Christliche Skaldendichtung

Die deutsche Literatur blickt in ihren großen Zeiten nach Süden und nach Westen. Doch ziemt es uns, den Norden nicht zu

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Christliche Skaldendichtung

Table of contents :
Einleitung 5
Bruchstücke aus den ersten Jahren der Bekehrung 11
Bruchstücke aus dem 12. Jahrhundert 16
Einar Skulason: Preislied auf den heiligen Olaf 20
Bruder Gamli: Die Sorgensonne 30
Anonym: Wegweisung oder der Himmelsbrief 38
Anonym: Das Sonnenlied 45
Eystein Asgrimsson: Die Lilie. Ein Marienpreis aus dem 14. Jahrhundert 56
Literatur 73

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Wolfgang Lange

CHRISTLICHE SKALDENDICHTUNG

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VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

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Wolfgang

Lange

Geboren am 29. 6.191$ in Kiel. — Promotion in München 1939. — Habilitation in Göttingen 19}}. — Dozent für germanische Philologie an der Universität Göttingen. — „Studien zur christlichen Dichtung der Nordgermanen", Göttingen 1958.

Bayerische Staatsbibliothek MÜNCHEH

Kleine Vandenbotck- Reibe 54

Umschlag: Irmgard Suckstorff © Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1958 Printed in Gcrmany All: Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verl; ges ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomcchanischem Wege zu vervielfältigen. Gcsamtherstellung: Hubert & Go., Göttingen 7423

Für Brigitte Lange

Bayerisdia • .iüiijthek

MÜNCHEI )

EINLEITUNG Die deutsche Literatur blickt in ihren großen Zeiten nach Süden und nach Westen. Doch ziemt es uns, den Norden nicht zu übersehen. Zwar hat Skandinavien die deutsche Dichtung nur in neuerer Zeit — und da wiederholt seit Klopstocks Tagen — tiefer beeindruckt. Aber in dem Maße, wie Literaturbetrachtung sich zw einer solchen in wenigstens europäischem Horizont erhebt, verdient auch der Norden unsere Aufmerksamkeit. Nur zu oft wird vergessen, daß, während im deutschen Sprachgebiet Mönche mühsam anfangen Reime zu schmieden, im Norden eine große Schar hochgemuter, selbstbewußter Skalden bedeutende Dichtung schafft. Der große Andreas Heusler vor allem hat uns das eigene Maß und Gewicht altnordischer Poesie sehen und verstehen gelehrt. Allein, ihm ging es um die im Kern heidnische, germanische Dichtung; Christliches war ihm Aufweichung, Abfall vom Ererbten, ja Verfall. In diesem Punkt ist, so glaube ich, eine Schuld zu begleichen. Dort oben gibt es — anders als in Deutschland — schon in den ersten Tagen der Bekehrung Dichtung aus dem neuen Geist. Proben dieser in der gesamten germanischen Welt einzigartigen Poesie soll dieses Bändchen vorlegen. Im Frankenland bedurfte es einer Synode (794), die beschloß, daß Gott nicht nur in den drei heiligen Sprachen angerufen werden könne: Ut nullus credat, quod nonnisi in tribus Unguis Deus orandus sit, quia in omni lingua Deus adoratur et homo exauditur, si justa petierit. Ein Konzil von 813 bestätigt eigens noch einmal diese Entscheidung: Et qui aliter non potuerit, vel in sua lingua hoc discat. Nichts dergleichen im Norden. Dort hat es die Frage, ob die eigene Sprache zum Lobpreis des neuen Gottes gestattet sei, offenbar gar nicht gegeben. Eine lange Tradition großer Kunst war lebendig; man bediente sich unbekümmert der alten Formen zum neuen Zweck. Daß dabei manches entstand, was kein 5

Schriftzeugnis zu seiner Beglaubigung hätte anführen können, darf nicht verwundern. Kräftiger und deutlicher als bei den Südgermanen halten sich heidnische Vorstellungen in Glauben und Brauch; sie hinterlassen auch Spuren in der christlichen Dichtung, doch übergehen wir diese Dinge hier, denn eine jede solche Stelle würde einen weitläufigen Kommentar erfordern. Nicht nur die Liebe zur alten Dichtung und die Fortführung ihrer alten Formen gibt der christlichen Dichtung der Nordgermanen das eigene Gesicht. Im Gegensatz zu Deutschland und England sind es im Norden zunächst Weltkinder, Ungelehrte, die den neuen Gott und seine Heiligen im Gedicht preisen. Geistliche Poesie beginnt dann erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Die Übernahme des Christentums auf Island im Jahre 1000 war kein Akt der religiösen Ergriffenheit; die Aufnahme geschah auch nicht eigentlich unter Zwang — wenngleich der norwegische König es nicht an Drohungen fehlen ließ —; die Einführung der neuen Religion vollzog sich vielmehr als ein Akt der Vernunft. Man wollte Parteiungen um jeden Preis vermeiden. Die Alternative, vor die man sich anno 1000 gestellt sah, hieß nicht eigentlich: Christentum oder Heidentum, sondern: Frieden oder Unfrieden im Lande. Der Hergang ist lehrreich und von keinem besser dargestellt worden als von Ari Thorgilsson, dem gelehrten ersten Geschichtsforscher Islands (geb. 1067). Aus dem berühmten siebenten Kapitel seines „Isländerbuches" soll ein längerer Abschnitt hier abgedruckt werden (in der Übersetzung von W. Baetke, Slg. Thule 23, 50ff.). Zunächst schildert Ari das Zerwürfnis der sich bildenden Parteien; man steht sich schon in Waffen gegenüber, aber die Einsichtigen sinnen auf Vermittlung. Und hier mag nun Aris Bericht beginnen: Nun baten die Christen Hall zu Sida, er solle ihnen die Gesetze vortragen, so wie es dem Christentum entspräche. Aber er entzog sich ihnen dadurch, daß er den Gesetzessprecher Thorgeir durch Geld gewann, daß er sie vortragen sollte; dieser war da aber noch Heide. Als nun die Männer in ihre Buden kamen, legte sich Thorgeir nieder, breitete sich seinen Mantel über und lag den ganzenTag und die folgende Nacht und sprach keinWort. Aber am nächsten Morgen richtete er sich auf und ließ ansagen, die Leute sollten zum Gesetzesfelsen gehen. Und als die Männer

