1–14) und als Reiter auf einem weißen Pferd (19,11–21) zeichnen. (1) Christus als Endzeitherrscher und Befreier in Offb 1,4–8: Im brieflichen Präskript Offb 1,4–8 gibt Johannes ein kurzes Kompendium seiner Christologie. In 1,5a skizziert er die eschatologische Bedeutung des Christus durch die drei Prädikate „treuer Zeuge“, „Erstgeborener der Toten“ und „Herrscher der Könige der Erde“. Letzteres bezieht sich auf die endzeitliche himmlische Herrscherfunktion, die Christus seit seiner österlichen Erhöhung (Inthronisation) innehat. Zugleich ist er damit Herr über alle politischen Herrscher und auch über den römischen Kaiser, was in der Situation der Offb wichtig ist. Die Doxologie in 1,5b.6 zeigt die soteriologische Relevanz des Christus in drei Motiven: (a) Christus „liebt uns“. (b) Er „löste uns aus unseren Sünden durch sein Blut“. Das Blut meint Jesu gewaltsamen Tod. Mit dem Verb lyō (losmachen, befreien) wird die Metapher des Loskaufs, der Befreiung auf dem antiken Hintergrund des Freikaufs von Kriegsgefangenen (und Sklaven) wachgerufen (vgl. 5,9; 14,4 mit agorazō/kaufen; dazu 3.3, Nr. 4): Seine Lebensgabe aus Liebe bedeutet den im Auftrag Gottes („für Gott“, 5,9) vollzogenen Loskauf aus der Versklavung durch die Sünden. (c) Er

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

„machte uns zu einer Königsherrschaft, zu Priestern für seinen Gott und Vater“. Damit ist der neue eschatologische Status der Gemeinden umschrieben: In ihrem Leben hat bereits die endzeitliche Herrschaft Gottes begonnen. Die Zusage Gottes an Israel nach dem Exodus aus Ägypten von Ex 19,6 (LXX) ist erfüllt. Der Zuspruch von Königsherrschaft und Priestersein bedeutet die Teilhabe der Glaubenden an der Herrschaft Christi, ein Motiv, das in der Offb wichtig ist (Offb 5,10; 20,4.6; 22,5). Man kann von einer „Demokratisierung“ der Christologie sprechen, die aus der Partizipation der Seinen an der Herrschaft Christi über die Könige der Erde und an seiner Nähe zu Gott hervorgeht und eine enorme Statusaufwertung der Christen bedeutet. (2) Der Menschensohn in Offb 1,9–20 und 14,14–16: In der Beauftragungsvision in 1,9–20 sieht der Prophet eine Gestalt „ähnlich/gleich (homoios) einem Sohn eines Menschen“ (1,13). Die Schilderung in 1,13–16, die auf Dan 7,13 und 10,5f. zurückgreift, zeichnet den „Menschensohngleichen“ als himmlische Herrschergestalt in Macht und Herrlichkeit, die in ihrer Majestät auch an Epiphanien Gottes selbst erinnert (dazu Huber, Schwert 42–45). Der Menschensohn repräsentiert und vergegenwärtigt also Gottes Majestät. In der kurzen Vision von Offb 14,14–16 erscheint er als endzeitlicher Richter, indem er eine scharfe Sichel als Instrument der (Getreide-)Ernte trägt (Huber, Schwert 49– 51). Das Bild betont seine Vollmacht zum endzeitlichen Gericht über die Erde, das sich gegen alle gottfeindlichen Mächte durchsetzt und göttliche Gerechtigkeit schafft. Dieses Bild des Menschensohnes als des endzeitlichen Herrschers und Richters entfaltet urchristliche Bekenntnisaussagen über die Erhöhung und himmlische Herrscherposition Jesu in apokalyptisch-prophetischer Bildsprache. Die Selbstoffenbarung des Menschensohnes in Offb 1,17f., die die erste Vision abschließt, setzt dabei einen speziellen Akzent auf seine Funktion als Herr über Leben und Tod: „Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige“; „ich war tot, und siehe, ich bin lebend in die Äonen der Äonen“; „ich habe die Schlüssel des Todes und des Hades“. (3) Messias und Lamm in Offb 5: Die Erzählfigur des Lammes (arnion) stellt mit 28 Belegen die häufigste bildliche Repräsentation des Christus in der Offb dar. Im Hintergrund dürfte, ähnlich wie in Joh 1,29.36, das Lamm als Bild für den unschuldig verfolgten, wehrlosen Propheten bzw. Gerechten stehen (siehe 3.7.3 und Schreiber, Lamm-Perspektive). Die Einführung dieser Erzählfigur in Offb 5,1–14 lässt sofort einen scharfen Kontrast

133

Gemeinde als Priester

Menschensohn

Herr über Leben und Tod

Messias und Lamm

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II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

Der Reiter auf dem weißen Pferd

„getaucht in Blut“

hervortreten: Im himmlischen Thronrat wird ein Bevollmächtigter zur Aufrichtung der endzeitlichen Herrschaft Gottes gesucht (5,1–4). Dabei denkt man an einen starken, siegreichen Messias, wie die Prädikate „Löwe aus dem Stamm Juda“ (vgl. Gen 49,9) und „Wurzel Davids“ (Jes 11,1.10) zeigen (Offb 5,5). Tatsächlich aber betritt in 5,6 ein Lamm „wie geschlachtet“ den Thronrat. Der Kontrast von geschlachtetem Lamm und siegreichem Löwen liefert die entscheidende christologische Weichenstellung. Denn der Christus Jesus ist beides: In der Figur des Lammes verbinden sich der schändliche Tod Jesu am Kreuz und das frühjüdische Messias-Modell. Jesus bleibt der endzeitliche, mit herrscherlicher Macht begabte Messias (22,16), doch wird sein Tod zur Voraussetzung für die Übertragung endzeitlicher Vollmacht. In der Figur des Lammes bleibt Jesu Tod innerhalb seiner himmlischen Herrscherposition präsent. Zugleich erscheint das Lamm als bewusst stilisiertes Gegenbild zum „wilden Tier“ von Offb 13 (vgl. nur dessen Haupt „wie geschlachtet zum Tod“, 13,3), worin eine Umkehrung der politisch-gesellschaftlichen Machtverhältnisse durch Gottes Handeln entworfen wird: Anders als Roms Herrscher tritt das Lamm nicht als mächtiger Potentat auf, sondern empfängt seine endzeitliche Macht ausschließlich von Gott. (4) Der kriegerische Reiter in Offb 19,11–21: Der martialische Reiter auf dem weißen Pferd in Offb 19,11–21 stellt eine ganz außergewöhnliche Christus-Vorstellung dar. Er verkörpert den endzeitlichen machtvollen Richter und siegreichen Feldherrn in der letzten, entscheidenden Schlacht. Im Krieg gegen das „Tier“ und sein endzeitliches Aufgebot, also gegen die gottfeindlichen politischen Mächte der Erde, erweist er sich als siegreich, denn der Krieg endet mit der Unterwerfung bzw. Vernichtung der Feinde (19,19–21). Dabei vollzieht er das wirkmächtige Wort Gottes, wie sein Name „das Wort Gottes“ (19,13) signalisiert. Irritierend ist bei diesem Bild des glorreichen Siegers freilich sein Mantel „getaucht in Blut“ in 19,13. Damit könnte zwar das Blut der Gerichteten gemeint sein, doch tritt der Reiter bereits im blutigen Mantel auf, bevor er überhaupt Gericht hält oder die finale Schlacht schlägt. Daher dürfte das „Blut“ eher als Anspielung auf den gewaltsamen Tod Jesu zu deuten sein (Huber, Schwert 56f.), so dass auch hier wieder daran erinnert wird: Nur als der wehrlose Gekreuzigte kann Christus der endzeitliche Herrscher sein.

3. | Stationen neutestamentlicher Christologie

(5) Der Gott Israels und das Lamm: Die Offb beschreibt das Verhältnis von Christus zu Gott in Bildern im Rahmen ihrer metaphorischen Christologie. Den Denkrahmen bildet eine klare Theozentrik, die dem monotheistischen jüdischen Gottesbild entspricht: JHWH ist der eine und einzige Gott, der seine Herrschaft über den ganzen Kosmos beständig ausübt. So stellt die Thronsaal-Szene in Offb 4,1–11 den Thron Gottes ganz ins Zentrum und ordnet alle anderen himmlischen Wesen und kosmischen Gegebenheiten konzentrisch um diesen Thron an. Das Lamm wird in 5,1–14 zum endzeitlichen Repräsentanten und Mitherrscher Gottes. Es bekommt die Vollmacht zur endzeitlichen Herrschaft übertragen und rückt in unmittelbare Nähe Gottes: Es steht „zwischen dem Thron und den vier Lebewesen“ (5,6), die Thronratsmitglieder fallen vor ihm in einer Geste königlicher Huldigung nieder (5,8), dem Lamm werden göttliche Eigenschaften zugesprochen (5,12), der Hymnus in 5,13 gilt ihm in gleicher Weise wie dem thronenden Gott. Unübersehbar entfaltet die Erzählung die Übertragung der höchsten Position im Himmel gleich nach Gott an das Lamm. Andererseits bleibt das Lamm auch klar von Gott unterschieden und ihm untergeordnet: Es bekommt die endzeitliche Vollmacht erst mit der Urkunde von Gott übertragen (5,7). Gott allein ist in der Offb „Allherrscher“ (pantokratōr: 1,8; 4,8; 11,17; 15,3; 16,7.14; 19,6.15; 21,22). Christus spricht Gott als „meinen Gott“ an und unterstellt sich ihm damit (3,2.12). In der Ernte-Szene von 14,14f. kommt die Beauftragung durch Gott klar zum Ausdruck, indem ein Engel dem zur Ernte bereitstehenden Menschensohn erst den göttlichen Auftrag zuruft – Gott bestimmt, wann „die Stunde zu ernten gekommen ist“ (14,15). Die Offb denkt in den Kategorien einer Funktions- und Wirkeinheit des Lammes mit Gott. So eng ist das Verhältnis, dass Christus am Ende des Buches in 22,13 das Gottesprädikat „Ich bin das Alpha und das Omega“ (1,8; 21,6) als Selbstprädikation beigelegt werden kann. Der Menschensohn handelt im Auftrag und in Funktionseinheit mit Gott, er ist auf Gott bezogen und von ihm her bestimmt. Das jüdische Gottesbild bleibt in der Offb auch am Ende des ersten Jahrhunderts noch leitend.

135

Theozentrik

Repräsentant und Mitherrscher Gottes

Funktionseinheit mit Gott

136

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

4. Rückblick und Entwicklung

Nachösterliche Interpretation Jesu

Erweckung

Tod

Repräsentanz

Herkunft

Die ältesten christologischen Deutungen Jesu finden ihre Wurzeln im Auftreten des historischen Jesus als des Bringers und Bevollmächtigten der Königsherrschaft Gottes, der damit den Anspruch eines besonderen Gottesverhältnisses und besonderer Vollmacht verbunden hat, ohne sich mittels eines geprägten frühjüdischen Modells wie dem eines Messias in die religiöse Tradition seiner Zeit einzuordnen. Die Oster-Erfahrungen setzen einen Prozess der Interpretation Jesu in Gang. Frühe Bekenntnisse stellen die Erweckung Jesu durch Gott als christologisches Zentralereignis in den Mittelpunkt, das Jesu einzigartige Nähe zu Gott und seine einmalige Bedeutung als Mittler eschatologischen Heils einschließt. Daneben kommen die soteriologische Bedeutung seines Sterbens „für“ die Seinen sowie seine nachösterliche Einsetzung zum himmlischen Herrscher zur Sprache. Die Hoheitstitel Christus/Messias, Sohn Gottes und Kyrios (selten auch Menschensohn) bekennen Christus als den eschatologischen Repräsentanten und Bevollmächtigten des Gottes Israels. Die Fortschreibung dieser Interpretationen in den Schriften der ersten Christen, die heute im Neuen Testament vereint sind, lassen zentrale Themen erkennen: (1) Die Erweckung Jesu bedeutet den Anbruch der Endzeit und zugleich die Einsetzung Jesu in die himmlische Herrscherposition an Gottes Seite. Von dort her lässt sich sein endzeitliches Kommen in die Welt zur Vollendung der Gottesherrschaft erwarten (Parusie). (2) Der Tod Jesu bleibt erklärungsbedürftig. Mit verschiedenen Modellen aus der religions- und zeitgeschichtlichen Umwelt (Freikauf, Sterben aus Liebe, Gottesknecht etc.) wird seine Heilsbedeutung plausibel gemacht. (3) Für das Verständnis des Verhältnisses Jesu zu Gott bleibt das Repräsentanz-Modell aus den frühjüdischen MessiasTraditionen grundlegend. Die entscheidende Modifikation durch die ersten Christen nach Ostern bestand keineswegs in einer Identifizierung Jesu als „Gott“, sondern in der Integration von Tod und Erweckung Jesu in das Messias-Modell. (4) Korrespondierend zur Erhöhung Jesu wird auch die Frage nach seiner Herkunft verstärkt gestellt. War in vielen Bekenntnissen Jesu endzeitliche Bevollmächtigung mit seiner Erweckung bzw. Erhöhung verbunden (z.B. Röm 1,3f.; Apg 2,32.36; 5,31; 13,32f.), so wurde diese auch immer weiter im Leben Jesu vordatiert: bei seiner Taufe (MkEv), bei seiner Zeugung/Geburt (MtEv, LkEv), oder bereits vor seinem Erdenleben (Präexistenz: Phil 2,6f.; Joh 1,1–18).

4. | Rückblick und Entwicklung

Dabei ist es m.E. nicht möglich, eine lineare Entwicklung christologischer Vorstellungen von einer einfachen zu einer „hohen“ Christologie (als Überhöhung oder Vertiefung, z.B. im Präexistenz-Gedanken) zu rekonstruieren. Es handelt sich eher um einen Kern an Deutemustern, die in verschiedenen neuen Gesprächssituationen ausbuchstabiert, neu formuliert oder durch neue Modelle erweitert wurden. Ein entscheidender christologischer Entwicklungsschritt wird dann ab der Mitte des zweiten Jahrhunderts erkennbar, wenn verstärkt philosophische Kategorien zur Interpretation Jesu aufgegriffen werden, was zu den Formulierungen der altkirchlichen Konzilien von Nizäa und Chalcedon führte. Die Christologie der urchristlichen Schriften verbindet bis in die Spätzeit (Offb, Past) eine wesentliche theologische Gemeinsamkeit: Das monotheistische Gottesbild Israels bleibt die Grundlage, d.h. Jesus ist klar von JHWH, dem einen Gott Israels, unterschieden; Jesus wird nicht mit Gott auf eine Stufe erhoben, er hat nicht wie Gott keinen Anfang, er wird nicht im Wesen als Gott gleich gedacht (vgl. Hahn, Theologie I 600). Aber er wird als eschatologischer Mitherrscher und Vizekönig Gottes, als sein einzigartiger Repräsentant und Bevollmächtigter, der über aller Schöpfung und über allen himmlischen Wesen steht, begriffen. Diese einzigartige Stellung Jesu bildet die Voraussetzung für die ersten Christen, die eigene Identität spezifisch an Jesus festzumachen und sich allein in ihm auf die Beziehung zu dem einen Gott einzulassen. Die hoheitliche Deutung Jesu besitzt auch politische Implikationen in einer Welt, deren politische Ordnung von einem Einzelnen, dem römischen Kaiser, bestimmt ist. Jesus wird als erhöhter endzeitlicher Herrscher über die himmlische und irdische Wirklichkeit gedacht. Unausweichlich tritt er damit in eine ideologische Konkurrenz zum Kaiser Roms, der als uneingeschränkter, von den Göttern legitimierter und begünstigter Herrscher des Imperium Romanum und damit als Herr der Welt auftritt. Diese Konkurrenz wirkt sich nicht als öffentliche Kritik oder gar Revolution seitens der ersten Christen auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene, wohl aber im Selbstbewusstsein und bei der Identitätsbildung der ersten Christen aus. Vor hermeneutische Herausforderungen stellen die Unterschiede der Jesus-Deutungen im Neuen Testament zu den späteren christologischen Bekenntnissen der altkirchlichen Konzilien. Es existieren Unterschiede in der Sprache, aber auch in den Modellen der Verhältnisbestimmung von Gott und Jesus. Für

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Anwendung der Deutemuster

Monotheismus Israels als Basis

Christus als Repräsentant

Politische Implikationen

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Entwicklungen

Bleibende Bindung an den Anfang

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

das Verständnis ist entscheidend, dass dabei eine theologische Entwicklung des Bekenntnisses unter neuen philosophischen Prämissen vorliegt. Ein solches dogmenhermeneutisches Modell bietet den Rahmen für einen Diskurs mit anderen theologischen Disziplinen und dem Lehramt der Kirche. Die Überlieferung neutestamentlicher Christologie ermöglicht die bleibende Bindung an den Anfang. Die Identität der ersten Christen basierte auf der Überzeugung, dass sich gerade in dem einmaligen geschichtlichen Geschehen von Auftreten und Sterben Jesu von Nazaret Gott selbst offenbart und einen neuen Zugang zu sich eröffnet hat. Dieser einmalige geschichtliche Anfang besitzt fundamentale Bedeutung für alle weitere Christologie. Literatur

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140

II. | Von der Verkündigung Jesu zum verkündigten Christus

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III. Christologie im antiken Christentum Roland Kany 1. Antike Christologie und ihre Kritiker 1.1 Ein anti-christologischer Affekt Es gibt einen anti-christologischen Affekt. Er ist alt, vielleicht sogar so alt wie das Christentum selbst. Man könnte ihn schon ein wenig aus den drei synoptischen Evangelien heraushören. Darin fragt Jesus seine Jünger, wer er nach Ansicht der Menschen und nach ihrer eigenen Ansicht sei. Petrus bekennt, er halte ihn für den Messias (Mk 8,27–30 parr.) – Matthäus läßt Petrus hinzufügen: „den Sohn des lebendigen Gottes“ (Mt 16,16). Bei allen drei Synoptikern endet die Szene damit, dass Jesus seinen Jüngern verbietet, öffentlich zu sagen, dass er der Messias sei. Wer Jesus war, das auszusprechen scheint von Anfang an riskant gewesen zu sein. Wenn man es versucht, provoziert man Konflikte, damals wie heute. Weit ungefährlicher war und ist es, von Jesu Predigt und Tun zu erzählen. Die Christologie als methodisch durchdachter Antwortversuch gegenüber der Frage, wer Christus in Wahrheit war und ist, erscheint gleichwohl für ein redliches Christentum kaum vermeidbar. Denn was Jesus verkündigte, wie er handelte, was ihm widerfuhr, das alles kann für nachdenkliche Gläubige seinen vollen Sinn erst dann entfalten, wenn sie auch Rechenschaft davon ablegen können, wer er ihrem Glauben zufolge ist, und ob dieser Glaube wider alle Vernunft ist oder aber sich in Denkmodelle übersetzen lässt, die vor der kritischen Vernunft bestehen können. Sogar die von Christen geforderte Nächstenliebe beruht nicht allein auf Jesu ethischen Predigten und dem Vorbild seines Handelns, sondern erhält ihre Verbindlichkeit erst aus einem bestimmten Glauben, wer Jesus ist. In der Christologie wird dieser Glaube reflektiert und gibt dem viel beschworenen „christlichen Menschenbild“ eine Grundlage: Wenn Gott in Christus Mensch werden konnte und ein Mensch geworden ist, so wie das grundlegende Christologien behaupten, dann ergibt sich daraus ein neues Bild eines jeden Mitmenschen, eine neue Anthropologie und Ethik.

Unvermeidbarkeit der Christologie

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III. | Christologie im antiken Christentum

Unbehagen gegenüber der Christologie

Adolf von Harnack

Hans Küng

Vor allem in der modernen Theologie ist jedoch ein Unbehagen darüber verbreitet, dass es nicht beim erzählenden, flexibel, teils vage wirkenden Christusbild des Neuen Testaments geblieben ist, sondern dass in der Antike eine dogmatische Christologie entstanden ist, die in vielen Kirchen der Welt nach wie vor als verbindlich betrachtet wird. Als wichtigster Höhepunkt solcher Christologie gilt zumeist die Lehre der Konzilien des vierten bis siebten Jahrhunderts. Adolf von Harnack (1851–1930), der Kirchenhistoriker und Vertreter eines liberalen Kulturprotestantismus, behauptet in einer Vorlesung an der Berliner Universität 1899/1900, die international Aufsehen erregt: „Auf dem Boden der ‚Christologie‘ haben die Menschen ihre religiösen Lehren zu furchtbaren Waffen geschmiedet und Furcht und Schrecken verbreitet.“1 Harnack sieht das Eigentliche der Botschaft Jesu in der Ethik. Jesus habe aufgrund seiner Gottesbeziehung zum Halten seiner Gebote aufgefordert  – diese Ethik und nicht das Christusdogma solle künftig wieder Kern des Christlichen werden. In seinem großen Lehrbuch der Dogmengeschichte schreibt Harnack, „das Dogma“ wie etwa das christologische sei „ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums“,2 ihm liege eine „Fixierung und allmähliche Hellenisierung des Christentums als Glaubenslehre“ zugrunde.3 Und in der Tat: Evangelientexte wie die von Matthäus gestaltete Bergpredigt wirken überwältigend und können uns beinahe glauben lassen, wir selbst stünden am See Genezareth und lauschten einer Rede Jesu. Dagegen kann die verklausulierte christologische Erklärung des Konzils von Chalcedon, Christus werde „in zwei Naturen unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt, […] wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist“ usw., in uns den Eindruck hervorrufen, in einer staubtrockenen Dogmatik- oder Philosophievorlesung zu sitzen. Wie Harnack rät auch der katholische Theologe und Kirchenkritiker Hans Küng (geb. 1928) dem Christentum, in Zukunft hinter die „Hellenisierung der christlichen Botschaft“ zurück zum Neuen Testament zu gehen. Dessen Kern sieht er weniger

 1 Harnack, Adolf von: Das Wesen des Christentums, Leipzig 21900, 79 (neu hg. von Claus-Dieter Osthövener, Tübingen 32012, 75).  2 Ders.: Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1, Tübingen 41909 (= Darmstadt 1983), 20.   3 Ebd. 496.

1. | Antike Christologie und ihre Kritiker

in der Ethik wie Harnack denn vielmehr in der Eschatologie, die er der Dogmatik entgegensetzt: Es bestehe „ein gewaltiger Unterschied zwischen einer eschatologisch-endzeitlichen ‚Throngemeinschaft‘ Gottes mit seinem Christus nach dessen irdischem Leben durch Auferweckung und Erhöhung, wie sie im Neuen Testament verkündet wird, und einer protologisch-vorzeitlich zu denkenden, das heißt von Ewigkeit her immer schon gegebenen und ontologisch verstandenen ‚Wesensgemeinschaft‘ zwischen einem Gott Vater und einem Gott Sohn“, wie die Konzilien von Nizäa 325 und Chalcedon 451 sie lehren.4 Im Neuen Testament gehe es um „die Beziehung zwischen Gott und Jesus“, und Jesu Person werde darin „nicht im Sinn einer abstrakten Wesensaussage (‚Wesenschristologie‘), sondern einer Heilsaussage für uns Menschen (‚funktionale Christologie‘)“ charakterisiert.5 In Teilen der angelsächsischen, häufig von der Analytischen Philosophie beeinflussten Theologie wird ebenfalls die angebliche Hellenisierung des Christentums in der Christologie, insbesondere auf dem Konzil von Chalcedon kritisiert. Die Konzilschristologie habe nicht nur die ursprüngliche Botschaft Jesu verfälscht, sondern sei zudem in der Sache gescheitert. Das Konzil hatte definiert, Jesus Christus sei gleichzeitig Gott und Mensch. Diese doppelte Prädikation, so meinen manche englischsprachigen Theologen, sei aus rationaler Sicht unmöglich, weil sie gegen den Satz des Widerspruchs verstoße, demzufolge nichts gleichzeitig und in gleicher Hinsicht A und nicht-A sein kann. Darum könne auch niemand zugleich allwissender, allmächtiger, unwandelbarer, unsterblicher Gott und ein im Wissen begrenzter, ohnmächtiger, wandelbarer, sterblicher Mensch sein.6 Man könne die dogmatische Christologie traditioneller Gestalt nur um den Preis der Selbstaufgabe der Vernunft vertreten.  – Doch werden auch innerhalb der Analytic Theology Stimmen

 4 Küng, Hans: Das Christentum. Wesen und Geschichte, München/Zürich 2 2008, 224.  5 Ders.: Christ sein, München 1974, 437f.  6 Sturch, Richard: The Word and the Christ. An Essay in Analytic Christology, Oxford 1991, 17; Hick, John: The Metaphor of God Incarnate. Christology in a Pluralistic Age, Louisville 1993, 66. Vgl. den Überblick zu solchen Diskussionen von Amor, Christoph J.: Ist ein Gottmensch widerspruchsfrei denkbar? Zu den neueren Christologie-Entwürfen im angloamerikanischen Raum, in: ThPh 87 (2012), 349–375.

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Angelsächsische Theologie

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Christologie ohne dogmatische Formeln?

III. | Christologie im antiken Christentum

laut, die an der Berechtigung dieser Kritik zweifeln und die alte Christologie verteidigen.7 Die genannten Vorbehalte seit Harnack gegen die traditionsbildende Christologie des antiken Christentums entspringen zumeist dem berechtigten Anliegen, die christliche Verkündigung für die Menschen verständlich und glaubwürdig zu machen. Dieses Bedürfnis scheint in einer pluralistischen und globalen Welt noch gestiegen zu sein. Die alten, in der Neuzeit zu Lehrbuchformeln erstarrten christologischen Begriffe haben sich in den Augen der Kritiker überlebt. Hatte etwa die Neuscholastik als führende Methode der katholischen Dogmatik von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die Präzision klar definierter Begriffe ins Zentrum ihres Bemühens gerückt und mit größtem Respekt die Begriffe der christologischen Konzilsentscheidungen der Antike übernommen und weiterentwickelt, halten seit über hundert Jahren immer mehr Theologen genau diese Termini für tote Relikte einer vergangenen Metaphysik, die nicht mehr geeignet erscheinen, heutigen Menschen plausibel zu vermitteln, weshalb Jesus Christus für sie das Heil bedeuten kann. Solche Theologen hoffen, ein Zurück zur biblischen Sprache werde einen Gewinn an Unmittelbarkeit, Verständlichkeit und Flexibilität erbringen. Man kann allerdings skeptisch sein, ob etwa die von Küng erwähnte „eschatologisch-endzeitliche ‚Throngemeinschaft‘ Gottes mit seinem Christus“ selbst unter kundiger Exegese bessere Aussicht auf Verständlichkeit als die dogmatischen Formeln der Tradition hat. Doch zumindest erhoffen sich viele Theologen mehr Deutungsspielräume, wenn die weltweit in den meisten christlichen Kirchen üblichen Formeln der antiken KonzilsChristologie aufgegeben würden. Ob diese Hoffnungen realistisch sind oder ob die mit ihnen verbundene Transformation der Christologie am Ende, statt plausiblere Christusdeutung zu liefern, alte Formeln durch modische Phrasen ersetzt, kann man fragen.8 Dass alle christliche Theologie sich immer wieder neu

  7 So z.B. Pawl, Timothy: In Defense of Conciliar Christology. A Philosophical Essay (Oxford Studies in Analytic Theology), Oxford 2016.     8 So scheint die mit viel Aplomb als Verabschiedung der chalcedonischen Zweinaturenlehre eingeführte Wiederbelebung einer an der Herablassung (Kenose) Gottes orientierten Christologie durch David Brown (Divine Humanity. Kenosis Explored and Defended, London 2011, 220–266) mit dessen Erläuterungen der kenotisch gefaßten Inkarnation anhand der Schauspiel-

1. | Antike Christologie und ihre Kritiker

auf die Bibel zu besinnen hat, dass sie in der Bibel immer wieder Maß, Orientierung und Inspirationsquelle findet, dürfte unstrittig sein. Doch würde die heutige Reflexion über den Glauben, dessen Zeugnis die Bibel ist, möglicherweise viel verlieren, wenn sie die bedeutsamen Reflexionsergebnisse der antiken Tradition über Bord würfe und darum manche Holzwege von einst erneut beschritte. Dogmen können, in ihrer Funktion richtig verstanden und in ihren charakteristischen Interpretationsspielräumen sinnvoll genutzt, unter Umständen eine durchdachtere Theologie erzeugen, mehr beliebigkeitsresistente Kontinuität generieren und eher eine transsubjektive Identität fördern als dies ein Neuheitsanspruch vermag, der das geistige Potential der Tradition ungenutzt lässt und dem vergänglichen Zeitgeist huldigt. Die Kritik an den christologischen Dogmen der Antike setzt häufig bewusst oder unbewusst Annahmen voraus, deren Richtigkeit nicht immer erwiesen ist. Bei Harnack etwa scheint das protestantische Schriftprinzip einen der Hintergründe seiner Konzeption zu bilden. Die Reformatoren entwickelten in Abgrenzung zur katholischen Berufung auf „Schrift und Tradition“ die Auffassung, die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes sei die alleinige Quelle und Norm (sola scriptura) für den christlichen Glauben und die Verkündigung. Auf der Basis dieses Grundsatzes wurde häufig mehr oder minder deutlich angenommen, die gesamte Kirche und Theologie seien in der nachbiblischen Zeit vom zweiten bis zum fünfzehnten Jahrhundert in eine zunehmende Dekadenz verfallen, bis dann die Reformation zur Wahrheit, zur Bibel zurückgefunden habe. Das Zeitalter der christologischen Dogmen sei Teil dieses Niederganges. Schon in den ersten Jahrzehnten der Reformation radikalisierten Täufer und Antitrinitarier (Kritiker der Trinitätslehre) diese Sicht zu einem noch tieferen Bruch mit einer durch Kirche und Tradition vermittelten Bibeldeutung, und manche dieser Gruppierungen relativierten sogar die Geltung der Bibel, indem sie sich auf ihre unmittelbare Erfahrung des Heiligen Geistes beriefen. Nicht zuletzt, um solchen Auflösungserscheinungen zu wehren, verbanden schon Luther und Zwingli ihre Überzeugung von der Bibel

technik des „Method Acting“ im Wesentlichen die Argumente um echtes und unechtes Leiden Gottes in Christus modisch aufgehübscht zu wiederholen, die in den antiken Debatten um die Christologie Kyrills von Alexandrien vor 1600 Jahren bereits durchdacht wurden. 

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Das reformatorische Schriftprinzip

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III. | Christologie im antiken Christentum

als höchster Norm sehr bald mit einem Festhalten an bestimmten grundlegenden Überzeugungen der Alten Kirche. Sie ordneten die Entscheidungen der Konzilien von Nizäa 325, Konstantinopel 381 und Chalcedon 451 zwar an Autorität der Bibel deutlich unter, nannten die Konzilslehren jedoch schriftgemäß und zustimmungswürdig.9 Diesem Zugeständnis, das manchen Kritikern zufolge tendenziell dem Schriftprinzip widerspricht, wird heute auf dem Gebiet der Christologie von manchen protestantischen wie katholischen Theologen misstraut. Freilich wissen wir heute, dass die Heilige Schrift als Sammlung kanonisierter Texte selbst ein Produkt auch von Tradition ist. 1.2 Bibel versus Metaphysik?

Heilsgeschichte gegen Ontologie?

Die Kritik an der antiken dogmatischen Christologie beruft sich oft auf die Hypothese eines angeblich schroffen Gegensatzes zwischen biblisch-heilsgeschichtlichem Denken einerseits und einem im zweiten Jahrhundert beginnenden, seinsmäßigen (ontologischen), teils in philosophischen Termini formulierten christologischen Denken andererseits. Küng etwa stellt, wie oben erwähnt, das neutestamentliche „funktionale“ Christusnarrativ von der „Beziehung zwischen Gott und Jesus“ im Dienste einer Heilsaussage für uns Menschen dem „ontologischen“ Christusdogma der Konzilien gegenüber, das des Menschen Heil aus dem Auge verliere. Hier und in ähnlichen Ansätzen werden Begriffe wie „biblisch“, „heilsgeschichtlich“ („soteriologisch“), „beziehungsmäßig“ („relational“), „dynamisch“ fast synonym verstanden, positiv bewertet und auf die Bibel bezogen. Als Gegensatz dazu werden Begriffe wie „hellenistisch“, „metaphysisch“, „wesensmäßig“ („substanzhaft“), „ontologisch“, „statisch“ ebenfalls synonym verwendet, negativ bewertet und auf die Christusdogmen der Tradition bezogen. Wenn die Wertung nicht begründet wird, befinden wir uns in der Sphäre des Vorurteils. Harnacks These, das Dogma sei Ausdruck der Hellenisierung des ursprünglich biblisch-heilsgeschichtlich-jesuanischen Anfangs, also einer Abkehr vom Ursprünglichen, blendet zu stark aus, dass zwischen der hebräischen Bibel und dem griechischen

  9 Klar und knapp dazu Elert, Werner: Morphologie des Luthertums, Bd. 1, München ³1965, 176–185; Schindler, Alfred: Zwingli und die Kirchenväter, Zürich 1984, 50–78.

1. | Antike Christologie und ihre Kritiker

Neuen Testament die große Welt des griechischsprachigen Judentums liegt, das seinen Weg zwischen Hellenisierung und Hellenisierungskritik gemacht hatte. Jesus selbst lebte in einem zweisprachigen, aramäisch-griechischen Palästina. Das gesamte Neue Testament ist von Anfang an auf griechisch verfasst worden, es setzt die Septuaginta voraus, die griechisch übersetzte und erweiterte Bibel der hellenistischen Juden. Neutestamentliche Texte wie der Hebräerbrief lassen terminologische Spuren mittelplatonischer griechischer Philosophie erkennen, im Johannesevangelium gibt es Stellen, zu denen Schriften des jüdischhellenistischen Philosophen Philo von Alexandrien die engsten Parallelen bieten. Von einem gar nicht hellenisch beeinflussten Christentum zeugt kein einziges Dokument. Eine schroffe Entgegensetzung von biblisch-ursprünglichem und später hellenisiertem Christentum ist darum von vornherein historisch nicht sachgemäß. Sie ist aber auch kaum sachgemäß im Blick auf die Gesamtheit des patristischen Schrifttums.10 Kritiker wie Küng haben bei ihrer Kritik am Dogma zumeist primär die wenigen Zeilen technisch-formelhafter Lehre aus dem Bekenntnis von Nizäa 325 und der Lehrformel von Chalcedon 451 im Blick, in denen von Wesen (ousia), Natur (physis), Hypostasen (hypostaseis) usw. die Rede ist. Diese Begriffe scheinen in einem dramatischen Gegensatz zur biblischen Botschaft zu stehen. Doch in Wahrheit erschöpft sich das Nachdenken über Christus im patristischen Schrifttum bei weitem nicht in solchen Termini, wie im nächsten Abschnitt 1.3 gezeigt werden soll. Richtig ist zwar, dass im patristischen Zeitalter eine komplexe, teils intellektuell sehr anspruchsvolle theologische Kultur entstand, die in ihren Vorstellungen vom vernünftigen Argumentieren und Streiten vieles von der Philosophie, Philologie, Rhetorik und Rechtswissenschaft der Antike lernte und übernahm. Doch die antiken christlichen Denker pflegten einen selbständigen, kritischen Umgang mit den antiken Wissenschaften. Mit den Prozessen einer religionsbestimmten Rezeption griechischer Bildung gingen im antiken Christentum wie schon zuvor im griechischsprachigen Judentum stets Prozesse der Transformation, Kritik und Ablehnung paganer griechischer Auffassungen einher. Elementen einer

 10 Für den lateinischen Raum lässt man das patristische Zeitalter in der Regel im siebten Jahrhundert enden, für den griechischen im achten, für manche orientalischen Räume noch später.

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Das NT ist schon „hellenisiert“

Die Rezeption des Griechischen war mit Kritik verbunden

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III. | Christologie im antiken Christentum

Auflösung des Gegensatzes NT – Patristik

PseudoAristoteles

Porphyrius

Hellenisierung christlicher Überzeugungen stehen Elemente eine Christianisierung hellenischer Denkweisen mindestens gleichrangig gegenüber. Die Relativierung des vermeintlich schroffen Gegensatzes zwischen biblischem Denken und im zweiten Jahrhundert einsetzender Hellenisierung wird in jüngster Zeit auch durch eine Infragestellung früherer Konsense bezüglich der Chronologie neutestamentlicher Schriften verstärkt, konkret durch den Trend zur Spätdatierung mancher Texte des Neuen Testaments bis weit ins zweite Jahrhundert hinein. Was, wenn sich herausstellen sollte, dass verschiedene neutestamentliche Texte keineswegs älter sind als die vermuteten Anfänge der „hellenisierten“ Phase des Christentums? Was, wenn z.B. das Johannesevangelium in die Mitte des zweiten Jahrhunderts gehören sollte und bereits auf die gleichen intellektuellen Konflikte teils mit den gleichen Mitteln einer Logostheologie reagiert wie Justin und andere „Dogmatiker“? Was, wenn der Hebräerbrief in ein mittelplatonisch geprägtes intellektuelles Klima des zweiten Jahrhunderts gehört? In jedem Falle ist das Modell einer frühen Phase neutestamentlich-reiner Christlichkeit mit einer ihr folgenden Phase hellenisiert-kontaminierter Christlichkeit als überholt anzusehen. Und auch umgekehrt, von Seiten der antiken Philosophie, ist der vermeintliche Gegensatz griechischer Substanzmetaphysik gegenüber biblischer Soteriologie nicht mehr haltbar: Ein erheblicher Teil auch der antiken Philosophie zielt auf menschliches Heil (sōtēria): Die Aristoteles untergeschobene, in Wahrheit einem unbekannten Verfasser zuzuschreibende griechische Schrift „Über die Welt“ beispielsweise, die wohl im ersten oder zweiten Jahrhundert n. Chr. entstand und den Geist dieser Zeit gut spiegelt, stellt dem göttlichen Wesen (ousia), das sich nicht in diese Welt begeben kann, die göttliche Kraft (dynamis) gegenüber, die sich unmittelbar um das Heil (sōtēria) des Kosmos und der Menschen kümmert.11 Für den neuplatonischen Philosophen Porphyrius, der um 300 n.  Chr. schrieb, ist eine pagane Soteriologie ein Zentrum seines gesamten metaphysischen Denkens.12 Nicht einmal die unter heutigen christlichen Theologen beliebte Forderung nach Überwindung der griechischen Ontologie durch ein neuartiges, auf Beziehung oder Relation ausgerichtetes Denken benennt einen absoluten Gegensatz.

 11 Ps.-Aristoteles: De mundo 6,397b–398b.  12 Vgl. Smith, Andrew: Porphyry’s Place in the Neoplatonic Tradition. A Study in Post-Plotinian Neoplatonism, Den Haag 1974.

1. | Antike Christologie und ihre Kritiker

Denn ein Grundschema antiker Ontologie zielt bereits auf die Unterscheidung zwischen dem, was in Bezug auf sich selbst ausgesagt wird (Substanz) und dem, was in Bezug auf anderes ausgesagt wird (Relation). Die fundamentale Bedeutung von Beziehung war paganen Philosophen demnach seit dem vierten Jahrhundert v. Chr. bekannt.13 Man wird darum gut beraten sein, den offensichtlichen Unterschied zwischen der Sprache der neutestamentlichen Christusauffassung und der Fachterminologie antiker Konzilstexte nicht pauschalisierend in ein Dekadenzschema einzutragen, sondern zunächst einmal von den sehr verschiedenen Gattungen der Texte und ihrem jeweiligen Sitz im Leben her zu denken: Die biblischen Glaubenszeugnisse wollen etwas anderes als die nach Jahrhunderten der Reflexion über den Glauben zum Zweck der Beendigung von Streitigkeiten formulierten Dogmen. „Verstehst Du auch, was Du liest?“ (Apg 8,30) – das Verstehenwollen ist ein Antrieb, dem das Christentum in Gestalt einer reflektierenden Theologie früh folgte, auch im Neuen Testament selbst.14 Die Sprache der Auslegung und Explikation des Glaubens ist notwendigerweise nicht identisch mit der Sprache der Grundtexte dieses Glaubens, also etwa der Bibel. Ähnlich ist ja auch die Sprache der Literaturwissenschaft nicht identisch mit der Sprache der Dichtung, kann aber nur so ihre Funktion zum besseren Verständnis der Dichtung erfüllen. 1.3 Die Vielfalt antiker Perspektiven auf Christus Nicht nur im Neuen Testament wird Jesus Christus ohne die Terminologie der Dogmen des vierten und fünften Jahrhunderts betrachtet, sondern auch in Tausenden von christusbezogenen

 13 Belege dazu bei Kany, Roland: Augustins Trinitätsdenken. Bilanz, Kritik und Weiterführung der modernen Forschung zu „De trinitate“ (STAC 22), Tübingen 2007, 498f.  14 Man darf mit der Möglichkeit rechnen, dass unter Berücksichtung der Gattungen und Erzähltechniken selbst aus den synoptischen Evangelien eine implizite Christologie herausgearbeitet werden kann, die sachlich keinen Gegensatz zur begrifflich schärferen und expliziten Christologie der späteren Konzilien bilden muss. Das zeigt z.B. mittels einer narratologischen Analyse auf der Basis antiker rhetorischer Prinzipien die Arbeit von Nassauer, Gudrun Michaela: Heil sehen. Strategien anschaulicher Christologie in Lk 1–2 (HBS 83), Freiburg/Basel/Wien 2016.

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Verschiedene Gattungen

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III. | Christologie im antiken Christentum

Vielfalt der Christologien

Ephräm der Syrer

Texten der Kirchenväter vor und nach den Konzilien von Nizäa 325 und Chalcedon 451 begegnen die dogmatischen Formeln nicht oder kaum, also etwa in predigthaften und erzählenden Texten des zweiten bis achten Jahrhunderts. In Wahrheit ist die Vielfalt des gesamten antiken Nachdenkens über Christus und Lobpreisens Christi unvergleichlich größer als das Klischee eines hellenisierten, dogmatisch erstarrten Christentums suggeriert. Wer sich Vielfalt und Reichtum antiker Christusdeutung vor Augen hält, erblickt keine eindimensionale Entwicklung, sondern gewinnt den Eindruck, dass die Deutungen der Christusgestalt, von Paulus bis zu den Theologen der spätesten Antike, je nach gesellschaftlicher und kirchenpolitischer Funktion und Situation, je nach Eigenarten der literarischen Genres, je nach Stand und Entwicklung der Reflexion usw. vielgestaltig sind, wobei sich gleichwohl bestimmte Grundintentionen häufig wiederholen. Die erzählende und bildliche Sprache der Bibel wurde im antiken Christentum nicht etwa aufgegeben oder vergessen, sondern sie dominiert in dem erhaltenen Schrifttum quantitativ sogar. In beeindruckend beziehungsreichen sprachlichen Bildern besingt beispielsweise der bedeutende syrische Dichtertheologe Ephräm (um 306–373) den Retter und Erlöser Christus. In einem Hymnus lässt er Maria ein Lied an der Wiege ihres Sohnes singen:

Zitat

„Wer gab der Einsamen, dass sie empfing und gebar – (den, der nur) einer ist und (zugleich) viele, klein und groß, ganz bei mir und ganz überall? Der Tag, da eintrat Gabriel bei mir Armen, hat mich im Nu gemacht zur Herrin und zur Magd. Denn Magd bin ich Deiner Gottheit, doch auch Mutter Deiner Menschheit, oh Herr und Sohn! […]. Oh Wunder! Vor mir liegt ein Kind, ein Greis! Ganz gegen den Himmel ist sein Auge gerichtet, und doch ruht nicht das Lallen seines Mundes. Wie gleicht er mir! Und doch: mit Gott spricht sein Schweigen. Wie soll ich Dir öffnen die Quelle der Milch, Dir oh Quelle? Wie soll ich Dir geben Nahrung, Dir, oh Ernährer des Alls von Deinem Tisch?“ (Ephräm der Syrer)15

1. | Antike Christologie und ihre Kritiker

Ist diese syrische Dichtung Ephräms nun orientalische Poesie in der Fortsetzung des Hohenliedes der hebräischen Bibel? Oder handelt es sich um eine kreative Fortschreibung der Kindheitsgeschichte im Lukasevangelium? Oder wird in der Entgegensetzung von Mensch- und Gottheit in der zweiten Strophe dogmatisch „hellenisierte“ Christologie in Verse gegossen? Ephräms Dichtung ist offenbar von all diesem etwas, liest sich aber nicht als widersprüchliche Mischung, sondern als großartige, in sich schlüssige Christusdeutung eines antiken Christen. Klischees wie „biblisch“ versus „philosophisch“ zerschellen daran. Oder ein anderes Beispiel: Papst Leo der Große (gestorben 461) predigt wie folgt: Zitat

„Nicht zu Unrecht sahen die drei Weisen, als der Glanz des neuerschienenen Sternes sie zur Anbetung Jesu geführt hatte, den Herrn nicht, wie er bösen Geistern gebot oder Tote zum Leben erweckte, wie er Blinde sehend und Lahme gehend machte, wie er den Stummen die Sprache wiedergab oder in sonstigen Werken seine göttliche Kraft offenbarte. Nein, sie sollten ihn sehen als stilles und friedliches Kind, über das die besorgte Mutter wachte, an dem keinerlei Spur seiner Macht zu entdecken wäre, an dem sich nur eine wunderbar große Demut zeigte. Gerade die besondere Art seiner heiligen Kindheit, zu der sich Gott, der Sohn Gottes, herbeigelassen hatte, führte uns also vor Augen, was später unseren Ohren gepredigt werden sollte, damit wir schon durch das Gesehene lernten, was das Wort noch nicht zum Ausdruck brachte. Hatte doch der ganze Sieg des Erlösers, der den Satan und die Welt bezwang, seinen Anfang und sein Ende in der Demut.“ (Leo der Große)16

 15 Ephräm der Syrer: Hymni de nativitate V,19f.; 22f. (CSCO 186/187 = Syr. 82/83), geringfügig abgewandelt nach der deutschen Übersetzung des Editors Edmund Beck.  16 Leo der Grosse: Sermo 37,2 (Corpus Christianorum. Series Latina 138, 200f. Chavasse), revidierte Übersetzung von Steeger, Theodor (BKV2, Bd. 54, 181).

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Leo der Große

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Vielfalt antiker Christusbilder

Moderne Darstellungen der Christologiegeschichte

III. | Christologie im antiken Christentum

Auch hier gehen kreative Nacherzählung der Evangelien, phantasievolle und bilderreiche Auslegung und durchdachte Dogmatik eine enge Verbindung ein – wer wollte behaupten, abstrakte statische Ontologie habe hier die lebendige Bibelsprache verdrängt? Beide Texte vermitteln den Lesenden oder Hörenden einen Eindruck vom Heilsgeheimnis Christi. Diese Frage bewegte die meisten christlichen Autoren der Antike. Unzählige Oster-, Epiphanie-, Weihnachts- und Alltagspredigten von Bischöfen der christlichen Antike, dazu die liturgischen Formulare der Antike, die kanonischen und apokryphen Evangelien, die wörtlichen wie allegorischen Schriftauslegungen, Hymnen und Epen und viele weitere Werke antiker Christen feiern den Menschgewordenen und Auferstandenen mit unvergleichlicher Farbenpracht, Tiefe und Phantasie. In diesem vielstimmigen Chor gibt es auch Streitschriften, Abhandlungen, dogmatische Entscheidungs- und Kompromissformeln. Es wurde in der Antike immer wieder darum gerungen, welche Aussagen über Christus die Grenzen des Richtigen überschreiten und Implikationen haben, die den Sinn des christlichen Glaubens verletzen oder den schlechthin grundlegenden Gedanken der Erlösung der Menschen durch Christus nicht mehr zu denken erlauben würden. Entsprechende Festlegungsversuche sind dann ein wichtiger, aber begrenzter Aspekt einer viel größeren Vielfalt im antiken Christentum. Diese Vielfalt und Menge macht allerdings eine sie angemessen widerspiegelnde, noch dazu knappe Darstellung der antiken Christologie fast unmöglich. Die umfassendste Darstellung, die von Alois Grillmeier begonnene und von Theresia Hainthaler fortgeführte, konzentriert sich auf die technisch-fachtheologischen unter diesen Texten und ist dennoch mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem ersten Entwurf und nach fünf Bänden von fast 3.000 Seiten Umfang noch immer längst nicht abgeschlossen, obwohl sie die einzelnen Texte zumeist knapp und prägnant behandelt.17 Auch die etwas kürzere, in ihrem besonderen Augenmerk auf die unterschiedlichen Gattungen, Funkti-

 17 Grillmeier, Alois: Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. I (Freiburg/Basel/Wien 1979, 3. Aufl. 1990), Bde. II/1–4, unter Mitarbeit von Theresia Hainthaler (ebd. 1986–2002). Weitere Bände sind in Vorbereitung. Vorangegangen war Grillmeiers Abhandlung „Die theologische und sprachliche Vorbereitung der christologischen Formel von Chalkedon“, in: Ders./ Bracht, Heinrich (Hg.): Das Konzil von Chalkedon. Geschichte und Gegenwart, Bd. 1 Würzburg 1951, 5–202.

1. | Antike Christologie und ihre Kritiker

onsweisen, Kontexte und religionsgeschichtlichen Hintergründe christologischer Äußerungen moderner konzipierte, aber weniger auf Vollständigkeit angelegte Darstellung von Michel Fédou benötigt drei Bände für die Christologie bis zum achten Jahrhundert; wem auch das zuviel ist, der sei auf den sehr differenzierten, präzisen und anspruchsvollen Handbuchbeitrag von Adolf Martin Ritter über die gesamte theologische Lehrentwicklung des antiken Christentums und auf ein Buch von Basil Studer verwiesen, das in seinem Versuch, Soteriologie, Gotteslehre und Christologie des antiken Christentums als Einheit zu lesen, anregend ist.18 Alle diese Werke in einem kurzen Lehrbuchaufsatz zusammenzufassen, ist unmöglich. Damit der vorliegende Überblick dennoch seine Funktion innerhalb eines systematisch-theologisch ausgerichteten Buches nicht verfehlt, sollen einige wenige, für die wissenschaftliche Theologie des lateinischen Mittelalters und die Dogmatik des neuzeitlichen Christentums westlicher Prägung von größtem Einfluss gewordene Entwicklungen ausgewählt und skizziert werden. Genau diese Betonung der für die Dogmatik wirkungsgeschichtlich wichtigen Entwicklungen läuft allerdings Gefahr, genau denjenigen Eindruck zu bestätigen, den diese Einleitung gerade zu zerstreuen sucht, nämlich dass in der gesamten nachneutestamentlichen Antike abstrakt anmutende Formeln an die Stelle der biblischen Narrative getreten seien. Vielleicht hat sich der genannte Eindruck eben darum verbreitet, weil die neuzeitliche dogmatische Christologie mehrere ihrer grundlegendsten Konzepte eben jenem kleinen Ausschnitt aus der christologischen Überlieferung der Antike entnahm, der in solchen Formeln und Begriffen besteht. Darüber ging in der Vergangenheit das Bewusstsein des viel größeren Reichtums der patristischen und liturgischen Überlieferung der Antike mitunter ebenso in Vergessenheit wie der soteriologische Kontext der Formeln. Darum wurde in den voraufgegangenen Seiten ausdrücklich auf diesen größeren Reichtum hingewiesen.

 18 Fédou, Michel: La voie du Christ, 3 Bde., Paris 2006–2016; Ritter, Adolf Martin: Dogma und Lehre in der Alten Kirche, in: Andresen, Carl/Ritter, Adolf Martin (Hg.): Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte, Bd. 1, Göttingen 21999, 99–283; Studer, Basil: Gott und unsere Erlösung im Glauben der Alten Kirche, Düsseldorf 1985.

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III. | Christologie im antiken Christentum

Zusammenfassung

Es gibt eine verbreitete Ansicht, wonach nur das Neue Testament eine heilsgeschichtliche, an Jesu Beziehung zu Gott dem Vater orientierte Christusdeutung enthalte, wohingegen die angeblich philosophisch und nicht am Heil der Menschen ausgerichtete „Wesenschristologie“ der Kirche seit dem zweiten und insbesondere seit dem vierten Jahrhundert eine Sackgasse gewesen sei. Doch in Wahrheit ist die überaus umfangreiche, zahllose Genres umfassende christologische Überlieferung des gesamten antiken Christentums weit vielfältiger, bilderreicher und poetischer als dieses Klischee vermuten lässt. Die schroffe Entgegensetzung von neutestamentlicher und patristischer Christologie ist sachlich wie chronologisch fragwürdig. Der folgende Beitrag beschränkt sich auf einen winzigen Bereich der Theologie des zweiten bis achten Jahrhunderts, nämlich einige Ausschnitte aus den in der späteren Dogmatik rezipierten christologischen Ideen der Antike in ihren soteriologischen Kontexten.

2. Christologische Konzeptionen des zweiten und dritten Jahrhunderts Schon das frühe Christentum ruft den Namen des Herrn Jesus Christus an, betet also zu ihm.19 Während bei Jesaja noch Gott selbst spricht: „Ich bin der Gott, und es gibt keinen anderen außer mir; einen Gerechten und Heilbringer (sōtēr) gibt es nicht außer mir“, lässt die Apostelgeschichte den Petrus über Christus predigen: „In keinem anderen ist das Heil (sōtēria).“20 Ebenso gibt es aber auch frühe Texte wie den so genannten ersten Clemensbrief (um 95/120), worin Jesus Christus dem Gott deutlich untergeordnet wird: „alle Völker sollen erkennen, dass du der alleinige Gott bist und Jesus Christus dein Knecht“.21 Etwa eine Generation später dagegen schärft der zweite Clemensbrief ein: „Über Jesus Christus müssen wir so denken wie über Gott, […] und wir dürfen nicht gering denken über unser Heil (sōtēria).“22 Ob sich solche Texte, wenn wir ihre Entstehungsdaten genau wüssten, in eine Entwicklungsreihe bringen lassen, also ein Per-

 19 Apg 9,14; Röm 10,12–14; 1Kor 1,2; 2Kor 12,8. Vgl. Lohse, Bernhard: Epochen der Dogmengeschichte, Stuttgart 61986, 16f.  20 Jes 45, 21 LXX; Apg 4,12.  21 1. Clemensbrief 59,4: pais, wörtlich: „Kind“, nach Jes 42,1; 43,10 usw. Bezeichnung des messianischen „Gottesknechts“.  22 2. Clemensbrief 1,1.

2. | Christologische Konzeptionen des 2. und 3. Jhd.

spektivwechsel hin zu einer Gleichsetzung Jesu mit Gott nachweisbar wäre, sei dahingestellt. Wahrscheinlicher ist eine Pluralität von Vorstellungen in den ersten drei Jahrhunderten. Doch in jedem Fall gilt, dass man in letzter Konsequenz nur zu Gott beten und nur in Gott das Heil erlangen kann. Damit musste sich früher oder später immer dringlicher die Frage stellen, in welchem Verhältnis Jesus Christus nun wirklich zu Gott dem Vater stehe: Ist er der Gottesknecht, Menschensohn, wiedergekehrte Elia, oder ist er mit Gott identisch, oder ist Gott selbst nicht monolithisch, sondern in irgendeiner Weise plural zu denken? Aus diesen und analogen Fragen entstehen allmählich sowohl die Christologie wie die Trinitätstheologie. Letztere hat es in ihrer entfalteten Gestalt seit dem vierten Jahrhundert primär mit dem Verhältnis der drei „Personen“, also Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zu tun. Erstere handelt in ihrer entscheidenden Periode seit dem fünften Jahrhundert von Jesus Christus für sich genommen und im Verhältnis zu seinem Vater. Doch in den ersten drei Jahrhunderten sind trinitätstheologisch und christologisch relevante Überlegungen meistens noch nicht klar unterscheidbar. Die Geschichte der Trinitätslehre im antiken Christentum wurde vom Autor bereits in dem Band „Gotteslehre“ der vorliegenden Reihe genauer dargestellt.23 Auf diese Darstellung sei hier verwiesen. Im vorliegenden Kapitel 2 über das zweite und dritte Jahrhundert wird manches aus dem älteren Aufsatz wiederholt und um Spezifisches zur Christologie erweitert. 2.1 Frühe Christologien unter Rückgriff auf jüdische und pagane Modelle göttlicher und gottbegnadeter Instanzen Da das antike Christentum in Christus auf unterschiedliche Weisen den Heilbringer sieht, wurde es mit der Frage konfrontiert, wie sich dieser Glaube mit dem ererbten jüdischen Gottesverständnis zusammendenken lasse: „Vielleicht fragt jemand, wie wir – obwohl wir behaupten, einen einzigen Gott zu verehren – dennoch versichern können, es gebe zwei: Gott den Vater und

 23 Vgl. Kany, Roland: Trinitätslehre im antiken Christentum, in: Ruhstorfer, Karlheinz (Hg.): Gotteslehre (Theologie studieren  – Modul 7), Paderborn 2014, 133–185.

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Pluralität von Christologien

Gemeinsame Anfänge von Christologie und Trinitätstheologie

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III. | Christologie im antiken Christentum

PseudoAristoteles

Jüdische Mittelwesen

Engelchristologie

Gott den Sohn.“24 In diesem Zusammenhang griffen manche christliche Autoren auf vorhandene pagane und jüdische Vorschläge zur Lösung des schon älteren Problems zurück, wie sich die Überzeugung, es gebe nur einen wirklichen Gott, mit der aus unterschiedlichen Motiven naheliegenden Annahme einer Mehrzahl von göttlichen Instanzen vereinbaren lasse. Der oben (1.2) erwähnte pseudo-aristotelische Traktat „Über die Welt“ formuliert Argumente für die Existenz einer von Gott unterschiedenen, für Kosmos und Menschheit heilbringenden göttlichen Kraft (dynamis), weil der höchste Gott sich nicht selbst in diese unsere Welt hinein begebe, sondern sich dieser Kraft so bediene, wie ein Monarch sich seiner Helfer zur Verwaltung seines Reiches bediene. An derartige Vorstellungen konnte die Christologie anknüpfen. Schon Paulus nennt Christus „Gottes Kraft (dynamis) und Gottes Weisheit (sophia)“ (1Kor 1,24). Dynamis und Sophia, ebenso Logos (Vernunft/Wort) und Pneuma (Geist) Gottes sind auch im griechischsprachigen Judentum göttliche Instanzen, besonders prominent die in den „Sprüchen Salomos“ als Person auftretende Weisheit. In mancher Hinsicht vergleichbare Instanzen zwischen Gott und unserer Welt sind zudem die schon in der hebräischen Bibel oft erwähnten Engel. Im frühen Christentum gibt es entsprechende Versuche, in Anknüpfung an solche Vorstellungen zu bestimmen und zu erzählen, wer Christus eigentlich ist.25 Eine dieser Anknüpfungsformen ist die Auffassung, Jesus Christus sei die in diese Welt gekommene Weisheit Gottes. Eine andere, die so genannte Engelchristologie, war gerade in den stärker am Judentum orientierten Formen des frühen Christentums verbreitet und ist mancherorts bis ins vierte Jahrhundert nachweisbar. Jesus Christus wird hier als zwischen Gott und Mensch stehende Gestalt verstanden, und da dies traditionell eine Rolle der Engel ist, wird er

 24 Lactantius: Divinae institutiones IV,29,1.  25 Einen Überblick zu fast sämtlichen dieser frühen Christologien bietet Grillmeier, Bd. 1 (wie Anm. 17). Eine eigene Behandlung würden die diversen gnostischen und nicht-gnostischen apokryphen Evangelien und Apokalypsen (wie das Evangelium nach Thomas, die Epistula apostolorum oder die Himmelfahrt des Jesaja) sowie verwandte Texte erfordern, auch die manichäische Christologie und vieles mehr. Wie komplex die Materie ist, zeigt etwa Knight, Jonathan: The Origin and Significance of the Angelomorphic Christology in the Ascension of Isaiah, in: JThS 63 (2012), 66–105. Das alles kann im vorliegenden Rahmen nicht behandelt werden. Zu einigem davon Erstinformationen bei Grillmeier, 133–197.

2. | Christologische Konzeptionen des 2. und 3. Jhd.

als Gottes hervorragendster Engel gedeutet.26 Schon der griechischsprachige jüdische Schriftausleger und Philosoph Philo von Alexandrien, Zeitgenosse des Paulus, hatte den göttlichen Logos mit dem Erzengel identifiziert, dabei allerdings noch nicht Christus im Blick, von dem er nirgends spricht.27 Auch verschiedene Varianten einer Pneuma-Christologie gab es in der frühen Kirche: Hierbei konnten die Begriffe pneuma/spiritus die göttliche Natur Christi oder den präexistenten (schon vor der Geburt durch Maria existierenden) Christus bezeichnen, so in der deutlich eher binitarischen denn trinitarischen Konzeption des Lactantius um 300.28 Ein anderes alttestamentliches Modell, das für eine Christologie genutzt wurde, war das Prophetentum: Auch Propheten vermitteln zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre. Daraus konnte man unterschiedliche Christologien bilden. Das dem Judenchristentum wohl nahestehende Kerygma Petrou denkt Christus als den wahren Propheten, der seit Anbeginn der Welt die Gestalt wechselte, bis er seine Zeit erreicht und zur ewigen Ruhe gelangt.29 Judenchristliche „Elkesaiten“ lehrten offenbar, Christus habe schon früheren Propheten innegewohnt und sei wiederholt Mensch geworden;30 oder er sei als überdimensionaler männlicher Engel mit dem ähnlich riesenhaften Heiligen Geist als Pendant von weiblicher Gestalt erschienen.31 In Jesus Christus hätte er dann wohl seine endgültige Gestalt angenommen. Der Theologe Tertullian prägt um 200 n.  Chr., dabei weniger seine sonstige eigene Konzeption aussprechend als vielleicht judenchristliche Leser im Blick, den Ausdruck, Christus sei das

 26 Vgl. Barbel, Joseph: Christos Angelos, Bonn ²1964; Gieschen, Charles A.: Angelomorphic Christology. Antecedents and Early Evidence, Leiden/Boston/Köln 1998.  27 Philo: De confusione linguarum I,427.  28 Lactantius: Epitome divinarum institutionum 38,2.9: „[Jesus Christus] ist in einer Person Gottes- und Menschensohn. Zweimal nämlich ist er geboren […]. Er wurde wiedergeboren aus einer Jungfrau, ohne Vater, als Mensch, um, ebenso wie er bei der ersten geistlichen Geburt, geschaffen aus dem alleinigen Gott, ein heiliger Geist geworden war, so bei der zweiten fleischlichen [Geburt], aus einer Mutter allein gezeugt, ein heiliges Fleisch zu werden, damit durch ihn das Fleisch, das der Sünde unterworfen gewesen war, vom Untergang befreit werde.“ (Übersetzung Heck, Eberhard/Schickler, Gudrun, München/Leipzig 2001).  29 Kerygma Petrou überliefert bei Ps.-Clemens, Homilie III,20,2f.; 21,1.  30 Hippolytus: Refutatio IX,14,1; X,29,1f.  31 Ebd. IX,13,2f.

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GeistChristologie

Christus als Prophet

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III. | Christologie im antiken Christentum

Koran

Psilanthropismus

„Siegel aller Propheten“, weil in ihm all das Messianische eingetreten sei, das die Propheten der jüdischen Bibel verheißen hätten.32 Der Ausdruck, möglicherweise durch judenchristliche Strömungen der arabischen Halbinsel weiter überliefert, ist vier Jahrhunderte später durch den Koran zu neuer und weit prominenterer Bedeutung gelangt: Hierin ist es nun Muh.ammad, der als „der Gesandte Gottes und das Siegel der Propheten“ bezeichnet wird, weil er die Reihe der Propheten endgültig überbietet und abschließt.33 Teils verwandt erscheint die Ansicht einiger früher christlicher Theologen des zweiten Jahrhunderts, denen von anderen Christen vorgeworfen wurde, sie deuteten Jesus von Nazareth als einen bloßen, wenn auch einmalig gottbegnadeten Menschen. Dieser „Psilanthropismus“ (psilos anthropos, „bloßer Mensch“) scheint von manchen Judenchristen und in Rom um 200 von Theodot dem „Gerber“ (oder „Lederfabrikant“), der wohl einen christlichen Schulbetrieb in Rom unterhielt, und Theodot dem „Wechsler“ (oder „Bankier“) vertreten worden zu sein.34 Der Bischof von Rom, Viktor I., soll den älteren Theodot exkommuniziert haben. Mit der Christologie des Psilanthropismus verlässt man weder den Boden des Judentums noch des Heidentums notwendig und muss dann wohl auch keine Änderungen der Gotteslehre etwa in Richtung einer Trinitätslehre vornehmen. 2.2 Gnostische Christologien, Logos-Christologien, Monarchianismus Die zu Beginn von Teil 2.1 erwähnten paganen und jüdischhellenistischen Lehren von den göttlichen Instanzen wie auch viele ihrer frühchristlich-christologischen Fortsetzungen haben als Hintergrund oft eine für die Zeit charakteristische Tendenz, die materielle Welt als höchst defizient gegenüber der umso ent-

 32 Tertullian: Adversus Judaeos 8,12.  33 Koran, Sure 33 (al-Aḥzāb), 40. Zu der ganzen Thematik vgl. Colpe, Carsten: Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum, Heidentum und frühem Islam, Berlin 1989.  34 Eusebius von Cäsarea: Kirchengeschichte 5,28; Hippolytus: Refutatio VII,35f.; X,23f. Analyse der Quellen bei Löhr, Winrich: Theodotus der Lederarbeiter und Theodotus der Bankier – ein Beitrag zur römischen Theologiegeschichte des zweiten und dritten Jahrhunderts, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 87 (1996), 101–125.

2. | Christologische Konzeptionen des 2. und 3. Jhd.

schiedener transzendent (von dieser Welt gänzlich getrennt und ihr absolut überlegen) gedachten Sphäre des wirklich Göttlichen zu betrachten. Typischer Ausdruck dieser Tendenz sind manche der unter dem Begriff Gnosis zusammengefassten innerchristlichen Strömungen. In dieser kreativen bis phantasierenden Werkstatt christlicher Theoriebildung wurde beispielsweise die These entwickelt, dass unsere mangelhafte Welt das Werk eines unvollkommenen, vielleicht sogar schlechten Gottes sei, von dem ein guter, vollkommener, erlösender Gott unterschieden werden müsse. In diesem Punkt glich auch die Christologie Markions (ca. 85–ca. 160 n. Chr.) manchen gnostischen Theorien. In den uns erhaltenen Fragmenten von Markions Schriften ist nicht restlos klar, ob der gute, „fremde Gott“ der Erlösung sich in Jesus Christus unmittelbar gegenwärtig macht oder von diesem nur offenbart wird. Jesus Christus jedenfalls erscheint demzufolge plötzlich und unerwartet, nicht durch den Schöpfergott angekündigt, der einen anderen Christus verheißen hatte; Jesus habe einen Scheinleib, handle gleichwohl wirklich in dieser Welt.35 Möglicherweise sind Paradoxien hier beabsichtigt: Der fremde und höchste Gott, der Liebe und Güte schlechthin ist, scheint mit Jesus identisch und nicht identisch zugleich zu sein. In jedem Fall scheinen Markion und manche der Gnostiker des zweiten Jahrhunderts zwar von einem Enthusiasmus der Erlösung beseelt zu sein, dafür allerdings den Preis zu zahlen, sich in unserer als schlecht betrachteten Welt zutiefst fremd und unwohl zu fühlen. Das konnte unterschiedliche Auswirkungen auf ihr Christusverständnis haben. Manche Gnostiker haben wahrscheinlich wie Markion Jesus auf diese oder jene Weise, zumindest der Konsequenz nach, einen Scheinleib zugesprochen („Doketismus“); der Theologe Hippolyt, der eine andere, die Logos-Christologie vertritt, erzählt jedenfalls in den 220er Jahren von gnostischen Denkern, die annehmen, der „feurige Gott“ habe den Kosmos erschaffen, indem er die Finsternis als Substanz verwendet und sorgsam darauf geachtet habe, dass die Seelen in der Finsternis verbleiben; der Heilbringer (sōtēr) dagegen habe die (mit den Ideen des Platonismus identifizierten) Seelen erretten wollen, und weil er wusste, dass diese in ihrem jetzigen Zustand von seiner vollen, unvermittelten Kraft überfordert wären und daran zugrundegehen würden, „schloß er sich, wie ein mächtiger Blitz,

 35 Tertullian: Adversus Marcionem III,2,2f.; 9,1. Vgl. Aland, Barbara: Art. Marcion/Marcioniten, in: TRE 22 (1992), 89–101, hier 96.

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Ein mangelhafter Schöpfer-Gott und ein guter Erlöser-Gott Markion

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III. | Christologie im antiken Christentum

Ptolemaeus

Derselbe Gott ist Schöpfer und Erlöser

in einen sehr kleinen Körper ein“, bekleidete sich mit dem Fleische und begann so sein Erlösungswerk.36 Da alle Leiblichkeit und Materialität dem Reich der Finsternis zugehören, konnte aus solcher Sicht einem positiv verstandenen Christus keine echte Menschwerdung zugesprochen werden. Einer der Gnostiker, Ptolemaeus, scheint in einem komplexen Argumentationsgang die These anzudeuten, dass es zwischen dem vollkommenen, guten Gott und dem entgegengesetzten Schlechten (schlechten Gott oder Satan) eine mittlere Gestalt gibt, die geworden und darum geringer als die Ungewordenen ist; sie sei von anderem Wesen (ousia) und anderer Natur (physis) als die beiden entgegengesetzten Größen.37 Hier kommen erstmals Termini ins Spiel, die dann ab dem vierten Jahrhundert viel verwendet werden. – Andere Gnostiker können aber auch ganz andere Christusbilder gezeichnet haben. Doch die große Herausforderung der Theologie des zweiten Jahrhunderts war der Umgang mit der Frage, wie das Verhältnis zwischen dem Gott der jüdischen Bibel einerseits, der im Buch Genesis als der Schöpfer des Himmels, der Erde und der Menschen dargestellt wird, und Jesus Christus andererseits gedacht werden soll. Markion gelangte aus seiner Theorie der neuen Verkündigung Jesu vom fremden, schlechthin anderen Gott zur Ablehnung des Alten Testamentes, das von einem zwar gerechten, gesetzgebenden, aber nicht erlösenden Gott handle: Der Schöpfer und der Erlöser seien vielmehr zwei ganz verschiedene Gottheiten. In der „Mehrheitskirche“ des antiken Christentums wurde diese Sichtweise in ihren markionitischen wie gnostischen Formen spätestens seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts verworfen. Verschiedene Theologen wie Irenäus von Lyon und Tertullian begründeten diese Verwerfung ausführlich: Der eine, höchste Gott ist Schöpfer und Erlöser zugleich. Irenäus entwickelt gegen die Gnostiker das Konzept einer Christologie, in welcher der präexistente (d.h. schon vor seinem irdischen Dasein existierende), göttliche Sohn Mensch wird und u.a. durch seinen Widerstand gegen Versuchung (im genauen Gegensatz zu Adam) die Gottebenbildlichkeit der Menschen wiederherstellt und die Menschheit dadurch erlöst.38 In ähnlich antignostischen Zusammenhängen wurden die für die spätere Entwicklung beiden wichtigsten

 36 Hippolytus: Refutatio omnium haeresium VIII,10.  37 Ptolemaeus: Brief an Flora (bei Epiphanius: Panarion XXXIII, 7,4–8)  38 Irenaeus: Adversus haereses III,16; V,16.

2. | Christologische Konzeptionen des 2. und 3. Jhd.

Christologien geprägt, einerseits die Logos-Christologie, andererseits die monarchianische Christologie. Dabei knüpfen Logos-Christologien an die paganen und jüdisch-hellenistischen Vorstellungen von göttlichen Instanzen und die vielfältigen philosophisch-populärphilosophischen Logosbegriffe etwa der Stoa an.39 Justin der Märtyrer und christliche Philosoph (gestorben in den 160er Jahren) beispielsweise, einige Jahrzehnte später auch Hippolyt, Origenes und andere unterscheiden deutlich Jesus Christus den Gottessohn von Gott dem Vater: Es seien zwei verschiedene Gestalten, mit klarer Überordnung des letzteren gegenüber seinem Sohn. Indem die Logos-Theologen auf Lehren Philos von Alexandrien oder anderer Denker zurückgreifen,40 können sie gleichzeitig die beiden Gestalten Gott Vater und göttlicher Logos eng verbinden. Denn sie deuten Jesus Christus als den Logos (d.h. die Vernunft und das Wort) Gottes des Vaters, so dass vollkommene Eintracht zwischen beiden herrsche. Dieser Logos bestehe von Ewigkeit, da Gott nie ohne Vernunft ist. Der Logos sei dann zu gegebener Zeit in diese unsere Welt gesandt worden. In diesem Sinn macht sich der christliche Apologet Theophilus von Antiochien um 180 eine spezielle sprachphilosophische Verwendung des Logosbegriffs, die wohl vor allem in der Stoa verbreitet war,41 für die Christologie zunutze, nämlich die Unterscheidung zwischen endiathetos logos und prophorikos logos, also zwischen dem im Verstand des Menschen befindlichen Gedanken und dem durch die menschliche Stimme ausgesprochenen Wort, das diesen Gedanken in Raum und Zeit ausspricht. Christus der Logos ist demnach von Anfang an im Innersten des Vaters als dessen Vernunft und Klugheit gewesen, dem endiathetos logos vergleichbar, aber erst mit der Zeugung des Logos durch Gott zum Zweck der Erschaffung der Welt zum prophorikos logos geworden, und dieser Logos wurde dann vom Vater zu einer bestimmten Zeit in Raum und Materialität gesandt, wo der raum-

 39 Zum Ganzen vgl. Stead, Christopher: Art. Logos, in: TRE 21 (1999), 432– 444.  40 Vgl. etwa Philo von Alexandrien: De agricultura 51: Gott regiert alles, „nachdem er seine rechte Vernunft (orthos logos), seinen eingeborenen Sohn, zum Leiter eingesetzt hat.“  41 Vgl. Hans von Arnim (Hg.): Stoicorum veterum fragmenta II, Nr. 223 (= Sextus Empiricus: Adversus mathematicos VIII, 275); Hülser, Karlheinz: Die Fragmente zur Dialektik der Stoa, 4 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1987– 88, Nr. 528–535.

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LogosChristologien Justin der Märtyrer

Theophilus von Antiochien

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III. | Christologie im antiken Christentum

Ein zweiter Gott?

Monarchianismus

und zeitlose Vater nicht sein kann.42 Damit kann die LogosChristologie einerseits die Göttlichkeit des Logos betonen, aber gleichzeitig den Bogen schlagen zu dem geschichtlich aufgetretenen Jesus von Nazareth. Allerdings tut sich mit der Logos-Christologie oft ein Problem auf. Justin etwa sagt ausdrücklich, der im Unterschied zum unsichtbaren Gott dem Abraham, Mose und den Propheten erschienene Logos sei „ein anderer Gott (theos heteros) […] als der Gott, welcher die Welt erschaffen hat, ich meine: ein anderer der Zahl nach, nicht im Denken.“43 Die Rede vom anderen oder zweiten Gott ist riskant. Sie scheint dem Glauben an einen einzigen Gott zu widersprechen und trotz gegenteiliger Absicht eine gewisse strukturelle Verwandtschaft mit den gnostischen und markionitischen Formen einer Unterscheidung zweier Götter (Schöpfer- und Erlöser-Gott) aufzuweisen. Zwar vertritt die Logos-Christologie gerade umgekehrt (und vielleicht bewusst anti-gnostisch und anti-markionitisch) die Überzeugung von der Nichtgegensätzlichkeit und völligen inneren Übereinstimmung des göttlichen Logos mit dem göttlichen Vater. Gleichwohl kann sie den Eingottglauben nur retten, indem sie Gott den unsichtbaren Vater zum eigentlichen, höchsten Gott erklärt und den Sohn oder Logos zu einem zweiten Gott in einem uneigentlichen oder minderen, subordinierenden Sinn, etwa wie eine göttliche Instanz. So haftet der Logos-Christologie eine Zweideutigkeit an. Wahrscheinlich häufiger als die Logos-Christologien wird im Christentum des zweiten und dritten Jahrhunderts die gegen die Gnostiker gerichtete Theorie vertreten, wonach der Gottessohn, wie er in Jesus Christus erschienen ist, kein anderer sei als der Gott, von dem schon die Juden als dem Vater sprechen konnten. Diese Monarchianer, darunter Noët von Smyrna und Praxeas, betonen, dass es ihnen darauf ankomme, die Alleinherrschaft und Alleinursächlichkeit des einen erlösenden Gottes, die monarchia Gottes zu sichern.44 Gott der Vater und der Gottessohn seien ein und derselbe. Gleichzeitig wenden sich die Monarchianer gegen eine Relativierung der wirklichen menschlichen Exis-

 42 Theophilus von Antiochien: Ad Autolycum II,22; vgl. z.B. Philo: De vita Mosis II,127. Irenaeus: Adversus haereses II,13, setzt sich kritisch-produktiv mit verwandten Überlegungen valentinianischer Gnostiker auseinander.  43 Justinus der Märytrer: Dialogus cum Tryphone 56,11.  44 Vgl. dazu Hübner, Reinhard M.: Der paradox Eine. Antignostischer Monarchianismus im zweiten Jahrhundert (SVigChr 50), Leiden u.a. 1999.

2. | Christologische Konzeptionen des 2. und 3. Jhd.

tenz Jesu. Die früheste erhaltene Glaubensdefinition eines römischen Bischofs, nämlich des Zephyrin (amtierte ca. 198/199–217), ist genau so zu verstehen: „Ich kenne einen einzigen Gott Christus Jesus und außer ihm keinen anderen gezeugten und leidensfähigen.“45 Die klassische Formulierung des Monarchianismus ist diejenige Noëts, der um 170 Bischof in Kleinasien gewesen war und dessen Schüler wohl seine Lehre nach Rom gebracht hatten. Noët selbst dürfte wohl die paradoxe Reihe aufgestellt haben, die der Logos-Theologe Hippolyt, Kritiker solchen Monarchismus, dieser theologischen Richtung generell zuschreibt:

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Noët

Zitat

Der Eine und selbe Gott sei der Schöpfer und Vater aller Dinge. Als es ihm gefiel, sei er den Gerechten der ersten Zeit erschienen, obwohl er unsichtbar sei; wenn er nämlich nicht gesehen wird, ist er unsichtbar (aoratos), wenn er sich aber sehen läßt, ist er sichtbar (horatos); er ist unfaßbar (achōratos), wenn er nicht erfaßt werden will, faßbar (chōratos) aber, wenn er sich fassen läßt. So ist er in gleicher Weise ungreifbar (akratētos) und greifbar (kratētos), ungezeugt (agennētos) und gezeugt (gennētos), unsterblich (athanatos) und sterblich (thanatos).46

Es finden sich viele teils enge, teils entferntere Parallelen zu dieser in ihrer Prägnanz sehr beeindruckenden Reihe von Antithesen im antiken Christentum. Diese Parallelstellen dürften wohl zumeist direkt oder über Vermittler von Noët herrühren.47 Gelegentlich wurden sie vielleicht auch unabhängig von ihm neu geprägt. Eng an die zitierte Reihe lehnt sich eine berühmte Stelle im Epheserbrief des „Ignatius von Antiochien“ an, ein in der vorliegenden Gestalt wohl ins letzte Viertel des zweiten Jahrhunderts gehörender Text, in dem gegen die valentinianische Gnosis in der zeittypisch-rhetorischen Stilisierung gerufen wird:

 45 Bei Hippolyt: Refutatio IX,11,3. Vgl. Hübner, 234.  46 Ebd. IX,10,9–12; X,27,1–2. Vgl. Hübner, 12.  47 Vgl. dazu Hübner, passim.

Ignatius von Antiochien

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III. | Christologie im antiken Christentum

Zitat

„Einer ist Arzt, aus Fleisch zugleich und aus Geist, gezeugt und ungezeugt, im Fleische erschienener Gott, im Tode wahrhaftiges Leben, aus Maria sowohl wie aus Gott, zuerst leidensfähig und dann leidensunfähig, Jesus Christus, unser Herr.“48

Mangelnde Unterscheidung der Personen

Die paradoxe Reihe konnte in unterschiedliche Kontexte eingebettet werden. Origenes etwa, der keinen Monarchianismus vertritt, sondern der Logos-Theologie nahesteht, kann in einer Homilie gleichwohl Elemente der Reihe mit der Christologie des Philipperbriefs (2,6–11) verbinden, um die Erlösung rhetorisch wirkungsvoll den Hörern einzuprägen: „Während er in der Gestalt Gottes war, wird er gewürdigt, in Knechtsgestalt zu sein; während er unsterblich ist, stirbt er, und der nicht Leidensfähige leidet, der Unsichtbare wird sichtbar.“49 Der strenge, antignostische Monarchianismus Noëts lässt sich nicht auf Vermittlungsversuche durch Theorien göttlicher Instanzen ein, macht sich daher auch keine Logos-Konzepte zueigen, sondern konzentriert sich in kompromissloser Schärfe auf die paradoxe Formulierung des christlichen Erlösungsgeheimnisses: Der leidensunfähige, unsichtbare, unfassbare Gott macht sich in Jesus Christus leidensfähig, sichtbar, fassbar. Damit kann Christus ganz und gar als Erlöser gedacht werden, ohne den Glauben an den Einen Gott verlassen zu müssen – allerdings nur mit Hilfe einer unaufgelösten, wahrscheinlich als unauflösbar betrachteten Paradoxie. Der Monarchianismus wurde im Laufe des dritten Jahrhundert an den Rand gedrängt und zur Häresie erklärt. Einer der ersten Kritiker des Monarchianismus, der Nordafrikaner Tertullian (ca. 160–ca. 220), begründet den Vorwurf falscher Lehre in seiner Schrift gegen den Monarchianer Praxeas: Dieser ebne die im Neuen Testament unzweifelhaft gegebene, unmissverständliche Unterscheidung der Personen (personae) ein. Statt den Sohn

 48 Ignatius v. Antiochien: An die Epheser 7,2. Zur Datierung vgl. Hübner, Reinhard M.: Thesen zur Echtheit und Datierung der sieben Briefe des Ignatius von Antiochien, in: ZAC 1 (1997), 44–72; erneut und mit einer Auswertung der seitherigen Diskussion in: Ders.: Kirche und Dogma im Werden. Aufsätze zur Geschichte und Theologie des frühen Christentums, hg. von Roland Kany, Tübingen 2017, 63–92.  49 Origenes: In Leviticum Homilia III,1.

2. | Christologische Konzeptionen des 2. und 3. Jhd.

nach Art der Monarchianer mit Gott dem Vater direkt zu identifizieren, müsse man die Einheit des göttlichen Wesens (substantiae unitas) angemessener fassen, indem man die göttliche „Ökonomie“ beachte, welche die Einheit in der Dreiheit (trinitas) anordne, und den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist als drei nicht der Substanz nach, wohl aber der Form nach denke.50 Tertullian weist terminologisch weit über seine Zeit hinaus, denn die genannten Begriffe sind im vierten und fünften Jahrhundert für Christologie und Trinitätslehre zentral. Der Begriff „Person“ darf dabei nicht neuzeitlich als Inbegriff dessen verstanden werden, was einen Menschen ausmacht, sondern eher als Begriff der antiken Grammatik und Textinterpretation. Bei der Lektüre eines Textes muss man immer bedenken: Wer spricht gerade, welche persona? Die Monarchianer beachten in Tertullians Augen nicht, dass sie infolge ihrer Christologie die Stellen im Neuen Testament, in denen sich Jesus an seinen Vater wendet, zu Selbstgesprächen Gottes umdeuten müssen, und damit behaupten, Gott der Vater und Schöpfer des Himmels und der Erde sei ans Kreuz geschlagen worden und habe dort gelitten.51 Dieser Vorwurf des sogenannten Patripassianismus (der Vater leidet) trifft ins Zentrum des Monarchianismus und benennt eine dramatische Schwierigkeit, da die Vorstellung eines leidenden Gottes nach antiker Überzeugung ausschließt, dass es sich dabei um den höchsten, wahren Gott handeln kann, der unveränderlich und vollkommen ist. Innerhalb des Monarchianismus gab es offenbar Versuche, die Konzeption durch mehr Komplexität zu retten. So unterscheidet der römische Bischof Kallist (Bischof ca. 217/218–222) zur Vermeidung des Patripassianismus in Jesus Christus einen leidensunfähigen göttlichen und einen leidensfähigen menschlichen Teil.52 Doch wird er von einem anderen Monarchianer namens Sabellius dafür gerügt, den Glauben Noëts verlassen zu haben,53 der nun gerade darauf zielte, in antignostischer Absicht die absolute, wenn auch paradoxe Identität des leidensunfähigen Leidenden zu betonen. Der einst von vielen Theologen vertretene Monarchianismus wurde bald als „Sabellianismus“ zur Häre-

 50  51  52  53

Tertullian: Adversus Praxean 2,4. Tertullian: Adversus Praxean 2,1. Hippolyt: Refutatio IX,12,16–19. Ebd. IX,12,16.

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Vorwurf des Patripassianismus

Monarchianismus als Häresie

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III. | Christologie im antiken Christentum

sie erklärt und verurteilt.54 Er hatte den Vorwurf des Patripassianismus nicht überzeugend ausräumen können. Während der Logos-Theologe Hippolyt in Rom unter Kallist noch als Häretiker und Ditheist (an zwei Gottheiten Glaubender) verurteilt wurde, weil er Gott den Vater und den Sohn als zwei Personen (prosōpa) bezeichnet hatte,55 wurde genau dieser Terminus „Person“ bald ein gängiges Mittel der Unterscheidung von Gott dem Vater und dem Sohn. Im Laufe des dritten und vierten Jahrhunderts setzte sich die Ansicht durch, die auf Latein bei Tertullian zumindest terminologisch schon grundgelegt ist, dass nämlich die Einheit der Substanz Gottes das eine, die Unterscheidung der göttlichen Personen das andere ist. Zusammenfassung

Von Anfang an geht es in der christlichen Theologie um die Frage, wie das Heil, das durch Jesus Christus dem Menschen zuteil wird, mit dem Glauben an einen einzigen Gott verbunden werden kann. Im Rückgriff auf pagane und jüdische Vorstellungen göttlicher, aber nicht mit dem höchsten Gott identischer Instanzen entstehen Christologien, die Jesus Christus als Gottes Weisheit, Geist, Logos usw. deuten. Andere Christologien versuchen, ihn als Propheten zu sehen oder auch ausdrücklich als bloßen Menschen. Zu einer besonderen Herausforderung werden gnostische und markionitische Christologien, die teils scharf zwischen dem schlechten Schöpfergott und dem (Jesus zugeordneten) guten Erlösergott trennen oder Jesus eine Art Scheinleib zusprechen. Gegen diese Konzepte richten sich die Logos-Christologien, die von der Eintracht zwischen dem einen, wahren Gott und seinem Logos ausgehen, letzteren allerdings zumeist dem wahren Gott deutlich unterordnen. Der Monarchianismus versucht, der Gnosis durch paradoxe Identifikation zu widersprechen: Der Sohn ist der Vater, in Christus ist der Leidensunfähige leidensfähig geworden, der Unsichtbare sichtbar, der Ungreifbare greifbar geworden. Da auf diese Weise Gott dem Vater selbst das Leiden zugeschrieben wird, erklärt man den Monarchianismus bald zur Häresie.

 54 Bienert, Wolfgang A.: Sabellius und Sabellianismus als historisches Problem, in: Logos (FS Luise Abramowski), hg. von H. Chr. Brennecke/E. L. Grasmück/Christoph Markschies, Berlin/New York 1993, 124–139.  55 Hippolyt: Refutatio IX,11,3; 12,15f. Vgl. Hübner, Der paradox Eine (wie Anm. 44), 235.

3. | Von Origenes zur Phase der Streitigkeiten

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3. Von Origenes zur Phase der Streitigkeiten des vierten Jahrhunderts Mit Origenes beginnt eine neue Phase der Theologiegeschichte. Das christliche Nachdenken über den eigenen Glauben vermag jetzt das Reflexionsniveau der bedeutendsten paganen Wissenschaftler der Zeit zu erreichen. Von Origenes’ Gedanken aus nehmen diverse Richtungen in Anknüpfung oder Kritik ihren Ausgang, von hier aus beginnt allmählich die Zeit der dogmatischen Festlegungen, die mit dem Konzil von Nizäa 325 anhebt. 3.1 Zur Christologie des Origenes und des übrigen dritten Jahrhunderts Origenes (um 185–ca. 254), der große Systematiker des frühen Christentums, gibt der Logos-Christologie eine neue Wendung, indem er sie in ein komplexeres theologisches Gesamtkonzept einbettet als alle seine Vorgänger.56 Er identifiziert den präexistenten Christus mit dem Logos und verbindet die Logosidee mit der Redeweise von drei „Hypostasen“ Vater, Sohn und Geist,57 also drei selbständigen Realisierungen. Nur diese drei seien im strengen Sinne ewig unkörperlich.58 Für Origenes ist Christus als ein Erzeugnis Gottes des Vaters vor aller Schöpfung zu deuten, aber kein zeitliches Erzeugnis und kein Geschöpf, sondern zeitlos, ewig, gleichsam vor aller Zeit gezeugt.59 Der Logos ist für Origenes nicht nur eine bloße Eigenschaft oder geistige Instanz des Vaters, sondern etwas Wirkliches, kurz: eine hypostasis.60 Darunter hat man sich mehr als etwas nur Gedachtes, aber weniger als ein ganz eigenes Seiendes vorzustellen. Nur „der Gott“, also der Vater, ist für Origenes autotheos, d.h. Gott aus sich selbst, und ale� thinos theos, wahrer Gott, wohingegen der Sohn ein Gott (ohne bestimmten Artikel) sei; der Sohn sei Bild des Vaters (welcher der Prototyp schlechthin sei) und werde seinerseits zum

 56 Vgl. zum folgenden besonders Williams, Rowan: Art. Jesus Christus II, in: TRE 16 (1987), 726–745, hier 731f.; Ders.: Origenes/Origenismus, in: TRE 25 (1995), 397–420.  57 Origenes: Commentarii in Iohannem II,6,75.  58 Origenes: De principiis I,6,4; II,2,2.  59 Ebd. praef. 4 und I,2,4.  60 Origenes: Contra Celsum VIII,12; Commentarii in Iohannem II,10,75.

Origenes

Drei Hypostasen

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III. | Christologie im antiken Christentum

Soteriologisches Argument

Christusseele

Archetyp, zum Urbild vieler weiter Abbilder.61 Auch Origenes kann den göttlichen Logos einen „zweiten Gott“ nennen (deuteros theos).62 Christus als Erstgeborener aller Schöpfung rückt durch sein Verursachtsein in der Konzeption des Origenes einerseits nahe an die Geschöpfe (die allerdings ursprünglich rein geistig zu denken seien), gleichwohl steht für Origenes die Gottheit des Sohnes fest, die ihn radikal von den Geschöpfen unterscheidet.63 Christus ist Schöpfungsmittler Gottes. Für Origenes ist die Menschwerdung des Logos, das Erscheinen des Wortes des Vaters und der Weisheit Gottes in den engen Grenzen des Menschen Jesus, zusammen mit Jesu Tod und Auferstehung die alles entscheidende Erlösungstat. Mit dieser Tat Gottes beginne unsere Rückführung aus der Gottesferne zurück zu Gott und zur Wahrheit. Origenes meint, dass der Gott-Logos bei der Inkarnation einen ganzen Menschen angenommen habe.64 Schon Origenes bringt dafür das Argument, das sich dann hundert Jahre später viele Theologen zueigen machten: Hätte der Herr bei der Menschwerdung nicht den ganzen Menschen angenommen, sondern z.B. nur einen menschlichen Körper, wäre auch nicht der Mensch als ganzer, mit Leib und Geistseele, gerettet worden.65 Für Origenes muss Jesus Christus darum eine menschliche Seele gehabt haben. Anders wäre auch nicht zu erklären, wieso Jesus in Getsemani sagt: „Meine Seele ist zu Tode betrübt“ (Mt 26,38). Origenes stellt sich nun die im ersten Moment unmöglich erscheinende Verbindung von Gott und Mensch so vor: Die Seele vermittle in Jesus Christus gleichsam zwischen Gott und dem Fleisch. Denn jede menschliche Seele wohne einem Leibe inne, der eigentlich eine ganz andere Natur als sie selbst habe. Darum sei die Seelensubstanz prädestiniert dazu, zwischen Unterschiedlichem zu vermitteln, im Falle Christi zwischen dem Göttlichen einerseits und dem menschlichen Fleisch andererseits.66 Genauer meint Origenes, dass der

 61 Origenes: Commentarii in Iohannem II,2,17f. Zur gleichen Differenzierung zwischen Gott mit und ohne bestimmtem Artikel vgl. Kany: Trinitätslehre im antiken Christentum (wie Anm. 23), 146f.  62 Origenes: Contra Celsum V,39; VI,61; De principiis I,3,5.  63 Origenes: Commentarii in Iohannem II,2,16–18.  64 Vgl. besonders Origenes: De principiis II,6 und IV,4.  65 Origenes: Dialogus cum Heracleida 6f. Dieser auf griechisch erhaltene Dialog zeigt besonders deutlich die soteriologische Absicht der Christologie des Origenes.  66 Origenes: De principiis II,6,3.

3. | Von Origenes zur Phase der Streitigkeiten

göttliche Logos dabei nicht irgendeine beliebige Seele verwendet, sondern sich eine Seele aussucht, die seit Anbeginn der Schöpfung in völliger Hingabe an Gottes Wahrheit existiert und nicht gefallen ist, darum auch nicht mit Körperlichkeit bekleidet wurde, und die darum dem göttlichen Logos verbunden werden kann. Der mit der präexistenten Seele Jesu vereinte Logos ist es dann, der nach der Ansicht des Origenes Fleisch annimmt und in Bethlehem geboren wird. Der Leib wiederum, ja die ganze Menschheit Jesu werde durch diese Einwohnung des Logos zunehmend vergöttlicht, nach der Auferstehung werde der ganze Mensch Jesus Christus in Gott selbst umgewandelt. Das fasst Origenes zugleich als ein Vorbild, wenn auch ein unerreichbares Vorbild für alle Menschen auf: sich strebend zu bemühen, um ein größeres Maß an Aufnahmefähigkeit für die Vergöttlichung zu erlangen, auch wenn wir Menschen diese im Gegensatz zu Christus nie vollkommen erreichen können. Origenes versucht zwar, dem Aspekt der Gottheit und dem Aspekt der Menschheit in Christus Rechnung zu tragen, aber das Göttliche dominiert. Möglicherweise ereignete sich in der Mitte des dritten Jahrhunderts ein Streit zwischen Bischof Dionysius von Alexandrien und Bischof Dionysius von Rom, der teils wie eine Vorwegnahme der späteren Konflikte um Arius wirkt.67 Man nennt das den Streit der beiden Dionyse. Dionysius von Alexandrien hatte offenbar gegen eine in Libyen vertretene monarchianische Position Stellung bezogen und demgegenüber die Unterscheidung von Vater und Sohn stark betont und dabei wohl auch die Terminologie des Origenes von den drei Hypostasen benutzt. Seine Gegner wiederum meinten, er habe den Sohn als Geschöpf bezeichnet, die Ewigkeit des Sohnes geleugnet und die Hypostasen so stark gemacht, dass sie wie drei verschiedene Götter wirkten. Anscheinend verfolgte Bischof Dionysius von Rom dagegen eine doppelte Abwehrstrategie: Er wendet sich einerseits gegen die Drei-Hypostasen-Theologie seines alexandrinischen Amtskollegen, weil diese Gott aufteile oder zerreiße, andererseits gegen Theologen, die Gott den Vater und den Sohn miteinander identifizieren, wie Sabellius das getan habe. Wenn die Quellen authentisch sind, wurde demnach schon zu dieser Zeit versucht, eine goldene Mitte zwischen den Extremen einer Drei-Götter-Lehre und eines Monarchianismus zu finden, doch ist kein genaueres

 67 Hauptquelle ist der Brief des Dionysius von Rom bei Athanasius: De decretis Nicaenae synodi 26.

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Streit der beiden Dionyse

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III. | Christologie im antiken Christentum

Paul von Samosata

Konzept des Dionysius von Rom überliefert, wie er sich das vorstellte. Allerdings hat die neuere Forschung in Zweifel gezogen, ob die antiken Nachrichten über diesen Streit der Dionyse wirklich alle zuverlässig sind oder um 339/340 im arianischen Streit gefälscht worden seien.68 Ähnlich steht es um Paul von Samosata. Er soll um das Jahr 268 eine adoptianische Theologie vertreten haben (Jesus wird von Gott adoptiert), einen Christus „von unten“ (katōthen).69 Der bloße Mensch Jesus sei eine Wohnstatt des Logos gewesen, habe sich mit diesem vereinigt. Aber auch hier ist die Echtheit der Dokumente z.T. umstritten.70 3.2 Christologie bei Arius und im Konzil von Nizäa 325

Arius

Die Frage der Geistseele in Jesus Christus beschäftigt die Theologie noch lange. Bei Origenes hat sie eine wichtige Funktion, um zu erklären, wie eine wirkliche Inkarnation denkbar ist, die unser Heil sichert: In Jesus Christus hat sich der göttliche Logos mit einer menschlichen Geistseele verbunden und vermag damit auch unsere Seele zu erlösen. Doch gibt es das Gegenargument, dass ein vollständiger Mensch aus Leib und Geistseele keine Leerstelle für den Logos übrig lässt. Der Logos, so der Vorwurf, könne dann nur noch nach Art einer inneren Inspiration, Begnadung oder moralischen Erleuchtung Platz im vollständigen Menschen Jesus finden, was aber zu wenig wäre, weil Jesus Christus somit im Grunde ein bloßer Mensch wäre (Psilanthropismus). Stattdessen wird die Hypothese aufgestellt, der göttliche Logos habe sich mit einem menschlichen Leib ohne Geistseele vereinigt, indem er an die Stelle der Geistseele getreten sei und deren Funktionen übernommen habe. So lehrt etwa der alexandrinische Theologe Arius im ersten Drittel des vierten Jahrhunderts. Arius entwickelt die Idee einer radikal subordinatianischen Theologie, in der alle wirklichen Gottesprädikate Gott dem Vater allein zukommen, der göttliche Sohn dagegen als erstes und herausragendes Geschöpf und Schöpfungsmittler fungiert und den absoluten Beginn des Zeitstrahls markiert. Der Sohn sei „vor allen Zeiten geboren worden,

 68 Vgl. zu dieser Debatte Markschies, Christoph: Alta Trinità Beata, Tübingen 2000, 110–113.  69 Eusebius: Historia ecclesiastica VII,30,11.  70 Vgl. Markschies: Alta Trinità Beata (wie Anm. 68), 113–119.

3. | Von Origenes zur Phase der Streitigkeiten

[…] Gott, Logos, durch den alles wurde, […] der herabstieg und Fleisch annahm, litt, auferstand und hinaufstieg in den Himmel […]“.71 Da der Logos bei Jesus Christus die Stelle einer menschlichen Geistseele eingenommen habe und Träger des Leiden Christi sei, gewinnt Arius daraus ein Argument für die Zweitrangigkeit des Logos gegenüber Gott dem leidenslosen Vater. Vermutlich geht es auch Arius, wie dem Origenes und anderen vorherigen Theologen, primär um die Soteriologie: Nur ein göttlicher, aber zugleich leidensfähiger, sterblicher Logos, dessen Gehorsam Gott der Vater dann vorhergesehen hat (wie bei Origenes die sündlose Christusseele), kann uns leidende, zum Sterben verurteilte Menschen erlösen. Dagegen wird von Athanasius und anderen eingewandt, dass wir unsere Erlösung nur von dem wahren Gott erhoffen können, d.h. dem Schöpfer selbst, und nicht von einem bloßen Mittelwesen, das nicht wirklich Gott ist.72 Auf dem Konzil von Nizäa 325 wird Arius verurteilt. Die Bischöfe nehmen offensichtlich ein vorhandenes Taufbekenntnis und entwickeln es durch gezielte Hinzufügungen zu einem gegen Arius gerichteten Glaubensbekenntnis mit dem Zweck der Verständigung über die richtige gegenüber einer falschen Lehre. Das Bekenntnis ist gleichermaßen für die spätere Trinitätslehre wie für die spätere Christologie grundlegend.73 Zitat

„Wir glauben an einen einzigen Gott, den Vater, den allmächtigen, den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren, und an einen einzigen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, als Einziggeborener aus dem Vater geboren/gezeugt, d.h. aus dem Wesen des Vaters, Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott, geboren/gezeugt, nicht geschaffen, gleichen Wesens (homoousios) wie der Vater, durch den [d.h. durch den Sohn, R.K.] alles geworden ist, was im Himmel und was auf der Erde ist, der wegen uns Menschen um unseres Heiles willen herabgestiegen und Fleisch und Mensch geworden ist, gelitten hat und auferstanden ist am dritten Tag, hinausgestiegen ist in die Himmel und kommt, Lebende und Tote zu richten, und [wir glauben, R.K.] an den Hl. Geist.“

 71 Brief des Arius und Euzoius an Constantin: Urkunde 30 Opitz.  72 Athanasius: Orationes contra Arianos I–III.  73 Text: DH Nr. 125f.

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Bekenntnis von Nizäa 325

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III. | Christologie im antiken Christentum

Christologie von Nizäa

Soteriologie von Nizäa

Das Konzil beansprucht nicht, mit diesem Bekenntnis eine detaillierte korrekte Theologie darzulegen. Vielmehr geht es um die Formulierung eines Rahmens, in dem sich korrekte Theologie bewegen muss, und um die Verurteilung falscher Kernaussagen des Arius. Dabei greift das Konzil Begriffe auf, die von Arius selbst gebraucht worden waren: Der von Arius für christologische Zwecke abgelehnte Terminus homoousios (gleichen Wesens) wird z.B. in dem Bekenntnis nun explizit positiv verwendet: Jesus Christus ist gleichen Wesens wie der Vater, ist ebenso Gott wie Gott der Vater. Gegenüber der Unterscheidung des Arius zwischen eigentlichem Gott (Vater) und geschaffenem, minderem Gott (Sohn) wird der Sohn als „wahrer Gott aus wahrem Gott“ bezeichnet. Auf die ersten Zeilen des Bekenntnisses, die sich auf den Glauben an Gott den Vater, den allmächtigen Schöpfer beziehen, folgt der längste, der christologische Passus. Er ist seiner Grundstruktur nach zweiteilig: Das „und an einen einzigen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes“ kann man als die Überschrift des Passus sehen, dann folgen zuerst nähere Bestimmungen im selben Akkusativ über diesen Sohn von Ewigkeit her – in dieser Hinsicht ist er aus dem Vater gezeugt oder geboren oder hervorgebracht (gennēthenta) als einziger Sohn, nicht aus dem Willen, sondern aus dem Wesen des Vaters, gezeugt (gennēthenta), nicht gemacht (poiēthenta) (also kein Geschöpf), gleichen (göttlichen) Wesens wie der Vater. „Durch ihn“ (vgl. Joh 1, 3; Hebr 1,2), also mittels des Sohnes als Schöpfungsmittler, sei alles erschaffen worden. Dann folgt der zweite christologische Teil: „der wegen uns Menschen um unseres Heiles willen herabgestiegen und Fleisch und Mensch geworden ist.“ Dieser zweite Passus fasst dann noch die heilbringenden Stationen von Jesu Leben zusammen: Leiden, Auferstehung, Himmelfahrt, Gericht. Es sollte deutlich geworden sein, dass das Bekenntnis von Nizäa 325 keineswegs an die Stelle von Soteriologie abstrakte Philosophie setzt. Von Gott dem Vater als Schöpfer wie von Gott dem Sohn als Schöpfungsmittler und von dem um unseretwillen Menschgewordenen werden Aussagen getroffen, die Bezug zu unserer Welt und unserem Heil haben. Es geht in erster Linie um Soteriologie: Dass der Sohn wahrer Gott ist, muss gedacht werden, um unser Heil denken zu können. Die verwendeten, gegen Arius gewandten speziellen Termini werden weder definiert noch einer bestimmten Philosophie entnommen. Vielmehr werden sie aufgegriffen, weil sie durch Arius, seine Anhänger und Gegner bereits in der Diskussion waren. Was genau das homoousios tō patri besagt, oder was exakt man sich darunter vorzu-

3. | Von Origenes zur Phase der Streitigkeiten

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stellen hat, der Sohn sei „aus dem Wesen des Vaters“, wird nicht gesagt, und darin darf man durchaus Absicht sehen, zumal spätere Konzilien es ebenso handhaben werden. Aus diesen Begriffen wird vielmehr ein wenig detailliertes und darum relativ flexibel belassenes Raster oder ein Koordinatensystem erstellt, in dem die Theologen nach Auffassung der Konzilsväter ihre Konzepte künftig unterbringen sollen, wenn sie die rechte Lehre vertreten wollen. Am Schluss werden noch wenige Hauptthesen des Arius in ihrer Kurzform aufgezählt und verurteilt. 3.3 Einige Entwicklungen in der weiteren christologischen Diskussion des vierten Jahrhunderts Eine zur Christologie des Arius gegenteilige Position genau zu begründen, ist nicht einfach. Eustathius von Antiochien (gestorben vor 337) etwa schreibt:

Zitat

„Es können weder das Todesleiden noch das Verlangen nach Speise und Trank, weder Schlaf noch Trauer, weder Müdigkeit noch Tränen oder irgendeine andere Veränderung rechtens zusammen mit der ‚Fülle der Gottheit‘ (Kol 2,9) bestehen, da diese [d.h. die Gottheit, R.K.] ihrer Natur nach unveränderlich ist. Wohl aber ist all dies im eigentlichen Sinne dem Menschen zuzuschreiben, welcher aus Seele und Leib besteht; denn es ist angemessen, in den menschlichen, unschuldigen Regungen den Beweis dafür zu sehen, dass Gott sich nicht nur scheinbar und mutmaßlich, sondern in Wahrheit mit einem Menschen bekleidet hat und diesen Menschen vollkommen angenommen hat.“74

Die Menschheit, die der Logos annimmt, ist demnach vollständig, ein Mensch aus Leib und Seele. Eustathius argumentiert also gerade umgekehrt wie Arius. Beide meinen, der wahre Gott

 74 Eustathius: Fragment 41 Spanneut (Spanneut, Michel: Recherches sur les écrits d’Eustathe d’Antioche avec une édition nouvelle des fragments dogmatiques et exégétiques, Lille 1948), übersetzt von Ritter, Adolf Martin (wie Anm. 18), 228; in der Deutung folge ich Ritter, ebd. 228–230.

Eustathius von Antiochien

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III. | Christologie im antiken Christentum

Markell von Ankyra

Apolinarius von Laodicea

sei absolut leidensunfähig. Arius meint, weil der Logos leide, könne er nicht wahrer Gott sein. Eustathius dagegen meint, weil der Logos wahrer Gott sei, könne er nicht leiden, das Leiden liege auf Seiten der Seele des vom Logos angenommenen Menschen. Bei Eustathius stellt sich aber das Problem, wie die Einheit des Logos mit einem in sich vollständigen Menschen aus Leib und Seele gedacht werden soll. Eustathius behauptet, dass der göttliche Logos im Menschen Jesus Christus wohne wie in einem Zelt (vgl. Joh 1,14). Aber eine solche Konzeption droht nahe an bloße Inspirationsvorstellungen heranzukommen. Und wie können Logos und Geistseele im selben Menschen sein, ohne diesen in sich selbst zu entzweien? Ein anderer Nizäner und Antiarianer ist Markell von Ankyra (ca. 280–374). Auch ihm geht es um Soteriologie: Christus muss um unseres Heiles willen Gott sein, dieser Gott ist aber nur Einer. Wie Arius denkt Markell Gott als in sich ruhende, in sich nicht differenzierte „Einsheit“ (monas), anders als Arius geht er aber davon aus, dass sich dieser Gott selbst mitteilen will und sich darum bei der Menschwerdung und Aussendung des Geistes zur Trias weitet, die dann schließlich, wenn Christus gemäß 1Kor 15,24–28 seine Herrschaft Gott dem Vater übergibt, wieder zur Monas wird.75 Man kann darin eine originelle Variante des Monarchianismus sehen, doch bei Markells Schüler Photin wird der Gedanke der Monarchie Gottes so gesteigert, dass der wichtigste Gegner Markells und Photins, Apolinarius von Laodicea, den beiden vorwirft, Jesus Christus letztlich zu einem bloßen, von Gott inspirierten Menschen herabzuwürdigen.76 Hier kann man beobachten, wie der von Nizäa gesetzte Rahmen mit spezifisch christologischen Fragestellungen gefüllt werden kann. Apolinarius arbeitet in der Mitte des vierten Jahrhunderts in der Metropole Antiochien als vielseitiger, philosophisch, rhetorisch und literarisch herausragend gebildeter Mann.77 Apolinari-

 75 Markell von Ankyra: Fragmente 67,121 und 41 Klostermann (Eusebius: Werke, Bd. 4, hg. von Erich Klostermann/Günther Christian Hansen (GCS), Berlin 31991) = Fragmente 48, 109, 111 Seibt (nach der Zählung von Seibt, Klaus: Die Theologie des Markell von Ankyra (AKG 59), Berlin/New York 1994).  76 Apolinarius: Apodeixis, Fragment 15 Lietzmann (Lietzmann, Hans: Apollinaris von Laodicea und seine Schule. Texte und Untersuchungen, Bd. 1 [alles Erschienene], Tübingen 1904, 209).  77 Das folgende beruht vor allem auf Ritter, ebd. 230–235, und Hübner, Reinhard M.: Soteriologie, Trinität, Christologie. Von Markell von Ankyra zu

3. | Von Origenes zur Phase der Streitigkeiten

us ist einerseits ein Nizäner und entschiedener Antiarianer, der eine Zeitlang Kampfgenosse des Athanasius war. Andererseits lehrt er eine Christologie, die derjenigen des Arius darin gleicht, dass Christus keine menschliche Seele zugeschrieben wird und anstelle von menschlicher Vernunft und menschlichem Willen der göttliche Logos steht. Wie kommt er dazu? Zunächst ist zu bemerken: Die meisten der sehr zahlreichen Schriften des Apolinarius sind vernichtet worden, denn später ist er als Ketzer verurteilt worden. Doch haben sich noch viele Fragmente und Zitate erhalten, und es gibt mehrere Schriften, die unter anderen Autorennamen wie Athanasius überliefert sind, aber sehr wahrscheinlich von Apolinarius stammen. Jedenfalls kann Apolinarius mit seiner Christologie vermeiden, dass Jesus Christus als in sich zerrissene Gestalt gedacht wird; vielmehr erscheint Christus als ein einziges Subjekt, das aus dem wahrhaft göttlichen Logos und menschlichem Fleisch besteht. Während das Sterben eines Menschen niemanden vom Tod erlösen würde, ist nach dieser Konzeption Gott selbst am Kreuz gestorben, und durch seine Auferstehung sind auch wir erlöst.78 Apolinarius denkt: „Sündlos ist der Herr Jesus Christus als Gott, und zusammen mit dem Fleisch ist er gleichen Wesens (homoousios) mit dem alleinigen Gott“, so dass dieses Fleisch „als Gottes Fleisch Gott ist“.79 „Oh neue Schöpfung und göttliche Mischung: Gott und Fleisch haben eine Natur gebildet.“80 „Wir bekennen […], daß (ein und) derselbe Sohn Gottes und Gott sei nach dem Geist, Menschensohn hingegen nach dem Fleisch; daß dieser eine Sohn nicht zwei Naturen habe, eine anbetungswürdige und eine nicht anbetungswürdige, sondern eine Natur des Gott-Logos, die fleischgeworden ist (mia physis tou theou logou sesarkōmenē).“81 Nur durch diese „physische“ (naturhafte) Einung zu einer einzigen Physis, d.h. einem selbstbewegten Subjekt, lässt sich laut Apolinarius unsere Erlösung denken: Kein geringerer als der

Apollinaris von Laodicea, in: Böhnke, Michael/Heinz, Hanspeter (Hg.): Im Gespräch mit dem Dreieinen Gott (FS Wilhelm Breuning), Düsseldorf 1985, 175–196, erneut in: Ders.: Kirche und Dogma im Werden (wie Anm. 48), 417–437.  78 Apolinarius: Apodeixis, Fragment 95 Lietzmann (S. 229).  79 Ders.: Fragment 153 Lietzmann (S. 248).  80 Ders.: Peri sarkōseōs, Fragment 10 Lietzmann (S. 207).  81 Ders.: Epistula ad Iovianum (S. 250f. Lietzmann).

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III. | Christologie im antiken Christentum

Gregor von Nazianz

göttliche Logos, und zwar in dem nun sein eigen gewordenen menschlichen Fleisch, erleidet den Tod und kann uns so erlösen. Der Einwand anderer Theologen gegen die Konzeption des Apolinarius war das alte Argument des Origenes und lautet in der klassischen Formulierung des Gregor von Nazianz:

Zitat

„Was [von Christus bei der Inkarnation, R.K.] nicht angenommen worden ist, das ist nicht geheilt; was aber mit Gott geeint ist, wird auch gerettet (ho de hˉenˉotai tˉo theˉo, touto kai sˉozetai).“82

Diodor von Tarsus

Wenn Christus keine menschliche Geistseele angenommen hätte, wäre unsere menschliche Geistseele unheilbar. Nur unser Fleisch wäre heilbar, weil der Logos das Fleisch angenommen hat. Es muss also, um unsere ganzheitliche Heilung denken zu können, in Christus auch die menschliche Geistseele mit Gott vereint sein. Gregor von Nazianz und andere Kritiker des Apolinarius haben damit kein zwingendes, doch ein in sich nicht unplausibles Argument gehabt. Das heißt allerdings noch nicht, dass sie eine bessere, schlüssigere Christologie gehabt hätten. Christus muss wahrhaft Mensch sein, aber da er zugleich wahrhaft Gott sein muss, damit es nicht bei der Menschwerdung bleibt, sondern dieser Mensch auch vergöttlicht, erlöst werden kann, droht die Christologie aus Christus eine in sich gespaltene Persönlichkeit zu machen. Wie fast immer in der Kirchengeschichte hat eine nicht in der Mitte bleibende, einseitig ausgerichtete Theologie eine Gegenbewegung nach sich gezogen. Im vorliegenden Fall lässt sich das an Diodor von Tarsus und Theodor von Mopsuestia ablesen. Diodor, geboren im ersten Viertel des vierten Jahrhunderts, hatte ein Kloster in Antiochien geleitet und dort insbesondere Exegese gelehrt. 378 wurde er Bischof von Tarsus (in Kilikien). In seinen Augen hatte Apolinarius die Einheit von Logos und Fleisch viel zu stark betont. Demgegenüber legt Diodor die Betonung auf eine Unterscheidung von Göttlichem und Menschlichem in Christus. Um die Schriften Diodors steht es ähnlich wie um die

 82 Gregor von Nazianz: Epistula 101,32 Gallay.

3. | Von Origenes zur Phase der Streitigkeiten

177

des Apolinarius: Auch sie sind großenteils vernichtet worden, weil Diodor später als Häretiker verurteilt wurde. In einer syrischen Exzerptsammlung ist ein Fragment aus Diodors Exegese der berühmten Philipperbriefstelle erhalten: „Christus Jesus, der, in Gottesgestalt seiend, das Gott-gleich-Sein nicht für einen Raub gehalten hat, sondern sich entäußert hat, die Knechtsgestalt angenommen habend […]“ (Phil 2,5–7). Diodor erläutert dazu: Zitat

„Denn als er in der Gottesgestalt war, nahm er Knechtsgestalt an, – nicht: er wurde ein Knecht – und wurde im Habitus wie ein Mensch befunden, – nicht: er wurde ein Mensch – sondern: wie ein Mensch. Derselbe, der in Gottesgestalt ist, derselbe, der die Knechtsgestalt annahm. Denn der Knecht ist von menschlicher Natur; der Verborgene aber [ist] um des Sichtbaren willen wie ein Mensch.“83

Hier wird deutlich zwischen den beiden Naturen unterschieden. Es soll keine Umwandlung des göttlichen Sohnes in eine menschliche Natur geben, sondern Gottesgestalt wie Knechtsgestalt bleiben intakt. Wie allerdings die Einheit Christi gedacht werden soll, bleibt unklar, und der spätere Vorwurf an viele Varianten solcher oft „antiochenisch“ genannter Theologie lautet, sie laufe auf zwei Christoi hinaus, einen göttlichen und einen menschlichen. Diodors Schüler Theodor (ca. 352–428) hatte lange als Mönch im antiochenischen Raum gelebt und wirkte ab 392 als Bischof von Mopsuestia in Kilikien. Auch er wurde später als Ketzer verurteilt, auch von ihm sind daher nur noch einzelne Schriften im griechischen Original erhalten, allerdings mehrere ausführliche, bedeutende Schriften in syrischer Übersetzung, aus denen man sich ein gutes Bild machen kann. Er gilt als der führende Mann der so genannten antiochenischen Schule der Theologie und Exegese. Seine exegetischen Arbeiten sind stark geprägt von der paganen Rhetorikausbildung und der stärker grammatisch-phi-

 83 Diodor: Fragment 14 Abramowski, in dessen (leicht revidierter) Übersetzung aus dem Syrischen: Abramowski, Rudolf: Der theologische Nachlass des Diodor von Tarsus, in: ZNW 42 (1949), 19–69.

Theodor von Mopsuestia

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III. | Christologie im antiken Christentum

Zwei Naturen

lologischen (weniger allegorischen) heidnischen Auslegung von Dichtung. Schon infolge dieser exegetischen Grundausrichtung gilt sein Interesse der sorgfältigen Unterscheidung zwischen dem irdischen Jesus, dessen Wirken nicht stets per Allegorese auf einen vermeintlich „eigentlichen“, göttlichen Hintergrund ausgedeutet wird, und denjenigen Passagen des Neuen Testaments, in denen, wie etwa im Johannesprolog, die göttliche Natur Christi angesprochen wird. Theodor entwickelt im Gegensatz zur Christologie des Apolinarius das Modell zweier Naturen in Christus. In einer Serie katechetischer Homilien (etwa zwischen 379 und 392 n. Chr.) legt Theodor ausführlich die antiochenische Variante eines erweiterten nizänischen Bekenntnisses aus. Er legt dar, dass die Konzilsväter mit ihrer Einleitung des christologischen Abschnitts („ … und an einen einzigen Herrn Jesus Christus“, vgl. oben Teil 3.2) mit diesem Ausdruck „die göttliche und die menschliche Natur kundtun“.84 Jesus Christus ist demnach der Name oder das tragende Subjekt, von dem sich diese beiden Naturen aussagen lassen, die man aber je nach Kontext zu unterscheiden hat, so wie das auch das Bekenntnis von Nizäa tut. Theodor schärft ein, dass der Sohn kein Geschöpf ist, sondern in Ewigkeit wahrer Gott aus wahrem Gott. Zum Zwecke der Herausarbeitung der Heilsbedeutung Christi für uns Menschen seien die Konzilsväter dann mit der Formulierung „wegen uns Menschen um unseres Heiles“ zum Thema der Menschwerdung in Raum und Zeit übergegangen. Theodor resümiert anschließend die verschiedenen Häresien in der Geschichte des Christentums, die jeweils ungeeignet seien, die soteriologische Funktion der Menschwerdung zu erfassen. Die über die Seele vermittelte Sünde habe entsprechend Röm 5,12 den menschlichen Tod in die Welt gebracht. Christi vollkommene menschliche Seele führe durch ihre Sündlosigkeit den Menschen aus der Herrschaft Satans und des Todes heraus zum ewigen Leben. Zitat

„Und deshalb haben unsere seligen Väter gesagt, er habe Fleisch angenommen, damit du begreifst, daß er einen vollkommenen Menschen angenommen hat […]. Von ihm ist zu glauben, daß er nicht nur einen Leib angenommen hat, sondern einen ganzen

 84 Theodor von Mopsuestia: Katechetische Homilie V,1.

3. | Von Origenes zur Phase der Streitigkeiten

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Menschen, zusammengesetzt aus dem Leib und einer unsterblichen und vernünftigen Seele. Diesen hat er zu unserer Erlösung angenommen.“85 „So lehren uns die heiligen Schriften den Unterschied der beiden Naturen. Dies müssen wir also unbedingt anerkennen: wer der Annehmende ist und wer der Angenommene, daß der Annehmende die göttliche Natur ist, die für uns alles bewirkt hat, während dieser [der Angenommene, R.K.] die menschliche Natur ist, die für uns angenommen worden ist von dem, der Ursache aller Dinge ist und in unaussprechlicher und für immer untrennbarer Verbindung existiert.“86 Theodor ringt mit dem Problem, angesichts solcher Unterscheidung nicht die Einheit Christi zu gefährden. Er führt zu diesem Zweck den christologischen Personbegriff ein, der die Verbindung der beiden Naturen zu einem einzigen Christus gewährleisten soll: „Wenn wir aber die Verbindung [von göttlicher und menschlicher Natur, R.K.] betrachten, reden wir von einer Person.“87 Theodor verfügt jedoch noch nicht über das spätere Begriffsmodell von Chalcedon, in dem die Termini Person (prosōpon) und Hypostase (hypostasis) synonym erscheinen und die Ebene bezeichnen, auf der wir es mit einem einzigen Jesus Christus zu tun haben, wohingegen der Terminus Natur (physis) die Ebene der Zweiheit benennt: zwei Naturen in einer einzigen Person und Hypostase vereint. Vielmehr kann Theodor auch vom Prosōpon des Gott-Logos und vom Prosōpon der vollständigen menschlichen Natur sprechen und gleichzeitig der Verbindung beider ein Prosōpon zusprechen.88 Dieses scheint aber nicht als ein drittes, neues Prosōpon gemeint zu sein, sondern

 85 Ebd. V,19 (Übersetzung Bruns, Peter: Theodor von Mopsuestia, Katechetische Homilien, Bd. 1 (FC 17/1), Freiburg/Basel/Wien 1994, 149f.).  86 Ebd. VIII,10 (Bruns 193).  87 Theodor von Mopsuestia: Syrisches Fragment aus De incarnatione, zitiert nach Grillmeier, Bd. 1 (wie Anm. 17), 633, der begründet, warum das im syrischen Text direkt folgende „und einer Hypostase“ nicht dem originalen Wortlaut Theodors entsprechen dürfte.  88 Theodor von Mopsuestia: Fragment aus De incarnatione, das auf syrisch, aber auch in einer griechischen Rezension (Textgestalt) bei Leontius von Byzanz erhalten ist: synoptisch mit Rückübersetzung der syrischen Version ins Griechische dargeboten von Richard, Marcel: La tradition des fragments du traité Peri tēs enanthrōpēseōs de Théodore de Mopsueste, in: Le Muséon

Theodors Personbegriff

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Gegen Julian den „Abtrünnigen“

III. | Christologie im antiken Christentum

eher so zu verstehen, „dass der Logos sein eigenes Prosōpon dem ‚angenommenen Menschen‘ gibt“; es ist eine Einheit aufgrund der Gnade Gottes gemeint, dank derer die göttliche Person die Menschheit Christi „durchdringt und formt […]. Aus diesem Grund erhält die Menschheit auch die ‚Ehre‘, welche der Gottheit zukommt.“89 Man erahnt an diesen Gedanken einerseits das hohe Problembewusstsein Theodors, andererseits kann man auch eine gewisse Unklarheit erkennen, die darauf hinweist, dass damit die theologische Theoriebildung keineswegs als abgeschlossen gelten konnte. Es gibt noch einen weiteren historischen Hintergrund dieser Christologie: Kaiser Julian „der Abtrünnige“ hatte sich über das Christentum lustig gemacht, weil es einen denk-unmöglichen Gott verehre, der gelitten habe und am Kreuz gestorben sei. Theodors Christologie will durch Unterscheidung eine solche platte Identifizierung des einen Gottes mit dem am Kreuz Leidenden verhindern und soll zugleich die volle Gottheit Christi bewahren, indem sie die volle Menschheit Christi betont.90 Es ist die menschliche Seele Christi, die am Kreuz leidet. Diesen Aspekt bringt Theodor sehr gut zur Geltung. Schwieriger ist es für Theodor, den Gedanken des Johannesprologs zu bewahren, dass der göttliche Logos wirklich Mensch wird, nicht nur einen Menschen von innen heraus erleuchtet und stärkt. Man könnte sagen, dass sich die Christologie des Theodor tendenziell auf jeden Menschen mehr oder minder übertragen lasse: Wir alle hoffen, dass Gottes Gnade und Vernunft uns stärkt und wir in der Auferstehung zur Vollendung gelangen. Zur Sicherung unseres Heiles muss Christus jedoch mehr als ein vom göttlichen Logos durchwirkter Mensch sein.

56 (1943), 55–55; hier 64f. (erneut in ders.: Opera minora, Bd. 2, Löwen 1977, Nr. 41).  89 Grillmeier, Bd. 1 (wie Anm. 17), 627.  90 Vgl. Thome, Felix: Historia contra Mythos. Die Schriftauslegung Diodors von Tarsus und Theodors von Mopsuestia im Widerstreit zu Kaiser Julians und Salustius’ allegorischem Mythenverständnis (Hereditas 24), Bonn 2004.

4. | Der Streit zwischen Kyrill und Nestorius

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Zusammenfassung

Origenes entwickelt eine systematisch in seine Gotteslehre und Kosmologie eingebettete Logos-Christologie: In Christus habe sich der göttliche Logos mit einer Seele verbunden, deren Sündlosigkeit Gott vorausgesehen habe, und dann Fleisch angenommen – nur so sei denkbar, dass wir Menschen ganz erlöst werden können. Arius dagegen meint, dass der gegenüber Gott zweitrangige, geschaffene göttliche Logos sich unmittelbar mit einem menschlichen Leib verbinde und Träger des Leidens Christi werde: Darin werde er uns Menschen gleich, darin liege unsere Erlösung. Das Bekenntnis des Konzils von Nizäa widerspricht den Arianern aus ebenfalls soteriologischen Gründen und verlangt eine Theologie, in welcher der Gottessohn gleichen göttlichen Wesens wie der Vater gedacht wird. Der wahrhaft göttliche, ungeschaffene Sohn sei zu unserem Heil herabgestiegen und Mensch geworden. Gegen Markells monarchianische Nizäa-Deutung argumentiert Apolinarius: Ein einziges göttliches Subjekt, zusammengesetzt aus dem wahrhaft göttlichen Logos und Fleisch, nimmt das Leiden auf sich und erlöst uns so. Diodor von Tarsus und Theodor von Mopsuestia dagegen entwickeln eine deutliche Unterscheidung menschlicher und göttlicher Natur in der Person Christi, wobei hier die Einheit der beiden Naturen schwer erklärbar ist. Allen diesen Denkern geht es darum, das Geheimnis der Erlösung denken zu können.

4. Der Streit zwischen Kyrill und Nestorius bis zum Konzil von Ephesus 431 Vom fünften bis zum neunten Jahrhundert und noch weit darüber hinaus handelt ein großer Teil der theologischen Diskussionen, vor allem im Osten, von der Christologie. Die Zahl der erhaltenen Quellen ist in dieser Epoche bereits fast unüberschaubar groß. Die Christologie erreicht in vielen Texten eine Differenziertheit und Komplexität, die teils an die lateinische Scholastik des Mittelalters ab dem elften Jahrhundert erinnert. Gerade diese Fülle lässt sich unmöglich auf wenigen Seiten angemessen zusammenfassen. Darum muss die folgende Darstellung auf einige wenige Hauptpunkte beschränkt bleiben. 4.1 Der Streit zwischen Nestorius und Kyrill Am 10. April 428 hielt ein Mönch syrischer Herkunft seine Antrittsrede als Bischof der Hauptstadt des Römischen Reiches, in Konstantinopel. Obwohl er gerade erst eingetroffen war und die

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Nestorius, Bischof von Konstantinopel

III. | Christologie im antiken Christentum

Verhältnisse in der Metropole noch kaum kannte, machte er sofort in dieser ersten Rede klar, was die Stunde geschlagen hatte. Er rief dem Kaiser Theodosius  II. zu: „Gib mir, oh Kaiser, das Land von Häretikern gereinigt, und ich werde Dir dafür den Himmel geben. Vernichte mit mir die Häretiker, und ich werde mit Dir die Perser vernichten.“91 Schon fünf Tage später ließ er eine Kapelle der Anhomöer (einer radikalarianischen Gruppe) in Konstantinopel zerstören, es kam zum Tumult, ein Brand brach aus, und am Ende waren nicht nur die Räume der Kapelle, sondern auch umliegende Gebäude in Schutt und Asche gelegt.92 Der Mönch und Bischof, der da mit eisernem Besen kehren wollte, war Nestorius. Zwei Jahrzehnte später, um 451, starb er, abgesetzt, exiliert und vergessen, denn er war zum Häretiker erklärt worden, ausgerechnet er, der sich als Ketzerhammer verstanden hatte. Wie kam es dazu? Die Besetzung des Bischofssitzes in der Hauptstadt Konstantinopel war per se ein Politikum: Wer dort Bischof war, hatte den besten Zugang zum oströmischen Kaiser. Speziell in Alexandrien war man zudem nicht gut auf die Hauptstadt zu sprechen, seit auf dem Konzil von Konstantinopel 381 die von Kaiser Konstantin ein halbes Jahrhundert zuvor von einer eher unbedeutenden Stadt zur Reichshauptstadt ausgebaute und umbenannte Metropole den zweiten Rang nach Rom zugewiesen bekommen hatte.93 Traditionell beanspruchte Alexandrien diese Position für sich. Man blickte seither in Alexandrien misstrauisch auf das, was sich theologisch in der Hauptstadt tat, und schon ein großer Vorgänger des Nestorius auf dem Bischofsstuhl, der heilige Johannes Chrysostomus, hatte dies bitter erfahren, wurde er doch aufgrund von Intrigen des alexandrinischen Bischofs Theophilus (Onkel Kyrills) 404 seines Amtes enthoben. 428 war der Bischofssitz in Konstantinopel erneut frei geworden. Im Klerus der Stadt war heftig um den richtigen Nachfolger gerungen worden. Schließlich hatte man sich auf einen von außen kommenden Kandidaten verständigt und den Antiochener Nestorius, der in der Theologie des Theodor von Mopsuestia dachte, in das Amt berufen.94

 91 Sokrates: Historia ecclesiastica VII,29,5.  92 Ebd. VII,29,8–10.  93 Kanon 3 des Konzils von Konstantinopel (COD3, 32)  94 Sokrates: Historia ecclesiastica VII,29,1–3.

4. | Der Streit zwischen Kyrill und Nestorius

Schon kurz danach ergab sich ein Streit, der an einem scheinbar nebensächlichen Detail aufbrach und schließlich die ganze Kirche beschäftigen sollte. Ein zusammen mit Nestorius aus Antiochien nach Konstantinopel transferierter Mitarbeiter des Nestorius predigte, man könne Maria nicht als theotokos, d.h. als Gottesmutter (wörtlich Gottesgebärerin) bezeichnen. Sofort gab es im Klerus und unter Laien Streit darum. In der Volksfrömmigkeit war die Bezeichnung durchaus üblich, und sie abzulehnen schien aus einer skandalösen Haltung zu stammen, die in Christus nur einen Menschen sieht. Nestorius verteidigte seinen Mitarbeiter vehement.95 In seiner eigenen Version der Geschichte des Streits behauptet Nestorius, in der Hauptstadt hätten die einen Maria theotokos genannt, die anderen dagegen anthropotokos, Menschenmutter, er selbst habe sie daraufhin als Christotokos, Christusmutter, bezeichnet, weil diese Bezeichnung beides umfasse, den Menschen und den Gott.96 Wie oben dargestellt (3.3), hatte Theodor von Mopsuestia, in dessen Tradition Nestorius denkt, in seiner Erläuterung des Glaubensbekenntnisses Christus als das Subjekt bezeichnet, von dem Göttliches und Menschliches ausgesagt werden kann. Die Rede von der theotokos dagegen scheint dem Antiochener Nestorius die menschliche Natur Christi zu unterschlagen, Christus zu einem auf Erden wandelnden Gott zu entstellen und damit zugleich unfreiwillig arianisch das Leiden Christi dem göttlichen Logos zuzuschreiben, dessen Göttlichkeit damit herabgestuft wird. Nun schlug die Stunde Kyrills, der von 412 bis zum Tod 444 Bischof von Alexandrien war. In Alexandrien betonte man seit langem die Einheit Christi von der Göttlichkeit her und meinte gerade so, dem Arianismus zu widersprechen. Kyrill warnte vor der neuen Ketzerei des Nestorius. Wer daran glaube, dass Gott Mensch geworden sei, könne nicht daran zweifeln, dass Maria Gottesmutter sei. Wer das leugne, so schrieb er dem Nestorius 429, liefere einen „ökumenischen Skandal“, d.h. er errege An-

 95 Ebd. VII,32,1–7.  96 Nestorius: Epistula ad Johannem Antiochenum (lateinisch erhalten: Loofs, Ferdinand: Nestoriana. Die Fragmente des Nestorius, Halle 1905, 183–186, hier 185 (= ACO I/4, 5): „[…] Christi eam vocavimus genitricem“. Vgl. Nestorius: Epistula I ad Caelestinum papam, ebd. 165–168 (= ACO I/2, 12–14), wo jeweils in lateinischer Umschrift zweimal Christotocos gebraucht wird. Griechisch taucht der Terminus Christotokos z.B. auf in Nestorius: Epistula II ad Cyrillum Alexandrinum, ebd. 173–180, hier 177 (= ACO I/1/1, 31).

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Maria Gottesoder Christusmutter?

Kyrill von Alexandrien

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III. | Christologie im antiken Christentum

Kyrills Vorwürfe an Nestorius

stoß in einer Frage, über die sich alle Christen der Welt einig sein sollten.97 Aus alexandrinischer Sicht leugnete Nestorius die Einheit Christi, spaltete Christus in zwei auf und zerriss damit genau den Zusammenhang, der unser Heil ausmacht. Nach einer knappen Antwort des Nestorius schrieb Kyrill diesem im Februar 430, Christus sei nicht als gewöhnlicher Mensch aus der heiligen Jungfrau geboren worden, sondern, der Linie des Bekenntnisses von Nizäa folgend, sei davon auszugehen, dass der göttliche Logos „das mit einer vernunftbegabten Seele beseelte Fleisch mit sich selbst der Hypostase nach einte“ und so „auf unbegreifliche Weise Mensch geworden“ sei. Zitat

Daraus folge, dass „die Naturen, die sich zu einer wahrhaftigen Einheit verbunden haben, zwar verschieden (sind), Christus und der Sohn aber einer aus beiden (ist), nicht etwa weil der Unterschied der Naturen wegen der Einung aufgehoben worden wäre, sondern vielmehr weil die Gottheit und Menschheit durch die unaussprechliche und geheimnisvolle Verbindung zu einer Einheit uns den einen Herrn und Christus und Sohn gebildet haben.“89

Antwort des Nestorius

Folglich habe in diesem präzisen Sinne der göttliche Logos selbst, indem er sich den Leib zueigen machte, den Tod für uns erlitten. Man dürfe um der richtigen Erfassung dieses Geheimnisses unserer Erlösung willen Christus keinesfalls zerteilen, und deshalb hätten die heiligen Väter auch die Jungfrau theotokos genannt. Nestorius wirft in seiner Replik dem Kyrill vor, er missverstehe das Glaubensbekenntnis von Nizäa und meine, alle auf Christus bezogenen Aussagen darin hätten die Gottheit zum Subjekt. In Wahrheit seien in dem Bekenntnis die Worte bzw. Namen „Herr“, „Jesus“, „Christus“, „Einziggeborener“, „Sohn“ als „die gemeinsamen Namen (ta koina … onomata)“ der Gottheit und der Menschheit gemeint, damit weder Christus zerteilt werde noch das, was Sache der zwei Naturen ist, in der Einzigkeit des

 97 Kyrill von Alexandrien: Epistula 2 (= I ad Nestorium), 3 (ACO I/1/1, 24).  98 Kyrill von Alexandrien: Epistula 4 (= II ad Nestorium), 3 (ACO I/1/1, 26f.), deutsche Übersetzung DH Nr. 250f.

4. | Der Streit zwischen Kyrill und Nestorius

Sohnes vermischt werde oder darin untergehe.99 Nur durch sorgfältige Unterscheidung der Naturen, meint Nestorius mit der antiochenischen Tradition, lasse sich unsere Erlösung denken. Jesus Christus als Gemisch aus Gott und Mensch aufzufassen würde Gottes Transzendenz verletzen und gleichzeitig die Menschheit Jesu aufheben, so dass unser Heil undenkbar würde. Hatte Kyrill in seinem zweiten Brief an Nestorius diesen seinen Bischofskollegen allzu aufdringlich belehrt und von oben herab ermahnt, stellte Nestorius an den Anfang seiner Antwort die gallige Bemerkung, die Unverschämtheiten des Kyrill seien wohl ein Fall für den Arzt. Wenngleich die Rivalität zwischen Alexandrien und Konstantinopel den Ton der Debatte vergiftet und die Kontrahenten zu erbitterten Gegnern gemacht haben dürfte, lag zweifellos eine theologisch unterschiedliche Betrachtungsweise vor. Nestorius witterte in Kyrills Christologie alte Häresien nach Art des Apolinarius und anderer, und Kyrill war beunruhigt, dass der neue Bischof von Konstantinopel die Berechtigung des theotokos-Titels bestritt, der den Alexandrinern selbstverständlich schien  – saß ein Häretiker auf dem offiziell ranghöchsten Bischofsstuhl der östlichen Reichshälfte? Die heutige Forschung sieht Nestorius viel positiver. Nestorius ist im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts immer deutlicher als ein Theologe erkannt worden, der zwar mit unzureichenden begrifflichen Mitteln eine Christologie formulierte, die aber im Kern nicht das besagt, was die Gegner ihm unterstellten. Nachdrücklich wurde der Nestorianismus des Nestorius zuerst 1908 von dem Cambridger Professor of Divinity James F. BethuneBaker bezweifelt.100 Der Autor stützte sich unter anderem auf ein kurz zuvor entdecktes, zwei Jahre später publiziertes syrisches Manuskript, den sogenannten Liber Heraclidis.101 Es handelt sich um die syrische Übersetzung, wohl zum Teil interpoliert, jener Schrift, in der Nestorius rückblickend seine Sicht der Vorgänge schildert. Endlich konnte man jetzt ausführlicher die NestoriusSeite selbst im Streit der Parteien vernehmen. Mittlerweile gilt

 99 Nestorius: Epistula II ad Cyrillum Alexandrinum, Loofs 173–180 (= ACO I/1/1, 29–32), deutsche Teilübersetzung DH 251a–e. 100 Bethune-Baker, J. F.: Nestorius and his Teaching, a Fresh Examination of the Evidence, Cambridge 1908. 101 [Nestorius]: Le livre d’Héraclide de Damas, hg. von Paul Bedjan, Paris 1910. Vgl. Abramowski, Luise: Studien zum Liber Heraclidis des Nestorius (CSCO 242, S. 22), Löwen 1963.

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Das heutige Nestoriusbild

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Soteriologische Christologie des Nestorius

III. | Christologie im antiken Christentum

auch im katholischen Raum Nestorius als weitgehend rehabilitiert, etwa im ersten Band des großen Werkes von Kardinal Grillmeier.102 Heute lässt sich Folgendes sagen:103 Nestorius hat nie den sogenannten Nestorianismus gelehrt, wenn damit eine adoptianische Lehre gemeint ist, die Christus als bloßen Menschen betrachtet oder Christus in zwei Söhne, einen göttlichen und einen menschlichen, teilt. Auch die so genannte Nestorianische Kirche hat nie diesen Nestorianismus vertreten. Wohl aber hat Nestorius von zwei Hypostasen gesprochen, statt von einer, wie es dann 451 auf dem Konzil von Chalcedon als korrekt definiert wurde. Doch die Redeweise des Nestorius ist kompatibel mit der Einheit der Person Christi, von der letztlich unsere Erlösung abhängt. Anders als Kyrill und später das Konzil von Chalcedon 451, jedoch in Übereinstimmung mit der antiochenischen Tradition, situiert Nestorius diese zwei Hypostasen auf der Ebene der Natur oder des Wesens, und es gelingt ihm nicht, die Einheit des menschgewordenen Gottessohnes begrifflich konsistent auszudrücken. Darin steckt etwas theologisch Unzureichendes, aber wer ihm das als Häresie ankreidet, erhebt eine spätere dogmatische Festlegung zum Maßstab. Inhaltlich dagegen verfolgt Nestorius ein ähnliches Anliegen wie später Chalcedon: Um unseres Heiles willen gebe es eine Einheit ohne Vermischung zwischen Gottheit und Menschheit im einen Jesus Christus. Doch auch das Bild Kyrills ist durch zahlreiche Forschungsarbeiten der vergangenen Jahrzehnte viel differenzierter und komplexer geworden. Weder sollte man in dem Theologen Kyrill nur den skrupellosen Machtpolitiker wahrnehmen, der er zweifellos auch war, noch sollte man seine Christologie ohne Berücksichtigung seiner exegetischen Arbeiten und überhaupt seines umfangreichen theologischen Gesamtwerkes auf ein paar Formeln reduzieren, etwa im Glauben, Kyrill habe schlicht „eine Natur“ Christi gegen Nestorius’ „zwei Naturen“ Christi vertreten – eine neuere Arbeit nennt im Gegenteil Kyrill einen Dyophysiten (Vertreter der Zwei-Naturen-Lehre).104 Die Reduktion von Kyrills

102 Grillmeier, Bd. 1 (wie Anm. 17), 642–726. 103 Halleux, André de: Nestorius. Histoire et doctrine, in: Irén. 66 (1993), 38–51. 163–178; Brock, Sebastian: The ‚Nestorian‘ Church: A Lamentable Misnomer, in: BJRL 78, 3 (1996), 24–35. 104 Van Loon, Hans: The Dyophysite Christology of Cyril of Alexandria (SVigChr 96), Leiden/Boston 2009. Mit Recht weist Lionel R. Wickham in seiner Rezension (JThS NS 61 (2010), 381–383) darauf hin, dass die Redeweise

4. | Der Streit zwischen Kyrill und Nestorius

Christologie auf die von Apolinarius übernommene dogmatische Formel von der einen Natur des fleischgewordenen GottLogos wäre schon deshalb falsch, weil Kyrills Arbeiten voller Bilder und Metaphern sind und einen ganz anderen Eindruck ergeben, als die immer gleichen fachterminologischen Schlagwörter der klassischen dogmengeschichtlichen Darstellungen das vermuten lassen.105 Kyrill ist nach dem Urteil eines hervorragenden Kenners der einzige große Denker, von dem man wirklich sagen könne, dass seine Theologie christozentrisch war.106 Was zur gleichen Zeit im lateinischen Raum mit der augustinischen Lehre von der Gnade umrissen wurde, das Heilshandeln Gottes am Menschen, das denkt Kyrill ganz und gar von der Inkarnation her: In ihr liege das Geheimnis bedingungsloser Zuwendung Gottes und Erlösung. Für Kyrill nimmt der Vorgang der Menschwerdung des Logos die Gläubigen auf unfassbare Weise in die Beziehung des Vaters und des Sohnes hinein. Dies will in Kyrills Augen die Verheißung Joh 14,20 besagen: „An jenem Tag werdet ihr erkennen, dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und ich in euch“.107 Die gefallene Menschheit soll nach Gottes Willen wieder an der göttlichen Natur teilhaben, zu diesem Zweck ist die Inkarnation erfolgt. Aus diesen soteriologischen Gründen ist Kyrills Christologie nicht wie die der Antiochener auf eine möglichst ausgewogene, fast symmetrische Betrachtung der beiden Naturen in Christus ausgerichtet, sondern nach dem Modell der entsprechend interpretierten Philipperbriefstelle: Der in der Gottesgestalt Seiende hat sich entäußert – das göttliche Subjekt bleibt für Kyrill Akteur und Träger dieses

„dyophysitisch“ vieldeutig und unklar ist. Gut und subtil behandelt das Thema bereits Halleux, André de: Le dyophysisme christologique de Cyrille d’Alexandrie, in: Logos (FS Luise Abramowski) (wie Anm. 54), 411–428. – Hier sollte nur angedeutet werden, dass eine Sicht Kyrills als Vertreter einer mehr oder weniger monophysitischen Christologie nicht aufrechterhalten werden kann. 105 Vgl. McKinion, Steven A.: Words, Imagery, and the Mystery of Christ. A Reconstruction of Cyril of Alexandria’s Christology (SVigChr 55), Leiden 2000. 106 Wickham, Lionel R.: Introduction, in: Cyril of Alexandria: Select Letters, Oxford 1983, xi–lv, hier xxxiv. 107 Kyrill von Alexandrien: Commentariorum in Joannem liber IX (PG 74, 268–281). Zur Deutung vgl. Münch-Labacher, Gudrun: Naturhaftes und geschichtliches Denken bei Cyrill. Die verschiedenen Betrachtungsweisen der Heilsverwirklichung in seinem Johannes-Kommentar (Hereditas 10), Bonn 1996.

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Kyrills soteriologische Christologie

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III. | Christologie im antiken Christentum

Heilshandelns.108 Kyrill kann diesen soteriologischen Sachverhalt in entsprechenden Zusammenhängen auch stärker philosophisch nach Art einer akzidentellen Beziehung interpretieren: Der Logos (Substanz) eignet sich das menschliche Fleisch an, macht also das Menschliche zu seinem Besitz (Akzidens).109 Würde man nun alle Betonung auf die Unterscheidung der menschlichen und der göttlichen Natur in Christus legen, könnte man das Heilswirken Gottes aus Kyrills Sicht nicht mehr denken. 4.2 Das Konzil von Ephesus 431

Auf dem Weg zum Konzil von 431

Im folgenden soll die mehr kirchengeschichtlich denn systematisch-theologisch relevante Reihe von Ereignissen bis zum Konzil von Ephesus 431 zusammengefasst werden. Der im Jahre 428 zwischen Nestorius und Kyrill ausgebrochene Streit war kirchenpolitisch brisant, weil die beiden Kontrahenten die zwei wichtigsten östlichen Bischofssitze innehatten, Konstantinopel und Alexandrien  – wer sollte Schiedsrichter sein? Beide Bischöfe schrieben an ihren römischen Amtsbruder Coelestin  I. (422– 432). Sie beide betrachteten diesen offensichtlich nicht als großen Denker, sondern lieferten ihm eher karikierende denn sorgfältige Darstellungen des Konflikts. Nestorius, der sich wegen einer anderen Angelegenheit an Coelestin im Winter 428/429 wendet, erwähnt beiläufig seinen Disput mit Menschen, die behaupten, der göttliche Logos sei aus einer Jungfrau geboren, gesteht aber die Rede von der theotokos dann zu, wenn sie so gemeint ist, dass der Tempel des Logos aus Maria stammt, nicht aber der Logos selbst.110 Im zweiten Brief an Coelestin, der nicht geantwortet hatte, wirft Nestorius den theotokos-Anhängern vor, die beiden Naturen der einen Person Christi zu vermischen.111 Die genauen Hintergründe des Streits konnten sich dem römischen Briefempfänger aus diesen Andeutungen kaum erschlie-

108 Vgl. Norris, Richard A.: Christological Models in Cyril of Alexandria, in: StPatr 13 (= TU 116), Berlin 1975, 255–268. 109 Vgl. Siddals, Ruth M.: Logic and Christology in Cyril of Alexandria, in: JThS NS 38 (1987), 341–367, hier 356 u.ö. 110 Nestorius: Epistula I ad Caelestinum papam, Loofs 165–168 (= ACO I/2, 12–14). 111 Nestorius: Epistula II ad Caelestinum papam, ebd. 170–172 (= ACO I/2, 14f.)

4. | Der Streit zwischen Kyrill und Nestorius

ßen, zumal die Schreiben des Nestorius erst einmal ins Lateinische übersetzt werden mussten. Auch Kyrill drückt sich in seinem Brief an Coelestin 430 vage aus, behauptet aber, Nestorius stelle sich mit seiner Ablehnung des theotokos-Titels gegen die ganze Tradition.112 Kyrill sandte klugerweise ein lateinisch übersetztes Dossier nach Rom113 und dazu einen seiner Diakone, der Kyrills Sicht dem römischen Bischof persönlich erklären konnte und zu diesem Zweck von Kyrill ein detailliertes Memorandum mit auf den Weg bekam.114 Nachdem Coelestin von Johannes Cassianus eine ausführliche Stellungnahme hatte anfertigen lassen, die jedoch die Position des Nestorius stark entstellt und diesem vorwirft, Christus als bloßen Menschen aufzufassen,115 ließ Coelestin im August 430 eine römische Synode abhalten, in der Nestorius unter groben Missverständnissen verurteilt wurde, weil er die Gottheit Christi und die Jungfrauengeburt ablehne.116 Nestorius solle als Bischof von Konstantinopel abgesetzt werden, wenn er nicht innerhalb von zehn Tagen schriftlich widerrufe; mit der Vollstreckung des Urteils wird Kyrill „wegen der Entfernung zu Wasser und zu Lande“ beauftragt und dafür mit der Autorität des römischen Bischofssitzes ausgestattet.117 Dass die Vorwürfe gegen Nestorius absurd waren, kann Kyrill unmöglich entgangen sein, doch er wollte den Rivalen auf dem Bischofsstuhl von Konstantinopel ausschalten und entwickelte eine rege Betriebsamkeit. Im November 430 wurde Nestorius auch von einer Synode in Ägypten verurteilt. Kyrill stellte zwölf Anathematismen (Verurteilungen) gegen angebliche Lehren des Nestorius zusammen und sandte sie mit einem neuen Brief an Nestorius.118 Nestorius widerrief nicht, zumal im dritten Anathematismus die zweifelhafte Theorie vorgeschrieben wird, „in Christus die Hypostasen“ nicht „auseinanderzureißen“, sondern ihren Zusammenschluss „ge-

112 Kyrill von Alexandrien: Epistula 11 (ad Caelestinum papam) (ACO I/1/5, 10–12). 113 Ebd. 12. 114 Kyrill von Alexandrien: Commonitorium ad Posidonium diaconum (ACO I/1/7, 171f.). 115 Johannes Cassianus: De incarnatione domini contra Nestorium VI,14,1. 116 Coelestin: Epistula ad clerum populumque Constantinopolitanum (ACO I/2, 15–20; griech. Übersetzung ACO I/1/1, 83–90). 117 Ebd. ACO I/2, 20 und Coelestin: Epistula ad Cyrillum episcopum (ACO I/1/1, 75–77 griech., I/2, 5f. lat.). 118 Kyrill von Alexandrien: Epistula 17 (III ad Nestorium) (ACO I/1/1, 33–42).

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Coelestins Maßnahmen

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Verlauf des Konzilsversuches von Ephesus 431

III. | Christologie im antiken Christentum

mäß physischer Einung“ zu denken. Nestorius fand sich weder richtig dargestellt, noch erschien ihm die alexandrinische Position dogmatisch richtig, vielmehr wirkte sie auf ihn apolinaristisch. Kaiser Theodosius II. berief ein Konzil auf Pfingsten 431 (7. Juni) in die Marienkirche von Ephesus ein, das den Streit schlichten und die Vorwürfe Kyrills prüfen sollte. Coelestin hatte inzwischen bemerkt, dass die Position des Nestorius komplexer als vermutet war, und Kyrill geraten, den Streit auf dem Konzil beizulegen, allerdings unter Verurteilung des Nestorius. Doch der Konzilsversuch misslang.119 Kyrill nutzte die Tatsache, dass sowohl die Legaten Coelestins (der wie alle römischen Bischöfe bei sämtlichen ökumenischen Konzilien der Antike nicht persönlich anwesend war) wie auch und vor allem die antiochenische Delegation, die dem Nestorius nahe stand, den offiziellen Eröffnungstermin verpasst hatten. Kyrill hatte fünfzig Bischöfe mitgebracht, der ebenfalls auf Kyrills Linie liegende Ortsbischof Memnon von Ephesos hatte dreißig gleichgesinnte Amtskollegen eingesammelt. Außerdem führten beide Bischöfe offenbar als Mittel der Einschüchterung zahlreiche nichtbischöfliche Anhänger mit, darunter viele Mönche. Nestorius war schon eingetroffen und wusste, dass mit ihm nur eine Minderheit der Anwesenden einer Meinung war. Er versuchte, eine Verschiebung der Konzilseröffnung zu erwirken, bis die Antiochener eintrafen, aber Kyrill verwies auf die Vollmacht, die ihm der römische Bischof gegeben habe. Der Kaiser hatte einen Vertreter geschickt, der sich zwar nicht inhaltlich äußern sollte, aber für den ordnungsgemäßen Verlauf der Beratungen sorgen sollte. Gegen den Protest des kaiserlichen Kommissars und verschiedener Bischöfe und unter Abwesenheit des Nestorius, der nicht der Vorladung gefolgt war, eröffnete Kyrill am 22. Juni 431 das Konzil.120 Der zweite Brief Kyrills an Nestorius wurde verlesen und vom Konzil offiziell als rechtgläubig anerkannt. Die Antwort des

119 Recht detaillierte Darstellungen mit Quellenbelegen geben z.B. Camelot, Pierre-Thomas: Ephesus und Chalcedon (GÖK 2), Mainz 1963; FraisseCoue, Christiane: Das Konzil von Ephesus, in: Die Geschichte des Christentums, hg. von Jean-Marie Mayeur u.a., Bd. 2, Freiburg/Basel/Wien 1996, 590–617 (deutsche Bearbeitung von Thomas Böhm). 120 Eine äußerst sorgfältige Auswertung sämtlicher Quellen bietet Halleux, André de: La première session du concile d’Éphèse (22 Juin 431), in: EThL 69 (1993), 48–87.

4. | Der Streit zwischen Kyrill und Nestorius

Nestorius an Kyrill wurde verlesen und vom Konzil offiziell als häretisch verworfen, das Anathema über Nestorius ausgesprochen. Der dritte Brief Kyrills mit den umstrittenen zwölf Anathematismen wurde anscheinend nur unter genereller Zustimmung zu den Akten genommen, ohne dass darüber eine Abstimmung erfolgte.121 Nestorius wurde als Bischof von Konstantinopel für abgesetzt erklärt. Zwischen 125 und rund 200 Bischöfe scheinen das Votum unterstützt zu haben. Das Ziel, die Anklagen des Kyrill gegen Nestorius zu prüfen und den Angeklagten und seine Verteidiger angemessen zu Wort kommen zu lassen, wurde missachtet. Am 26. Juni 431 trafen Bischof Johannes von Antiochien und die um ihn gescharten orientalischen Bischöfe ein, die Nestorius wohlwollend beurteilten. Nun waren sie es, die unter sich blieben und noch am gleichen Tag ihre eigene Versammlung in Ephesus in Anwesenheit des kaiserlichen Kommissars eröffneten. Faktisch war „das“ Konzil von Ephesus also in eine kyrillische und eine orientalische Teilsynode auseinander gefallen. Die Orientalen erklärten nun umgekehrt die Bischöfe Kyrill von Alexandrien und Memnon von Ephesos wegen ihres Vorgehens vom 22. Juni für abgesetzt und die Anathematismen Kyrills für häretisch (obwohl diese nicht verlesen und diskutiert wurden). Die Synode der Orientalen wurde durch Unterschriften von rund fünfzig Bischöfen besiegelt. Zwar ließen die Orientalen die Absetzung der beiden Bischöfe in Ephesus öffentlich bekanntmachen, aber Kyrill und Memnon feierten demonstrativ pompöse Messen in Ephesus. Am 10. Juli 431 wurden die endlich eingetroffenen päpstlichen Legaten in der weiter tagenden kyrillischen Synode von Ephesus begrüßt und sie approbierten gemäß ihren Weisungen nachträglich deren Entscheidungen. Der Kaiser ließ nun in der Hoffnung, die verfahrene Lage zu bereinigen, die Absetzung aller drei Bischöfe, Nestorius, Kyrill und Memnon bestätigen. Kyrill floh und es gelang ihm binnen weniger Wochen mit Hilfe außerordentlich teurer Geschenke an das Umfeld des Kaisers auch offiziell wieder in sein Bischofsamt zurückzukehren.

121 Da der erste der Anathematismen u.a. die Formulierung enthält: „Wer nicht bekennt, dass […] die heilige Jungfrau […] theotokos ist, […] der sei mit dem Anathema belegt“, liest man in vielen älteren Handbüchern, das Konzil von Ephesus habe die Gottesmutterschaft Mariens definiert. Genau genommen scheint dies nicht zuzutreffen.

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III. | Christologie im antiken Christentum

Nestorius blieb abgesetzt und musste zuerst in sein Kloster zurück, dann ins Exil; um 451 starb er in der libyschen Wüste. 4.3 Der Abschluss des Konzils von Ephesus in der Unionsformel von 433

Die Unionsformel von 432/433

In der orientalischen Delegation unter Bischof Johannes von Antiochien hatte es schon in Ephesus Versuche zu einer theologischen Verständigung gegeben. Diese scheiterten aber u.a. daran, dass die Antiochener darauf bestanden, die Anathematismen Kyrills als häretisch zu verurteilen. Gleichwohl wurde dem kaiserlichen Kommissar von dieser Delegation ein Schreiben vorgelegt,122 das zunächst betont, dass bereits das Bekenntnis von Nizäa das Heil und die Heilsökonomie zutreffend umrissen habe, dann jedoch eine bedeutende Glaubensformel anschließt, die schon in mehrerlei Hinsicht die Formel von Chalcedon 451 vorwegnimmt. Die antiochenische Formel wurde leicht abgewandelt und, um eine wichtige Einleitung und einen Schluss ergänzt (die Ergänzungen im folgenden kursiv), 432 in einem sehr gewinnend geschriebenen Brief des Johannes an Kyrill diesem als eine dem Konsens dienende Kurzdarlegung des Glaubens vorgeschlagen. Sie lautet:

Zitat

„Wie wir aber über die jungfräuliche Gottesmutter (theotokos) und über die Art der Menschwerdung des Gottessohnes denken und sprechen (phronoumen kai legomen), wollen wir notgedrungen nicht als Hinzufügung, sondern in Gestalt einer vollen Erklärung […] in Kurzform darlegen. […] Wir bekennen […] unseren Herrn Jesus Christus […] als vollkommenen Gott und vollkommenen Menschen aus Vernunftseele und Leib. Vor den Zeiten aus dem Vater der Gottheit nach geboren, ist er am Ende der Tage um unseretwillen und um unseres Heiles willen aus Maria der Jungfrau der Menschheit nach (hervorgegangen), gleichen Wesens (homoousios) wie der Vater der Gottheit nach und gleichen Wesens wie wir der Menschheit nach. Denn es

122 ACO I/1/7, 69f., mit der so genannten ephesinischen Urform der Unionsformel auf S. 70.

4. | Der Streit zwischen Kyrill und Nestorius

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ist eine Einung zweier Naturen erfolgt, weshalb wir einen einzigen Christus, einen Sohn, einen Herrn bekennen. Diesem Begriff der unvermischten Einung entsprechend bekennen wir die heilige Jungfrau als Gottesmutter (theotokos), weil der Gott-Logos Fleisch und Mensch geworden ist und vom Augenblick der Empfängnis an den aus ihr genommenen Tempel mit sich geeint hat. Wir wissen aber, dass die Theologen die evangelischen und apostolischen Aussagen über den Herrn teils auf eine Person (pros oˉ pon) gehend gemeinsam beziehen, teils auf zwei Naturen sich beziehend trennen. Dabei gelten ihrer Überlieferung zufolge die gottgeziemenden Prädikate von der Gottheit Christi, die Niedrigkeitsaussagen dagegen von seiner Menschheit.“123 An der hinzugefügten, oben kursiv gedruckten Einleitung zur Formel erkennt man, dass es nun um eine Festlegung eines Denk- und Sprechrahmens geht. In der Glaubensformel selbst wird eine soteriologisch begründete Christologie skizziert, in der – entsprechend kontextualisiert – der theotokos-Titel Mariens interpretiert und akzeptiert wird. Diese so genannte Unionsformel wurde von Kyrill in seinem geradezu enthusiastisch den kirchlichen Frieden feiernden Brief an Johannes von Antiochien von 433 vollständig zitiert, gutgeheißen und von seiner eigenen Deutung der kirchenpolitischen und theologischen Zusammenhänge umrahmt.124 Tragisch war, dass die Formel wohl auch für Nestorius zustimmungsfähig gewesen wäre, dieser jedoch Kyrills Forderung gemäß abgesetzt blieb: Das war der Preis des Friedens.

123 Johannes von Antiochien: Epistula ad Cyrillum (ACO I/1/4, 7–9), hier 8f. die so genannte antiochenische Redaktion der Formel (DH Nr. 271–273). 124 Kyrill von Alexandrien: Epistula 39 (ad Iohannem Antiochenum) (ACO I/1/4, 15–20, die Unionsformel S. 17). Kyrills Brief wird in der westlichen Tradition oft Laetentur-Brief genannt, nach seinem einleitenden Zitat aus Ps 95 (96), 11: „die Himmel sollen sich freuen (lateinisch: laetentur) und die Erde soll jauchzen“.

Kyrills Zustimmung

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III. | Christologie im antiken Christentum

Zusammenfassung

Nestorius, Bischof von Konstantinopel seit 428, steht in der christologischen Tradition Theodors von Mopsuestia und meint, das Geheimnis der Heilsökonomie nur durch deutliche Unterscheidung der Naturen Christi wahren zu können, damit Gott wirklich Gott bleibt und der angenommene Mensch in Christus ein wirklicher Mensch ist. Kyrill, Bischof von Alexandrien, meint dagegen, dass gerade auf diese Weise Jesus Christus zerrissen oder letztlich zu einem bloßen Menschen heruntergestuft werde, und somit menschliches Heil nicht mehr gedacht werden könne. Auf dem Konzil von Ephesus 431 versucht Kyrill mit fragwürdigen Mitteln und römischer Rückendeckung, seine Christologie für rechtgläubig erklären zu lassen und – mit dauerhaftem Erfolg – Nestorius als Bischof der östlichen Reichshauptstadt abzusetzen. Mit der von Johannes von Antiochien vorgeschlagenen und von Kyrill 433 akzeptierten Unionsformel, die als sprachlicher und theologischer Rahmen für eine soteriologisch funktionstüchtige Christologie gemeint war, schien eine theologisch tragfähige Beilegung des Streits erreicht.