dorthin kamen, da hub er seine Rede an und sagte, es bedünke ihn, daß ihre Verhältnisse in eine unhaltbare Lage geraten seien, wenn nicht alle ein und dasselbe Gesetz hier im Lande haben sollten. Er stellte den Männern in mannigfacher Weise vor, daß man es dahin nicht kommen lassen dürfe, und sagte, das würde zu einer solchen Zwietracht führen, daß gewiß zu erwarten sei, daß Mord und Totschlag unter den Landsleuten entstehen würde, wodurch das Land veröden würde. Er erzählte davon, wie die Könige von Norwegen und von Dänemark in Kampf und Streit miteinander gelegen hätten, bis die Landesangehörigen Frieden zwischen ihnen gestiftet hätten, obwohl sie selbst es nicht wollten. Der Beschluß wurde so ausgeführt, daß sie einander zur Stunde kostbare Geschenke sandten, und der Friede hielt unter ihnen, solange sie lebten. „Nun aber scheint es mir rätlich", sagte er, „daß auch wir nicht die bestimmen lassen, die sich am feindlichsten gegenüberstehen, sondern lieber einen Ausgleich zwischen ihnen suchen, so daß beide Teile in etwas ihren Willen bekommen, alle aber ein Gesetz und einen Glauben haben. Es wird sich bewahrheiten, daß, wenn wir den Gesetzverband zerreißen, wir auch den Frieden zerreißen." Er schloß seine Rede mit dem Erfolg, daß beide Teile zugestanden, daß alle ein Gesetz haben sollten, welches er für gut befinden würde ihnen vorzutragen. So wurde nun dies als Gesetz verkündet, daß alle, die hierzulande noch ungetauft wären, Christen werden und die Taufe annehmen sollten; aber für die Kindesaussetzung und das Pferdefleischessen sollten noch die alten Gesetze gelten. Opfern sollte man heimlich, wenn man wollte, doch bei Strafe der Landesverweisung, wenn Zeugen dafür beigebracht würden. Doch schon nach wenigen Jahren wurde dieser heidnische Brauch abgeschafft gleich den andern. Bei solcher Lage der Dinge mußte es zu Kompromissen kommen. In der Tat ist denn auch die früheste christliche Dichtung (aus der Zeit um das Jahr 1000) nicht frei von Synkretismen und Mißverständnissen. Erst fünf Generationen später — die Zwischenzeit schweigt fast ganz, ohne daß die Gründe für diesen merkwürdigen Umstand hier erörtert werden sollen — tritt eine große, wohl erhaltene christliche Dichtung an das Licht, jetzt im wesentlichen von Geistlichen geschaffen. Nicht selten sind die 7

Dichter Klosterbrüder. Aber auch Weltkinder finden in einer stürmisch bewegten und rauhen Zeit Töne inniger Ergriffenheit, so etwa Kolbein Tumason, von dem dieser Band zwei Proben bringt. Zu den hier vorgelegten Übersetzungen seien noch einige Bemerkungen erlaubt. Es wurde schon gesagt, daß die Isländer die alte Form des skaldischen Preisliedes unbekümmert fortsetzten für den neuen Gegenstand und Inhalt. Skaldische Dichtung, seit der Mitte des neunten Jahrhunderts wohl bezeugt, ist nun aber die schwierigste, kunstvollste und zugleich künstlichste Dichtungsart, die im Abendland je erprobt wurde. N u r die großen Dichter schaffen trotz der vorgegebenen und als unverbrüchlich geltenden Form einen eigenen Ton. Für eine ordentliche Strophe waren zahlreiche Kunstgesetze zu beachten: Stabreime, Binnenreime von unterschiedlicher Genauigkeit, Wortstellung, Silbenzahl und manches andere waren streng geregelt. Dies alles mit den Mitteln unserer so anders gebauten und anders klingenden Sprache nachbilden zu wollen, wäre ein Unding. (Die Sammlung Thule bietet Beispiele dafür, was für Monstren bei solchem Bestreben, skaldische Strophen genau nachzubilden, entstehen können, ja entstehen müssen. Die Meisterschaft der dortigen Übersetzer wird durch diese Bemerkung nicht angetastet; nur bedürfen ihre übersetzten Strophen fast immer des umständlichen Kommentars.) Die wörtliche Übertragung skaldischer Dichtung wird aber durch ein bestimmtes Stilprinzip dieser Kunst vollends zur Unmöglichkeit: das ist die Kenning, zwei-, drei- und mehrgliedrige Umschreibung eines Gegenstandes oder einer Person, Umschreibung mit Rätsel- und Verweisungscharakter, eine Stilfigur, die nicht nur das Wesen dieser Dichtung bestimmt, sondern darüber hinaus Wissen von mythischen und heroischen Überlieferungen (auch noch in der späteren christlichen Dichtung!) voraussetzt. Hier war also, so schmerzlich das ist, einschneidende Bescheidung geboten. Wo irgend es anging — d.h. wo es ohne weitläufige Erläuterung möglich war — habe ich die kostbaren Umschreibungen für die heiligen Personen zu retten versuch! Aber oft — zu oft, als daß der pathetische Klang dieser Dichtung ganz spürbar würde — mußte ich mich entschließen, statt eines 8

prunkvollen Bildes schlichtere Wörter wie ,Held', ,Krieger', ,Fürst' zu setzen. Um dieses Problem der Übersetzung deutlich zu machen, möchte ich drei Beispiele geben. Folgende Kenning (eine der schlichteren Art noch dazu!) bedürfte bereits des Kommentars: ein Mann wird möär munnrjöär Hugins genannt, ,der mutige Mundröter Hugins'. Hugin ist der Vogel Odins und der Walstatt. Der Mann hat dem Raben durch Taten auf dem Schlachtfeld Atzung verschafft, seinen Schnabel also gerötet. Das ist durch eine Nachbildung der Kenning nicht gleich eindrucksvoll wiederzugeben; ,Mann der Walstatt' läßt, so hoffe ich, wenigstens noch einiges vom Sinn der Umschreibung mitklingen. — Eine viel schlichtere Kenning mag die Schwierigkeit weiter verdeutlichen: ein Dichter nennt das Herz hugstrandar halb, ,den Stein des Gedankenstrandes', und beschwört damit das Bild des sturmausgesetzten Strandes für die menschliche Brust; selbst dieses an sich so schlichte wie tiefe Bild würde doch wohl durch wörtliche Nachahmung verdorben! — Zu retten war hingegen (wenn auch nicht in ganz genauer Übersetzung) eine Umschreibung für Christus: .Sturmzelt-Feuers (der Sonne) Friedensfürst'. Solch ein Wort durfte stehenbleiben, denn der Kontext macht es begreifbar. Eine letzte Schwierigkeit hat der Übersetzer noch zu beklagen — womit er seinen Prosa-Versuch weiterhin zu erklären und zu rechtfertigen bemüht ist —: die wenigen und recht abgegriffenen Adjektive wie ,heilig', .herrlich', ,gütig', die uns in diesem Zusammenhang möglich sind, geben nur eine schwache (oder, genauer gesagt: gar keine rechte) Vorstellung von dem Prunk der fast ins Unendliche variierbaren Komposita im Isländischen. Auch etliche spezifisch altnordische Redewendungen waren nicht wörtlich wiederzugeben. Dem Bestreben, möglichst dicht am Text zu bleiben, stand daher gelegentlich die Nötigung entgegen, frei zu übersetzen, um dem Sinn gerecht zu werden. Den einzelnen Abschnitten wurden knappe Anmerkungen vorausgeschickt. Sie sollen über die nötigsten Daten unterrichten. Daß dieses Bändchen nur eine Auswahl bietet, braucht kaum gesagt zu werden; sie zu rechtfertigen, ist hier nicht der Ort. Doch glaube ich, alle Gattungen religiöser Poesie — von der Gelegenheitsstrophe bis zum kunstvollen Preislied, vom er9

griffenen Bekenntnis bis zur Lehrdichtung im wieder aufgenommenen eddischen Stil — belegt zu haben. Was die folgenden Übersetzungen zu geben vermögen, ist nur eine Kenntnis vom Gegenstand und Inhalt dieser Dichtung, nicht von ihrer kunstvollen Form und nur begrenzt von ihrem pathetischen Geist. Gleichwohl: auch so ist diese Poesie noch ehrwürdig genug, unsere Aufmerksamkeit zu verdienen. ,In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen', durfte der Evangelist sagen (Joh. 14,2); was die isländischen Dichter errichteten, war nicht die ärmste der Wohnungen.