5. Das Konzil von Chalcedon 451 und seine unmittelbare Vorgeschichte 5.1 Die Phase vor dem Konzil von Chalcedon

Ostsyrische Kirche

Manche der antiochenisch geprägten Orientalen sahen im Vorgehen des Johannes von Antiochien Verrat und ließen sich aus Erbitterung nicht auf die Unionsverhandlungen ein. Dies trug wesentlich zu der (freilich auch aus politischen Gründen erfolgten) Ablösung einer persisch-ostsyrischen Kirche von der antiochenischen Kirche bei, die zum oströmischen Reich gehörte. Die Ostsyrische Kirche (heute „Assyrische Kirche des Ostens“, „Church of the East“ u.ä. genannt) sah und sieht sich in der Tradition Diodors, Theodors von Mopsuestia und des Nestorius. Sie erlangte bis zum 14.  Jahrhundert eine geographisch erheblich weitere Verbreitung als die römisch-katholische und byzantinische Kirche, nämlich bis in den mongolischen und chinesischen Raum hinein. Zudem spielte sie eine große Bedeutung in der Vermittlung griechisch-hellenistischer und christlicher Philosophie, Naturwissenschaft und Medizin zuerst in die Kultur der iranischen Sassaniden (6./7. Jh.), dann in den islamischen Raum (8.–10. Jh.). Die mit der Unionsformel verbundenen Hoffnungen auf dauerhaften Frieden erfüllten sich aber auch in anderen Räumen

5. | Das Konzil von Chalcedon

nicht. Fanatiker von verschiedenen Seiten versuchten, ihre theologischen Vorstellungen als die einzig richtigen durchzusetzen und die Gegenseite endgültig zu besiegen. Nach Kyrills Tod 444 kam der noch weit unversöhnlichere Dioskur auf den Bischofssitz von Alexandrien und etwa um die gleiche Zeit in Antiochien beerbte der ebenfalls streitbarere Domnus den verstorbenen, auf Ausgleich bedachten Johannes. Um 447 versuchte der Archimandrit (Vorsteher wohl eines Klosters in Konstantinopel) Eutyches, der die alexandrinische Theologie favorisierte, den Konsens der Unionsformel aufzubrechen und eine eindeutiger miaphysitische (d.h. eine einzige Natur Christi lehrende) Christologie einzufordern: „Ich bekenne, dass unser Herr aus zwei Naturen vor der Einung bestand, aber ich bekenne eine einzige Natur (mia physis) nach der Einung.“125 Eine soteriologisch hochproblematische Konsequenz der so groben Christologie zieht er selbst: Der Leib Jesu sei nicht wie unser Leib.126 Jesus erscheint als ein auf Erden in menschlicher Verkleidung wandelnder Gott. Eine Synode in Konstantinopel setzte Eutyches 448 als Klostervorsteher ab und billigte eine von Bischof Flavian von Konstantinopel verfasste christologische Formel. In ihr wird zum Zwecke der Verdeutlichung über die Unionsformel hinausgehend der Begriff der Hypostase benutzt und wie später in Chalcedon mit dem Personbegriff koordiniert: „Wir bekennen, dass Christus nach der Fleischwerdung aus zwei Naturen (ek dyo physeōn) besteht, indem wir ihn in einer Hypostase und einer Person als einen Christus (en mia hypostasei kai heni prosōpō hena Christon), einen Sohn, einen Herrn bekennen.“127 Früher war von den Antiochenern Kyrills Gebrauch des Hypostasenbegriffs in den zwölf Anathematismen als überflüssig betrachtet worden; schon Theodoret hatte in subtiler Analyse des dritten Anathematismus darauf hingewiesen, dass Kyrill die Begriffe physis, hypostasis und

125 Aus den Akten der „Endemischen Synode“ von 448, die in die Akten von Chalcedon Eingang fanden (ACO II/1/1, 143). 126 Ebd. 142. 127 Ebd. 114. In christologischem Kontext hatten auch schon Apolinarius und dann Kyrill im zweiten Brief an Nestorius (wonach der Logos „das mit einer vernunftbegabten Seele beseelte Fleisch mit sich selbst der Hypostase nach einte“) von Hypostase gesprochen. Zur Frage der Herkunft des Hypostasenbegriffs on Chalcedon vgl. Uthemann, Karl-Heinz: Christus, Kosmos, Diatribe. Themen der frühen Kirche als Beiträge zu einer historischen Theologie (AKG 93), Berlin/New York 2005, 1 (mit Anm. 2) und 11f.

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Eutyches’ Miaphysitismus

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III. | Christologie im antiken Christentum

prosōpon genau genommen synonym verwende.128 Vielleicht war

Tomus ad Flavianum

damit der Weg freier geworden, Hypostase und Person synonym im Singular zu verwenden und beide von den zwei Naturen zu unterscheiden. Mehrdeutig war allerdings Flavians „aus zwei Naturen“, da hier nicht klar war, ob nach der Einung eine oder zwei Naturen bestehen. Eutyches wandte sich nun an mehrere Bischöfe, u.a. Dioskur von Alexandrien und Papst Leo den Großen (440–461), mit der Bitte um Unterstützung. Leo forderte zunächst weitere Akten aus Konstantinopel an und gelangte zu der Ansicht, dass Eutyches mit Recht verurteilt worden war. Leo ließ zu großen Teilen aus seinen eigenen früheren Predigten und aus Bibelstellen von einem Mitarbeiter ein Lehrschreiben an seinen Bischofskollegen in der östlichen Hauptstadt erstellen, das unter dem Namen Tomus ad Flavianum berühmt geworden ist. Leo interpretiert darin der Sache nach die Unionsformel von 433 unter Betonung der Unterscheidung der beiden Naturen Christi auch nach der Menschwerdung. Die zwei Naturen seien zwar zu einer Person verbunden, doch unter Wahrung ihrer Eigentümlichkeiten: Zitat

„Unter Wahrung der Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen und durch ihr Zusammengehen zu einer einzigen Person wurde von der Hoheit die Niedrigkeit, von der Kraft die Schwäche, von der Ewigkeit die Sterblichkeit angenommen, und zur Tilgung der Schuld unseres Zustandes wurde die unverletzliche Natur mit der leidensfähigen Natur vereint … Jede der beiden Gestalten vollbringt in Gemeinschaft mit der anderen, was ihr eigentümlich ist, d.h. das Wort wirkt, was des Wortes ist, das Fleisch führt aus, was des Fleisches ist. Das eine von diesen beiden strahlt auf in Wundertaten, das andere setzt sich Schmähungen aus […]. Immer wieder muß gesagt werden: Ein und derselbe ist wirklich Gottessohn und wirklich Menschensohn […]. Wegen dieser Einheit der Person also, die in beiden Naturen zu denken ist (propter hanc unitatem personae in utraque natura intellegendam), heißt es vom Menschensohn, dass er vom Himmel herabgestiegen ist […] und andererseits, der Sohn Gottes sei gekreuzigt und begraben worden.“129

128 Theodoret: Impugnatio xii anathematismorum Cyrilli, erhalten in Kyrills Apologia (ACO I/1/6, 110–146, hier 117). Ich folge Uthemann, 9.

5. | Das Konzil von Chalcedon

„Jede der beiden Naturen“ – Subjekt all dieser Zuschreibungen ist zwar im Tomus stets ein und dieselbe Person Christi, aber charakteristisch für den Darstellungsstil Leos ist die Antithetik: Der ewige Gott macht sich in Christus zum endlichen Geschöpf, der Unsichtbare macht sich in Christus sichtbar usw. Diese Paradoxien bringt Leo mit dem rhetorischen Stilmittel der Antithese wirkungsvoll zum Ausdruck, dürfte sich gleichwohl durch Kyrills Zustimmung zur Unionsformel dogmatisch eins mit dessen Christologie empfunden haben.130 Die Scharfmacher auf alexandrinischer Seite konnten oder wollten dies allerdings nicht sehen, ihnen erschien der Text eher antiochenisch. Dioskur, der Bischof von Alexandrien, ignorierte zunächst die Verurteilung des Eutyches. Nun wurde im Jahre 449, nicht wegen des Schreibens von Leo, sondern auf Betreiben von Dioskur und Eutyches näher stehenden Gruppen, von Kaiser Theodosius II. ein erneutes Konzil nach Ephesus einberufen, das die Vorwürfe gegen Eutyches prüfen sollte.131 In Wirklichkeit stand die Unionsformel von 433 auf dem Spiel, und der Kaiser tadelte ausdrücklich in seinem Brief an das Konzil den Flavian, nicht etwa den Eutyches. Kurz vor Beginn bestimmte der Kaiser denn auch Dioskur von Alexandrien als Vorsitzenden des Konzils, womit natürlich eine unparteiische Untersuchung ausgeschlossen war. Die päpstlichen Legaten hatten auf dem Konzil von 449 in Ephesus einen schweren Stand. Auf dieser berühmten, von Leo später als latrocinium, als Räubersynode bezeichneten Versammlung, ließ Dioskur sie den Tomus Leos gar nicht erst verlesen. Theologen antiochenischer Ausrichtung wurden ausgeschaltet. Eine gewalttätige, in keiner Weise rechtskonforme Atmosphäre kenn-

129 Leo der Grosse: Epistula 28 (Tomus ad Flavianum) (ACO II/2/1, 25–29; Teilübersetzung DH 290–295). Zur Collagetechnik vgl. die Übersicht von Chavasse, Antoine: CChr.SL 138, cliiif. und den Aufsatz von Gaidioz, Jean: Saint Prosper d’Aquitaine et le Tome à Flavien, in: RevSR 23 (1949), 270–301. Der letzte oben zitierte Satz „Wegen dieser Einheit der Person …“ ist wörtlich aus Augustinus: Contra sermonem Arianorum 8 entlehnt. Abramowski, Luise: Rez. zu Halleux, André de, Patrologie et Oecuménisme, in: EThL 69 (1993), 435–437, hält diese Formulierung im Tomus der Ansicht von de Halleux entgegen, der Tomus schreibe keine präzise dyophysitische Formel vor; vielmehr dürfte die zitierte Formulierung im Tomus es den päpstlichen Legaten in Chalcedon leicht gemacht haben, der Formel zuzustimmen, der eine Herr werde „in zwei Naturen“ erkannt. 130 Vgl. Uthemann (wie Anm. 127), 1–36. 131 Vgl. dazu Camelot (wie Anm. 119), 103–128, und die Darstellungen in allen Lehrbüchern der Kirchen- und Dogmengeschichte.

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„Räubersynode“ von 449

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III. | Christologie im antiken Christentum

zeichnete den Verlauf. Eutyches wurde für rehabilitiert und Flavian für abgesetzt erklärt. Ihm wurde vorgeworfen, er hätte gegen das Verbot verstoßen, neue über Nizäa hinausgehende Glaubensbekenntnisse zu erstellen, also das Verbot, welches das kyrillische Konzil von Ephesus 431 erlassen hatte. Insgesamt erreichte Dioskur zwar nicht, dass die Unionsformel offiziell aufgegeben wurde. Doch die bis dahin einen gewissen Frieden garantierende Auslegung der Formel stand nun wieder in Frage. Zudem hatte Dioskur nun in das Lager der Kyrillianer eine vergröberte und radikalisierte Fraktion eingeführt, die letztlich jegliche Zulassung eines Zwei-Naturen-Konzepts für die reale Person Jesu Christi verurteilte und nur den Gedanken einer Zweiheit der Personen vor der Einung zur Person erlaubte. Nicht nur Papst Leo war über die Synode von Ephesus 449 empört. Leo und andere Bischöfe versuchten, beim Kaiser eine Annullierung dieser Synode und ein neues Konzil zu erreichen. 5.2 Das Konzil von Chalcedon

Einberufung des Konzils

450 starb Kaiser Theodosius II. Seine Schwester Pulcheria übernahm das Ruder, heiratete den Militär Markianus, der nun Kaiser wurde. Ein neues Konzil wurde zuerst nach Nizäa einberufen, dann auf den 8. Oktober 451 nach Chalcedon verlegt (heute der Stadtteil Kadiköy im asiatischen Teil von Istanbul).132 Es war das mitgliederstärkste, wohl auch am feierlichsten inszenierte Konzil der Antike. Bei der Eröffnung waren weit über 300, vielleicht sogar 500 Konzilsteilnehmer anwesend. Neunzehn hohe kaiserliche Beamte, alle Laien, leiteten das Konzil. Zum Präsidium zählten die fünf Legaten des Papstes Leo sowie die Bischöfe von Konstantinopel, Antiochien sowie weitere Bischöfe. Die Diskussionen verliefen teils heftig. Dioskur von Alexandrien geriet rasch auf die Anklagebank. Wir verfügen noch über viele Hunderte von Seiten der Konzilsakten: teils zu den Akten genommene Dokumente, teils Protokolle der einzelnen Sitzungen und Beschlüsse. Das Material liegt allerdings in mehreren griechi-

132 Vgl. dazu Camelot (wie Anm. 119), 87–221 und die Darstellungen in allen Lehrbüchern der Kirchen- und Dogmengeschichte mit den entsprechenden Quellenbelegen. Wichtige Beiträge auch in Van Oort, Johannes/Roldanus, Johannes (Hg.): Chalkedon: Geschichte und Aktualität. Studien zur Rezeption der christologischen Formel von Chalkedon (SPA 4), Löwen 1997.

5. | Das Konzil von Chalcedon

schen und lateinischen Sammlungen vor, die sich zum Teil stark unterscheiden, je nachdem, wer sie erstellt und bearbeitet hat. Der Verlauf im einzelnen muss hier nicht geschildert werden, sondern nur der historische Hintergrund der so genannten christologischen Definition von Chalcedon. Zudem ist das kirchenpolitisch bedeutsamste, auch emotionalste Ergebnis des Konzils hervorzuheben, dass nämlich Dioskur wegen seiner unrechtmäßigen Vorgehensweise auf der „Räubersynode“ jetzt in Chalcedon als Bischof von Alexandrien abgesetzt wurde. Die kaiserlichen Beamten verlangten im Auftrag des Kaisers, dass ein neues Glaubensbekenntnis erarbeitet werden sollte, das die Übereinstimmung von West (Leos Tomus ad Flavianum) und Ost (die Unionsformel und ihre Deutung in Kyrills LaetenturBrief) nun festhalten und weiteren Streit damit unterbinden sollte. Das wollten die meisten Bischöfe nicht, da sie die Verabschiedung neuer Glaubensbekenntnisse als illegitim erachteten. Man einigte sich nach langem Hin und Her in Chalcedon darauf, kein neues Glaubensbekenntnis im eigentlichen Sinne zu formulieren. Das Bekenntnis „der 318 Väter“ von Nizäa von 325 genüge. Zudem wurde jetzt erstmals in der Kirchengeschichte das Bekenntnis „der 150 Väter“ von Konstantinopel von 381 erwähnt und als aktualisierende Deutung des Nizänum verstanden. Beide Bekenntnisse wurden unter allgemeiner Zustimmung verlesen. Die päpstlichen Legaten legten großen Wert auf die Berücksichtigung von Leos Tomus ad Flavianum gegen die Häresie des Eutyches; auch der Tomus wurde verlesen, stieß allerdings in einigen Formulierungen bei manchen auf Skepsis. Ebenso wurden Briefe Kyrills gegen Nestorius verlesen und gebilligt. Eine Vorlage für eine Glaubensdefinition fand zunächst keine ausreichende Zustimmung, es kam zu einer Krise. Die Beamten bestanden unter Rücksprache mit dem Kaiser auf eine solche Definition, die auch etwas von Leos Schreiben integrieren sollte, damit die Einheit sinnfällig werde. Sie befürchteten, ohne eine solche Glaubensdefinition werde der Konflikt immer weiter schwelen. Sie drohten damit, bei Ablehnung ihres Ansinnens das Konzil nach Rom zu verlegen, was den östlichen Bischöfen natürlich missfiel. Man einigte sich darauf, dass eine Kommission die alte Vorlage überarbeiten und so die erwünschte ergänzende Glaubensformel erstellen sollte. So geschah es denn auch, und am 22.  Oktober 451 wurde die Formel beschlossen, am 25. Oktober feierlich in Anwesenheit des Kaiserpaares promulgiert. Die berühmte christologische Kernformel wird häufig ohne ihren Kontext zitiert. Daraus hat sich das zu Beginn des vorlie-

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Erstellung der Formel von Chalcedon

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Die Präambel der Definition von Chalcedon

III. | Christologie im antiken Christentum

genden Aufsatzes angedeutete verbreitete Bild gefestigt, Chalcedon habe das Heilsgeheimnis unter philosophischer Dogmatik begraben. Doch versteht man den ganz und gar soteriologischen Sinn der Formel erst richtig, wenn man die Einleitung dazu in den Konzildokumenten mitliest. Nach der vollständigen Zitation des in der Sitzung verlesenen Bekenntnisses von Nizäa und seiner ebenfalls vollständig zitierten und verlesenen, gegen die Pneumatochen gerichteten Neuinterpretation durch Konstantinopel 381 heißt es in dieser Präambel: 133 Zitat

„Es würde nun zwar zur vollständigen Erkenntnis und Festigung des rechten Glaubens dieses weise und heilsame Bekenntnis der göttlichen Gnade genügen; denn seine Lehre über den Vater und den Sohn und den heiligen Geist ist vollkommen, und es stellt denen, die es gläubig annehmen, die Menschwerdung des Herrn dar. Da aber die, welche die Verkündigung der Wahrheit abzuschaffen versuchen, durch ihre eigenen Häresien die leeren Begriffe in die Welt setzen, die einen […] bei der Jungfrau den Begriff ‚Gottesmutter‘ ablehnen, die anderen eine Vermischung und Vermengung einführen, sich in ihrer Unvernunft einbilden, es gebe eine einzige Natur des Fleisches und der Gottheit, und daherfabulieren, die göttliche Natur sei durch die Vermischung leidensfähig, deswegen hat dieses hier versammelte Konzil in der Absicht, ihnen jegliche Intrige gegen die Wahrheit unmöglich zu machen, und die von Anfang an unerschütterliche Verkündigung lehrend beschlossen, dass vornehmlich der Glaube der 318 heiligen Väter unangetastet bleibe. […] was die betrifft, die das Geheimnis des Heilsgeschehens zu zerstören versuchen und, ohne sich zu schämen, daherschwatzen, der aus der heiligen Jungfrau Maria Geborene sei ein bloßer Mensch, so billigt es die Synodalbriefe des seligen Kyrill […] an Nestorius und an die Orientalen […] zur Widerlegung des Unsinns des Nestorius […]; ihnen fügte es aus gutem Grund auch den Brief des Vorstehers des großen und alten Rom, des seligsten und heiligsten Erzbischofs Leo, bei, den er an den Erzbischof Flavian seligen Angedenkens zur Vernichtung der Irrlehre des Eutyches geschrieben hatte […].“133

133 ACO II/1/2, 128f. (deutsche Übersetzung nach DH Nr. 300).

5. | Das Konzil von Chalcedon

Es ist deutlich, dass das Konzil damit um der richtigen Erfassung der Denkbarkeit menschlichen Heils durch Jesus Christus willen in ausgewogener Weise die beiden Grundirrtümer ausschließen will: einerseits die Ein-Naturenlehre mit ihrer Vermischung göttlicher und menschlicher Natur, wodurch Gott leidensfähig gedacht würde, und für die der Name Eutyches steht. Andererseits die theotokos-Leugnung, für die hier der Name Nestorius steht, und die keine wirkliche Menschwerdung des Logos zu denken erlaubt und einen bloßen Menschen aus Jesus macht. Und jetzt erst folgt die berühmte „Definition“: Zitat

„1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

In der Nachfolge der heiligen Väter also lehren wir alle übereinstimmend unseren Herrn Jesus Christus als ein und denselben Sohn zu bekennen; derselbe ist vollkommen in der Gottheit, und derselbe ist vollkommen in der Menschheit; derselbe ist wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch aus vernunftbegabter Seele und Leib; derselbe ist der Gottheit nach dem Vater wesensgleich und der Menschheit nach uns wesensgleich, in allem uns gleich außer der Sünde (Hebr 4,15), derselbe wurde einerseits der Gottheit nach vor den Zeiten aus dem Vater gezeugt, 13 andererseits in den letzten Tagen 14 der Menschheit nach unseretwegen und um unseres Heiles willen 15 aus Maria der Jungfrau, Gottesmutter, 16 ein und derselbe ist Christus, der einziggeborene Sohn und Herr, 17 der in zwei Naturen 18 unvermischt, unveränderlich, ungetrennt und unteilbar erkannt wird, 19 wobei nirgends wegen der Einung der Unterschied der Naturen aufgehoben ist, 20 vielmehr die Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen gewahrt bleibt 21 und sich in einer Person und einer Hypostase vereinigt; 22 nicht in zwei Personen geteilt oder getrennt 23 sondern ein und derselbe ist der einziggeborene Sohn, 24 Gott, der Logos, der Herr Jesus Christus,

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Die Definition von Chalcedon

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III. | Christologie im antiken Christentum

25 Wie es früher die Propheten über ihn 26 und Jesus Christus selbst es uns gelehrt hat 27 und das Bekenntnis der Väter es uns überliefert hat.“134

Struktur und Sinn der Definition

Die Struktur und vermutliche Redaktionsgeschichte der Definition, die aus einem einzigen Satz besteht, der wie durch einen Refrain gegliedert ist, nämlich das wiederholte, kyrillisch klingende „ein und derselbe“, sind gut erforscht.135 Die Verse 1–16 interpretieren demnach die Unionsformel im Sinne des Laetentur-Briefs von Kyrill. Die Verse 16–18 gehen in der „In-zweiNaturen“-Lehre möglicherweise auf Basilius von Seleukia zurück, der damit im Rahmen kyrillischen Denkens steht. Jedenfalls scheinen diese Verse das Werk der Revisionskommission auf dem Konzil zu sein (wobei auch Leos Tomus diese Redeweise beeinflusst haben könnte). Die Verse 19–21 dürften ein Einschub sein, hier werden Formulierung aus Kyrills zweitem Brief an Nestorius und aus dem Tomus ad Flavianum Leos verbunden. Insgesamt erweist sich der Text als eine stark mit der Theologie und Stilistik Kyrills eingefärbte Deutung der ursprünglich antiochenischen Unionsformel. Der Refrain ist gegen eine Christologie wie die angebliche des Nestorius gerichtet, der man Zerreißung Christi vorwarf. Die vollkommene Menschheit des Sohnes (V. 6, 7, 10) wird gegen „seelenlose“ Christologien des apolinaristischen Typs betont, die vollkommene Gottheit (V. 7, 9) gegen die Christologien, die in ihrer Konsequenz Jesus Christus nur als Menschen denken können. Die Begriffe „unvermischt“ und „ungetrennt“ greifen das alte trinitätstheologische Denkmodell der Kappadokier auf,136 und wenden es christologisch gegen die beiden Haupthäresien, Miaphysitismus und Nestorianismus. V.  19 ist speziell gegen Eutyches gerichtet. All der begriffliche Aufwand dient keinem anderen Ziel als der Sicherung einer Christologie, mit der sich das Heil der Menschen denken lässt.

134 ACO II/1/2, 129f. (deutsche Übersetzung weitgehend nach DH Nr. 301), Zeilennummerierung wie bei Ortiz de Urbina, de Halleux, Abramowski u.a. 135 Halleux, André de: La définition christologique à Chalcédoine, in: Ders.: Patrologie et Oecuménisme. Recueil d’études (BEThL 93), Löwen 1990, 445–480, zusammengefasst bei Grillmeier, Bd. 1 (wie Anm. 17), 754–764. 136 Vgl. dazu knapp Kany: Trinitätslehre im antiken Christentum (wie Anm. 23), 172, und ausführlich: Abramowski, Luise: Drei christologische Untersuchungen, Berlin/New York 1981, 63–109.

5. | Das Konzil von Chalcedon

Diese Deutung wird auch durch die bestechende Analyse gestützt, die Sarah Coakley in Auseinandersetzung mit diversen Interpretationen der Definition von Chalcedon vorgelegt hat.137 Sie interpretiert die Definition weder als bloße Sprachregelung, noch sieht sie in der inkarnatorischen Ausdrucksweise eine bloß metaphorisch-mythische Einkleidung. Chalcedon schreibe auch keineswegs eine abgeschlossene, philosophisch geprägte Christologie vor. Vielmehr formuliere die Definition für den Leser das Rätsel des Heiles, das uns Menschen durch Gottes Heilshandeln in der Inkarnation zuteil wird. Die Rätselaufgabe für die Theologen könnte lauten: „Was ist unvermischt und ungetrennt?“ Die Antwort lautet zunächst: die menschliche und die göttliche Natur Christi. Doch genau dies theologisch zu durchdenken, den Rahmen also inhaltlich zu füllen, ist die Aufgabe, die Chalcedon nicht lösen will, sondern die sie der Theologie stellen will. Das Konzil von Chalcedon wurde im November 451 aufgelöst, nachdem Eutyches nach Nordsyrien und Dioskur nach Gangra in Paphlagonien verbannt worden waren. Allerdings erwies sich, dass das Konzil nicht das Ende der Streitereien bedeutete, sondern in gewisser Hinsicht erst den Anfang vieler neuer Spaltungen, die zum Teil bis heute anhalten. Vor allem in Ägypten fühlten sich viele Christen durch die Absetzung des Bischofs Dioskur von Alexandrien düpiert und gedemütigt. Es gab viele Theologen und Kirchenmänner, die in der christologischen Definition des Konzils eine ungerechte, vom Kaiserhaus und seinem Beamtenapparat aufgezwungene Formel erblickten. In der Folge entstanden heute noch existierende Kirchen, die aus westlicher und aus byzantinischer Sicht lange Zeit kurz und nicht wirklich sachgemäß „monophysitisch“ genannt wurden, etwa die Koptische Kirche Ägyptens und westsyrische Kirchen. Auch in den heutigen westlichen Theologien wird dem Konzil häufig vorgeworfen, die Lehre von den zwei Naturen und der einen Hypostase oder Person Christi habe mehr Probleme verursacht als gelöst, habe statt Einheit im Christentum Spaltung bewirkt. Man kann dies wohl so sehen, muss es aber nicht so sehen. Die Spaltungen hatten viele Ursachen. Das Konzil bot mit seiner ausge-

137 Coakley, Sarah: What Does Chalcedon Solve and What Does it Not? Some Reflections on the Status and Meaning of the Chalcedonian ‚Definition‘, in: Davis, Stephen T./Kendall, Daniel/O’Collins, Gerald (Hg.): The Incarnation. An Interdisciplinary Symposium on the Incarnation of the Son of God, Oxford 2002, 143–163.

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Sarah Coakley

Entstehung von Kirchen alexandrinischer Tradition

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III. | Christologie im antiken Christentum

wogenen Entscheidung durchaus die Grundlage für eine Beilegung des Streites. Doch daran waren nicht alle Parteien in den Jahrzehnten und Jahrhunderten nach 451 interessiert. Zusammenfassung

Der Unionsformel von 433 folgte keine lange Friedenszeit in der christologischkirchenpolitischen Diskussion. Vor allem durch den Mönch Eutyches in Konstantinopel und den neuen Bischof Dioskur von Alexandrien wurde der Konsens aufgekündigt. Durch eine Synode in Ephesus 449 sollte eine gegenüber Kyrills Denken radikalisierte, nur eine einzige Natur des Menschgewordenen lehrende Christologie vorgeschrieben werden. Doch die Synode wurde von vielen Seiten als skandalös und ungültig betrachtet. 451 sollte das Konzil von Chalcedon den Streit in einer ausgewogenen Weise beilegen. Die christologische Definition des Konzils ist soteriologisch zu lesen, wie es ihr Kontext und ihre Präambel auch deutlich machen. Die Formel selbst orientiert sich an Kyrills Interpretation der von den Antiochenern erarbeiteten Unionsformel von 433, reichert diese aber mit Ergebnissen der neueren sachlichen und terminologischen Entwicklungen in der Theologie an. Chalcedon will keine genaue Christologie entwickeln und vorschreiben, sondern einen zulässigen Rahmen vorgeben, in dem sich künftige Theologie bewegen soll, wenn sie das Geheimnis der Erlösung durch Jesus Christus denken will.

6. Christologische Debatten nach Chalcedon Die christologischen Debatten wurden besonders im griechischen, syrischen, koptischen, armenischen, äthiopischen und sonstigen Orient noch über Jahrhunderte hin fortgesetzt. Es gibt heute eine starken weltweiten Trend bei Theologen und immer häufiger auch bei Profanhistorikern, das vielsprachige, zum Teil sehr anspruchsvolle und komplexe Corpus östlicher christologischer Quellen von der späten Antike bis etwa ins zehnte Jahrhundert genauer zu erforschen. Die folgenden Seiten können die vielfältigen Ergebnisse dieses Forschungszweiges nicht annähernd erfassen, sondern skizzieren nur sehr kurz, sehr grob und sehr vereinfachend die Standarderzählung der christologischen Entwicklungen nach Chalcedon.138

138 Die folgende Skizze ist teils eng an Lehrbücher angelehnt, besonders Winkelmann, Friedhelm: Die östlichen Kirchen in der Epoche der christologischen Auseinandersetzungen (5. bis 7.  Jahrhundert) (KGE I/6), Leipzig

6. Christologische Debatten nach Chalcedon

Schon erwähnt wurde (zu Beginn von 5.1), dass sich im Umfeld des Konzils von Ephesus 431 allmählich eine eigene ostsyrische dyophysitische Kirche in der Tradition des Theodor von Mopsuestia herausbildete, die man verkürzt „nestorianisch“ nennt. Gegen Ende von Teil 5.2 wurde erwähnt, dass sich nach Chalcedon Kirchen in der Nachfolge von Eutyches und vor allem von Dioskur bildeten, die sich selbst zumeist in Kyrills Tradition sahen und sehen und ebenfalls verkürzt lange Zeit „monophysitisch“ genannt wurden. Das ägyptische Christentum, das sich zunehmend in koptischer Sprache äußerte und auf Distanz zum griechischsprachigen byzantinischen Reich ging, war Zentrum dieser Richtung, die aber zeitweise in der gesamten griechischen Osthälfte des Römerreiches überwog. Sogar in Antiochien wurde 471 ein Vertreter der „monophysitischen“ Richtung Bischof, Petrus der Walker (Gnapheus, auch Fullo, vielleicht ein Tuchmacher oder Leinenfabrikant). Einer der bedeutendsten Theologen eines gemäßigten Monophysitismus und überhaupt des antiken Christentums war Severus, seit 512 Bischof von Antiochien. Die westsyrisch-antiochenische Kirche („Jakobiten“ nach dem 578 verstorbenen Jakob Baradai) steht in dieser Tradition. Wie „Monophysiten“ über Chalcedon dachten, sei nur an einem Zitat des Philoxenus von Mabbug (gestorben 523) verdeutlicht: Zitat

Wir verdammen das Konzil von Chalcedon, weil es in dem einen Herrn Jesus Christus, dem einziggeborenen Sohn Gottes, eine Unterscheidung vornimmt in Naturen, Attribute und Tätigkeiten, in himmlische und irdische Merkmale, göttliche und menschliche Eigenschaften. Es sieht ihn an, als sei er zwei, und führt so die Vorstellung von vier [Personen in der Trinität] ein. Es betet einen gewöhnlichen Menschen an, und in jeder Einzelheit umschreibt es ihn als ein Geschöpf. Es stimmt mit dem verderblichen Nestorius überein, der verflucht und zur Vernichtung bestimmt ist.“139

1994; Dassmann, Ernst: Kirchengeschichte II/2, Stuttgart u.a. 1999, 101– 123. Im Literaturverzeichnis zum vorliegenden Beitrag sind einige Titel angegeben, in denen man Genaues zur spätantiken Christologie findet. 139 Nach Dassmann: Kirchengeschichte II/2, 103. 4

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„Nestorianer“ und „Monophysiten“

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III. | Christologie im antiken Christentum

Henotikon

Justinian

Neuchalcedonismus

Auch die Kirchenpolitik innerhalb der Stadt Konstantinopel blieb von den christologischen Streitigkeiten nach Chalcedon nicht verschont. 475–486 riss ein Usurpator namens Basiliscus den oströmischen Kaiserthron an sich und bedrohte alle mit Strafe, die an der Entscheidung von Chalcedon festhielten – 500 Bischöfe des Ostens unterschrieben. Als Kaiser Zeno (474–491) seinen Thron zurückerkämpfte, bemühte er sich um eine Einigung zwischen den vielen „Monophysiten“ und den mittlerweile wenigen Chalcedonianern durch das so genannte „Henotikon“ von 482. Diese Einigungsformel, die er zusammen mit dem Bischof Acacius von Konstantinopel entwickelte, kam den Monophysiten entgegen, hielt aber auch die wahre Menschheit Christi fest. Doch verhängte eine römische Synode unter Papst Felix III. im Jahre 484 über den Bischof Acacius den Bann, da man in Rom keinen Grund sah, über Chalcedon hinauszugehen; das so genannte Acacianische Schisma hielt bis 519 an. Die chalcedonische Christologie galt vielen Kirchen des Ostens als byzantinische Kaiser-Theologie. Auch die Verfolgung der Monophysiten unter Kaiser Justinian Mitte des sechsten Jahrhunderts drängte diese Form des Christentums vielerorts zeitweise in den Untergrund, machte sie aber dadurch eher noch stärker. Justinian versuchte nun, durch postume Verurteilung der Theologen, die angeblich der Theologie des Nestorius und der antiochenischen Schule zugrunde lagen, nämlich Theodor von Mopsuestia, Theodoret von Kyrrhos und Ibas von Edessa, die Monophysiten zum Einlenken zu bewegen. Er ließ die so genannten „drei Kapitel“, also diese drei Häupter, per Edikt im Jahre 544 verurteilen und berief das heute so genannte fünfte ökumenische Konzil nach Konstantinopel 553 ein, wo er diese Verurteilungen kirchlich erneut durchführen ließ (dazu wurde auch Origenes verurteilt, seine Schriften wurden verboten, viele Codices vernichtet). Christologisch ließ Kaiser Justinian auf diesem Konzil einen Mittelweg einzuschlagen, um zu einer Einigung der auseinander fallenden Kirche zu gelangen. Diese Christologie bezeichnet man heute als neuchalcedonisch. Sie wurde etwa von Leontius von Byzanz und anderen Theologen entwickelt. Die Definition von Chalcedon wird hier in einem entschiedener antinestorianischen Sinne interpretiert. Die erste wichtige Formel dabei ist die von der „Einung gemäß der Zusammensetzung bzw. gemäß der Hypostase“; damit ist gemeint, dass die menschliche Natur in Christus niemals getrennt von der göttlichen existiere, sondern in der göttlichen Natur ihre Seinsgrundlage hat. Man nennt dies die Enhypostasie der mensch-

6. Christologische Debatten nach Chalcedon

lichen Natur Christi in der göttlichen Natur Christi.140 Dadurch wird eine abstrakte Gegenüberstellung von menschlicher Natur einerseits und göttlicher Natur andererseits ausgeschlossen. Die beiden Naturen sind weder gleichrangig noch trennbar, sondern das Gewicht liegt ganz auf der göttlichen Natur und die menschliche Natur gründet in der göttlichen, wobei die Einung, wie Chalcedon schon gesagt hatte, auf der Ebene der Hypostase liegt. Die zweite wichtige neuchalcedonische Formel lautet: „Einer aus der Trinität“. Christus sei wahrer Gott und „einer aus der Trinität“. Diese Formel war von skythischen Mönchen, also Mönchen aus der Gegend der Donaumündung am Schwarzen Meer, Anfang des fünften Jahrhunderts aufgebracht worden. Ihre Losung lautete: Einer aus der Trinität hat am Kreuz gelitten. Man nannte sie daher auch Theopaschiten: Theologen, die Gottes Leiden vertraten. Sie wollten mit ihrer Formel jedes nestorianische Missverständnis der Christologie ausschließen: Das Leiden Christi am Kreuz ist nicht bloß menschliches Leiden, das mit Gott nichts zu tun hat, sondern es ist ein und derselbe, eben der menschgewordene Gott, einer aus der Trinität, der da leidet. Diese Formel wurde 553 vom Konzil von Konstantinopel anerkannt, das seinerseits vom römischen Bischof nachträglich akzeptiert wurde. Das Thema wird seit einigen Jahrzehnten wieder viel diskutiert. Hans Urs von Balthasar (1905–1988) etwa lehrte in einem bestimmten Sinne die Möglichkeit eines Leidens Gottes. Er beruft sich auf die eben skizzierte theopaschitische Formel. Karl Rahner (1904–1984) dagegen meinte, dass bei Balthasar Gott selbst den Geschicken unserer Welt unterworfen gedacht werde. Rahner besteht daher darauf, das „unvermischt und ungetrennt“ von Chalcedon sorgfältig zu wahren, statt Christus so zu denken, als werde Gott selbst in das Schicksal des Menschen Jesus hineingezogen. Rahner nennt einen solchen Fehlweg eine „neuchalcedonensische Erlösungstheorie“. Man darf zwar dogmatisch korrekt sagen, dass Gott ans Kreuz geschlagen wurde. Aber diese Ausdrucksweise ist durch die Regeln der so genannten Idiomenkommunikation begrenzt, die eine Christologie der zwei Naturen voraussetzt. Rahner befürchtet bei von Balthasars Variante der neuchalcedonischen Christologie, dass daraus eine Idiomen-

140 Vgl. Essen, Georg: Die Freiheit Jesu. Der neuchalkedonische Hypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie, Regenburg 2001; Gleede, Benjamin: The Development of the Term Enhypostatos From Origen to John of Damascus (SVigChr 113), Leiden 2012.

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Leidet Gott?

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Monergismus und Monotheletismus

III. | Christologie im antiken Christentum

identität werde: Was Christus erleidet, erleidet Gott selbst. – Tatsächlich fragt sich, ob die in jüngerer Zeit bisweilen in Mode gekommene These vom Leiden Gottes wirklich so menschenfreundlich ist wie sie sich gibt: Wenn nicht nur der Menschgewordene menschliches Leiden auf sich genommen hat, sondern Gott selbst in Ewigkeit leidet, wie könnte irgendein Mensch dann noch hoffen, je vom Leiden erlöst zu werden? Der Streit um die Christologie ging im siebten Jahrhundert weiter. Kaiser Heraklius (610–641) konnte manche an die Perser verlorenen Gebiete wieder für Byzanz zurückerobern. Aber nach dem Tod Muh.ammads 632 gelang es den Kalifen Abu Bakr und Omar rasch, Palästina, Syrien, Ägypten und Teile Persiens zu erobern. Heraklius versuchte unter all diesen schwierigen Umständen, zur Wiedererlangung der christlichen Einheit beizutragen. Um einen Kompromiss zwischen chalcedonischer und monophysitischer Lehre zu fördern, wurde von Patriarch Sergius von Konstantinopel (610–638) der Vorschlag gemacht, dass man zwar nicht von einer Natur in Christus reden dürfe, sondern von zweien, dass man aber nur von einer einzigen gottmenschlichen Energie oder Wirkkraft reden müsse. Alles in Christus werde ungeteilt von einer einzigen energeia gewirkt, gleich ob es sich um eine Sache Gottes, der Seele oder des Leibes handle. Aus ähnlichen Erwägungen sagte man auch, es gebe nur einen Willen in Christus, nicht einen göttlichen und einen menschlichen. Man nennt diese christologischen Konzeptionen den Monergismus (energeia) oder Monotheletismus (thelēma, Wille). Damit wird das Problem wohl kaum gelöst. Denn die Einheit in Christus liegt dem Chalcedonense zufolge auf der Ebene der Person und nicht bloß des Willens oder der Energien. Der Patriarch Sophronius von Jerusalem gewann jedoch die Zustimmung des Papstes Honorius (625–638) zum Monotheletismus, ja es scheint, dass Honorius sogar das Stichwort von dem einen Willen in die Debatte warf, während vorher mehr der Monergismus debattiert wurde. Wenn man mit dem Monotheletismus das konkrete Verhalten Jesu Christi meint, von dem ja nicht bezeugt ist, dass gleichsam zwei Seelen in seiner Brust gewohnt hätten, so ergab die Rede vom einen Willen Sinn. Aber damit begnügten sich bestimmte Vertreter des Monotheletismus nicht. Sie meinten wohl, dass man in Christus nur von einem Willen reden sollte, weil er im Grunde auch nur eine Natur habe. Das aber wäre ein offener Widerspruch zu Chalcedon gewesen. Erst kurz nach dem Tod des Honorius 638 entwickelte einer der bedeutendsten Theologen der Ostkirche überhaupt, Maxi-

6. Christologische Debatten nach Chalcedon

mus, eine genauere Theorie der zwei Willen und zwei Energien in Christus. Maximus trägt den Ehrentitel Confessor, da er für seinen Glauben Verbannung, Folter und 662 den Tod erlitten hat. Postum wurde er auf dem so genannten sechsten Ökumenischen Konzil im Kaiserpalast von Konstantinopel („in Trullo“) 680/681 rehabilitiert, wo auch der Monotheletismus verurteilt wurde. In gewisser Hinsicht hatte die griechischsprachige, nun byzantinische Christologie mit dem Denken des Maximus Confessor wieder zum Denken des Konzils von Chalcedon zurückgefunden. Mit den orientalischen „nichtchalcedonischen“ christlichen Kirchen werden seit mehreren Jahrzehnten intensive ökumenische Gespräche von diversen Kirchen auf vielen Ebenen geführt. Man hat gelernt, dass man sich wechselseitig viel zu lange in Schablonen wahrgenommen hat, statt die historische Bedingtheit der wechselseitigen Wahrnehmung zu erfassen und statt die oft auf konsensfähigen soteriologischen Anliegen beruhenden christologischen Optionen der jeweils anderen Seite positiv aufzugreifen. Die nichtchalcedonischen Christen konnten viele Jahrhunderte lang in zumeist islamisch geprägten Ländern überleben, wenn auch oft unter erheblichen rechtlichen und anderen Einschränkungen. Heute ist ihr Überleben in ihren angestammten Heimatländern höchst gefährdet. Eine spätantike Christologie impliziert auch der Islam.141 Jesus ist hier einer in der Reihe der Propheten, die mit Adam beginnt und mit Muh.ammad als dem endgültigen „Siegel der Propheten“ endet (siehe oben 2.1 mit Anm. 33). Folglich gelten die im Koran enthaltenen Aussagen über Jesus als korrekt, die im Neuen Testament und der christlichen Tradition enthaltenen als teils gefälscht oder entstellt. Zwar wird die Geburt Jesu aus der Jungfrau Maria auch im Koran mit dem Heiligen Geist zusammengebracht, Jesus selbst aber nur als Mensch gesehen, der ausdrücklich die alleinige Verehrung Gottes, nicht seiner selbst lehre. Von vielen Koranauslegern wird auch die Deutung vertreten, Jesus sei nur zum Schein gekreuzigt worden und nicht am Kreuz gestorben. Insbesondere wird die christliche Idee der Trinität und des Gottessohnes als Person dieser Trinität strikt abgelehnt. Auf diese Weise entsprechen viele Elemente der islamischen Christolo-

141 Reynolds, Gabriel Said: The Islamic Christ, in: Murphy, Francesca Aran (Hg.): The Oxford Handbook of Christology, Oxford 2015, 183-198. Dank an Andreas Kaplony (München) für den Hinweis auf diesen Aufsatz.

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Orientalische Christen und Muslime

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III. | Christologie im antiken Christentum

gie nicht der Christologie fast aller christlichen Kirchen, für die Christus Gott und Mensch zugleich ist, wohl aber gleichen sie teilweise vielen Vorstellungen eines populären westlichen Christusbildes. Vielleicht gehen künftig auch in Europa Impulse für eine neue und vertiefte Beschäftigung mit der Christologie des antiken Christentums gerade von der respektvollen, und das heißt immer auch: sorgfältigen und kritischen Auseinandersetzung mit dem Islam aus. Möglicherweise wird man gegenüber einem verbreiteten, banal gewordenen Christusbild des Westens eines Tages wiederentdecken, welches befreiende Potential die Botschaft von einem Gott impliziert, der Mensch wird, um menschliches Heil und menschliche Heilung zu ermöglichen. Zusammenfassung

Die christologische Diskussion ging nach dem Konzil von Chalcedon weiter und trug zu zahlreichen Spaltungen vor allem im östlichen Christentum bei. Heute gibt es viele Versuche, Brücken zu bauen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Islam könnte zudem auch im Westen dazu beitragen, den soteriologischen Sinn der klassischen Christologie des antiken Christentums wiederzuentdecken.

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IV. Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte Karlheinz Ruhstorfer Ein wesentliches Merkmal des christlichen Glaubens ist die radikal geschichtliche Dimension. Der Gedanke der Menschwerdung Gottes hat Konsequenzen, denn er besagt: Gott geht in die Geschichte ein. Der Ewige unterwirft sich der Dynamik der Zeit. Wenn dies ein wesentliches Moment des Glaubens ist, dann ist Gott selbst in Jesus Christus wandelbar, und ebenso wandelbar sind die Gottesvorstellungen der Menschen. So, wie die Offenbarung nicht ein unveränderliches Set von Sätzen ist, so ist auch der Glaube nicht einfach ein Fürwahrhalten statischer Lehren. Die Geschichte des Menschen wird zur Geschichte Gottes, und in der Geschichte des Glaubens an Jesus Christus kommt der Glaube an die Geschichtlichkeit der gottmenschlichen Wirklichkeit zu sich. In je neuen epochalen Konstellationen treten je neue Aspekte Gottes hervor. Im Zentrum des Glaubens findet sich die Überzeugung von der unüberbietbaren und damit göttlichen Würde des menschlichen Individuums. Das menschliche Individuum ist der Repräsentant Gottes in der Geschichte, und diejenigen Menschen, die sich dieser Wahrheit bewusst sind, bilden die Kirche als Gemeinschaft selbstbewusster Individuen. Doch auch die Kirche ist damit eine radikal geschichtliche Größe. Epochales Merkmal der Christologie der Patristik ist die Konzentration der Repräsentanz Gottes auf das Individuum Jesus von Nazaret. In ihm sind Gottheit und Menschheit personal vereint. Diese Überzeugung wird in der Formel von Chalcedon gewissermaßen auf den Begriff gebracht. Göttliche und menschliche Natur sind in der Person Jesu von Nazaret ungetrennt und unvermischt verbunden. Formal betrachtet handelt es sich im Dogma von Chalcedon um den Versuch, den Glauben der Christen mit Begriffen griechischer Rationalität zu erfassen. Jüdisches Erzählen und griechisches Begreifen prägen christliches Nachdenken spätestens seit der Logosspekulation des Johannesevangeliums. In den ersten beiden Jahrhunderten war es vor allem der mittlere Platonismus, der dem jungen Christentum half, sich selbst zu verständigen. Ab dem dritten Jahrhundert stellte der Neuplatonismus die maßgebliche Denkform, die auch christ-

Die Geschichtlichkeit des Glaubens

Jüdisches Erzählen und griechisches Begreifen

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Die epochale Relation von Substanz und Akzidens

Das kategorische Urteilen

Die epochale Relation von Ursache und Wirkung

liche Inhalte prägen sollte. Im Umfeld der kritischen Rezeption von Plotin und Porphyrios entstand die christliche Philosophie, um hier nur auf Origenes und Augustinus zu verweisen. Erst jetzt konnte der Gedanke absoluter Transzendenz des Einen spekulativ gefasst werden. Der radikal jenseitige Gott allerdings bedarf der Vermittlung in die Immanenz der menschlichen Welt. Auch das sich neu formierende Judentum und später der Islam bleiben dem Gedanken der jenseitigen Einheit Gottes verbunden. Während das Judentum die Vermittlung in der Torah annimmt und der Islam den Koran als Offenbarung Gottes begreift, geht das Christentum von der Selbstmitteilung Gottes in Jesus von Nazaret aus. Um die christologischen Aussagen des Konzils von Nizäa und die Formel von Chalcedon in ihrem Kontext angemessen würdigen zu können, müssen wir die epochale Grundrelation bzw. die Logik des patristisch-scholastischen Denkens knapp skizzieren. Durch die Rezeption des antiken griechischen Denkinstrumentariums durch das junge Christentum wird jenes prinzipiell verändert. Die basale Unterscheidung der griechischen Philosophie vor der Verschmelzung mit dem christlichen Glauben ist diejenige von gedachter und erscheinender Welt: Idee und Phänomen. Der Grundgedanke Platons besteht darin, dass die unwandelbare Wahrheit der wandelbaren Wirklichkeit zugrunde liegt. Aristoteles fasst die Differenz von wahrem Sein und wirklichem Werden mit den Begriffen Substanz und Akzidens. Die Substanz oder die Natur oder das Wesen ist das eigentlich Seiende, während die akzidentellen Phänomene nur insofern sind, als sie an der idealen Substanz Anteil haben. Ein Bedürfnis einer Offenbarung besteht insofern nicht, als eine Anwesenheit bei der Idee bzw. der Substanz dem denkenden Menschen möglich ist. Der Mensch als zóon lógon échon – Vernunft habendes Sinnenwesen – hat Anteil am göttlichen lógos, genauer am göttlichen nous. Entsprechend kann der Mensch die Wahrheit erkennen und sagen, wie es ist. Die epochale Urteilsform des griechischen Denkens ist das kategorische Urteil. Und die zugehörige Relation ist die bereits erwähnte kategoriale Unterscheidung von Substanz und Akzidens. Spätestens im Neuplatonismus ändern sich die kategorialen Verhältnisse, weil ein neues epochales Prinzip die Bühne betritt, das absolut transzendente Eine. Das Eine ist die Ursache schlechthin und Alles ist seine Wirkung. Dieses Prinzip erhält die maßgeblichen Impulse für seine Entstehung aus der vorphilosophischen Welt der orientalischen Religion des Judentums. In den biblischen Erzählungen wird ein Gott angenommen, der streng

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

genommen keine Anwesenheit bei sich zulässt, sondern transzendent ist und zugleich als Herr der Geschichte in die Welt eingreift. Dieser persönliche Gott Israels überragt die Vernunft der Menschen, die ihn nur kennen, insofern er sich offenbart. Das Merkwürdige des Christentums besteht nun darin, dass die Selbstmitteilung Gottes just in einem Menschen geschieht und mehr noch, dass schließlich ein Mensch mit dem Gott Israels identifiziert wird. Allerdings ist es gerade die genaue Bestimmung dieser Identität, die immer auch eine Differenz beinhaltet, wodurch die christologische Theoriebildung vorangetrieben wird. Diese neue Vermittlung zwischen Gott und Mensch ist aber nicht mehr mit einem kategorischen Urteil erfassbar. Es kann nicht mehr schlechthin begriffen und gesagt werden, wie es ist. Die epochale Urteilsform der patristisch-scholastischen Zeit ist das hypothetische Urteil und die neue Weise des Denkens heißt: Glaube.

217

Das hypothetische Urteilen

Definition

Das griechische Verb katˉegoreín bedeutet jemanden anklagen, aber auch etwas über jemanden oder etwas aussagen. Eine katˉegoría ist eine Aussage, die deutlich macht, wie es sich verhält. Das Verb hypotíthˉemi meint etwas unterlegen, als Unterpfand geben, etwas zu Grunde legen oder als Grundlage annehmen. Entsprechend ist eine hypóthesis eine Annahme, Hypothese oder eben eine Unterstellung. In der Kategorienlehre von Immanuel Kant entspricht das kategorische Urteil der Relationskategorie von Substanz und Akzidens und das hypothetische Urteil der Relationskategorie von Ursache und Wirkung.

Es wird Jesus unterstellt, der göttliche lógos zu sein. Doch auch in Gott findet sich die Unterstellung, dass der Sohn (lógos) dem Vater (theós) unterstellt ist (vgl. 1Kor 15,26–18). Durch die wechselseitige Unterscheidung und Unterstellung von Vater und Sohn und schließlich auch dem Heiligen Geist entwickelt sich die Vorstellung von drei göttlichen Hypostasen, wörtlich Unterstellungen, lateinisch: Subjekte oder Substanzen. Doch während sich der Substanzbegriff innertrinitarisch zum Gattungsbegriff für die drei göttlichen Individuen entwickelt, dient der Subjekt- oder Hypostasebegriff schließlich zur Bezeichnung des Individuums oder der Person. Entscheidend ist aber, dass all diese Begriffe von Gott nicht mehr kategorisch ausgesagt werden können, son-

Der hypostatische Gott

218 Der hypothetische Gott

Das hypothetische Denken: der Glaube

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

dern lediglich hypothetisch. Gott ist streng genommen ineffabile. Als die unaussprechliche Einheit ist Gott aber nicht mehr die platonische Idee oder die aristotelische Substanz, die Anwesenheit bei sich zulässt, sondern er ist der transzendente Grund von allem. Die neue epochale Grundrelation ist diejenige von Ursache und Wirkung. Eine Erkenntnis Gottes ist aber nur noch möglich, indem von der Wirkung auf die Ursache zurückgeschlossen wird. Jesus Christus wird nun vorgestellt als die unaussprechliche Einheit von Ursache und Wirkung. Als solche ist er Schöpfer und Geschöpf zugleich und damit der Mittler zwischen Gott und Mensch. Die Menschen aber können diese Einheit nicht einsehen, wohl aber glauben. Der Glaube ist denn auch die epochal neue  – hypothetische  – Weise des Denkens. Die Lösung des christologischen Problems ist immer nur epochal möglich.1 Zitat

„Es ist aber der Glaube: Unterstand im Erhofften, Gewissheit von Nichtgesehenem“ (Hebr 11,1) oder in der Einheitsübersetzung: „Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht.“

Die Relation der Wechselwirkung

Das dialektische Denken oder die Wechselwirkung von Glauben und Vernunft

Die hypothetische Christologie der patristisch-scholastischen Epoche ist aber nur die erste geschichtliche Ausprägung des Christusglaubens. Ihr folgt beginnend im späten Mittelalter eine weitere epochale Gestalt. Beginnend in der Deutschen Mystik wird die Gegenwart Christi im menschlichen, genauer im glaubenden Individuum maßgeblich. Der Geist Christi ist der Gott in uns. Fortan muss die epochale Grundrelation als Wechselwirkung von Gott und Mensch betrachtet werden. Dadurch erhalten die menschliche Vernunft und die menschliche Freiheit ihrerseits einen göttlichen, weil absoluten Status. Menschliche und göttliche Vernunft sowie menschliche und göttliche Freiheit befinden sich in der Neuzeit wegen der christologischen und pneumatologischen Vermittlung in einer dialektischen Dynamik. Doch zunächst wenden wir uns der mittelalterlichen Fortschreibung der ersten Epoche onto-theo-logischer Christologie zu.

  1 Anders Danz, Christian: Grundprobleme der Christologie, Tübingen 2013, 79.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

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1. Die onto-theo-logische Christologie 1.1 Die Entwicklung im Mittelalter 1.1.1 Anselm von Canterbury Die mittelalterliche Christologie bringt keine epochale Erneuerung, wohl aber eine begriffliche Präzisierung und mehr noch eine sachliche Fortbestimmung der patristischen Gedanken. Schon Augustinus (356–430) hatte mit Jes 7,9 (LXX) formuliert: „Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht einsehen“.2 Der Glaube als eine Form des Denkens mit Zustimmung des Willens – cum assensione cogitare – bezieht sich nicht nur auf das bloße Dasein Gottes, sondern besonders auf Gott als „Kraft und Weisheit Gottes – virtus et sapientia Dei“ (1Kor 1,24).3 Damit ist aber die Gegenwart Gottes im gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus, dem Gott neben uns, gemeint. Auf dieser Basis entwickelt Anselm von Canterbury (1033–1109) sein Programm des Glaubens, der Einsicht sucht – fides quaerens intellectum.4 Entscheidend ist auch hier der Gedanke der absoluten Transzendenz Gottes, die in Christus bereits durchbrochen wird. Der Glaube an Christus wird die hypothetische Voraussetzung für das Erlangen der Einsicht Gottes: Zitat

„Ich versuche nicht, Herr, Deine Tiefe zu durchdringen, denn in keiner Weise vergleiche ich jene mit meiner Vernunft; aber ich verlange irgendwie deine Wahrheit, die mein Herz glaubt und liebt, einzusehen. Denn nicht suche ich einzusehen, um zu glauben, sondern zu glauben, um einzusehen. Denn auch das glaube ich: ‚Wenn ich nicht glaube, dann werde ich nicht einsehen‘ (Jes 7,9 LXX)“.5

  2 Siehe Augustinus: De magistro 11,37 (CCSL XXIX, 195), vgl. De libero arbitrio 1,2 (CCSL XXIX, 213).   3 Siehe Augustinus: De magistro 11,38 (CCSL XXIX, 196).  4 Anselm von Canterbury: Proslogion, Prooemium (ed. F. S. Schmitt, Sancti Anselmi Opera omnia, Vol. I, p. 93).  5 Anselm: Proslogion, cap. 1 (Opera omnia I, p. 100).

Der Glaube, der Einsicht sucht

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Dasjenige, worüber Größeres nicht gedacht werden kann

Die Notwendigkeit der Inkarnation

In diesem Kontext ist auch Anselms Begründung, Warum Gott Mensch wurde – Cur Deus homo, aus dem Jahr 1098 zu sehen. Zu Recht gilt Anselm als Vater der Scholastik, da er die rationale Begründung, in diesem Fall der Menschwerdung, auf eine neue Reflexionsebene hebt. Basis der anselmschen Argumentation ist auch im christologischen Kontext sein Gottesbegriff: Gott ist „dasjenige, worüber Größeres nicht gedacht werden kann  – id quod maius cogitari nequit“.6 Wie dieser Grenzbegriff im Proslogion das Dasein Gottes rational aufweisen soll, so soll die Gedankenführung von Cur Deus homo deutlich machen, dass eine Einrede gegen den christlichen Glauben an die Menschwerdung Gottes nicht möglich ist, und dass der Tod des Gottmenschen am Kreuz notwendig gewesen sei, wenn die Menschen das Heil erlangen sollen. Schon hier zeigt sich die Bedingung des Argumentationsgangs und damit der hypothetische Charakter der Notwendigkeit, von der hier die Rede ist. Wenn Menschen das Heil erlangen, dann sind die Menschwerdung und der Kreuzestod notwendig. Die Argumentation soll den Glauben nicht ersetzen, wohl aber die Vernunftgemäßheit des Geglaubten aufzeigen.7 Gleichwohl beginnt der Gedankengang Christo remoto, d.h. die Tatsächlichkeit des Christusgeschehens wird eingeklammert.8 Neben dieser formalen Innovation, die die Bedeutung der Vernunft deutlich aufwertet, wird vor allem der Gedanke der „Genugtuung“ – satisfactio – für die westliche Tradition von großer Bedeutung. Durch die Sünde Adams wird die Ehre Gottes (honor) verletzt.9 Sünde bedeutet, sich dem Willen Gottes zu wi-

 6 Anselm: Proslogion, cap. 2 (Opera omnia I, p. 101).  7 Anselm: Cur Deus homo, lib. 1, cap. 1 (hg. v. F. S. Schmitt, lateinisch und deutsch, Darmstadt 1956, S. 10): „[…] non ut per rationem ad fidem accedant, sed ut eorum quae credunt intellectu et contemplatione delectantur“.  8 Anselm: Cur Deus homo, praefatio (Schmitt, S. 2/3).  9 Anselm: Cur Deus homo, lib. 1, cap 11 (Schmitt, S. 40/41): „Aller Wille der vernunftbegabten Schöpfung muß dem Willen Gottes unterworfen sein. […] Das ist das Geschuldete, was Engel und Menschen Gott schulden; keiner, der es einlöst, sündigt und jeder, der es nicht einlöst, sündigt. Das ist die Gerechtigkeit oder Geradheit des Willens, die gerecht oder geraden Herzens, das heißt Willens macht. Dies ist die alleinige und ganze Ehre, die wir Gott schulden und die Gott von uns fordert. […] Wer diese schuldige Ehre Gott nicht erweist, nimmt Gott, was ihm gebührt, und entehrt Gott; und das heißt ‚sündigen‘. Solange er aber nicht einlöst, was er geraubt, bleibt er in Schuld. Und es genügt nicht, nur das zurückzugeben, was geraubt wurde, sondern wegen der zugefügten Entehrung muß er mehr erstatten, als er genommen

1. | Die onto-theo-logische Christologie

dersetzen. Um versöhnt zu werden, reicht es nicht hin, das Geschuldete, die Ehre, zu erweisen, sondern die Tat muss gesühnt werden. Gott kann auch nicht einfach aus Barmherzigkeit vergeben, da hierbei die Gerechtigkeit vernachlässigt werden würde. Sünder und Gerechter würden gleich behandelt, was nicht sein kann. Gott ist aber dasjenige, worüber hinaus Größeres oder Besseres und damit auch Gerechteres nicht gedacht werden kann.10 So ist es zwar gerecht, den Sünder zu bestrafen, doch allein dadurch wird die Ehre Gottes nicht wiederhergestellt, weil die Strafe auch gegen den Willen des Sünders durchgesetzt wird, die Ehre aber nur durch eine freiwillige Wiedergutmachung wiederhergestellt werden kann.11 Darüber hinaus führt die Bestrafung noch nicht zur Versöhnung und mithin Glückseligkeit des sündigen Menschen. Da der Mensch aber Gott ohnehin sich selber und alles, was er hat und kann, schuldet, auch wenn er nicht sündigt, hat er eigentlich nichts, was er von sich aus Gott zur Satisfaktion anbieten könnte.12 Entscheidend dabei ist, dass auch die Ehre dessen, über den hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, alles endliche Vermögen übersteigt. Eine „Genugtuung“, die der Unendlichkeit Gottes entspricht, kann der endliche Mensch von sich aus nicht leisten. Nun ergibt sich das Dilemma, dass die Satisfaktion einerseits vom Menschen freiwillig geleistet werden muss, doch andererseits das vom Menschen Leistbare nicht hinreicht, weshalb die Genugtuung, durch die der Mensch gerettet wird, nur ein Gott-Mensch leisten kann.13 Jesus Christus

 10  11  12  13

hat. […] So muß also jeder, der sündigt, Gott die geraubte Ehre einlösen, und das ist die ‚Genugtuung‘, die jeder Sünder Gott leisten muß.“ Anselm: Cur Deus homo, lib. 1, cap. 13 (Schmitt, S. 46/47). Anselm: Cur Deus homo, lib. 1, cap. 14 (Schmitt, S. 46/47). Anselm: Cur Deus homo, lib. 1, cap. 20 (Schmitt, S. 72/73). Anselm: Cur Deus homo, lib. 2, cap. 6 (Schmitt, S. 96/97f.): „Das aber kann nicht geschehen, wenn es nicht jemand gibt, der Gott für die Sünde des Menschen etwas Größeres gibt, als alles, was außerhalb Gottes existiert. […] Auch ist es notwendig, daß der, der aus seinem Eigenen Gott etwas wird geben können, das alles, was unter Gott steht, überragt, größer ist als alles, was Gott nicht ist. […] Nichts aber ist über allem, was Gott nicht ist, außer Gott. […] Also kann diese Genugtuung nur Gott leisten. […] Es darf sie aber niemand leisten außer dem Menschen. Sonst leistete nicht der Mensch Genugtuung. […] Wenn also, wie es feststeht, notwendig ist, daß aus den Menschen jene himmlische Stadt vollendet wird und das nicht geschehen kann, wenn nicht die erwähnte Genugtuung erfolgt, die einerseits nur Gott leisten kann und andererseits nur der Mensch leisten darf: so ist es notwendig, daß sie ein Gott-Mensch leiste.“

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Die Satisfaktionstheorie

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Kritik an Anselm

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

leistet freiwillig diejenige Genugtuung, über die hinaus eine größere nicht gedacht werden kann. Der Tod des Gerechten für die Ungerechten ist das härteste und schwerste Opfer,14 das erbracht werden kann. Weil nun aber das Opfer Jesu nicht für seine eigene Sünde dargebracht wird, kann es den an ihn Glaubenden zugute kommen. Und weil das Leben des Gott-Menschen ein unendliches Gut darstellt, ist seine Hingabe auch tatsächlich in der Lage, die Sünden der Welt aufzuwiegen.15 Anselms Gedankengang, der hier nur angedeutet werden konnte, zeichnet sich durch seine glaubensunabhängige Rationalität aus. Damit steht er am Anfang der Theologie des Mittelalters, die wegen ihrer Einbindung in den akademischen SchulBetrieb der neu entstehenden Universitäten auch Scholastik genannt wird. Dennoch ist seine Argumentation schon zu seiner Zeit höchst umstritten, vor allem die Betonung der Notwendigkeit von Inkarnation und Kreuzestod findet Widerspruch etwa bei Petrus Abaelard (1079–1142). Gott hätte auch andere Wege der Erlösung finden können und vor allem diene das Leben Jesu Christi dazu, die Liebe Gottes im Genetivus subiectivus und Genetivus obiectivus in den Menschen zu erwecken.16 1.1.2 Thomas von Aquin Den Höhepunkt scholastischer Theologie stellt ohne Zweifel das Werk des Thomas von Aquin (1224–1275) dar. Nicht zuletzt wirkungsgeschichtlich betrachtet ist seine Summa Theologiae wohl eines der zentralen Werke christlicher Literatur. Es galt spätestens

 14 Anselm: Cur Deus homo, lib. 2, cap. 11 (Schmitt, S. 114/115): „Nichts Härteres aber und Schwereres kann der Mensch zur Ehre Gottes freiwillig und ohne Schuldigkeit erleiden als den Tod; und der Mensch kann sich selber in keiner Weise mehr Gott hingeben, als wenn er sich zu seiner Ehre dem Tode ausgeliefert.“  15 Anselm: Cur Deus homo, lib. 2, cap. 14 (Schmitt, S.  121/122): „Anselm: Bedenke auch, daß die Sünden so hassenswert sind, wie sie schlecht sind, und jenes Leben so liebenswert, wie es gut ist. Daraus folgt, daß dieses Leben mehr lebenswert ist als die Sünden hassenswert. […] Glaubst du, ein so großes, so liebenswertes Gut könne genügen, um einzulösen, was für die Sünden der ganzen Welt geschuldet wird? Boso: Im Gegenteil, noch ins Unendliche mehr vermag es. Anselm: Du siehst also, wie dieses Leben alle Sünden überwiegt, wenn es für sie hingegeben wird.“  16 Vgl. Gäde, Gerhard: Eine andere Barmherzigkeit. Zum Verständnis der Erlösungslehre Anselms von Canterbury, Würzburg 1989.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

seit dem 16. Jahrhundert als das Schulbuch katholischer Theologie. Und noch heute weiß sich die römisch-katholische Kirche diesem Autor in besonderer Weise verbunden.17 Die Summe der Theologie fasst die gesamte christliche Lehre zusammen und stellt sie dabei in einer Weise systematisch dar, die an eine gotische Kathedrale denken lässt. Thomas bündelt darin auch die verschiedenen christologischen Strömungen seiner Zeit. Der Grundgedanke und damit das Bauprinzip der Summa ist die spekulative Entsprechung von Gott und Mensch. Gott schafft den Menschen als das vornehmste Geschöpf. Er zeichnet sich durch Vernunft und freien Willen aus. Allerdings ist der aktuelle Zustand des Menschen  – nach dem Sündenfall – eher als erbärmlich zu bezeichnen. Wegen der vorsätzlichen Abkehr des Menschen von Gott bedarf es einer erneuten Zuwendung Gottes, um den Menschen wieder zu seiner ursprünglichen Würde zu verhelfen und ihn zur vollkommenen Glückseligkeit und damit zu Gott zurückzuführen. Prinzipielle Absicht der Summa Theologiae ist es, die „Kenntnis Gottes zu überliefern“ (cognitionem Dei tradere). Die Offenbarung Gottes in der Geschichte soll weitergegeben, „tradiert“ werden, damit die Menschen ihre göttliche Würde wiedererlangen. Zitat

„Weil es die prinzipielle Absicht dieser heiligen Lehre ist, die Kenntnis Gottes zu überliefern, und nicht nur insofern er an sich ist, sondern auch insofern er Prinzip und Ziel der Dinge ist und besonders der vernünftigen Schöpfung […], wollen wir zur Darlegung dieser Lehre zum ersten von Gott handeln, zum zweiten von der Bewegung der vernünftigen Schöpfung auf Gott hin und zum dritten von Christus der, insofern er Mensch ist, für uns der Weg ist, auf dem wir zu Gott hin streben.“18

 17 Siehe z.B. das Priesterausbildungsdekret des II. Vatikanums, Optatam totius Nr. 16: „Die dogmatische Theologie soll so angeordnet werden, daß zuerst die biblischen Themen selbst vorgelegt werden; dann erschließe man den Alumnen, was die Väter der östlichen und westlichen Kirche zur treuen Überlieferung und zur Entfaltung der einzelnen Offenbarungswahrheiten beigetragen haben, ebenso die weitere Dogmengeschichte, unter Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur allgemeinen Kirchengeschichte (35); sodann sollen sie lernen, mit dem heiligen Thomas als Meister, die Heilsgeheimnisse in ihrer Ganzheit spekulativ tiefer zu durchdringen und ihren Zusammenhang zu verstehen, um sie, soweit möglich, zu erhellen (36).“  18 Thomas von Aquin: Summa Theologiae (ST) 1,2, prooemium.

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Die Kenntnis Gottes überliefern

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Die Geschichte Jesu als Kern der Heiligen Lehre

Das spekulative Verhältnis von Urbild und Abbild

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Die Erkenntnis Gottes meint ein gegebenes Wissen, in dem Gott sich selbst mitteilt. Konkret wird dieses in den Glaubensartikeln des Credo.19 Hier ist das wesentliche Wissen über Jesus von Nazaret, sein Geschick, aber auch von seinem himmlischen Vater und dem Geist der Wahrheit in einfacher Weise greifbar. Wie es aber denkbar wird, dass im Credo die Bestimmung des Menschen und mehr noch der Weg in die Vollendung zu finden ist, dies erläutert die „Heilige Lehre“, wie Thomas seine Wissenschaft auch nennt. Bereits im ersten Artikel der Summe macht Thomas klar, dass hier von etwas die Rede ist, was menschliches Vernunft prinzipiell übersteigt, und zwar nicht nur, weil hier vom absoluten Geheimnis des einen und dreieinen Gottes gehandelt wird, sondern gerade weil über kontingente, irdische, menschliche Begebenheiten, eben das Leben und Sterben Jesu, nach-gedacht wird. Das geschichtliche Ereignis geht dem Nachdenken voraus.20 Schon im Gesamtaufbau der Summa Theologiae wird die gleichermaßen prinzipielle wie heilsrelevante Bedeutung Jesu im Horizont der spekulativen Wissenschaft Gottes sichtbar. Der erste Teil der Summe handelt von Gott, dem Grund und Urbild (exemplar) des Menschen – prima pars. Der Mensch als Abbild Gottes (imago Dei) soll sich auf seinem Weg Gott annähern und ihm ähnlich werden. Thomas ist auch darin Anselm verbunden, dass er diesen Weg der Gottangleichung als sittliche Vervollkommnung begreift – secunda pars. Doch allein auf diesem Weg bleibt die Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf unüberbrückbar, weshalb es des Entgegenkommens Gottes in Jesus Christus bedarf. In ihm wird nicht nur anschaulich, wie die vollkommene Gleichheit von Urbild und Abbild im Sinne der hypostatischen Union von Gottheit und Menschheit vorzustellen ist. Jesus Christus ist nicht nur die Zielursache des Menschen, sondern auch die Wirkursache des Heils. In Jesus wirkt Gott das Heil der Menschen.

 19 Siehe Thomas: ST 1,1,2 sowie 9f.  20 Siehe zum Ganzen auch Ruhstorfer, Karlheinz: Christologie (GGD 2), Paderborn 2008, 177–195. Hier findet sich eine relativ ausführliche Darstellung der Christologie des Aquinaten.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

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Zitat

„Weil unser Erlöser, der Herr Jesus Christus, der, wie der Engel bezeugt, sein Volk heil machen will von seinen Sünden, uns den Weg der Wahrheit in sich selbst gezeigt hat, auf dem wir durch die Auferstehung zur Glückseligkeit des unsterblichen Lebens gelangen können, ist es notwendig, dass – zur Vollendung des ganzen theologischen Geschäfts – auf die Erwägung des letzten Ziels des menschlichen Lebens sowie der Tugenden und Laster unsere Betrachtung über den Erlöser Aller und über seine Wohltaten, die er dem Menschengeschlecht darbot, folgen zu lassen. Diesbezüglich handeln wir zum ersten über den Erlöser selbst; zum zweiten über die Sakramente, durch die wir das Heil erlangen; zum dritten über das Ziel des unsterblichen Lebens, zu dem wir durch seine Auferstehung gelangen. Bezüglich des Ersten wird die Erwägung zweifach sein, zuerst richtet sie sich auf das Geheimnis der Inkarnation selbst, demgemäß Gott für unser Heil Mensch geworden ist, sodann auf die Dinge, die unser Erlöser selbst, das ist der inkarnierte Gott, getan und erlitten hat.“21

Im weiteren Sinn gehören also auch die Sakramente, die Kirche und die Letzten Dinge (éschata) zur Lehre von Jesus, weil er in den Sakramenten der Kirche gegenwärtig ist und die Vollendung des Menschen bewirkt. Diese eminent christologische Dimension der Sakramente und der Kirche bzw. die sakramentale und ekklesiologische Dimension der Christologie ist bis heute ein wesentliches Merkmal katholischer Theoriebildung und Glaubenspraxis. In traditioneller oder sagen wir besser traditionalistischer Sicht kann es deshalb außerhalb der Kirche keine heilsrelevante Begegnung mit Christus geben. Da aber die römisch-katholische Kirche durchaus neuzeitliche Gedanken rezipierte, wurde die Kombination von Christozentrik und Ekklesiozentrik für einen universalen Heilsoptimismus geöffnet.22 Bezeichnend für die thomasische Christologie ist aber nicht nur die Tatsache, dass er die in seiner Zeit vorhandenen Theorien sammelt, bewertet und systematisiert, sondern dass er die Menschwerdung und damit

 21 Thomas: ST 3, prooemium.  22 Siehe dazu Lumen Gentium Nr. 1, Nr. 13 und v.a. Nr. 16.

Sakramente, Kirche und Letzte Dinge

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Die Angemessenheit der Menschwerdung

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

die irdische Realität Jesu in bis dahin unerhörter Weise ernst nimmt.23 Nach Thomas  – wie nach Anselm  – ist die Menschwerdung Gottes notwendig, aber nicht absolut, sondern nur relativ. Dass der Mensch zur Erhaltung seines Lebens essen und trinken muss, ist schlechthin zwingend. In dieser Weise ist die Menschwerdung aber gerade nicht notwendig. Die relative Notwendigkeit hingegen besagt: Es ist besser und angemessener, auf der Reise ein Pferd zu benutzen, um schnell voran zu kommen. Gott hätte in seiner Allmacht viele andere Wege finden können, um die Menschheit zu erlösen, doch war es eben angemessener, zur Erlösung der Menschheit selbst Mensch zu werden. Notwendigkeit meint also: Es gab keinen angemesseneren Weg als die Menschwerdung. Thomas stellt mit einem Zitat von Johannes Damascenus fest: Zitat

„Durch das Geheimnis der Inkarnation werden zugleich die Güte und die Weisheit und die Gerechtigkeit und die Macht oder Tugend Gottes gezeigt. Die Güte, weil er die Schwäche seines eigenen Geschöpfes nicht verachtet hat; die Gerechtigkeit, da er nicht einen anderen [als den besiegten Menschen] über den Tyrannen siegen ließ und nicht mit Gewalt den Menschen aus dem Tode errettet hat; Weisheit, weil er die schwierigste und vornehmste Lösung gefunden hat; und unendliche Macht oder Tugend, da nichts größer ist, als dass Gott Mensch wird“.24

Es gehört nach Thomas zum Begriff des höchsten Gutes, sich zuhöchst mitzuteilen. Anders als bei Anselm ist es hier der Be-

 23 Gegen Danz: Christologie, 83. Wir finden bei Thomas durchaus mehr als die bloße Behauptung des Menschseins Jesu. Wenn ich freilich eine „spätmoderne“ Rahmentheorie als anachronistisches Maß aller Dinge zugrunde lege, dann bleibt Thomas hinter meinen „heutigen“ Anforderungen zurück; wenn ich freilich sehe, was der Aquinat in seiner Zeit Neues gebracht hat, dann ergibt sich ein anderes Bild. Bei Danz stellt sich allerdings die Frage, was in seiner Theorie von der Gottheit Jesu und mehr noch von der Gottheit Gottes übrig bleibt. Siehe dazu Welker, Michael: Gottes Offenbarung. Christologie, Neukirchen-Vluyn 22012, 39–47: „Exkurs – Subjektivistischer Glaube: Christophobe Suche nach Nähe Gottes“.  24 Thomas: ST 3,1,1.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

griff der Güte und mithin der Liebe, der Gott zur Selbstmitteilung drängt. Auch dürfen wir hervorheben, dass es Gottes Liebe zur Gerechtigkeit und nicht die Liebe zu Macht und Gewalt ist, die ihn diesen Weg der Erlösung wählen lässt. Im Kreuz manifestiert sich, dass das scheinbar so mächtige Unrecht nicht über den ohnmächtigen Gerechten, der leidet, siegt. Der Gang Gottes bis ins Fleisch entspricht zudem der Wertschätzung des Thomas für das irdisch-leibliche Leben, das er von Aristoteles, aber auch von Paulus übernommen hat. Röm 1,20: „Invisibilia Dei per ea quae facta sunt intellecta conspiciuntur“  – „das Unsichtbare Gottes wird durch das, was gemacht wurde, mit Vernunft betrachtet“. Die thomasische Christologie steht ganz auf dem Fundament der Konzilien von Nizäa (325) und Chalcedon (451). Wie Aristoteles unterscheidet Thomas erste und zweite Substanz. Die erste Substanz (Hypostase) bezeichnet den individuellen Träger einer allgemeinen Natur oder Essenz. In Jesus Christus nun gibt es in einer Person, einem „Wer“, zwei Naturen oder zwei „Was“.

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Die Liebe Gottes

Zitat

„Es sind das Eine (Gottheit) und das Andere (Menschheit) – aliud et aliud – aus denen der Erlöser besteht, nicht aber der Eine und der Andere – alius autem et alius. Bezogen auf die Trinität sage ich aber ‚der Eine und der Andere‘ – ‚alius et alius‘. Dort nämlich sagen wir ‚der Eine und der Andere’ – ‚alius et alius‘, damit wir die Personen nicht vermischen, nicht aber ‚das Eine und das Andere‘“.