B R U C H S T Ü C K E AUS D E N E R S T E N J A H R E N DER BEKEHRUNG Schon aus den ersten Tagen des Christentums im Norden gibt es Dichtung über den neuen Glauben oder genauer: über einige Themen der neuen Religion. N u r karge Reste sind auf uns gekommen. Das Bruchstückhafte dieser Überlieferung erklärt sich aus der Art und Weise, in der überhaupt skaldische Dichtung — mündlich tradierte Dichtung — aufs Pergament kam: entweder als Beispiel für bestimmte Kunstregeln im Skaldenlehrbuch des Snorri Sturluson (1178—1241) oder als Zitat in der Prosa erzählender und historischer Werke. Erst um 1200 begann man damit, Gedichte der religiösen Skaldik um ihrer selbst willen aufzuschreiben. Der Zusammenhang, in dem die folgenden Bruchstücke einst standen, ist oft nicht einmal zu erraten geschweige denn genauer zu bestimmen. Die vom Übersetzer beigegebenen Überschriften beziehen sich nur auf die erhaltenen Verse. Zum Verständnis einzelner Stücke mögen noch ein paar Bemerkungen dienlich sein. Thrands ,Credo' ist ein Zeugnis für die verworrene Religiosität in den Tagen der Bekehrung. In der Färöer-Saga wird Thrand zur Rede gestellt, weil er einen Knaben dieses nicht eben kanonische Credo gelehrt hat. Seine Antwort: Krist habe zwölf oder mehr Jünger gehabt, und „jeder von ihnen hatte sein eigenes Credo. Jetzt habe ich mein Credo, wie du das, was du lerntest, und es gibt viele verschiedene Glaubensbekenntnisse. Sie brauchen nicht alle gleich zu lauten, um richtig zu sein." Die Übersetzung stammt aus Thule 13, 343. Die Strophe des Thorvald sei hier in der Übersetzung von F. Niedner (Thule 23, 164) zitiert. Sie ist silben- und stabreimgerecht abgefaßt und gibt eine Vorstellung vom Aussehen einer — wenn auch besonders schlichten — Skaldenstrophe. 11

,Weltende und neue Erde' ist der Schluß des berühmtesten EddaGedichtes: Völuspa, ,Der Seherin Gesicht', und zwar in der meisterhaften Übertragung F. Genzmers, Thule 2, 42—44. Das Werk wird ziemlich allgemein um 1000 datiert. In der großen Vision von der neuen Friedenswelt mischen sich wahrscheinlich spätheidnisch-nordische Erwartungen mit irischen Vorstellungen von den Gefilden der Seligen und mit Bildern vom neuen Jerusalem aus der Apokalypse. Dieses (zwar nicht skaldische) Stück durfte nicht fehlen. Das Bruchstück des Gedichts von Thorarin Lobzunge zitierte Snorri in seiner norwegischen Königsgeschichte. König Olaf hatte 1030 bei Stiklastad Schlacht und Leben verloren. Ein Jahr später war er bereits der unbestrittene Heilige und Rex perpetuus Norwegiae. Thorarin richtet 1031/32 dieses Gedicht an den dänischen Statthalter in Norwegen. Die (nur an einer Stelle korrigierte) Übersetzung stammt von F. Niedner, Thule 15, 388, 394—396. DAS Ä L T E S T E C H R I S T L I C H E G E B E T

Gutes stets den Aken, Gutes stets den Jungen. G E B E T AUF SEE

Den Prüfer der Mönche, den sündenlosen, bitte ich, meine Fahrt zu beschützen. Der Herr der Himmel halte seine Hand über mich. DAS 'CREDO' DES THRAND VON DEN FÄRÖERN Allein nicht geh ich, vier mir folgen, fünf Engel Gottes. Für mich bet' ich Gebete, bete vor Christo. Sieben Psalmen sing ich: Gott mag für mich sorgen. Thorbjörn Disarskald AUF E I N E T A U F E

Der Seekrieger war im Brunnen der Taufe; des Weißen Krists höchste Gnadengabe empfing der Goldverwüster. 12

Eilif G o d r u n a r s o n AUF DEN KRIST Der gewaltige Rom-König hat sich erhoben über die Sitze der Riesen; man sagt, er sitze am Brunnen der Urd. T h o r v a l d K o d r a n s s o n , der W e i t g e r e i s t e KLAGE EINES GLAUBENSBOTEN Christenlehr' ich, kostbar', Kundtat. Wer verstund mich? Stets Blutzweigs Bespritzer Spöttelt drob, Diener der Götter. Hell überm Heidenaltar Hin schreit, schier von Sinnen — O daß der Ew'ge sie töte — Alt' Weib wider den Skalden. Skapti Thoroddsson DIE WERKE DES KRIST Groß ist des Mönchherrn Macht; er schafft alles. Der gewaltige Krist errichtete die Halle Roms und schuf die ganze Welt. Amor Jarlaskald VOM GERICHT Michael wägt — klugen Rats — alles, was da übel erscheint und alles Gute; der Herrscher im Sonnenreich teilt darauf die Menschen vom Richterstuhle aus. WELTENDE UND NEUE ERDE (,Der Seherin Gesicht', Schluß) Die Sonne verlischt, das Land sinkt ins Meer; vom Himmel stürzen die heitern Sterne. Lohe umtost den Lebensnährer; hohe Hitze steigt himmelan. Gellend heult Garm vor Gnipahellir; es reißt die Fessel, es rennt der Wolf. 13

Vieles weiß ich, Fernes schau ich: der Rater Schicksal, der Schlachtgötter Sturz. Seh aufsteigen zum andern Male Land aus Fluten, frisch ergrünend: Fälle schäumen; es schwebt der Aar, der auf dem Felsen Fische weidet. Auf und und und

dem Idafeld die Äsen sich finden reden dort vom riesigen Wurm denken da der großen Dinge alter Runen des Raterfürsten.

Wieder werden die wundersamen goldnen Tafeln im Gras sich finden, die vor Urtagen ihr eigen waren. Unbesät werden Äcker tragen; Böses wird besser: Balder kehrt heim; Hödur und Balder hausen in Walhall froh, die Walgötter — wißt ihr noch mehr? Den Loszweig heben wird Hönir dann; es birgt beider Brüder Söhne das weite Windheim — wißt ihr noch mehr? Einen Saal seh ich, sonnenglänzend, mit Gold gedeckt, zu Gimle stehn: wohnen werden dort wackre Scharen, der Freuden walten in fernste Zeiten. Dann kommt der Hehre zum hohen Gericht, stark, von oben, der alles beherrscht. Der düstre Drache tief drunten fliegt, die schillernde Schlange, aus Schluchtendunkel. Er fliegt übers Feld; im Fittich trägt Nidhögg die Toten: nun versinkt er. Thorarin Lobzunge O L A F S GRAB

Das ist klar, wie die Dänen fuhren treue Fahrt mit tapfrem Herrn. Der Jarl war da der erste. 14

Ihm folgten dann viele Mannen, einer besser als der andre. Königs Sitz sich errichtet in Drontheim der Dänensprosse. Immer will er ja haben sein Reich dort, der Ringe Brecher, wo Olaf eh'dem lebte, bis er sich hub zum Himmelsreiche, und ihm ward, wie alle wissen, heilig Grab, dem Himmelskönig. Es hatte sich herrlich erworben Haralds Sohn des Himmels Reich da. Eh' Goldes Geber wurde Mittler zwischen Menschen und Gotte. Heilig liegt mit heilem Leib lobreich er, Landes Herrscher; wachsen da wie im Leben H a a r ' dem hoh'n Herrn und Nägel. Da so hell halPn die Glocken ganz von selbst ob seinem Schrein; ihren Klang kann man hören alle Tag' überm König. Am Altar auf da flammen für Christus Kerzen ständig. So Olaf ohne Sünde selig ward vor seinem Tode. Hin da knie'n die Heerscharen vorm Heilgen zum Heil sich selber. Beten an Blind' und Stumme Volkes Herrn — ziehn heil von dannen. Bitte Olaf, all sein Land er, Gottes Freund, gönne, Svend, dir. Gut Jahr gibt Gott und Frieden, wenn er fleht, allen Menschen; sagst du her vor dem Horte Heil'ger Schrift deine Bitten . . . 15

B R U C H S T Ü C K E AUS D E M 12. J A H R H U N D E R T Erst seit der Mitte des 12. Jahrhunderts bietet die Überlieferung größere Bruchstücke und ganze, wohlerhaltene Dichtungen christlichen Geistes. Der Grund ist klar: von jetzt an pflegen Klöster und Geistliche diese Dichtung. Doch darf man nicht zu scharf trennen: Geistliche dichten auch weltlich, Weltkinder dichten auch auf geistliche Themen. Markus Skeggjason war Islands Gesetzsprecher, ein hochberühmter Mann. Er starb 1107. Das kleine Bruchstück könnte einem Gedicht auf den Krist entstammen. Nikulas war Abt eines 1155 gestifteten Benediktinerklosters. Das kleine alttestamentliche Stück ist wichtig, weil hier zum ersten Male in der nordischen Dichtung die dem ganzen Mittelalter geläufige Deutungsweise erprobt wird: Szenen des Alten Testamentes als Präfigurationen zu Geschehnissen im Neuen Testament zu verstehen. Von Bruder Gamli (,dem Alten') ist der Name nicht bekannt. Er war Augustinerbruder in einem 1168 gestifteten Kloster. Von Eilif ist nichts als der Name bekannt. Selbst der Beiname ist nicht recht zu deuten. Die Gelegenheitsstrophe des Runolf steht hier in der Nachdichtung F. Niedners, Thule 23, 210. Kolbein Tumason, ein weltlicher Großer aus dem Norden Islands, pflegte gleichwohl die geistliche Dichtung. Nach glaubwürdigem Zeugnis soll er wiederholt auf die heilige Jungfrau gedichtet haben. Davon ist leider nichts erhalten. Sein Gebet — Kolbein starb 1208 — bringt einen sehr innigen Ton in die christliche Dichtung des Nordens.

Markus Skeggjason SCHÖPFUNG UND WELTREGIMENT

Der Herr des Sturmhauses (des Himmels) schuf die Erde und die Himmel und das wackere Menschenvolk. Krist, der einzige König, vermag alles zu regieren. 16

N i k u l a s , der A b t 4 . MOSE 13,24

Zwei Seekrieger — so weiß ich — trugen eine Traube zwischen sich auf einer Stange. — Lang währt die Zeit im verheißenen Land! — Beide, Juden und Christen, schlugen die Traube ans Kreuz. Uns aber rettet der Glaube. So hat Gott die Frucht vergolten. N i k u l a s , der A b t AUS E I N E M P R E I S L I E D AUF J O H A N N E S E V A N G E L I S T A

Es verlieh Dir als dem Einzigen unter den Menschen, Dir und der herrlichen Magd, der reine heilige Krist den höchsten Glanz. Der habichtkühne König der Welt und der Menschen, der erbarmungsvolle, wählte Dich Berühmten zum Wächter seiner Kirche. Ihm, dem reinen Beschützer des Glaubens, dem die Gnade ward, beim Krist zu weilen, gönnte Gott den Blick in den Himmel. Johannes, sei uns gnädig! Du hörtest des ewigen Vaters Worte und durftest die ganze Allmacht schauen. Er selbst, der tapfere Fürst, der Waltende des Sonnensaales, liebte Dich am meisten unter allen Aposteln. Hoch ist die Ehre, die Dir der Fürst der Sternenbahnen verlieh. Johannes, Du bist der reinste der Menschen unter der Burg des Himmels! Bruder Gamli AUS E I N E M P R E I S L I E D A U F J O H A N N E S E V A N G E L I S T A

Das hörte ich: daß Du, Tatenberühmter, Stärker der Menschheit, Erhöhung erfuhrest vom Vernichter der Falschheit. Dir gebrach nicht der Segen des Krist! Der gepriesene Fürst des Sonnenzeltes gönnte dem Schatzspender (Johannes) und Maria ein rühmlicheres Leben, als es andere erringen in dieser Welt. Rasch kam es zum Ende, rascher als der böse König dachte: denn der Waltende des Wetterschreins, Gott im Himmel, gab eilig seinem Genossen Trost. Der prächtige Apostel durfte blicken in des Friedensfürsten große Herrlichkeit, von der die meisten nur dürftige Kunde haben. 17

Der Verwandte des Menschenkönigs, Johannes, nat nun alles, was er den Schenker der Seligkeit bat; sündenlos lebt er in ewiger Freude bei dem Herrn des Sonnenlandes. Der Herr gab dem Fürbitter der Menschen ein herrlicheres Teil, als die Menschen ahnen. Johannes empfing alle Herrlichkeit vom Fürsten der Engel. (Gebet des Dichters): Heiliger Menschheitsvater, laß mich fern sein jeder Sünde, die das Menschenvolk verdirbt; laß die Seelenwunden heilen! Niemals will ich von Dir mich scheiden, Du Bewahrer der Helden! Sorge hab ich ums Heil der Seele, wenn ich ins andere Leben gehe. Eilif Kugelbursche FRAGMENTE EINES KRIST-GEDICHTES

Die himmlische Heerschar und das Menschenvolk beugen sich vor dem heiligen Kreuz. Der König der Sonne ist allein strahlender als alle andere Herrlichkeit. Die reine Heerschar der Himmel beugt sich vorm Sohn der Maria. Der König der Scharen regiert mit der Macht der Herrlichkeit. Er ist Mensch und Gott. Die kostbare Stärke des Gottesfreundes ist besser, als die Menschen ermessen können. Und doch ist der tatkräftige Engelkönig heiliger und herrlicher als alles andere. Des Himmels Herrlichkeit preist den Fürsten der Männer, er ist der König über alles! Anonymus LUCAS 7,37 ff. (?)

Des Weibes gewaltiger Sturzregen der Wimpern rauschte nieder auf die Beine des himmlischen Heerschar-Versammlers. Des Weibes Wangenschauer brauste nieder auf die berühmten Füße des Herrn des sturmreichen Himmels. Sie, die klügste der Frauen, wusch mit dem Wetterguß der Brauen die Füße jenes, der der Menschen Jammer bannt. 18

Runolf Ketilsson ZUR KIRCHWEIHE IN SKALAHOLT Hehr ist die Hall', die wirken Hieß dem gnäd'gen Christus Bistums Wahrer: die Wurzel Wohl anstaunt man des Planes. Gar schön Gottes Stätte — Glück, hehr! — fügt ,der Bär' da. Bau des Björn und Arni Bleibt stets nun Sankt Peter!