In der Tradition der neuchalcedonischen Enhypostasenlehre geht Thomas davon aus, dass es die Person des göttlichen Wortes ist, die die menschliche Natur annimmt, d.h. vom Beginn ihres Seins an trägt. Das Individuationsprinzip Christi ist der göttliche Logos. (3,2,5) Für Thomas ist es nicht zwingend, dass diese Person der Sohn sein muss, dies würde der gleichen Macht aller drei Personen widersprechen (3,3,5). Jede Person könnte Mensch werden, doch nicht mehrere göttliche Personen gemeinsam ein Mensch (6). Und ebenso muss ausgeschlossen werden, dass eine Person zweimal Mensch wird und zwei Naturen annimmt (7). Aber es ist angemessen, dass das göttliche Wort (Joh 1,1), die „Kraft und Weisheit Gottes“ (1Kor 1,24), Fleisch annimmt und nicht der Heilige Geist (8). Entscheidend für das Verständnis, dass eben die zweite und nicht die dritte göttliche Person Mensch

Die Inkarnation des Sohnes

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Zeichen und Wunder

wird, ist meines Erachtens die epochale Vorentscheidung, dass die Offenbarung gewissermaßen gegenständlich von der objektiven Seite her geschehen muss. Nach dem biblischen Zeugnis ist Jesus von Nazaret, der Sohn Gottes, der sinnlich erfahrbare „Gott neben uns“. Dem Heiligen Geist kommt es zu, im Inneren des glaubenden Subjekts die Annahme des gegebenen Objekts zu ermöglichen. Wie wir noch sehen werden, wird der Geist als der subjektive Pol in der Neuzeit zum Konstruktionspunkt auch der Christologie. Großen Wert legt Thomas darauf, das volle Menschsein Jesu aus Leib, Seele und Vernunft zu betonen (3,5). Scheinbar steht der ungebrochene Wunderglaube dazu im Widerspruch. Im mittelalterlichen Weltbild des Thomas stellt sich die Lage aber anders dar, denn auch die Naturordnung untersteht der hypothetischen Logik der Epoche. Wenn Gott will, dann vollzieht sich alles nach dem ordo rerum naturalis. Wenn Gott aber auf übernatürliche Sachverhalte hinweisen will, dann kann er das tun, indem er die natürlichen Gesetzmäßigkeiten durchbricht. Das setzt erstens die absolute Transzendenz Gottes voraus, die es erfordert, dass Gott durch bestimmte „Zeichen“ auf sich aufmerksam macht, wenn er sich in besonderer Weise kundtun will. Zweite Bedingung ist die Verlässlichkeit der normalen Ordnung, da sonst das Übernatürliche nicht signifikant wäre. Drittens muss ein absolutes Ursache-Wirkungs-Verhältnis gegeben sein, das dem hypothetischen Urteil entspricht. Als vierte Voraussetzung ist auf die wörtliche Auslegung der biblischen Schriften zu verweisen. Der sensus literalis wird nicht im Horizont historischer Kritik ermittelt, sondern im Rahmen der damals traditionellen Plausibilitätsstrukturen, die ohne Zweifel nicht mehr die unseren sind. Dennoch ist im Horizont des mittelalterlichen Aristotelismus des Thomas die objektive oder reale Gegebenheit der Geschichte Jesu Ausgangspunkt aller Christologie. Thomas gliedert die in Jesus von Nazaret gegebene Vermittlung von Transzendenz und Immanenz in drei Schritte. Wie es für eine onto-theo-logische Theorie angebracht ist, geht der Betrachtung der acta et passa Christi die metaphysische Basisspekulation voraus (qq. 1–26), die das mysterium incarnationis überhaupt erst denkbar macht.25 Neben der Konvenienz der Menschwerdung, der konkreten Art und Weise der Verbindung von göttlicher

 25 Thomas: ST 3, prooemium.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

und menschlicher Natur, geht es um die Auswirkungen der Hypostatischen Union auf die beteiligten Naturen. In der Quaestio 27 beginnt Thomas die Interpretation der „Realität“ Jesu mit den Fragen über „seinen Eintritt [ingressus] in die Welt“ (qq. 27–39). Darauf folgt das eigentliche Leben Jesu, „progressus vitae ipsius in hoc mundo“ (qq. 40–45). Die Überlegungen zum „exitus“, will sagen zum Leiden und Sterben Jesu (qq. 46–52), und schließlich zur „exaltatio“ (qq. 53–59) bilden dann den Höhepunkt. Auch wenn Thomas die spätere Lehre von der Immaculata conceptio Mariae noch nicht kennt, beginnt die spekulative Auslegung des Lebens Jesu mit der Heiligung Mariens vor ihrer Geburt. Signifikant ist, dass Thomas das Fehlen eines Schriftbelegs bemerkt und auf einen rein rationalen Analogieschluss verweist. Es kommt also darauf an, das Leben Jesu als ein rein vernünftig konstruiertes Ganzes anzunehmen und zu erschließen. Dies betrifft auch das ganze konkrete Leben Jesu, wie es von der Schrift bezeugt ist. Wie bereits angedeutet, nimmt Thomas alle Schriftzitate weitestgehend wörtlich, das bedeutet, er interpretiert sie im Rahmen seines neuplatonisch gewendeten Aristotelismus. Das gilt bis hin zur Arabeske, dass der Heilige Geist, der in der Taufperikope als Taube erscheint, dort als „wirkliches Tier“ gedacht werden muss (3,39,7). Eben weil der Gott unter uns in seiner Göttlichkeit von uns nicht eingesehen werden kann, sondern absolut transzendent bleibt, bedarf er zu seiner Manifestation sinnfälliger Wunder, „damit, wenn jemand Werke vollbringt, die nur Gott vollbringen kann, geglaubt werde, was von Gott zu sein behauptet wird“ (3,43,1). Thomas stützt sich in seiner Darstellung des Lebens Jesu besonders auf das Matthäusevangelium. Dass seine Auslegung der Heiligen Schrift bei aller Treue zum Wortlaut des Textes auch zeitgenössische Züge in den Text hineinliest, kann nicht verwundern, wenn man bedenkt, dass Albert Schweitzer in seiner „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ feststellt, dass es wohl unvermeidlich ist, eigene Anliegen auf Jesus zu projizieren. So trägt der Jesus des Aquinaten naturgemäß keine Züge eines kalifornischen Lebenskünstlers (Theißen über Crossan), wohl aber scheint er die Ideale des Dominikanerordens zu verkörpern. Jesus lebt eine vita activa, in welcher die Einsichten der vita contemplativa aus Liebe weitergegeben werden, gemäß dem Grundsatz des Predigerordens: „Betrachtetes Anderen überliefern – contemplata aliis tradere“ (3,40,1.ad 2). Das Leben Jesu, aber auch seine Lehre werden relativ knapp dargestellt: Geburt (3,35f.), Beschneidung (3,37), Taufe (3,38f.), die Weise seines Lebenswandels (3,40),

229

Die Wirklichkeit des Lebens Jesu

Jesus als dominikanisches Ideal

230

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Die vollkommene Liebe

Versuchung (3,41), Lehre (3,42), Wunder (3,43f.), Verklärung (3,45). Auch bei Thomas konzentriert sich das irdische Dasein Jesu auf sein Leiden und Sterben (3,46–52) bzw. auf seine Auferstehung und Himmelfahrt (3,53–59). In der Hingabe Jesu wird die vollkommene Liebe anschaulich. Thomas kennt allerdings nicht nur eine Begründung für den Tod Jesu, vielmehr bündelt er die wichtigsten Argumente seiner Zeit, die belegen, warum es höchst angemessen war, dass die Menschheit durch den Tod Jesu erlöst werde.26

Zitat

„Zum Ersten nämlich erkennt der Mensch dadurch, wie sehr Gott den Menschen liebt, und dadurch wird er provoziert, ihn (Gott) zu lieben, worin die Vollendung des menschlichen Heils besteht. Daher sagt der Apostel in Röm 5,8f.: Gott hat seine Liebe zu uns darin erwiesen, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Feinde waren. Zum Zweiten, weil er uns dadurch ein Beispiel gegeben hat, ein Beispiel des Gehorsams, der Demut, der Beständigkeit, der Gerechtigkeit und anderer Tugenden, die er in der Passion aufgezeigt hat, und die für das menschliche Heil notwendig sind. Daher sagt 1Petr 2,21: Christus ist für uns gestorben und hat ein Beispiel hinterlassen, damit wir seinen Spuren folgen. Zum Dritten, weil Christus durch seine Passion nicht nur den Menschen von der Sünde befreit, sondern auch die rechtfertigende Gnade und die glückselige Herrlichkeit für ihn verdient hat. Zum Vierten, weil dadurch dem Menschen die größere Notwendigkeit aufgezeigt wurde, sich von der Sünde rein zu erhalten, gemäß 1Kor 6,20: Ihr seid für einen großen Preis losgekauft: Verherrlicht Gott und tragt ihn in eurem Körper. Zum Fünften, weil es zur größeren Würde gehört, dass, wie es ein Mensch war, der durch den Teufel besiegt und betrogen wurde, es auch ein Mensch sein sollte, der den Teufel besiegte, und wie ein Mensch den Tod verdiente, so ein Mensch durch den Tod den Tod überwände, wie es in 1Kor 15,57 heißt: Gott sei Dank, der uns den Sieg durch Jesus Christus gegeben hat. Und deshalb war es angemessener, dass wir durch die Passion Christi befreit würden als durch den Willen Gottes allein“ (3,46,3).

 26 Vgl. Ruhstorfer: Christologie, 190ff.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

Doch nicht schon der Tod Jesu für sich genommen ist heilsrelevant. Erst durch das Wunder der Auferstehung wird das Heilshandeln Gottes in Leben und Sterben Jesu offensichtlich. Konkret nennt Thomas fünf Gründe, weshalb die Auferstehung – bedingt – notwendig war (3,53,1): 1. Es gehört zur göttlichen Gerechtigkeit, dass diejenigen, die sich selbst erniedrigen (humiliant), von Gott erhöht werden: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen“ (Lk 1,52; 3,53,1). Thomas spielt auch auf die Logik des Philipperhymnus an, die besagt, dass der Gottgleiche, der sich in die Knechtsgestalt erniedrigte und Gott bis zum Tod gehorsam war, gerechter Weise wieder in die Herrlichkeit Gottes erhoben wurde. 2. Die Auferstehung ist nach dem Ersten Korintherbrief 15,4 die Grundlage des christlichen Glaubens, bestätigt sie doch die Göttlichkeit Christi. 3. Ebenso gründet die Hoffnung der Glaubenden in der Auferstehung Jesu, welche die Bedingung der allgemeinen Auferstehung von den Toten ist. 4. Die Gestalt des christlichen Lebens hat ihr Urbild in Tod und Auferstehung Christi, denn die Glaubenden sollen zu neuen Menschen werden, der Sünde gestorben, für Gott lebend (Röm 6). 5. Wie derjenige, der unser Leiden und unsere Bosheit ertragen hat, uns von unserem Übel (mala) befreien sollte, so sollte derjenige, der durch die Auferstehung verherrlicht wurde, uns zu dem uns zugedachten Gut (bona) bringen. Die Ursache der Auferstehung und damit des menschlichen Heils ist allerdings die Gottheit Christi, die in keiner Weise durch den Tod von der Menschheit getrennt wurde (3,53,4).27 Abschließend ist festzuhalten, dass die Ursachenordnung des Mittelalters Gott selbst als erste Ursache des Heils annimmt, während Jesus Christus bzw. die menschliche Natur, die mit dem göttlichen Logos untrennbar verbunden ist, lediglich zweite Ursache ist. Stets betont Thomas den absoluten Unterschied zwischen Transzendenz und Immanenz, wobei die Letztere die Erstere mit hypothetischer Notwendigkeit voraussetzt. Diese ra-

 27 Vgl. dazu Ruhstorfer: Christologie, 193ff.

231

Die hypothetische Notwendigkeit der Auferstehung

Der Mensch Jesus als Zweitursache …

232

… ohne reale Beziehung zur Gottheit des Logos

Christus und die gesellschaftliche Ordnung des Mittelalters

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

dikale Jenseitigkeit Gottes führt aber dazu, dass es eigentlich keine „reale Beziehung“ zwischen dem Logos und der Menschheit Jesu geben kann, da sonst eine Rückwirkung von der geschöpflichen Seite auf den Schöpfer angenommen werden müsste. Um dies leisten zu können, bedurfte es aber der disjunktiven Logik der Neuzeit. Erst dann wird eine Wechselwirkung von Gott und Mensch denkbar. Damit aber wird Gott und Natur überhaupt dialektisch begriffen und eine supranaturale Transzendenz wird relativiert, d.h. als ein Moment der disjunktiven Beziehung gesetzt. Der übernatürliche Wunderglaube verliert hierdurch an Bedeutung, weil schon in der Natur das Wunder des Geistes gegenwärtig ist. Und noch ein Letztes ist zu bemerken: Auch die gesellschaftlichen Verhältnisse des Mittelalters spiegeln sich in den christologischen Strukturen. Der eine Gott vermittelt sich einzig und ausschließlich durch Jesus von Nazaret in die Welt der Menschen. Wie Gott der transzendente Herr ist, so ist Jesus der immanente Herr der Welt. Die Welt aber ist wie die Gesellschaft geordnet. Die Teilhabe an Christus entscheidet über den Rang und den Stand. Freilich ignoriert auch die patristisch-scholastische Christologie nicht die revolutionäre Kraft des Christusgedankens, dass der Höchste in vollendeter Weise im Niedrigsten präsent ist. Entsprechend ist die Demut, der Wille sich unterzuordnen, eine der höchsten Tugenden im hypothetisch-hypostatischen Kontext. Im freiwilligen Dienst für den Nächsten zeigt sich die Liebe. Die feierliche Selbstverpflichtung auf die Liebe zeichnet den status perfectionis aus, denn die Liebe ist das Band der Vollkommenheit: „Super omnia caritatem habete, quae est vinculum perfectionis“ (Kol 3,14; ST 2-2,184,1, s.c.). Eben weil sie sich dauerhaft und durch einen formellen Akt auf die Liebe verpflichten, kommt auch den kirchlichen Amtsträgern, vor allem den Bischöfen eine herausgehobene Autorität zu (ST 2-2,184,6). Sie überragen sogar noch die Ordensleute an Vollkommenheit, weil sie die Liebe nicht nur theoretisch-kontemplativ, sondern auch praktisch-aktiv leben. So bilden die Priester, Bischöfe und Päpste wie im weltlichen Bereich die Adligen, Könige und Kaiser mit ihrer ständischen Ordnung die himmlische Ordnung der Dinge ab. An der Spitze beider steht der eine Christus, dem die universale Herrschaft im kirchlichen und im weltlichen Bereich zukommt; ihm ist alle Macht untergeordnet, von ihm geht alle Macht aus. Doch weil Christus andererseits gerade für die Entäußerung der Macht und für die demütige Liebe steht, kommt paradoxerweise doch dem radikal armen, keuschen und gehor-

1. | Die onto-theo-logische Christologie

233

samen Lebenswandel der Religiosen eine besonders tiefe Verbundenheit mit Christus zu.28 1.1.3 Das Spätmittelalter oder das Werden der Neuzeit Während die Christologie des Thomas von Aquin in gewissem Sinn den summarischen Höhepunkt patristisch-scholastischer Theoriebildung darstellt, zeichnet sich bei Johannes Duns Scotus (1266–1308) bereits eine neue Entwicklung ab. Eine wichtige Grundlage dafür ist die Lehre vom univoken Seinsbegriff, die an die Stelle der thomasischen Doktrin von der analogia entis tritt. Dadurch wird der Gedanke der absoluten Transzendenz Gottes relativiert, denn Gott zeichnet sich primär durch seine Unendlichkeit aus, und er ist zugleich das Allgemeinste. Gegenpol des Allgemeinen ist das Endliche und Einzelne, das bei Scotus zu neuer Bedeutung kommt. Nicht die Materie wie bei Thomas ist das Individuationsprinzip, sondern die haecceitas, die konkrete Einzelheit des jeweiligen Individuums als solchem.29 Zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen herrscht ein disjunktives Verhältnis.30 Dies sind die ersten Spuren einer epochalen Neubestimmung des Verhältnisses von Schöpfer und Geschöpf. Sukzessive tritt das disjunktive oder dialektische Verhältnis, dem die Relationskategorie der Wechselwirkung oder Gemeinschaft entspricht, an die Stelle des hypothetischen Verhältnisses und der Relation von Ursache und Wirkung. Um aber die Rückwirkung des Geschöpfs auf den Schöpfer adäquat denken zu können, bedarf es zunächst einer Radikalisierung der Wirksamkeit Gottes. Schon die Erschaffung der Menschen findet eine neue Begründung. Gott, der zuhöchst Liebende, liebt in geordneter Weise. Er liebt zunächst sich selbst als letztes Ziel, sodann das andere, das sind die von ihm prädestinierten Menschen, von denen er aber will, dass sie mit ihm (secum) das Ziel lieben. Insofern will

 28 Thomas: ST 2-2, 186–189.  29 Vgl. Rieger, Reinhold: Art. Duns Scotus, in: RGG 2 (41999), 1016–1019, bes. 1018; Burger, Maria: Personalität im Horizont absoluter Prädestination. Untersuchungen zur Christologie des Johannes Duns Scotus und ihre Rezeption in modernen theologischen Ansätzen, Münster 1994, bes. 82–86.  30 Vgl. Honnefelder, Ludger: Art. Duns Scotus, in: LThK 3 (31995), 403–406, bes. 404.

Johannes Duns Scotus

Die Radikalisierung der Individualität

234

Der liebende Christus als Vollendung der Schöpfung

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Gott Mitliebende (condiligentes).31 Diese Liebe der Prädestinierten spiegelt gewissermaßen (quasi reflectendo) die Selbstliebe Gottes. Dadurch reflektieren die Erwählten auch die absolute Freiheit des Schöpfers. Die höchste Form dieser geschöpflichen Liebe findet sich in Christus. Nicht nur der präexistente Sohn, sondern der Mensch Jesus ist von Gott von Ewigkeit her dazu bestimmt, ihn zu lieben. Johannes Duns Scotus entwickelt den Gedanken absoluter Prädestination.32 Das bedeutet, dass die Inkarnation des Sohnes nicht mehr durch den Sündenfall (hypothetisch) bedingt ist, sondern als Vollendung der Schöpfung gedacht wird.33 Die Prädestination Christi bestünde auch dann, wenn weder Engel noch Menschen gesündigt hätten, ja selbst dann, wenn es kein Geschöpf außer Christus gäbe.34 Der Grund für die Menschwerdung ist einzig die absolute Liebe, die potentia absoluta und damit die absolute Freiheit Gottes. Die Inkarnation dient nicht wie bei Anselm der Wiedergutmachung der Sünde Adams, sondern der Vorwegnahme der eschatologischen Liebesgemein-

 31 Duns Scotus, Johannes: Ordinatio III d. 32 q. unica n. 6 (Opera omnia X, praeside P. Barnaba Hechich, Civitas Vaticana 2007, 136f. [vgl. ed. Vivès XV, 432]): „Sic etiam Deus rationabilissime, licet non diversis actibus, unico tamen actu, in quantum ille diversimode tendit super obiecta ordinata, primo vult finem, et in hoc est actus suus perfectus et intellectus eius perfectus et voluntas eius beata; secundo vult illa quae immediate ordinantur in ipsum, praedestinando scilicet electos, qui scilicet immediante attingunt eum, et hoc quasi reflectendo, volendo alios condiligere idem obiectum secum […]: qui enim amat se primo ordinate (et per consequens non inordinate zelando, vel invidendo) isto modo, secundo vult alios habere condiligentes, et hoc est velle alios habere amorem suum in se, et hoc est praedestinare eos, si velit eis hoc bonum finaliter et aeternaliter; tertio vult illa, quae sint necessaria ad attingendum hunc finem, scilicet bona gratiae, quarto vult – propter ista –, alia, quae sunt remotiora, puta hunc mundum sensibilem, ut serviat eis […]“. Vgl. Honnefelder: Art. Duns Scotus, 405.  32 Burger: Personalität, 142–165, bes. 154: „Motiv für die Prädestination Chrsiti ist nicht die eifersüchtige, durch den Sündenfall der Menschen gekränkte Liebe Gottes, sondern das sich aus dem Wesen Gottes ergebende Wollen von Mitliebenden, die auf ihn als das Ziel hin angelegt sind.”  33 Vgl. Duns Scotus, Johannes: Ordinatio III d. 7 q. 3 n. 3 (ed. Vivès XIV, 355): „Ergo a primo prius vult animae Christi gloriam, quam praevideat Adam casurum”. Siehe auch Burger: Personalität, 155: „Nicht Sünde und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen stehen im Mittelpunkt. Jesus Christus als Gott-Mensch ist als Zielpunkt und Höhepunkt der Schöpfung intendiert.“  34 Burger: Personalität, 150. Dazu Duns Scotus: Reportatio II d.7 q.4 n.4 (ed. Vivès XXIII, 302): „Dico tamen quod lapsus non fuit causa praedestinationis Christi, imo si nec fuisset Angelus lapsus, nec homo, adhuc fuisset Christus sic praedestinatus, imo, et si non fuissent creandi alli quam solus Christus.“

1. | Die onto-theo-logische Christologie

schaft der von Gott prädestinierten Menschen. In diesem Kontext ist es auch sehr wichtig darauf hinzuweisen, dass die Verdienste des Menschen bezüglich ihrer Rechtfertigung relativiert werden. Es kommt nicht nur darauf an, was die Menschen tun oder wollen, sondern ob Gott annimmt, was die Menschen vollbringen. Damit wird die hypothetische Bedeutung der endlichen Freiheit lediglich in den Bereich der potentia ordinata verschoben. Heilsentscheidend ist aber die Verfügung Gottes durch die potentia absoluta. Das bedeutet, dass die absolute Freiheit Gottes eine neue, prinzipielle Bedeutung erlangt. Gottes Wille ist absolut unbedingt, d.h. aber dass das Heil der Menschen letztlich nicht von ihrem Tun, sondern von der Prädestination Gottes abhängt.35 Die alte Unterscheidung von geordneter Macht  – Gott handelt hier auf der Basis der von ihm gestifteten Ordnung der Dinge (formal bedingt) – und der absoluten Macht – er handelt unmittelbar (formal unbedingt) – gewinnt eine radikal neue Bedeutung.36 Doch ist zu bemerken, dass es sich hier um keine Willkür handelt, sondern um das Wirken Gottes aus unendlicher Liebe und unendlicher Freiheit. Die Unterscheidung von potentia absoluta und potentia ordinata wird noch einmal radikalisiert von Wilhelm von Ockham (1285–1349).37 Gott hätte auch Esel oder Stein werden können.38 Allerdings darf diese beiläufige Überspitzung, die schon im 14. Jahrhundert für viel Aufregung gesorgt hat, nicht verdecken, dass wir hier den Übergang zu einem neuen epochalen Grundverhältnis sehen, der Wechselwirkung oder Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch auf der Basis absoluter Freiheit. Es führt noch eine zweite Linie zur neuen, neuzeitlichen Verhältnisbestimmung von Mensch und Gott. Der Dominikanertheologe Meister Eckhart (um 1260–1328) gerät nicht zuletzt wegen seiner christologischen Neuansätze in Konflikt mit den Hütern der mittelalterlichen Tradition. Auch Eckhart geht von der dialektischen Gemeinschaft von Gott und Mensch aus, wo-

 35 Vgl. Burger: Personalität, 151f.  36 Siehe zum Ganzen auch Dettloff, Werner: Art. Duns Scotus/Scotismus I., in: TRE 9 (1982), 218–228, bes. 227.  37 Bannach, Klaus: Die Lehre von der doppelten Macht Gottes bei Wilhelm von Ockham. Problemgeschichtliche Voraussetzungen und Bedeutungen, Wiesbaden 1975.  38 Dazu Williams, Rowan: Art. Jesus Christus III, in: TRE 13 (1984), 753–754.

235

Die absolute Freiheit Gottes

Wilhelm von Ockham

Meister Eckhart

236

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

durch der Gedanke der Inkarnation in gewisser Weise universalisiert wird. Zitat

„Der edle Mensch ist jener einziggeborene Sohn Gottes, den der Vater von Ewigkeit her gezeugt hat.“39

In jedem Menschen, der sich durch seine innere nobilitas auszeichnet, ereignet sich die Menschwerdung Gottes. Damit ist sowohl eine sittliche als auch eine mystische Vereinigung von Gott und Individuum angezeigt:

Zitat

„Der Vater zeugt mich als seinen Sohn und als denselben Sohn. Alles, was Gott wirkt, das ist eins, deswegen zeugt er mich als seinen Sohn ohne jeden Unterschied.“40

Der Gott in uns

Das Innerste des Menschen selbst ist göttlich und damit Ort der göttlichen Gegenwart. Eckhart nennt diesen Kern des Menschen „Seelenfünklein“. Dadurch vollzieht sich ein Subjektswechsel. Entscheidend ist nicht mehr die äußere Vermittlung durch den Gott neben uns, sondern die innere durch den Gott in uns. Zitat

„Das Auge, mit dem ich Gott sehe, ist dasselbe Auge, mit dem Gott mich sieht; mein Auge und Gottes Auge, das ist dasselbe Auge und ein Schauen und ein Erkennen und ein Lieben“.41

 39 Meister Eckhart: Die Deutschen Werke, Bd. 1, Stuttgart 1958, 239, Zeile 4f. Vgl. dazu die Verurteilungsbulle In agro Dominico aus dem Jahr 1329 bei Denzinger/Hünermann: Kompendium, Nr. 961.  40 Meister Eckhart: Die Deutschen Werke, Bd. 1, 109, Zeile 6f. und 110, Zeile 1f. Vgl. In agro Dominico bei Denzinger/Hünermann: Kompendium, Nr. 962.  41 Meister Eckhart: Die Deutschen Werke, Bd. 1, 201, Z. 2–8.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

Durch diese unerhörte Identifikation von Gottheit und Menschheit kann der Mensch nie nur göttliche Wirkung oder Zweitursache sein, vielmehr birgt er in sich den Kern göttlicher Erstursächlichkeit und damit absoluter Freiheit, denn Freiheit bedeutet nach scholastischer Überzeugung nichts anderes als Ursache sein zu können. Die neuzeitliche Freiheit ist also in ihrem geschichtlichen Ursprung christologisch bedingt. Der Mensch ist gemäß Gen 1,26 das Abbild Gottes. Eckhart macht deutlich, dass durch Bildung das Bild Gottes im Menschen freigelegt werden kann. Das Idealbild der Gottebenbildlichkeit ist Jesus Christus. Ihm gleich zu werden ist das Ziel aller Bildung. Die menschliche Bildung wird so zu einem Zentralbegriff der Neuzeit.

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Christus und die absolute Freiheit

Christus und die Bildung

1.2 Der Umbruch im 16. Jahrhundert Die äußeren epochalen Umbrüche vollziehen sich auch in der Entwicklung der Christologie erst im 16. Jahrhundert. Dabei setzten sowohl die protestantischen Reformatoren Martin Luther und Johannes Calvin als auch der katholische Reformer Ignatius von Loyola die spätmittelalterliche Theologie der Franziskaner und die Mystik der Dominikaner (Meister Eckhart, Johannes Tauler, Heinrich Seuse) in je eigener Weise sachlich voraus.42 Der Wechsel von einer „objektiven“ zu einer „subjektiven“ Christologie ist dabei ebenso signifikant wie die beginnende Betonung des Geistes der Freiheit und der Freiheit des Geistes. 1.2.1 Martin Luther Die absolute Souveränität und Freiheit Gottes kennzeichnet die Christologie Martin Luthers (1483–1546) ebenso wie die Betonung der innigen Verbindung von Individuum und Christus. Dabei tritt bei ihm deutlich das epochal neue, disjunktive Verhältnis von Gott und Mensch in den Vordergrund.43 Alles kommt

 42 Vgl. exemplarisch Leppin, Volker: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln, München 2016.  43 Siehe v.a. Von der Freiheit eines Christenmenschen (2), in: Martin Luther: Studienausgabe, hg. v. Hans-Ulrich Delius, Bd. 2, Leipzig 1982, (2) 265: „zum ersten: „Eyn Christenmensch ist eyn freyer herr / uober alle ding / vnd

Subjektive Christologie

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte Die Bildung Christi

darauf an, Christus in sich einzuprägen und einzubilden. Diese Bildung aber ist das eine und einzige Werk des Glaubens: Zitat

„Drumb solt das billich aller Christen eynigs werck vnd uebung seyn / das sie das wort und Christum wol in ynn sich bildeten / solchen glauben stetig ubeten und sterckten. Denn keyn ander werck / mag eynen Christen machen.“44

Die Disjunktion von Glaube und Vernunft

Es ist allein der Glaube, der die Einheit von Christus und Individuum wirklich werden lässt.45 Luther entwickelt sein neues Glaubenskonzept in seiner Auseinandersetzung mit dem spätmittelalterlichen Bußverständnis seiner Zeit. Es stellt sich die Frage, wie der sündige Mensch Rechtfertigung erlangt. Die Eigentümlichkeit des Glaubens bei Luther erschließt sich aber erst in seiner Abschattierung vom Gegenbegriff Vernunft.46 Während im mittelalterlichen Verständnis die Vernunft dem Glauben unterstellt ist, befindet sich der Glaube bei Luther zur Vernunft – vordergründig betrachtet – im Widerspruch, wie sich auch Gnade und Freiheit in einem disjunktiven Verhältnis befinden: entweder Glaube oder Vernunft, entweder Gnade oder Freiheit. Tiefer betrachtet führt Luthers Position zu einer neuartigen, durch Christus vermittelten Wechselwirkung oder Gemeinschaft der entgegengesetzten Begriffe. Diese Dialektik spitzt sich zunächst auf den Gegensatz von natürlichem, d.h. sündigem Menschen und Christus zu.

niemandt vnterthan. Eyn Christen mensch ist eyn dienstpar knecht aller ding vnd yderman unterthan.“  44 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen (9), 269, zum siebten. Vgl. dazu Danz: Christologie, 88: Luthers Christologie sei „durchweg an ästhetischen Kategorien wie ‚Bild‘, ‚Anschauen‘, ‚Einbildung‘ orientiert.“ Eine parallele Entwicklung finden wir bei Ignatius von Loyola. Dazu Ruhstorfer, Karlheinz: Das Prinzip ignatianischen Denkens. Zum geschichtlichen Ort der geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola, Freiburg 1998.  45 Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen (12) 269, zum neunten: „Sihe da / glaub in Christum / yn wilchem ich dir zusag / alle gnad / gerechtickeyt / frid und freyheyt / glaubstu so hastu / glaustu nit / so hastu nit.“  46 Anders Danz: Christologie, 86.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

In seiner Vorrede zur Thesensammlung von 1538 schreibt Luther: „In Summa, wir sind nichts, Christus allein ist alles“.47 Bereits 1518 macht Luther unmissverständlich klar, „dass ein Mensch alle Hoffnung auf sich selbst aufgeben muss, um geeignet zu sein, die Gnade Christi zu erlangen“.48 Radikal wendet sich Luther gegen jede natürliche Gotteserkenntnis durch die Vernunft.49 Es bleibt einzig der Blick auf Jesus Christus und zwar als Gekreuzigten.50 Luther entwickelt einen Gegensatz zwischen dem Theologen, der die Herrlichkeit Gottes durch eigene Werke in Macht und Weisheit sucht, und dem Theologen des Kreuzes, der einzig auf Gnade, die Selbsterniedrigung Gottes, und die damit verbundene Torheit des Kreuzes blickt. „Der Theologe der Herrlichkeit nennt das Übel gut und das Gute übel, der Theologe des Kreuzes sagt, was Sache ist.“51 Zusammen mit der Niedrigkeit Gottes betont Luther die Menschlichkeit Jesu. Gott in seiner Herrlichkeit geht uns nichts an, er ist der Deus absconditus. Für die Menschen relevant ist einzig der Deus revelatus, der in Christus greifbar wird.52 Ebenso wenig wie die Vernunft kann die natürliche Freiheit bei der Gerechtsprechung des Menschen etwas beitragen. Bezogen darauf, wie ich das Heil erlangen kann, muss ich vor allem zwei Dinge wissen: bezogen auf den Menschen, „ob der eigene Wille etwas oder nichts in den Dingen tun kann, die zum Heil gehören“ (614) und bezogen auf Gott, ob er irgendetwas zufällig (contingenter) vorherweiß oder ob er alles so bewirkt, dass es notwendig eintritt. Vor allem ist die heilsnotwendige Prädestination zu wissen.53 Durch die vollkommene Einsicht in die eigene Ohnmacht und Unfreiheit wird die Seele bereitet, die fremde Gerechtigkeit

 47 Luther, Martin: WA 39 I, 8 (Luther Deutsch, hg. v. Kurt Aland, Bd. 1, Göttingen 1991, 344).  48 Luther: Heidelberger Disputation XVIII (WA I, 361, Studienausgabe 207, Luther Deutsch 388).  49 Luther: Heidelberger Disputation XIX (WA I, 361, Studienausgabe 207, Luther Deutsch 388).  50 Luther: Heidelberger Disputation XX (WA I, 362, Studienausgabe 207f., Luther Deutsch 388).  51 Ebd.  52 Luther, Martin: Der unfreie Wille (WA 18, 606 und 685).  53 „[…] daß Gott nichts zufällig vorherweiß, sondern alles mit unwandelbarem und ewigem und unfehlbarem Willen vorhersieht und sich vornimmt und macht. Durch diesen Donnerschlag wird der freie Wille niedergestreckt und vollkommen zermalmt“ (Ebd. 615).

239

Theologia crucis

Iustitia aliena

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Wunderbarer Wechsel und Streit

Verschränkung der Naturen

(iustitia aliena) Christi anzunehmen und sich von ihm her gerechtsprechen zu lassen. Mit dem alten mystischen Bild der Hochzeit der Seele mit Gott spricht Luther von einem „wunderbare[n] Wechsel und Streit“.54 Wie ein edler Bräutigam, der sich eines armen verachteten Mädchens annimmt, so nimmt sich Christus des Glaubenden an. Er „verschlingt und ersäuft“ ihre Sünden durch seine unüberwindliche Gerechtigkeit.55 Das Mädchen erlangt Gerechtigkeit, der Bräutigam trägt und erträgt die Ungerechtigkeit. Um dieses mirabile commercium zu erreichen, genügt es nicht, am historischen Sinn der Schrift und mithin äußerem bloß objektivem Geschehen festzuhalten. Die rechtfertigende Kraft hat nicht schon die „fides historica“, sondern allein die „fides apprehensiva“.56 Der ergreifende Glaube eignet sich Christus im Inneren – in seinem Bewusstsein und Gewissen – an. Die eigentlich aktive Seite ist dabei Christus und nicht der einzelne Gläubige. Das Individuum wird von Gott durch Christus ergriffen.57 Luther bleibt in seinem Neuansatz der traditionellen Dogmatik treu. Er hält an der Zwei-Naturen-Lehre fest, gibt ihr aber eine neue dialektische Dimension. Es kommt ihm nicht so sehr auf die Rede von der abstrakten Gottheit oder Menschheit an, wie sie noch in der scholastischen Begrifflichkeit seiner Zeit vorliegt, sondern auf die besondere und damit individuelle Verschränkung beider in Christus.

Zitat

„Wobei sehr sorgfältig zu beachten ist, dass er beide Naturen von der ganzen Person aussagt mit all ihren Eigenschaften und sich gleichwohl davor hütet, ihm beizulegen, was Gott schlechthin oder dem Menschen schlechthin zukommt. Denn das eine ist es vom fleischgewordenen Gott oder Gott gewordenen Menschen zu reden, und ein anderes von Gott oder dem Menschen schlechthin.“58  54 Luther: Die Freiheit eines Christenmenschen (16f.), zum zwölften (WA 7, 25f., Studienausgabe 277, Luther Deutsch 257).  55 Ebd.  56 Luther, Martin: Adventspostille 1522. Evangelium am 1. Adventssonntag (Mt 21,1-9) (WA 10, 1/2, 24).  57 Luther: Adventspostille 1522 (WA 10, 1/2, 30): „nit findistu yhn, er findet dich“.   58 Luther, Martin: Rationis Latomianae confutatio, StA lat.-dt. Bd. II, 395 (WA 8, 126). Zit. n. Danz: Christologie, 92. Die Interpretation von Danz ist sehr

1. | Die onto-theo-logische Christologie

Luther nimmt in seiner Deutung der Idiomenkommunikation nicht einfach die Bibel beim Wort,59 so dass man gewissermaßen erst ab Luther von einem wahren Schriftverständnis reden könnte, sondern er interpretiert die neutestamentlichen Aussagen im Horizont des neuzeitlichen Denkens in einer Weise, die die Entwicklung der Neuzeit maßgeblich prägen wird. Nicht schon die Bezugnahme auf den Glauben als solche ist neu  – das gab es schon bei Paulus und Augustinus –, sondern die sich abzeichnende Dialektik zwischen Gottheit und Menschheit. Das disjunktive Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf ersetzt das hypothetische. Entsprechend ist die Vernunft nicht mehr dem Glauben unterstellt und damit relativ, vielmehr wird sie absolut, wie auch der Glaube absolut wird. Die Disjunktion zwischen göttlicher und menschlicher Natur ist bei Luther freilich noch ganz auf die Person Jesu beschränkt. Doch schon hier wird deutlich, dass fortan vom Menschen nicht mehr unabhängig von Gott und von Gott nicht mehr unabhängig vom Menschen die Rede sein kann.60 Das Göttliche wird in neuer Weise im Menschen und der Mensch in neuer Weise in Gott angenommen. Beide befinden sich in Wechselwirkung. Wie bereits gesagt, ist das epochale Prinzip nicht mehr der Gott unter uns, sondern der Gott in uns. Bezogen auf die communicatio idiomatum kommt Luther zur bis dahin unerhörten Aussage: Zitat

„Dieser Mensch hat die Welt erschaffen, und: dieser Gott hat gelitten, ist gestorben und begraben worden“61

erhellend. Allerdings verkennt sie die besondere epochale Dimension des lutherischen Neuansatzes, weil er zu sehr von einem allgemeinen und universalen Glaubensbegriff ausgeht, den Luther befördert habe. Dadurch kommt es zu einer konfessionalistischen Verengung der Lutherinterpretation.  59 Gegen Danz: Christologie, 92.  60 Zustimmend zu Danz: Christologie, 92.  61 Luther, Martin: De divinitate et humanitate Christi, StA. lat.-dt., Bd. II, 471 (WA 39 II, 92).

241

Dialektik von Gott und Mensch

242

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

1.2.2 Ignatius von Loyola

Der im Bewusstsein imaginierte Jesus

In Gesellschaft Jesu sein

Ignatius von Loyola (1491–1556) steht am Beginn der katholischen Erneuerung, die nicht zuletzt durch die Gründung des Jesuitenordens (Compañía de Jesús, Societas Jesu) und durch das Konzil von Trient (1545–1563) der alten Kirche ein neues Gesicht gab. Auch bei Ignatius findet sich eine Konzentration auf die Menschlichkeit der Person Jesu und auf die Innerlichkeit des glaubenden Individuums. Ignatius setzt einen neuen Akzent, der die christologische Entwicklung in eine andere Richtung lenkt als die reformatorische Theologie. Ignatius ist wie Luther von der spätmittelalterlichen Entwicklung der mystischen Frömmigkeit geprägt. Zwar ist für Luther wie für Ignatius die Gemeinschaft (oder Wechselwirkung) zwischen Individuum und Jesus entscheidend, doch während für Luther die unmittelbare Begegnung mit der Heiligen Schrift grundlegend ist, gewinnt für Ignatius die imaginierte Gestalt Jesu an Bedeutung. Für Luther und für Ignatius ist das individuelle Gewissen der Wegweiser in die Wahrheit des Jesusereignisses. Doch für Ignatius gewinnt das lateinische Wort conscientia zunehmend die Bedeutung „Bewusstsein“. Anders als Luther ist Ignatius kein wortgewaltiger Theologe. Seine Stärken sind die methodische Entfaltung psychologischer und soziologischer Einsichten. Es geht ihm in den „Exerzitien“ darum, die Seele des Einzelnen so mit ihrem Schöpfer interagieren zu lassen (GÜ 15), dass sie schließlich in die Societas Iesu gelangt. Das Hauptwerk des Ignatius, die Geistlichen Übungen, bringen das Individuum in die Gesellschaft Jesu, wobei diese Wendung durchaus, aber eben nicht nur als der katholische Orden zu verstehen ist. Das zweite Hauptwerk des Ignatius sind die Konstitutionen der Gesellschaft Jesu. Schon hier, aber mehr noch mit Blick auf die Wirksamkeit der Jesuiten manifestiert sich eine politische Dimension des ignatianischen Werks. Luther und Ignatius – zu nennen ist hier noch Johannes Calvin – stehen auch am Beginn der politischen Umbrüche der Neuzeit, die ihre Basis durchaus in einem neuen Verständnis von Jesus Christus haben.62 Obwohl die Christologie der Exerzitien theologisch scheinbar wenig Neues bietet, ist sie doch in ihrem Ein-

 62 Siehe dazu Ruhstorfer, Karlheinz: Der Chiasmus von Säkularität und Sakralität, in: Ders.: Freiheit  – Würde  – Glauben. Christliche Religion und westliche Kultur, Paderborn 2015, S. 209–218.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

fluss auf die nunmehr entstehende konfessionelle Kultur des Katholizismus kaum zu überschätzen. Die Exercitia Spiritualia legen sich in vier Wochen auseinander. Die erste Woche dient der Gewissenserforschung und Beichte. Sie entspricht der alten, mystischen via purgativa. Ab der zweiten Woche wird der Übende mit Jesus Christus konfrontiert. Dies geschieht mit Hilfe der „Geheimnisse des Lebens Christi unseres Herrn“, einer Art Kurzbiographie Jesu, die den Übungen nachgestellt ist. Wie bei Luther rückt die unmittelbare Begegnung mit Jesus in den Vordergrund, doch anders als beim Reformator ist es hier nicht der Bibeltext als solcher, der die Grundlage darstellt, sondern eine kompilierte und strukturierte Auswahl. Auch bei Ignatius steht die vorstellbare, konkrete und menschliche Seite Jesu im Vordergrund. Diese „Geheimnisse“ dienen als Basis für die Imaginationsübungen. Der Übende muss im Raum des Bewusstseins eine imaginierte Bühne schaffen, auf der er sich selbst in die Welt Jesu einbildet. Dabei kommt es gerade darauf an, den Inhalt der Bibel als Material für die Einbildungskraft zu benutzen. Die Imagination soll das Leben Jesu von seiner vorweltlichen Existenz beim himmlischen Vater bis nach Jerusalem vergegenwärtigen. Die dritte Woche betrachtet das Leiden und Sterben Jesu. So, wie der Exerzitand in der zweiten Woche mit Jesus lebte, soll er nun mit ihm sterben. Die Gottheit verbirgt sich in der Passion (GÜ 196). Jesus leidet nicht nur für die abstrakte Menschheit, sondern je konkret für mich. Deshalb soll ich „erwägen, wie er alles dies für meine Sünden leidet, usw.; und was ich selbst für ihn tun und leiden muss“ (GÜ 197). Das eigentliche Ziel dieser Gemeinschaft mit Jesus ist ein Subjektwechsel. Der alte Mensch soll sterben, damit der neue, jesusförmige lebe. In der vierten Woche wird die Auferstehung betrachtet, die zugleich die mystische Vereinigung mit Jesus verwirklichen soll. Höhepunkt der Übungen ist die „Betrachtung, um Liebe zu erlangen“ (GÜ 230–237): „Die Liebe besteht in der Mitteilung von beiden Seiten nämlich darin, dass der Liebende dem Geliebten gibt und mitteilt, was er hat, oder von dem was er hat oder kann; und genauso umgekehrt der Geliebte dem Liebenden“ (GÜ 231). In dieser Liebeseinheit mit Christus gibt der Übende seine ganze Freiheit in Jesus auf, um sie neu zu erlangen: „Nehmt, Herr, und empfangt, meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen, all mein Haben und mein Besitzen“ (GÜ 234). Noch vor der alten, augustinischen Dreiheit von Gedächtnis, Verstand und Wille wird die Freiheit genannt. Wie bei Luther die epochal neue Fassung der Freiheit in seinem

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Die Geheimnisse des Lebens Jesu

Der Subjektswechsel

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Die christliche Freiheit

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Werk De servo arbitrio gewissermaßen das Zentrum der reformatorischen Einsicht ausmacht, so auch bei Ignatius. Der neue Mensch hat seine natürliche Freiheit ganz abgelegt und dafür die neue Freiheit eines Christenmenschen erlangt. Der Grund dieser neuen, neuzeitlichen Freiheit ist das Individuum Jesus von Nazaret. Durch ihn sind sich Gottheit und Menschheit in „meiner“ Person so nahe gekommen, dass sie eine dialektische Einheit bilden. 1.2.3 Johannes Calvin

Wurzelgrund politischer Freiheit

Doppelte Prädestination

Für die Entwicklung des Gottes- und Menschenbildes der Neuzeit ist auch der französische Reformator Calvin (1509–1564) von großer Bedeutung. Möglicherweise studierte er zeitgleich mit Ignatius von Loyola am Collège Montaigu in Paris. Für Luther jedenfalls hegte er eine große Bewunderung.63 Die Rolle Calvins für den Fortschritt der Neuzeit scheint auf den ersten Blick sehr ambivalent, ja sogar paradox zu sein. Einerseits radikalisiert er den gnadentheologischen Ansatz Luthers, so dass die menschliche Freiheit noch entschiedener negiert wird, doch andererseits finden wir in der Tradition Calvins den Wurzelgrund, auf dem die neuzeitliche Freiheit gerade in politischer Hinsicht aufruht.64 Calvins Theologie und Christologie sind geprägt von der Lehre der doppelten Prädestination. Augustinus hatte die Ebenen von menschlicher und göttlicher Freiheit radikal unterschieden. Erstursache für schlechthin alles war die göttliche Wirksamkeit, die aber die menschliche gerade nicht auslöscht, sondern als Zweitursache begründet, die in ihrem Werk selbstverantwortlich bleibt. Augustinus geht allerdings davon aus, dass Gott nur das Gute wirkt, das Schlechte lediglich zulässt. Für das Böse ist allein der Mensch verantwortlich. Luther bestreitet die Ursachenordnung. Er kennt gerade keine menschliche Zweitursache. Die Prädestination allein bestimmt den Menschen zum Heil. Calvin geht insofern hier einen Schritt weiter, als er anders als Luther nicht nur von einer Prädestination zum Guten, son-

 63 Vgl. Nijenhuis, Wilhelm: Art. Johannes Calvin, in: TRE 7 (1981), 568–592, 569 und 577.  64 Jellinek, Georg: Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte (1885), München/Leipzig 31919.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

dern auch einer Prädestination zum Bösen ausgeht. Für Calvin sind die Unterscheidungen von „Bewirken“ und „Zulassen“ hinfällig.65 Inwiefern aber ist dies für die Lehre von Christus relevant? Indem Gott alles in allem wirkt, wird zunächst die natürliche Wirklichkeit des Menschen radikal negiert. Der Mensch vermag mit Blick auf sein Heil schlechthin nichts, Gott aber vermag alles. Der Mensch jedoch, der dies – im Glauben – realisiert, weiß Gott in sich am Werk und erlangt dadurch die „christliche Freiheit“66. Der verlorene Mensch, der in Christus seine Erlösung sucht, kehrt zur Quelle des Lebens, die der göttliche Logos ist, zurück und wird im Glauben zum Kind Gottes, wie Jesus Sohn Gottes ist.67 Der Glaube ist es, der die Wiedergeburt als neuer Mensch bewirkt.68 Die natürliche Vernunft und der natürliche Wille werden durch die erneuerte Vernunft und den erneuerten Willen ersetzt. Anders als Luther betont Calvin mit Paulus die Erneuerung der Vernunft und spricht sogar von christlicher Philosophie, die sich dadurch auszeichnet, dass sie gänzlich in Christus und im Geist Christi aufgegangen ist. Zitat

„Die christliche Philosophie dagegen lässt die Vernunft weichen, gibt ihr auf, sich dem Heiligen Geiste zu unterwerfen, unter sein Joch zu treten, damit der Mensch fürderhin nicht selber lebt, sondern Christus als den in sich trage, der da lebt und regiert (Gal 2,20)“.69

Während die Christologie im objektiven Sinn bei Calvin wie bei Luther traditionell bleibt – er weiß sich den Konzilien von Nizäa und Chalcedon verbunden, d.h. er hält an der hypostatischen Union von Gottheit und Menschheit in der Person des Logos fest – wird die subjektive Seite deutlich verändert. Durch die vor-

 65 Calvin, Johannes: Institutio Christianae Religionis, Neukirchen-Vluyn 2 2009, 163f.; II,4,3. Und 510–516; III,21.  66 Calvin: Institutio, 460–469; III,19.  67 Calvin: Institutio, 180; II,6,1.  68 Calvin: Institutio, 320–336; III,3.  69 Calvin: Institutio, 377; II,7,1.

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Die erneuerte Vernunft und Freiheit

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Die Selbstverleugnung

Soli Deo gloria

Kirche und Staat

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

dergründige Negation des endlichen Menschen geht der göttliche Geist im Menschen auf und die Einheit von Gott und Mensch erreicht eine neue, individuelle Intensität, weshalb denn auch die Selbstverleugnung die Hauptsumme des christlichen Lebens ist.70 Wenn Calvin wie Luther und Ignatius die Menschheit Jesu betont, dann um deutlich zu machen, dass die Negation der bloßen menschlichen Natur und ihrer Vermögen nicht zur unmittelbaren Vergottung des Menschen führt, sondern die Erde der Ort ist, an dem die Herrlichkeit Gottes zur Erscheinung kommen will. Dies lässt noch einmal an Ignatius und dessen in Christus vermittelte Dialektik von Hoheit und Niedrigkeit denken. Es ist auch verblüffend, dass bei allen Unterschieden ein sehr eng verwandtes Motto gewählt wurde: ad maiorem Dei gloriam (Ignatius) – soli Deo gloria (Calvin). Zwar ist das menschliche Individuum der primäre Ort der gottmenschlichen Gemeinschaft oder Wechselwirkung, doch rückt auch bei Calvin die gesellschaftliche und damit auch politische Dimension des Menschseins neu in den Blick. Während Ignatius faktisch die Rolle des Papstes als Stellvertreter Christi stärkt, da er in ihm das allgemeine Individuum mit besonderer Christusrepräsentanz gegeben sieht und die Kirche bei den Jesuiten mehr und mehr einem (früh-)absolutistischen Staat gleicht, der sichtbar ist wie die Republik Venedig oder das Königreich Frankreich, gewinnt bei Luther und Calvin schließlich die säkulare Staatlichkeit an Bedeutung. Die Kirche wird mit der Seele verglichen und steht für die Innerlichkeit, aber auch die Göttlichkeit, der Staat hingegen entspricht dem Leib, der Äußerlichkeit und der Menschlichkeit. Wie Christus Gott in der Welt repräsentiert, so können auch die staatlichen Autoritäten als Repräsentanten Christi angesehen werden. Dadurch wird die alte hierarchische Ordnung der Dinge durch eine Dialektik von Kirche und Staat abgelöst. Sie werden einerseits stärker entflochten, doch andererseits neu verschränkt. Basis dieser neuen Verhältnisbestimmung ist eine innovative Interpretation der hypostatischen Union. Der eine Mensch lebt in beiden Welten, der göttlichen (Kirche) und der menschlichen (Staat). Vor allem Calvin verschränkt Politik und Religion, wenn er sein Hauptwerk über den Unterricht in der Christlichen Religion mit Ausführungen nicht etwa über die letzten Dinge im Himmel, sondern über

 70 Calvin: Institutio, 476ff.; III,7.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

das „bürgerliche Regiment“ enden lässt.71 Zunächst klingen seine Ausführungen sehr traditionell. Er betont die Pflicht zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, die Bereitschaft, auch unrechtmäßige Herrschaft zu ertragen, und die Gottgegebenheit aller Autorität.72 Calvin überträgt sogar „die Fürsorge für eine rechte Regelung der Religion der bürgerlichen Ordnung der Menschen“, obwohl er „sie doch oben außerhalb des menschlichen Urteils gestellt zu haben“ scheint.73 Doch bei aller, fast totalitär wirkenden Obrigkeitshörigkeit, die im Übrigen an die Kirchenfrömmigkeit des Ignatius erinnert, endet das gesamte Werk bemerkenswerterweise mit der Legitimierung des Widerstands gegen die Staatsgewalt. Wenn der Gehorsam gegen Christus durch die Obrigkeit bedroht wird, dann dürfen prophetische Menschen dem Unrecht widerstehen, um die „Freiheit des Volkes“ zu retten.74 Zitat

„‚Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen‘ (Apg 5,29), so wollen wir uns mit der Erwägung trösten, dass wir jenen Gehorsam, den der Herr verlangt, dann leisten, wenn wir lieber alles Erdenkliche leiden, als von der Frömmigkeit weichen. Und damit uns der Mut nicht ins Wanken gerät, so setzt uns Paulus noch einen anderen Sporn in die Seite, indem er uns ermahnt: Christus hat uns dazu um jenen hohen Preis erkauft, den unsere Erlösung ihn zu stehen kam, dass wir uns nicht an die bösen Begierden der Menschen verknechten, um ihnen untertan zu sein, und uns noch viel weniger der Gottlosigkeit unterwerfen (1. Kor 7,23).“75

1.3 Jesus Christus und der Geist der Freiheit Häufig wird die Entwicklung seit der Aufklärung als Auflösung der dogmatischen Christologie verstanden. Doch hängt die Bedeutung des Substantivs „Auflösung“ an der Definition des Ad-

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Calvin: Institutio, 838–858; IV,20. Calvin: Institutio, 854ff.; IV,20,29ff. Calvin: Institutio, 839; IV,20,3. Calvin: Institutio, 856; IV,20,21. Calvin: Institutio, 857; IV,20,32.

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Gehorsam und Widerstand

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Subjektive Christologie

Die Gegenwart des Göttlichen in uns

jektivs „dogmatisch“. Die Frage ist, ob darunter lediglich die traditionelle Fassung Jesu Christi, wie sie sich in Patristik und Scholastik entwickelt hat, gemeint sein kann. In der Tat tritt die objektive Christologie in ihrer aktuellen Relevanz zurück hinter die subjektive Christologie, die sich seit dem Spätmittelalter herausgebildet hat. Nicht mehr die äußere oder reale Gegenständlichkeit des Gottmenschen unter uns ist entscheidend, sondern die Gegenwart des Göttlichen in uns. Auch die neuzeitliche Freiheit in absoluter Bedeutung hat ihren genealogischen Grund in der Person Jesu Christi. Denn Jesus wird als das Individuum, in dem die göttliche Wirksamkeit (Gnade) und die menschliche Wirksamkeit (Freiheit) versöhnt sind, vorgestellt. Im weiteren Verlauf der Neuzeit kommt die neue disjunktive oder dialektische Relation zwischen Gott und Mensch vollends zum Durchbruch. Das menschliche Individuum befindet sich in Wechselwirkung oder Gemeinschaft mit dem Absoluten. Wenn wir die innere Dynamik des christologischen Grundgedankens richtig begreifen, dann sehen wir im Zenit der Neuzeit keine Auflösung des Dogmas, sondern seine epochale Neuinterpretation im Geist der Freiheit. Die christliche Religion flieht in den philosophischen Begriff (Hegel). Dabei kommt es zu einer förmlichen Explosion der christologisch inspirierten Religionsphilosophien, die bis heute von den kirchlichen Lehren nicht vollends aufgearbeitet wurden. 1.3.1 Die Aufklärung Blicken wir noch einmal zurück. Im Spätmittelalter wird die hypothetische Relation von Gott und Mensch geschwächt. Schon Wilhelm von Ockham betont die absolute Wirksamkeit (potentia absoluta) Gottes. Es geht nicht mehr um die Unterordnung der Freiheit unter die Gnade, sondern Freiheit und Gnade werden absolut. Die menschliche Freiheit wird zunächst vollkommen vernichtet, dann aber als eine neue, christliche Freiheit wiederentdeckt. Indem Martin Luther die natürlichen Vermögen des Menschen in Freiheit und (scholastischer) Vernunft ebenfalls negiert, verliert die Vernunft ihre vornehmste Aufgabe, die Interpretation der Offenbarung. Die Offenbarung wird fortan im reinen Glauben vernommen. Indem Ignatius von Loyola das Bewusstsein als subjektiven Raum der objektiven Gegenständlichkeit entdeckt, wird die Frage der äußeren Realität der subjektiven Vorstellung relevant. Anders gewendet: Wie verhält sich die stets

1. | Die onto-theo-logische Christologie

kontingente geschichtliche Wirklichkeit zur stets gewissen Wahrheit des absoluten Glaubens bzw. der reinen Vernunft? Bei Luther, Ignatius und Calvin ist das hypothetische Gefüge von Glaube und Wissen aufgegeben. Die natürliche Vernunft führt nicht zum Glauben, und die Offenbarung ist nicht mehr das Prinzip der als Einsicht (intellectus) gefassten Vernunft. Nun aber findet der Jesuitenzögling René Descartes (1596–1650) im Cogito das neue epochale Prinzip der natürlichen Vernunft. Diese selbstgewisse Vernunft distanziert sich fortan von einer äußeren Vorgabe, sei sie die empirische Welt oder die Offenbarung Gottes. Wie die Vernunft sich neu konstituiert, so auch die als Erstursache begriffene menschliche Freiheit. Um sich selbst in ihrer neuen Absolutheit begreifen zu können, muss sie die Wirksamkeit Gottes zunächst einschränken, um einen Widerspruch zu vermeiden. Das Gottesbild in der frühen Neuzeit ist deshalb häufig von deistischen Vorstellungen geprägt. Im Deismus wird Gott zwar noch als Schöpfer der Welt angenommen, jedoch überlässt dieser dann die Welt und damit auch den Menschen sich selbst und seiner Freiheit bzw. Sittlichkeit. In der Tat löste sich das Denken der frühen Neuzeit mehr und mehr von den Vorgaben der Offenbarung, um zur eigenen Autonomie zu finden. Doch ist auch die neuzeitliche Autonomie von Freiheit und Vernunft durch die im chalcedonischen Dogma konzipierte Einheit von Gott und Mensch, die in Jesus von Nazaret für den Glauben anschaulich wird, bedingt. Schließlich vollendet sich die klassische Neuzeit in einer bis zum absoluten Geist geläuterten Vernunft, welche die Dialektik von Gottheit und Menschheit begreift, und die christliche Religion epochal neu denken lässt. Diese Wechselwirkung wird deshalb möglich, weil der fleischgewordene Logos selbst der Gott ist, der im Anfang war (vgl. Joh 1). Der tiefere Grund für die „Säkularisierung“ der Neuzeit liegt nicht etwa in der konfessionellen Spaltung, die eine neutrale, nicht-religiöse Instanz in Gestalt der bloßen Vernunft oder des säkularen Staates nötig machte, sondern in der Menschwerdung Gottes, die unter den epochalen Bedingungen der Neuzeit zu einer absoluten Befreiung des Menschen führt.76 Der Mensch und Gott befinden sich in Gemeinschaft oder Wechselwirkung. Wir

 76 Vgl. dazu Nancy, Jean-Luc: Dekonstruktion des Christentums, Zürich 2012; Vattimo, Gianni: Jenseits des Glaubens. Gibt es eine Welt ohne Gott, München/Zürich 2004; Ruh, Ulrich: Säkularisierung als Interpretationskategorie, Freiburg 1982; Ruhstorfer: Gotteslehre. Ein differenziertes Bild des

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Die selbstgewisse Vernunft

Menschwerdung Gottes und Säkularisierung

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Empirismus und Rationalismus

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

können Gott nicht mehr ohne den Menschen und den Menschen nicht mehr ohne Gott denken. Entsprechend bleiben die zentralen Interpretationen Christi der inneren Spannung des Dogmas von Chalcedon, das göttliche und menschliche Natur zusammendenken lässt, und des Dogmas von Nizäa, das in Gott die Einheit von Vater und Sohn annimmt, verpflichtet. Zwar werden die Grundgedanken der Trinität und der Christologie seit der frühen Neuzeit immer wieder fundamental in Frage gestellt, um hier nur an Michel Servet (1509–1553), der die Trinitätslehre ablehnte, und an Fausto Sozzini (1539–1604), der den Glauben an die Gottheit Jesu für unvernünftig hielt, zu erinnern. Vor allem der Sozinianismus wird von Aufklärern wie John Locke (1632–1704) und Voltaire (1694–1778) rezipiert, doch wäre es vollkommen falsch, davon zu sprechen, dass das christologische Basisdogma im neuzeitlichen Horizont aufgelöst wird. Der vordergründige „Plausibilitätsverlust“ (Danz) führt vielmehr zur Neufassung. Nur eine unvernünftige Fixierung auf den bloßen Verstand kann behaupten, dass die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur in einer Person ausschließlich in der Ausschaltung einer der beiden Naturen – im Mittelalter der menschlichen, in der Neuzeit der göttlichen  – erreicht werden kann. Vielmehr drängt das veränderte epochale Grundverhältnis auf eine dialektische Erneuerung aus dem Geist der Freiheit.77 Nur in einigen extremen Richtungen der französischen Aufklärung führt die neuzeitliche Wendung des Blickpunkts in den Atheismus. Paul Henri Thiry d’Holbach (1723–1789) oder Julien Offray de La Mettrie (1709–1751) wären hier zu nennen. Der weitaus größte Teil der Aufklärung bleibt dem theistischen bzw. deistischen Denken verbunden. Dies gilt auch für die beiden basalen Richtungen neuzeitlicher Philosophie – Empirismus und Rationalismus –, denen auch die dialektische Trennung der christologischen Grundverbindung vorausgeht. In Jesus sind göttliche Vernunft (lógos) und menschliches Fleisch (sárx) verbunden. Auch wenn sich reiner Materialismus hier noch nicht durchsetzt, trennen sich seit dem 17. Jahrhundert die rationalistische Linie, der Descartes, Spinoza (1632–1677) oder Leibniz (1646–1716) zugerechnet werden, und die empiristische, deren Vertreter etwa John Locke (1632–1704), George Berkeley (1685–

Basisnarrativs der Aufklärung als Emanzipation von Religion bietet Casanova, José: Europas Angst vor der Religion, Berlin 2009, 7–31.  77 Gegen Danz: Christologie, 196.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

1753) und David Hume (1711–1776) sind. Erst Immanuel Kant (1724–1804) wird die beiden Richtungen vermitteln und dabei die Philosophie auf ein neues subjektives Fundament stellen, das auch die weiteren christologischen Reflexionen unhintergehbar prägen wird. Dabei wird er eine radikal neuzeitliche Interpretation der chalcedonischen Christologie bieten.78 Charakteristisch für die Neuzeit bleibt, dass die Vernunft nicht mehr dem Glauben (an Christus) schlechthin untergeordnet ist, sondern beide gemäß der disjunktiven Trennung spätestens seit der frühen Neuzeit in einer spannungsreichen Gemeinschaft einander gegenüberstehen. Schließlich wird Schleiermacher (1768– 1834) die religiöse Linie des Glaubens und Hegel (1770–1831) die philosophische Linie des Wissens vollenden. Beide bleiben dem chalcedonischen Dogma auf je eigene Weise verpflichtet. Sie finden eine radikal neue Interpretation Gottes und des Menschen sowie der individuellen Einheit beider auf der Basis des Gedankens des Gottes in uns79 bzw. des Wahren als Subjekt.80 Bereits an dieser Stelle muss auch angemerkt werden, dass die Versöhnungslehre, nach der der Gottmensch Jesus für die Sünden der Menschen stirbt, zwar durch die neuartige Betonung der menschlichen Freiheit und damit auch der Sittlichkeit in eine Krise geführt, jedoch gerade nicht vollständig aufgelöst wird.81 Zwar stellt Kant durchaus fest, dass eine persönliche Schuld nicht „transmissibel“ sei wie etwa eine finanzielle Schuld.82 Doch wird gerade er in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793 eine überraschende Neuinterpretation auch des stellvertretenden Sühnetods vorlegen. Bei Hegel schließlich wird der Begriff der „Versöhnung“

 78 Gegen Danz: Christologie, 115–118. Siehe zu Kant Ruhstorfer: Christologie, 160–170.  79 Vgl. Schleiermacher, Friedrich: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 312 (Reclam, Stuttgart 1997, 207). Die letzten Worte dieses revolutionären Werks lauten: „[…] weigert uns nicht, den Gott anzubeten, der in Euch sein wird“.  80 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (Werke 3), Frankfurt 1986, 22f: „Es kommt […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“ Durch die „Menschwerdung des göttlichen Wesens“ als „Selbstbewußtsein“ des Gottmenschen wird offenbar: „[…] die göttliche Natur ist dasselbe, was die menschliche ist, und diese Einheit ist es, die angeschaut wird.“ Ebd. 552f.  81 Gegen Danz: Christologie, 107f.  82 Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, VI, 72.

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Neue Synthesen

Die Versöhnung durch Christus

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Die Revolution der Exegese durch die Aufklärung

Reimarus (1694–1768)

zum philosophischen Zentralgedanken, der die Einheit der Gegensätze denken lässt – auch den von Gott und Mensch. Bevor wir zu Kant kommen, gilt es noch die Revolution der Exegese durch die Aufklärung kurz anzusprechen. Ein neues Verständnis von historischer und geschichtlicher Wahrheit, aber auch eine Neubestimmung des Verhältnisses von Geschichtswahrheit und Vernunftwahrheit führen zu einem radikal neuen Blick auf die Bedeutung der Heiligen Schrift und damit auch der geschichtlichen Wirklichkeit Jesu. Nur wenn wir die epochale Verschiebung von der objektiven zur subjektiven Christologie abblenden, kann von einer Zerstörung des Schriftprinzips gesprochen werden.83 Selbst die idealistische Philosophie, die sich streng genommen keiner äußeren Vorgabe für die Vernunft mehr verpflichtet weiß, anerkennt die basale Bedeutung der Heiligen Schrift und mit ihr der Person Jesu für die Geschichte der Freiheit und der Vernunft. Doch zunächst zur Herausforderung der Christologie durch die historische Kritik der Offenbarung bei Hermann Samuel Reimarus (1694–1768) und die daran anschließenden Reflexionen Johann Salomo Semlers (1725–1791) sowie vor allem Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781). Hermann Samuel Reimarus kritisiert gleichermaßen den Atheismus der französischen Materialisten und den Biblizismus der protestantischen Orthodoxie. Während die einen den kahlen Verstand propagieren, halten die anderen am puren Glauben fest. Der Hamburger Theologe und Orientalist versucht dagegen, eine aufgeklärte Religiosität auf deistischer Basis zu entwickeln. Dabei betrachtet er die Grundlage des Glaubens, die Bibel, erstmals allein mit den Mitteln einer rationalistischen Geschichtswissenschaft. Sein Hauptwerk trägt den Titel Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes (1726–1768; erstmals vollständig publiziert 1972!). Seine Einsicht in die inneren Spannungen und Widersprüche der biblischen Schriften ist nicht eigentlich revolutionär, da das bereits ein Problem für Kirchenväter, Scholastiker und Reformatoren war, sondern dass er eine aus dem Empirismus stammende Vorstellung der natürlichen Welt und ihrer Gesetze und eine aus dem zeitgenössischen Moralismus stammende Fixierung auf die Sittlichkeit der Offenbarung voraussetzte. Damit wurde nicht nur der übernatürliche Ursprung der Offenbarungsschriften hinfäl-

 83 Gegen Danz: Christologie, 108.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

lig, sondern auch die sittliche Verbindlichkeit etwa des Alten Testaments. Wundergeschichten galten als unglaubwürdig und die moralische Qualität der handelnden Personen sowie der Offenbarungsempfänger als fragwürdig. Jesus erscheint nun als Vertreter einer natürlichen (vernünftigen) und rein ethisch ausgerichteten Religiosität, der im Angesicht seines Todes und des Ausbleibens des Gottesreichs desillusioniert wurde. Die Jünger hätten sich nicht mit dem Scheitern des Wirkens Jesu abgefunden und den Leichnam gestohlen. Nicht die ethische Botschaft des irdischen Jesus, sondern der verkündigte Auferstandene wurde illegitimerweise in das Zentrum der neuen Erlösungsreligion gestellt. Reimarus selbst wagte es nicht, seine Thesen zu veröffentlichen. Aber als Lessing Teile der Schrift herausgab, löste die „Betrugshypothese“ des Reimarus eine der größten theologischen Debatten des 18. Jahrhunderts aus. Reimarus gilt bis heute als einer der Vorväter der historischen Jesusforschung.84 Einen Schritt weiter ging Johann Salomo Semler. Anders als Reimarus, dessen fundamentale Kritik an der Glaubwürdigkeit der Bibel er bestritt, behauptet der Hallenser Theologe eine sachliche Entsprechung von Jesu vorösterlicher Wirksamkeit mit der nachösterlichen Verkündigung der Gemeinde. Die Bibel sei sowohl sittlich als auch historisch betrachtet im Prinzip wahrhaftig. Mythische Vorstellungen und legendarische Ausschmückungen wie das Wirken von Teufel und Dämonen werden ausgesondert. Grundsätzlich unterscheidet Semler Schrift und Offenbarung. Nicht schon die Schrift, d.h. der Bibeltext in seiner historischen Kontingenz, sei das Wort Gottes, sondern die durch Vernunft geläuterte moralische Botschaft. Die Verbalinspiration der Schrift wird ebenso abgelehnt wie die Vorstellung von der Gleichrangigkeit und Göttlichkeit der biblischen Schriften. Entsprechend arbeitet Semler die jeweilige Eigenart der biblischen Schriften heraus und klärt dabei die Aussageabsicht der einzelnen Schriftsteller im historischen Kontext. Der Kanon selbst ist das Produkt eines geschichtlichen Prozesses. Die historische Relativität der Texte sei der unvermeidlichen Akkommodation des Glaubens und seiner Wahrheit an die konkrete kulturelle Situation geschuldet und deshalb nicht grundsätzlich problematisch. Auch bei Semler erscheint Jesus als Stifter einer neuen, moralischen Gottesverehrung. Dennoch hält er an der Präexistenz des göttlichen

 84 Beutel, Albrecht: Art. Reimarus, in: RGG 7 (42004), 238.

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Jesus als Vertreter einer vernünftigen, rein ethisch ausgerichteten Religiosität

Semler (1725–1791)

Akkommodation des Glaubens an die konkrete kulturelle Situation

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Die Heilsrelevanz von Tod und Auferstehung Jesu

Ethische Universalreligion

Unterscheidung von Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten

Sohnes und an der Wesenseinheit des Sohnes mit dem Vater fest. Die Heilsrelevanz von Tod und Auferstehung Jesu wird sogar mit besonderem Nachdruck betont. 85 Jesus habe Gott als den Vater aller Menschen betrachtet und gegenüber dem Judentum und dem Heidentum eine neue ethische Universalreligion begründet. Entsprechend verliert das Alte Testament an Bedeutung. Die nachösterliche Entwicklung bestätige die Wirksamkeit Jesu. Auch die in der alten Kirche entstandene Trinitätslehre wird nicht abgelehnt, sondern als zentraler Bestandteil des neuen christlichen Glaubens interpretiert. Generell vertritt Semler gegenüber der Dogmenbildung aber eine kritische Haltung. Nur der wesentliche Grund und Inhalt des Glaubens sei verbindlich, nicht aber die Fülle aller kirchlichen Lehren. Wichtig sei der Unterschied von Theologie und Religion, in dem sich die bereits mehrfach erwähnte neuzeitliche Disjunktion von Wissen und Glauben spiegelt. Die wissenschaftliche Betrachtung des Glaubens, die stets veränderlich und korrigierbar bleibt, sei von der lebensrelevanten Glaubensüberzeugung als solcher zu unterscheiden. Der Glaube reiche aber bis in die individuelle Mitte des Individuums, weshalb mit einer Pluralität der christlichen „Privatreligion“ zu rechnen sei. Hier zeigt sich die besondere Bedeutung von Gewissensfreiheit und Toleranz. Hintergrund der neuartigen Problematik ist die bereits angeklungene Unterscheidung von Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten. Erstere gelten a  priori, letztere a  posteriori, da sie auf die Kontingenz von Empirie und Historie bezogen bleiben. Gottfried Wilhelm Leibniz definierte: „Die Vernunftwahrheiten sind notwendig und ihr Gegenteil ist unmöglich; die Tatsachenwahrheiten sind zufällig und ihr Gegenteil ist möglich.“86 Auch das ist zunächst keine revolutionäre Einsicht. Vielmehr geht sie auf Platons Unterscheidung von geistiger Welt (Idee) und sinnlicher Welt (Phänomen) zurück und war auch den Kirchenvätern und Scholastikern vertraut. Schon Thomas von Aquin wusste, dass die Wahrheit, dass Jesus gekreuzigt wurde, von anderer Art ist als die natürliche Einsicht in das Dasein Gottes oder die Gültigkeit des Widerspruchsprinzips, welches besagt, dass zwei widersprüchliche Aussagen unmöglich gleichzeitig und in gleicher Hinsicht wahr sein können. Für den Glauben relevant wird die Unterscheidung von Vernunft- und Tatsachen-

 85 Vgl. auch Hornig, Gottfried: Art. Semler, in: TRE 31 (2000), 142–148.  86 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie [1714], Stuttgart 1990, 20 (§33).

1. | Die onto-theo-logische Christologie

wahrheit allerdings dann, wenn sich die Frage nach der Gewissheit der Wahrheit für das menschliche Individuum neu stellt. Die rationalistische Linie, die von Descartes ausgeht, und der Leibniz zugerechnet werden muss, ist der Überzeugung, dass nur analytische Vernunftwahrheiten, die aus einem Prinzip abgeleitet werden können, die geforderte absolute Gewissheit der Wahrheit bieten. Die empiristische Linie, der etwa John Locke und David Hume zugerechnet werden, betrachtet empirische Erkenntnisse, die auf den sinnlichen Erfahrungen des Individuums gründen, als eigentlichen Inhalt des Wissens, das aber auch größtmögliche Gewissheit anstrebt. Bezüglich des Glaubens an Jesus Christus wird diese Unterscheidung insofern einschlägig, als dieser auf kontingenten historischen Ereignissen basiert, zugleich aber als heilsnotwendig angesehen wird. Mit seiner kleinen Schrift Über den Beweis des Geistes und der Kraft erschüttert Lessing die christologischen Selbstverständlichkeiten seiner Zeit nachhaltig, indem er behauptet, dass keinerlei Übergang möglich sei zwischen Historie und Vernunft. Nach Christian Danz sei damit „das Dilemma der modernen Christologie bezeichnet“. Diese Behauptung ist freilich ziemlich überzogen. In sich und in ihrem geistesgeschichtlichen Kontext sind die Gedanken Lessings zunächst in der Tat sehr schlüssig. Vorausgesetzt werden muss, dass eine analytische Vernunfterkenntnis aus Prinzipien möglich ist. Und mehr noch, dass eine entsprechende Erkenntnis a priori generell sachhaltig sein kann – was der Empirismus und auch Immanuel Kant bestreiten werden. Das heißt, dass entsprechende notwendige Vernunftbegriffe auch eine Anschauung bergen und nicht schlechthin „leer“ sind, wie Kant später formulieren wird. Schließlich ist vorausgesetzt, dass eine entsprechende Vernunfterkenntnis mit dem Glauben identisch oder ihm doch äquivalent ist. Für die Haupttraditionen der Patristik und Scholastik freilich wäre ein reiner Begriff Gottes aus bloßer Vernunft stets unzulänglich, weil Gott die Vernunft übersteigt und der Mensch deshalb auf ein gegebenes Wissen angewiesen ist, das freilich immer unsicher ist und der begründeten Zustimmung des Willens bedarf. Die angemessene Gotteserkenntnis bleibt hypothetisch, bedingt und damit nur bis zu einem gewissen Grad aus reiner Vernunft ableitbar. Dort aber, wo die maßgebliche Wahrheit über den Mittler zwischen dem transzendenten Gott und dem immanenten Menschen gefunden wird, muss sich die Vernunft mit kontingenten Geschichtswahrheiten bescheiden, die freilich nicht irrational sein dürfen. Auch der Erweis des Geistes und der Kraft kann die Kluft zwischen Gott und

255

Absolute Gewissheit der Wahrheit

Lessing (1729–1781)

Vernunftund Tatsachenwahrheit

256

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Mensch, aber auch zwischen der sinnlichen Erfahrung des Menschen Jesus und seiner göttlichen Natur nicht einfach überbrücken. In dieser Hinsicht besteht auch nach traditioneller Überzeugung eigentlich kein Unterschied zwischen den Zeitgenossen Jesu und den Gläubigen späterer Jahrhunderte. Auch Zeichen und Wunder können nur den Glauben stützen, ihn aber nicht erzeugen oder gar mit Notwendigkeit beweisen. Die geschichtliche Distanz schwächt die möglicherweise gegebene Erfahrung etwa der Auferstehung. Aber im Grunde steht der Zeitgenosse Jesu auch nur staunend oder ratlos vor dem „leeren Grab“. Lessing fordert nun aber keinen hypothetischen Glauben, sondern analytische Gewissheit. Und diese kann in der Tat in keiner Weise aus der Historie abgeleitet werden. Doch selbst wenn die empirische Karte der Aufklärung gespielt werden soll und wir Erfahrungswissen als Quelle der Wahrheit annehmen wollen, wird es eng, da wir nun zugegebenermaßen nicht selbst Zeugen der Geschehnisse sind, sondern das Jesusereignis nur vom Hörensagen kennen. Es ist „zu menschlichen Zeugnissen von Geist und Kraft herabgesunken“. Lessing: „Daran liegt es: dass Nachrichten von erfüllten Weissagungen nicht erfüllte Weissagungen; dass Nachrichten von Wundern nicht Wunder sind“. Die von Lessing gesuchte metaphysische und moralische Gewissheit der Wahrheit kann auf dem Weg historischer Vermittlung nicht gefunden werden. Alle Aussagen über erfüllte Prophezeiungen, über Wunder Jesu, über seine Auferstehung oder seine Selbstaussagen und sogar noch über die Inspiration der Heiligen Schriften bleiben bloße Behauptungen ohne Gewissheit und Notwendigkeit:

Zitat

„Aber nun mit jener historischen Wahrheit in eine ganz andere Klasse von Wahrheiten herüber springen, und von mir verlangen, daß ich alle meine metaphysischen und moralischen Begriffe danach umbilden soll; mir zumuten, weil ich der Auferstehung Christi kein glaubwürdiges Zeugnis entgegen setzen kann, alle meine Gedanken von dem Wesen der Gottheit darnach abzuändern: wenn das nicht eine metábasis eis állo génos ist, so weiß ich nicht, was Aristoteles sonst unter dieser Benennung verstanden hat. Man sagt freilich: aber eben der Christus, von dem du historisch musst gelten lassen, daß er Tote erweckt, daß er selbst vom Tode erstand, hat es selbst gesagt, daß Gott einen Sohn gleichen Wesens habe, und daß Er dieser Sohn sei.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

Das wäre ganz gut! Wenn nur nicht, daß dieses Christus gesagt, gleichfalls nicht mehr als historisch gewiß wäre. Wollte man mich noch weiter verfolgen und sagen, ’O doch! Das ist mehr als historisch gewiß; denn inspirierte Geschichtsschreiber versichern dies, die nicht irren können‘: so ist auch das, leider, nur historisch gewiß; daß dieser Geschichtsschreiber inspiriert waren, und nicht irren konnten. Das, das ist der garstig breite Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich auch den Sprung versucht habe. Kann mir jemand hinüber helfen, der tu es; ich bitte ihn, ich beschwöre ihn. Er verdient ein Gotteslohn an mir.“87 Wir müssen nicht erst auf Fichte und Hegel warten, um den garstig breiten Graben zwischen sinnlicher und begrifflicher Welt, zwischen Historie und Vernunft zu überbrücken. Vielmehr gibt Lessing selbst schon einen Hinweis darauf, dass das Denken als solches eine Geschichte hat und die Vernunft von geschichtlichen Ereignissen inspiriert sein kann. In seiner erst spät vollendeten Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780) macht Lessing deutlich, dass Offenbarung die Erziehung ist, die dem Menschengeschlecht als solchem zukommt, während Erziehung die Offenbarung ist, die am einzelnen Menschen geschieht.88 Durch die Offenbarung kommt nichts an die Menschen, was sie nicht auch aus sich haben könnten, nur erreichen sie das Ziel durch die Unterstützung der von göttlicher Vorsehung veranstalteten Offenbarung schneller.89 Die Religionsgeschichte wird so zum Teil der Vernunftgeschichte. Zwischen Offenbarung und Vernunft besteht eine Wechselbeziehung, bei der zunächst die Offenbarung die Führung innehat, schließlich aber die Vernunft die Leitung übernimmt.90 Durch das Judentum komme v.a. der Gedanke der Einheit Gottes in die Welt.91 Christus aber sei „der erste zuverlässige, praktische Lehrer der Un-

 87 Lessing, Gotthold Ephraim: Über den Beweis des Geistes und der Kraft (Gotthold Ephraim Lessings sämtliche Schriften 13), hg. v. K. Lachmann, Leipzig 31987, 13.  88 Lessing, Gotthold Ephraim: Die Erziehung des Menschengeschlechts, in: Ders.: Werke VIII, Darmstadt 1996, 489–510, 490, §2.  89 Lessing: Erziehung, 490, §4.  90 Lessing: Erziehung, 498, §36.  91 Lessing: Erziehung, 492, §13.

257

Der garstig breite Graben

Die Erziehung des Menschengeschlechts

Religionsgeschichte Teil der Vernunftgeschichte

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Jesus – „der erste zuverlässige, praktische Lehrer der Unsterblichkeit der Seele.“

sterblichkeit der Seele.“92 Zur Zuverlässigkeit rechnet Lessing nicht nur seine Lehre, sondern auch seine Wunder und seine Auferstehung, jedoch um hinzuzufügen, dass letztere heute nicht mehr beweisbar und für die „Annehmung“ seiner Weisungen auch nicht mehr notwendig sei.93 Praktischer Lehrer sei Jesus, weil er anders als eine philosophische Spekulation nicht auf die theoretische Faktizität der Unsterblichkeit abhebt, sondern „seine innern und äußern Handlungen darnach einzurichten“ lehrt.94 Auch die Frage, ob Jesus mehr denn bloßer Mensch gewesen sei, ist hierfür nicht relevant, kommt es doch auf die sittlichen Handlungen des Menschen als solchen an. Dennoch hält Lessing auch an den so genannten „Geheimnissen“ der christlichen Lehre fest, da sie einen „Richtungsstoß“ für die menschliche Vernunft abgeben können.95 Auch die Lehre von der Dreieinigkeit (§73), der Erbsünde (§74) und der stellvertretenden Genugtuung (§75) treiben die Entwicklung der Vernunft voran. Die Trinitätslehre macht deutlich, dass in Gott selbst ein Reflexionsverhältnis anzunehmen sei. Der Sohn ist das vollkommene Wissen Gottes von allem und von sich selbst. Die Erbsünde lehrt, dass der Mensch auf der ersten und niedrigsten Stufe seiner selbst noch nicht Herr seiner Handlungen war. Durch die Sühne der Sünden im Sohn wird deutlich, dass Gott die Menschen mit Freiheit und Verantwortung begabte, obwohl er die sittlichen Übertretungen damit bereits in Kauf genommen habe. Die Erschaffung des freien Menschen ist nicht nur besser als die Vermeidung der Sünde, vielmehr wird die Sünde „in Rücksicht auf seinen Sohn, d.i. in Rücksicht auf den selbständigen Umfang aller seiner Vollkommenheiten, gegen den und in dem jede Unvollkommenheit des Einzelnen verschwindet“, verziehen.96 In diesem Zusammenhang bleibt seltsam offen, inwiefern Jesu nun mit diesem Sohn Gottes identifiziert werden kann. Wenn nun Lessing einerseits betont, dass Jesus jedenfalls „wahrer Mensch“ gewesen ist, so liegt auf dieser Seite das Gewicht, wenngleich nicht völlig ausgeschlossen ist, dass Jesus mehr als

Der Sohn: das vollkommene Wissen Gottes

 92 Lessing: Erziehung, 502, §58.  93 Lessing: Erziehung, 502, §59.  94 Lessing: Erziehung, 503, §60.  95 Lessing: Erziehung, 503, §63 und 506, §76.  96 Lessing, Erziehung, 506, §75.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

nur Mensch war.97 Doch ist die Gottheit Jesu für Lessing problematisch im Sinne von nicht unmöglich, zugleich aber für den Vernunftglauben nicht notwendig. Lessing bleibt damit innerhalb der Grenzen der aufgeklärten Vernunft bzw. des bloßen Verstandes. Kant, Fichte, Hegel und Schelling werden diese Grenze überschreiten. Dabei entfernen sich vor allem die drei Idealisten von der Christologie der Aufklärung, der Kant noch stark verbunden bleibt. Zwar hebt die subjektive Christologie der Neuzeit im Gegensatz zur objektiven Christologie der patristisch-scholastischen Epoche, die die Gottheit Jesu betont, vor allem die Menschheit Jesu hervor, doch wird tiefer betrachtet die Menschheit ihrerseits mehr und mehr als die andere, negative Seite der Gottheit betrachtet.

259 Gottheit Jesu für Lessing problematisch

1.3.2 Immanuel Kant Bei Immanuel Kant erscheinen die christliche Religion und dann auch die Person Jesus Christus erstmals im Rahmen eines philosophischen Systems der Freiheit. Schon der Gedanke der absoluten Freiheit hat eine maßgeblich christologische Wurzel, da diese im Grunde nur als gottmenschliche Freiheit konzipierbar ist. Die höchste und erste Ursache von Allem, Gott, der seinerseits absolut frei ist, manifestiert sich nun in der Freiheit des menschlichen Individuums. Die Freiheit ist das oberste Prinzip der Epoche. Um das menschliche Individuum als vollkommen frei theoretisch denken zu können, muss Immanuel Kant eine grundstürzende Unterscheidung einführen: Die Basis aller Erkenntnis bleibt zwar die Erfahrung – insofern bleibt Kant dem Empirismus der frühen Neuzeit verbunden. Die faktische Erkenntnis wird aber von den Erkenntnisbedingungen bestimmt. Will sagen, wir erkennen niemals die objektive Welt an sich, sondern nur die subjektive Welt für uns. Der Raum des Bewusstseins beginnt, absolut zu werden.