Kolbein Tumason AUS EINEM PREISLIED AUF JOHANNES EVANGELISTA Glücklich treffender Sündenvernichter, Du allein wärest reiner als alle Apostel in der Gefolgschaft des heiligen Krist. Der milde Friedensschenker liebte keinen Menschen so sehr wie Dich und seine Mutter. Das ist des Gedenkens wert. Du weiser Trugvernichter, Du allein gingest nicht wie die übrigen Apostel fort von der Marter des Sonnenfürsten; denn Du standest als tapferer Mann in dem harten Kampf bei der Qual des Herrn, Du und die sanfte weinende Mutter des Sturmhimmelfürsten. Der Himmelskönig selbst, gefesselt in Qual, berief Dich, den freigebigen Mann, zum Sohn der seligen Maria. Der mächtige Herr der Menschheit befahl sie, ehe er starb, in Deine Hände, Du Gebefreudiger. Kluger Häuptling, Du sorgtest seitdem treulich für die reine Königin, solange sie lebte; und sie war Dir an Mutters Statt, wie es der Sturmhimmel-Fürst geordnet hatte. Alles Volk preist Euch zwei. Hoch ist der Ruhm, den der Erfreuer der himmlischen Heerscharen Dir schenkt auf vielerlei Weise, Du Schatzverteiler. Du großer Schenkender bist in aller Hinsicht zu mächtig, als daß Menschen mit Worten ausdeuten könnten Deine Herrlichkeit. 19

Kolbein Tumason GEBET DES SKALDEN IN DER STERBESTUNDE Höre Du, Schöpfer der Himmel, was der Skalde Dich bittet: möge gütig zu mir Dein Erbarmen kommen. Höre mein Gebet: Du hast mich erschaffen, ich bin Dein Knecht, Du bist mein Herr. Gott, ich rufe Dich an, auf daß Du mich segnest! Herr, gedenke meiner, nötig habe ich Dich! Fürstlicher, mächtiger Herr der Sonne, reiß aus der Brust des Mannes den Gram. Schütze mich, o Herr, nötig habe ich Dich, jetzt und zu jeder Stund auf dem Erdenrund! Gib mir, Sohn der Magd, schöne Gedanken zum Lied — ist doch alle Hilfe von Dir — in mein Herz. Einar Skulason PREISLIED AUF DEN HEILIGEN OLAF Auf keinen Mann des alten Nordens ist mehr gedichtet worden als auf Olaf Haraldsson, den ebenso großen wie unglücklichen König Norwegens (1015—1030) und nachmaligen Heiligen. Den Preis des zu Gott erhobenen Fürsten hatte Thorarin Lobzunge bald nach dessen Tod als erster gesungen. Der größte Dichter des 12. Jahrhunderts, der isländische Geistliche Einar Skulason, sollte 1153 das festlichste Preislied auf den Rex perpetuus Norwegiae verfassen. Vor den versammelten Königen und dem Erzbischof trug er sein Werk in der Kirche vor. Thema des Gedichts ist Olaf: ewiger König Norwegens und Wundertäter. Eindrucksvoll hebt die — Stef genannte — zehnmal wiederkehrende Halbstrophe den Sinn der Dichtung hervor: „Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne." l . D i e Dreieinigkeit des einen Gottes lehre mich Gesang und Gebete. Wohlberaten ist, wer die Gnadengaben des kühnen Allwalters empfängt. Der kampfgewaltige Strahl der Gnadensonne (Olaf) schenkt ein prächtiges Licht — dem herrlichen Olaf bringe ich ein vortreffliches Gedicht dar —; 20

2. ihm, dem Strahl aus jener Gnadensonne, die die Finsternis der Welt zerbrach und Licht der Welt genannt wird, Fürst des Wetterzeltes. Diese strahlende Sonne ließ sich gebären als Mensch von dem strahlenden Meerstern. Gerühmtes Glück erwuchs daraus unter dem Wolkenhaus (auf Erden). 3. Das Licht der Glaubenssonne ging dahin. Da ward den Menschen verkündet ein besseres Licht in einer neuen Sonne größeren Gefilden (im Himmel). Uns wurde es zum Heil, als er freien Entschlusses das Leben der Erdenkinder aufnahm im Kreuzestod. 4. Der Gerechtigkeit Sonne, den Engeln kund, erhob sich am dritten Tage. Der sorgende Krist waltet mit höchster Kraft. Ich weiß, daß eine große Schar Frommer aufstand mit ihm vom Grabe. Ohne Zweifel kann das unsre Hoffnung stärken. 5. Des Allwaltenden milder Sohn, der Fürsten bester, stieg mit Freude von dieser Erde auf zur höchsten Halle. Sonnenheims gerühmter König sitzt über den Engeln auf dem Thron der Herrlichkeit. Die Heerschar des Königs der Könige neigt sich vor ihm. 6. Der tatenfrohe Herr der Herrlichkeit schenkte den Menschen Gaben des mächtigen Geistes; herrliche Zeugen treten dafür ein. Daraus entstand die Christenheit, die dem einen Gotte huldigt. Der höchste König entbietet die Menschen zu sich in den Himmel. 7. N u n laßt uns alle verehren den herrlichen, gewaltigen Strahl aus der Halle Gottes, der da der edle Olaf heißt. Das Volk weiß es: er leuchtet weithin durch seine Wahrzeichen unter dem sturmdurchbrausten Himmel. Man versteht meine Rede. 8. König Eystein, hör die schöne Kunde von den Wundern! Kampfstarker Sigurd, merk auf, wie ich mein Gedicht herrichte! Der Skalde spricht sein Preislied vor Ingi! Ich bitte den mächtigen Ahnherrn Eures Geschlechts (Olaf), mein Lied zu unterstützen; das ist von Gewicht. 9. Ich bitte das Haupt der Gelehrten — so nenne ich Bischof Jon —, mein Gedicht anzuhören. Der Lobpreis wird gesprochen. 21