 97 Gegen Danz: Christologie, 113. Danz interpretiert eine Wendung in Lessings Fragment Die Religion Christi zu eindeutig, wenn er formuliert, dass „es für ihn [sc. Lessing, K.R.] ausgemacht ist, dass der Mann aus Nazareth nichts als ein Mensch war“. Bei Lessing steht: „Ob Christus mehr als Mensch gewesen, das ist ein Problem. Daß er wahrer Mensch gewesen, wenn er überhaupt gewesen; daß er nie aufgehört hat, Mensch zu sein: das ist ausgemacht“ (Werke VII, 711f., §1).

Jesus im Rahmen eines philosophischen Systems der Freiheit

260

Kant – Paulus; Fichte – Johannes; Hegel – Synoptiker

Glaube, Liebe, Hoffnung

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Bevor wir nun die Christologie Kants näher betrachten, können wir noch vorausschicken, dass Kant in besonderer Weise mit dem Grundgedanken des Paulus verbunden ist, während Johann Gottlieb Fichte die johanneische Christologie aufnimmt und Hegel dann von der synoptischen Vorgabe inspiriert ist.98 Kant übersetzt den paulinischen Gedanken des Glaubens in die Sittlichkeit der Gesinnung. Fichte nimmt die differenzierte Einheit von Gott und Logos, wie sie der Johannesprolog vorstellt, als Grundgedanken seiner Wissenschaftslehre. Hegel schließlich weiß die geschichtliche Realität Jesu, wie sie ihre Spur in den synoptischen Evangelien hinterlassen hat, als Ausgangspunkt für seine Darstellung der christlichen Religion. Doch zunächst zu Kant. Schon der Aufbau des Werks Kants lässt an die paulinische Dreiheit von Glaube, Liebe und Hoffnung denken. Mit drei Fragen charakterisiert Kant die Struktur seines Systems. „Was kann ich wissen?“ – Diese Frage wird von der theoretischen Philosophie in der Kritik der reinen Vernunft (1781) beantwortet. Glaube aber ist eine Form des Wissens. Und Kant formuliert in der Vorrede seiner ersten Kritik, er habe das Wissen aufheben müssen, um dem Glauben Platz zu machen. Wir werden noch sehen, was Glaube hier bedeuten kann. „Was soll ich tun?“ – Damit ist die Frage der menschlichen Sittlichkeit angesprochen. Wie das Handeln aus Freiheit zugleich sittlich sein kann, untersucht die Kritik der praktischen Vernunft (1788). Die dritte der großen Kritiken, die Kritik der Urteilskraft (1790), hat zwar die Verbindung von Theorie und Praxis, sinnlicher und moralischer Welt zum Gegenstand und wird vor allem für die Kunst der Epoche wegweisend. Es bleibt aber bezeichnend, dass die dritte Frage Kants lautet: „Was darf ich hoffen?“ Diese Frage beantwortet Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, die 1793 erschienene Religionsschrift Kants, in der Idee und Person Jesu einen zentralen Platz innehaben. Es ist keine Übertreibung, festzustellen, dass die Religion eine letzte Vertiefung der kantischen Philosophie darstellt. Hier werden Fragen beantwortet, die in der reinen theoretischen Vernunft ebenso offen blieben wie in der praktischen und in der Kritik der Urteilskraft. Klar ist aber auch, dass Jesus Christus wie schon bei Lessing unter dem Vorzeichen der Moral in den Blick rückt.

 98 Siehe dazu und zu den jeweiligen christologischen Konzepten Ruhstorfer: Christologie.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

Schon der Gottesgedanke wird für Kant vor allem in praktischer Hinsicht relevant. Eine theoretische Gotteserkenntnis lehnt Kant ab, da Gott nicht wie eine natürliche, sinnliche Realität erfahren werden kann. Dennoch ist Gott eine der drei regulativen Ideen. Der eigentliche Gegenstand der Vernunft sind die Totalitäten: Welt, Seele und Gott. Sie bilden den letzten Horizont aller Erkenntnis, können aber selbst nicht direkt erkannt werden. Diese Kritik der theoretischen Gotteserkenntnis sollte aber nicht zu sehr mit Verben wie „vollständig zerstören“ oder „zerbrechen“ assoziiert werden.99 Vielmehr eröffnet Kant ein neues Paradigma der Gotteserkenntnis, das bestimmte Formen der überkommenen Theologie durchaus ablehnt. Doch ist Kant ja auch noch nicht das Ende neuzeitlicher Onto-theo-logie, sondern erst das Vorspiel für deren Vollendung. Die Realität des Gottesgedankens ergibt sich für Kant jedenfalls aus einem Postulat der praktischen Vernunft. Gott wird als Herr über das Reich der Natur und das Reich der Freiheit vorgestellt. Nur er kann dafür sorgen, dass für den Menschen, der in beiden Sphären heimisch ist, ein Ausgleich zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit bzw. Natur hergestellt wird. Der Mensch vollzieht seine Handlungen immer in der sinnlichen Welt. Die Natur ist aber gegenüber der Sittlichkeit blind. Zwar ist der Mensch auch ohne Gottesgedanken zur Sittlichkeit verpflichtet, doch fordert die praktische Vernunft, dass auch in der sinnlichen Welt die Moral letztlich zur Geltung kommt und dass der sittlich handelnde Mensch glückselig wird, der unsittliche aber nicht. Anders gewendet kann das höchste Gut, das in der Verbindung von Sittlichkeit und Glückseligkeit besteht, nur verwirklicht werden, wenn die Existenz Gottes angenommen wird. In der Kritik der praktischen Vernunft postuliert Kant ebenfalls eine unsterbliche Seele, die in einem unendlichen Prozess der Vollendung entgegenstrebt. Wie bei Lessing scheint eine Art Wiedergeburt notwendig zu sein. Erst in seiner Religionsschrift kann er durch seine Reflexion auf Jesus Christus eine Vollendung auch des einen individuellen Lebens konzipieren. Zunächst ist Religion für Kant bestimmt als „die Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“.100 Nichts anderes als die Idee der Freiheit manifestiert Gott in uns. Denn, wie Kant in sei-

 99 Nicht ganz falsch, aber sehr missverständlich Danz: Christologie, 116. 100 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, AA V, 128 und Ders.: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 153 und 192.

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Der moralische Herr der Natur

Religion als Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Das radicale Böse

nem Spätwerk deutlich macht: „Diese Idee ist das Gefühl der Gegenwart der Gottheit im Menschen.“101 Die Realität des Menschen aber ist zunächst von Gottferne gekennzeichnet, weshalb Kant seine Religionsschrift mit Überlegungen „über das radicale Böse in der menschlichen Natur“ beginnen lässt. Mit Paulus macht der Philosoph deutlich: „Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder – es ist Keiner, der gutes thue (nach dem Geiste des Gesetzes), auch nicht einer [Röm 3,23]“.102 Die Anlage der Religionsschrift ist von der paulinischen Entgegensetzung des alten und des neuen Adam geprägt (vgl. Röm 5). Der neue Adam ist auch bei Kant kein anderer als Jesus Christus, auch wenn er dessen Namen nur äußerst selten nennt. Ihm kommt es nicht auf die historische Wahrheit Jesu an, sondern auf das „Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit“. Doch dieses Ideal können wir uns nicht anders denken als Zitat

„unter der Idee eines Menschen, der nicht allein alle Menschenpflicht selbst auszuüben, zugleich auch durch Lehre und Beispiel das Gute in größtmöglichem Umfange um sich auszubreiten, sondern auch, obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen und selbst für seine Feinde zu übernehmen bereitwillig wäre.“103

Jesus als personificierte Idee des guten Princips

Mit Anklängen an das Johannesevangelium (1,1–3; 1,12; 3,16), den Epheserbrief (3,9) und den Hebräerbrief (1,3) führt Kant die „personificierte Idee des guten Princips“ ein: Zitat

„Dieser allein Gott wohlgefällige Mensch ‚ist in ihm von Ewigkeit her‘; die Idee desselben geht von seinem Wesen aus; er ist sofern kein erschaffenes Ding, sondern sein eingeborner Sohn, ‚das Wort

101 Kant, Immanuel: Opus postumum, AA XXII, 108. 102 Kant: Religion, VI, 29. 103 Kant: Religion VI, 61.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

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(das Werde!), durch welches alle andre Dinge sind, und ohne das nichts existirt, was gemacht ist‘ (denn um seinet-, d.i. des vernünftigen Wesens in der Welt, willen, so wie es seiner moralischen Bestimmung nach gedacht werden kann, ist alles gemacht). – ‚Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit.’  – ­‚In ihm hat Gott die Welt geliebt‘, und nur in ihm und durch Annehmung seiner Gesinnungen können wir hoffen ‚Kinder Gottes zu werden‘; u.s.w.“104 Die Christologie beginnt bei Kant also nicht mit der historischen und damit auch anthropologischen Seite, sondern mit der Idee des einzigen Sohnes des Vaters. Dieser ist Urbild der Menschheit und Zweck der Schöpfung zugleich. Kant scheint also zunächst von der präexistenten und mithin göttlichen Dimension des Sohnes zu sprechen. Zugleich aber ist deutlich, dass hier von nichts anderem als von der „Menschheit […] in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit“ die Rede ist. Zunächst scheint die Vernunft nichts anderes zu glauben als die Realität dieser Idee in ihr selbst; weshalb es denn auch keines Beispiels der Erfahrung bedarf.105 Mit äußerster Verhaltenheit, im Konjunktiv, spricht Kant dann dennoch davon, dass ein „solcher wahrhaftig göttlich gesinnter Mensch zu einer gewissen Zeit gleichsam vom Himmel auf die Erde herabgekommen“ sein könnte und durch sein sittliches Vorbild eine „Revolution im Menschengeschlecht“ hervorgebracht haben könnte.106 Die Bibel bezeugt nun diese „Revolution“ in der Geschichte, durch welche Sittlichkeit und Freiheit zum Durchbruch kamen.107 Kant unterscheidet streng zwischen Geschichtsreligion und Vernunftreligion bzw. Kirchenglaube und Vernunftglaube. Ersterer hat historisch kontingente Ereignisse, die in heiligen Schriften überliefert werden, zum Gegenstand, der zweitere ist Sache der bloßen Vernunft und der Sittlichkeit. Wie Lessing lässt Kant keinen Zweifel daran, dass der Fortschritt der Geschichte den Vernunftglauben mehr und mehr an die Stelle des Geschichtsglaubens treten lässt. Das ganze dritte Stück der Religionsschrift handelt vom „Sieg des guten Princips über das böse und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden.“ Doch ist die

104 Kant: Religion, VI, 60. 105 Kant: Religion, VI, 62. 106 Vgl. Kant: Religion, VI, 63 und 84. 107 Kant: Religion, VI, 80.

Inkarnation und Revolution

Übergang von Geschichtsreligion zur Vernunftreligion

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

vollkommene Ablösung des Offenbarungsglaubens erst für den Moment anzunehmen, wenn „Gott alles in allem ist“ (1Kor 15,28).108 So sehr wir jetzt schon an der Ankunft des Gottesreichs arbeiten müssen, so sehr Kant den statuarischen Kirchenglauben in seine  – von der Vernunft vorgezeichneten  – Schranken verweist, so sehr bleibt die Menschheit auf die geschichtliche Offenbarung angewiesen. In seinem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 30.08.1789 (AA XI, 76) beschreibt Kant die historische Realität sogar als Bedingung der Möglichkeit für die Heilsgeschichte, die für Kant eine Geschichte der Realisierung der – göttlichen – Vernunft ist: Zitat

„Denn man kann eben sowohl einräumen, daß, wenn das Evangelium die allgemeinen sittlichen Gesetze in ihrer ganzen Reinigkeit nicht vorher gelehrt hätte, die Vernunft bis jetzt sie nicht in solcher Vollkommenheit würde eingesehen haben, obgleich, da sie einmal da sind, man einen jeden von ihrer Richtigkeit u. Gültigkeit (anjetzt) durch die bloße Vernunft überzeugen kann.“109

Kant vergleicht den Übergang vom Kirchenglauben zum Vernunftglauben mit der Ablösung des Gesetzes durch den Glauben bei Paulus und mehr noch mit der Ablösung des Glaubens durch die Schau, wie Paulus sie im 1. Korintherbrief 13,9–13 vorstellt.110 Der zeitgenössische Hintergrund der Transformation der Welt ist freilich ein ganz anderer. Kant spricht immer wieder von der „Revolution“, die notwendig sei. Damit ist an die französische Revolution zu denken, die Kant Zeit seines Lebens bewunderte. Jesus erscheint nun als der weltgeschichtliche Revolutionär par excellence.111

108 Kant: Religion, VI, 135 und 121. 109 Zum Ganzen auch Winter, Aloysius: Kann man Kants Philosophie ‚christlich‘ nennen?, in: Fischer, Norbert (Hg.): Kant und der Katholizismus. Stationen einer wechselhaften Geschichte, Freiburg 2005, 33–56. 110 Z.B. Kant: Religion, VI, 122. 111 Kant: Religion, VI, 47f.

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Der „Lehrer des Evangeliums“ verkündigte nach Kant den reinen Vernunftglauben.112 Ihn müssen wir vornehmlich als natürlich gezeugten Menschen annehmen. Kant schließt die übernatürliche Zeugung nicht absolut aus, hält diesen Gedanken allerdings für moralisch nicht zuträglich, da es auf die Realisierung der göttlichen Idee im menschlichen Individuum ankommt, wobei die Realität der göttlichen Idee der Vollkommenheit bereits in jedem Menschen, genauer in der Vernunft gegeben ist.113 Dieses praktische Streben kann Kant auch als göttliche Liebe bezeichnen und dabei den Satz „Gott ist die Liebe“ trinitarisch interpretieren.114 Die Liebe freilich wird als „moralische Vollkommenheit“ interpretiert, die für „endliche Geschöpfe“ niemals vollkommen erreichbar ist.115 Lediglich, wenn die Realität der Idee in uns gewissermaßen stellvertretend für die konkreten Handlungen genommen wird, besteht die Möglichkeit menschlicher Vollendung. Doch wird auch dadurch nicht die bisherige Schuld, sein Ausgang vom radikal Bösen getilgt. Zwar behauptet Kant einerseits, dass die allerpersönlichste Schuld niemals „transmissibel“ sei, also von keinem anderen Menschen getragen werden könne,116 doch insofern der bekehrte, moralische, neue Mensch die Gesinnung des Sohnes Gottes in sich aufgenommen hat, trägt Zitat

„(wenn wir diese Idee personificiren) dieser selbst […] für ihn und so auch für alle, die an ihn (praktisch) glauben, als Stellvertreter die Sündenschuld, thut durch Leiden und Tod der höchsten Gerechtigkeit als Erlöser genug und macht als Sachverwalter, dass sie

112 Kant: Religion, VI, 128f. 113 Kant: Religion, VI, 63. 114 Kant: Religion, VI, 145: „[…] in ihm kann man den Liebenden (mit der Liebe des moralischen Wohlgefallens an Menschen, so fern sie seinem heiligen Gesetze adäquat sind), den Vater; ferner in ihm, so fern er sich in seiner alles erhaltenden Idee, dem von ihm selbst gezeugten und geliebten Urbilde der Menschheit darstellt, seinen Sohn; endlich auch, so fern er dieses Wohlgefallen auf die Bedingung der Übereinstimmung der Menschen mit der Bedingung jener Liebe des Wohlgefallens einschränkt und dadurch als auf Weisheit gegründete Liebe beweist, den heiligen Geist verehren“. Vgl. auch ebd. 141f. Die Trinität bezeichnet hier drei spezifisch verschiedene moralische Qualitäten Gottes. Auch die politische Gewaltenteilung wird als trinitarische Manifestation gedeutet, ebd. 140. 115 Kant: Religion, VI, 145. 116 Kant: Religion, VI, 72.

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Jesus als Verkündiger des Vernunftglaubens

Stellvertretender Sühnetod?

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

hoffen können, vor ihrem Richter als gerechtfertigt zu erscheinen, nur dass (in dieser Vorstellungsart) jenes Leiden, was der neue Mensch, indem er dem alten abstirbt, im Leben fortwährend übernehmen muss, an dem Repräsentanten der Menschheit als ein für allemal erlittener Tod vorgestellt wird.“117

Freiheit und Gnade

Der Gottmensch

Kant spricht hier ausdrücklich davon, dass dem Menschen hier ein Verdienst aus Gnaden zugerechnet wird. So sehr es auf die sittliche Gesinnung und die Idee des Gottessohnes ankommt, so sehr bleibt diese Idee geschichtlich rückgebunden. Zunächst müssen wir festhalten, dass diese geschichtliche Gestalt Jesu ihrerseits als die Idee der Vollkommenheit vorgestellt wird und mithin als göttlich angesehen werden kann, weshalb Kant durchaus auch vom „Gottmenschen“ spricht.118 Diese Wendung erscheint im Kontext der Erörterung der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Gnade, denn der „seligmachende Glaube“ bezieht sich sowohl auf die sittliche Handlung des Menschen als auch auf das Wirken Gottes im Prozess der Rechtfertigung. Kant eröffnet hier eine Disjunktion oder Dialektik, die „das ganze Spekulationsvermögen unserer Vernunft“ übersteigt.119 Einerseits wird meine freie Tat der Gnade Gottes vorhergehen müssen, da nur so sittliche Verantwortung möglich ist. Andererseits muss angesichts der Verderbtheit des Menschen und der Schwäche seiner Vermögen „der Glaube an ein Verdienst, das nicht das seinige ist, und wodurch er mit Gott versöhnt wird, vor aller Bestrebung zu guten Werken vorhergehen.“120 Praktisch muss ich immer den Primat der Freiheit annehmen, doch theoretisch bleibt die Gemeinschaft oder Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch undurchschaubar. In der Auflösung dieser „Antinomie“ spricht Kant vom „Gottmenschen“. Die göttliche Seite an der historischen Person Jesu ist nicht eigentlich empirisch wahrnehmbar, sondern wird ihm unterlegt, nach Sätzen der Wahrscheinlichkeit. Der eigentliche Inhalt des Glaubens aber ist die Gegenwart der göttlichen Idee im Menschen selbst. Zwischen Empirie und Rationalität, Geschichtswahrheit und Vernunftwahrheit besteht also kein eigentlicher Dissens. Vielmehr sind

117 118 119 120

Kant: Religion, VI, 74. Kant: Religion, VI, 119. Kant: Religion, VI, 118. Kant: Religion, VI, 117.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

es zwei Weisen, die eine Wahrheit zu betrachten, dass die „personificierte Idee des guten Princips“ im Menschen gegenwärtig ist. Wenn ich alle meine Vermögen anwende, kann ich darauf hoffen, dass Gott den Mangel meiner Tat gewissermaßen stellvertretend ergänzt. Für mich kommt es auf meine Freiheit an. An sich bleiben die Frage der Berufung, der Genugtuung und der Erwählung unerreichbare Geheimnisse.121 Ohne Zweifel ist Kants Christologie dem Rationalismus und dem Moralismus der Aufklärung verhaftet. Die historische Dimension des Lebens Jesu wird deutlich unterbewertet. Doch ist dies nicht einem vorgeblich in der Aufklärung anhebenden Unglauben und nicht nur einer methodischen Entscheidung geschuldet, sondern der erwähnten paulinischen Prägung Kants. Auch bei Paulus spielt das Leben Jesu keine Rolle. Alle Reflexion ist auf den Glauben an Tod und Auferstehung gesammelt. Gott bewirkt, dass der Sünder ein neuer Mensch wird. Diesen Gedanken konzipiert Kant vor dem Horizont neuzeitlicher Freiheit in origineller Weise. Dabei kommt es zu einer gewissen Engführung, die der Fülle des chalcedonischen Gedankens nicht gerecht wird. Jesus Christus erscheint ausschließlich als Idee moralischer Vollkommenheit. Allerdings wäre es falsch, hier eine Auflösung der altkirchlichen Christologie zu sehen.122 Vielmehr leistet Kant eine epochale Neuinterpretation, die ihrerseits für alle weitere christologische Reflexion wegweisend wird. Die Theologen und Philosophen nach Kant bleiben zwar dessen Vorgabe verpflichtet, wenden sich aber nach und nach von der moralischen Engführung in Sachen Religion ab. In der Frühromantik wird die Frage nach dem Unendlichen und dessen Verhältnis zum Endlichen wieder relevant. In gewisser Weise wirkt dabei aber die disjunktive Trennung von Glaube und Vernunft nach, so dass wir einerseits eine theologische und andererseits eine philosophische Christologie haben. Hierbei erhält sich auch der „Streit der Fakultäten“ – Theologie und Philosophie – über die Frage, ob Religion bzw. Glaube oder Wissenschaft bzw. Vernunft die maßgebliche Annäherung an Jesus Christus leisten. Für die religiöse Schiene soll die Christologie Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers (1768–1834) in den Blick rücken, für die philosophische Betrachtung Jesu werden wir uns Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) zuwenden. Die beiden Gene-

121 Kant: Religion, VI, 142f. 122 So Danz: Christologie, 118.

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Engführungen

Eine epochale Neuinterpretation Christi

268

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

rationsgenossen waren tatsächlich als Vertreter ihrer jeweiligen Disziplin Konkurrenten an der Universität zu Berlin. Es ist hier schon anzumerken, dass den beiden Berliner Professoren gerade in unseren Tagen im Kontext der Renaissance des Panentheismus und des Idealismus eine unerwartete Aktualität zukommt. 1.3.3 Friedrich Schleiermacher 1799 erscheint in Berlin anonym das programmatische Buch Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Darin wird in neuer Weise ein prinzipielles Eigenrecht der Religion behauptet. Schleiermacher betont, dass die Religion

Zitat

„aus dem Inneren jeder bessern Seele notwendig von selbst entspringt, daß ihr eine eigene Provinz im Gemüte angehört, in welcher sie unumschränkt herrscht, daß sie es würdig ist, durch ihre innerste Kraft die Edelsten und Vortrefflichsten zu bewegen und von ihrem innersten Wesen nach gekannt zu werden“ (37/26).

Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche

Worin besteht nun die Besonderheit der Religion gegenüber der Moral, aber auch gegenüber der Kunst und der Philosophie? „Praxis ist Kunst, Spekulation ist Wissenschaft, Religion ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche“ (53/36). Der Gegenstand der Religion kann als die mit Spinoza gedachte Natur oder als das neuplatonische Eine begriffen werden. Schleiermacher spricht auch vom Universum: „Anschauen des Universums […] ist der Angel meiner ganzen Rede, er ist die allgemeinste und höchste Formel der Religion“ (55/38). Entscheidend ist zu sehen, dass sich das Universum im Individuum in ununterbrochener Tätigkeit offenbart und dass alles Beschränkte als eine Darstellung des Ganzen aufgefasst werden kann (56/39). Diese panentheistische Intuition lässt alles in Einem und Eines in Allem sein (64/44). Einerseits wirkt der Weltgeist in Allem und Jedem, andererseits realisiert sich menschliche Freiheit in der Religion (107/72).123 Die Wech-

123 Siehe auch Schleiermacher, Friedrich: Der christliche Glaube 1821/1822, Studienausgabe Bd. 1, Berlin/New York 1984, 134, §36.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

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selwirkung zwischen Gott und dem Menschen wird aber nicht in der Vernunft reflektiert, sondern im Gefühl erlebt. Dabei kommt die Frömmigkeit zu neuem, prinzipiellem Ansehen. Zitat

„Das Wesen der Frömmigkeit ist dieses, dass wir unserer selbst als schlechthin abhängig bewusst sind, das heißt, dass wir uns abhängig fühlen von Gott.“124

Gegen Kant und gegen Hegel wird Schleiermacher immer wieder die Bedeutung des Gefühls hervorheben und damit eine Erneuerung des reformatorischen Glaubensverständnisses leisten. Allein die Frömmigkeit und das Gefühl verbinden mit Gott. Allein die Einsicht in die radikale Abhängigkeit vom unendlichen Gott ist der Inhalt des religiösen Selbstbewusstseins. Schleiermacher bleibt aber darin Kant verpflichtet, dass er zur Gottheit keinen vom Subjekt unabhängigen, objektiven Zugang annimmt, weshalb die Vorstellung eines persönlichen Gottes als mit Freiheit und Verstand ausgezeichnetem Geist des Universums an Relevanz verliert. Die Gottheit ist nichts anderes als „eine einzelne religiöse Anschauungsart“ (124/83). Es wäre sogar eine Religion ohne Gott denkbar, denn „Religion haben heißt, das Universum anschauen“ (126/84). Auch das Universum wird meist nicht als persönlicher Gott vorgestellt. Inwiefern freilich hier konsequent gedacht ist, bleibt eine offene Frage, denn andererseits definiert Schleiermacher das Ziel der Religion als „den Weltgeist zu lieben und freudig seinem Wirken zuzuschauen“ (54), was Gott wiederum als selbstbewusstes Aktzentrum voraussetzt. Schleiermacher nähert sich in seiner späten Glaubenslehre wieder dem Gedanken des Daseins eines persönlichen Gottes an, das sich allerdings einzig aus dem Abhängigkeitsgefühl, nicht aber von irgendeinem Gottesbeweis ableiten lässt.125 Auch die Vorstellung von Schöpfung und Erhaltung der Welt oder den Wesenseigenschaften Gottes werden nicht objektiv „dogmatisch“, sondern subjektiv aus dem menschlichen Gefühl der Abhängigkeit entwickelt.

124 Schleiermacher: Der christliche Glaube 1821/1822, Bd. 1, 31, §9. 125 Schleiermacher: Der christliche Glaube 1821/1822, Bd. 1, 127, §28.

Frömmigkeit als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit

Gott als religiöse Anschauungsart?

270

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Subjektive Offenbarung

Jesus als religiöser Virtuose

Die Religion Jesu

Zurück zu Schleiermachers Frühwerk. Schon hier verliert auch der Gedanke einer objektiven Offenbarung in der Heiligen Schrift sein Gewicht. Religion kommt nur zustande, wenn im Inneren des Individuums „eigene Offenbarungen aufsteigen“ (120/80). Zwar bedürfen die meisten Menschen eines Mittlers und Anführers, der ihren Sinn für Religion aus dem ersten Schlummer weckt, doch darf die Frömmigkeit keinesfalls ganz von Anderen bzw. von „einer toten Schrift“ abgeleitet werden. Denn „jede heilige Schrift ist nur ein Mausoleum der Religion, ein Denkmal, dass ein großer Geist da war, der nicht mehr da ist“ (122f./81). Jesus Christus bleibt bei Schleiermacher ein „großer Geist“, der da war und der seine erweckende Wirkung hinterlassen hat. In Umdeutung paulinischer Theologie und traditioneller Dogmatik geht der Vorstellung Jesu das Sündenbewusstsein voraus. Die Menschen stehen seit je in der Spannung von offenbarender Kraft des Universums und der Neigung, die Gegenwart des Unendlichen abzublenden und so das „Ebenbild des Unendlichen in jedem Teil der endlichen Natur“ verlöschen zu lassen (292/194). Religion als das Gefühl, dass Alles vom Einen erfüllt ist, hat nun aber keinen anderen Zweck als erfahren zu lassen, dass nichts „schlechthin entgegengesetzt“ zur Religiosität sein kann und soll, „von allem sollen wir aufs Unendliche sehen“ (ebd). Um an Ignatius von Loyola zu erinnern, geht es darum, Gott in allen Dingen zu suchen und zu finden. Die radikale Beziehung aller Weltwirklichkeit auf das Unendliche gilt als das „eigentliche und höchste Ziel der Virtuosität im Christentum“ und damit als die Quelle der „heiligen Wehmut“ (299/199). Eben diese Empfindung herrscht auch im Stifter des Christentums: Jesus. Weil das Ebenbild des Unendlichen im Endlichen zu verlöschen droht, werden immer erhabenere Mittler nötig. Immer inniger vereint das Universum in jedem späteren Gesandten die Gottheit mit der Menschheit (293/195). Jesus aber ist der Höhepunkt dieser Selbstmitteilung des Absoluten, genauer: Die Religion Jesu ist die Vollendung der Religion. Dies lassen sogar „die verstümmelten Schilderungen seines Lebens“ erkennen (301/200). Nicht auf die Reinigkeit seiner Sittenlehre, nicht auf die Eigentümlichkeit seines Charakters kommt es an:

1. | Die onto-theo-logische Christologie

271

Zitat

„Alles sind nur menschliche Dinge: aber das wahrhaft Göttliche ist die herrliche Klarheit, zu welche die große Idee, welche darzustellen er gekommen war, die Idee, dass alles Endliche höherer Vermittlung bedarf, mit der Gottheit zusammen zu hängen, sich in einer Seele ausbildete“ (301/200).

In diesem Kontext findet Schleiermacher auch zu einer Reformulierung der chalcedonischen Zweinaturenlehre. Das Vermittelnde zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit muss beiden Sphären angehören, „es muss der göttlichen Natur teilhaftig sein ebenso in eben dem Sinne, in welchem es der endlichen teilhaftig ist“. Freilich kommt es Schleiermacher hier nicht auf substanzontologische Aussagen an, sondern auf sein vollendetes religiöses Gefühl, seine Frömmigkeit, sein Bewusstsein, besser Selbstbewusstsein:

Jesus Bewusstsein seiner Gottheit

Zitat

„Dieses Bewusstsein von der Einzigkeit seiner Religiosität, von der Ursprünglichkeit seiner Ansicht und von der Kraft derselben, sich mitzuteilen und Religion aufzuregen, war zugleich das Bewusstsein seines Mittleramtes und seiner Gottheit“ (302f./201).

Zwar erscheint Jesus hier als die „herrlichste Apotheose, und keine Gottheit kann gewisser sein als die, welche sich so selbst setzt“, dennoch gilt zugleich, dass das Selbstbewusstsein Jesu prinzipiell nicht anders ist als in jedem vollendeten religiösen Virtuosen. Damit erhält sich der Grundzug der Christologie, den wir schon bei Kant beobachten konnten, dass Jesus der Mensch in Vollendung ist, der eben deshalb und dadurch auch als göttlich anzusehen ist. Die Faktizität und die Geltung der Gottheit Jesu ergeben sich nicht durch objektive Zeichen und Wunder, nicht durch Schriftbeweis und spekulative Argumentation, sondern durch das Erfassen der gottmenschlichen Wirklichkeit im Individuum. Weil ich in mir die Gottheit – bei Schleiermacher nun – fühle, ist der Gedanke des Gottmenschen plausibel. Gerade deshalb darf Jesu einzigartige Vollkommenheit nicht in transzendente Höhen entrückt werden, vielmehr muss sie für uns erreichbar bleiben, will sie die epochal maßgebliche Wechselwirkung oder Gemeinschaft von

Jesus als der Mensch in Vollendung

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Der Geist Jesu

Gott und Mensch stiften. So kann Schleiermacher Jesus durchaus als Mittler für viele, als Stifter der Kirche oder bescheidener als Gründer einer „großen Schule“ ansehen und ihn dennoch einreihen in ein gottmenschliches Kontinuum. Es geht nicht um Jesus als objektive Gegebenheit, sondern um den Geist Jesu als subjektive Setzung, den Schleiermacher als Gefühl für Religion deutet.

Zitat

„Aber nie hat er behauptet, das einzige Objekt der Anwendung seiner Idee, der einzige Mittler zu sein und nie hat er seine Schule verwechselt mit seiner Religion – er mochte es dulden, dass man seine Mittlerwürde dahingestellt sein ließ, wenn nur der Geist, das Prinzip woraus sich seine Religion in und an anderen entwickelte, nicht gelästert ward  –, und auch von seinen Jüngern war diese Verwechslung fern“ (304/202).

Urbild der Frömmigkeit

Abbild in der Geschichte

Fortbestimmung von Chalcedon

Wenn Schleiermacher später in seinen großen Dogmatiken seine Auffassung von Jesus Christus mit der kirchlichen Tradition zu vermitteln versucht, so bleibt er dennoch seiner Grundintuition treu. Jesus Christus ist das Urbild der Frömmigkeit. In ihm ist das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit als Idee vorgezeichnet und zugleich historisch als Phänomen greifbar realisiert. Jesus erscheint als ideales Urbild und zugleich als reales Abbild in der Geschichte. Aber auch diese doppelte Charakterisierung ist letztlich nichts anderes als eine Reformulierung der chalcedonischen Rede von göttlicher und menschlicher Natur, die in Jesus ungetrennt und unvermischt vorliegen. Zwar hat sich der Konstruktionspunkt der Christologie von der objektiven auf die subjektive Seite verlagert, auch die Menschlichkeit Jesu findet eine neuartige Betonung, dennoch handelt es sich hier keineswegs um die Auflösung des altkirchlichen Dogmas, sondern um dessen Fortbestimmung im Horizont der Neuzeit und damit auf dem Boden disjunktiver bzw. dialektischer Logik mit der epochalen Zentrierung Gottes in uns. 1.3.4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel Während Schleiermacher für eine Christologie der Frömmigkeit und des Glaubens steht, finden wir bei Hegel eine Christologie der Vernunft und des Wissens. Erinnern wir uns: Immanuel Kant voll-

1. | Die onto-theo-logische Christologie

zog die „kopernikanische Wende“ der neuzeitlichen Denkgeschichte. Wie sich die Sonne in Wahrheit nicht um die Erde dreht, so dreht sich das Subjekt gleichsam nicht um das Objekt; nicht die Realität des „Dings an sich“ steht im Zentrum, sondern das transzendentale „Ich“. Welt (Natur), Seele (Ich) und Gott bilden die drei konstitutiven Ideen der Vernunft. Damit eröffnet Kant eine neue Dynamik des Denkens, in deren Zentrum auch die Fragen nach Religion, Offenbarung und Jesus Christus stehen. Kants System hat seinen tiefsten Punkt in den Spekulationen über die Religion. Wie schon in der Kritik der Urteilskraft geht es darum, die vereinende Mitte zwischen Theorie und Praxis, Passivität und Aktivität, Natur und Sittlichkeit, Objektivität und Subjektivität zu finden. Kants Philosophie inspirierte auch den so genannten Deutschen Idealismus. Die „Idee“ oder der göttliche „Logos“ wird hier als die eine allumfassende Realität gedacht. Im unmittelbaren Anschluss an die Problemstellung Kants verfasste der junge Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) seine Erstlingsschrift Kritik aller Offenbarung (1792). Dieses Buch wurde zunächst für die lange ersehnte Religionsschrift Kants gehalten. Fichte nennt sein systematisches Hauptwerk Wissenschaftslehre. Darin geht er insofern über Kant hinaus, als auch noch die vom Subjekt zunächst unabhängige Vorgabe der Welt „an sich“ als eine Setzung des „Ich“ erscheint. Das „Ich“ und das „Nicht-Ich“, wie Fichte die mit Kant gedachte Außenwelt nennt, befinden sich in Wechselwirkung. Damit wird jede Vorstellung einer unabhängigen äußeren Vorgabe getilgt und die Freiheit des „Ich“ absolut. Religiös formuliert können wir vorläufig sagen: Das „Ich“ ist das Göttliche im Menschen. Dieses Prinzip des subjektiven Idealismus ist engstens verbunden mit den Gedanken des Johannesprologs, wo Gott über die Mitte des Logos schließlich zur Welt kommt. Jesus ist der Gottmensch bzw. der inkarnierte Logos, der mit Gott eine Differenzeinheit bildet. Fichte lässt keinen Zweifel daran, dass in der äußeren Historie dieser Gedanke der absoluten Freiheit erstmals mit Jesus von Nazaret auftritt. Fichte kann Jesus, Luther und Kant die drei „heiligen Schutzgeister der Freiheit“ nennen.126 Während Fichte das Absolute und das menschliche Bewusstsein in ein disjunktives Verhältnis bringt, verlagert Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854) den Schwerpunkt auf die

126 Fichte, Johann Gottlieb: Beiträge zur Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution, in: Fichtes Werke 6, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1971, 37–288, 104f.

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Die kopernikanische Wende und die Suche nach der letzten Einheit

Fichte: die Offenbarung und das Ich

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Schelling: die Offenbarung und die Natur

Hegel: Aufhebung des subjektiven und objektiven Idealismus in den absoluten

Einheit von göttlicher und menschlicher Natur … … als Fortschreibung von Chalcedon

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

objektive Seite und mithin auf die natürliche Ordnung der Dinge. Gott, das Absolute, die Identität erscheint als die Einheit der Natur, allerdings ebenfalls idealistisch und so freiheitstheoretisch gewendet. Vor allem der späte Schelling wird der geschichtlichen Offenbarung wieder zu neuem Ansehen verhelfen. Dabei markiert gerade sein Spätwerk das Auslaufen des Deutschen Idealismus und damit auch aller onto-theo-logischen Christologie.127 Der alte Schelling wird von seinen Zeitgenossen bereits als jemand wahrgenommen, dessen Zeit vorüber ist: ein lebendiger Anachronismus. Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) gewinnt seine Position, indem er die Differenz von Schelling und Fichte aufnimmt und dabei in den absoluten Idealismus aufhebt. Hegel tritt als eigenständiger Denker mit der so genannten Differenzschrift (1801) auf, in der er den subjektiven und den objektiven Idealismus versöhnt. Das Ich realisiert sich in der Natur und die Natur im Ich. Diese Differenzeinheit von Geist und Materie, Innerlichkeit und Äußerlichkeit ist allerdings christologisch begründet. Bei Hegel vollendet sich die Dynamik der neuzeitlichen Philosophie und darüber hinaus der onto-theo-logischen Denkart überhaupt. Mit dem Chalcedonense lässt sich sagen, dass bei Hegel göttliche und menschliche Natur in letzter Konsequenz in Eins gesetzt werden.128 Nicht schlechthin und nicht undifferenziert, wohl aber als die Einheit von Unterschiedenem, als Identität von Identität und Differenz. Mit diesen Begriffen deutet Hegel einerseits das trinitarische Grunddogma der inneren Differenz des einen Gottes und den christologischen Grundgedanken, dass in Jesus Gottheit und Menschheit untrennbar und mithin identisch sowie unvermischbar und mithin different gesetzt werden.129 Diese prinzipiell christliche und mehr noch christologische Fundierung seiner Philosophie zeigt sich schon daran,

127 Dazu Danz, Christian: Die philosophische Christologie F.W.J. Schellings, Stuttgart/Bad Cannstatt 1996. 128 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (Werke Bd. 3), Frankfurt 1986, 553: „Dies – seinem Begriffe nach das Offenbare zu sein – ist also die wahre Gestalt des Geistes, und diese seine Gestalt, der Begriff, ist ebenso allein sein Wesen und Substanz. Er wird gewußt als Selbstbewußtsein und ist diesem unmittelbar offenbar, denn er ist dieses selbst; die göttliche Natur ist dasselbe, was die menschliche ist, und diese Einheit ist es, die angeschaut wird.“ 129 Eine ausführliche Darstellung der Christologie Hegels in: Ruhstorfer: Christologie, 135–150.

1. | Die onto-theo-logische Christologie

dass Hegel, der zusammen mit Schelling in Tübingen Theologie studierte, seinen Denkweg mit Reflexionen über Jesus von Nazaret beginnt.130 Auch Hegel löst sich dabei schnell von der Kantischen Transzendentalphilosophie und ihrer moralischen Grundierung. Hegel stellt in neuer Weise die Frage nach dem Absoluten. Der revolutionäre Grundgedanke besteht darin, dass das Absolute selbst relativ, der Ewige selbst zeitlich, das Sein selbst geschichtlich, das Allgemeine selbst das Einzelne ist. Hegel dynamisiert den Gottesgedanken auf der Basis der Vorstellung von der Menschwerdung Gottes. Es gilt: „Die Gestalt Jesu gewinnt ja in Hegels Werk eine Bedeutung wie in wenig anderen Philosophien.“131 Doch ist zu sehen, dass Jesus Christus und die Religion überhaupt nicht den innersten oder höchsten Punkt seines Systems ausmachen, sondern die dritte göttliche Person, der Geist. Erst mit dem Geist realisiert sich die gottmenschliche Differenzeinheit im Individuum. Der Geist ist die eigentliche Sache Hegels. Hegels erstes Hauptwerk trägt den Titel Phänomenologie des Geistes. Schon der Titel macht deutlich, dass der Geist, die ideelle Realität, die eigentlich unwandelbar ist, hier in phänomenaler Wirklichkeit und damit in einer Dynamik angenommen wird. Die Phänomenologie erzählt die Bildungsgeschichte des Selbstbewusstseins bzw. die Geschichte, wie der Geist zu sich kommt. Der Geist entwickelt sich ausgehend von der sinnlichen Wahrnehmung und der Überzeugung, dass die äußere Welt die wahre Welt ist bis hin zum Geist und seinen Gestalten der Sittlichkeit der Bildung und der Moralität. Doch darüber hinaus reichen die Reflexionen des Geistes in Religion und Philosophie. Hegel kritisiert in der Phänomenologie scharf die Einseitigkeiten der Aufklärung und ihrer Verstandeslogik, die nur endliche Begriffe gegeneinander fixiert. Aber auch Schleiermachers Gefühlsreligion wird abgelehnt, weil sie sich der Trübheit der Unvernunft übereigne, die lediglich nach dem „unbestimmten Genusse dieser unbestimmten Göttlichkeit“ strebe (13/9). Schellings Gottesbegriff als absolute Identität (A=A) wird schließlich als die Nacht an Erkenntnis betrachtet, in der „alle Kühe schwarz sind“ (17/13).

130 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Theologische Jugendschriften, hg. v. H. Nohl, Tübingen 1907; Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Frühe Schriften (Werke Bd. 1), Frankfurt 1990. 131 Jaeschke, Walter: Vernunft in Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart/Bad Cannstatt 1986, 326.

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Der Geist Jesu

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Phänomenologie des Geistes

Philosophie der Religion

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Nach Hegel kommt es darauf an, Gott mit Bestimmtheit und das heißt mit Unterschied zu denken. Seine Interpretation Gottes in uns führt ihn schließlich zu einer Mystik der Vernunft oder zu einem Begriff Gottes, der jede Vorstellung einer Transzendenz Gottes abzulegen scheint. Entscheidend freilich ist hier die Frage, was mit Transzendenz Gottes überhaupt gemeint sein kann. Gott ist auch bei Hegel jenseits der sinnlichen Welt, jenseits der Welt der Vorstellungen und jenseits des Verstandes. Nicht aber ist Gott jenseits des Geistes, weil Gott selbst Geist ist (vgl. Joh 4,24). Geist aber meint für Hegel die lebendige Dynamik des Zusichkommens des Absoluten im Relativen, des Allgemeinen im Einzelnen, des Einen in den Vielen. Die ausführlichste Christologie bieten die späten Vorlesungen über die Philosophie der Religion, die Hegel in den Jahren 1821, 1824, 1827 und 1831 gehalten hat. Für das Verständnis der Religionstheorie Hegels ist es wichtig zu sehen, dass er überzeugt davon ist, dass in seiner Zeit die Philosophie in besonderer Weise orthodox sei. Die durch die Aufklärung gegangene Theologie habe die Heilige Schrift ebenso um ihr Ansehen gebracht wie die christliche Dogmatik. Historisierung, Psychologisierung, verstandesmäßige Rationalisierung und vornehmlich gefühlsbetonte Frömmigkeit haben dazu geführt, die Wahrheit des Glaubens um ihre aktuelle Bestimmungskraft in der Gegenwart zu bringen. Diese wiederherzustellen ist Hegels Anliegen. Dass dabei die Sache des Glaubens verwandelt wird, versteht sich von selbst. Auch müssen wir sehen, dass Religion für Hegel nicht die höchste Form des lebendigen Gottesbezugs des Menschen ist, sondern eben die Philosophie, wie er sie versteht. Denn in der Religion erhalte sich die Differenz zwischen der göttlichen Wahrheit und der menschlichen Erkenntnis. Die Wahrheit bleibt Vorstellung und als vorgestelltes Objekt bleibt sie dem vorstellenden Subjekt jenseitig. Entsprechend folgt auf die Religion noch die Philosophie, die vom Bewusstsein Gottes zum Selbstbewusstsein übergeht, weil sie sich als das geschichtliche Handeln des göttlichen Geistes selbst begreift. Material gesehen allerdings bringt die philosophische Erkenntnis gegenüber der religiösen keine neue Erkenntnis mehr, sie steht allerdings im Licht der Gegenwart des absoluten Wissens. Um diese Aussagen zu verstehen, müssen wir kurz auf das Bauschema Hegelschen Denkens eingehen. Hegels Denken ist trinitarisch strukturiert. Der unmittelbaren These folgt die Antithese und dieser die Synthese. Jede Setzung ist für sich einseitig und ruft einen Widerspruch oder Gegensatz hervor. Beide wer-

1. | Die onto-theo-logische Christologie

den in eine höhere Einheit aufgehoben, wobei aufheben drei Aspekte hat: bewahren, beseitigen, auf eine neue Ebene heben. Mit anderen Worten: Das Erkennen setzt mit einer unmittelbaren Identität ein und zieht die mittelbare Differenz nach sich. Beide vereinigen sich als Identität von Identität und Differenz. Das Moment der Differenz oder der Antithese ist zugleich die Negativität, das Anderssein oder Nichtsein. Religion generell ist dem Moment der Differenz und der Negativität zugeordnet. Warum? Weil hier die Wahrheit als transzendent erscheint. Gott ist hier für mich der Andere, der ganz Andere. Wie wir oben gesagt haben, bleibt Gott Vorstellung des Bewusstseins. Doch eben deshalb bedarf es der Vermittlung, und hier kommt Jesus Christus ins Spiel. Vereinfacht und in religiöser Sprache können wir die Dynamik der Weltgeschichte wie folgt erzählen. Gott – Vater – ist das ewige sich selbst gleiche Wesen (Identität). Er wird sich selbst ein anderes – Sohn (Differenz), indem er sich erkennt oder reflektiert. Insofern er aber im Anderen sich selbst erkennt, wird Gott Geist (Identität von Identität und Differenz). Hier ist es mit der Differenz allerdings noch nicht ernst. Die eigentliche Negation Gottes ist die Welt. Gott setzt das andere zu sich, das nicht mehr göttlich ist. Gott will aber auch in diesem anderen zu sich kommen und deshalb entwickelt sich die Natur bis zum endlichen Geist. Dieser zeichnet sich durch Freiheit aus, und er kann sich Gott entgegensetzen (Negation). Das schlechthin Böse ist das Einzelne, das sich in sich einschließt, besondert und verabsolutiert. Gott versöhnt aber die Welt mit sich, indem er selbst zugleich endliches Individuum und göttliches Allgemeines ist. An Jesu Leben und Sterben wird offenbar, dass dieses Individuum nicht besondert und „egoistisch“ war, sondern dass es den Willen Gottes erfüllte. In seinem Tod ereignet sich die Negation der Negation oder der Tod des Todes. In der Auferstehung zeigt sich, dass Jesus selbst göttlich ist. Durch das Pfingstereignis wird deutlich, dass auch die Gemeinde, die an Jesus glaubt, vom Geist erfüllt ist. Das heißt, auch an ihr vollzieht sich die Versöhnung von Einzelheit und Allgemeinheit. Jesus erscheint nun als die besondere Mitte, die den einzelnen Menschen als solchen mit der göttlichen Allgemeinheit versöhnt. Jetzt ist offenbar, dass Gott und Welt im Sohn versöhnt sind. Damit aber endet die Sphäre der Religion und sie wird in Philosophie aufgehoben, da nun jeder erkennen kann, dass der Geist in uns und das Absolute keine unversöhnbaren Gegensätze sind. Der absolute Geist begreift sich selbst im Einzelnen. Die Jenseitigkeit ist geschwun-

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Dialektik als Deutung der Trinität

Jesus: Einheit von menschlicher Einzelheit und göttlicher Allgemeinheit Tod des Todes

Versöhnung im Geist

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Hegels Bedeutung

Selbstbewusstsein

den. Im Ende des philosophischen Systems im absoluten Wissen weist die Erkenntnis zurück auf ihren Anfang. Denn das System beginnt mit der Logik. Die Logik aber meint nicht eine formale Denktechnik, sondern das dynamische An-sich-Sein des Geistes. Es ist an den Johannesprolog zu erinnern: Im Anfang ist der Logos und der Logos ist bei Gott. Hegels System hat die drei Momente: Logik (Identität, An-sich-Sein des Geistes), Natur (Differenz, Außer-sich-Sein des Geistes) und Geist (Identität von Identität und Differenz, An-und-für-sich-Sein des Geistes). Hegel leistet einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur onto-theo-logischen Deutung des Christusgeschehens. Denn er macht deutlich, dass es nicht darum geht, einen Menschen isoliert für göttlich zu halten, dass es sich beim Christentum nicht um einen schlechthin über- oder gar irrationalen Glauben handelt, dass es nicht um die Verabsolutierung von historisch kontingenten Wahrheiten geht, sondern darum, dass das, was in Wahrheit ist, vom menschlichen Individuum in Freiheit begriffen werden kann. Wahr aber ist – und damit vollendet Hegel die neuzeitliche Philosophie  –, was in meinem Bewusstsein als wirklich gesetzt ist. Das meint aber gerade keine simple Subjektivierung der Wahrheit, sondern dass das Absolute, Gott, die Wahrheit sich in mir realisieren will. Nie hat die Menschheit höher von sich gedacht als in der klassischen Neuzeit, wo Demokratie, Menschenwürde und Menschenrechte entstanden sind – oft im Gegensatz zur kirchlichen Orthodoxie, aber dennoch immer auf der Basis einer christlichen Inspiration. Gott wird Mensch, Mensch wird Gott.

Zitat

„Diese Menschwerdung des göttlichen Wesens, oder dass es wesentlich und unmittelbar die Gestalt des Selbstbewußteins hat, ist der einfache Inhalt der absoluten Religion. In ihr wird das Wesen als Geist gewußt, oder sie ist sein Bewußtsein über sich, Geist zu sein. Denn der Geist ist das Wissen seiner selbst in seiner Entäußerung; das Wesen, das die Bewegung ist, in seinem Anderssein die Gleichheit mit sich selbst zu behalten. Dies aber ist die Substanz, insofern sie in ihrer Akzidentalität ebenso in sich reflektiert, nicht dagegen als gegen ein Unwesentliches und somit in einem Fremden sich Befindendes gleichgültig, sondern darin, in sich, d.h. insofern sie Subjekt oder Selbst ist. – In dieser Religion ist deswegen das göttliche Wesen geoffenbart. Sein Offenbarsein besteht

1. | Die onto-theo-logische Christologie

279

offenbar darin, dass gewußt wird, was es ist. Es wird aber gewußt, eben indem es als Geist gewußt wird, als Wesen, das wesentlich Selbstbewußtsein ist“.132 Hegel kommt es darauf an, dass die gottmenschliche Einheit, die im Christentum gesetzt ist, nicht flach aufgefasst wird. Nicht der Mensch in seiner Beschränktheit und Sündigkeit ist göttlich, sondern der Mensch, insofern er „die Natürlichkeit und Endlichkeit seines Geistes aufhebt und sich zu Gott erhebt“.133 Dies kann er nur, weil in Jesus Christus, dem einen Sohn Gottes, die Versöhnung geschichtlich wirklich geworden ist. Dabei hält Hegel an der Einzigkeit der Inkarnation Gottes in Jesus von Nazaret fest. 134

Zitat

„Zu der Erscheinung des christlichen Gottes gehört ferner, dass sie einzig in ihrer Art sei, sie kann nur einmal geschehen, denn Gott ist Subjekt und als erscheinende Subjektivität nur ausschließend ein Individuum.“134

Mit Vorblick auf die weitere Entwicklung im 19.  Jahrhundert kann nicht genug betont werden, dass hier Singularität und Allgemeinheit versöhnt, d.h. vermittelt sind. Entscheidend ist deshalb auch die singuläre Menschwerdung Gottes, die nicht einfach als Gattungseinheit von Gott und Mensch betrachtet werden

132 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (Werke 3), Frankfurt 1986, 552. 133 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke Bd. 12), Frankfurt 1986, 392. 134 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 393. Siehe auch Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Tl. 3. Die vollendete Religion, Hamburg 1993, 49: „Einmal ist allemal; Subjekt muss an Subjekt sich wenden – ohne Wahl; diesen zu seinem Heiligen zu machen hat auch lokale, ausschließende Veranlassung. In ewiger Idee nur ein Sohn; Einer, nur ausschließend gegen andere Endliche – nicht an und für sich – ewige Liebe. Vollendung der Realität zur unmittelbaren Einzelheit  – der schönste Punkt der christlichen Religion; erst die absolute Verklärung der Endlichkeit zur Anschauung gebracht. Darüber sich Rechenschaft geben und ein Bewußtsein haben“.

Die Einzigartigkeit Jesu

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Wechselwirkung von Geschichte und Begriff

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

kann (vgl. David Friedrich Strauß). Vielmehr beruhen Würde und Freiheit des Individuums in dieser Einzigkeit des Gottmenschen Jesus. Weil Gott selbst als „absolute Subjektivität“ gewusst wird, sind auch die menschliche Subjektivität und Besonderheit „nichts abstrakt zu Negierendes, sondern zugleich als ein zu Konservierendes erkannt“.135 Deshalb ist Hegels Christologie auch keine simple Christologie von oben, die die Idee Gottes aus der Dynamik des Begriffs deduziert und ihre Realität dann postuliert. Vielmehr weiß sich der absolute Idealismus Hegels immer auch der Dynamik der äußeren Geschichte verpflichtet. Ohne die weltgeschichtliche Realität des Jesusgeschehens und dessen Interpretation durch die Gemeinde gäbe es auch keine Kirche, keine Reformation, keine Revolution und mithin keine neuzeitliche Freiheit. Zwischen Geschichte und Begriff herrscht dieselbe Wechselwirkung oder Gemeinschaft wie zwischen Individuum und Allgemeinem, Mensch und Gott. Die dialektische Spannung verhindert gerade das Absinken der Einheit der Gegensätze auf eine platte Identität oder deren Auseinanderbrechen zur reinen Differenz. Die Geschichte der spekulativen Relation von Gott und Mensch, die zwei christliche Ausprägungen kennt, die spätantik-mittelalterliche und die neuzeitliche, kommt damit an ein Ende. Indem das spekulative Band, das Gott und Mensch verbunden hatte, zerschnitten wird, endet die Onto-Theo-Logie, die in ihrer ersten Epoche die gottmenschliche Relation als das Verhältnis von Substanz und Akzidens, in ihrer zweiten Epoche als Ursache und Wirkung und in ihrer dritten Epoche als Wechselwirkung aufgefasst hatte. Das Fehlen der Mitte und der Vermittlung wird im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts zum Auseinanderbrechen von Anthropologie und Theologie, Wissenschaft und Religion, Gesellschaft und Kirche führen. Mehr und mehr werden die letzteren in die Defensive geraten und schließlich wird die Einsicht sich Bahn brechen, dass Gott gestorben ist. Zugleich ereignet sich aber eine erstaunliche Neubesinnung der christlichen Kirchen und Theologien. Schon hier ist zu bemerken, dass das Sterben Gottes nur deshalb möglich ist, weil Gott bereits am Kreuz zu Golgota und in der Spekulation der Neuzeit gestorben war. Mit dem Tod der Theo-Logie wird die Welt der Anthropo-Logie freigesetzt und damit die bio-anthropo-logische Christologie.

135 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, §147 Zusatz (Werke 8, Frankfurt 1986, 292).

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

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2. Die bio-anthropo-logische Christologie der Moderne Das Ende der onto-theo-logischen Betrachtung Jesu führt weder zum Ende der Christologie noch zum Untergang des Christentums, wohl aber zu einem spannungsreichen Differenzierungsprozess. Dabei verliert allerdings die Theo-Logie ihre Stellung als erste Wissenschaft, die sie zuletzt in der Gestalt der hegelschen Philosophie behauptete – unwiederbringlich. Aus dem so genannten Linkshegelianismus geht die moderne Anthropo-Logie als führende Betrachtung der Wirklichkeit hervor. Damit ist keine konkrete Disziplin gemeint, sondern eine Grundhaltung, die die alte gottmenschliche Einheit einseitig auflöst. Das weltliche Leben (biós) des Menschen wird zur vorrangigen Wirklichkeit. Die Bio-Anthropo-Logie realisiert sich in den verschiedenen Hinsichten als Historismus, als Materialismus, als Naturalismus und eben auch in der modernen Leben-Jesu-Forschung. Die neue Wissenschaftlichkeit versteht sich in ihrer Grundmethodik als a-theistisch, gleich ob sie als Naturwissenschaft oder als historische Bibelkritik erscheint. So bildet sich zunächst vor allem im Protestantismus auch eine moderne Theologie als Universitätsdisziplin aus. Diese ringt mit den neuen Verhältnissen, muss sie doch ihr eigenes Bestehen in neuer Radikalität rechtfertigen. 2.1 Strauß, Feuerbach, Kierkegaard als Aufbruch in die moderne Deutung Jesu 2.1.1 David Friedrich Strauß – „Das Leben Jesu kritisch betrachtet“ Kaum ein Buch hat die Diskussion um Jesus Christus im 19.  Jahrhundert mehr befeuert als das 1835–1836 erschienene Werk des jungen Theologen David Friedrich Strauß (1808–1874). Das Leben Jesu kritisch bearbeitet verursachte einen wissenschaftlichen Skandal erster Güte.136 Der Tübinger Stiftsrepetent stand der Philosophie Hegels nahe, betrieb aber zugleich eine rein

136 Strauss, David Friedrich: Das Leben Jesu kritisch bearbeitet. Mit einer Einleitung von Werner Zager, 2 Bde., Darmstadt 2012 (Nachdruck der Ausgabe von 1834). Die folgenden Angaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

Ein spannungsreicher Differenzierungsprozess

Methodischer Atheismus

282

Leben Jesu als Produkt der Urgemeinde

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

philologisch-historische Bibelkritik. In weitläufigen und minutiösen Studien legt Strauß dar, dass das Leben Jesu, wie es zur Grundlage der kirchlichen Lehre wird, Produkt der Urgemeinde ist. Der erzählte Inhalt des Neuen Testaments wird als Mythos entlarvt, der über weite Strecken jeder historischen Grundlage entbehrt.

Zitat

„Durch die Ergebnisse der bisherigen Untersuchung ist nun, wie es scheint, der größte und wichtigste Teil von demjenigen, was der Christ von seinem Jesus glaubt, vernichtet“. (718)

Leben Jesus als Mythos

Wenn Strauß dennoch an der Wahrheit des Christentums festhält, dann deshalb, weil es ihm in Anlehnung an Hegel um den Begriff der Religion zu tun ist und nicht um historische Fakten. Während aber bei Hegel im Übergang von der religiösen Anschauung zum Begriff das Recht der Vorstellung und ihrer geschichtlichen Basis als notwendiger Schritt erhalten bleibt, verliert bei Strauß die äußere Realität jede Stiftungsrolle. Da für Hegel der Begriff sich aus der Natur und Geschichte herausarbeitet und andererseits sich in der äußeren Welt realisiert, kann er der Geschichte Jesu eine relative Begründungsfunktion für das Aufkommen der Wahrheit zubilligen. Entscheidend ist aber, dass sich die Allgemeinheit des göttlichen Begriffs zur Einzelheit des menschlichen Subjekts fortbestimmt. Diese weltgeschichtliche Bedeutung des Individuums Jesus, dessen Leben und Sterben die universale Versöhnung von Gott und Mensch wirklich werden lassen, wird von Strauß aufgelöst. Rein spekulativ kann die Wahrheit des Glaubens begründet werden, das Leben Jesu wird zur rein mythischen Veranschaulichung.

Zitat

„Den inneren Kern des christlichen Glaubens weiß der Verfasser von seiner kritischen Untersuchung unabhängig. Christi übernatürliche Geburt, seine Wunder, seine Auferstehung, die Himmelfahrt bleiben ewige Wahrheiten, so sehr ihre Wirklichkeit als historische facta angezweifelt werden mag.“ (VII)

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

Maßgeblich ist für Strauß nicht das Individuum Jesus, sondern die gattungsmäßige Einheit von Gottheit und Menschheit. Eine besondere oder ausschließende Einheit von Gott und Mensch in einer Person wird für Strauß undenkbar. Massiv kritisiert er die entsprechenden Interpretationsversuche vor allem Schleiermachers (733). Der Gedanke der urbildlichen Einheit von Gott und Mensch in der Idee lasse keinen Rückschluss auf die Realität der Idee in der Geschichte zu.

283

Gattungsmäßige Einheit von Gottheit und Menschheit

Zitat

„[…] so wird man finden, dass durch die allgemeinen Sätze von Einheit der göttlichen und menschlichen Natur die Erscheinung einer Person, in welcher diese Einheit auf ausschließende Weise individuell vorhanden gewesen wäre, nicht im Mindesten denkbarer wird“ (733).

Zudem sei jedes Individuum voll in seine zeitbedingten Umstände eingelassen und von daher prinzipiell im Widerspruch zur Allgemeinheit der Idee. Wenn man über das Besondere der Zeitumstände Jesu hinauskommen wolle, dann könne man nicht wie Schleiermacher „zum Wesen Christi sich erheben, sondern zur Idee der Menschheit überhaupt“ (717). Damit aber findet die höchste Versöhnung nicht mehr zwischen dem Allgemeinen der Gottheit und der Einzelheit der Menschheit statt – also nicht zwischen Gott und Jesus  –, sondern zwischen Gott und der Menschheit als Gattung. An diesem Punkt wird deutlich, dass das Band des Geistes den Gegensatz von Logik und Natur – um hier an die drei Teile der Hegelschen Enzyklopädie zu erinnern – nicht mehr umfasst. Eben deshalb verliert auch die geistige Einzelheit ihre Stellung als Versöhnung von göttlicher Allgemeinheit und geschaffener Besonderheit. Hier die Differenz zwischen Hegel und Strauß wahrzunehmen, ist von höchster Bedeutung, da im weiteren Verlauf der bio-anthropo-logischen Geschichte entweder der einzelne Mensch als solcher – so in der Linie von Kierkegaard über Nietzsche zu Heidegger – oder die Gattung und mithin die Gesellschaft – so bei Strauß, Feuerbach und Marx – absolut gesetzt werden. Weil nicht das versöhnte Einzelne – das neuzeitliche Subjekt – im Focus steht, verliert auch das Allgemeine seine Bedeutung als Basis. Schließlich wird die unvermittelte Masse von Singularitäten

Allgemeinheit der Idee …

… als Gattung …

… nicht Einzelheit des Geistes

284

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Die unvermittelte Masse

als Totalität zu einem Substitut Gottes werden, gleich ob es sich um das biologische oder das soziologische Volk handelt. Hier ist der Einzelne nur noch das Argument einer Funktion. Andererseits gewinnt die weltliche Realität des Menschseins in seinen unendlichen Facetten eine neue Dignität. Auch das zeigt sich bereits bei Strauß: Der sinnliche Mensch als Gattung ist die Wirklichkeit der Menschwerdung Gottes und damit die Wahrheit des Glaubens. Strauß bleibt insofern noch Hegel verbunden, als er an der Göttlichkeit der allgemeinen Menschennatur festhält. Mit dem alten Motiv, dass die Götter nicht neidig sind, begründet er die Reformulierung des chalcedonischen Dogmas unter den Bedingungen der Moderne.

Der Einzelne als Argument in der Funktion

Zitat

„Wenn der Idee der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur Realität zugeschrieben wird, heisst diess soviel, dass sie einmal in einem Individuum, wie vorher und hernach nicht mehr, wirklich geworden sein müsse? Das ist ja gar nicht die Art, wie die Idee sich realisirt, in Ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, und gegen alle andern zu geizen … sondern in einer Manchfaltigkeit von Exemplaren, die sich gegenseitig ergänzen, im Wechsel sich setzender und wiederaufhebender Individuen, liebt sie ihren Reichthum auszubreiten. Und das soll keine wahre Wirklichkeit der Idee sein? Die Idee der Einheit von göttlicher und menschlicher Natur wäre nicht vielmehr in unendlich höherem Sinn eine reale, wenn ich die ganze Menschheit als ihre Verwirklichung begreife, als wenn ich einen einzelnen Menschen als solchen aussondere? Eine Menschwerdung Gottes von Ewigkeit nicht eine wahrere, als eine in einem abgeschlossenen Punkt der Zeit? Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, dass als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht Kantisch unwirkliche, gesetzt wird. In einem Individuum, einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Eigenschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie zusammen“ (734).

Mit der Substitution der Personchristologie durch die Gattungschristologie ist freilich noch nicht das letzte Wort über das göttliche Individuum Jesus im Rahmen moderner Christologie gesprochen. Auch wäre es völlig falsch, die Überlegungen von

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

David Friedrich Strauß als notwendige Konsequenz aus den vorgeblichen Aporien der chalcedonischen Personchristologie zu ziehen.137 Strauß stellt vielmehr einen signifikanten Wendepunkt von der onto-theo-logischen zur bio-anthropo-logischen Betrachtung Jesu dar. Er reagiert auf die Vollendung metaphysischer Christologie und eröffnet damit einen neuen, modernen Diskurs.

285

Eröffnung des neuen, modernen Diskurses

2.1.2 Feuerbach – Die anthropologische Wende Möglich wurde diese prinzipielle Kehre unter anderem, weil in der Philosophie des Deutschen Idealismus Gottheit und Menschheit sich in nie gekannter Weise nahe gekommen sind. Doch während Hegel die Spannung des Geistes, der die Gegensätze vereint, halten konnte, wird sie nun einseitig aufgelöst. Der Philosoph und Generationsgenosse von Strauß, Ludwig Feuerbach (1804–1872), brachte in seiner Schrift Grundsätze einer Philosophie der Zukunft (1843) die neue Realität auf den Punkt:138 Zitat

„§1) Die Aufgabe der neueren Zeit war die Verwirklichung und Vermenschlichung Gottes – die Verwandlung und Auflösung der Theologie in die Anthropologie.“

Damit geht er den entscheidenden Schritt über Hegel und auch über Strauß hinaus, indem er die spekulative Gattungschristologie verabschiedet und zur reinen Anthropologie fortbestimmt. Feuerbach unterstellt – mit der Hegelschen Unterscheidung von „an sich“ und „für uns“ –, dass der Protestantismus lediglich daran interessiert sei, was Gott für den Menschen sei. Er habe seine spekulative Kompetenz verloren und seine Theologie sei „wesentlich nur Christologie“. Zwar erkenne der Protestantismus Gott noch theoretisch an, insofern die Religion die Existenz Gottes als „ein jenseitiges Wesen“ behaupte, aber schon die spekulati-

137 Gegen Danz: Christologie, 128-142. 138 Feuerbach, Ludwig: Grundsätze einer Philosophie der Zukunft, hg. v. G. Schmidt, Frankfurt 1967.

Auflösung der Theologie in die Anthropologie

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Entfremdung des Menschen durch Religion

Auflösung der Spannung von Chalcedon

Trinität als gesellschaftliche Wirklichkeit

Gottmensch in Knechtsgestalt

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

ve Philosophie Hegels habe diese Transzendenz aufgelöst. Damit deutet Feuerbach Hegels Übergang von der Vorstellung in den Begriff als zentralen Schritt bei der Auflösung des Gottesgedankens in ein Selbstmissverständnis des Menschen um. Der Mensch sei wegen der theologischen Verblendung seinem wahren Wesen entfremdet. Diese Vorstellung der wesentlichen Entfremdung des Menschen wird zu einem wirkmächtigen Grundmotiv der Moderne. Der Mensch selbst wird nun als primär sinnliches Wesen gedacht. Der weltliche Mensch und nur er ist der wirkliche Mensch. Den theologischen Unsinn gelte es zu durchschauen. Das Wesen des Christentums besteht nach Feuerbach in der Menschwerdung Gottes. Dies meint aber, dass die Gottheit Gottes damit erledigt ist und nur die Menschheit des sinnlichen Menschen übrigbleibt. Die Spannung des Dogmas von Chalcedon ist damit aufgelöst. Das zweite Grunddogma, die Dreieinheit von Vater, Sohn und Geist, wird dann überführt in die Realität von Vater, Mutter und Kind. Das heißt, die Fassung Gottes als Liebeseinheit dreier göttlicher Personen muss umgedeutet werden in die zwischenmenschliche Wirklichkeit, die Liebeseinheit von menschlichen Personen. Damit gewinnt die gesellschaftliche Wirklichkeit eine neue, prinzipielle Bedeutung. Karl Marx (1818–1883) wird sich in diesem Punkt auf Feuerbach stützen. Betrachten wir noch einmal das chalcedonische Dogma und das Geschick Jesu. Der Gottmensch wird seiner Göttlichkeit entkleidet, damit wird die Sohnesgestalt verabschiedet und die Knechtsgestalt aufgedeckt. Ohne die wesentliche Göttlichkeit aber bleibt lediglich der leidende Gottesknecht, um hier auf die christologisch so wichtige Prophetie des Jesaja anzuspielen. Es kommt nun aber darauf an, diese Entfremdung zu überwinden, und einzusehen, dass die Erlösung nicht durch Gott, sondern nur durch das Geschichtshandeln des Menschen kommen kann. Die Gattung Mensch bedarf der Besinnung auf ihre sinnliche Wirklichkeit. Das Leiden des Gottmenschen in Knechtsgestalt wiederum bedarf einer weltlichen Erlösung. Aber auch diese Wende vom Idealismus zum Materialismus ist nicht einfach eine Verabschiedung der Theologie oder Christologie, sondern – wie wir heute sehen können  – dadurch wird lediglich eine neue Bedeutungsebene des christlichen Grundgedankens eröffnet: Und der Logos wurde Fleisch …

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

287

2.1.3 Kierkegaard – antispekulative Christologie Zitat

„Daß das Menschengeschlecht mit Gott verwandt sei oder sein solle, ist altes Heidentum, aber daß ein einzelner Mensch Gott ist, das ist Christentum, und dieser einzelne Mensch ist der GottMensch. Weder im Himmel noch auf Erden noch im Abgrund noch in den Verirrungen des allerphantastischsten Denkens ist die Möglichkeit einer Zusammensetzung, die, menschlich gesprochen, phantastischer wäre“.139

Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard (1813–1855) steht für die andere, die religiöse Seite des auseinandergebrochenen spekulativen Verhältnisses. Er bekämpft die Auflösung der Personchristologie in eine Gattungschristologie (Strauß), er schreibt gegen die Verabschiedung der religiösen Lesart der Bibel durch die historische Betrachtung an, und er widerspricht der Auflösung der Theo-Logie in Anthropo-Logie (Feuerbach), ohne freilich die Rationalität des Glaubens festhalten zu können. Dabei eröffnet Kierkegaard die existenzielle Dimension der Religion. Gegen Hegel betont er nicht nur die uneinholbare Transzendenz Gottes, sondern auch die nicht-spekulative, rein lebensrelevante Betrachtung des Gottglaubens.140 Auch eine Reformulierung der Christologie als Gottesbewusstsein (Schleiermacher) lehnt er ab. Kierkegaard konstatiert eine weltgeschichtliche und vor allem existenziell bedrohliche Entfremdung des Menschen in der Religion. Der Zugang zum wahren Glauben sei den Menschen durch die entfremdete Christenheit verstellt. Demgegenüber versucht er das Christentum zu retten.141 Die oben genannten Fehlstellungen verunmöglichten das Christentum in einer Weise,

139 Kierkegaard, Sören: Einübung im Christentum, Simmerath 2003, 77. 140 Kierkegaard, Sören: Entweder – Oder. Teil I, Düsseldorf 1950, 34: „Was die Philosophen über die Wirklichkeit sagen, ist oft ebenso irreführend, wie wenn man bei einem Trödler auf einem Schilde liest: Hier wird gerollt [d.h. gebügelt, K.R.]. Würde man mit seinem Zeug kommen, um es rollen zu lassen, so wäre man genasführt, denn das Schild steht bloß zum Verkaufe aus.“ 141 Siehe zu Kierkegaards Christologie auch Ruhstorfer: Christologie, 127–132.

Gegen Gattungschristologie für Personchristologie Religion ohne vernünftiges Fundament

Entfremdung des Menschen in der Religion

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Der neue Mensch

Radikalisierung der Transzendenz

dass der wirkliche Christ erst für die Zukunft erhofft werden könnte.142 Für Kierkegaard ist der „Christ“ der neue Mensch wie für Marx der „Kommunist“, für Nietzsche der „Übermensch“ oder für Heidegger der „Sterbliche“. Erst dieses künftige Menschentum könne die gegenwärtige Entfremdung überwinden. Doch während Marx, Nietzsche und Heidegger die Erlösung durch Jesus Christus mit einer revolutionären Überwindung der weltlichen Entfremdung substituieren, möchte Kierkegaard die christliche Erlösung in der anbrechenden Moderne wieder glaubwürdig machen. Kierkegaard deutet das für die Christologie relevante Grundverhältnis von Gottheit und Menschheit als absoluten Unterschied.143 Gott ist das Unbekannte, der in keiner Weise, nicht einmal in der Weise negativer Theologie, gedacht werden kann.144 Aus sich selbst kann der Mensch überhaupt nichts von Gott erfahren. Er ist vollkommen auf Offenbarung angewiesen. Doch auch die Offenbarung bleibt prekär.

Zitat

„Aus sich selbst kann der Verstand das nicht erfahren …; soll er es erfahren, so muss er es von dem Gott erfahren, und erfährt er es, so kann er es wiederum nicht verstehen, und kann es also nicht erfahren; denn wie sollte er das Absolut-Verschiedene verstehen?“145

Gott als Gedanke des Menschen

Der absolute Unterschied zwischen Gott und Mensch hat seinen Grund in der Sünde. Doch diese Betonung der Transzendenz führt Kierkegaard nicht zurück in ein vormodernes oder vorneuzeitliches Gottesverhältnis. Vielmehr weiß Kierkegaard, dass all diese Gedanken immer Gedanken des Menschen bleiben.

142 Kierkegaard, Sören: Einübung im Christentum, Düsseldorf 1951, 34: „Die Christenheit hat das Christentum abgeschafft, ohne es selber richtig zu merken, folglich muss man, wenn man etwas ausrichten will, versuchen, das Christentum wieder in die Christenheit einzuführen“. 143 Kierkegaard, Sören: Einübung im Christentum, Simmerath 2003, 26. 144 Kierkegaard, Sören: Philosophische Bissen, Hamburg 1989, 44. 145 Kierkegaard: Philosophische Bissen, 46.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

289

Zitat

„Aber diese Verschiedenheit lässt sich nicht festhalten. Jedesmal wenn es geschieht, ist es im Grunde Willkür, und zutiefst in der Gottesfurcht lauert wahnwitzig die launenhafte Willkür, die weiß, dass sie selbst den Gott hervorgebracht hat.“146

Dieses Paradox ist und bleibt ein Ärgernis, dem nicht zu entkommen ist. Für den Menschen bleibt nur der „Sprung“ in den Glauben. Im Loslassen jeder Rationalität kann der Mensch das Dasein Gottes erfahren. Allerdings nur für einen „Augenblick“. Nur für einen verschwindenden Moment können sich Zeit und Ewigkeit begegnen. Dies gilt auch für das denkbare große Entgegenkommen Gottes. Nur wenn Gott von seiner Seite dem Menschen entgegenkommt, ist eine ironisch gebrochene Begegnung möglich. Ein Aufstieg zu Gott ist ausgeschlossen, wohl aber ist der Abstieg Gottes in die Knechtsgestalt denkbar. Der liebende Gott will dem geliebten Menschen gleich sein, dieser ist keine bloß äußerliche Einkleidung: Zitat

„Aber die Knechtsgestalt war kein bloßer Umhang, deshalb muss der Gott alles leiden, alles dulden, alles versuchen, in der Wüste hungern, die Qualen des Durstes ertragen, verlassen sterben, absolut dem Geringsten gleich – seht, welch ein Mensch.“147

Kierkegaard schreibt seine christologischen Überlegungen in die Diskussion seit Reimarus und Lessing ein, wenn er im Motto seiner Philosophischen Bissen die drei Fragen stellt, ob es einen historischen Ausgangspunkt für ein ewiges Bewusstsein geben könne, ob ein solcher mehr als historisch interessieren könne und ob man auf historisches Wissen eine ewige Seligkeit gründen könne. Christus erscheint hier als philosophischer Lehrer, der sein Gegenmodell in Sokrates hat. Sokrates steht für die Identität von göttlicher und menschlicher Vernunft, Jesus für die

146 Kierkegaard: Philosophische Bissen, 44. 147 Kierkegaard: Philosophische Bissen, 31f.

Paradoxon, Ärgernis, Sprung

Der Augenblick

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Das undurchdringliche Inkognito Gottes

Absoluter Glaube

Verzweiflung

Existenzialismus

absolute Differenz von Gottheit und Menschheit. Eben deshalb ist der heruntergekommene göttliche Lehrer Jesus auch nicht als solcher erkennbar. Weder für uns heute, noch für die Zeitgenossen Jesu. Der Gottmensch in Knechtsgestalt ist von einem undurchdringlichen Inkognito umgeben.148 Doch dadurch verschwindet auch der Unterschied zwischen den Schülern erster Hand und den Schülern zweiter Hand, will sagen uns heutigen Menschen. Lediglich ein absoluter Glaube, als eine „glückliche Leidenschaft“ angesichts des Paradoxes, kann die Offenbarung erschließen.149 Das historische Wissen ist vollkommen nutzlos. „Weil es überhaupt kein ‚Wissen‘ von ‚Christus‘ gibt; er ist das Paradox, des Glaubens Gegenstand, nur da für den Glauben.“ (23) Allein das Sündenbewusstsein als unbedingte Ehrfurcht führt über die Verzweiflung zum Glauben.150 Zum Glauben zu kommen, Christ zu werden, bedeutet, mit Christus gleichzeitig zu werden und „mit Furcht und Zittern“ das Kreuz auf sich zu nehmen und ihm nachzufolgen (64). Nachfolge aber impliziert, dass es dem Glaubenden nicht besser ergeht als Christus. Auf ihn warten Leid und Tod. Auch der mit Christus Gleichzeitige kann über Christus nur sagen: „buchstäblich, er ist nichts – allerdings, denn er ist das Unbedingte“ (62). Kierkegaard scheiterte zunächst angesichts des noch herrschenden Hegelianismus und Historismus in Theologie und Philosophie. Aber er wird v.a. im 20. Jahrhundert nicht nur diejenige Hauptlinie protestantischer Theologie prägen, die mit Karl Barth einsetzt, sondern auch diejenigen Formen bio-anthropo-logischer Philosophie, die unter der Bezeichnung Existenzialismus zusammengefasst werden. 2.2 Marx, Nietzsche, Heidegger als antichristliche Christologie

Neue Gegenwart Christi sub contrario …

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wir finden im 19. Jahrhundert eine neue geschichtsmächtige und existenziell relevante Gegenwart Christi sub contrario. Der wahre Fortschritt in der Interpretation Jesu ereignet sich nicht in der zeitgenössischen Theologie. Nicht im Katholizismus, aber auch nicht im sehr

148 Kierkegaard: Einübung im Christentum, 22. Die folgenden Angaben im Text beziehen sich auf dieses Werk. 149 Kierkegaard: Philosophische Bissen, 58. 150 Kierkegaard: Einübung im Christentum, 68.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

selbstbewussten Protestantismus der Zeit. Die eigentliche christologische Spur der Moderne im Sinne der Bio-Anthropo-Logie finden wir bei Karl Marx (1818–1883), Friedrich Nietzsche (1844– 1900), Martin Heidegger (1889–1976) und Sigmund Freud (1856–1939), aber auch in den aufkommenden Natur- und Geisteswissenschaften. Unter Verzicht auf die Gottheit des Inkarnierten wird die weltliche Seite des Menschen erschlossen. Ecce homo! Siehe, der Mensch! Das meint nun den leidenden Gottmenschen in Knechtsgestalt. Im Leiden des Menschen in seinen gesellschaftlichen, leiblichen, seelischen Bezügen manifestiert sich das Inkognito Gottes, von dem Kierkegaard sprach. Auferstehung bedeutet fortan ein neues Leben in dieser Welt: Fortschritt, Kehre oder Revolution und den Umsturz aller bisherigen Verhältnisse. Dadurch wird der Mensch von der wirklichen und erfahrbaren Entfremdung erlöst. Ein menschliches Leben ist nur unter menschlichen Bedingungen in der Welt möglich. Dafür kämpften vor allem Marx, Nietzsche, Heidegger und Freud. Häufig gegen die Kirchen, Theologen und Gläubigen, die allzuoft das Problem nicht erkannten oder gar Teil der entfremdenden Wirklichkeit waren. Auferstehung bedeutet aber fortan auch die Erlösung von ungerechten und lebensfeindlichen Produktionsverhältnissen, in denen die Armen immer ärmer werden (Marx). Auferstehung bedeutet eine Freisetzung der diesseitigen Lebenskräfte jenseits kirchlicher oder wissenschaftlicher Moralitäten, die eine Fülle des Lebens hier und jetzt verunmöglichen (Nietzsche, Freud). Auferstehung bedeutet die Verwindung der Enteignung durch das technische Denken im wesentlichen Dasein – Advent des Seins (Heidegger). Es kann hier nicht darum gehen, diese Denker ausführlich zu würdigen, sondern den Bezug zu Jesus Christus kurz anzudeuten.151 Dabei müssen wir beim soteriologischen und beim inkarnatorischen Aspekt des Christusgeschehens einsetzen. Paulus zieht das Leben Jesu im Wesentlichen auf Tod und Auferstehung zusammen. Im Kreuzestod wird die Menschheit mit Gott versöhnt. Dies ist notwendig geworden, weil durch den „ersten Menschen“ Adam die Sünde, hier zu fassen als Entfremdung des Menschen von Gott und von sich selbst, in die Welt kam. Entgrenzte Begierde, Tod und Leid beherrschen seither den Menschen. Durch Christus ist die Welt mit Gott und mit sich

151 Zum Ganzen ausführlich Ruhstorfer: Christologie 39ff. und v.a. 86–101.

291

… im Denken der Moderne … … im Leiden der Menschen

Auferstehung als Überwindung der Entfremdung

292

Weltlichkeit des Menschen Enteignung des Menschen in seiner Produktivität

Enteignung des Menschen in seiner Lebenspraxis

Enteignung des Menschen in seiner Theorie

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

selbst ein für allemal versöhnt. Das Opfer der Versöhnung ist erbracht. Dieser soteriologische Grundgedanke prägt noch die Philosophie Hegels, der von einer im Grunde versöhnten Welt ausgeht. Auch hier ist die Versöhnung, der Tod des Todes, die Negation der Negation, mit dem weltgeschichtlichen Christusgeschehen, besonders mit Tod und Auferstehung verbunden. Deshalb und nur deshalb konnte Hegel sagen: „Alles Vernünftige ist wirklich und alles Wirkliche, das ist vernünftig.“ Doch genau diese Versöhnungstat Gottes entfällt in der bio-anthropo-logischen Moderne. Die rein immanente Weltlichkeit des Menschen bleibt gekennzeichnet von der prinzipiellen Entfremdung und Enteignung des Menschen. Die materielle Ausbeutung des Menschen durch den Menschen entzieht ihm seine wesentliche Produktivität in der Arbeit. Marx sah die leidende Knechtsgestalt im enteigneten Proletarier. Die kapitalistische Produktionsweise zerstört letztlich das Wesen des Menschen, das Marx in der Möglichkeit zu schaffen, zu produzieren, den Dingen damit einen Wert zu geben, sieht. Schließlich werden die ausgebeuteten Menschen selbst wertlos. Die Fülle des irdischen Lebens und der schöpferische Wille zum Leben wird nach Nietzsche durch christliche Tugenden und deren säkularisierte Formen in Moral oder Wissenschaft unmöglich gemacht. Die Verlagerung des Sinns des Lebens hinter das Leben wird für Nietzsche zur aktuellen Erscheinung der Sünde Adams. Dadurch wird das Leben als solches entwertet. Nietzsche gerät so in direkten Gegensatz zu einem als Jenseitsreligion missverstandenem Christentum. Das Kreuz wird zum Symbol für die Vernichtung des Lebens. Die Entwertung aller Werte, der Nihilismus ist die Konsequenz des Christentums, so dass der Christ oder der moralisch korrekte, wissenschaftsgläubige Mensch als leidende Knechtsgestalt gedeutet wird – ecce homo, dies ist der Titel eines seiner Hauptwerke. Heidegger wiederum betrachtet den Menschen als dasjenige Seiende, dem es in seinem Sein um das Sein selbst geht. Doch genau dieses Sein wird ihm im Verlauf der abendländischen Geschichte mehr und mehr entzogen. Der Nihilismus ist die Konsequenz. Es ist mit dem Sein nichts gewesen. Die Technik aber ist die Verwesungsgestalt der alten Metaphysik. Sie verheißt Versöhnung durch ihre Errungenschaften, entzieht aber dadurch immer mehr das eigentliche Sein. Der Mensch wird so zum Opfer. Das unversöhnte Opfer allerdings wird zum Täter und der ressentimentgeladene Teufelskreis als Opfer und Täter wird freigesetzt. Im krassen Gegensatz dazu stand und steht die christliche Grundüberzeugung, dass

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

das Opfer ein für allemal erbracht ist. Die Versöhnung ist in Wahrheit bereits geschehen und zumindest anfanghaft zur Wirklichkeit gekommen.152 Die moderne Grunderfahrung aber ist eine andere. Die Versöhnung wird, wie oben angedeutet, erst für die Zukunft erwartet. Der neue Mensch (der zweite Adam) bleibt im Advent. Die Auferstehung ist Sache der Hoffnung. Es wäre falsch, die moderne Antichristologie als schlechthin „unchristlich“ zu interpretieren. Vielmehr dürfen wir gerade die Kritik der bestehenden Verhältnisse, wie sie Marx, Nietzsche und Heidegger ausgesprochen haben, als eine radikal neue und gewendete Anwendung des christlichen Grundgedankens ansehen. Denn die Unversöhntheit in der Welt ist eine Tatsache. Marx sah die schreckliche Armut des englischen Industrieproletariats und Kirchen, die demgegenüber fühllos und planlos waren. Einem derartigen Missstand ist durch Almosen und Jenseitshoffnung nicht beizukommen. Nietzsche vermisste zurecht in der christlichen Moral des 19. Jahrhunderts bitterlich eine dionysische Lebensfreude, eine radikale Bejahung des Diesseits und eine Lust- und Leibfreundlichkeit. Und Heidegger sah im sich stets beschleunigenden Betrieb der modernen Maschinenwelt eine reale Bedrohung für das basale Dasein des Menschen. Wiewohl gerade die Kirchen noch als letzter Rest der Andacht an das Sein gelten konnten, wurden sie doch in die Dynamik der modernen Entzugserfahrung gezogen. Der Verlust an Versöhntheit der Kirche mit der Welt machte auch aus den Kirchen moderne Weltanschauungen oder härter ausgedrückt Ideologien,

152 Dazu Scheier, Claus-Artur: Das Ende des Menschen  – der Anfang der Menschlichkeit?, in: Thurnherr, Urs (Hg.): Menschenbilder und Menschenbildung (Hodos 3), Frankfurt 2005, 135–148, 141f.: „Der geschichtlich überlieferte Begriff des Gott-Menschen in Knechtsgestalt (Phil. 2,7) war ja der des Christus, der die Welt durch sein Selbst-Opfer erlöste. Was Feuerbach in seiner optimistischen Verwandlung der Theologie in Anthropologie noch nicht ahnen konnte, aber was in Kierkegaards ‚indirekter Mitteilung‘ – aber auch in seinem Leben – thematisch wird, ist die geschichtliche Zumutung, dass der Mensch, um sein Wesen zu beweisen, ins Werk zu setzen, sich selbst opfern muss. Er hat sein Leiden auf sich zu nehmen, damit darin, durch es, sein wesentliches Tun, die göttliche Produktivität, erscheine. Für die zeitgenössische Wissenschaft hatte Nietzsche dies formuliert als das ‚asketische Ideal‘. Das war gleichsam noch so aseptisch wie ein Laboratorium, aber die dann in den ersten Weltkrieg ziehende Generation machte die Erfahrung, was es in vivo bedeutete. Der ‚Idealismus‘ des 20. Jahrhunderts war an allen Fronten ein Idealismus des Opfers und hatte nur noch den Namen gemein mit dem Idealismus der vollendeten Metaphysik“.