Ich beginne die schöne Rühmung: preisen will ich den Freund des Sonnenfürsten. Erzstuhls Ehre wächst, wo der heilige König ruht. 10. Auch ziemt mir, das tüchtige Volk aufzurufen, meinem Gedicht zu lauschen, dem Preis des edelgesinnten Olaf. Ich bitte Gott um die nötigen Worte. Niemals fand ich eine solche Auswahl hervorragender Männer unter einem Dach. Aller Helden Erfahrung bezeugt das. 11. Die Männer von Drontheim und der ganze Norden sollen das Gedicht auf den mutigen Kriegerfürsten hören. Er lebt in der höchsten Halle des Krist. Die Herrlichkeit des unverzagten Volkskönigs ist berühmt. Nie wieder wird in diesem Reich ein solcher König geboren werden. 12. Das hörte ich: der Dichter Sigvat sprach von den Taten des kampffrohen Königs. Auch weiß man, daß Ottar auf den König dichtete. Sie, die das Volk die Hauptskalden nannte, sangen des irdischen Königs Ruhm — das ist getan —; ich aber rühme den heiligen König. 13. Der mutige Mann der Walstatt vollbrachte viele Taten, die nur Gott weiß. Wahr ists, der Fürst büßte für seine Schuld. Drontheims tapferer König verbarg seine hohe Gutheit vor den Menschen. Selten ward ein herrlicherer König geboren. 14. Der ruhmfrohe König, der auf Gott vertraute, regierte das Land fünfzehn Jahre — nie wird das Volk einen besseren erhalten —, bis der hochgemute Volkwalter fiel im Schildgetöse bei ölvishaug. Er möge uns fort vom Bösen führen! 15. Das habe ich als wahr erfahren: ehe er zum Kampf schritt, erzählte der König von Raumariki seiner tapferen Schar — und dem Volk kam des Fürsten Kraft zugute — seinen Traum: Hordlands König, rasch im Kampf, sah eine herrliche Leiter von der Erde bis zum Himmel reichen. Es ziemt sich, seine Macht zu rühmen. 16. Und der Schätze verstreuende Fürst glaubte unbeschwert hinaufzusteigen in die Höhe. Der gnadenreiche Umfasser der ganzen Welt, der das Volk beschirmt, ließ den Himmel offen sein vor dem ratkühnen König. 22

17. Dann kam — so erfuhr ich — die Schlacht bei Stiklastad. Der weithin herrschende Rotfärber der Pfeile ließ die Feinde bluten. Weiter hörte ich: dem tapferen Schwertschwinger ward das gebrechliche Leben dieser Welt genommen. Rasche Helden fällten den König — sie versündigten sich. 18. Jetzt will ich, falls ichs vermag, wiederkehrende Verse dichten, denn der Fürst besaß die meisten menschlichen Tugenden. Man höre die Rühmung: Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne. 19. Die strahlende Sonne wollte nicht scheinen, als der Held sein Leben endete. Der Herr im Himmel gab seine Zeichen, so wie einst, als der Sonne glückbringender Schein verlosch beim Tode des Himmelsherren. — Mein Werk gelingt. 20. Große Zeichen geschahen sogleich, wo der Held sich geschlagen hatte mit den Feinden. Der Fürst war fern der Sünde. Nachher leuchtete ein Licht über seiner Leiche, denn Gott ehrte am gleichen Tage des Seekriegers Seele bei sich. 21. Der herrliche Erhalter des Alls verbreitet den Ruhm des Hordaland-Königs. Dahin wendet sich nun mein Gedicht. Ein besserer König wird niemals geboren. Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne. 22. Die Mannen wuschen mit reinem Wasser das teure Blut von der Leiche des mächtigen Königs. Hoffnung auf Vergebung stärkt die Seele. Wahr ists: die Krieger legten den SogningenKönig, den Gott liebte, ins Grab. Von seinen Wahrzeichen ist nun zu reden. 23. Ein Blinder kam bald an die Stelle, wo die Männer des Königs Leichnam gewaschen hatten — weiter berichte ich: der Mann berührte seine Augen mit dem Wasser, das gemischt war mit dem berühmten Blut Olafs. 24. Der Krieger empfing die Sehkraft wieder dank dem reinen Blut des Königs. Das war ein großer Segen! Nie wird dies Zeichen vergessen werden unter den Menschen. 23

Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne. 25. Der ruhmvolle Schatzvergeuder war zwölf Monate und fünf Tage verborgen in der Erde, ehe der teure König der Könige den Sarg des tatenreichen Ernährers der Wölfe aufsteigen ließ aus dem Grunde. 26. Die Sprache erhielt ein Mann zurück, dem die Zunge abgeschnitten worden war. Das Wunder geschah am Grab des herrlichen Königs. Der Ruhm des kampffrohen Agdir-Fürsten wächst durch dieses Wunder; soweit die nordische Zunge klingt, ehrt man des jungen Königs Taten. 27. Die kühnen Männer sollen Magnus' Vater (Olaf), den gebefrohen, um Hilfe bitten. Vieles quält die Menschen hier auf Erden. Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne. 28. Der Schatzvergeuder erschien seinem Sohn im Traum — der Herrscher versprach dem mutigen Fürsten Hilfe —, ehe der Held die Schlacht schlug gegen die heidnischen Scharen auf der Hlyrskogs-Heide. Reichliche Nahrung bekam da der Wolf. 29. Magnus der Gute schuf dem Raben Freude auf der Walstatt. Der Schlachtvertraute rötete den Schnabel des braunen Adlers. Die erschrockenen Feinde suchten das Heil in der Flucht. Leid ergriff die wendischen Weiber. Es biß das scharfe Schwert und Wölfe heulten über den Toten. 30. Das ist verbürgt: daß der kluge Vertraute des Erlösers seinem tüchtigen Sohn den Sieg gab. Ich rühme die Werke des kämpferischen Königs. Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne. 31. Guttorm erprobte an der flachen Küste — und er vermutete recht —, was die Gebete des allklugen Olaf bei Gott vermögen. Der kampffrohe Fürst schmückte den Tag mit Sieg, als die Waffen bissen im Angelsö-Sund. 24

32. Gewiß: es hatte der kampfbegierige Schatzverwüster dreifach weniger Mannschaft im Gefecht; das Treffen war hart. Trotz allem gewann er den Sieg, großes Glück erwuchs daraus. Sein Mutterbruder half ihm gut. 33. Oft hat der freigebige König Menschen erlöst aus schweren Nöten. Ich rühme den Gefährten des Krist. Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne. 34. Wahr ists: Guttorm ließ die Männer ein Kreuz des Herrn, der den Kriegern hold ist, anfertigen, geschmückt mit Silber und Gold. Das ist berühmt. Das gilt den Menschen als Denkmal für die Wundertaten. Es steht in der Krist-Kirche, geschenkt vom Nachfahren des Königs. 35. Männer, die in Schonen waren, haben uns dies erzählt: daß ein Weib dort im Süden Brot backen wollte am Messetag des allgütigen Olaf; aber als es dann nach dem backheißen Brot schauen wollte, da war der Teig zu grauem Stein geworden. 36. Seitdem hat man das Fest des ratkühnen Königs feierlich begangen im ganzen Dänemark. Das wird für wahr berichtet aus dem Süden. Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne. 37. Eine vornehme Frau ließ einem armen Kerl — wegen eines geringen Vergehens des jungen Mannes — die Zunge ausschneiden. Wenige Wochen später sah ich den Wackeren, der Sprache beraubt — da ist kein Zweifel —, als ich in Hlid war. 38. Das erfuhr ich: dieser Mann suchte nun den Sorgenbezwinger auf, ihn, der den Elenden helfen kann. Hier wurden ihm wieder Zunge und Sprache. Aber ich will fortfahren in meinem Preislied auf den freigebigen Schatzverteiler. 39. Die Herrlichkeit des mächtigen Königs ist weitberühmt durch solche Taten. Der Ruhm des Hordaland-Königs schwebt über die ganze bewohnte Erde. 25

Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne. 40. Ich weiß, daß die Wenden einen hochgemuten Krieger schrecklich verstümmelten auf hoher See — davon rede ich jetzt —; die Heiden schnitten grausam die Zunge aus dem Hals des Helden. 41. Der Seekrieger suchte nun den goldgeschmückten Schrein Olafs auf — sorgfältig setze ich die Worte —, und der heilige König gab ihm die Sprache wieder, ihm, der auf dem Schlachtfeld den Raben erfreute. Davon habe ich sichere Kunde. 42. Der Weltenrichter gibt dem heiligen König hohe Ehre. Der mutige Fürst stärkt nun die himmlische Heerschar. Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne. 43. Hneitir — so weiß ich — hieß des Königs Schwert, das dem gelbklauigen Adler Atzung schuf auf dem Schlachtfeld. Mit dieser Klinge zerhieb der König von Raumariki edle Schilde bei Stiklastad. Sausende Schwerter bissen. 44. Ein Schwede nahm das Schwert des Drontheim-Königs, da der Tapfere zur Erde sank und die Schlacht zuende war. Dieses Schwert des hohen, kampffrohen Fürsten, geschmückt mit Gold, ward später gesehen im Heer der Griechen. 45. Nun schmückt große Herrlichkeit den Fürsten der Männer, der für die Seinen mit Schätzen nicht sparte. — Eindridi der Junge gab diesen Abschnitt. Leicht kann Gottes Ritter sänftigen den Schmerz der Menschen; was er nur wünscht, erhält der tapfere Olaf vom König der Sonne. 46. Schwer ist es für mich, den starken Fürsten zu besingen, aber gestärkt werden soll der Ruhm des kampfmutigen Königs, des freigebigen. Denn die Wahrzeichen dessen, der die Menschen heilt und der der Freund ist des Herrn des Sonnenhauses, sind ungezählt. Leuchtend klar ist die Erfahrung mit dem Fürsten. 47. Schlachtlärm-Erprober gürtete sich heiter spät am Abend mit dem Schwert; der herrliche, kampferprobte Mann des Kaisers 26

sank in Schlaf — der Tag war zuende — auf der Erde unter dem nackten Himmel. 48. Da vermißte, als es dämmerte — der Morgen war da — der mutige Mann sein starkes, herrlich geschmücktes Schwert. Der Krieger sah seine treffliche Klinge fern von sich liegen auf der Erde. 49. Drei Nächte nacheinander gab Haralds gnadenreicher, mächtiger Bruder dem Krieger solche Zeichen, ehe die Männer dem kraftvollen Kaiser diese Wunder vermeldeten. Strahlend sind die Taten des kühnen Fürsten. 50. Das erfuhr ich: der Kaiser bezahlte Gold für das Schwert, das Olaf besaß. — Ich bereite mein Gedicht mit Kunst. — Dann ließ der Kaiser die treffliche Klinge aufstellen über dem goldglänzenden Altar. 51. Der segensreiche Sohn Haralds gab leuchtende Zeichen. Die Kämpfe in Griechenland haben es offenbart. Das Volk weiß davon zu sagen. Olafs Ruhm reicht überall hin unter dem Himmelszelt. Nie werden die Menschen einen tüchtigeren König finden. 52. Die Schlacht raste auf der weiten Peizingamark — der Rabe stillte seinen Hunger im Speergetöse —; zu Tausenden fiel das Volk vorm Schwerte. Die Griechen flohen. Noch immer wuchs das helmvernichtende Wetter der Brünnen. 53. Miklagard und die Lande des kummervollen Fürsten drohten in die Hand des Feindes zu fallen — sein Heer versagte —, wenn nicht eine Handvoll Wikinger ihre Schilde ins Schwertgetöse getragen hätten. Die Waffen blinkten im Schildsturm. 54. Die tapferen Männer riefen voll Vertrauen laut den herrlichen Olaf an, da das Schwertgetöse sie bedrängte — weiter raste die Schlacht —; sechzig Krieger standen gegen einen im Wetter der Pfeile. Schilde barsten, rot von Blut. 55. Das Heer der Heiden war vor den Helmträgern, als schritten sie gegen Rauchwolken. Gewaltig war der Kampf. Die kleine Schar Wikinger, die es wagte, den Raben zu atzen, gewann gewaltigen Ruhm. 27

56. Siegfroh zerstörten die Männer die Wagenburg, wo die Wölfe Niedergehauene fanden. Der herrliche König half den Kriegern. Kein Dichter vermag des tatkräftigen Fürsten, den der Erdkreis verehrt, Werke alle zu melden. 57. N u n muß ich dem Volk in einem neuen Abschnitt die Taten schildern, die der König zuletzt vollbrachte. Die sind wahrhaftig nicht gering. Wir sollen die Kraft des starken Gottes preisen, denn der Heiler der Welt schenkte dem kampferprobten König hohe Gnade. 58. Ein Priester des Herrn dieser sündenvollen Welt geriet in den kalten H a ß der Männer. Schwankender Sinn wird böse durch Irrtum. Lügen haben freundliche Gesinnung guter Männer in H a ß gewandelt. Des Zornes streitbare Kraft bricht den Frieden. 59. Die Krieger brachen des Mannes Gebeine an der Küste — tief hatte sich der tödliche H a ß in ihnen festgesetzt —, und schändeten das Gebot, das Barmherzigkeit befiehlt; sie stachen dem Geistlichen die Augensterne aus dem Haupte. Das war eine schlimme Tat. 60. Lobpreises Zunge wurde mit einer Zange gerissen und dreimal mit einem Messer zerschnitten. Böse war es um den Mann bestellt. Er blieb auf dem Strande liegen, schändlich zugerichtet. Mancher läßt sein Leben unter geringeren Schmerzen. 61. Gepriesen sei der König, der den prächtigen Mann genesen ließ von gebrochenen Beinen, zerschnittener Zunge und ausgestochenen Augen. Die Hände des heiligen Olaf heilten den Gottesknecht von all seinen Schäden. Übel aber wird vergolten denen, die da lügen. 62. Der tüchtige Zeuge der Herrlichkeit erbittet bei Gott alle erdenkliche Gnade, mehr als irgendwer ersinnen kann — das sage ich ohne Bedenken —, weil der Freund des Erlösers nach seinem Tode solche Werke auf Erden vollbrachte. Der König trennte sich von den Sünden. 63. Jung ward der König genommen von dieser sorgenvollen Welt. So prüft Gott die meisten seiner Freunde. N u n lebt der tapfere Helfer der Menschen dort, wo die Freude über den höchsten Friedensglanz des Himmelskönigs niemals endet. 28