293 Der Teufelskreis

Die Hoffnung

Die moderne Wendung des christlichen Grundgedankens

Verheißung der Fülle des Lebens

294

Antimodernismus der Kirchen

Bio-AnthropoLogie als Radikalisierung des Inkarnationsgedankens

Die Globalität der Moderne

Der Tod Gottes

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

die ihrerseits ein Machenschafts- und Machtfaktor waren, aber die Gründung im Geist Jesu Christi zu verlieren drohten. Die moderne Existenzangst hatte auch Theologie und Kirche erfasst. Die Angst aber ist der Indikator für den Verlust der Versöhnung. Die wechselseitige Verneinung von Kirche und Welt, Partei und Partei, Nation und Nation, Klasse und Klasse, Rasse und Rasse etc. machte auch vor den Kirchentüren nicht halt. Zudem waren die Kirchen nicht in der Lage, die wesentliche Entfremdung des Menschen in seinem Wesen, wie es in besonderer Weise Marx, Nietzsche und Heidegger aufgedeckt hatten, zu heilen. Die heilsame Kritik der menschlichen Entfremdung und Enteignung aber verdanken wir den – oberflächlich betrachtet – antichristlichen Denkern. Tiefer betrachtet ist die Moderne insgesamt eine Fortschreibung des christlichen Impulses, der freilich den Modernen selbst allzuoft verborgen blieb. Aus dem zeitlichen Abstand, in dem wir uns befinden, können wir die Bio-Anthropo-Logie als eine Radikalisierung des Inkarnationsgedankens begreifen. Der Logos, der die über zweitausendjährige Geschichte der Metaphysik leitete und begleitete, wurde nun in neuer Weise Fleisch, indem der Idealismus in Materialismus kippte und dabei die Göttlichkeit der Idee in ein tiefes Inkognito hüllte. Der Gedanke der Menschwerdung Gottes – der eigentliche Inhalt aller Christologie  – bekam durch die Wende von der Onto-Theo-Logie in die Bio-Anthropo-Logie eine neue Dimension. Die Modernität im hier angedeuteten Sinn ereignet sich offenkundig nur im christlichen Bereich. Hat sie allerdings einmal ihre christlich-theologische Begründung abgelegt, so entgrenzt sie sich und wird jenseits aller religiösen Bindung global. Die Modernität wurde so zu einem transkulturellen und transreligiösen, weil anthropo-logischen Phänomen. Die Negation Gottes und die Negation der Metaphysik sind wesentliche Momente modernen Bewusstseins. Doch ist auch der „Tod Gottes“ differenziert zu betrachten. Zum Ersten steht fest, dass ein geschichtlicher und sterblicher Gott erst durch das Christentum zur Welt kam. Zwar gibt es auch den griechischen Mythos des Dionysos, den Nietzsche aufgreift, aber eine konkrete historisch greifbare Person, die in ausschließlicher Weise mit dem höchsten Gott identifiziert wurde, dann aber einem kolonialen Justizmord zum Opfer fiel – der Tod Gottes am Kreuz –, ist ein weltgeschichtliches Novum. Hier ist zu bemerken, dass Jesu eigene Kritik an der religiösen Praxis seiner Zeit eine zentrale Rolle bei diesem Tod Gottes spielt. Auch das ist eine Lesart des Zusammenhangs von Religionskritik und Tod Gottes. Darüber hinaus

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

bedeutet die Negation Gottes in der Moderne eine äußerste Radikalisierung negativer Theologie. Gerade gegenüber der neuzeitlichen Rationalisierung und Immanentisierung Gottes hebt die Moderne in neuer Weise die absolute Transzendenz Gottes hervor. Weil letztlich jede Form von religiösem Gottglauben oder philosophischem Gottdenken fortwährend der Versuchung unterliegt, den Unendlichen zu verendlichen und zu vernutzen und dadurch Gott zu töten, lässt die moderne Negation Gottes die transzendente Herrlichkeit Gottes neu hervortreten. Der menschliche Übergriff auf die göttliche Transzendenz ist selbst die erste Sünde – damit meine ich nicht Hegels Identifikation des göttlichen und des menschlichen Geistes, da diese immer mit Differenz gedacht war, und gerade den „spekulativen Karfreitag“, d.h. den Tod der endlichen Bewusstseinsformen, implizierte. Vielmehr meint diese gotttötende Sünde im Grunde jede Form von religiöser, philosophischer und politischer Selbstgefälligkeit und Naivität, die zu schnell Eigenliebe und Gottesliebe, Selbstwahrnehmung und Gotteswahrnehmung, Endliches und Unendliches verwechselt. Die hier angedeutete Offenlegung der christlichen Begründung der Moderne ist keineswegs Allgemeingut. Weder haben sich Theologie und Kirche bis heute nachhaltig mit dieser Phase noch hat sich die antireligiöse Moderne ihrerseits mit der Religion versöhnt. Die Praxis wechselseitiger Negation wirkt bis heute nach. Noch immer werden der Kirche von säkularen „Humanisten“ ihre historischen Verfehlungen (Hexenverfolgung etc.) vorgeworfen – unter Ausblendung der größten Menschheitskatastrophen, die bis dato im Namen von dezidiert modernen Ideologien (Kommunismus und v.a. Nationalsozialismus) begangen wurden. Aber auch die radikal modernen Naturwissenschaften und Techniken sind alles andere als unschuldig. Dabei können wir auf ihr Mitwirken beim Holocaust oder in der Rüstungsindustrie des Nationalsozialismus hinweisen (z.B. Wernher von Braun, Werner Heisenberg). Umgekehrt haben die Kirchen und Konfessionen noch nicht ganz die christliche Dimension der Säkularisierung begriffen. Die Entzauberung der Welt ist durchaus kein antichristliches Motiv, sondern ein wesentliches Moment in der Aufklärung der Religion und der Kultur über sich selbst – im Sinne der Inkarnation Gottes. Heute können wir die wechselseitigen modernen Negationen schließlich als Phase in einem Differenzierungsprozess begreifen, der die Religion und damit auch die Christologie von totaler Beanspruchung befreit hat. Wir werden im Horizont unserer Analyse der Tele-Semeio-Logie oder Postmoderne noch einmal darauf zurückkommen.

295

Radikalisierung negativer Theologie

Sünde

Bleibende Spannungen

296

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

2.3 Wege moderner protestantischer Christologie

Die liberale Tradition

Wort-GottesTheologie

Während Strauß und Kierkegaard noch außerhalb der universitären Theologie wirkten, bilden sich auch innerhalb der evangelischen Theologie gegen den Widerstand der protestantischen Orthodoxie radikal moderne Gestalten der Christologie heraus. Im Wesentlichen entwickeln sich zwei Richtungen, die sich gegenseitig streng ablehnen. Auf der einen Seite steht die so genannte liberale Tradition, die in Aufklärung und Idealismus ihre Vorgestalten sieht, sich aber vor allem auf Schleiermacher und Strauß sowie die historische Bibelbetrachtung zurückführt. Hier wird das christologische Dogma am schärfsten kritisiert. Demgegenüber bildet sich spätestens nach dem Ersten Weltkrieg eine neue, dem Dogma positiv gegenüberstehende und sich auf Kierkegaard zurückführende Linie aus, deren prominentester Vertreter Karl Barth ist und die als Wort-Gottes-Theologie bezeichnet wird. 2.3.1 Ernst Troeltsch und die liberale Modernität

Harnack

Das Leben des Menschen Jesu

Die Predigt Jesu

Bereits der Berliner Kirchenhistoriker und Dogmengeschichtler Adolph von Harnack (1851–1930) lehnt jede metaphysische Betrachtung Jesu entschieden ab. Die Hellenisierung des Christentums, als deren Folge die altkirchlichen Dogmen entstanden seien, verdecke den Blick auf das Leben des Menschen Jesus.153 Hierin zeigt sich die Macht der bio-anthropo-logischen Betrachtung. Harnack will vor allem die Predigt Jesu freilegen. Jesus sei als Verkündiger und damit als Mensch wahrzunehmen, nicht als verkündigter Gott. Die historische Wirklichkeit der Predigt Jesu sei vor allem den Synoptikern zu entnehmen, ihre Sache sei: „Erstlich, das Reich Gottes und sein Kommen, Zweitens, Gott der Vater und der unendliche Wert der Menschenseele, Drittens, die bessere Gerechtigkeit und das Gebot der Liebe“ (33). Wichtig ist, schon an dieser Stelle an den evolutionstheoretischen Grundzug der liberalen Christologie zu erinnern. Zwar wird hier Jesus völlig in die Geschichte gestellt und aller Absolutheit entkleidet, dennoch gilt das religiöse Grundverhältnis Jesu als Höchstform menschlicher Religiosität, die sich wiederum zuhöchst in der

153 Harnack, Adolph von: Das Wesen des Christentums, Leipzig 41901. Dazu Axt-Piscalar, Christine: Der Sohn des Vaters. Adolf von Harnacks Christologie, in: ThZ 63 (2007), 120–147. Auch Ruhstorfer: Christologie, 118–124.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

europäischen Kultur entfaltet und zwar mit den Stufen: griechische Orthodoxie, römischer Katholizismus, deutscher Protestantismus. Der Protestantismus ist der Gipfel der religiösen Evolution. Und die Speerspitze protestantischen Wesens findet sich in der deutschen Wissenschaft, so dass sich letztendlich die protestantische deutsche „Kultur“ als die Krone der Schöpfung darstellt. Die derart historisch, kulturell, national gewendete Christologie, die es auch in anderen europäischen Nationen in je eigener Weise gibt, ist eine Voraussetzung für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts – bereits Nietzsche hatte diesen Völkeregoismus und christlich kaschierten Willen zur Macht entlarvt und doch hat seine Lehre vom Willen zur Macht ebenfalls katastrophale Wirkungen. Eine durchweg kritische, auch selbstkritische Christologie, die einen Weg zwischen Absolutheit und Relativismus auf der Basis historischer und sozialpsychologischer Basis sucht, vertritt Ernst Troeltsch (1865–1923).154 Auch Troeltsch geht von der „endgültigen Zersetzung des von der Urkirche gebildeten christlichen Dogmas“ aus.155 Doch nicht nur von der traditionellen Lehre vom „Gottmenschen“, sondern auch von der philosophischen Idealisierung Jesu à la Kant oder Hegel grenzt sich Troeltsch ab. Er wendet sich aber ebenso sehr gegen eine absolute Kritik an der historischen Wirklichkeit Jesu bzw. deren wissenschaftlich begründeter Erkennbarkeit, wie sie gerade um 1900 virulent war, um hier nur an Albert Schweitzers Leben-Jesu-Buch zu erinnern.156 Von Harnack unterscheidet sich seine Position allerdings durch eine größere Skepsis gegenüber der Historie.157 Deshalb trennt Troeltsch zwischen historischer Vorgabe und sozialpsychologischer Deutung der Vorgabe. Zwar bleibt die Rekonstruktion der Wirklichkeit durch die historische Wissenschaft die Grundlage des Glaubens, doch reicht diese nicht hin. Deutlicher

154 Zum Ganzen Claussen, Johann H.: Die Jesus-Deutung von Ernst Troeltsch im Kontext der liberalen Theologie, Tübingen 1997. 155 Troeltsch, Ernst: Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben, Tübingen 1911, 1. Die weiteren Angaben im Text beziehen sich auf dieses Werk. 156 Schweitzer, Albert: Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der LebenJesu-Forschung, Tübingen 1906 (ab der 2. Aufl.: Geschichte der Leben-JesuForschung, Tübingen 1913). 157 Vgl. Wittekind, Folkart: Christologie im 20. Jahrhundert, in: Danz, Christian/Murrmann-Kahl, Michael (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2010, 13–46.

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Religiöse und kulturelle Evolution

Troeltsch

Zersetzung des Dogmas …

… und der philosophischen Idealisierung Jesu

Skepsis gegenüber Historie

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Der Glaube des historischen Jesus als Basis

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

als Harnack sieht Troeltsch den prinzipiell atheistischen Grundzug moderner Historie. Die Tatsache Jesu ist zu trennen vom Glauben an Jesus (32f.). So gilt es zunächst, den bereits von den ersten Christen der Geschichte entnommenen Jesus in einer Welt, die nicht mehr von der Kirche beherrscht wird, wieder der Endlichkeit und Bedingtheit zurückzugeben (1). Doch Troeltsch will die Bedeutung dieses irdischen Jesus für den Glauben retten, denn der Glaube soll nach wie vor Erlösung bewirken, allerdings mit entscheidenden Modifikationen. Es geht nicht um den Glauben an Jesus, sondern um die Aktualisierung des Glaubens Jesu: Zitat

„Die Erlösung ist nicht etwas ein für alle Mal im Werke Christi Vollzogenes und den Einzelnen dann erst Zuzueignendes, sondern ist ein jedes Mal neuer, in der Wirkung Gottes auf die Seele durch Erkenntnis Gottes sich vollziehender Vorgang“ (7).

Kult und Gemeinschaft

Sozialpsychologische Betrachtung

Es gilt also, zugleich das moderne Denken und die im Christentum lebendigen religiösen Kräfte anzuerkennen (18). Das Wesentliche in aller Religion liege nicht im Dogma oder der Idee beschlossen, sondern in Kult und Gemeinschaft. Der „lebendige Verkehr mit der Gottheit“ (27f.) vollziehe sich zwar im Innersten des Individuums  – psychologisch  –, sei aber auf Gemeinschaft und Gemeinsinn  – soziologisch  – angelegt. Im gemeinsamen Kult habe das Christusbild als maßgebliches Urbild des religiösen Glaubens seinen Ort. Hier und nur hier behalte die Persönlichkeit Jesu ihre religiöse Bedeutung. Generell seien alle Religionen, vor allem kultische, auf die Propheten und Stifterpersönlichkeiten ausgerichtet und zwar als „Urbilder, Autoritäten, Kraftquellen, Sammelpunkte“, die für das konkrete Leben von unverzichtbarer Bedeutung sind (28). Dabei räumt Troeltsch ein, dass der interkulturelle und interreligiöse Vergleich deutlich mache, dass eine religiöse Bindung nicht notwendigerweise die Person Jesu brauche  – auch andere Stifter wie Buddha oder Mohammed seien prinzipiell dazu geeignet.158 Die sozialpsychologische Betrach-

158 Siehe v.a. Troeltsch, Ernst: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen 1929. Eine reine Absolutheit der Bedeutung Jesu sei nicht festzuhalten. Die erste Naivität des absoluten Glaubens sei

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

tung macht aber deutlich, dass diese versammelnden Persönlichkeiten in jeder Kultur eine relative Geltung besitzen. Absolut gesehen brauche man die Person Jesu nicht, „mit der ein wirklicher Verkehr ja gar nicht möglich ist“ (30), aber relativ gesehen behalte die religiös gedeutete Persönlichkeit Jesu ihre Bedeutung für unseren Kulturkreis. Troeltsch wendet noch ein, dass diese Geltung auch für die Zukunft des „westasiatisch-europäisch-amerikanischen“ Kulturkreises nicht absolut gesichert sei, doch spreche die Wahrscheinlichkeit gegen die Ablösung Jesu als Zentralpunkt der Religion. Räumlich und zeitlich relativ bleibt also die Persönlichkeit Jesu für uns verbindlich. Zitat

„Entscheidend für die Würdigung der Bedeutung Jesu ist daher nicht die außerchristliche Erlösungsunfähigkeit, sondern das Bedürfnis der religiösen Gemeinschaft nach einem Halt, Zentrum und Symbol ihres religiösen Lebens. Das Große ist, dass dann nicht ein starres Dogma und nicht ein ebenso starres Moralgesetz das Zentrum und Symbol bildet, sondern das Bild einer lebendigen, vielseitigen und zugleich erhebenden und stärkenden Persönlichkeit, deren innerste Lebensrichtung es in sich aufzunehmen gilt und aus der in voller Freiheit der Anwendung jedes Mal die Gestaltung der gegenwärtigen religiös-sittlichen Aufgaben herausgeholt werden kann“ (42).



verloren, aber „leidenschaftliche Erhebungen des tief im Menschen wurzenden Gefühls für das Absolute“ (ebd. 98) könne zu einer – mit Paul Ricoeur gesprochen – zweiten Naivität führen, die die relative „Höchstgeltung“ des Christentums und damit Jesu anerkennt (ebd. 103): „Bedeutsam verschieden von alledem ist nun aber zugleich mit der Innerlichkeit und reinen Humanität des religiösen Lebens auch die rein innerliche Absolutheit ausgesprochen in der Verkündigung Jesu.“ Durch diese neue Naivität werden wir zurückgeführt „zu dem Unterschied der Verkündigung Jesu von aller Ruhe christlichen und kirchlichen Apologetik, zu der naiven Größe, Weite und Freiheit Jesu […], die das Höchste und Größte bleibt, was wir kennen. Hier aber ergreift uns die Macht Jesu, der wir mit gutem Gewissen als der höchsten religiösen Kraft uns überlassen dürfen, mit einer solchen Ehrfurcht und Seelengewalt, dass wir alle die mühsamen Wege und Umwege vergessen, ohne die ein in alle Mannigfaltigkeit der Historie verstricktes Geschlecht nicht zu ihm kommen kann. Das religiöse Gefühl kann und darf die Historie wieder vergessen und lebt mit naiver Absolutheit nun auch seinerseits in der Gegenwart Gottes, alle Zeit verzehrend und in der Anschauung des Einen uns eröffneten göttlichen Zieles.“ (Vgl. ebd. 119).

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Bedeutung Jesu für den westlichen Kulturkreis

300

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

2.3.2 Karl Barth als moderne Neo-Orthodoxie

Kritik der liberalen Theologie

Rehabilitation der Tradition

Während die liberale Theologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sich scharf gegen die onto-theo-logische Lehre von Jesus Christus wendet, deren Zentrum das Dogma von Chalcedon darstellt, grenzt sich der junge Schweizer Theologe Karl Barth (1886–1968) unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg seinerseits radikal gegen die liberale Christologie ab. Die enge Verflechtung der liberalen deutschen Universitätstheologie mit dem untergegangenen Kaiserreich macht sie für die Kriegs- und Nachkriegsgeneration unglaubwürdig. Die Nähe von Glaube und Kultur, Religion und moderner Wissenschaft wurde nunmehr zum Problem. Im Hintergrund steht die in der Tat problematische Verbindung von anti-metaphysischer Wissensentfaltung, die per se einem methodischen Atheismus verpflichtet ist, und christlichem Glauben. Die Transzendenz Gottes droht von der Immanenz des Menschen überlagert und letztlich verdrängt zu werden. Das Leben in der Welt (biós) und das rein menschliche und in diesem Sinn anthropo-logische Dasein hat sich aber in der Wahrnehmung Karl Barths desavouiert. Barths erste Phase, deren zentraler Text das revolutionäre Werk Der Römerbrief (1919/1922) ist, greift ebenso auf die antispekulative Theologie Kierkegaards wie auf zentrale Einsichten der Reformatoren Luther und Calvin zurück.159 Doch anders als jener wendet sich Barth nicht mehr gegen die metaphysische Theologie etwa Hegels und anders als diese nicht mehr gegen die spekulative Theologie des Spätmittelalters, sondern sein Gegner ist die liberale Theologie, die in Schleiermacher ihren Vorläufer und in Harnack und Troeltsch ihre zentralen Ausprägungen hat. Barth wittert darin die feuerbachsche Auflösung der Theo-Logie über die Mitte der Christo-Logie in bloße Anthropo-Logie am Werk, gegen die er eine Rückbesinnung auf das Wort Gottes in Anschlag bringt. Seine Sache ist die göttliche Offenbarung, die er in Christusgeschehen und Bibel dokumentiert sieht. Darüber hinaus rehabilitiert Barth in seinem reifen Werk die gesamte theologische Tradition. Vor allem die monumentale Kirchliche Dogmatik (1932– 1967) behauptet, dass das christliche Denken vor allem kirchli-

159 Zur Entwicklung von Barths Christologie siehe kurz Kühn, Ulrich: Christologie, Göttingen 2003, 260–264 und ausführlich Klappert, Bertold: Die Auferweckung des Gekreuzigten. Der Ansatz der Christologie Karl Barths im Zusammenhang der Christologie der Gegenwart, Neukirchen ³1981.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

ches Denken sei, für das die Welt das Andere, das Außen ist. Indem er aber die Theologie als Funktion der Kirche begreift, zeigt sich seine eigene Modernität, da er der bipolaren Logik von Funktion und Argument verbunden ist. Vor allem in der Negation der anthropologischen Welt bleibt Barth – schon formal gesehen – der modernen Logik der Negation verhaftet.160 Denn die primäre Geste der Moderne ist der Abstoß des Bisherigen und zwar im Ganzen. Dieser totale Grundzug verweist auf die moderne Grundkategorie der Ganzheit, welche die spekulative Allgemeinheit ablöst.161 Gott ist nicht das Allgemeine (Hegel), sondern das ganz Andere als die Negation der Welt. Dieser Gott ist nicht mehr Idee und kann auch nicht mehr spekulativ, sei es hypothetisch-analog wie im Mittelalter, sei es dialektisch-disjunktiv wie in der Neuzeit begriffen werden. Gott ist die Erfahrung der totalen Negation. Diese offenbart sich in der Welt in Jesus Christus. Bei aller Neubesinnung auf die christologische Orthodoxie bleibt sich Barth selbst seiner eigenen innovativen Modernität bewusst.162 Dies zeigt sich auch im Rückbezug auf Kierkegaard. Zwischen Gott und Welt herrscht „der unendliche qualitative Unterschied“: Zitat

„Wenn ich ein ‚System‘ habe, so besteht es darin, daß ich das, was Kierkegaard den ‚unendlichen qualitativen Unterschied‘ von Zeit und Ewigkeit genannt hat, in seiner negativen und positiven Bedeutung möglichst beharrlich im Auge behalte: Die Beziehung dieses Gottes zu diesem Menschen, die Beziehung dieses Menschen zu diesem Gott ist für mich das Thema der Bibel und die Summe der Philosophie in Einem. Die Philosophen nennen diese Krisis des menschlichen Erkennens den Ursprung. Die Bibel sieht an diesem Kreuzweg Jesus Christus“ (XX).

Jesus Christus interessiert den Glaubenden nicht mehr dem Fleische nach (6). Die Offenbarung Gottes wird streng vom his-

160 Vgl. dazu ausführlich Ruhstorfer: Gotteslehre, 15–18, 28–34. 161 Siehe dazu Ruhstorfer: Gotteslehre a.a.O. 162 Barth, Karl: Der Römerbrief, München 21922, XIII (Vorwort zur 2. Aufl.). Die weiteren Angaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

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Barths Modernität I

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Kreuz und Auferstehung als Ereignis der Ewigkeit in der Zeit

Glaube als Sprung ins Ungewisse

torisch greifbaren Faktum unterschieden.163 Doch führt diese Ablehnung der historischen Betrachtung Jesu nicht zurück zur Christologie des frommen Bewusstseins oder des selbstreflexiven Glaubens.164 Der religiöse Inhalt resultiert nicht aus der „Selbstbeschreibung des Glaubens“, sondern er bricht von Außen in die Welt und dadurch in die Geschichte ein und stiftet dadurch erst den Glauben. Dabei spielt für Barth das Leben Jesu in der Tat zunächst keine Rolle, vielmehr rückt er mit Paulus Kreuz und Auferstehung in die Mitte. Es ist deshalb kein Zufall, dass Barth mit einer Interpretation des Römerbriefs die Bühne betritt. Dennoch ist die Offenbarung Gottes ein Geschehen in der Geschichte oder mit einem klassisch modernen Begriff gesagt: Ereignis (75). Das Ereignis des Ewigen in der Zeit gleicht einem „Einschlagtrichter“ oder „Hohlräumen“ (5). Christus ist „auf der Höhe, am Ziel seines Weges eine rein negative Größe“ (78). Alles Menschliche, Allzumenschliche wird hier negiert. Wie Nietzsche den bloßen Menschen negiert, um den Übermenschen zur Welt zu bringen, so verneint auch Barth den Menschen in seiner Abgründigkeit. In Jesus aber stürzt sich Gott selbst in den menschlichen Abgrund: „Wir sehen in ihm Gottes Treue wirklich in der Tiefe der Hölle. Der Messias ist das Ende des Menschen“ (78). Der Glaube, der durch diesen Einbruch Gottes hervorgerufen wird, ist seinerseits keinerlei allgemein menschliches Vermögen, das aus sich irgendetwas hervorbringen könnte: „Glaube ist die Umkehrung, die radikale Neuorientierung des nackt vor Gott stehenden, des zum Erwerb der einen kostbaren Perle arm gewordenen, des um Jesu willen auch seine Seele verlierenden Menschen“ (78). Insofern ist der Glaube keinerlei reflexives Vermögen, sondern schlicht „der Sprung ins Ungewisse, ins Dunkle, in die leere Luft“ (78, vgl. 81).

163 Vgl. auch Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik (KD) I/1, 343: „Aber dieses Historische war nicht die Offenbarung. Tausende mögen den Rabbi von Nazareth gesehen und gehört haben. Aber dieses Historische war nicht die Offenbarung. Auch das Historische an der Auferstehung Christi, das leere Grab als das möglicherweise Feststellbare an diesem Ereignis war jedenfalls nicht die Offenbarung.“ 164 Gegen Danz: Christologie, 152 und 157. Danz blendet die objektive Seite des Gegebenseins Jesu in der Heiligen Schrift als Zeugnis der Offenbarung faktisch aus. Nicht nur der Glaubensakt in seiner formalen Struktur ist unableitbar, auch sein Inhalt, den er gerade nicht aus sich hat. Deshalb verweist der Glaube immer zurück auf die geschichtliche Gestalt Jesu von Nazaret. Vgl. auch Kühn: Christologie, 254.

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Das revolutionäre Pathos des jungen Karl Barth, das nichts Geringeres als eine „neue Welt“ (6) in Aussicht stellt, bewegt sich auf Augenhöhe mit Marx, Nietzsche und Heidegger, den bio-anthropo-logischen Verkündigern einer anderen Zeit in der Welt.165 Aus seiner radikalen Besinnung auf die kirchliche Tradition gewinnt er die Kraft zum Widerstand gegen die Ideologisierung Nietzsches und der modernen Technik und Naturwissenschaften im Nationalsozialismus. Es darf auch erwähnt werden, dass der Sozialdemokrat Barth stets für den sozialen Ausgleich zwischen arm und reich oder für den Weltfrieden kämpfte. Aus postmoderner Distanz betrachtet vermag die neoorthodoxe Weltanschauung Barths in ihrer modernen Radikalität auch zu verstören, nicht nur wegen der bereits erwähnten Bezeichnung der Theologie als „Funktion“ der Kirche, wegen der Rede von „Parallelschaltung“ der göttlichen und der menschlichen Natur in Jesus oder vom „Endsieg“ für den eschatologischen Sieg Christi, sondern auch wegen der fast autoritär anmutenden, keinen Widerspruch duldenden Autorität Christi bzw. des Wortes Gottes.166 Auf die erste Phase expressionistischer Setzung des Widerspruchs arbeitet Barth zunächst eine Christliche Dogmatik 167 aus, in der auch die Christologie mit Hilfe der aktuellen Philosophien der Zeit, namentlich der Phänomenologie und des Existenzialismus durchbuchstabiert werden soll. Doch in seinem Opus magnum, der Kirchlichen Dogmatik, versucht sich Barth auch noch von den Rückbindungen an diese Gestalten modernen Denkens zu lösen. In einer gewaltigen Anstrengung setzt er allein auf das Wort Gottes, das in der biblischen Offenbarung greifbar wird, jedoch nicht ohne die gesamte Tradition vor der Aufklärung zu rehabilitieren. Damit begibt er sich bei aller Betonung der Distanz in eine bemerkenswerte Nähe zu zeitgenössischen katholischen Autoren, um hier nur Hans Urs von Balthasar zu nennen, der seinerseits von Barth beeinflusst ist.

165 Zur Christologie des jungen Barth siehe auch Ruhstorfer: Christologie, 110–114. 166 Vgl. dazu Dierken, Jörg: Karl Barth, in: Graf, Friedrich Wilhelm (Hg): Klassiker der Theologie. Bd. 2. Von Richard Simon bis Karl Rahner, München 2005, 223–257, 224f. 167 Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik I. Die Lehre vom Worte Gottes. Prolegomena zur christlichen Dogmatik. 1. Halbband (KD I/1), München 1932. Vgl. dazu Ruhstorfer: Gotteslehre, 138f.

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Barths Modernität II

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Gott selbst als Ereignis der Offenbarung

Christologie von oben

In der Kirchlichen Dogmatik stellt Barth die Christologie in drei Anläufen vor: 1. In den Prolegomena (KD I/1 und I/2). 2. Im Zusammenhang mit der Gotteslehre (KD II) 3. Als Versöhnungslehre (KD IV). (1) In den Prolegomena handelt Barth vom Wort Gottes. Dieses Wort ist nicht der spekulativ zu fassende lógos, sondern das paradoxale in der Kirche überlieferte Ereignis der Offenbarung. Die Offenbarung Gottes ist Gott selbst. Gott offenbart sich als der Herr. Mit Anklang an das Dogma von Chalcedon formuliert Barth, „dass Gott selbst in unzerstörter Einheit, aber auch in unzerstörter Verschiedenheit der Offenbarer, die Offenbarung und das Offenbarsein ist“.168 Barth setzt also bereits in seiner formalen Dogmatik mit der Dreieinheit Gottes ein. Entsprechend beginnt bereits die Abhandlung über den Vater mit dem Offenbarer Jesus. „Der, den Jesus als den Vater offenbart, wird schlechterdings am Tode des Menschen am Ende seiner Existenz erkannt“.169 Mit Begriffen, die an die Existenzphilosophie Heideggers denken lassen, deutet Barth unser „Dasein“ als einzig von Gott über dem „Abgrund des Nicht-Daseins“ im Schweben gehaltenes. Die Menschen und die Welt stehen im Tod und in Feindschaft zu Gott. Hier erscheint der Sohn zunächst als „Versöhner“. Vom Glauben an das uns zugesagte Wort Gottes, das vorher in Gott war, kommt Barth zur geschichtlichen Realität. In einer steilen Christologie von oben identifiziert er Jesus mit dem Wort Gottes und damit mit dem Herrn.170 Der Name Jesus Christus bezeichnet die objektive Wirklichkeit der Offenbarung und wird in aller Deutlichkeit als der „Gottmensch“ gekennzeichnet.171 In einer dialektisch anmutenden Figur fasst Barth das christologische Bekenntnis des Neuen Testaments zusammen: „Gottes Sohn heißt Jesus von Nazareth, Jesus von Nazareth ist Gottes Sohn“.172 Absolut primär ist der unableitbare Name Jesu, der die paradoxe Einheit von Gott und Mensch bezeichnet. Er geht jedem Bekenntnis voraus und ruft dieses hervor. (2) Die materiale Entfaltung findet sich nach der Analyse des Gegenstandes des Glaubens, der sein Verständnis mit sich bringt, in der Gotteslehre. In der Spur des Paulus stellt Barth die

168 Barth: KD §8, I/1, 311. 169 Barth: KD §10, I/1, 408. 170 Barth: KD §11, I/1, 419. 171 Barth: KD §2, I/2, 16f. 172 Barth: KD §2, I/2, 17.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

Frage nach dem Zustandekommen des Glaubens. In calvinischer Tradition erscheint das Verhältnis Gottes zu den Glaubenden als Bund, der aber kein Wechselverhältnis meint, sondern absolut einseitig von „oben“ gestiftet ist. Jesus Christus begegnet nun im Horizont der Erwählungs- oder Prädestinationslehre. Jesus ist der schlechthin Erwählte Gottes. Im Sinne der doppelten Prädestination ist Christus von Gott zugleich erwählt und verworfen. Entscheidend ist, dass nicht nur die (glaubende) Menschheit in Christus erwählt ist, sondern dass die Verwerfung des Ungerechten ebenfalls von Christus als dem zu unrecht Verworfenen auf sich gezogen wird: „Gott will verlieren, damit der Mensch gewinnt. Sicheres Heil für den Menschen, sichere Gefahr für Gott“.173 Allerdings weitet Barth den Gedanken der Prädestination universalistisch. Gottes absolut freier Wille begrenzt die Verdammung auf sich selbst. Deshalb bleibt Barth auch hier der paulinischen Konzentration auf das Kreuzesgeschehen bzw. die Auferstehung verpflichtet. Die umfassendste, eher soteriologisch ausgerichtete Interpretation Christi gibt Barth im Rahmen der Versöhnungslehre. Leitend ist der im Philipperhymnus aufgegriffene Begriff des Knechts oder Sklaven. Hier zeichnet Barth die kenotische Dynamik in drei Schritten der paulinischen Verkündigung nach. 1) „§57. Das Werk des Versöhners“ – Jesus Christus, der Herr als Knecht“. Auf diese absteigende Linie ist der Gehorsam des Sohnes bezogen (§59). Die Darstellung beginnt mit dem Weg des Sohnes in die Fremde. Dort wird der göttliche Richter an unserer Stelle gerichtet durch das Urteil des Vaters. 2) Die aufsteigende Linie setzt mit „§58. Die Lehre von der Versöhnung – Jesus Christus, der Knecht als Herr“ ein. Der Menschensohn kehrt heim zum Vater. Als königlicher Mensch wird Jesus hier als Urbild des neuen Menschseins, das in totaler Ausrichtung auf Gott bzw. die „Weisung des Sohnes“ lebt, vorgestellt. 3) Der Teil über Jesus Christus, der wahrhafte Zeuge hebt beide Linien in „§ 69. Die Herrlichkeit des Mittlers“ auf. Jesus erscheint nun als „Licht der Welt“, das über die Grenzen der Kirche hinaus leuchtet. Barth kommt hier zu einer folgenreichen Weitung des Heilsbegriffs. Der Sieg Jesu kommt der ganzen Welt zu Gute, da der Geist über alles Fleisch ausgegossen ist. Die pneumatologische Dimension stellt den Endpunkt der heilsge-

173 Barth, KD II/2, 177.

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Doppelte Prädestination Jesu

Versöhnung durch Christus …

… als Licht der Welt

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

schichtlichen Wirksamkeit Jesu dar. Nicht nur auf die protestantische Theologie, sondern auch auf die katholische Kirche übt Barths „Lichterlehre“ einen kaum zu überschätzenden Einfluss aus – Lumen gentium cum sit Christus.174 2.3.3 Paul Tillich

Vermittlung durch Korrelation

Das, was uns unbedingt angeht

Unbedingter Sinnanspruch

Der deutsch-amerikanische Theologe Paul Tillich (1886–1965) ist sowohl der liberalen als auch der neo-orthodoxen Theologie der Moderne verbunden, distanziert sich aber gleichermaßen von Harnack bzw. Troeltsch und von Karl Barth. Er zielt letztlich auf eine Vermittlung der beiden Linien. Der liberale Historismus drohe in den Relativismus abzugleiten wie die kerygmatische Theologie in den Fundamentalismus.175 Tillich strebt nach einer Synthese, indem er die Korrelation von Wort Gottes und weltlicher Erfahrung in den Vordergrund rückt (15). Dabei aber bezieht er geschichtstheologische Überlegungen zur Modernität der Moderne auf den wesentlichen Kern der Christologie. Das Christusgeschehen wird als die Lösung vom zeitgenössischen Problem der wesentlichen Entfremdung des Menschen interpretiert. Die anthropo-logische Basis all seiner Überlegungen ist Tillichs Gottesbegriff: „Der Gegenstand der Theologie ist das, was uns unbedingt angeht. Nur solche Sätze sind theologisch, die sich mit einem Gegenstand beschäftigen, sofern er uns unbedingt angeht“ (19f.). Indem Tillich diese Gedanken, die an Kierkegaard zurückdenken lassen, mit dem Zusatz versieht, dass in der Theologie über „Sein oder Nichtsein“ entschieden wird, zeichnet sich bereits seine Nähe zur existenzialistischen Philosophie seines Generationsgenossen Martin Heidegger ab. Bezogen auf die Offenbarung Gottes bezeichnet er seine Methode als „kritische Phänomenologie“, da diese die „geistlichen Sinngehalte“ der Offenbarung am besten beschreiben könne (131f.). Gegenüber diesem unbedingten Sinnanspruch muss die historische Kritik der Offenbarung zurücktreten. Die letztgültige Offenba-

174 Mit diesen Worten beginnt die Kirchenkonstitution Lumen Gentium des II. Vatikanischen Konzils, das ebenfalls den Heilswillen Gottes auf die ganze Welt in optimistischer Weise ausdehnt. 175 Tillich, Paul: Systematische Theologie, Bd. 1, Stuttgart 21956, 11. Die weiteren Angaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

rung ereignet sich in Jesus von Nazaret und damit im Fleisch, in der endlichen Welt, in der Geschichte, die auch durch die historische Exegese gedeutet werden kann. Doch relevant für den Glauben ist Jesus einzig als der Christus: „Jesus von Nazareth ist das Medium der letztgültigen Offenbarung, weil er sich völlig für Jesus als den Christus opfert“ (163). Diese heilsgeschichtliche Bedeutung Jesu bettet Tillich in ein umfassendes geschichtstheologisches Konzept ein. Eben weil er die Modernität seiner Zeit wie kaum ein anderer Theologe begreift, kann sein Werk als ein Höhe- und Abschlusspunkt moderner Christologie betrachtet werden. Tillichs Hauptwerk, Systematische Theologie, ist trinitarisch strukturiert. Nach dem fundamentaltheologischen ersten Teil Vernunft und Offenbarung setzt die materiale Dogmatik im zweiten Teil mit Gott Vater ein176 – bezeichnenderweise überschrieben: Sein und Gott. Die Seinsfrage Heideggers ist für Tillich die entscheidende philosophische Vorgabe. Dies zeigt einmal mehr den sekundären Charakter moderner Theologie als solcher. Bioanthropo-logische Theologie ist im Wesentlichen re-aktiv (teilweise auch re-aktionär) und nicht mehr pro-duktiv, im Sinne des progressiven Hervorführens (pro-ducere) der Entwicklung. Der dritte Teil trägt den Titel Die Existenz und der Christus. Der abschließende vierte Teil heißt Das Leben und der Geist. Auch der Heilige Geist erscheint im Horizont des bio-anthropo-logisch verstandenen gelebten Lebens in der Welt. Die Christologie beginnt merkwürdigerweise mit einer Analyse des Existenzbegriffs. Tillich vertritt eine sehr weite Auffassung von „Existenz und Existenzialismus“. Dieser Begriff ist im Grunde deckungsgleich mit dem von mir vorgeschlagenen Ausdruck „Bio-Anthropo-Logie“ bzw. mit meiner Verwendung des Begriffs „Moderne“. Auch Tillich bezieht sich in seiner Definition auf die platonische Grundunterscheidung von Idee und Phänomen.177 Der Gegenbegriff zur Existenz ist „Essenz“. Das „Es-

176 Beide Teile zusammen bilden den ersten Band des dreibändigen Werks. 177 Tillich, Paul: Systematische Theologie, Bd. 2, Stuttgart 1958, 28: „Die Existenz ist für Plato der Bereich des bloßen Meinens, des Irrtums und des Übens. Es fehlt ihm wahre Realität. Wahres Sein ist essenzielles Sein, und es ist gegenwärtig im Bereich der ewigen Ideen, d.h. der Wesenheiten. Um essenzielles Sein zu erlangen, muss sich der Mensch über die Existenz erheben. Er muss zum Essenziellen zurückkehren, von dem er in die Existenz gefallen ist.“ Die weiteren Angaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

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Geschichtstheologisches Konzept

Existenzielle Christologie

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

senzielle“ steht für das wahre, ewige Sein der Idealität. Die gesamte Philosophiegeschichte hindurch sei das Denken auf das ewige Leben der Essenzialität ausgerichtet gewesen. Schließlich vollende sich der „Essenzialismus“ in der Philosophie Hegels, da hier letztlich die ganze Welt als „Selbstverwirklichung des göttlichen Geistes“ betrachtet werde (20). Die Generation nach Hegel – Schopenhauer, Kierkegaard, Marx, Nietzsche – greife nun „in der modernen industriellen Gesellschaft“ die essenzialistische Idee als solche an (30f.).

Zitat

„Das Gemeinsame in allen existenzialistischen Angriffen ist die Behauptung, dass die existenzielle Situation des Menschen ein Zustand der Entfremdung ist – Entfremdung von seiner essenziellen Natur“ (31).

Entmenschlichung

Funktion des Messias

Die menschliche Existenz sei bis zur „Entmenschlichung“ entfremdet. Sie entbehre der wesentlichen Versöhnung. Tillich blendet diese radikale Selbstwahrnehmung der Moderne im „Existenzialismus“ mit der christlichen Selbstwahrnehmung der Menschheit als durch die Sünde gefallene ineinander. Der Mensch sei von Gott entfremdet und die „entfremdete Welt wird von Strukturen des Bösen beherrscht, symbolisiert als dämonische Mächte“ (33). Auch das Christentum deute die gefallene Welt in Kategorien von Nichtsein, Endlichkeit, Angst, Schuld, Sinnlosigkeit, Verzweiflung (34). Es sei gerade die „Funktion des Messias“ – man beachte die Rede von Funktion –, die „Strukturen der Destruktion“ – man beachte die Rede von Destruktion – zu überwinden. Wie bei Marx, Nietzsche und Heidegger geht es für Tillich darum, das Destruktive zu destruieren. Gegen diese moderne Logik von Destruktion wendet sich die postmoderne „Dekonstruktion“, wie wir noch sehen werden. Es gilt festzuhalten, dass der „Übergang von der Essenz zur Existenz“ mit dem Mythos vom Sündenfall parallelisiert wird (3568). Dennoch bleibt es bemerkenswert, dass für Tillich zwar der Begriff der „Essenz“ zum Synonym für die versöhnte Situation des Menschen, der „Essenzialismus“ der Onto-theo-logie aber nicht zum Inbegriff eines versöhnten Denkens wird. Durch Christus kommt bei Tillich zwar das Neue Sein zur Welt, das als „essenzielles“ Sein bezeichnet werden kann, aber kein „essenzielles“ Denken der Metaphysik.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

Ganz in lutherischer Tradition sieht Tillich die Existenz des Menschen von der „Knechtschaft des Willens“ geprägt (88). Versuche der Selbst-Erlösung über Moral, Askese, Mystik, Sakramente, kirchliche Lehre und Gefühle (!) sind zum Scheitern verurteilt (89-98). Das Neue Sein muss dem in der Existenz gefangenen Menschen von außen zugesprochen werden. Dies geschieht durch das „Symbol des Christus“ (103). Dabei hält Tillich daran fest, dass dieses Symbol eine geschichtliche und eine trans-geschichtliche Dimension habe. Erlösung geschehe als fundamentale Kehre in der Geschichte, die gleichwohl noch die Vollendung der Versöhnung erwartet, und in einem Aufstieg aus der Geschichte in der jeweiligen Gegenwart. Beide Dimensionen sind untrennbar verbunden (98). Doch gerade diese Verbindung von Zeit und Ewigkeit ist und bleibt paradox: „Die christliche Behauptung, dass das Neue Sein in Jesus als dem Christus erschienen ist, ist paradox. Sie ist das einzige allumfassende Paradox des Christentums“ (100). Tillich grenzt das Paradoxon gegen Dialektik und Irrationalität ab. Gleichwohl erregt das Paradoxon „das Ärgernis“, dass der Mensch in seiner Alltäglichkeit nichts zu seiner Versöhnung beitragen kann, diese Versöhnung gleichwohl wirklich ist, aber die volle Wirklichkeit des Neuen Seins zugleich noch ausständig ist (102). Christus ist der Inbegriff der paradoxen Situation des Menschen:

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Das Neue Sein in Jesus

Das christliche Paradox

Zitat

„Das Paradox der christlichen Botschaft besteht darin, dass in einem personhaften Leben das Bild wesenhaften Menschseins unter den Bedingungen der Existenz erschienen ist, ohne von ihnen überwältigt zu werden. Man könnte von wesenhafter Gott-Mensch-Einheit in der Existenz sprechen, aber die Klarheit des Gedankens ist besser gewährleistet, wenn man einfach von wesenhaftem Menschsein unter den Bedingungen der Existenz spricht“ (104).

Interessanterweise wendet sich Tillich skeptisch gegen den Begriff der Inkarnation Gottes in Jesus von Nazaret. Gott könne nicht aufhören, Gott zu sein  – was aber die Formel von der Menschwerdung Gottes impliziere –, weshalb nur eine göttliche „Hypostase“ oder der „Sohn Gottes“ oder der „Mensch von oben“ sich inkarnieren könne. Doch auch diese Bezeichnungen seien irreführend, weil polytheistisch deutbar. Wichtig ist zu sehen,

Wesenhaftes Menschsein unter den Bedingungen der Existenz

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Der Abgrund

Keine „göttliche Natur“

dass für Tillich wie für die gesamte Moderne die vernünftige Mitte, die die Extreme auch im Angesicht der Vernunft verbindet, entfallen ist. Das Besondere der Vernunft besteht gerade in der Vermittlung der Extreme, weshalb ja auch eine spekulative oder onto-theo-logische Christologie niemals paradoxal, sondern hypothetisch- oder disjunktiv-logisch dachte. Doch anstelle der Mitte finden wir hier den Abgrund, der auch durch den Gedanken des Mittlers nicht vermittelt wird, was daran zu erkennen ist, dass Gott selbst, das Unbedingte, bei Tillich eben nicht Mensch wird. Dennoch versucht er den Kerngedanken der „katholischen Tradition“ nahezukommen (156). Sich von der liberalen und der (neo)orthodoxen Methode des Protestantismus abgrenzend, anerkennt Tillich die schützende Funktion der dogmatischen Sprachregelungen der Tradition, fordert jedoch deren Reformulierung, damit sie in der Lage seien, das Ereignis des Anbruchs des Neuen Seins angemessen zu interpretieren. Tillich räumt ein: „Das Ereignis Jesu als der Christus wurde so gedeutet, dass sowohl sein Christus-Charakter als auch sein Jesus-Charakter erhalten blieb“ (157). Aus dieser Problemstellung resultiere „[d]ie christologische Aufgabe der gegenwärtigen Theologie“ (157). Wie zu erwarten ist es vor allem der onto-theo-logische „Natur“Begriff, den Tillich ablehnt. Dabei interpretiert er die Wendung „menschliche Natur“ in einem doppelten Sinn: zum einen als Essenz, zum anderen als Existenz. Erstere bezeichne die unverdorbene Natur des Menschen vor dem Fall und letztere die Fülle menschlicher Zweideutigkeiten und Abgründe nach dem Fall. Jesus sei nun der Existenz vollständig verbunden und ganz in dieses abgründige Dasein eingelassen, allerdings nicht ohne die ursprüngliche Einheit mit Gott ungebrochen zu bewahren (145ff. und 159). Jede supranaturale Dimension der Existenz Jesu lehnt Tillich ab. Da Gott aber keine von der Essenz getrennt Existenz habe und zudem jede Essenz transzendiere, sind diese Begriffe und mithin die Rede von „göttlicher Natur“ abzulegen. Da aber Christus (der Jesus von Nazaret ist) nicht jenseits von Essenz und Existenz angenommen werden kann, komme ihm keine „göttliche Natur“ zu. Damit entfällt die theo-logische Dimension und es bleibt die anthropo-logische. Von hier aus reformuliert Tillich das vom Chalcedonense intendierte, indem er postuliert,

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Zitat

„dass in Jesus als dem Christus die ewige Einheit von Gott und Mensch historische Wirklichkeit geworden ist. In seinem Sein ist das Neue Sein wirklich und das Neue Sein ist die wiederhergestellte Einheit zwischen Gott und Mensch“ (160).

Durch diese Dynamisierung der statischen Aussagen der traditionellen Dogmatik mit Relationsbegriffen könne die Christologie auch nicht nur im Sinne der Inkarnation des Gottessohnes gedacht werden, vielmehr müsse ein adoptianistisches Moment dazu kommen, da nur so die Spannungen, das Wagnis, die Gefahren und die Freiheit im Leben Jesu uneingeschränkt denkbar seien. Zugleich führt Tillich diese Verbindung von Inkarnation und Adoption konfessionalistisch eng. Trotz dieser Engführung betont Tillich die universale soteriologische Dimension des Christusereignisses (163–170). Die ganze Welt ist in Christus mit Gott versöhnt, durch Gott in das Neue Sein gesetzt und von Gott angenommen: Zitat

„So wie der Protestantismus die Rechtfertigung des Sünders lehrt, so fordert er eine Christologie der Teilnahme des Christus an der sündigen Existenz. Das christologische Paradox und das Paradox der Rechtfertigung des Sünders sind ein und dasselbe Paradox. Es ist das Paradox, dass Gott eine Welt annimmt, die ihn verwirft“ (162).

2.3.4 Spätmoderne Entwicklungen in der protestantischen Theologie Etwa seit dem Zweiten Weltkrieg ereignen sich geistesgeschichtliche Umbrüche, die auch die religiösen und theologischen Vorstellungen von Jesus Christus nachhaltig verändern. Bezüglich der katholischen Christologie ist zu bemerken, dass das II. Vatikanum einen Modernisierungsprozess auch offiziell ermöglicht hat, der im theologischen Diskurs dazu führt, dass endlich auch die Einsichten der bio-anthropo-logischen Dimension offiziell rezipiert und weitergedacht werden konnte. Freilich kaufte sich

Dynamische Einheit von Gott und Mensch

Soteriologische Dimension

312

Zweite Rückfrage nach dem historischen Jesus

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

die bis dahin neuscholastisch dominierte katholische Theologie all die Probleme ein, die die protestantische Welt schon seit mehr als einem Jahrhundert prägten, man denke an die Frage nach dem historischen Jesus bzw. die Geschichtlichkeit des Glaubens und der kirchlichen Lehre zu nennen. Schon Hans Urs von Balthasar und vor allem Karl Rahner waren Vorkämpfer für die so genannte „anthropologische Wende“ im Katholizismus. Walter Kasper oder Peter Hünermann stehen für nachkonziliare Versuche, die neuzeitlich-modernen Fortschritte aufzuarbeiten. Der Aufbruch, der nicht ohne Rückschläge und Irrwege geschehen konnte, führte dazu, dass die konfessionellen Unterschiede bei der Christologie heute nur noch eine recht nebensächliche Rolle spielen. Im protestantischen Diskurs verlangsamt sich zunächst die Innovationsdynamik. Zwar gibt es weiterhin große theologische Persönlichkeiten, um hier nur Wolfhart Pannenberg und Eberhard Jüngel zu nennen, doch verliert die Theologie und mithin die Christologie ihr modern-revolutionäres Pathos, das von Strauß bis Barth den christologischen Diskurs prägte. Grob gesagt pflanzen sich die beiden Hauptlinien – die liberale anthropo-logische und die neoorthodox theo-logische – fort, wobei Annäherungen und Überkreuzungen die Kluft verringern. Auch bleiben beide Linien weitgehend den unterschiedlichen christologischen Grundoptionen treu: einer bei Jesus ansetzenden „Christologie“ von unten und einer bei Christus bzw. beim Glauben ansetzende „Christologie von oben“. Pannenberg wäre eher der liberalen und Jüngel eher der kerygmatischen Linie zuzuordnen. Ein wesentlicher Impuls für die spätmoderne Christologie war die Zweite Rückfrage nach dem historischen Jesus, die Ernst Käsemann 1952 ausgelöst hatte und die sich durch das so genannte Differenzkriterium auszeichnet: Als historisch gilt, was Jesus vom Judentum seiner Zeit unterscheidet. Gerade der bioanthropo-logische Grundzug der Zeit drängte noch einmal dazu, das Leben Jesu in seiner historischen Wirklichkeit als wesentlichen Bezugspunkt des Glaubens herauszuarbeiten. Darüber hinaus ist die christologische Reflexion in unterschiedlichen Ausprägungen bemüht, das Paradigma moderner Wissenschaftlichkeit und Ergebnisse säkularer Forschung ausdrücklich zu berücksichtigen. Naturwissenschaftliche Einsichten werden mit Blick auf die Schöpfungsvorstellungen und das Menschenbild ebenso relevant wie historische, soziologische und philosophische Methoden und Inhalte. Doch zeigt sich dabei einmal mehr der sekundäre Charakter theologischer und damit auch christologi-

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scher Reflexion. Die entscheidenden Impulse für den Fortschritt der Theoriebildung kommen von außen. Von immenser Bedeutung wird jedoch auch das kulturell-geographische Außen. Langsam wird sich die sehr selbstbewusste deutschsprachige Theologie der Tatsache bewusst, dass sich entscheidende Fortschritte in der Theoriebildung außerhalb ihrer ereignet haben und ereignen. Für die protestantische Diskussion wird Nordamerika und für die katholische Südamerika mehr und mehr zum gleichrangigen, wenn nicht gar vorrangigen Gesprächspartner. Doch zunächst geht es in der deutschsprachigen Theologie noch stark um die Aufdeckung der eigentlichen Wirklichkeit des Lebens. Spätmoderne Christologie bleibt die „Theorie der sich selbst erschließenden Wirklichkeit“:178 Zitat

„Der Deutungsaspekt des Glaubens in der Christologie bezieht sich auf die Unterscheidung zwischen der Entgegensetzung von vordergründigen oberflächlichen Wahrnehmungen des Lebens in der modernen funktionalisierten, technisierten und kommerzialisierten Welt und der Glaubenseinsicht in deren eigentliche, tiefere, wesentliche Struktur.“178

Gerhard Ebeling Für Gerhard Ebeling (1912–2001) wird wie für Ernst Käsemann (1906–1998)179 die Rückfrage nach dem historischen Jesus wieder zu einem zentralen Problem der christologischen Reflexion. Damit bewegt sich Ebeling im Umfeld der Zweiten Rückfrage. Jesus wird für ihn als Zeuge des Glaubens relevant.180 In Jesus wird deutlich, was eine Existenz aus dem Glauben bedeutet. Damit erhält sich die existenzialistische Betrachtung Jesu. Durch die Auferstehung kommt kein neuer Glaubensgegenstand hin-

178 Wittekind: Christologie im 20. Jahrhundert, 31. 179 Käsemann, Ernst: Das Problem des historischen Jesus, in: Ders.: Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 61970, 187–214. 180 Ebeling, Gerhard: Das Wesen des christlichen Glaubens, Freiburg/Stuttgart 1959 (darin v.a. IV. Der Zeuge des Glaubens und V. Der Grund des Glaubens), 48ff.

313 Impulse von außen

Theorie der sich selbst erschließenden Wirklichkeit

314

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Lebenszusammenhang mit Gott

Hermeneutik

zu, wohl aber wird nun der historische Jesus und nicht der Christus des Kerygmas zum Glaubensgrund.181 Zu bemerken ist dabei allerdings die weitere Verlagerung des Akzents, die sich bereits bei Tillich abzeichnete. Auch Ebeling ist wie Tillich im Gefolge des späten Heidegger „unterwegs zur Sprache“. Die sprachliche Konstitution der Welt wird auch christologisch relevant. Durch Jesus als Wort Gottes wird gerade die Sprachwerdung von Wirklichkeit offenbar.182 Der Glaube ist das „soteriologische Ereignis der Interpretation von Wirklichkeit“.183 Das Leben will gedeutet werden. Für Ebeling wird Jesu „Lebenszusammenhang mit Gott in einzigartiger Weise für andere zur Quelle eines solchen Lebenszusammenhangs“.184 Die Frage nach der Interpretation des Lebens und damit nach Hermeneutik rückt in den Vordergrund und relativiert die Fixierung auf die positivistisch verstandene historische Wirklichkeit: Zitat

„Aus dem historischen Engpaß führt allein dasjenige Geschichtsverständnis heraus, das am Wortgeschehen und damit an der Sprachlichkeit der Wirklichkeit orientiert ist. Darum lautet die sachgemäße Frage nach dem Geschehen nicht einfach: Was ist passiert? Welche Fakten haben sich eigentlich ereignet? Wie sind sie zu erklären? oder dergleichen, sondern: Was ist zur Sprache gekommen?“185

181 Ebeling: Das Wesen des christlichen Glaubens, 66ff. 182 Vgl. dazu Wittekind: Christologie im 20. Jahrhundert, 33. 183 Ebeling, Gerhard: Wort Gottes und Hermeneutik, in: Ders.: Wort und Glaube. Bd. II. Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Lehre von Gott, Tübingen 1969, 319–348; dazu Wittekind: Christologie im 20. Jahrhundert, 33. 184 Ebeling, Gerhard: Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 2, Tübingen 1979, 76. Zu Ebeling insgesamt knapp und konzise auch Danz: Christologie, 159–164. 185 Ebeling, Gerhard: Die Frage nach dem historischen Jesus und das Problem der Christologie, in: Ders.: Wort und Glaube, Tübingen 1960, 300–318, 307.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

315

Wolfhart Pannenberg Wolfhart Pannenberg sucht wiederum auf eigenem Weg nach der Verbindung zwischen Jesus und Christus im Horizont des bio-anthropo-logischen Paradigmas. Wenn dabei die Geschichte selbst zum Medium für die Offenbarung Gottes wird, verlässt er das moderne Standardmodell der Historizität, das von der rein weltlich zu fassenden Analogie aller Ereignisse ausgeht. Doch nur vordergründig greift Pannenberg zurück auf die hegelsche Geschichtsphilosophie. Während für Hegel wie für die gesamte onto-theo-logische Denkweise das Vollendete bereits gegenwärtig ist, ist es in Pannenbergs universalgeschichtlichem Entwurf noch ausständig. Während für Hegel die Geschichte die Außenseite des Begriffs ist, die sachlich gesehen der Äußerlichkeit vorausgeht, bleibt für Pannenberg die Geschichte zweideutig. Zunächst weitet Pannenberg den Offenbarungsbegriff von der Engführung auf Jesus Christus oder die Heilige Schrift. Geschichte insgesamt wird als Offenbarungsgeschehen begriffen. Gott offenbart sich in geschichtlichen Tatsachen. Und gerade deshalb kann sich Offenbarung erst am Ende der Geschichte als vollendete Selbstmitteilung Gottes erweisen. Sie bleibt wesentlich vorläufig. Die eschatologische Selbstmitteilung Gottes habe sich bereits in der Geschichte Jesu, in den Tatsachen seines Lebens, vorläufig ereignet. „Das Thema der Christologie ist mit der urchristlichen Interpretation der Person und Geschichte Jesu von Nazaret als des Messias Gottes gegeben“.186 Dieser Deutungsakt ist der Ursprung des Kerygmas, das aber seinen Sachgrund hat im „irdischen Auftreten Jesu, seinem Geschick am Ende seines irdischen Weges und dem Handeln Gottes an ihm durch seine Auferweckung von den Toten“ (316). Zwar zeige sich bereits im Leben und Wirken des irdischen Jesus, wie er von der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft rekonstruiert wird, seine Verbundenheit mit dem Vater (366), doch bleibt gerade die Einheit mit Gott zweideutig und strittig (416), weshalb ja auch der Tod Jesu am Ende seiner Wirksamkeit steht. Erst durch das Eingreifen Gottes in der Auferstehung wird der Anspruch Jesu eindeutig (402). Wie die Weltgeschichte sich in der Auferstehung der Toten erfüllt, so erfüllt sich die Geschichte Jesu mit

186 Pannenberg, Wolfhart: Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, 15 und ders.: Systematische Theologie, Bd. 2, Göttingen 1991, 315. Die weiteren Angaben im Text beziehen sich auf diesen zweiten Band des Werks.

Geschichte als Offenbarung

Geschichte ist offen und zweideutig

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Auferstehung als Vorlauf in die Vollendung

Vollendung in der gottmenschlichen Einheit

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

seiner Auferstehung. Die historische Tatsache der Auferstehung, d.h. des leeren Grabes, wird damit zur proleptischen Vollendung der Selbstmitteilung Gottes. Pannenberg macht deutlich, dass sein Verständnis der Christologie im Horizont einer allgemeinen Anthropologie angesiedelt ist. Dabei erscheint Jesus als „der neue Mensch“ und als der „Urheber einer erneuerten Menschheit“ (336–355). Diese paulinischen Motive haben wie das johanneische Motiv der Inkarnation die Funktion, „den Anspruch auf eine über den Bereich des jüdischen Glaubens hinausreichende, allgemein menschliche Relevanz der Person und Geschichte Jesu zum Ausdruck zu bringen“ (336). Das Neue besteht zunächst im Gehorsam gegen Gott und in der Überwindung der Vergänglichkeit. Doch tiefer gefasst ist die Person Jesu in die gesamte Heilsgeschichte eingeordnet. Von den frühen Kirchenvätern übernimmt Pannenberg das „Konzept einer auf die Vollendung des Menschen in Jesus Christus zielenden Heilsgeschichte“ (337). Diese Vollendung besteht in der gottmenschlichen Einheit. In diesem Horizont interpretiert Pannenberg das Dogma von Chalcedon mit Karl Rahner neu. Es gehe nicht darum, zwei getrennte und vollkommen selbstständige Naturen, die Gottheit und die Menschheit, irgendwie nachträglich zu verbinden, weder im Individuum Jesus noch in der Menschheit. Vielmehr sei der Mensch bereits als Geschöpf in einer prinzipiellen Weise auf Gott hin ausgerichtet.

Zitat

Die ‚Natur‘ des Logos in allen Geschöpfen

„Der ewige Sohn oder Logos ist darum der menschlichen Natur nichts Fremdes. Sie ist vielmehr ‚sein Eigentum‘ (Joh 1,11). Weil alle Geschöpfe der schöpferischen Tätigkeit des Sohnes infolge seiner Selbstunterscheidung vom Vater ihr selbstständiges Dasein verdanken, weil der Logos als generatives Prinzip der Andersheit der Grund ihrer geschöpflichen Selbstständigkeit ist, darum kommt in allen Geschöpfen die ‚Natur‘ des Logos in irgendeinem Grade zum Ausdruck. Beim Menschen ist das in höherem Maße der Fall als in der übrigen Schöpfung, weil der Mensch fähig und dazu bestimmt ist, Gott von sich und sich von Gott zu unterscheiden, so dass die Selbstunterscheidung des Sohnes vom Vater in ihm Gestalt gewinnen kann. Die menschliche Natur als solche ist zur Inkarnation des ewigen Sohnes in ihr bestimmt.“

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

Mit diesem Rückgriff auf Karl Rahners transzendentale Ableitung der Christologie aus der Anthropologie187 wird Pannenberg nicht nur dem Anspruch gerecht, den modernen Gedanken einer Evolution christologisch zu reinterpretieren, sondern er nimmt hegelische Motive der Selbstentfaltung des Begriffs (Logos) durch dialektische Differenzierung und Motive der Prozesstheologie von John Cobb auf (333). Entsprechend ist die Christologie in ein theologisches Gesamtkonzept eingebettet, das mit der Entfaltung des trinitarischen Gottes einsetzt.188 Gerade indem sich Jesus von Gott unterscheidet und sich nicht mit ihm identifiziert, erweist er sich als der Sohn.189 Gott, der sich in sich in Vater und Sohn unterscheidet, unterscheidet die Welt von sich, und die Menschen kommen zur Anerkennung Gottes durch ihre Selbstunterscheidung von Gott. Obwohl es die Menschheit ist, die zur gottmenschlichen Einheit in Selbstunterscheidung angelegt ist, fällt Pannenberg nicht in eine Gattungschristologie à la Strauß zurück, denn erst durch Jesus in seiner historischen Einmaligkeit gewinnt die allgemeine Geschichte ihren wahren Inhalt. „Diese allgemeine Relevanz gehört selbst zur Besonderheit der geschichtlichen Person Jesu.“190 2.4 Schlaglichter auf die moderne katholische Christologie Die katholische Christologie des 19.  Jahrhunderts setzt einerseits die scholastischen Traditionen fort, lässt sich aber andererseits intensiv auf die Entwicklungen seit der Aufklärung, aber auch der idealistischen Philosophie ein. Vor allem in Tübingen bildet sich parallel zur protestantischen Theologie um Ferdinand Christian Baur (1792–1860) eine eigene katholische Schule in einem weiten Wortsinn heraus. Johann Sebastian von Drey (1777–1853), Johann Adam Möhler (1796–1838), Johann Baptist von Hirscher (1788–1865) sowie Franz Anton Staudenmaier

187 Pannenberg: Systematische Theologie 2, 331f. Mit Rahners Betonung der Logoshaftigkeit der Wirklichkeit und der anthropologischen Begründung weist Pannenberg auch die Kritik am Inkarnationsgedanken als Mythos durch John Hick zurück. Siehe Hick, John: Jesus and the world religions, in: Ders.: The Myth of God Incarnate, London 1977, 167–185. 188 Pannenberg Wolfhart: Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, 283–364. 189 Pannenberg: Systematische Theologie 2, 416. 190 Pannenberg: Systematische Theologie 2, 334.

317

Selbstunterscheidung Gottes

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Katholische Tübinger Schule

Neuscholastische Christologie

Der Aufbruch

(1800–1856) und Johannes von Kuhn (1806–1887) sind hier zu nennen. Freiheit und Vernunft, Bewusstsein und Geschichte werden zu Themen auch der katholischen Christologie. Interessant in diesem Zusammenhang wäre die Auseinandersetzung zwischen dem Katholiken Möhler (Symbolik, oder Darstellung der dogmatischen Gegensätze der Katholiken und Protestanten nach ihren öffentlichen Bekenntnißschriften, 1832) und dem Protestanten Baur (Der Gegensatz des Katholicismus und Protestantismus nach den Principien und Hauptdogmen der beiden Lehrbegriffe, 1834), doch sprengt diese theologiegeschichtliche Fragestellung den Rahmen der vorliegenden Untersuchung. Der Neuansatz in der katholischen Theoriebildung wird allerdings durch das Aufkommen der Neuscholastik massiv unterdrückt. Während sich in den romanischen Ländern die scholastische Tradition mehr oder weniger ungebrochen fortsetzt, wird sie im deutschen Sprachraum durch das Wirken von Theologen wie Josef Kleutgen (1811–1883) in neuer Weise durchgesetzt. Freilich ergeben sich dadurch auch deutliche Umbildungen etwa bei Matthias Joseph Scheeben (1835–1888). Hierbei kommt es durchweg zur Repristination des onto-theo-logischen Grundansatzes, der vom Primat der Idee ausgeht und der phänomenalen Wirklichkeit den zweiten Platz in der Ordnung der Dinge zuweist. Die Neuscholastik, die mit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869– 1870) lehramtlich durchgesetzt wurde, wendet sich sowohl gegen die neuzeitliche Metaphysik des Gottes in uns, die in den Entwürfen von Kant bis Schelling ihren Höhepunkt findet, als auch gegen die nachmetaphysische Konzentration auf den Gottmenschen in Knechtsgestalt, will sagen gegen die bio-anthropo-logische Wende. Stattdessen soll die Onto-theo-logie des Gottes unter uns, wie sie die patristisch-scholastische Phase der Metaphysik prägt, wieder durchgesetzt werden. Diese „Theologie der Vorzeit“ negiert die moderne Gegenwart, wird aber genau dadurch ihrerseits modern, ist es doch ein Wesenszug des nachspekulativen Denkens der industriellen Moderne, die eigene Gegenwart zu negieren und dem Entzug des Wesentlichen die Hoffnung auf die künftige Versöhnung gegenüberzustellen. Für die katholische Theologie des 19. Jahrhunderts ist die Wiederherstellung der mittelalterlichen Verhältnisse das erhoffte Ideal, wobei die dynamische Realität des christologisch inspirierten Geschichtsverlaufs übersehen wird. Erst in der Mitte des 20.  Jahrhunderts öffnen Theologen wie Karl Rahner (1904–1984) und Hans Urs von Balthasar (1905–1988) die katholische Theoriebildung bewusst und affirmativ für die anthropologische Moderne.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

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2.4.1 Karl Rahner Die wohl wirkmächtigste Christologie eines katholischen Theologen findet sich in Karl Rahners Grundkurs des Glaubens.191 Die hier gebündelten Überlegungen gehen vor allem auf zwei Aufsätze aus den fünfziger Jahren zurück.192 Rahners transzendentaler Ansatz selbst ist geprägt von Immanuel Kant, mehr aber noch von Martin Heidegger, da das Apriori nicht auf ein Vernunftgefüge vor aller Erfahrung wie beim Königsberger Philosophen zielt, sondern auf eine transzendentale Seinserfahrung vor aller kategorialen Wirklichkeit des Seienden. In Rahners christologischem Ansatz des Grundkurses werden mehrere moderne Ansatzpunkte kombiniert. Rahner schickt den eigentlich christologischen Überlegungen die Anmerkung voraus, dass wir mit Jesus Christus zwar zum „schlechthin Christlichen des Christentums“ kommen (178), aber diese Besonderheit des Glaubens sich vor dem Horizont einer ungläubig gewordenen Welt in einer Weise zu verantworten hat, dass die vordergründige Nichtannahme Jesu nicht notwendigerweise die Nichtannahme „der übernatürlich gnadenhaften Selbstmitteilung Gottes“ impliziert. Die moderne Negation von Metaphysik und Christentum wird also als Wirklichkeit vorausgesetzt und zugleich unterlaufen, weil es nicht auf die vordergründige Affirmation Jesu in satzhafter Wahrheit ankommt. Damit ist bereits angesprochen, dass die rechtfertigende Gnade zwar objektiv in Jesus gegeben ist, jedoch subjektiv und genauer noch existenziell angenommen werden muss: Zitat

„Weil die transzendentale Selbstmitteilung Gottes als Angebot an die Freiheit des Menschen einerseits ein Existential jedes Menschen, anderseits ein Moment an der Selbstmitteilung Gottes an die Welt, die ihn Jesus Christus ihr Ziel und ihren Höhepunkt hat, ist, kann man durchaus von einem anonymen Christen sprechen“ (178).

191 Rahner, Karl: Grundkurs des Glaubens. Einführung in den Begriff des Christentums, Freiburg 1976, bes. 180–312. Die weiteren Angaben im Text beziehen sich auf dieses Buch. 192 Rahner, Karl: Probleme der Christologie von heute, in: Ders.: Schriften zu Theologie Bd. 1, Einsiedeln 41960, 169–122; Ders., Zur Theologie der Menschwerdung, in: Ders.: Schriften zur Theologie, Bd. 4, Einsiedeln/Zürich/Köln 41964, 134–156.

Grundkurs des Glaubens

Selbstmitteilung Gottes

Transzendentale Christologie

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Methodisch unterscheidet Rahner mit Kant, aber mehr noch mit Martin Heidegger zwei Annäherungen an Christus. Rahner übernimmt Heideggers ontologische Differenz zwischen Sein und Seiendem, Existentialem und Existentiellem, Ontologischem und Ontischem, wenn er formuliert:

Zitat

„… eine essentiale, existential-ontologische, transzendentale Theologie, die in allgemeiner Ontologie und Anthropologie eine apriorische Lehre vom Gottmenschen entwerfen muss und so allererst die Bedingungen der Möglichkeit eines echten Hörenkönnens und einer Einsicht in das Hörenmüssen der geschichtlichen Botschaft von Jesus dem Christus zu konstruieren versucht, und andererseits eine schlichte geschichtliche Bezeugung dessen, was sich in Jesus, seinem Tod und seiner Auferstehung ereignet hat und was in einer einmaligen, unauflöslich geschichtlichen Konkretheit den Boden der Existenz und das Ereignis des Heils für den Christen bildet, so dass hier das Geschichtlichste das Wesentlichste ist“ (178f.).

Christologie einer evolutiven Weltanschauung

Emergenz des Geistes

So sehr Rahner die Bedeutung der existenziell-ontisch-geschichtlichen Wirklichkeit hervorhebt, so sehr legt er in seiner Untersuchung das Gewicht auf die existential-ontologische Seite. Um nun die Schwierigkeiten zu überwinden, die mit dem Wort „Christentum und moderner Geist“ angezeigt sind (181), setzt Rahner mit einer transzendentalen Reflexion auf das „heutige evolutive Weltbild“ ein (182). Weil die Moderne und der mit ihr verbundene Materialismus nicht nur den Primat der Idee, des Logos, des Geistes in Frage gestellt hat, sondern mehr noch die substanzielle Realität des Geistes negiert, erneuert Rahner eine evolutive Betrachtung des Materie-Geist-Dualismus, indem er den Geist aus der Materie im Prozess der Evolution emergieren lässt. Er grenzt sich dabei von seinem Ordensbruder Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) und dessen naturwissenschaftlich fundierten Evolutionismus des Geistes ab (183), macht Anleihen bei einem (idealistischen) Monismus (183–185, 190) und postuliert letztlich mit Heidegger einen Primat des Seins über das Seiende, wobei er den Menschen als dasjenige Wesen ins Spiel bringt, das sich durch Offenheit auf das Sein selbst auszeichne. Das Sein wird freilich bei ihm zugleich mit Gott identifiziert.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

Deshalb kann Rahner auch die traditionellen Termini der Theologie neu interpretieren. Die Geschichte von Geist und Materie führe durch die ihr eingestiftete „aktive Selbsttranszendenz“ (185–188) schließlich im Menschen zu einem „kosmischen Selbstbewusstsein“ (190), das aber nichts anderes sei als begnadete Schöpfung und Anfang der Glorie (vgl. 191):

321

Aktive Selbsttranszendenz

Zitat

„Eben dieses Wesen des Menschen aber ist es, das durch seine höchste, freie, ihm von Gott her ungeschuldet ermöglichte und volle Selbsttranszendenz in Gott hinein in und durch die Selbstmitteilung Gottes seine und der Welt Vollendung ‚erwartet‘ in dem, was wir in christlichen Begriffen Gnade und Glorie nennen“ (182f.).

Rahner postuliert eine Wechselwirkung von göttlicher und geschöpflicher Initiative. Gnade und Freiheit bedingen einander gegenseitig (186f.) und finden ihre vollendete Gemeinschaft im Begriff der „hypostatischen Union“, wo göttliche und menschliche Realität unüberbietbar verbunden werden (183; 196–198). Entsprechend ist der „Gottmensch“ Jesus der Beginn der Vollendung der Welt, die als Selbsttranszendenz in die absolute Nähe des Geheimnisses Gottes führt (vgl. 188). Da die Geschichte der Menschheit aber auf Interkommunikation geistiger Subjekte hin ausgelegt ist, gewinnt der in Christus erreichte evolutive Durchbruch (193f.) eine Heilsrelevanz für alle Menschen (194f.). Nachdrücklich betont Rahner, dass die hypostatische Union in Christus prinzipiell keine andere Verbindung von Gottheit und Menschheit impliziert als bei allen Menschen (200). Insofern die mit der unio hypostatica gegebene Anschauung Gottes aber in Christus einen vorläufigen Höhepunkt der Menschheitsgeschichte meint, dessen Sinn und Zweck eben darin besteht, die Vollendung allen Menschen anzuzeigen und exemplarisch vorwegzunehmen, hat sie auch den Charakter der Einzigartigkeit (201). Nur in Jesus Christus ist diese „unüberbietbare Selbstmitteilung Gottes an alle Menschen … in einer unwiderruflichen Weise geschichtlich greifbar und zu sich selbst gekommen“ (201). Doch nicht nur diese objektive Seite der Mitteilung, sondern auch die Annahme der Botschaft bleibt eine von Gott selber bewirkte Wirklichkeit (202). Die transzendentale Christologie soll verhindern, dass die traditionellen Aussagen der Theologie über Christus als „mytholo-

Ineinander von Freiheit und Gnade

Jesus als Beginn der Vollendung der Welt

322

Menschwerdung Gottes

Gegen den Mythologieverdacht

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

gische Überhöhungen“ geschichtlicher Ereignisse (207) aufgefasst werden. Rahner ist sich sehr wohl bewusst, dass sowohl das geschichtliche Ereignis als auch das faktische Glaubensverhältnis der Gläubigen zu Jesus (202–206) den transzendentalen Reflexionen vorausgehen. Dadurch entfällt jedoch nicht das Bedürfnis einer gründlichen Klärung der Begriffe „Gott“ (213f.) und „Mensch“ (211) sowie der Frage nach einer möglichen „Menschwerdung“ Gottes (212), zumal sich die Frage stellt, ob und inwiefern der Unveränderliche etwas „werden“ könne (217–221). Es kann nicht überraschen, dass der Mensch mit einem Paradoxon als „die zu sich selbst gekommene Undefinierbarkeit“ definiert wird. Doch ist die damit angezeigte Grenzbestimmung ihrerseits auf die Undefinierbarkeit Gottes, den Rahner als das „Geheimnis“ schlechthin einführt, verwiesen. Während der Mensch das Geheimnis im Modus des Mangels ist, wird Gott als die Fülle des Geheimnisses und das Geheimnis der Fülle vorgestellt (215). Eben darin besteht die „potentia oboedientialis“ des Menschen, selbst auf das absolute Geheimnis wesensmäßig bezogen zu sein (216). Doch gerade wegen dieser substanziellen und damit auch allgemeinen Entsprechung hält Rahner umso entschiedener an der subjektiven und individuellen Wirklichkeit des Gottmenschen fest. In Jesus ist Gott als Einzelner für den Einzelnen da (217). Auch durch die Betonung der Individualität Jesu wird der Inkarnation Gottes der mythologische Charakter genommen, da es sich nicht um ein „Immer und Überall“ der Menschwerdung handele (217), sondern ein historisch greifbares Ein für Allemal. Doch nur durch die onto-logische Christologie, die notwendigerweise einer ontischen Christologie zugeordnet werden müsse, könne der „mythologische Eindruck“ vermieden werden, „Gott habe in der Livree einer menschlichen Natur, die ihm nur äußerlich anhaftet, auf Erden nach dem Rechten gesehen, weil es vom Himmel aus nicht mehr ging“ (217). Es kommt Rahner darauf an zu zeigen, dass Welt und Geschichte und damit auch Leben und Sterben Gott nicht äußerlich bleiben. Gegen eine absolute Trennung der Naturen in Christus hebt er hervor, dass „alles Werden und alle Geschichte und ihre Mühsal“ gerade nicht „diesseits des absoluten Abgrunds, der den unveränderlichen, notwendigen Gott und die veränderliche, bedingte, geschichtliche Werdewelt unvermischbar scheide“, bleibe (218). Doch wenn die Menschwerdung Gottes ernstgenommen werde, dann komme alles darauf an zu zeigen, dass die Geschichte Jesu die Geschichte des Wortes Gottes selbst sei, und dass Gott selbst durchaus etwas werden könne:

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

„Der an sich selbst Unveränderliche kann selber am anderen veränderlich sein“ (219). Wie die Vermittlung von Einheit und Dreiheit in Gott nur dialektisch gedacht werden könne, so auch die Spannung von Wandelbarkeit und Unwandelbarkeit Gottes, wobei letztere nicht als Bedürftigkeit missverstanden werden dürfe, sondern als höchster Ausdruck seiner „Vollkommenheit, die geringer wäre, wenn er nicht weniger werden könnte, als er bleibend ist“ (220). Rahner weitet den Blick, insofern er schon die Schöpfungsdifferenz als solche dialektisch auffasst. Mit einer dialektischen Kraft, die an Hegel denken lässt, parallelisiert er genesis und kenosis. In beiden Fällen setzt Gott das Andere seiner selbst und kommt doch darin zu sich selbst. Geschichte und Welt sind Material des Selbstseins Gottes an der Stelle des Andersseins (vgl. Falk Wagner). Die Schöpfungsdifferenz ist auf eine letzte Selbstmitteilung Gottes ausgerichtet: „Gott entwirft die Kreatur schöpferisch, indem er sie aus dem Nichts in ihre eigene, von Gott verschiedene Wirklichkeit einsetzt, als die Grammatik einer möglichen Selbstaussage Gottes“ (221). Entsprechend verweist der Mensch als solcher bereits als „Chiffre Gottes“ auf die göttliche Wirklichkeit in der Welt. Wieder mit einer dialektischen Volte formuliert Rahner: „Wenn Gott Nicht-Gott sein will, entsteht der Mensch“ (223). Jesus Christus aber ist die Zusage Gottes an die Welt, der Negativität, dem Leid und dem Mangel, dem Elend und dem Tod nicht das letzte Wort zu überlassen. Das Wort, der Logos Gottes, verheißt gerade die Überwindung der Differenz als solcher. Explizit geht Rahner auf dieser Basis die Geschichte des Lebens und Todes des vorösterlichen Jesus als ontisch-existenzielle Seite der Christologie durch, für die durch die transzendentale Überlegung der Boden bereitet wurde, wobei er freilich immer wieder vor der Problematik steht, dass sich die dogmatischen Aussagen auf brüchige Ergebnisse der historischen Forschung stützen (226–259). Nicht zuletzt wegen der dialektischen Relevanz der Osterereignisse widmet er sich ausführlich einer Theologie des Todes und der Auferstehung Jesu (260–279). Rahner hält an der bleibenden Verwiesenheit des Glaubens an das apostolische Auferstehungszeugnis fest, jedoch nicht ohne deutlich zu machen, dass das historische Zeugnis als solches unglaubwürdig wäre. Nur wenn der Empfänger der Botschaft selbst aus ähnlichen Erfahrungen die Glaubwürdigkeit positiv einzuschätzen imstande ist, könne eine in einem historischem Ereignis verankerte Botschaft überzeugen. Das treffe aber zu. Denn: „Wir selber sind nicht einfach und schlechterdings außerhalb der Er-

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Das Werden Gottes

Die Einheit von Schöpfung und Inkarnation

„Wenn Gott Nicht-Gott sein will, entsteht der Mensch“

Die historische oder ontische Dimension

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Die Apostel und wir

Auferstehung in den Glauben

fahrungen des apostolischen Zeugen“ (270). Das inwendige Zeugnis der Geisteserfahrung biete eine gewisse Verifikationsmöglichkeit, wenn wir selbst Auferstehungserfahrungen machen: „Man erfährt glaubend und seine eigene ‚Auferstehung‘ hoffend seinen Mut, über dem Tod zu stehen, und zwar im Blick auf den im apostolischen Zeugnis vor uns tretenden Auferstandenen“ (270). So komme es zu einer Korrespondenz zwischen transzendentaler Auferstehungshoffnung und kategorialer Gegebenheit solcher Auferstehung: „In diesem Zirkel trägt sich beides gegenseitig und bezeugt sich uns als wahr“ (270). Freilich stellt sich angesichts der aktuellen Debatten um das „leere Grab“ noch einmal die Frage, was hier eigentlich korrespondiert: die Faktizität der Auferstehung oder die Faktizität des Auferstehungsglaubens der ersten Christen. Für Rahner allerdings ist diese Frage nachrangig, da Auferstehung für ihn niemals die heilsneutrale Bleibendheit oder gar Rückkehr eines Menschen ins Leben meint, sondern das Gerettetsein des Menschen, was per se keine ontische Begebenheit ist. Auferstehung besage aber die gültige Bleibendheit von Person und Sache Jesu in ihrer Heilsrelevanz, weshalb der Glauben an die Auferstehung ein inneres Moment der Auferstehung selbst ist: „In diesem Sinn kann man ruhig und muss man sagen, dass Jesus in den Glauben seiner Jünger hinein aufersteht“ (263). So ist für Rahner die Frage nach dem leeren Grab dem Glauben äußerlich. Der Glaube, um den es hier geht, weiß sich primär als „göttlich gewirkte Befreitheit über alle Mächte der Endlichkeit, der Schuld und des Todes“. Allerdings ist sekundär betrachtet dieser Glaube nur dann nicht leer, wenn von Jesus selbst diese Befreiung und Rettung angenommen wird (263). 2.4.2 Hans Urs von Balthasar Hans Urs von Balthasar (1905–1988) kann in manchem als Gegenposition zu Rahner verstanden werden. Während Rahner sich gewissermaßen eher in einer anthropologisch gewendeten, liberalen Tradition bewegt, finden sich bei Balthasar Parallelen zu seinem Schweizer Landsmann Karl Barth. Rahner betont bei allem Festhalten an der ontologischen Differenz zwischen dem existenzialen Sein Gottes und der existenziellen Seiendheit der Welt die Korrelation zwischen beiden, während Balthasar mit Barth die Differenz von Gott und Welt, Transzendenz und Immanenz betont, der gemäß die Offenbarung in der Welt wie eine Bombe einschlägt. Mit einem Ausdruck, den Barth nach dem

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

Ersten Weltkrieg in seinem Römerbriefkommentar geprägt hat, wird die Person Jesus Christus als „Einschlagtrichter“ ins göttliche Drama eingeführt.193 Balthasar bestimmt Gott als den „GanzAnderen“.194 Jeder Versuch, eine Kontinuität zwischen Gott und Welt bzw. Gott und Mensch herzustellen, wird abgelehnt. Entsprechend wendet er sich gegen eine kosmologische Reduktion bzw. eine anthropologische Reduktion der christlichen Botschaft. Ersteres versteht das Christliche als die Vollendung des fragmentarischen Weltsinns. Balthasar rekonstruiert ein breites Panoptikum kosmologischer Reduktionen von Justin dem Märtyrer über Augustinus und Nikolaus Cusanus zu Leibniz und Schelling. Doch könne der kosmologische und geschichtliche Hintergrund, der wesentlich „natürlich“ bleibe, die „Übernatürlichkeit“ des Christentums nicht mehr rechtfertigen und ein geschichtlicher Dynamismus nach Art Hegels oder Schellings könne zwischen den Ordnungen von Natur und Gnade nicht vermitteln (18). Die anthropologische Reduktion ist nach Balthasar ein wesentlich neuzeitliches Phänomen, wobei der Kosmos mehr und mehr entgöttert und der Mensch zum maßgeblichen Ort der Wahrheit werde (19). Das Christliche werde an des Menschen Natur gemessen. Ausgehend vom Renaissancehumanismus führe die Spur über Spinoza und Mendelssohn, Locke und Toland zu Kant und Schleiermacher. Die eigentliche Vollendung der anthropologischen Reduktion sieht Balthasar in Kants kopernikanischer Wende gegeben, in der der anthropologische Subjektivismus zum Maß aller Dinge werde (21). Die gesamte nachmetaphysisch moderne Bio-Anthropo-Logie sei bereits bei Kant grundgelegt. Entsprechend zieht Balthasar die Linie der Anthropologisierung weiter über Feuerbach und Schopenhauer hinein in den Existenzialismus seiner Gegenwart. Gegen diese Immanentisierung des Göttlichen ist sein Ansatz gerichtet. Doch ebenso wird die als Extrinsezismus vorgestellte historische Kritik als Feind des Christlichen aufgebaut. Entsprechend gelte es, einen Weg „zwischen Szylla des Extrinsezismus und Charybdis des Immanentismus“ zu finden (33). Der dritte Weg der Liebe versteht sich als eine Wahrnehmung der sich offenbarenden paradoxen Herrlichkeit Gottes. Doch werden hier-

193 Von Balthasar, Hans Urs: Theodramatik II/2: Die Personen des Spiels. Die Personen in Christus, Einsiedeln 1978, 23. 194 Von Balthasar, Hans Urs: Glaubhaft ist nur die Liebe, Einsiedeln 1960, 6. Die folgenden Angaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

325

Radikale Differenz von Gott und Welt

Gegen die anthropologische Reduktion

Zwischen Extrinsezismus und Immanentismus

326

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Die Liebe

Das Fleisch des Sohnes

Die Wunde in der Weltgeschichte

bei zwei Ansätze verbunden, der personale und der ästhetische. Die Personalität der Liebe besagt, dass es sich um ein unableitbares Freiheitsgeschehen handelt. Die Erfahrung der Liebe ist ein Wunder, das auch im Nachhinein nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Das sich schenkende Du bleibt „der je andere mir gegenüber“ (34). Die ästhetische Dimension der Liebe verweist auf die Erfahrung der Schönheit, die ebenfalls einen Offenbarungs- bzw. Wundercharakter besitzt. Beide Ansätze konvergieren in ihrem phänomenalen Erfahrungscharakter. Dabei wird deutlich, dass das wesentlich Christliche für Balthasar nicht wie im onto-theo-logischen Kontext auf der Ebene der Idee angesiedelt ist, sondern wie im sonstigen bio-anthropo-logischen Paradigma auf der Ebene des Phänomens bzw. der unableitbaren und unbegreifbaren Erfahrung. Die Begegnung mit der paradoxen Herrlichkeit Gottes in der Gestalt Christi übersteigt alle bloß menschliche Vermittlung, geschehe sie durch die Bibel als das geschriebene Wort Gottes, durch das Kerygma als das lebendig verkündete Wort Gottes oder durch das kirchliche Amt als die offizielle Repräsentation des Wortes Gottes. Diese Vermittlungen bleiben gegenüber der ursprünglichen Erfahrung der Majestät Gottes in der Person Jesu sekundär. Erst das „Fleisch“ des Sohnes, der den Vater im Heiligen Geist als die göttliche Liebe auslegt, macht das Ereignis der Offenbarung aus. Der Glaubende nun sieht sich angesichts der Begegnung mit Christus insofern vor eine radikale Entscheidung gestellt, „als die Gestalt der christlichen Offenbarung entweder im ganzen als die Verherrlichung der absoluten Liebe durch sich selbst gelesen und verstanden wird, oder gar nicht“ (39). Von hier aus versteht sich die martialische Einführung Christi als Einschlagtrichter in die Geschichte. Wiewohl die Offenbarung selbst unableitbar und unbegreifbar sei, gelte es zu sehen: „die Wunde, die mit dem Auftreten Christi der Weltgeschichte geschlagen worden ist, schwärt fort“.195 Die Weltgeschichte zerfällt in zwei Teile, in einen vor ihm und in einen nach ihm. Ein Ferment, das aus dem Absoluten stammt, wurde in die Menschheit hineingesenkt, bewirkte die Lösung von der kosmischen Natur und ermöglicht ihr so „eine Freiheit und darinnen einen Absolutheitsbezug […], den sie auch in der Ablösung vom Ursprung, von Christus beibehält“ (23). Balthasar macht deutlich, dass we-

195 von Balthasar: Theodramatik II/2, 23. Die folgenden Angaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

der Marx’ Kommunistisches Manifest noch Nietzsches Verkündigung ohne den christlichen Impuls denkbar wäre. Auch in dieser Wirkungsgeschichte bleibe die Offenbarung gegenwärtig (24). Doch gegen eine Abschwächung und bloße Nutzbarmachung des Christlichen etwa im säkularen Bereich oder in „liberalen Christentümern“, die er mit der Nutzung der Sonnenenergie vergleicht, richtet sich das Anliegen Balthasars, den ­– nur mit der ungeheuren Kraft der Sonne selbst vergleichbaren  – Anspruch Jesu als solchen zur Geltung zu bringen, denn den „Anspruch Jesu kann man sich nicht universal und radikal genug vorstellen“ (24). Nicht einmal die kirchliche Überlieferung ist der Strahlkraft des Ursprungs gewachsen (26f.). Balthasar versucht zunächst, die Stellung Christi innerhalb des gott-menschlichen Dramas, das mit der Schöpfung beginnt und im Eschaton endet, herausarbeiten, um dann die Inklusion der Menschen in dieses Drama anzudeuten (30–36) und so den „Spielraum“ zwischen Gott und Mensch (37–50) zu eröffnen. Mit einem beachtlichen Methodenbewusstsein und immenser Kenntnis der traditionellen und aktuellen Diskussionslagen fordert Balthasar für die Christologie eine wesentliche „Ellipsenform“. Bezeugter Inhalt (Offenbarung) und bezeugende Form (Glaube) bedingen sich gegenseitig (53). Während sich die klassische Christologie der Väter und des Mittelalters wie selbstverständlich in dieser Ellipse bewege und dabei die Vernunft einbezogen habe, sei in der neueren Form dieses elliptischen Verhältnisses, etwa seit Schleiermacher (letztlich schon seit Luther), die objektivierende Vernunfterkenntnis wegen des Kampfes gegen den Rationalismus der Aufklärung und der idealistischen Spekulation entfallen (54ff.). Eine katholische Christologie könne sich aber diese Ausklammerung nicht leisten (56). Deshalb versucht Balthasar mit seinem eigenen Entwurf zur Erneuerung der Ellipsenform beizutragen, indem er eine „Korrelation zwischen Gottes Epiphanie und den (patristisch-rousselot’schen)196 Augen des Glaubens“ vorstellt (57). Dabei wird nicht nur der Komplex „PhilosophieDichtung“ wieder einbezogen, sondern auch die Relation Schöpfer-Schöpfung und Christus-Kirche.

196 Der französische Jesuit Pierre Rousselot (1878–1915) versuchte in Anlehnung an Maurice Blondel die scholastische Philosophie und Theologie zu erneuern und übte sowohl auf Karl Rahner als auch auf Hans Urs von Balthasar Einfluss aus.

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Die Strahlkraft des Ursprungs

Die Ellipse

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Die dramatische Gestalt Jesu

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Die große Bewährungsprobe seines Ansatzes besteht in der Rettung des für den Ansatz der „Herrlichkeit“ zentralen Begriffs der „Gestalt“ vor den Anfechtungen der historisch-kritischen Methode (57). Dafür gilt es, die Diastase von „Historie“ und „Geschichte“ zu überwinden (62–91). Erstere ist von wissenschaftlicher Neutralität und gewinnt nur hypothetische Ergebnisse, während die zweite als lebendig erfahrene, in die Gegenwart hineinwirkende Vergangenheit aufgefasst wird (62). Doch auch die Kluft von Exegese und Dogmatik versucht Balthasar durch sein Konzept des „Dramatischen“ zu überbrücken (92–110). Es sind methodologische Überlegungen, die Balthasar in seiner erstaunlichen Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der historisch-kritischen Exegese (53–135) schließlich zum Begriff der „Sendung“ als Basis seiner Christologie gewinnen will (136– 249). Dabei arbeitet er sowohl Jesu Bewusstsein der Sendung (149–184) als auch die seinsmäßige Verankerung der Sendung in der Person bzw. der Gestalt Jesu heraus (185–210). Bewusstsein und Sein der Sendung Jesu führen aber zum Einschluss der Menschen „in Christo“. Dadurch gewinnt Balthasar den universalen Spielraum der Sendung, da letztlich die gesamte Menschheit und mehr noch die Schöpfung „in Christo“ eingeschlossen ist. Nur in Christus fallen das Partikulare und das Universale zusammen, und zwar in einer Weise, die auch das Universum in die Einheit Gottes vermittelt. In diesem universalen Theodrama werden dann die weiteren Personen vorgestellt: Maria als Prototyp des vernehmenden und antwortenden Menschen (260–330), die Kirche aus Juden und Heiden in ihrem umfassenden Anspruch (331–410) und abschließend „der Einzelne“. Entsprechend der modernen Orientierung auf den Menschen als Einzelnen bzw. als Totalität der Menschheit manifestiert sich der Ansatz Balthasars damit als fest im bio-anthropo-logischen Paradigma eingebettet.197 Der trinitarische Gott bleibt in diesem Theodrama nicht nur ein Zuschauer, sondern er wird zum Mitspieler (483). Konkret wird die Teilnahme Gottes am Drama, das vom universalen Heil handelt, erst in der Person des menschlichen Individuums Jesus Christus. Entsprechend geht es im Glauben an Christus nie nur um das „Gefühl“ oder um eine „Erzählung“, sondern schlicht um „Handlung“ (486).

197 Zur Verwendung der kantischen Kategorien Einzelheit-Ganzheit als Proprium der nachmetaphysischen Moderne siehe Ruhstorfer: Gotteslehre, 30.

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

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2.4.3 Die weitere Entwicklung Die weitere Entwicklung vor allem der nachkonziliaren katholischen Theologie ist gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Es gibt beharrende Kräfte, die sich verstärkt auf patristische Modelle der Christologie besinnen, hierbei ist nicht zuletzt an Joseph Ratzinger (*1927) zu denken. Daneben weitet sich das Spektrum der verschiedenen anthropologisch gewendeten Theologien im Sinne des hier vorgestellten Modernebegriffs. Doch mit der Erschöpfung des antimetaphysischen Pathos der Moderne kommt es auch zu einer Renaissance der am neuzeitlichen Freiheits- und Subjektbegriff orientierten Christologien, die sich im katholischen Umfeld erst nachkonziliar frei entfalten können. Die Tübinger Theologen Hans Küng (*1928),198 Walter Kasper (*1933)199 und Peter Hünermann (*1929)200 mögen hier genannt werden. Gemeinsam ist ihnen der Versuch, die neuere protestantische Entwicklung beginnend mit Lessing, aber auch Kant, Fichte, Hegel, Schelling, Schleiermacher usw. in die katholische Theoriebildung zu vermitteln. Die Paradigmen Freiheit und Geschichte werden dabei leitend. Die bio-anthropo-logische Brechung des neuzeitlich onto-theologischen Ansatzes wird dabei stets begrüßt, weil dabei – auf Hegel bezogen – die letzte Identität des Begriffs oder des Geistes mit Gott einer (scheinbaren) Erneuerung der patristisch-scholastischen Differenz verbunden ist. Gleichwohl wird der Bruch im frühen 19. Jahrhundert nicht in aller Radikalität wahrgenommen, weil mit der Verabschiedung des neuzeitlichen Paradigmas der Wechselwirkung von Gott und Mensch auch die katholische Version des spekulativen Grundverhältnisses (Ursache-Wirkung) in eine prinzipielle Krise geraten würde. Entsprechend betrachtet man sich selbst in einem Kontinuum von neuzeitlich-modernem Denken, das meist als „Spätmoderne“ bezeichnet wird. Deshalb ist festzuhalten, dass die Rezeption sowohl die neuzeitlich-spekulative Christologie der Freiheit als auch die nachmetaphysische (Anti-)Christologie weder im protestantischen noch

198 Küng, Hans: Menschwerdung Gottes. Eine Einführung in Hegels theologisches Denken als Prolegomena zu einer künftigen Christologie (Ökumenische Forschungen II/1), Freiburg/Basel/Wien 1970. 199 Kasper, Walter: Jesus der Christus, Mainz 1974. 200 Hünermann, Peter: Jesus Christus, Gottes Wort in der Zeit. Eine systematische Christologie, Münster 1997.

Ratzinger

Küng, Kasper, Hünermann

330

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Vielfalt der Ansätze

Identitätskrise der Kirche – Sinnkrise der Gesellschaft

Geschichtlichkeit

Universalität

im katholischen Kontext vollkommen aufgearbeitet ist. Doch ereignet sich bereits unmittelbar mit der Öffnung der katholischen Intellektualität durch das Zweite Vatikanum auch eine bemerkenswerte Rezeption tele-semeio-logischer Motive in der christologischen Reflexion. Damit aber zeichnet sich innerhalb der Postmoderne eine bemerkenswerte Vielfalt der Ansätze katholischer Christologie ab. Exemplarisch für die neuzeitlich-moderne Christologie wird im Folgenden Walter Kaspers Ansatz kurz vorgestellt. Walter Kasper betrachtet die Christologie im Kontext der Entwicklung nach dem Zweiten Vatikanum und sieht sich hier in einem Dilemma zwischen Identität und Relevanz (13). Zugleich konstatiert er eine „Identitätskrise der Kirche“, und zwar „vor dem Hintergrund der Sinnkrise der modernen Gesellschaft“ (15). Den Identitätspunkt des Christlichen schlechthin sieht Kasper in der Kurzformel „Jesus ist der Christus“ angezeigt (14). Dabei sei dieses Bekenntnis „einerseits auf eine geradezu ärgerliche Weise konkret und andererseits auf unüberbietbare Weise universal“ (14). Eine Erneuerung der Christologie könne die ungelösten Probleme der Ekklesiologie lösen und so der Kirche zu ihrer Universalität im Sinne einer ursprünglich verstandenen Katholizität zurück verhelfen. So leiste eine Besinnung auf die Christologie, die Identität und Relevanz, Sein und Bedeutung zum Ausgleich bringe, einen wesentlichen Beitrag zur Identitätsfindung nicht nur der Kirche, sondern auch der heutigen Gesellschaft (16). Konkret werden drei große Aufgaben der heutigen Christologie bestimmt: 1. Geschichtlichkeit: Die unableitbare Historizität des singulären Geschicks Jesu von Nazaret müsse gewahrt bleiben, wobei die theologische Relevanz des Historischen nicht außer Acht bleiben dürfe (21). 2. Universalität: Die allgemeinen Einsichten der Philosophie, näher hin der Metaphysik, der Humanwissenschaften, der Soziologie gilt es zu berücksichtigen. „Es geht nicht darum, eine ontologisch bestimmte Christologie der Tradition gegen eine nicht ontologische, meist dann als funktional bezeichnete Christologie auszuspielen. Es geht vielmehr darum, eine christologisch bestimmte geschichtliche und personale Ontologie zu entwerfen“ (20). Bezüglich der Frage, wie Christologie und Gott-Welt-Verhältnis aufeinander bezogen werden, sieht Kasper zwei Möglichkeiten: Entweder wie Karl Rahner die Christologie innerhalb des Gott-Welt-Verhältnisses zu interpretieren oder wie Karl Barth das Gott-Welt-Verhältnis innerhalb der Christologie (21). Mit

2. | Die bio-anthropo-logische Christologie

dem schweizerischen Theologen Dietrich Wiederkehr (und wohl auch Hans Urs von Balthasar, s.o.) fordert Kasper dazu auf, sich das Verhältnis von Christologie und Philosophie/Kultur/Politik als eine Ellipse mit zwei Brennpunkten vorzustellen (23). 3. Soteriologie: Dieser Gesichtspunkt fasst im Verständnis Kaspers die beiden bisherigen zusammen. Die geschichtliche Person und die universale Bedeutung seien zwei Seiten einer Medaille wie auch Christologie und Soteriologie eine dialektische Einheit bilden. Deshalb sei die scholastische Trennung von Christologie und Soteriologie zu überwinden (23). Gleichwohl habe die Christologie Anteil am „geistigen Geschick der Neuzeit“, das darin bestehe, dass Subjekt und Objekt sich im Allgemeinen entfremden. Kasper fordert hier mit einer dialektischen Figur die Zusammenschau von subjektiver Innerlichkeit (Glaubensvollzug) und objektiver Gegebenheit (Glaubensinhalt), wie auch Orthodoxie und Orthopraxis, orthodoxer Supranaturalismus und modernistischer Immanentismus, ontologische und funktionale Christologie zusammengehören (25f.). Walter Kasper, dessen Habilitationsschrift dem Geschichtsverständnis Schellings gewidmet war, weiß sich in besonderer Weise dem neuzeitlichen Paradigma der Freiheit verbunden. Dabei kann es auch nicht wundernehmen, dass die logische Figur der Wechselwirkung bzw. der Dialektik hier eine zentrale Rolle spielt (z.B. 63). Die Spannungseinheit des christologischen Dogmas von Chalcedon dient in dieser disjunktiven Interpretation als Bauprinzip der Christologie. Deshalb entfaltet Kasper nach der ersten Problemstellung gegenwärtiger Christologie (13–26) die geschichtliche Frage im Sinne einer historischen Untersuchung der Menschheit Christi (27–44) sowie die religiöse Frage im Sinne einer theologischen Untersuchung des Glaubens an Jesus Christus und seiner göttlichen Natur (45–74), wobei gerade die Glaubensfrage durch die weltlich gewordene Welt vor einer epochalen Herausforderung steht, der sich Kaspar stellen will. Seine eigene Epoche steht durch die neuzeitliche Säkularisierung auf der Basis des Grundprinzips des neuzeitlichen Denkens, „des Prinzips der Subjektivität“. Bemerkenswert ist die anthropologische Wendung des Subjektivitätsbegriffs, denn Kasper begreift unter Subjektivität „die Tatsache, dass der Mensch sich selbst als Ausgangspunkt und Maß für das Verständnis der gesamten Wirklichkeit setzt“ (46). Zwei weitere Begriffe prägen die epochale Gegenwart, wie Kasper sie versteht, nämlich Freiheit und Emanzipation (47).

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Soteriologie

Dialektik

Subjektivität

Freiheit und Emanzipation

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Zitat

„Wenn Emanzipation eine Art epochales Stichwort für unsere gegenwärtige Welterfahrung und gewissermaßen eine geschichtsphilosophische Kategorie darstellt zur Charakterisierung der neuzeitlichen Aufklärungs- und Freiheitsprozesse, in deren Verhältnissen (nicht einfach: unter deren Bedingungen!) wir die christliche Erlösungsbotschaft zu artikulieren und zu verantworten haben (J.B. Metz), dann ist es eine Grundfrage heutiger Christologie, wie christlich verstandene Erlösung und neuzeitlich verstandene Emanzipation sich zueinander verhalten“ (48).

3. Die tele-semeio-logische Christologie der Postmoderne

Moderne: Kehre vom Primat Gottes zum Primat des Menschen

Im Hintergrund: Chalcedon

Der Übergang von der Onto-Theo-Logie zur Bio-Anthropo-Logie spielte sich in nicht unerheblichem Maß in religiösen und philosophischen Debatten ab, um hier noch einmal an die Auseinandersetzungen um die Philosophie Hegels bei Strauß, Feuerbach, Kierkegaard und Karl Marx zu erinnern. Zugleich war dieser Übergang von einer revolutionären Geste begleitet. Es ging um nichts Geringeres als um eine totale Wende in der Weltgeschichte. Der Sache nach kann diese Wende – auf unser Thema bezogen – mit der Kehre vom Primat Gottes zum Primat des Menschen gefasst werden. Spätestens Nietzsche konstatierte mit großem Pathos den Tod Gottes. Der Kreuzestod Gottes in der Person Jesu von Nazaret nahm nun eine neue Bedeutung an: „Gott selbst ist tot, Gott selbst bleibt tot“ (Nietzsche). Im Hintergrund stand aber auch hier das christologische Dogma von Chalcedon, das die hypostatische Einheit von Gott und Mensch im Individuum Jesus festgeschrieben hatte. Durch die dialektische Fortschreibung des Dogmas bei Hegel wurde zunächst die disjunktive Selbigkeit von Gottheit und Menschheit postuliert, die dann in die glatte Identifikation und schließlich Substitution Gottes durch den „Menschen“ abdriftete. Der geistesgeschichtliche Fortschritt wurde nicht mehr durch Kirche und Theologie motiviert, sondern vor allem durch die antichristlichen Substitutionen einer weltlich gewordenen Wirklichkeit. In besonderer Form manifestierte sich die rein weltlich gewordene Wissenskultur auch im Primat der modernen Naturwissenschaften, die allesamt methodisch atheistisch sind. Dass diese vollständige Weltwerdung der Welt Gottes, diese radikale Fleischwerdung des Logos bzw. diese

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

vollkommene Materialisierung der Idee in einem tieferen Sinn eine christologische Implikation hatte, wird meist abgeblendet. Vordergründige Gegenbewegungen der christlichen Kirchen und Theologien können am prinzipiellen Befund der Kenosis nichts ändern. Fest steht: Der seiner Gottheit ledige Mensch, die Knechtsgestalt, die in ihrem Wesen enteignete Menschheit wurde zum Konstruktionspunkt der Moderne. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die moderne Weltanschauung schlagartig ihre Glaubwürdigkeit. Die Logik der Destruktion der alten Welt und des alten Menschen hatte zur Vernichtung von Millionen unschuldiger Menschen geführt. Das Kreuz Christi erhält eine neue Bedeutung. Opfer wurden die Differenten, welche die ideologische, soziale bzw. völkische Identität vorgeblich stören. Zum Inbegriff der vernichteten Anderen wurde das jüdische Volk. „Die Juden“ waren in der überkommenen christlichen Theologie als Mörder Jesu und damit als „Gottesmörder“ diffamiert worden. Nun wuchs sich der überlieferte religiöse Antijudaismus zu einem biologischen Antisemitismus und einer weltgeschichtlichen Katastrophe aus. Täter waren weitgehend europäische Christen oder Atheisten, in jedem Fall aber Vertreter einer modernen Weltlichkeit – das Movens dahinter eine anthropologische Ideologie. Die Vorstellung von der verbindlichen Wirklichkeit des Menschen und seiner festen Identität wurde unglaubwürdig. Der normative Mensch der Moderne starb, wie vordem der metaphysische Gott gestorben ist (Michel Foucault). Diese neue Grundhaltung impliziert eine Pluralisierung, Differenzierung und Regionalisierung von Wirklichkeit. Ja, der Wirklichkeitsbegriff selbst wird verflüssigt. Galt in der OntoTheo-Logie der Primat der Idee und in der Bio-Anthropo-Logie der Primat der phänomenalen oder empirischen Wirklichkeit, so gilt nun der Primat der Zeichen, Medien und Metaphern. War der Übergang von der Metaphysik zur Moderne von der industriellen Revolution begleitet, so ereignet sich nun die mediale Revolution: Statt Dampfmaschine, Eisenbahn und Glühbirne werden Fernseher, Computer und Smartphone zu den symbolisch aufgeladenen Leitapparaten. In der Christologie führte bereits die moderne Weltanschauung zur Historisierung und Entmythologisierung der biblischen Wahrheitskonzepte, aber auch der metaphysischen Dogmen. Nun zeichnet sich nicht nur eine „Flucht vor der Geschichte“ (James Dunn), sondern auch eine Pluralisierung der Wirklichkeitsmodelle ab. Diese Modelle treten in ihrer metaphorischen Zeichenstruktur hervor. Die durch den fleisch-

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Ende der Destruktion – Anfang der Postmoderne

Tod des Menschen

Pluralität und Medialität

334

Die différance von Gott und Mensch

Dekonstruktion der Hierarchien

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

gewordenen Logos fundierte Logik der Wirklichkeit transformiert sich zum offenen Diskurs um die Wahrheit vor dem Horizont einer besonderen Wertschätzung des Anderen. Gehen wir noch einmal von den beiden Korrelaten der Christologie aus: Gott und Mensch. Nun etwa eineinhalb Jahrhunderte nach dem Tod Gottes zeichnet sich der Tod des Menschen (Michel Foucault) ab. Diese Abwendung von der Fixierung auf den Menschen, das Leben und die Welt führt nicht zu einer ungebrochenen Rückkehr Gottes, der Idee und des Himmels, sondern zur Eröffnung einer neuen Dimension der Transzendenz, die der französische Philosoph Jacques Derrida die „différance“ nennt. Das meint zum einen: Die Vollendung, die Gegenwart des Gottesreichs bzw. seiner modernen Substitute wird unendlich aufgeschoben – entsprechend der ersten Bedeutung des französischen Wortes „différer“. Zum anderen bedeutet „différer“ unterscheiden. Der absolute Unterschied Gottes zur Welt wird vervielfältigt. Letztlich durchzieht die Spur der Transzendenz Gottes alle Unterschiede in der Welt, weshalb die Spur des ganz Anderen sich auf dem Antlitz jedes Anderen findet. Unter dem Begriff der Alterität oder Andersheit, personifiziert unter dem Begriff des Anderen/der Anderen kommt es zu einer epochalen Fortbestimmung der Transzendenz Gottes, die nicht ohne Folgen bleiben kann für die Rede von der Immanenz Gottes und mithin für die Christologie.201 Die weltgeschichtlichen, wissenschaftlichen und philosophisch-theologischen Entwicklungen seit den fünfziger Jahren führen auch dazu, dass die alten Hierarchien dekonstruiert werden: Die Herrschaft der Männer über die Frauen, der Europäer über die Nichteuropäer, der Christen über die Nichtchristen bzw. umgekehrt der Atheisten über die Religiösen etc. Keine bestimmte Religion oder Konfession, auch nicht die Negation Gottes kann für sich einen Führungsanspruch behaupten. Dadurch ereignet sich eine prekäre Wiederkehr der Religionen, und zwar im Plural. Der seit der Aufklärung bestehende Primat protestantischer Theologie – und für uns hier relevant – protestantischer

201 Diese Auflösung des neuzeitlichen und mehr noch des modernen Selbst wird vor allem für die protestantische Christologie in der Folge von Schleiermacher, wie wir sie bei Christian Danz finden, zur basalen Herausforderung, da ihr damit das Fundament der christologischen Reflexion abhanden kommt. Entsprechend wird diese Dynamik bei Danz nur beiläufig zur Kenntnis genommen, ohne dass daraus Konsequenzen für den eigenen Ansatz gezogen werden.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

Christologie wird dekonstruiert. Auch katholische und orthodoxe Stimmen werden im Konzert der Interpretationen wieder relevant, doch mehr noch kommen die bisher marginalen Formen des Christentums zu Wort. Die deutschsprachige Theologie und weiter gefasst die Kultur der so genannten Ersten Welt verliert hier ihre herkömmliche Vorrangstellung.202 Die Theologien und damit auch die Deutungen Jesu von Nazaret werden kontextualisiert und pluralisiert. Dabei müssen wir bemerken, dass die Christologie selbst auf die Anklagebank der Geschichte geraten ist, hat sie doch zu nicht unproblematischen Normierungen im Menschenbild und vor allem zur Ausgrenzung der Anderen, vor allem der Juden geführt.203 Nicht nur in dieser Hinsicht wird die Christologie fragwürdig. Gemeinsam mit dem Absolutheitsanspruch der christlichen Wahrheit wird die Inkarnation Gottes zum Mythos degradiert.204 Einmal mehr wird die Zwei-Naturen-Lehre kritisiert und der Opfergedanke abgelehnt. Dennoch kommt es zu einer neuen Blüte christologischer Reflexion. Stets geht es dabei um die textuelle Struktur des Geglaubten und mehr noch um die entsprechenden Kontexte. Die verschiedenen Christologien der Befreiung setzen neue Potentiale des Glaubens frei. 3.1 Die dekonstruktive Spur der Christologie in der postmodernen Philosophie 3.1.1 Michel Foucault Michel Foucault (1927–1984) wird für unsere christologische Interpretation der Geschichte vor allem insofern relevant, als er verdeutlich, dass Gott und Mensch im Horizont der abendländischen Wissenskonstellation nur zusammen gedacht werden können. Der Gedanke vom „Tod Gottes“ wurde seit dem 19. Jahrhundert zu einer Art kulturellen Selbstverständlichkeit, zu einer

202 Siehe dazu Appel, Kurt: Perspektiven und Fragestellungen der katholischen Christologie heute, in: Danz, Christian/Murrmann-Kahl, Michael (Hg.): Zwischen historischem Jesus und dogmatischem Christus. Zum Stand der Christologie im 21. Jahrhundert, Tübingen 2010, 47–66. 203 Zum Ganzen Wittekind: Christologie, 13–46. 204 Hick, John (Hg.): The Myth of God Incarnate, London 1977 (dt. Wurde Gott Mensch? Der Mythos vom fleischgewordenen Gott, Gütersloh 1979).

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Neue Texte und Kontexte

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Das Erscheinen des Menschen

nicht weiter befragten Hintergrundannahme, die nicht eigens begründet werden muss. Nur die „Hinterweltler“, wie Nietzsche spottete, glaubten noch an das Dasein des transzendenten Schöpfergottes, der in Jesus von Nazaret Mensch geworden sei. Mit dem Ende der Metaphysik bzw. der Onto-Theo-Logie ist nicht nur das Unglaubwürdigwerden Gottes, sondern das „Erscheinen des Menschen“ verbunden, wie Foucault formuliert. Im Zuge unserer christologischen Überlegungen haben wir die entsprechende Wissenskonfiguration Bio-Anthropo-Logie genannt. Der weltliche Mensch der Moderne wird nicht mehr vom chalcedonischen Dogma mit der Gottheit zusammengespannt, sondern er entbehrt der göttlichen Dimension. Dieser neue Mensch ist, wie Michel Foucault betont, eine junge und noch dazu instabile Erfindung.205

Zitat

„Der Diskurs ist nicht das Leben: seine Zeit ist nicht die Eure; in ihm versöhnt Ihr Euch nicht mit dem Tode; es kann doch auch sein, dass Ihr Gott unter dem Gewicht all dessen, was Ihr gesagt habt, getötet habt. Denkt aber nicht, dass ihr aus all dem, was Ihr sagt, einen Menschen macht, der länger lebt als er.“206

Der Tod des Menschen

Nach Michel Foucault ist der moderne Mensch ohne Gott faktisch nicht überlebensfähig. Die gott-menschliche Einheit war die Basis für das abendländische Menschenbild bis hin zur Aufklärung und zum Deutschen Idealismus. Nur eine vergleichsweise kurze Zeit, etwa anderthalb Jahrhunderte, konnte sich der rein säkulare Mensch über Wasser halten. Freilich führt dieser

205 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt 1972, 462: „[…] der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Wenn man eine ziemlich kurze Zeitspanne und einen begrenzten geographischen Ausschnitt herausnimmt – die europäische Kultur seit dem 16. Jahrhundert –, kann man sicher sein, dass der Mensch eine junge Erfindung ist. […] Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind […], dann kann man sehr wohl wetten, dass der Mensch verschwindet wie am Meerufer ein Gesicht im Sand.“ 206 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt 1973, 301.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

Gedanke Foucault selbst nicht zum metaphysischen Gottesgedanken zurück, sondern zu einer offenen Konstruktion des Menschen. An dieser Stelle ist der erste wichtige Ertrag des foucaultschen Gedankens, das Ende des modernen Antichristentums und der ideologischen Substitutionen Gottes, festzuhalten. Foucaults radikale Kritik wendet sich nicht mehr gegen theologisch begründete Ansprüche, sondern gegen eine Herrschaft des Menschen über Menschen. Die Abschaffung Gottes als solche führte gerade nicht schlechthin zu einer Humanisierung des Menschen, sondern durchaus auch zu einer Entmenschlichung, die in den Abgründen des 20. Jahrhunderts himmelschreiend wird. Foucaults Kritik an den Normierungspraktiken des Staates, der Wissenschaften, der gesellschaftlichen Institutionen, des Gesundheitswesens (Krankenhäuser, Psychiatrien) und eben auch an der Pastoralmacht wurde in den letzten Jahrzehnten für jede kritische Humanwissenschaft und praktische Machtpolitik zur Verpflichtung – auch für Theologie und Kirche. Der Wegfall einer anthropologischen Bestimmung des Menschen führte zunächst zu einer neuen Suche nach dem Selbst, auf die Foucault mit seiner Praxis der „Selbsttechniken“ und der „Ästhetik des Selbst“ antwortete. Dabei fällt auch immer wieder das Bedürfnis nach einer neuen „Spiritualität“ auf.207 Durch die kritische Dekonstruktion der alten Grenzziehungen zwischen gut und böse, gerecht und ungerecht, gesund und krank gewinnt die Zuwendung Jesu zu den Marginalisierten seiner Zeit (Mt 25,42ff.) eine neue Aktualität. Die Ausgeschlossenen sind nicht einfach zu „normalisieren“, vielmehr findet der Eigenwert des Andersseins zu einer neuen Dignität. Auch nach dem Ende der Postmoderne bzw. der Tele-Semeio-Logie bleibt die Foucaultsche Kritik für unsere neue Frage nach der Einheit von Gott und Mensch wegweisend. Was ist der Mensch? Was ist Gott? Diese beiden Fragen müssen durch eine machtkritische Praxis der Spiritualität von jedem Einzelnen neu beantwortet werden.

207 Foucault, Michel: Freiheit und Selbstsorge. Gespräch mit Michel Foucault am 20. Januar 1984, in: Becker, Helmut u.a. (Hg.): Freiheit und Selbstsorge. Interview 1984 und Vorlesung 1982, Frankfurt 1985, 7–28.

337

Ende der ideologischen Substitutionen

Bedürfnis nach Spiritualität

338

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

3.1.2 Jacques Derrida

Jenseits von Idee und Phänomen: chˉora

Während für Foucault die Gottesfrage kaum eine Rolle spielt, wird sie für Jacques Derrida (1930–2005) elementar. Wie schon vor ihm Emmanuel Levinas (1906–1995) steht Derrida für ein neues Interesse an der Religion im Horizont des dekonstruktiven Paradigmas. Bevor wir uns der Stellung der Religion und – christologisch relevant – des Messianismus bei Derrida zuwenden, müssen wir kurz seinen Begriff von Dekonstruktion bzw. von „chṓra“ erklären. Meines Erachtens bringt Jacques Derrida die hier eingeführte dritte Dimension der Denkgestalten wie kein anderer auf den „Begriff“. Dies lässt sich mit Rückgriff auf eine klassische Grundunterscheidung Platons verdeutlichen. Zur Veranschaulichung ziehen wir hier christologische Beispiele heran. Exkurs

Platons Ideenlehre und die Christologie

Während des Zeitalters der Onto-TheoLogie hatte die Idee den Primat inne. Begriffe wie Wesen, die Substanz, die Hypostase, die Person, die reine Vernunft, der Geist usw. bezeichnen verschiedene Aspekte der Sphäre der idealen Wahrheit. Entsprechende Kategorien werden für die Christologie relevant, indem man von der Wesenseinheit von Vater und Sohn (Nizäa) bzw. von der hypostatischen Einheit der beiden Substanzen Gottheit und Menschheit in der Person Jesu spricht. Jesus erscheint im metaphysischen Kontext als die provokative, weil den klassischen Platonismus transformierende Inkarnation der göttlichen Idee. Vor aller Zeit ist Jesus die Idee Gottes. Im Horizont der BioAnthropo-Logie wird der Primat der Idee verabschiedet und die alte Hierarchie zwischen Geist und Materie, Idee

und Phänomen, Wahrheit und Wirklichkeit, Ewigkeit und Zeit, umgestürzt. Jesus wird vornehmlich als weltliches bzw. historisches Phänomen aufgenommen. Es geht um den Menschen Jesus – jenseits substanzontologischer Prädikationen. Der wirkliche Mensch in seiner Tatsächlichkeit. Doch genau die objektive Tatsächlichkeit der Welt wird durch die Tele-Semeio-Logie in Frage gestellt. Mehr und mehr setzt sich die Überzeugung durch, das weder Idee noch Phänomen totale Geltung beanspruchen können. Die Totalität der Idee wird ebenso kritisiert wie die Totalität der weltlichen Wirklichkeiten. Die Einheit des Wirklichen wird perspektiviert und pluralisiert. Platon nannte beiläufig eine dritte Dimension der Wirklichkeit, diese gewinnt nun an Bedeutung: chṓra. Sie ist der Zwischenraum von Idee und

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

Phänomen, das Unentscheidbare, Unentschiedene, Undefinierbare, das zugleich als Sprache, Zeichen und Schrift

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die Spur der stets entzogenen Sache bzw. Idee markiert. In diesem Kontext wird Jesus zum Symbol Gottes.208

Derrida steht im Herzen der Tele-Semeio-Logie, da er genau die Differenz zwischen Idee und Phänomen, die chṓra, und damit auch die Differenz zwischen der Metaphysik (Onto-Theo-Logie) und Nicht-Metaphysik (Bio-Anthropo-Logie) zu seinem Thema macht. Weder Gott noch der Mensch ist für ihn eine gegebene prinzipielle Größe. Doch ebensosehr ist sowohl Gott als auch der Mensch seine Sache. Die Transformation von Affirmation und Negation bzw. Destruktion in eine dritte Haltung kommt bei ihm ins Reine. Für diese dritte Haltung prägt er den Namen Dekonstruktion. Es geht gerade nicht mehr darum, die Metaphysik zu destruieren, auch nicht mehr darum, das nachmetaphysische Denken (Jürgen Habermas) zu überwinden, sondern den Zwischenraum, die fortwährende Verwandlung, die Offenheit als solche zu thematisieren. Derrida arbeitet sich dabei an der abendländischen Denkgeschichte im Ganzen ab, die er ihrerseits in einer Spannung zwischen dem dominierenden Griechischen und dem marginalisierten Jüdischen sieht. Vor allem bezogen auf die Religion arbeitet Derrida den Zwischenraum zwischen beiden Anfängen unserer Denkgeschichte heraus: „Wir leben im Unterschied des Jüdischen und des Griechischen, der vielleicht die Einheit dessen ist, was man Geschichte nennt“.209 In der abendländischen Tradition erscheint Jesus von Nazaret gerade als der Mittler zwischen beiden Sphären (Eph 2,14). Derrida kommt es nun darauf an, die Versöhnung nicht als schon gegenwärtig zu sehen, sondern sie als einen offenen Prozess ohne Ende aufzunehmen. Für den Juden Derrida spielt die Person Jesus keine besondere Rolle, wohl aber der Christus, d.h. der Messias. Die jüdische Gestalt des Messias ist für Derrida eine Grundfigur der Geschichte, die gerade die endzeitliche Vollendung und Transformation der Welt bezeichnet, gleich ob jüdisch,

208 Vgl. Haight, Roger: Jesus Symbol of God, Maryknoll, N.Y. 1999. 209 Derrida, Jacques: Die Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Levinas’, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt 1976, 121–235, 234.

Jenseits von Affirmation und Negation: Dekonstruktion

Jesus: Mittler zwischen dem Jüdischen und dem Griechischen

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Das Messianische: Aufschub des Advents

Die Spur des ganz Anderen

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

christlich, islamisch, hegelianisch, marxistisch etc.210 Das Messianische bezeichnet für Derrida allerdings eine Leerstelle: „Die (Er-)Öffnung auf die Zukunft [avenir] oder auf das Kommen [venue] des Anderen als Thronbesteigung/Antritt der Gerechtigkeit, ohne Erwartungshorizont und ohne prophetische Vorausdeutung“211. Gegen die metaphysische Präsenz der Vollendung, gegen die moderne Absenz der Vollendung setzt Derrida die Spannung von Präsenz und Absenz im Sinne des Aufschubs oder des unendlichen Advents. Entscheidend für unseren Kontext ist aber nicht nur der Aufschub der Ankunft des Messias, sondern auch die Pluralisierung der gottmenschlichen Einheit. Derrida entfaltet eine Hypertranszendenz Gottes, die die jüdische Unaussprechlichkeit Gottes und die griechischen Erhabenheit Gottes unendlich überschreitet. Gott wird dadurch nicht nur in eine unendliche Ferne geschoben, sondern auch in eine unüberbietbare Nähe gebracht, die gleichwohl nur als Spur der Spur bzw. als Spur des Verlöschens der Spur von etwas, das niemals anwesend war, gedacht ist. Diese Spur des ganz anderen Gottes manifestiert sich aber auf dem Antlitz des Menschen, jedes Menschen. Zitat

„Wenn Gott der ganz andere ist, die Figur oder der Name des ganz anderen, so ist jeder andere ganz anders/ist jeder andere jeder andere (tout autre est tout autre). Diese Formel […] schließt mit ein, daß Gott als ganz anderer überall ist, wo es ganz anderes/dergleichen wie jeden anderen gibt. Und wie jeder von uns ist jeder andere, ganz andere (chaque autre, tout autre) unendlich anders in seiner absoluten, unzugänglichen, solitären, transzendenten, nicht-offenbaren, meinem ego nicht ursprünglich gegenwärtigen Einzigartigkeit […], läßt sich das, was über die Beziehung von Abraham zu Gott behauptet wird, auch von meiner beziehungslosen Beziehung zu jedem anderem als ganz anderem behaupten, insbesondere zu meinem Nächsten oder zu den Meinen, die mir so unzugänglich, verborgen und transzendent sind wie Jahwe.“212

210 Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt 1991, 52. 211 Derrida: Gesetzeskraft, 51. 212 Derrida, Jacques: Den Tod geben, in: Haverkamp, Anselm (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt 1994, 331–445, 404f.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

Der Schüler und Freund Derridas, der Straßburger Philosoph Jean-Luc Nancy (*1940), kritisiert gerade die Fixierung des Denkens auf die jüdische Dimension der Religion und fordert eine Rücksicht auf die Christlichkeit abendländischer Geschichte und Kultur.213 Konkret macht Nancy die Relevanz des Christlichen an dessen Verhältnis zur Metaphysik fest. Die Metaphysik, also dasjenige Denken, das die göttliche Idee bzw. den Logos, der im Prinzip bei Gott ist, zu seiner primären Sache hat, gelte es nicht mehr wie in der Moderne zu negieren, sondern zu dekonstruieren bzw. zu öffnen. Das geschlossene und schließende Denken sei neu zu erschließen und aufzuschließen. Nancy macht nun deutlich, dass auch die Bewegung der Dekonstruktion und Öffnung aus dem Inneren der Metaphysik selbst hervorgehe und nichts ihr Fremdes sei (16). Die Metaphysik aber sei untrennbar mit dem Christentum verbunden, ja mehr noch, der ganze Okzident samt seiner Geschichte bis zur globalisierten Welt unserer Tage hänge am Christentum (237, 241ff.). Dies zu zeigen sei eine gewisse Notwendigkeit der heutigen Zeit. Um sich von Derrida abzugrenzen, fragt Nancy, „warum wir systematisch unseren Blick vom Christlichen abwenden und immer zum ‚JüdischGriechischen‘ hinschielen, als wollten wir uns dem Christlichen nicht stellen“ (238). Das Christliche und damit verbunden der christliche Gottesgedanke sei es, was es zu denken gelte: „Das Christentum ist im Herzen der Aufschließung, wie es im Zentrum der Geschlossenheit ist“ (21). Gerade die Fleischwerdung des Logos dekonstruiere den Unterschied von Idee und Phänomen, Geist und Materie, Gott und Welt. Der italienische Philosoph Gianni Vattimo (*1936) geht ebenfalls davon aus, dass die Selbstentäußerung oder -erniedrigung Gottes die Bewegung abendländischer Geistesgeschichte bis hinein in die so genannte Postmoderne trage.214 Der Gedanke der kénōsis, wie er von Paulus im Philipperhymnus von Jesus ausgesagt wird, sei der Schlüssel für das Verständnis von Geschichte und Gegenwart. In überraschend neuer Weise wird die Geschichte damit wieder zur Heilsgeschichte, denn die Schwächung starker, metaphysischer Ansprüche und Kategorien führe gerade nicht zu einer Beliebigkeit, sondern sie habe ihre Grenze und damit ihre eigentliche Bestimmung in der christlichen cari-

213 Nancy, Jean-Luc: Dekonstruktion des Christentums, Zürich/Berlin 2008. Die folgenden Angaben im Text beziehen sich auf dieses Buch. 214 Vattimo, Gianni: Glauben – Philosophieren, Stuttgart 1997.

341 Jean-Luc Nancy

Die Dekonstruktion des Christentums

Gianni Vattimo

Kénˉosis und caritas

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Jean-Luc Marion

Geltung des Neuen Testaments?

tas, die sich gerade im dekonstruktiven Denken der Gegenwart eine neue Gestalt gebe. Damit aber ist Christus im Herzen unserer geistigen Gegenwart verankert. Bereits 1982 hatte der französische Philosoph Jean-Luc Marion (*1946), der dem dekonstruktiven Paradigma in eigener Weise nahe steht, die radikale Relevanz des Neuen Testaments in provokanter Weise betont. Nicht die Metaphysik des heiligen Thomas, nicht das moderne Denken Heideggers, nicht der Postmodernismus Derridas könne schlechthin Geltung beanspruchen:

Zitat

„In dem Moment, wo man gleichzeitig Derrida, Heidegger und den heiligen Thomas von Aquin kritisiert, um in irgendeiner Weise zu schlussfolgern, dass jetzt das Neue Testament oder gar nichts zählt, handelt es sich um eine Provokation“.215

Jürgen Habermas Genealogie des Sinns

Zuletzt hat kein Geringerer als Jürgen Habermas (*1929) auf das Problem derartiger Ableitungen und Genealogien hingewiesen. Einerseits betont er die genealogische Herkunft unserer Prinzipien aus dem christlichen und letztlich jesuanischen Ethos: Zitat

„Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik. In der Substanz unverändert, ist dieses Erbe immer wieder kritisch angeeignet und neu interpretiert worden. Dazu gibt es bis heute keine Alternative. Auch angesichts der aktuellen Herausforderungen einer postnationalen Konstellation zehren wir nach wie vor von dieser Substanz. Alles andere ist postmodernes Gerede.“216

215 Marion, Jean-Luc: Auf der Suche nach einer neuen Phänomenologie, in: Ders./Wohlmuth, Josef: Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn 2000, 33–52, 46. 216 Habermas, Jürgen: Zeit der Übergänge, Frankfurt 2001, 175.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

Andererseits können derartige Genealogien keine Rechtfertigungsfunktion haben. Die Faktizität der Herkunft von Jesus besage noch nichts über die Geltung. Nach Habermas’ eigener Auskunft sei das nachmetaphysische Denken „bodenlos“, d.h. es erzeugt die Elemente seines „Geltungsbodens“ aus sich selbst und nicht aus einer zufälligen Überlieferungsautorität.217 In der Tat ist es für uns heute entscheidend, die Autonomie der säkularen Sphäre zu beachten und zu respektieren. Es haben sich gerade im Horizont des postmodernen Paradigmas Differenzierungsprozesse verstärkt, die uns umso deutlicher die Trennung von Religion und Politik, Kirche und Staat, Glaube und Vernunft vor Augen halten. Doch zeigt gerade die Dekonstruktion, dass reine Grenzen nicht gezogen werden können. Jede Grenze ist immer schon über sich hinaus, immer schon porös, immer schon fragwürdig. So müssen wir heute eine Öffnung zwischen den Sphären – durchaus im dekonstruktiven Sinn – annehmen. Im Übrigen stellt auch Habermas fest, dass sich die „Sinnressourcen“ der Moderne und – ich möchte ergänzen – der Postmoderne erschöpft zu haben scheinen. Zwar hält er mit aller Kraft an der Autonomie der säkularen Sphäre sowie an der Säkularität des Politischen fest, doch könne gerade die Zivilgesellschaft als Ort der Religion gewahrt bleiben (17), mehr noch es gebe einen „Spielraum“ für wechselseitige Lehrprozesse (45). „Die bewusstmachende Kritik geht zusammen mit einer rettenden Erinnerung“ (107). Wir werden im Zusammenhang mit der dritten Rückfrage nach dem historischen Jesus auf die Frage der rettenden Erinnerung noch einmal zu sprechen kommen. Für jetzt genügt es festzuhalten, dass die Frage von Habermas, ob die Religion im Allgemeinen und der christliche Glaube im Besonderen „als eine gegenwärtige und kulturell produktive Gestalt des Geistes“ behauptet werden könne, durchaus bejaht werden kann. Nach dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein: Der Geist Christi ist in der Gegenwart lebendig – unmittelbar in Kirche und Glauben, mittelbar in Kultur, Denken und Politik. Jedenfalls gilt: Der fleischgewordene Logos Gottes gibt zu denken. Seine ausdrückliche Anerkennung und Annahme verbirgt sich im Geheimnis von Freiheit und Gnade.

217 Habermas, Jürgen: Nachmetaphysisches Denken II, Frankfurt 2012, 142f. Die weiteren Angaben im Text beziehen sich auf dieses Buch.

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Autonome Sphären

Poröse Grenzen

Seltene Erinnerung

344

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

3.2 Kontextuelle Christologien am Rande der Postmoderne 3.2.1 Jesus als Symbol Gottes (Roger Haight)

Theologie der Postmoderne

Historizität

Soziale Kritik

Einer derjenigen Autoren, die Christologie nicht nur am Rande oder faktisch im Horizont postmoderner Parameter ansiedeln, sondern explizit und zentral innerhalb des postmodernen Paradigmas, ist der amerikanische Jesuit Roger Haight (*1936). In seinem Buch Jesus. Symbol of God218 betont er mehrfach, dass das Gebot der Inkulturation des christlichen Glaubens auch die Auseinandersetzung mit der postmodernen Kultur notwendig mache (xiif.): „The period of the end of the twentieth and the beginning of the twentyfirst century is increasingly being called postmodern“ (3). Der Postmodernismus zeichne sich zuerst durch eine radikale Historizität aus. Der Fortschrittsoptimismus sei verflogen und ein Ziel der Geschichte sei nicht in Sicht. Bestimmung (destiny) und Bedeutung (meaning) können nicht mehr aus einem Ziel (telos) gezogen werden. Hinzu komme ein neues Bewusstsein von Sünde und kollektiver Schuld, die aus den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, besonders aus dem Holocaust resultierten (331). Angesichts radikaler Kontingenz sei es schwierig geworden, von göttlicher Vorsehung zu sprechen. „Radical historical consciousness begins when one recognizes how deeply the meaning of Jesus Christ has chanced when he is reinterpreted in different epochs and cultures, and why such a change is necessary“ (332). Andererseits werden dadurch neue Möglichkeiten der Deutung und Bedeutung Jesu geschaffen. Zum Zweiten involviere Postmodernität ein kritisches soziales Bewusstsein: „The linguistic structure of all thought implies more deeply the social mediation of knowledge“ (333). Pessimistisch gewendet bedeute dies das Ende des souveränen Subjekts. Der Mensch sei vielmehr verschiedenen Interessen- und Machtstrukturen ausgeliefert. Gegen die Fixierungen von Klasse, Geschlecht, Armut etc. seien nun diverse „Liberation Christologies“ gerichtet, die menschliche Subjektivität und Freiheit in einer gerechten Gesellschaft wiedergewinnen wollen (333). Das dritte Charakteristikum der Postmoderne sei das pluralistische Bewusstsein: „One can no longer claim western culture as

218 Haight, Roger: Jesus Symbol of God, Maryknoll, N.Y. 1999. Die folgenden Angaben im Text beziehen sich auf dieses Buch.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

the center, the higher point of view, or Christianity as the superior religion, or Christ as the absolute center to which all other historical mediations are relative“ (333). Haight sieht den Verlust der Metaerzählungen nicht unkritisch, vielmehr eröffne sich ein bedrohliches Vakuum. Christologie werde dabei mit der Theologie der Religionen und dem Pluralismus der Religionen konfrontiert. Hier, im Herzen der Postmoderne ergeben sich die entscheidenden Veränderungen im christologischen Diskurs. Es stellt sich die Frage nach einer Christologie, die sich denjenigen besonders zuwendet, die als „Andere“ durch die großen Erzählungen ausgeschlossen werden.

345

Pluralismus

Zitat

„Can one interpret Jesus Christ as precisely God’s story which is so open to others that it does not coopt their specific identity and does not privilege Christians over and against them? Can christology represent a Jesus Christ who is not divisive, but who authorizes the other as other, and hence functions as a principle of unity that respects differences?“

Doch diese neue Herausforderung durch die Postmoderne führe nicht zur bloßen Relativierung Jesu, sondern zu einem neuen und tieferen Verständnis Christi (333). Zum Vierten führe die Postmoderne zu einem kosmischen Bewusstsein. Eine neue Epistemologie der Wissenschaften und Erkenntnisse der Astronomie und Physik veränderten das Bild des Alls und unserer Lebenswelt in ihm. „Naive anthropocentrism is dead“ (334). Doch im Rahmen eines neuen Bewusstseins könne auch die Beziehung zwischen Gott, den Menschen und der Welt neu gedacht werden. Ja, sogar eine neue Perspektive auf die Einheit des menschlichen Geschlechts und der menschlichen Solidarität werde möglich. Zitat

„We need a christology that will confirm the importance of a common humanity, a human community in an common habitat, and a shared process of nature of which all are a part, and at the same time respects human differences in this postmodern world“ (334).

Kosmisches Bewusstsein

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Jesus der Erlöser

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Postmodernität, verstanden als Tele-semeio-logie, hat ihren Focus im Medium, verstanden als Zeichen bzw. Zwischenraum (chṓra) und Differenz von Idealität und Materialität. Auch insofern zielt Haights Christologie auf das Zentrum der Postmodernität, wenn sie Jesus als Symbol und damit als Zeichen einführt. Haight geht zunächst von Rahner und Tillich  – also von klassisch moderner Theologie – aus. Von Rahner übernimmt er die Konzeption Jesu als Realsymbol Gottes. Dieses konkrete Symbol für die Erfahrung des transzendenten Gottes verortet er mit Tillich kulturell, wenn er darauf hinweist, „Religion ist die Substanz aller Kultur; Kultur ist die Form der Religion“ (13). In einer bestimmten, einem konkreten Kulturraum zugeordneten Sprache fungiert Jesus als Zeichen. Und zwar als ein Symbol, das nicht rein geistig als eine Idee oder ein Begriff zu nehmen ist, sondern als ein sinnliches Objekt. Wie der Leib den Geist des Menschen symbolisiert, so symbolisiert Jesus Christus für die Christen die Begegnung mit Gott. Für Christen ist Jesus das Medium, das Gottes Gegenwart repräsentiert. Wichtig ist Haight, dass Jesus kein exklusives Zeichen ist. Lediglich für die christliche Kultur ermögliche er die Begegnung mit dem transzendenten Gott (14). Zwar bleibe Jesus „die historische Quelle des Christentums und der Fokus des christlichen Glaubensakts“ (337), doch komme es darauf an, im Dialog mit anderen Zeugnissen der allgemein menschlichen Erfahrung zu bleiben (ebd.). Auf der Basis des postmodern gewendeten Symbolbegriffs entfaltet Haight schließlich fünf Felder des Glaubens: Erstens wird Jesus als Erlöser vorgestellt (335–362). Heute gebe es mehrere besondere Erfordernisse an die Symbolik der Erlösung. Sie dürfe nicht nur ein Versprechen für die Zukunft sein, sondern müsse bereits jetzt real werden: „Salvation has to be formulated as a symbol pointing to a reality that is existentially actualized in a person’s life“ (355). Sie müsse ganzheitlich orientiert sein und nicht nur die spirituelle Dimension ansprechen. Alle Dimensionen des Lebens und seiner Aktivitäten in der Welt müssten angesprochen werden. Zum Zweiten wendet sich Haight gegen die Individualisierung und Privatisierung des Heils und fordert eine befreiungstheologische Interpretation Jesu (363–394). Die Frage nach der Erlösung in und durch Jesus habe nicht nur eine subjektive, sondern auch eine soziale und politische Seite. Die Frage nach dem Kampf gegen das Negative in der Welt verkörpere die objektive Christologie, denn das christliche Leben in der Begegnung mit Jesus müsse vom Impuls der Befreiung von Strukturen des Un-

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

rechts und der Gewalt geprägt sein. Haight betont seine Nähe zur Christologie der Befreiung von Jon Sobrino (*1938). Die Teilnahme am Prozess der Erlösung realisiere sich in der konkreten Arbeit an der Überwindung von Unfreiheit in der Welt. Dabei gibt Haight einen wichtigen eschatologischen Ausblick. Gegen die charakteristisch postmoderne Skepsis gegenüber Ende und Vollendung, wie sie sich in Derridas Rede vom Aufschub (différance) zeigt, hält er an der transzendenten Vollendung des Heils fest. Drittens könne christliche Erlösung angesichts des pluralistischen Bewusstseins unserer Tage nicht ohne die Beziehung auf andere nicht-christliche Erlösungskonzepte gedacht werden (395–423). Entsprechend stehe die Frage nach dem Verhältnis des Glaubens an Jesus zu den Weltreligionen im Zentrum. Die Glaubwürdigkeit des Christentums hänge auch daran, wie sehr die Heilswege anderer Religionen berücksichtigt werden. Mit Paul Knitter betont Haight, Jesus sei der „wahre“, nicht aber „der einzige“ Träger göttlicher Erlösung (395). In keinem Fall werde durch die Anerkennung der Tatsache, dass Gott in anderen Religionen ebenfalls „am Werk“ sei, die radikale Affirmation der Verbindung von Gott und Christus geschwächt (423). „It is rather part of today’s context for reflection on the mysterious reality of Jesus Christ“ (ebd.). Einen sehr heiklen und zugleich essentiellen Punkt stellt viertens die Frage nach der Gottheit Jesu dar (424–466). Inwiefern ist das Dogma von Chalcedon noch nachvollziehbar? Haight reinterpretiert Rahners Logoschristologie neu. Gerade die dabei angenommene Verbindung von besonderer hypostatischer Union des Menschen Jesus mit dem göttlichen Logos einerseits und der allgemeinen Verbindung Jesu mit den allgemeinen Bedingungen menschlicher Existenz andererseits sei zwar wesentlich für die Wertschätzung von Freiheit und Autonomie des Menschen, doch gerade diese moderne Apotheose der menschlichen Natur müsse modifiziert werden. Die Anpassung an die postmoderne Situation geschehe durch die Interpretation Jesu als narrativer Mythos, als Symbol dessen, worauf menschliche Existenz zustrebe – „a parable of transcendent values which can draw human freedom forward in a meaningful life“ (445). Entscheidend für seine eigene Position wird aber die Geistchristologie, die eine Alternative zur Logoschristologie darstelle. Nicht auf der Ebene des Wesens bzw. der Natur werde die Einheit von Gott und Mensch gestiftet, sondern durch die Einwohnung (indwelling) des Geistes. Noch deutlicher als Einwohnung werde durch die

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Jesus der Befreier

Jesus und die Weltreligionen

Die Gottheit Jesu?

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Jesus und Trinität

Rede von Stärkung bzw. Ermächtigung (empowerment), wie es in emanzipativen Kontexten verwendet werde und zudem deutlicher dem biblischen Befund entspreche, die dynamische und offene Kraft der Vereinigung von Gott und Mensch zur Sprache gebracht (455). Schließlich sei es sinnvoll, die wissenschaftliche Weltsicht, gemeint ist die naturwissenschaftliche Betrachtung des Kosmos, in die Soteriologie einzubeziehen. In allem bleibe Christus für die Christen das Symbol, das die rettende und heilende Begegnung mit Gott, gerade mit Blick auf Kreuz und Auferstehung, ermögliche. Zum Fünften und Letzten verortet Haight die Christologie im Rahmen trinitätstheologischer Überlegungen und fasst damit die Rede von Jesus als Symbol Gottes zusammen (467–492).

Zitat

„Far more important for an integral christology today is the ability to balance faithfulness to the tradition and present interpretation that actually engages today’s questions, an imagination resolutely focused on Jesus as a historical figure that is simultaneously drawn up into an experience of Jesus as symbolic mediator of God who is alive in God, a conception of Jesus’s work of salvation that transforms personal existence and at the same time opens the free human spirit to social engagement, a sense of Jesus Christ’s uniqueness as one that gives an identity to the Christian community and at the same time that reveals a God who is in like measure universally present and active in the world, a theological language that combines a symbolic mystical dimension with historical and political realism” (490f.).

Spätestens seit der Jahrtausendwende ist für die christologischen Debatten nicht nur der biblische Text relevant, nicht nur die innertheologische und dogmengeschichtliche Perspektive auf den Text, vielmehr geht der Blick mehr und mehr nach außen auf die globalen Kontexte, mittlerweile auch auf die innere – plurale – Wirklichkeit unserer Gesellschaften. Diese neue Realität hat sich während der so genannten Postmoderne sukzessiv ausgebildet. Es geht hier um faktische Grenzüberschreitungen und neue poröse Grenzziehungen. Dabei sprechen wir nicht nur von der prekären Grenze zwischen Nichtjuden und Juden, sondern auch zwischen Christen und anderen Religionen, zwischen Europä-

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

349

ern und Nichteuropäern, zwischen Reichen und Armen, zwischen Männern und Frauen. Diese kontextuellen Theologien können auch als Theologien und in unserem Fall als Christologien der Befreiung verstanden werden. 3.2.2 Die Christologie nach Auschwitz Auschwitz kann als tiefster Abgrund der klassischen Moderne gelten. Der Name dieser polnischen Stadt steht für die Vernichtung des europäischen Judentums. An dieser Tatsache entzündete sich eine epochale Wende – auch für die Christologie. Auf den Punkt gebracht hat dies Johann Baptist Metz (*1928): „Wir Christen kommen niemals mehr hinter Auschwitz zurück, über Auschwitz hinaus aber kommen wir, genau besehen, nicht mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz“.219 Was aber bedeutet es, hinter Auschwitz zurückzukommen? Damit ist nicht nur gemeint, das konkrete Verbrechen ungeschehen machen zu wollen, sondern auch die Rückkehr in einen Zustand der naiven Moderne anzustreben. Die klassische Moderne ist gekennzeichnet durch die Erfahrung des Entzugs und den Willen der Negation des Entzugs an Leben und Lebensmöglichkeiten. Im Zuge der Ideologisierung dieser Entzugserfahrung wurde die Ursache für die Enteignung des Menschen in beispielloser Verleumdung auf die Juden projiziert. Nicht nur ihre Religion sei verderblich, was onto-theo-logisch relevant war und die christliche Judenfeindschaft seit der Antike begründete, sondern auch – für die Bio-Anthropo-Logie maßgeblich – die Rasse sei minderen Werts und zerstören die Entfaltung der höheren Rassen. Schließlich wurden die Juden auch noch für den seit dem 19. Jahrhundert erfahrenen Entzug an Möglichkeiten der Wertschöpfung durch die kapitalistische Produktionsweise verantwortlich gemacht. Kapitalismus und Judentum, aber auch die marxistische Kapitalismuskritik und Judentum (Karl Marx war Jude!) wurden zu einer lebensfeindlichen Negativfolie verschmolzen. So konnte sich der Antisemitismus sowohl im kapitalistischen Westen

219 Metz, Johann Baptist: Christen und Juden nach Auschwitz. Auch eine Betrachtung über das Ende bürgerlicher Religion, in: Ders.: Jenseits bürgerlicher Religion. Reden über die Zukunft des Christentums, Mainz/München 1980, 29–50, 31 und 47. Zu Metz ausführlich Ruhstorfer: Christologie, 57–62.

Kein Zurück hinter Auschwitz

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Christlicher Antijudaismus

Die Perspektive der Opfer

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

als auch im seit 1917 kommunistischen Osten ausbreiten. Die Verknüpfung von rassistischem Nationalismus und die Klassenunterschiede negierendem Sozialismus im Nationalsozialismus wurde zur existenziellen Gefahr für das europäische Judentum. Es war wohl der tiefverwurzelte metaphysische Antijudaismus der Kirchen, der vor allem in Deutschland verhinderte, dass dem modernen Antisemitismus entschiedener und breiter Widerstand entgegengesetzt wurde. Das Kreuz als Symbol des Christentums wurde als antijüdisches Zeichen wahrgenommen. Nachdem die unermessliche Schuld der Christen und modernen Nichtchristen Europas offenbar geworden war, bedurfte die gesamte Verhältnisbestimmung von Christen und Juden einer radikalen Revision. Das Christentum dürfe sich nicht länger als Negation des Judentums begreifen. Die Gegenüberstellung von altem und neuem Jerusalem bedarf der Dekonstruktion. Jenseits der Alternativen von „Christologie-Verzicht“ und naiver christlicher Selbstbehauptung fordert Johann Baptist Metz eine differenzsensible Christologie, die der Andersheit des Judentums ebenso gerecht wird wie der Wiederentdeckung der jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens.220 Metz fordert nicht nur das Ende der christlichen Negation des Judentums, sondern auch das Ende der modernen Negation des erfahrenen Übels des Entzugs. So kritisiert er bereits 1972 das marxistische Totalitätsdenken. Die Vorstellung einer definitiven Endlösung auch des Problems der ökonomischen und sozialen Ausbeutung gerät in Verdacht.221 Die totalitären Erlösungspraktiken führten zur Ignoranz gegenüber dem Leiden des Einzelnen und mehr noch zur Reproduktion des Leidens. Es komme deshalb auf einen Perspektivwechsel an. Der Glaube müsse die Sicht der Opfer der Geschichte einnehmen. Es gehe nicht um die eschatologische Negation der Negation, sondern um das Gedächtnis des Leids und die leidsensible Verwindung des Negativen in der Welt. Die memoria passionis, mortis et resurrectionis Jesu Christi wird als erzählte Geschichte zur befreienden Erinnerung (135).

220 Metz, Johann Baptist: Unterwegs zu einer Christologie nach Auschwitz, in: Stimmen der Zeit 218 (2000), 755–760, 757. 221 Metz, Johann Baptist: Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1977, 114.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

351

3.2.3 Die Christologie der Armen (Gustavo Gutiérrez, Jon Sobrino) Die lateinamerikanische Theologie der Befreiung deutet die Christologie im Kontext der „Option für die Armen“. Die Armen und ihre Befreiung sind das eigentliche Thema der Theologie.222 Die frühe Theologie der Befreiung befand sich noch unter dem Bann der modernen Logik der Negation. Entsprechend betonte die Rede von Befreiung „den konfliktgeladenen Charakter des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozesses“ (104). Es geht um den Umsturz der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse, der nur durch die „Schaffung eines neuen Menschen“ herbeigeführt werden könne (104). Inwiefern die „permanente Kulturrevolution“ tatsächlich innerweltlich einen Endzustand herbeiführen kann, muss offenbleiben. Klar ist, dass die mit Marx gesprochen „ursprüngliche Akkumulation“ des Kapitals in der politischen Ökonomie etwa dieselbe Rolle spielt, wie in der Theologie der Sündenfall (240). Damit aber ist deutlich, dass Jesus Christus nicht nur zur Chiffre des Umbruchs wird, sondern dass er die Wirklichkeit des Anbruchs des Gottesreichs ist (105). Gustavo Gutiérrez (*1928), der Vater der Befreiungstheologie, macht aber schließlich doch deutlich, dass sich die Theologie der Befreiung vom modernen Glauben an eine innergeschichtliche Vollendung verabschiedet hat: Zitat

„Als Herzstück der Botschaft Jesu ist das Reich sowohl Gabe Gottes als auch Auf-gabe für das Verhalten des Menschen, der ‚ja’ zu ihm sagt. Schon in die Geschichte hineinragend, kommt es in ihr gleichwohl noch nicht zu seiner vollen Entfaltung. Das ist der Grund, weshalb man das Reich Gottes nicht mit einer bestimmten geschichtlichen Errungenschaft, so wichtig und wertvoll diese auch scheinen mag, verwechseln darf. Zwar kennt das Reich Gottes im Hier und Heute Realisierungen, doch diese sind weder ‚das Kommen des Reiches noch das ganze Heil’, sondern vorweggenommene Fragmente – samt all ihren Doppeldeutigkeiten – einer Fülle, die erst jenseits der Geschichte eintreffen wird. Theologische Kritik muss just den Charakter des Provisorischen herausstellen“ (242f.).

222 Gutierrez, Gustavo: Theologie der Befreiung, Mainz 1973, 104. Die folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Buch.

Mit Jesus gegen den Kapitalismus

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Armut und Kreuz

Der Papst und die Kritik

IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Dadurch aber verliert die Christologie der Befreiung nichts von ihrer weltverändernden Kraft. Der Jesuit Jon Sobrino weiß aus eigener Erfahrung, dass der Einsatz für eine gerechtere Ordnung der Dinge noch heute lebensgefährlich ist. Und so sieht er schließlich eine Strukturparallele zwischen dem Leiden und Sterben eines Verkündigers „des Gottes des Lebens und der Anklage der Götzen“.223 Das Leiden Jesu gewinnt eine neue Aktualität, doch gleichwohl geht es niemals um eine Vertröstung und Beruhigung durch den Glauben an die Vollendung in der Transzendenz Gottes. Die befreiende Praxis Jesu beginnt mit der Veränderung der Verhältnisse, doch sie vollendet sich in der Mystagogie der Nachfolge und der Auferstehung. Ausgangspunkt ist immer die historische Realität Jesu. Die Christologie der Befreiung ist eine strikte Christologie von unten. Sie beginnt beim Menschen und seinen Lebensverhältnissen und erhebt sich über die Befreiung im Diesseits zur Vollendung im Jenseits. Die Wendung, dass in Jesus alle gestorben sind, damit in ihm alle auferstehen, gewinnt eine neue Dimension. Die Armut des Volkes steht für die Erfahrung des Kreuzes. Die Auferstehung des „gekreuzigten Volkes“ muss sich in der sozialen, ökonomischen, politischen und spirituellen Befreiung realisieren. Das Leben Jesu ist der Text, der im Kontext der Armut zur befreienden Botschaft wird: Das Leben Jesu ist Evangelium und das Evangelium ist Leben Jesu.224 Durch die Wahl des lateinamerikanischen Jesuiten Jorge Bergoglio zum Papst wurde der alte Konflikt zwischen dem römischen Lehramt und der Theologie der Befreiung beigelegt. Noch Benedikt XVI. war geprägt von modern-antimodernen Gegensätzen und dem Konflikt der Kirche mit den totalitären Ideologien, weshalb er als Kardinal Ratzinger zu einem der entschiedensten Gegner der Befreiungstheologie wurde. Nach dem Untergang der bio-anthropo-logischen Moderne, wofür zuletzt der Untergang der Sowjetunion stehen mag, gestalten sich die Dinge anders. Es scheint, dass die Gespenster von Marx, die Bruchstücke seiner Kritik225 an nur allzu realen Verhältnissen in der Welt ihre neue Heimat in der Katholischen Kirche gefunden haben. Wie

223 Sobrino, Jon: Christologie der Befreiung, Mainz 1986, 94. 224 Sobrino: Christologie der Befreiung, passim und ders.: Der Glaube an Jesus Christus, Ostfildern 2008. 225 Vgl. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt 1995.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

353

kaum ein anderer wurde Papst Franziskus zum globalen Kritiker der bestehenden Wirtschaftsweise. Angesichts der Globalität der tele-semeio-logischen Dimension gewinnt die Katholische Kirche als größte Weltkirche eine neue globale Verantwortung jenseits der alten bio-anthropo-logischen Konfliktlinien. 3.2.4 Die interreligiöse Dimension Der Glaube an Jesus Christus ist das Proprium des Christentums. Doch mit dieser Selbstverständlichkeit eröffnet sich zugleich eine prinzipielle Differenz zu den nichtchristlichen Religionen. Das Verhältnis zum Judentum wurde zum Ausgangspunkt für eine Christologie der Religionen. Schließlich wurde die Christologie zur „Speerspitze des Antijudaismus“.226 Johann Baptist Metz macht deutlich, dass gerade weil der historische Jesus kein Christ, sondern Jude gewesen sei, der Antijudaismus und mehr noch der Antisemitismus das Herz des Christentums selbst trifft.227 Insofern aber Christus primär Mensch ist, kann und darf die Christologie niemals antihuman und damit gegen nichtchristliche Ausprägungen des Menschseins ausgerichtet sein. Eine aktuelle Christologie darf nicht zu einer prinzipiellen Exklusion der Abweichenden, Differenten und Anderen führen – auch nicht der nichtchristlich Glaubenden. Die Katholische Kirche realisiert diese Kehre zur Anerkennung der Anderen in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die Erklärung zu den nichtchristlichen Religionen Nostra Aetate sollte ursprünglich lediglich das Verhältnis zum Judentum neu bestimmen, wurde aber zu einer Neuorientierung im Umgang mit allen Weltreligionen und letztlich mit dem religiös Abweichenden. Im Horizont der sich eröffnenden Postmoderne und der sich globalisierenden Wirklichkeit stellt sich die Relationsbestimmung von Demselben und dem Anderen, dem Identischen und dem Differenten, dem Einen und dem Vielen in aller Schärfe.

226 Peters, Tiemo Rainer: Thesen zu einer Christologie nach Auschwitz, in: Manemann, Jürgen/Metz, Johann Baptist: Christologie nach Auschwitz. Stellungnahmen im Anschluss an die Thesen von Tiemo Rainer Peters, Münster 1998, 2–5, 2 und Metz, Johann Baptist: Auf dem Weg zur „geschuldeten Christologie“, in: ebd. 104–109. 227 Metz, Johann Baptist: Unterwegs zu einer Christologie nach Auschwitz, in: Stimmen der Zeit 218 (2000), 755–760, 757.

Kein Exklusivismus

Der Inklusivismus des II. Vatikanums (Nostra Aetate)

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Das Zweite Vatikanum versuchte, die Relation über den Begriff der Inklusion zu bestimmen. Nach Art des platonischen Teilhabemodells haben andere Religionen Anteil an der einen christlichen Wahrheit und damit an Jesus Christus selbst. Damit wird das faktisch von den meisten christlichen Konfessionen vertretene Modell des Exklusivismus vom Inklusivismus abgelöst. Menschen, die nicht an Christus glauben, seien sie nun Atheisten oder Anhänger anderer Religionen, sind nicht vom durch Christus vermittelten Heil ausgeschlossen. Bezogen auf Atheisten formuliert das Konzil mit dem Ersten Timotheusbrief (2,4), dass Gott

Zitat

„als Erlöser will, daß alle Menschen gerettet werden (vgl. 1Tim 2,4). Wer nämlich das Evangelium Christi und seine Kirche ohne Schuld nicht kennt, Gott aber aus ehrlichem Herzen sucht, seinen im Anruf des Gewissens erkannten Willen unter dem Einfluß der Gnade in der Tat zu erfüllen trachtet, kann das ewige Heil erlangen“ (Lumen Gentium, 16).

Die Aspekte der Wahrheit in den nichtchristlichen Religionen werden ebenfalls auf das Licht Christi zurückgeführt. Dadurch soll aber die Fülle des Lichts und der Wahrheit in Jesus gerade nicht geleugnet werden.

Zitat

„Die Katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet. Unablässig aber verkündet sie und muß sie verkündigen Christus, der ist ‚der Weg, die Wahrheit und das Leben‘ (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat (4)“ (Nostra Aetate, 2).

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

Im Jahr 2000 wurde mit der „Erklärung über die Einzigkeit und die Heilsuniversalität Jesu Christi und der Kirche“, die den Namen „Dominus Iesus“ trägt, seitens der Glaubenskongregation noch einmal eingeschärft, dass ausschließlich durch Christus das Heil in die Welt gekommen sei, womit die pluralistische Theologie der Religionen abgelehnt wird. Nach Exklusivismus und Inklusivismus bildet der religionstheologische Pluralismus einen dritten mittlerweile „klassischen“ Weg, die Position Jesu im Gefüge der Weltreligionen zu bestimmen. Die pluralistische Theologie der Religionen bildet das pluralistische Paradigma der Postmoderne oder Tele-Semeio-Logie deutlich ab. Damit zeigt sich gerade hier die Schwierigkeit, die postmetaphysische Kategorie der Vielheit mit der metaphysischen Kategorie der Einheit zu vermitteln. Für unser Thema stellt sich damit die Frage, ob und inwiefern gerade ein christologischer Absolutheitsanspruch zum Hemmschuh für den Dialog der Religionen wird.228 Der anglikanische Theologe John Hick forderte bereits in den Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine „radikale Wende” in der Theologie der Religionen: „A Copernican revolution from an Christianity-centred to a Godcentred picture of the universe of faiths seems to be demanded by the facts of human religious experience.“229 Damit fordert Hick den Übergang von der traditionellen Christozentrik zur Theozentrik. Inwiefern die damit verbundene Relativierung des Gedankens der Menschwerdung Gottes mit dem in der Postmoderne virulent gewordenen „Tod des Menschen“ zusammenhängt, ist eine Frage, deren Beantwortung noch offen steht. Hick hält eine Inkarnation Gottes entweder im allgemeinen Sinn von „God’s involvement in human life“230 oder in dem besonderen christlichen Sinn für möglich, „that in the life of Jesus God was involved in a particular and specially powerful and effective way“ (ebd.). Jede weitere Bedeutung von Inkarnation, sei es als Fleischwerdung des präexistenten Logos oder als vollkommene Selbstmitteilung Gottes, sei es als für alle Zeiten ergangene Offenbarung oder als wesentliche Einheit von Gott und

228 Dazu Knitter, Paul F.: Ein Gott – Viele Religionen. Gegen den Absolutheitsanspruch des Christentums, München 1988, bes. 17–67. 229 Hick, John: God and the Universe of Faiths. Essays in the philosophy of religions, London 1973. 230 Hick, John: The Metaphor of God Incarnate. Christology in a Pluralistic Age, London 1993, 9. Die folgenden Angaben beziehen sich auf dieses Werk.

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Religionstheologischer Pluralismus?

John Hick

Von der Christozentrik zur Theozentrik

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Gegen Chalcedon?

Mensch, lehnt Hick ausdrücklich ab, da gerade durch diese christologischen Aussagen der religiöse Pluralismus unmöglich gemacht und der Überlegenheitsanspruch des Christentums zementiert werde (ebd.). Um diesen Anspruch zu überwinden, kritisiert Hick die „standard orthodox doctrine“, die besagt: „Jesus was fully God and fully a man and was as such the uniquely complete and final self-revelation of God to humankind“ (11). Hick weiß sich zu dieser Kritik durch seine Auffassung von historisch-kritischer Exegese berechtigt.231 Diese unterlaufe durch die Feststellung, dass Jesus selbst nicht die explizite Christologie der biblischen Schriften und vor allem der Tradition spekulativer Theologie für sich beanspruchte, die orthodoxe Christologie (70). Hick bezeichnet die weitere christologische Entwicklung als eine unzulässige „deification“ (75), wodurch Jesus zu etwas gemacht werde, was er nach eigenem Bekunden – so Hick – nicht war. Zudem werden die metaphorisch gemeinten Aussagen des Neuen Testaments über Jesus (z.B. Sohn Gottes) durch die metaphysische Interpretation entstellt und verkehrt (44). Dieses metaphorische Verständnis will Hick nun wieder freilegen, da nur dadurch der christologische Anspruch redimensioniert und das Christentum pluralitätstauglich gemacht werden kann, denn Zitat

„if the dogma of Jesus’ deity were to become understood, not as a literal claim with universal implications, but as internal Christian metaphorical discourse, a barrier would be removed from the relationship between the Christian and other sections of humankind“ (88).

Entscheidend für Hicks Verständnis von Metapher ist deren regionale Begrenztheit, wird sie doch als Sprachspiel einer bestimmten Gruppe gedeutet: „And the son of God metaphor is part of the private, idiosyncratic family speech of this (Christian) community“ (79). Nur wenn die Relativität der Sprachspiele, die die ganz andere Wirklichkeit Gottes niemals erfassen können, eingesehen wird, ist es dem Christentum möglich, vor den Her-

231 Die folgende Passage zu Hick ist im Wesentlichen meinem Buch Christologie, 55ff. entnommen.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

ausforderungen der pluralisierten Welt zu bestehen und die Kommunikation des „global village“ zu befördern. Inkarnation wird dadurch aber zu einem pluralen Geschehen, das lediglich die mehr oder weniger große Offenheit für das ganz Andere bezeichnet. Entsprechend kritisiert Hick die traditionelle Soteriologie, nach der die Menschen in Jesus Christus die Erlösung schlechthin finden. Erlösung wird nun als „gradual transformation of human beings, who already exist in the ‚image‘ of God“, vorgestellt (129f.). Die Menschen sollen anders werden. Die Veränderung richtet sich auf Gott, und sie vollendet sich in der Gottähnlichkeit. Hick deutet diese Transformation als Übergang von der „self-centredness“ zur „Reality-centredness“ (136f.). Die je eigenen Interpretationen der Wirklichkeit sollen sich der Wirklichkeit selbst annähern. Da aber „the Real“ notwendig transzendent bleibt, handelt es sich hier um einen Übergang vom Selbst zum unbestimmten Anderen. Die Offenheit für den Anderen wird zum maßgeblichen Interpretament der Gottähnlichkeit des Menschen. Jesus gilt nun als Märtyrer für diese offene Beziehung zu Gott, genauer für die Hingabe an den Anderen: „Jesus’ death was of a piece with his life, expressing a total integrity in his self-giving to God“ (132). Gegen die vollständige Relativierung der Christologie durch die pluralistische Religionsphilosophie ist an dieser Stelle nur zu bemerken, dass die postmoderne Besinnung auf die Alterität und Pluralität selbst ausschließlich dem Gedanken der Kenosis Gottes entspringt.232 Sie ist ein abendländisch-christliches, kein buddhistisches, kein hinduistisches und kein islamisches Phänomen. Dadurch aber wird der Relativismus selbst relativiert. Positiv gewendet: Die neuartige Offenheit für die nichtchristlichen Religionen wurzelt im Gedanken der Menschwerdung Gottes. Ebenfalls ist in unserem Zusammenhang zu bemerken, dass die Be-Entgrenzung (De-Limitation) lediglich das dritte Verhältnis zur transzendentalen Weisung darstellt, dem die Negation und vor allem die spekulative Affirmation beizufügen ist. Aus der Gesamtheit der kategorialen Verhältnisse ergibt sich aber die grundlegende und

232 Zur Kritik an Hick siehe Gäde, Gerhard: Viele Religionen – ein Wort, in: ders.: Christus in den Religionen. Der christliche Glaube und die Wahrheit der Religionen, Paderborn u.a. 2003, 131–177; Schwager, Raymund: Christus allein? Der Streit um die pluralistische Religionstheologie (QD 160), Freiburg u.a. 1996.

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Von „self-centredness“ zur „Realitycentredness“

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

Komparative Theologie der Religionen

einzigartige Bedeutung Jesu Christi für die Menschheit. Dies wird nicht zuletzt durch die Darstellung des modernen und neuzeitlichen Denkens deutlich gemacht werden. Damit sind allerdings die Grenzen der Postmoderne überschritten. Eine neuere Relationsbestimmung unternimmt die komparative Theologie der Religionen. Ihr Ziel ist es, die Wahrheitsfrage als absolut im Sinne einer Lösung von der konkreten Religion, sondern innerhalb derselben zu stellen. Jede Religionsgemeinschaft kann und muss die Frage nach der Wahrheit für sich stellen und beantworten. Hier wird die Absolutheit der jeweiligen Religion gerade nicht geleugnet, sondern affirmiert und dabei ihrerseits pluralisiert. Auf der Basis der Anerkennung des Anspruchs der jeweils Anderen geht es darum, konkrete Ausprägungen der religiösen Theorie und Praxis zu vergleichen, ohne die damit verbundenen Wahrheitsansprüche gegeneinander auszuspielen.233 Vielmehr soll aus dem interreligiösen Dialog ein Gewinn für den je eigenen Glauben gewonnen werden. Ein bemerkenswertes Beispiel für den islamisch-christlichen Dialog über die Person Jesu Christi bieten Klaus von Stosch und Mouhanad Khorchide in ihrem Buch Streit um Jesus. Muslimische und christliche Annäherungen (2016). 3.2.5 Die interkulturelle Christologie

Dekonstruktion des imperialen Jesus

Die Globalisierung bewirkt auch innerhalb des Christentums interne Differenzierungsprozesse. Die faktische Verlagerung der Mehrzahl der Gläubigen von der Ersten in die Dritte Welt führte dazu, dass in der Christologie die europäischen bzw. euro-amerikanischen und damit auch die imperialen Momente der Theoriebildung bewusst wurden.234 Jesus Christus wurde nach Art eines weißen, männlichen, heterosexuellen, von griechischer Rationalität geprägten Europäers (oder Amerikaners) vorgestellt. Insofern Jesus im christlichen Glauben die maßgebende Gestalt des

233 Dazu etwa Bernhardt, Reinhold: Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie, Gütersloh 1990; Ders.: Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie, Zürich 2009; von Stosch, Klaus: Komparative Theologie als Weg in die Welt der Religionen, Paderborn 2012 234 Siehe zum Ganzen auch den Abschnitt „Jesus und die Grenzen der Kulturen“ in: Ruhstorfer: Christologie, 68–79.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

Menschseins ist, wird gerade über seine Person auch das normierende und herrschende Menschenbild transportiert. Durch die Auflösung des europäischen Kolonialismus seit den Fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts wuchs das Bedürfnis, die Überlegenheits- und Machtansprüche, die mit dem religiösen Eurozentrismus einhergehen, abzulegen. Die Dekonstruktion des europäischen Jesus ist in der historischen Gestalt Jesu durchaus angelegt. Jesus war nicht nur in keiner Weise ein weißer, blauäugiger und blonder Europäer, vielmehr taugt er auch in keiner Weise zu einer kolonialen oder imperialen Galionsfigur. Wie Jörg Rieger in seinem Buch Christus und das Imperium. Von Paulus bis zum Postkolonialismus (Münster 2009) verdeutlicht, zeichnet sich der historische Jesus eher durch die hartnäckige Weigerung aus, sich dem Imperium unterzuordnen. Die Gestalt Jesu hat Menschen durch die Jahrhunderte bis heute immer wieder dazu inspiriert, sich nicht dem herrschenden kulturellen Ideal anzupassen, Widerstand zu leisten und alternative Lebensstile zu entwickeln. Freilich ist auch zu sehen, dass bestimmte Züge des neutestamentlichen Jesus imperiale Strukturen befördert haben bzw. bereits durch imperiale Strukturen bedingt sind, etwa wenn Jesus als kýrios angesprochen wird. Dieser Titel lässt nicht nur an die jüdische Gottesanrede – adonai für jhwh  – denken, sondern auch an die Titulatur des römischen Kaisers. Wie der Kaiser der Herr (dominus ac deus) des Erdkreises ist, so ist der ebenfalls mit Gott assoziierte Jesus der Herr in vergleichbarer oder eben auch alternativer Hinsicht. Einerseits wurden imperiale Motive in den christologischen Kontext eingespeist. Ein imperialer Jesus konnte schließlich auch zur kulturellen Leitfigur in einem kolonialen Kontext werden, der historisch je unterschiedlich ausgeprägt war und von der römischen Kolonisierung Spaniens, Galliens oder Britanniens bis zur spanischen, französischen oder britischen Kolonisierung Amerikas, Afrikas oder Asiens reicht. Der Jesus des kolonialen Christentums wurde eine Ikone der Macht der herrschenden Kultur. Andererseits ist in der Gestalt Jesu immer auch der Gegenentwurf zum imperialen dominus ac deus und damit zu den Herren dieser Welt angelegt. Das Jesusbild des Neuen Testaments wird wegen der ihm eigenen dekonstruktiven Kraft immer auch Gegenikone der Unterdrückten und Kolonisierten bleiben. Im postkolonialen Kontext kommt es nun darauf an, diese Mechanismen zu durchschauen und die antiimperialen Momente in der Gestalt Jesu für den interkulturellen Kontext der globalisierten Gegenwart freizulegen.

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Postkoloniale Christologie

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte Choan-Seng Song

Inkulturation Jesu

Jesus und der Kulturimperialismus

Der taiwanesische Theologe Choan-Seng Song (*1929) brachte das Anliegen einer postkolonialen Christologie auf den Punkt: „Transposition from the point-nosed Christ to the flat-nosed Christ – this may sound a little frivolous, but it in fact touches the truth that Jesus Christ, to use St. Paul’s words, ‚becomes everything to men (and women) of every sort‘ (1 Cor. 9:22)“.235 Song kommt es darauf an, die Christologie von ihrer europäisch-westlichen Prägung in einen originär asiatischen Kontext zu übertragen und christologische Spiritualität, Denkformen und Lebensweisen zu inkulturieren.236 Christus soll nicht mehr als Europäer oder Amerikaner wahrgenommen werden, sondern der Jude Jesus kann mit den chinesischen, japanischen, aber auch afrikanischen oder lateinamerikanischen Augen gesehen werden. Wichtig ist in diesem Kontext, die imperiale Macht des Westens vor allem in kultureller Hinsicht wahrzunehmen. Der US-amerikanische Kulturimperialismus, dem mittlerweile auch Europa unterworfen ist, prägt das globale Menschenbild und damit auch direkt oder indirekt das Jesusbild. So kann es nicht wundern, dass weltweit vor allem amerikanische Pfingstkirchen neben dem Islam die weltweit am meisten wachsende Religionsgemeinschaft sind. Fernsehen, Internet und neue Medien tragen die Verbreitung dieser Bewegungen. Nicht nur in Asien, auch in traditionell katholischen Weltgegenden wie in Südamerika verbreiten evangelikale Kirchen die Vorstellungen von Jesus als einem US-amerikanischen Guru, der Züge eines wirtschaftsliberalen Unternehmers mit konservativ-republikanischer Moral trägt. Choan-Seng Song vergleicht die Wirkung der meist amerikanischen Massenmedien mit dem buddhistisch gedachten Schleier

235 Song, Choan-Seng: The Compassionate God. An Exercise in the Theology of Transposition, Maryknoll, N.Y. 1982, 3. Für den indischen Kontext siehe Panikkar, Raimon: Christophanie. Erfahrung des Heiligen als Erscheinung Christi, Freiburg u.a. 2006 und ders.: Der unbekannte Christus im Hinduismus, Mainz 1986; Parappally, Joseph: Emerging Trends in Indian Christology, Bangalore 1995; Kappen, Sebastian: Jesus and Cultural Revolution. An Asian Perspective, Bombay 1983. Für den afrikanischen Kontext siehe Schreiter, Robert J. (Hg.): Faces of Jesus in Africa, Maryknoll, N.Y. 1991 und Bertsch, Ludwig (Hg.): Der schwarze Christus. Wege afrikanischer Theologie, Freiburg u.a. 1989, auch Cone, James H.: A Black Theology of Liberation (1970). Twentieth Anniversary Edition, Maryknoll, N.Y. 1990. 236 Song, Choan-Seng: Theologie des Dritten Auges. Asiatische Spiritualität und christliche Theologie, Göttingen 1989, 21.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

der maya. Die medialen Illusionen vernebeln Wirklichkeit und vernichten kulturelle Pluralität. Gerade in Ländern der Dritten Welt kann nach Song eine „Fernsehtrickserie wie ‚Die Feuersteins‘ als wirtschaftliches und politisches Opium wirken“ (46). Wirtschaftliche Ungerechtigkeiten werden dadurch übertüncht und die Vielfalt der Sprachen, Diskurse, Verhaltensweisen, Gebräuche und Gewohnheiten geht verloren. Doch ist das Phänomen durchaus ambivalent. Bereits im Beginn des Christentums steht die Öffnung für die Kultur und Sprache des Imperiums. Kein geringerer als Paulus öffnete die jüdische Sekte für die griechischsprachigen Heiden. Griechisch, die Weltsprache der Osthälfte des Reichs, wird zur ersten Sprache des Christentums. Wenige Generationen später sind die Sprache Jesu, das Aramäische, aber auch die Sprache des Alten Testaments, das Hebräische, verdrängt. Die meisten Christen sprechen nun die imperialen Sprachen Griechisch und Latein. Man mag das bedauern, aber eine auf Universalismus angelegte Religion wie das paulinisch geprägte Christentum muss sich für die Allgemeinheit öffnen und die allgemeine Sprache (griechisch koinē´ ) sprechen. So kann es nicht wundern, dass in unseren Tagen das Englische, die alte Weltsprache des Westens, das Lateinische – auch im kirchlichen Bereich – abgelöst hat.237 Doch bleibt es immer eine Aufgabe christlicher Theologie, das Allumfassende – to kátholon – und das Besondere, das Marginale, das Verdrängte zu einem Ausgleich zu bringen. Die Erinnerung an den aramäisch sprechenden Juden Jesus selbst, der

237 Vgl. Derrida, Jacques: Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der Religion an den Grenzen der bloßen Vernunft, in: Ders./Vattimo, Gianni (Hg.): Die Religion, Frankfurt 2001, 9–106, 50f.: „Selten nur untersucht man seine [sc. Universalisierungsprozess, K.R.] geopolitische und ethisch-juridische Tragweite, obwohl die Kraft, die ihm innewohnt, mit ihrem paradoxen Erbe übermittelt, ausgeweitet, immer wieder neu eingesetzt wird: nämlich von der unwiderstehlichen Weltherrschaft einer ‚Sprache‘ und einer Kultur, die zum Teil nicht lateinisch ist, von der Weltherrschaft des Anglo-Amerikanischen. Wo es um jenes geht, was mit der Religion zu tun hat, was über ‚Religion‘ redet, was einen religiösen Diskurs oder einen Diskurs über das Religiöse hervorbringt, ist das Anglo-Amerikanische lateinischen Wesens. Man könnte behaupten, dass Religion als ein englisches Wort in der Welt umher kreist, als ein Wort das in Rom Station und einen Umweg über die Vereinigten Staaten gemacht hat. Schon seit Jahrhunderten findet eine hyperimperialistische Bewegung statt, die über ihre im engeren Sinn kapitalisch-kapitalistischen und politisch-militärischen Gestalten weit hinausreicht.“

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Jesus und die herrschende Sprache

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

am Rande des Römischen Reichs, aber auch am Rande des palästinischen Judentums lebte und wirkte, und der schließlich Opfer der kulturell maßgeblichen Kräfte in der Hauptstadt Jerusalem wurde – seien diese nun die jüdische Tempelaristokratie oder die römische Kolonialmacht –, verpflichtet die christlichen Kirchen zur Sympathie mit dem Ausgeschlossenen und Unbedeutenden. 3.2.6 Die feministische Christologie

Jesus und das Herrsein des Mannes

Ausgeschlossen und für sekundär erklärt wurden in der Geschichte auch die Frauen. Nicht nur, dass die gesellschaftlichen Strukturen des alten Israel und überhaupt der Antike patriarchal geprägt waren, auch das Christentum übernahm von Anbeginn patriarchale Muster, durch die Frauen marginalisiert wurden. Inwiefern die Praxis Jesu die gesellschaftlichen Strukturen seiner Zeit in Frage gestellt hat, mag an dieser Stelle offen bleiben. Fest steht, dass die christologische Theoriebildung stets die herrschenden Verhältnisse stabilisiert hat. Dabei wurde das Mannsein Jesu theologisch signifikant interpretiert. Die Überordnung des Mannes über die Frau konnte so durch die „Mannwerdung“ Gottes legitimiert werden. Wenn Jesus als der Herr tituliert wird, so bedeutet das damit auch das Herrsein des Mannes. Damit können Herrschaftsstrukturen und asymmetrische Geschlechterbeziehungen begründet werden (vgl. 1Kor 11,3; Eph 5,23). Freilich steht dem auch eine emanzipatorische Seite des neutestamentlichen Schrifttums gegenüber, das in Christus die irdischen Gegensätze aufgehoben sieht (Gal 3,28; 1Kor 11,11f.). Faktisch aber wurde und wird das Mannsein Jesu bis heute zur Legitimation von Machtstrukturen missbraucht. Wenn bis heute Frauen vom Weihesakrament ausgeschlossen sind, so hat dies seinen Grund in einem ungeschichtlichen, unkritischen und unreflektierten Rückgriff auf die Männlichkeit Jesu. Meist werden bei entsprechenden Begründungen auch ontologische Substanzkategorien, wie sie auch im metaphysischen Naturbegriff vorliegen, herangezogen. Die Natur des Mannes weise mehr Gottähnlichkeit auf, mehr Rationalität etc. Die griechische Zuordnung von lógos (Mann) und hýlē (Frau) wird dabei reproduziert und naturalisiert. Die tatsächliche Stellung der Frau als inferior findet so eine Begründung in der weiblichen „Natur“. Eben deshalb könne die Frau von Natur aus nicht Christus als das Haupt repräsentieren. Methodisch bodenlose Spekulationen über eine fiktiven „Willen“ Jesu, diese Machtverhältnisse zu zementieren, flan-

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

kieren die Argumentation. Freilich gerät durch die Überbetonung des Mannseins Jesu der Gedanke der Menschwerdung Gottes ins Wanken. Wenn es darauf ankommt, dass Gott Mann geworden ist, dann wird die gesamte Soteriologie verunmöglicht, da nicht mehr gezeigt werden kann, warum die Erhöhung des Menschseins durch die Erniedrigung Gottes auch Frauen inkludiert. In unseren Tagen, da der Mann nicht mehr als das Paradigma des (vollen) Menschseins gelten kann, müssen auch die christologischen und soteriologischen Theoreme neu durchdacht werden, wie überhaupt im Horizont der tele-semeio-logischen Postmoderne bzw. der medialen Moderne (Scheier) das Paradigma des Menschseins neu in Frage steht (Foucault). Wie schon Derrida gezeigt hat, kommt im postmodernen Kontext der Differenz eine (quasi-)prinzipielle Bedeutung zu. Die Geschlechterdifferenz ist selbst (quasi-)ursprünglich.238 Damit ist aber dem Gedanken der Menschwerdung Gottes die anthropologische Basis entzogen. In neuer Weise wird der Gedanke der Menschwerdung Gottes konstitutiv für den Begriff des Menschen. Dabei gilt es sich der Tatsache bewusst zu sein, dass die Geschlechteridentitäten zu einem guten Teil das Produkt einer gesellschaftlichen Konvention (gender) und nicht nur einer natürlichen Vorgabe (sex) sind. Die amerikanische Theologin Elisabeth Schüssler Fiorenza schreibt:

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Menschwerdung oder Mannwerdung Gottes?

Geschlechterkonstruktionen

Zitat

„As long as this ideological cultural gender politics, which makes gender difference appear to be ‚natural’, ‚commonsense’, and ‚G*d-given’, remains operative even in feminist-christological discourses, it functions as an (often unconscious) religious framework in which the masculine gender of Jesus cannot but remain the central focus and problem for feminist christology.“239

Nach Schüssler Fiorenza genügt es nicht, den bisherigen Androzentrismus zu negieren und zu substituieren. Dadurch löst sich die feministische Theologie eindeutig von der modernen Logik

238 Derrida, Jacques: Geschlecht (Heidegger). Sexuelle Differenz, ontologische Differenz. Heideggers Hand (Geschlecht II), Wien 1988. 239 Schüssler Fiorenza, Elisabeth: Jesus and the politics of interpretation, New York 2000, 149.

Elisabeth Schüssler Fiorenza

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

der Negation und geht zur postmodernen De-Limitation über.240 Die „dogmatisch christologischen Konstruktionen“ können nach Schüssler Fiorenza nicht einfach durch eine neue normative christologische Konstruktion ersetzt werden. „Vielmehr müssen wir die rhetorischen Interessen und theologischen Implikationen, die alle Interpretationen von Jesus dem Christus bestimmen, kritisch aufdecken“.241 Diese Hermeneutik des Verdachts realisiert sich in der fortgesetzten Kritik der heutigen und antiken Praxis der Entmenschlichung (vgl. 103). Die Herrschaftsverhältnisse werden bis in ihre alltäglichen Konkretionen analysiert. Damit bleibt die feministische Christologie stets auf die Dekonstruktion des soziopolitischen Kontextes der christologischen Diskurse bezogen (vgl. 21–51). 3.3 Die dritte Rückfrage und darüber hinaus …

Die erste Rückfrage

Am Ende unseres langen Durchgangs durch die Geschichte der Interpretation des Mannes aus Nazaret kommen wir wieder auf den Anfang des Buchs zurück, die Frage nach der biblischen Grundlage des Glaubens an Christus und ihrem Verhältnis zum historischen Jesus. Hier aber werden wir diese Frage im Rahmen des tele-semeio-logischen Paradigmas in den Blick nehmen. Die Rückfrage nach dem historischen Jesus hat eine ontotheo-logische Vorgeschichte, die in der Aufklärung beginnt, wo sie als Verhältnis von innerer Vernunft und äußerer Geschichte auftaucht, und wo der Primat des Signifikats festgeschrieben bleibt.242 Ihre radikale Ausprägung aber findet sie als bio-anthropo-logische Frage nach der Wirklichkeit oder nach dem Leben (biós) des Menschen (ánthrōpos) Jesus.243 Diese erste Rückfrage, der es um die Referenz des Glaubens und der biblischen Texte geht, implodiert im frühen 20. Jahrhundert und für einige Jahr-

240 Dieser Absatz wurde aus Ruhstorfer: Christologie, 81 übernommen. Vgl. zum Ganzen dort 80–86. 241 Schüssler Fiorenza, Elisabeth: Jesus Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie, Gütersloh 1997, 102. Die weiteren Angaben im Text beziehen sich auf dieses Werk. 242 Theissen, Gerd/Merz, Annette: Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen ³2001, 22–24. Zur Strukturierung insgesamt siehe auch Stegemann, Wolfgang: Jesus und seine Zeit (Biblische Enzyklopädie 10), Stuttgart 2010, 82–88. 243 Theissen/Merz: Der historische Jesus, 24.

3. | Die tele-semeio-logische Christologie

zehnte wird die Frage deutlich zurückgestellt.244 Auch die zweite Rückfrage bleibt epochal betrachtet der Moderne und damit dem Primat des Referenten oder der Wirklichkeit hinter den Texten und hinter der dogmatischen Idee verhaftet. Beiden bio-anthropo-logischen Rückfragen geht es um die Negation des metaphysischen oder onto-theo-logischen Christusbilds als inkarnierter göttlicher Idee. Die Besonderheit der zweiten Rückfrage ist das doppelte Differenzkriterium, das den historischen oder wirklichen Jesus vom (mehr und mehr spekulativen) Glauben der Kirche ebenso abgrenzt wie von jüdischen Vorgaben. Gerade das Jüdischsein Jesu war in der deutschen Forschung in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts und darüber hinaus ein zu negierender Fremdkörper. Die dritte Rückfrage, die in den USA entsteht, stellt nun aber genau den Juden Jesus in den Mittelpunkt des Interesses.245 Doch dabei ergeben sich weitere bezeichnende Verschiebungen in der Theoriebildung, die deutlich machen, dass die third quest den bioanthropo-logischen Horizont überschritten hat und in die TeleSemeio-Logie eingerückt ist, denn sie bietet eine Dekonstruktion der Jesusforschung.246 Neue Methoden des Textverständnisses werden herangezogen. Auf die Flucht vor dem Dogma der bioanthropo-logischen Exegese folgt die tele-semeio-logische Flucht vor der Historie.247 Die Textualität der Texte gewinnt an Bedeutung. Die Fixierung auf eine historisch greifbare Wirklichkeit wird gelockert, wodurch die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktizität perforiert wird. Auch archäologische, religionswissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und kulturhermeneutische Methoden finden Eingang in die Diskurse.248 Darüber hinaus werden auch die materialen Grenzen der analysierten Texte überschritten, einerseits weil etwa in Nag Hammadi (1947–1955) und Qumran (1947–1955) neue Quellen entdeckt worden sind,

244 Theissen/Merz: Der historische Jesus, 25f. 245 Theissen/Merz: Der historische Jesus; Schröter, Jens: Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt, Leipzig 2006. 246 Stegemann: Jesus und seine Zeit, 14, 73–123. Stegemann ordnet zudem die verschiedenen Zugänge zu Jesus in verschiedene epochale „Wissensordnungen“ ein. Dabei bezieht er sich u.a. auf Michel Foucault; siehe Jesus und seine Zeit, 74. Zum Ganzen Ruhstorfer: Christologie, 45–52. 247 Dunn, James D.G.: Jesus Remembered, Grand Rapids, Mich./Cam. 2003, 25–66. 248 Stegemann: Jesus und seine Zeit, 88f.; Danz: Christologie, 33.

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Die zweite Rückfrage

Die dritte Rückfrage

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IV. | Von der Geschichte der Christologie zur Christologie der Geschichte

andererseits weil nichtchristlichen, v.a. jüdischen Dokumenten mehr Bedeutung zugemessen wird. Zusammengefasst zeichnet sich die dritte Runde der historischen Jesusforschung zunächst durch folgende Punkte aus: • Jesus als Jude/Judäer: Ersetzung des Differenzkriteriums durch das Plausibilitätskriterium (historisch ist, was innerhalb des zeitgenössischen Judentums plausibel ist) • Aufgabe des (modern-)theologischen Grundzugs der Fragestellung: Dekonstruktion von Theologie und Anthropologie • Verbreiterung der Quellenbasis: Qumran, Nag Hammadi, apokryphe Evangelien (Thomasevangelium, Judasevangelium u.a.), jüdische Texte (Flavius Josephus, Philo von Alexandrien u.a.) • Ausweitung des Methodenspektrums: Reader-Response-Critizism, Dekonstruktion, Archäologie, Sozialwissenschaft, Kulturhermeneutik, Religionswissenschaft

Jesus in den Kon-Texten

Der eigentliche Umbruch bezieht sich auf die Frage des Ziels der historischen Forschung. Das Ziel ist eben nicht mehr das Leben des Menschen Jesus im Sinne moderner Bio-Anthropo-Logie und des entsprechenden Wirklichkeitsverständnisses. Zugleich wird die Frage nach dem „historischen“ oder nach dem „wirklichen“ Jesus nicht einfach negiert, wie in der Moderne das Dogma negiert wurde, sondern ent-be-grenzt oder dekonstruiert.249 Der Charakter der Interpretation jedweden Wirklichkeitsanspruchs wird hervorgehoben.250 Dabei wird deutlich, dass die Vorstellung, durch die biblischen Schriften hindurch auf einen wirklichen Jesus „hinter“ den Texten blicken zu können, eine Illusion ist.251 Mit Derrida verweist der Exeget Stegemann darauf, dass es auch bei der Frage nach dem historischen Jesus kein „Außerhalb-des-Textes“ geben könne.252 Dennoch und deshalb werden im Rahmen der third quest unterschiedliche bis gegen-

249 Zu den epochalen und damit kategorialen Unterschieden dieser Operationen siehe Ruhstorfer: Gotteslehre, 23–34. Zur Dekonstruktion des Begriffs „wirklicher“ Jesus siehe Stegemann: Jesus und seine Zeit, 92–99. 250 Stegemann: Jesus und seine Zeit, 99: „Jede Auswahl und jede Auswertung eines Jesus-Textes ist selbst schon eine Interpretation. Kurz: die Kategorie ‚wirklich‘ ist ein Interpretationsbegriff, mit dem man Definitionsmacht über einen Gegenstand zu erlangen sucht. Der wirkliche Jesus ist eine wissenschaftliche Fiktion.“ 251 Dunn: Jesus remembered, 95. 252 Stegemann: Jesus und seine Zeit, 101f.

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sätzliche Jesusbilder entworfen: John Dominic Crossan zeigt Jesus als jüdischen Kyniker mit kalifornischem Lokalkolorit.253 Jüdische Interpreten wie Geza Vermes verstehen ihn als jüdischen Charismatiker.254 Ed Parish Sanders255 und Jens Schröter256 deuten Jesus als Endzeitprophet und Apokalyptiker. Für Annette Merz und Gerd Theißen ist Jesus ein radikaler Wanderprediger und charismatischer Heiler.257 Welchen Realitätsgehalt haben diese Jesusbilder, und welche Rolle spielen diese Jesusbilder für den Glauben? James Dunn258 und Jens Schröter259 versuchen, über den Begriff der Erinnerung eine Brücke zu bauen zwischen Fiktionalität und Faktizität, historischer Forschung und theologischer Reflexion, Wissen und Glauben. Auf der Grenze zwischen den Gegensätzen bewahrt die Erinnerung das Gewesene und belebt es durch die jeweilige kreative Beziehung auf das konkrete Leben. Dabei wird eingeräumt, dass auch der „erinnerte Jesus“ der neueren historischen Forschung keine Glaubensbegründung leisten oder die Richtigkeit des Glaubens aufweisen könne. „Sie kann jedoch zeigen, dass dieser Glaube auf dem Wirken und Geschick einer Person gründet, die sich, wenn auch nicht in jedem Detail, so doch in wichtigen Facetten auch heute noch nachzeichnen lässt.“260 Ziel dieser Reflexionen ist es gerade nicht, am Postulat eines „wirklichen“ Jesus hinter den pluralen Bildern und Texten des Neuen Testaments festzuhalten.261 Und selbst wenn es möglich wäre, einen „wirklichen“ Jesus zu identifizieren, würde auch dadurch die Kluft zwischen dem göttlichen Anspruch und der menschlichen Realität niemals überbrückt werden. Nur wenn das chalce-

253 Crossan, John Dominic: Jesus. Ein revolutionäres Leben, München 1996. 254 Vermes, Geza: Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993. 255 Sanders, Ed Parish: Sohn Gottes. Eine historische Biographie, Stuttgart 1986. 256 Schröter: Jesus von Nazaret. 257 Theissen/Merz: Der historische Jesus. 258 Dunn: Jesus remembered, bes. 881–893. 259 Schröter, Jens: Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas, Neukirchen-Vluyn 1997. Zum Ganzen auch Stegemann: Jesus und seine Zeit, 139f. 260 Schröter: Jesus von Nazaret, 34. 261 Danz versucht dies gegen Schröter anzuführen, siehe Danz: Christologie, 40. Weil Danz sich nicht für das tele-semeio-logische Paradigma mit seiner konstitutiven Pluralität öffnen kann, bleibt für ihn die innere Plausibilität des Versuchs von Jens Schröter unplausibel.

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Der erinnerte Jesus

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Jesus in Wahrheitsfeldern

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donische Dogma, das die göttliche und menschliche Realität prinzipiell zusammenhält, verabschiedet wird, kann der irdischen Wirklichkeit eine absolute Bedeutung für die Glaubensbegründung abverlangt werden, was jedoch notwendigerweise zum Scheitern verurteilt ist. Deshalb gilt es, nicht nur die unaufhebbare Spannungseinheit von Wissen und Glauben, Fiktionalität und Faktizität, historischer Forschung und theologischer Reflexion, menschlicher und göttlicher „Natur“ zu halten. Mehr noch: Die Differenzen zwischen dem irdischen Jesus und den biblischen Schriften, den biblischen Schriften und den kategorialen Verhältnissen der rationalen Interpretation (wie ich sie hier vorgestellt habe), zwischen dem onto-theo-logischen, dem bio-anthropo-logischen und dem tele-semeio-logischem Paradigma, aber auch zwischen dem „Gott über uns“, dem „Gott unter uns“ und dem „Gott in uns“ sind unaufhebbar. Es gilt diese Differenzen zu halten und deren Identitätspunkt in seiner transzendenten Wahrheit zu respektieren. Gleichwohl ist es möglich, Wahrheitsfelder abzustecken, Plausibilitätsgrade zu taxieren und Identitätsperspektiven zu eröffnen. Christologie und die damit unauflöslich verbundene Trinitätslehre habe ihre transepochale Kraft gerade dadurch bewiesen, dass sie Interpretationsräume eröffnet, Rationalitätsfelder und Lebenswirklichkeiten erschlossen und geprägt haben. Diese Räume, Felder und Wirklichkeiten verweisen stets zurück auf den Mann aus Nazaret, der uns bei aller Nähe immer auch fremd bleibt. Gewiss entschwindet dieser Mensch, der den Glaubenden unendlich nahegeht, immer wieder auch in seine eigene Zeit. Er bleibt immer auch der Andere, der ganz Andere. Dennoch und deshalb bleibt es eine christliche Grundüberzeugung, dass von einem einzigen menschlichen Individuum, das zugleich Eines und Anderes ist, der Gedanke der gottmenschlichen Einheit, die alle Menschen umfasst, und damit die universelle Versöhnung ausgeht. Jesus ist der Begriff, die Wirklichkeit und das Symbol für diese Hoffnung. Damit ist angezeigt, dass das menschliche Individuum dasjenige ist, worüber hinaus Größeres nicht gedacht werden kann  – so sehr die konkrete Erfahrung dagegen spricht. Es geht immer um den Menschen, um den einzelnen Menschen. Dafür steht Jesus, und dafür steht der christliche Glaube. In Einem Alles, in Allen Eines. Das Dogma von Chalcedon hält genau die Differenzeinheit fest und zeigt, dass die menschliche Person als solche der Ort dieser Einheit des Entgegengesetzten ist. Hier und jetzt geschieht diese Versöhnung des

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Individuums mit sich selbst, mit seinem Nächsten, der Gesellschaft und der Welt. Christus anziehen, wie Paulus formuliert (Röm 13,14), heißt, aktiver Teil dieses universalen Versöhnungsprozesses zu werden.

4. Christologie der Geschichte In unserem Durchgang durch die Geschichte der Christologie hat sich gezeigt, dass die einzigartige Einheit und Unterschiedenheit von Gott und Mensch im menschlichen Individuum, für die Jesus Christus der Begriff, die Wirklichkeit und das Symbol ist, weit über die Geschichte der Christologie als einer theologischen Disziplin,262 aber auch weit über die Grenzen des kirchlichen Glaubens hinaus Weltgeschichte geschrieben hat. Aufklärung, Menschenrechte, neuzeitliche Demokratie, moderner Säkularismus und Naturwissenschaften, aber auch Kommunismus, westlicher Atheismus oder Materialismus sind ohne Jesus undenkbar. Die differenzierte Identifikation von Gott und Vernunft (Logos), die immense Aufwertung von Leiblichkeit (Sarx), die Verbindung von Gott und Geschichte, Absolutem und Individuellem, Unendlichem und Endlichem, wie sie die christliche Kultur prägen, sind ohne den Gedanken der Menschwerdung Gottes nicht vorstellbar. Das bedeutet aber gerade auch für eine Christologie im 21. Jahrhundert, dass sie weit über die Grenzen der kirchlichen Dogmatik ausgreifen kann und muss, wenn sie die Tragweite des Grundimpulses angemessen würdigen und die Wirkmacht des Gedankens entfalten will. Die Geschichte der Christologie ist übergegangen in eine Christologie der Geschichte. Insofern sich gerade die Geschichte des europäischen Christusglaubens entgrenzt hat und nicht nur durch Migration und Mission in Amerika, Afrika, Asien und Australien global geworden ist, sondern auch durch die Säkularisate der europäischen Kultur, wie Menschenrecht und Menschenwürde, aber auch Philosophie und Wissenschaft universal geworden ist, dürfte es an der Zeit sein, von einer Christologie der Geschichte zu sprechen. Jesus von Nazaret wurde dadurch zu einem Movens der Weltge-

262 Zur Diskussion der akademischen Christologie der letzten 30 Jahre in Deutschland siehe Ruhstorfer, Karlheinz: Christologie, in: Marschler, Thomas/Schärtl, Thomas (Hg.): Dogmatik heute. Bestandaufnahme und Perspektiven, Regensburg 2014, 231–280.

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schichte. Dieses Movens ist für die Glaubenden zugleich auch Heilsgeschichte. Die Fülle der heilsgeschichtlichen Kraft des Glaubens an Christus kann aber nur entfaltet werden, wenn die Fülle der Wirkungen der Geschichte Christi fruchtbar gemacht wird. Die Geschichte des Mannes aus Nazaret bleibt dadurch eine Quelle der Inspiration für den christlichen Glauben und für die Geschichte der Menschheit.

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Bildquellen: Keel, Othmar: Die Welt der altorientalischen Bildsymbolik und das Alte Testament. Am Beispiel der Psalmen, Göttingen 51996: Abb. 339 und 390, (c) Stiftung BIBEL+ORIENT Freiburg CH.

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Personenregister Aaron: 28, 56, 60 Ábel, František: 68 Abraham: 35, 54, 67, 115, 162, 340 Abramowski, Luise: 166, 177, 185, 187, 197, 202, 210f Abramowski, Rudolf: 177 Abu Bakr: 208 Acacius von Konstantinopel: 206 Adam, Klaus-Peter: 64 Adam: 96, 98, 160, 209, 220, 234, 262, 291ff Ahas: 40f Alexander d. Gr.: 21, 51, 116 Amor, Christoph J.: 143 Andresen, Carl: 153 Anselm von Canterbury: 219–222, 224, 226, 234, 370 Antiochos IV. Epiphanes: 50f Apolinarius von Laodicea: 174–178, 181, 185, 187, 195 Apollon: 78 Appel, Kurt: 335 Aristoteles: 148, 156, 218, 227ff, 256 Arius: 81, 169–175, 181 Asklepios: 78 Athanasius: 169, 175 Atkinson, Kenneth: 68 Augustinus: 149, 187, 197, 212, 216, 219, 241, 243, 244, 325, 370 Augustus: 78, 116, 118, 121 Axt-Piscalar, Christine: 296 Balthasar, Hans Urs von: 207, 303, 312, 318, 324–328, 331, 371 Bannach, Klaus: 235 Baradai, Jakob: 205 Barbel, Joseph: 157, 210 Barth, Karl: 290, 296, 300–305, 324f, 330 Basiliscus: 206 Basilius von Seleukia: 202 Baumann, Gerlinde: 67 Baur, Ferdinand Christian: 317f Becker, Helmut: 337, 372 Becker, Joachim: 63, 337, 372 Benedikt XVI: 352

Berges, Ulrich: 54, 67 Berkeley, George: 250 Bernhardt, Reinhold: 358, 370f Bertsch, Ludwig: 360, 371 Bethune-Baker, James: 185 Beuken, Willem A. M.: 45, 65 Beutel, Albrecht: 253, 371 Bienert, Wolfgang: 166 Bileam: 61 Boccaccini, Gabriele: 68 Böhm, Thomas: 190 Böhnke, Michael: 175 Boyarin, Daniel: 68 Braun, Wernher von: 295 Brennecke, Hanns Christof: 166 Brock, Sebastian: 186, 210, 289 Brown, David: 144, 210 Bruns, Peter: 179 Buddha: 298 Burger, Maria: 233ff Calvin, Johannes: 237, 242, 244– 247, 249, 300, 305, 371, 374 Camelot, Pierre-Thomas: 190, 197f Casanova, José: 250, 371 Chavasse, Antoine: 197 Chester, Andrew: 100, 138 Cicero: 94, 97 Claussen, Johann H: 297 Clemens von Rom: 154 Coakley, Sarah: 203, 210 Cobb, John: 317 Coelestin I. (Papst): 183, 188ff Collins, Adela Yarbro: 63 Collins, John J.: 49, 63, 66, 68 Colpe, Carsten: 158, 211 Cone, James H .: 360, 371 Crossan, John Dominic: 229, 367, 371 d’Holbach, Paul Henri Thiry: 250 Daniel: 12, 18, 34, 50, 52, 66f Danz, Christian: 334f, 365, 367, 370 Darios I.: 21, 37 Dassmann, Ernst: 63, 204f, 211

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Personenregister

David: 12, 15, 17, 20–24, 28–38, 42–48, 52, 59–63, 66, 74, 77, 84, 90, 112, 115f, 118, 134, 144 Davis, Stephen T.: 203 Day, John: 63, 213 De Halleux, Andre: 186f, 190, 197, 202 de La Mettrie, Offray: 250 Derrida, Jacques: 334, 338–342, 347, 352, 361, 363, 366, 371 Descartes, René: 249f, 255 Dettloff, Werner: 235, 371 Deuterojesaja: 35, 46, 50, 54, 65 Dierken, Jörg: 303, 371 Diodor von Tarsus: 176f, 180, 194 Diodorus Siculus: 114, 121 Dionysius von Alexandrien: 169 Dionysius von Rom: 169f Dioskur I. von Alexandrien: 195– 199, 203ff Domnus II. von Antiochien: 195 Drey, Johann Sebastian von: 317 Dunn, James: 68, 100, 138, 333, 365ff, 372 Duns Scotus, Johannes: 233ff, 371– 375 Ebeling, Gerhard: 313f, 372 Eberhart, Christian A.: 138 Ebner, Martin: 85, 87, 110, 138f Elert, Werner: 146, 211 Elia: 84, 155 Emmanuel: 41, 116, 118 Ephräm der Syrer: 150f Epiktet: 94 Esra: 52, 58f, 68 Essen,Georg: 207 Euripides: 94 Eusebius von Cäsarea: 158, 170 Eustathius von Antiochien: 173f Eutyches: 195–205 Euzoius: 171 Ezechiel: 50, 79, 86 Fabry, Heinz-Josef: 63 Fédou, Michel: 153, 211 Feuerbach, Ludwig: 9, 281, 283, 285–287, 293, 300, 325, 332, 372 Fichte, Johann Gottlieb: 329, 372, 257, 259f 273f Fiedler, Peter: 138

Fitzmyer, Joseph A .: 63 Flavian von Konstantinopel: 195– 200, 202 Flavius Josephus: 366 Foucault, Michel: 9, 334–338, 363, 365, 372 Fraisse-Coue, Christiane: 190 Franziskus I: 353 Freud, Sigmund: 291 Frevel, Christian: 63 , 65 Gäde, Gerhard: 222, 357, 372 Gaidioz, Jean: 197 Gieschen, Charles A.: 157, 211 Gleede, Benjamin: 207 Grabbe, Lester L.: 63 Graf, Friedrich Wilhelm: 303, 371 Grasmiick, Ernst Ludwig: 166 Gregor von Nanzianz: 176 Grillmeier, Alois: 152, 156, 179f, 186, 202, 211 Gutiérrez, Gustavo: 351, 372 Habermas, Jürgen: 339, 342f, 372 Haggai: 37, 65f Hahn, Ferdinant: 69, 87, 89, 95, 100, 102, 109, 121, 129, 137f Haight, Roger: 339, 344–348, 372 Hainthaler, Theresia 152 Halleux, André de: 186f, 190, 197, 202, 211 Hansen, Günther Christian: 174 Hauschild, Wolf-Dieter/Drecoll, Volker Henning: 211 Haverkamp, Anselm: 340, 371 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: 248, 251, 257, 259f, 267, 269, 272, 274–276, 278f, 280–287, 292, 295, 297, 300f, 308, 315, 317, 323, 325, 329, 332, 340, 372– 374 Heidegger, Martin: 283, 288, 290– 294, 304, 306ff, 314, 319f, 342, 363, 371 Heinz, Hanspeter: 175 Heisenberg, Werner: 295 Hensel, Benedikt: 65 Herakles: 78, 114 121 Heraklius (Kaiser): 208 Hick, John: 143, 211, 317, 335, 355ff, 367, 373

Personenregister

Himmelfarb, Martha: 67 Hippolytus: 157, 159, 161, 163, 165f Hirscher, Johann Baptist von: 317 Hiskija: 54 Honnefelder, Ludger: 233, 234, 373 Honorius (Papst): 208 Horbury, William: 68 Hornig, Gottfried: 254, 373 Huber, Konrad: 133f, 138 Hübner, Reinhard M.: 162–166, 174, 212 Hülser, Karlheinz: 161 Hume, David: 251, 255 Hünermann, Peter: 236, 312, 329, 373 Hurtado, Larry W.: 70, 100, 138 Ibas von Edessa: 206 Ignatius von Antiochien: 163 Ignatius von Loyola: 237f, 242, 244, 248, 270, 375 Irenaus von Lyon: 163f Isaï: 43–46, Iulius Caesar: 78 Jacobi, Friedrich Heinrich: 264 Jaeschke, Walter: 275, 373 Jammu: 52 Janowski, Bernd: 67 Jehoschua: 37f Jellinek, Georg: 244, 373 Jeremias, Jörg: 63 Jesaja: 12, 18, 35, 40,-43, 45f, 50, 54, 65, 67, 154, 156, 286 Johannes (Evangelist): 122f, 138f, 147f, 178, 180, 187, 215, 262, 273 Johannes Cassianus: 189 Johannes Chrysostomus: 182f Johannes der Täufer: 84 127 Johannes I. (Patriarch von Antiochien): 191–195 Johannes von Damaskus: 207, 226 Jojachin: 32 Jonker, Louis C.: 66 Joschija: 42 Josephus: 76, 97 Jotam: 23 Julian der Abtrünnige (Kaiser): 180 Jüngel, Eberhard: 312 Justin der Märtyrer: 148, 161ff, 325 Justinian (Kaiser): 206

Kaiser, Otto: 63 Kallist (Bischof von Rom): 165 Kant, Immanuel: 217, 228f, 251f, 255, 259–269, 271ff, 275, 284f, 297, 318ff, 325, 328f, 342, 362, 373, 377 Kany, Roland: 12, 141, 149, 155, 164, 168, 202, 212 Kaplony, Andreas: 209 Kappen, Sebastian: 360, 373 Karrer, Martin: 108, 138f Käsemann, Ernst: 312f, 373 Kasper, Walter: 312, 329ff, 373 Keel, Othmar: 25, 27, 377 Kendall, Daniel: 203 Kertelge, Karl: 105, 113, 139 Khorchide, Mouhanad: 358 Kierkegaard, Sören: 281, 283, 287– 291, 293, 296, 300f, 308, 332, 373 Klappert, Bertold: 300, 373 Kleutgen, Josef: 318 Klostermann, Erich: 174 Knibb, Michael A.: 65 Knight, Jonathan: 156 Knitter, Paul: 347, 355, 374 Koch, Klaus: 61, 67f Konradt, Matthias: 87, 139 Kratz, Reinhard Gregor: 65 Kügler, Joachim: 122, 139 Kuhn, Johannes von: 318 Kühn, Ulrich: 300, 302, 318, 374 Küng, Hans: 142ff, 146f, 300, 307, 313, 315, 319, 321, 327, 329, 331, 348, 350, 360, 370, 374 Kuruš II.: 36 Kyrill von Alexandrien: 145,181–198, 202, 204f Kyros: 21, 33, 36, 46, 55, 65 Laato, Antti: 63 Lactantius: 156f Läger, Karoline: 35, 71, 104, 139, 198, 273, 292, 300, 314, 358 Leibniz, Gottfried Wilhelm: 250, 254f, 325, 374 Leo der Große (Papst): 151,196– 200, 202 Leontius von Byzanz: 179, 206 Leppin, Volker: 237, 374 Lessing, Gotthold Ephraim: 252f, 255–261, 263, 289, 329, 374

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Personenregister

Leuenberger, Martin: 65 Lietzmann, Hans: 174f, 212 Livius: 114, 121 Locke, John: 250, 255, 325, 365 Löhr, Winrich: 158 Lohse, Bernhard: 154 Loofs, Ferdinand: 183, 188 Loretz, Oswald: 65 Lo¯ta¯n: 52 Lukas (Evangelist): 17f, 118–121, 139f, 151 Luther, Martin: 145f, 237–246, 248f, 273, 300, 309, 327, 374 Lux, Rüdiger: 65

Nancy, Jean-Luc: 249, 341, 374 Nassauer, Gudrun Michaela: 149 Nathan: 20, 29, 31, 43, 156 Nestorius: 181–186, 188–194, 200ff, 205f Niehr, Herbert: 52, 65ff Nietzsche, Friedrich: 9, 283, 288, 290–294, 297, 302f, 308, 327, 332, 336 Nijenhuis, Wilhelm: 244, 374 Nikolaus Cusanus: 325 Noet von Smyrna: 162–165 Norris, Richard A.: 188, 212 Novenson, Matthew V.: 64

Maier, Christl M.: 64, 67, 317 Manemann, Jürgen: 353, 374f Maria: 118, 150, 157, 164, 183, 188, 191, 193, 192, 200f, 201, 209, 229, 328 Marion, Jean-Luc: 342, 374 Markeil von Ankyra: 174, 181 Markianus (Kaiser): 198 Markion: 159f Markschies, Christoph: 166, 170, 212 Marschler, Thomas: 369, 275 Marx, Karl: 283, 286, 288, 290– 294, 303, 308, 327, 332, 340, 349ff, 371 Matthäus (Evangelist): 7, 39, 115, 138, 141f, 142, 229 Maximus Confessor: 208f Mayeur, Jean-Marie: 190 McKinion, Steven A.: 187 Meister Eckhart: 235, 237, 374 Melchisedek: 28, 60, 108 Memnon von Ephesos: 190f Mendelssohn, Moses: 325 Merz, Annette: 30, 55, 82, 85, 87, 140, 313, 364f, 367, 376 Metz, Johann Baptist: 332, 349f, 353, 374f Mohammed / Muhammad: 158, 208f, 298 Möhler, Johann Adam: 317f Mose: 17, 48, 54, 107, 114, 116, 119f, 120, 123, 125f, 128, 162, 293 Murrmann-Kahl, Michael: 370, 377

O’Collins, Gerald: 203 Ockham, Wilhelm von: 235, 248, 370 Omar: 208 Onias III.: 54 Origenes: 8, 161, 164, 167–171, 173, 175–179, 181, 206f, 213, 216 Ovid: 102 Panikkar, Raimon: 360, 374f Pannenberg, Wolfhart: 313–315, 375 Parappally, Joseph: 360, 375 Paul von Samosata: 170 Paulus: 7, 71f, 74f 79, 90, 92–103, 105, 111, 131, 140, 150, 156f, 157, 227, 241, 245, 247, 260, 262, 264, 267, 291, 302, 304, 341, 361, 369, Pawl, Timothy: 144 Peppard, Michael: 78, 100, 112,139 Personenregister Peters, Tiemo Rainer: 353, 374f Petrus Abaelard: 222 Petrus der Walker: 205 Petrus: 84, 121, 141, 154 Philippus: 18 Philo von Alexandrien: 147, 157, 161, 366 Philoxenus von Mabbug: 205 Photin von Sirmium: 174 Platon: 126, 147f, 159, 215f, 218, 229, 254, 307, 338, 354 Plotin: 216 Plutarch: 114, 121 Porphyrios: 148, 216 Porter, Stanley E .: 64

Personenregister

Praxeas: 162 Pseudo-Aristoteles: 148,156 Pseudo-Clemens: 157 Ptolemaeus: 160 Pulcheria: 198 Rahner, Karl: 207, 303, 312,316–324, 327, 330, 347, 371, 375 Ratzinger, Joseph: 329, 352 Reimarus, Hermann Samuel: 252f, 289, 297, 371, 376 Reynolds, Gabriel Said: 209, 212 Ricoeur, Paul: 299 Rieger, Jörg: 233, 359, 375 Rieger, Reinhold: 43, 134, 233, 359, 375 Ritter, Adolf Martin: 153, 173f, 212 Roldanus, Johannes: 198, 213 Roloff, Jürgen: 139 Rösel, Christoph: 47, 66 Rousselot, Pierre: 327 Ruh, Ulrich: 249, 375 Ruhstorfer, Karlheinz: 5, 8, 12, 155, 212 , 224, 230, 242, 249, 251, 260, 274, 287, 291, 296, 301, 303, 328, 349, 358, 364, 366, 369, 375 Rusam, Dietrich: 127, 139 Sabellius: 165, 169 Sacharja: 5, 37–40, 50, 65f Salomo: 6, 19f, 24, 30, 32, 45, 48, 57f, 60, 76, 156, 252f Salustius 180 Šamaš: 25 Samuel: 46, 252 Sanders, Ed Parish: 367, 375 Schäfer, Peter: 64 Schaper, Joachim: 66 Schärtl, Thomas: 369, 375 Scheeben, Matthias Joseph: 318 Scheier, Claus-Artur: 293, 363, 375 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: 259, 273–275, 318, 325, 329, 331 Schindler, Alfred: 146 Schleiermacher, Friedrich: 9, 251, 267–272, 275, 283, 296,300, 325, 327, 375 Schnelle: 95, 100, 102, 104, 121, 123, 139, 257

Schopenhauer, Arthur: 308, 325 Schreiber, Stefan: 6, 12, 76, 79, 88, 96, 100, 103, 110, 116, 119, 124, 132f, 138f , 257 Schreiter, Robert J.: 360, 375 Schroer, Silvia: 67 Schröter, Jens: 94f, 139, 365, 367, 376 Schüssler Fiorenza, Elisabeth: 363f, 376 Schwager, Raymund: 357, 376 Schweitzer, Albert: 229, 297, 376 Schwemer, Anna M .: 66f , 85, 140 Seebass, Horst: 64 Seibt, Klaus: 174, 212 Semler, Johann Salomo: 252ff, 373 Seneca: 94, 102 Sergius von Konstantinopel: 208 Serubbabel: 20, 37f, 46, 54, 65f Servet, Michel: 250 Seuse, Heinrich: 237 Severus von Antiochien: 205 Sextus Empiricus: 161 Siddals, Ruth M.: 188 Smith, Andrew: 148 Snearly, Michael K .: 66 Sobrino, Jon: 9, 347, 351f, 376 Sokrates Scholastikos: 182 Sokrates: 182, 289 Song, Choan-Seng: 360f, 376 Sophronius von Jerusalem: 208 Sozzini, Fausto: 250 Spanneut, Michel: 173, 212 Spinoza: 250, 268, 325 Staudenmaier, Franz Anton: 317 Stead, Christopher: 161, 212 Stegemann, Wolfgang: 64, 68, 140, 364–367, 376 Stosch, Klaus von: 358, 377 Strauss, David Friedrich: 9, 280– 285, 287, 296, 312, 317, 332, 376 Struppe, Ursula: 64 Studer, Basil: 153, 212 Stuhlmacher, Peter: 67 Sturch, Richard: 143, 212 Sueton: 121 Tacitus: 102 Tauler, Johannes: 237 Tertullian: 157–160, 164ff

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Personenregister

Theissen, Gerd: 82, 85, 87 140, 193, 229, 364f, 367, 376 Theobald, Michael: 122, 129, 140 Theodor von Mopsuestia: 176– 183,194, 205f Theodoret von Kyrrhos: 196, 206 Theodosius II. (Kaiser): 182, 190, 197f Theodot der Gerber: 158 Theodot der Wechsler: 158 Theophilus von Alexandrien: 182 Theophilus von Antiochien: 161f Thomas von Aquin: 8, 222f, 224– 231, 233, 254, 342, 376 Thomas: 125, 156, 366f, 376 Thome, Felix: 180, 213 Tillich, Paul: 9, 306–311, 314, 346, 376 Tilling, Chris: 70, 100, 140 Timotheus: 139 , 354 Toland: 325 Torrance, Iain R .: 213 Troeltsch, Ernst: 9, 296–300, 306, 371 , 376 Uthemann, Karl-Heinz: 195–197, 213 Van Loon, Hans: 186, 213 Van Oort, Johannes: 198, 213 Vattimo, Gianni: 249, 341, 361, 371 , 376

Vermes, Geza: 367, 377 Vielhauer, Philipp: 72, 140 Viktor I. (Bischof von Rom): 158 Voltaire: 250 von Arnim, Hans: 161 von Balthasar, Hans Urs: 9, 207, 303, 312, 318, 324–327, 377 von Harnack, Adolph: 142–146, 296–298, 300, 306, 370 , 372 von Stosch, Klaus: 358, 377 Wagner, Falk: 323 Waschke, Ernst-Joachim: 64 Welker, Michael: 226, 377 Wengst, Klaus: 72, 123, 140 Wickham, Lionel R.: 186f Williams, Rowan: 167, 213 , 235, 377 Winkelmann, Friedhelm: 204, 213 Wittekind, Folkart: 297, 313f, 335, 377 Wolter, Michael: 93–95, 101, 140 Wünsche, August: 67 Zager, Werner: 281, 376 Zeller, Dieter: 140 Zenger, Erich: 23, 64–66 Zeno (Kaiser): 206 Zephryn (Bischof von Rom): 163 Zimmermann, Johannes: 68 Zwingli, Huldrych: 145

Sachregister Absolutheitsanspruch: 335, 355, 358, 370, 374 Adoptianismus: 77f, 112, 170, 186, 311 Altes Testament: 12, 15, 16–19, 29, 42, 50–53, 57–60, 63f, 66, 71, 77, 157 Äon / Äonenwende: 15, 49f, 73f, 91, 95f Apollinarismus: 190, 202 Anhomöer: 182 Anthropologie: 9, 23, 93, 141, 280, 285, 292f, 301, 312, 316ff, 320, 324f, 329, 331, 333, 337, 363, 366 Apostel: 193, 230, 323f , siehe auch → Jünger Arianismus: 170, 182f Auferstehung / Auferweckung: 12,15ff, 55, 59, 78, 86, 90, 98, 113, 143, 152, 168f, 171f, 175, 180, 219, 225, 230f, 243, 253f, 256, 258, 267, 277, 282, 291ff, 300, 302, 305, 313, 315f, 320, 323f, 348, 352, 373 Aufklärung: 11, 247f, 250, 252, 256, 259, 267, 275f, 295f, 303, 317, 327, 332, 334, 336, 355, 364, 369f Autonomie : 249, 342f, 347



Von unten: 170, 312, 352 Logos-Christologie(n): 122, 158f, 161f, 166f, 181, 347 Geistchristologie: 347 Personchristologie: 285f, 287 Gattungschristologie: 284f, 287, 317 Christos: 11, 16f, 53, 76, auch → Messias Dogma / Dogmatik / Dogmengeschichte: 12, 138, 142–154, 164, 167, 173, 175, 186f, 190, 197f, 200, 207, 211f, 215, 223, 240, 347–251, 254, 269f, 272, 274, 276, 284, 286, 296–300, 302ff, 307, 310f, 314, 316, 318, 323, 328, 331ff, 335f, 347f, 356, 364ff, 368ff, 372, 375, 377 Doketismus: 159 Dualismus: 320

Ekklesiologie: 103, 131, 225, 330 Enhypostasie: 206f, 227 Entmythologisierung: 333 Erhöhung: 44, 74, 80, 86, 90ff, 98f, 102, 105, 107, 109ff, 114f, 117, 119ff, 126, 128, 131ff, 136f, 143, Bekenntnis: 16, 58, 70f, 74, 76, 79ff, 363 84f, 93, 102, 104f, 112, 125f, 133, Erlöser / Erlösung: 11, 15, 17, 92f, 136ff, 141, 147, 171f, 175, 178, 181, 101, 150–153, 159f, 162, 164, 166, 183f, 191ff, 195, 198–202, 304, 168, 170f, 175f, 179, 181, 184–187, 318, 330 204, 207f, 212, 222, 225ff, 230, Beziehung, auch → Relation: 28, 234, 245, 247, 253, 265, 286, 288, 69ff, 77f, 93–96, 100, 103ff, 108, 291, 293, 298f, 309, 332, 346f, 111, 114, 117, 123f, 128ff, 130, 137, 350, 354, 357, 372 143, 146, 148f, 154, 187f, 216ff, Eschatologie: 15, 46, 49, 66, 73f, 77, 232, 248, 270, 280, 301, 311, 327, 82f, 86, 96, 98, 101, 104, 114, 127, 340, 345, 353f, 356ff 131ff, 136f, 143f, 303, 315, 347, 350 Buddhismus: 357, 360 Essenz, auch → Wesen (Gottes): 11, Bund: 5, 30f, 83, 96, 110, 114, 305 81, 101, 126, 137, 147f, 160, 171ff, 216, 227, 234, 256, 262, 274, Christologie 278f, 283, 307f, 310, 338 Explizite: 149, 356 Eurozentrismus : 297, 358ff Implizite: 89, 107, 149 Evangelium (allgemein): 18, 110, 138, Von oben: 280, 304, 309, 312 142, 240, 264f, 352, 354

386

Sachregister

Exegese: 64, 70, 100, 124, 144, 173, 176ff, 183, 212, 252, 307, 313, 328, 356, 366, 373

Hinduismus: 357, 360, 375 Historischer Jesus / Historische Jesusforschung : 13, 70, 81–85, 87, 89, 136, 139f, 253, 255f, 262ff, Fleisch (sarx) : 13, 56, 99, 123, 157, 266f, 282, 289, 296ff, 302, 311– 160, 164, 168f, 171f, 175f, 178, 14, 323, 331, 335, 343, 352f, 359, 181, 184, 187f, 193, 195f, 200, 227, 364–367, 370, 372f, 375ff 249f, 286, 284, 301, 305, 307, Holocaust / Auschwitz: 295, 344, 326, 332f, 335, 341, 343, 355, 369, 349f, 353, 374f 373 Homoier / Homoiousianer: 126, Freiheit: 206f, 218, 234f, 237–240, 171f, 175, 192 242–245, 247–252, 254, 258–261, Hypostatische Union: 224, 229, 263, 266–269, 273f, 277f, 280, 245f, 321f, 338, 347 299, 311, 318f, 321, 326, 329, 331f, 337, 342ff, 347, 372, 374 Identität: 47f, 52, 54, 81, 87f, 94, 97, Fundamentalismus: 306 101f, 105, 112, 137f, 145, 165, 208, 217, 274f, 277f, 280, 289, 329f, Gesetz: 31, 48, 59, 99, 103, 106, 123, 333, 363, 368 126, 262, 264f, 299 Idiomenkommunikation: 207f, 241 Gnade: 30f, 56, 104, 108f, 123f, 155, Inkarnation , auch → Menschwer158, 170, 180, 187, 200, 230, 238f, dung: 11, 100, 123, 144, 160, 168, 244, 248, 266, 319, 321, 325, 343, 170, 174, 176, 178, 187, 192, 196, 354 200f, 203, 215, 220, 222, 225ff, Gnosis: 111, 156, 158ff, 162–166 228, 234, 236, 249, 251, 263, 273, Grab: 72, 114f, 120, 196, 200, 241, 275, 278f, 284, 286, 291, 294f, 256f, 302, 316, 324 309, 311, 316f, 319, 322ff, 329, 335, 338, 355, 357, 363, 365, 369, Heil (soteria): 16, 50, 55, 73f, 76, 83, 374f 88, 92, 99, 127, 129, 131, 144, Inkulturation : 344, 360 146, 148f, 154f, 166, 170, 172, 181, Islam: 13, 158, 194, 209–212, 216, 184f, 192, 194, 203, 210, 218, 340, 357f, 360 220, 224f, 230, 235, 239, 245, 305, 328, 351, 354f JHWH: 18, 21ff, 26, 28–36, 38ff, Heiliger Geist: 44f, 72, 78, 94, 115, 42–46, 48, 52, 54f, 57, 61, 65, 118, 121, 145, 155, 157, 165, 200, 81ff, 89, 100, 112, 114, 125, 135, 209, 217f, 227ff, 245–250, 265, 137, 359 269f, 272, 275–279, 286, 305, Judentum: 16, 58, 65f, 68, 71, 76, 307, 320f, 326, 343, 346 82, 85, 89, 97, 117, 125, 147, 156ff, Heilung: 83, 87f, 112, 116, 119, 176, 162, 211, 216, 254, 257, 312, 333, 210 335, 339, 348ff, 353, 362, 365f, Hermeneutik: 15, 17, 40, 91, 106, 374 116, 120, 137f, 314, 364ff, 372 Jünger: 17, 41f, 141, 253, 272, 324, Herrlichkeit (gloria, dóxa): 30, 77, auch → Apostel 102, 104, 115, 120, 131, 133, 230f, 234, 239, 246, 263, 295, 305, Kenosis: 144, 210, 305, 323, 333, 341, 326, 328 357 Himmel: 28, 36, 51, 57, 64, 74f, 82, Kirche: 11, 105, 108, 138, 144ff, 152ff, 98, 102, 107f, 110, 112, 116f, 121f, 157, 183, 186, 194f, 199, 203–206, 127, 129, 135, 150, 156, 160, 165, 208–213, 215, 223, 225, 242, 171f, 182, 193, 196, 246, 263, 245ff, 254, 262, 272, 280, 284, 282, 287, 322, 334 293ff, 297f, 301, 303–306, 327f,

Sachregister

330, 332f, 337, 343, 350, 352ff, 360, 362, 365 Königsherrschaft (Gottes) / basileia: 15, 31, 40, 49, 51, 82ff, 86f, 90, 111, 116, 119, 126, 133, 136 Kommunismus: 295, 369 Konzilien Chalcedon (451): 70, 81, 126, 137, 142ff, 146f, 150, 170, 186, 190, 192, 194f, 197–201, 203–213, 215f, 227, 245, 249ff, 261, 271f, 274, 284ff, 300, 304, 310, 316, 331f, 336, 347, 356, 367f Ephesus (432): 181, 188, 190ff, 194, 197f, 204f, 211 Konstantinopel (381): 11, 182, 199f, Konstantinopel (680/81): 209 Nizäa (325): 13, 70, 81, 126, 137, 143, 146f, 150, 167, 171ff, 174, 178, 181, 184, 192, 198ff, 211, 216, 227, 245, 250, 338 Vatikan I (1870): 318 Vatikan II (1962–65): 233, 306, 311, 330, 353f Kreuz: 79, 97, 99, 102, 109, 112f, 128, 134, 165, 175, 180, 207, 209, 220, 227, 280, 290, 292, 294, 302, 333, 348, 350 Kyrios: 75, 80, 90, 101, 107, 118, 136, 359

Macht: 20, 33, 35, 39, 44, 57, 76, 78, 80f, 86f, 96–99, 103f, 107, 112f, 117ff, 125f, 133f, 151, 226f, 232, 235, 239, 296f, 299, 359f, 370 Menschensohn: 12, 18, 50f, 53, 58f, 67f, 75, 79, 85f, 89, 112–115, 117, 126ff, 132f, 135f, 155, 157, 175, 196, 305 Menschwerdung: → Inkarnation Messias / Messianismus: 12, 15–20, 22ff, 26, 28ff, 32, 34, 36, 38–40, 42f, 46–48, 50, 52ff, 56–68, 74, 76f, 79, 84f, 89ff, 106, 112f, 116–122, 126f, 133f, 136, 140f, 154, 158, 302, 308, 315, 338ff Monarchianismus: 158, 162– 166, 169, 174, 212 Monophysitismus: 187, 203, 205f, 208, 213 Monotheismus: 35, 65, 70, 81, 89, 100f, 124, 125, 135, 137 Monotheletismus: 208f Mysterium (Geheimnis): 90, 111, 113, 116, 152, 164, 181, 184, 187, 194, 200, 204, 223– 226, 228, 243, 258, 267, 321f, 343, 347 Nationalsozialismus: 295, 303, 350 Natur/en (christologisch) (physis): 142, 144, 147, 157, 160, 168, 173, 175, 177ff, 181, 183–188, 190, 193–198, 200–208, 215f, 227, Leib: 102f, 168ff, 173f, 178f, 181, 184, 229, 240f, 250f, 256, 271, 274, 192, 195, 201, 228, 246, 346 277, 310, 316, 322, 331, 335, 347, Leiden: 17f, 21, 49, 53–57, 67, 77, 79, 362, 368 84, 86, 106, 109, 112f, 117, 120, 127, 145, 163–166, 171–174, 176, Nestorianismus: 185f, 202, 205ff 180f, 183, 196, 200f, 203, 207f, Neuchalcedonismus: 206ff, 227 227, 229ff, 243, 247, 262, 266, Neues Testament: 12, 16, 18f, 23, 26, 286, 289–293, 323, 350, 352, 29, 40, 53, 57, 60f, 63f, 69f, 81, siehe auch → Passion 90, 125, 136–139, 142f, 146–149, Liebe: 77, 93f, 103, 113, 130ff, 136, 153f, 157–159, 164f, 178, 209, 212, 159, 222, 227, 229f, 232, 234f, 241, 282, 304, 342, 356, 359, 362, 243, 260, 265, 279, 296, 325, 377 367 Logos: 13, 57, 122–126, 156–159, 161–164, 166–171, 173–176, 179ff, Offenbarung: 49, 59, 81, 103, 116f, 183f, 187f, 193, 195, 201f, 211f, 122–133, 138, 151, 159, 215ff, 223, 216f, 227, 231f, 245, 249f, 260, 226, 228, 243, 248f, 251ff, 257, 273, 278, 286, 294, 304, 316f, 264, 268, 270, 273f, 277ff, 288, 320, 323, 332, 334, 341, 343, 347, 290, 300–304, 306f, 314f, 324– 354, 362, 369 327, 355, 377

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388

Sachregister

Opfer: 28, 50, 56, 95, 103, 105, 109f, 246, 258, 261, 268, 271, 273, 114, 130, 138f, 222, 291–294, 307, 296, 298f, 302 333, 335, 349f, 362 Selbstmitteilung Gottes: 128f, 133, Ostern: 69f, 72, 74, 76, 80f, 84ff, 216f, 227, 270, 315f, 319, 321, 323, 89ff, 101, 111, 113, 120, 122, 125, 355 131f, 136, 139f, 152, 253f, 323 Sendung: 84, 86f, 90, 99, 119, 128– Ousia: 126, 147f, 160 132, 174, 328 Sohn Gottes: 26, 30, 36, 43, 75, 77– Parusie: 75, 98, 114f, 131, 136 80, 90, 100f, 108, 111ff, 117f, 126, Passion: 86, 113, 120, 130, 230, 243, 136, 151, 171f, 175, 196, 205, 228, siehe auch → Leid 236, 245, 258, 279, 309, 356, 367, Patripassianismus: 165f 375 Person Soteriologie: 64, 69, 77, 91, 93, 104, Allgemein: 164, 166, 179ff, 186, 105f, 108f, 113f, 120f, 124, 128f, 188, 196ff, 205, 209, 217, 227, 132, 136, 146, 148, 153f, 168, 171f, 248, 275, 284–287 174, 178, 181, 186ff, 193ff, 200, Hypostase: 147, 167, 169, 179, 204, 209f, 291, 305, 311, 314, 331, 184, 186, 189, 194ff, 201, 203, 348, 357, 363 206f, 217, 227, 309, 338 Subordinatianismus / SubordinaPersona: 164f, 196 tion : 162, 170 Prosopon: 166, 179, 193, 195 Sünde: 49, 55ff, 59, 72, 77, 79, 86f, Pharisäer: 58 94–99, 109f, 113, 117, 120, 127, Platonismus: 126, 147f, 159, 215f, 130ff, 157, 178, 201, 220–223, 225, 218, 229, 268, 307, 338, 354 230f, 234, 240, 243, 251, 258, Pluralismus: 144, 333, 340, 344f, 347, 262, 265, 267, 270, 288, 290ff, 355–358 295, 308, 311, 344, 351 Präexistenz: 53, 57, 59ff, 99f, 101f, Sündenfall: 44, 223, 234, 308, 351 105, 123, 131, 136f, 157, 160, 167, Symbol (Jesus als S.): 299, 309, 339, 169, 234, 253, 263, 355 344, 346ff, 350, 368, 372 Prophet: 16ff, 20, 22, 29, 34, 39f, 50, 54, 65, 68, 77, 79, 84–88, 90, Theotokos: 183ff, 188f, 191ff, 201 119f, 126, 133, 140, 157f, 162, 166, Tod (Jesu): 54, 56, 70, 77, 93, 96f, 202, 209, 211, 247, 286, 298, 103, 109, 114, 117, 128, 131, 134, 340, 364, 367, 376 136, 230f, 315 Tradition (systematisch theologisch): Rechtfertigung: 230, 235, 238, 240, 71f, 74, 77, 79f, 86, 92, 107, 266, 311, 319 111, 113, 143–146, 189, 194, 209, Relation: → Beziehung 220, 225, 227, 240, 247f, 256, Relativismus: 297, 306, 357 270, 272, 297, 300, 303, 310f, Reich Gottes: → Königsherrschaft 321, 327, 330, 339, 348, 355, (Gottes) / basileia 357 Trinität: 126, 145, 149, 155, 157f, 165, Sabellianismus: 165f 168, 171, 174, 202, 205, 207, 209, Schöpfung: 30, 35, 44, 57, 73, 83, 212, 217, 227, 250, 254, 258, 264f, 91, 93, 100–103, 107, 123, 137, 274, 276f, 286, 307, 317, 328, 348, 167–170, 172, 175, 220, 223, 368 234, 263, 269, 297, 316, 321, Vater: 323, 327ff Gott Israels: 27, 30, 42ff, 77 Seele (psyche): 113, 159, 160–171, Trinitarisch: 88, 96, 101f, 106, 115, 173–176, 178–181, 184, 192, 195, 117f, 121, 123, 125f, 128–133, 143, 201f, 208, 228, 236, 239f, 242, 154f, 161f, 165–174, 181, 184, 187,

Sachregister

192, 200ff, 217, 224, 236, 243, 319, 325, 333ff, 338, 354, 357f, 368, 250, 254, 263, 265, 277, 286, 372 296, 304f, 307, 315ff, 326, 338, Wesen (Natur) Gotte: → Essenz; → 370 Natur; → Ousia Vergebung: 87, 117, 131, 221 Wille Gottes: 78, 83, 88, 89, 92, 93, Versöhnung: 56, 93, 95f, 102, 108f, 96, 104, 116, 117, 123, 130, 187, 130, 221, 251, 266, 277, 279, 282f, 208f, 220f, 230, 235, 239, 277, 291–294, 304f, 308f, 311, 318, 306 336, 339, 354, 368 Wunder: 87, 111ff, 116, 228–232, 240, 253, 256, 258, 271, 282, 326 Wahrheit: 123, 126, 145, 168f, 215f, 219, 223ff, 242, 249, 252–256, Zeichen: 40f, 44f, 49, 114, 118, 228, 262, 266f, 273, 276ff, 282, 284, 256, 271

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Die Autorinnen und Autoren Oliver Dyma, geb. 1972, Professor für Biblische Theologie an der Katholischen Stiftungshochschule München-Benediktbeuren Stefan Schreiber, geb. 1967, Professor für Neues Testament an der Universität Augsburg Roland Kany, geb. 1958, Professor für Kirchengeschichte des Altertums und Patrologie an der Universität München Karlheinz Ruhstorfer, geb. 1963, Professor für Dogmatik an der Universität Freiburg