64. Wer ist so klug, daß seine Zunge aufzählen könnte die Gaben des Himmelskönigs in diesem Leben, alle, die der getreue Herr Himmels und der Erde seinem lieben Freunde gab? Geborgen ist die Leiche des Königs in einem geschmückten Schrein. 65. Ich weiß: die Obersten der Welt in Rom brachten uns den Erzbischofssitz. Der kühne Herr der Sonne hilft den Menschen. Hier ist ein heiliges Stück vom Marterkreuz des Himmelsschöpfers. Oberkönig der Welt, rette uns, wir bitten Dich! 66. Der mutigen Menschheit kommt die Güte des starken Olaf zustatten. Des Helden Herrlichkeit habe ich klar geschildert. Das Volk beuge sich ehrfürchtig vor dem Gefährten des Himmelskönigs. Glücklich ist jeder, der Olaf zum Freund gewinnt. 67. N u r wenig habe ich berichtet aus der Fülle der Wunder des friedliebenden Olaf. Schlichte Worte kommen von meinem Dichterstuhl. Jeder, der den Ruhm des Helden verbreitet — und dieser verherrlicht Gott—, soll empfangen die Liebe des höchsten Fürsten im glanzüberstrahlten Sonnenheim. 68. Der berühmte Freund des Erlösers möge die Menschen befreien von bitterer Qual und Not durch den Glauben, überall wo Menschen froh dieses Gedicht, das dem starken König gehört, aufsagen, das da handelt von der Liebe des allmächtigen Krist. 69. Berichtet habe ich die Wundertaten des heiligen, wortgewaltigen Olaf vor seinen Erben. Ich sprach aufrichtig. Gewiß erhalte ich reichen Lohn für das prächtige Gedicht, Gottes Segen, wenn dem seligen Schlachthelden mein Preislied gefällt. 70. Dieses Lied würde nun prächtig belohnt werden mit glänzendem Gold, — ich erinnere mich der großartigen Gebefreude des Fürsten —, wenn der kampffrohe Held, Sigurd der Ältere, noch lebte. Ich rühme den König, der dem Golde so feind war. 71. Mächtiger König, ich habe Deine Bitte erfüllt. Ohne Zagen habe ich dem König ein Gedicht verfaßt, so gut ichs verstand. Sage, trefflicher Eystein, wie ich das herrliche Preislied beendet habe! Gebt Gott im Sternenzelt die Ehre! Ich schweige.

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Bruder Gamli DIE SORGENSONNE Der unbekannte Augustinermönch — Gamli ist sein Beiname und bedeutet „der Alte" — ist uns schon begegnet als Verfasser eines Preisliedes auf den Evangelisten Johannes. Während dort nur vier Strophen erhalten blieben, ist die ,Sorgensonne' — gemeint ist Christus — ganz überliefert. Gamlis Dichtungen dürften wenige Jahrzehnte nach Einars Preislied auf den heiligen Olaf entstanden sein. Wie verschieden sind Gegenstand, Wortschatz und Gesinnung! Gamlis Gott ist endlich — obzwar noch im Prunk der älteren Dichter gepriesen — der zum Menschen Herabgeneigte, der Erbarmende. Angst und Hoffnung sind die Leitwörter dieser Dichtung, aber die Angst ist eine .erlösende Angst' (Paasche), die aufgehoben wird in der Hoffnung auf die Barmherzigkeit des nahe herbeigekommenen Gottes. Das Gedicht ist, den Gesetzen des Preisliedes gehorsam, kunstvoll gegliedert in Einleitung (20 Strophen), Hauptteil (25 Strophen), Schluß (20 Strophen). Der Mittelteil ist mit zwei verschiedenen, wiederkehrenden Halbstrophen geschmückt (20, 25, 30 und dann 35, 40, 45). Diese formale Gliederung ist nicht nur äußerer Schmuck und Erweis der poetischen Kunst; ihr entspricht vielmehr der inhaltliche Aufbau dieser großen Sündenklage. Die Einleitung bringt das Gebet um Gottes Beistand zum Werk (1—3) und ein bewegtes Sündenbekenntnis (bis 16). Aber Gottes Gnade im Sohn wird schon sichtbar hinter dem schwarzen Gemälde. — Die erste Hälfte des Hauptteils (21—30) berichtet die Passion und Auferstehung, die zweite (31—45) spricht vom letzten Gericht. — Der Schluß beginnt mit Beispielen göttlicher Gnade und zeigt den darinliegenden Trost. Dann wendet sich Gamli in einem innigen Gebet an Gott, die Gottesmutter und die Heiligen. Das Gedicht ist eine Bußpredigt. Das Hauptthema wird immer wieder variiert: dem rückhaltlosen Sündenbekenntnis — und nur diesem — antwortet die sich eröffnende Gnade. 1. Hoher Fürst des Wetterzeltes, Schöpfer aller Menschen, öffne das Tor der Dichtungsburg (des Dichters Brust) mir zum Segen, 30

auf daß meine wohlgesetzte Rede den Kriegern zur Buße gereiche für ihre Sünden mit Deiner wunderbaren Hilfe. 2. Kein Mensch kann Worte finden, würdig genug zu Deinem Lobpreis, mein Herrgott — das ist erwiesen —, denn Du, leuchtender König der Wetterhalle, bist herrlicher als alles, was Helden sich ersinnen können. 3. Sende Du, der allein die Welt erschuf, mir Deinen reinen Geist, der alles Sinnverstörende verbannen kann. Ganz und gar nichts vermögen die Menschen auszuführen ohne ihn zur Reinigung ihres Erdenwandels. 4. Für mich erbitte ich, höchster Herr des Himmels — denn das ziemt sich —, die Schätze Deiner Barmherzigkeit und Frieden, wohl wissend, daß Du mich, herrlicher Fürst der Wetterhalle, Dich anrufen hörst mit unwürdigen Worten; das macht, weil wir in Mühsal und Sünden sind. 5. Du gebietest, einziger Krist, den Menschen, mit Reue vor den gelehrten Männern (den Geistlichen) ihre Sünden darzutun, und Du verheißest, kühner Wächter des Sturmhimmels, den Menschen wahres Erbarmen und Erlösung von Mühsal und Fehl. 6. Unser Entsetzen wird immer größer — das sollen wir uns oft vor Augen halten —, wenn wir dieses Gebot nicht unser Leben lang halten; denn der Menschen uneingestandene, böse Pläne offenbaren sich vor der ganzen Schöpfung beim letzten Gericht. 7. Als ich jung war, Fürst der Menschen, wähnte ich im Übermut, nach meinem Willen dürfte ich handeln — wenig achtete ich da Deiner —; und auch fernerhin wandte ich Dir den Rücken zu, tatkräftiger herrlicher König, denn böse Gesinnung verdarb mich. 8. Selten habe ich mich in meiner saumseligen Jugend vor Untaten gehütet — ich erntete nicht die frühreife Frucht meiner Werke —, jener Untaten, die sich gegen Dein sanftes Gebot richteten, Du Ehrenvermehrer der Menschheit. 9. Ich handelte oft in Worten wie auch in Taten und Gedanken gegen Dich, starker Sonnenfürst. Dein Knecht, von Liebe entblößt, Du Lebensspender, ist in den ganzen Tod der sündigen Seele gestürzt. 31

10. Dein sündiger Knecht, Herr des Sonnenzeltes, hat lässige Eide abgelegt — das führt die Menschen ab vom rechten Weg; ich redete viel in meiner Geschwätzigkeit, was mir und andern zum Verderben wurde; wisse es, rühmlicher Wächter des Sonnenhauses. 11. Der Ungehörigkeit machte ich mich oft schuldig, wie ich sie bei andern sah, lichter Herr. Wenig spürte ich Angst und Furcht um mich, da ich die andern Menschen fröhlich verurteilte. 12. Mit unreiner Brust und unreinem Mund, o gütiger Herr des reinen Windreichs, genoß ich Deinen Leib und Dein Blut; und doch erwarte ich Deine Hilfe, hilfsbereiter Fürst des Wolkenheims. Viele meiner Taten sind sehr häßlich. 13. In Taten damit damit

hellem Licht ließ ich vor den Menschen ein paar gute sein, doch meine Lässigkeit verbarg ich, so gut ich konnte, ich den Menschenkindern besser erschiene als ich war; und gab ich mich zufrieden, hoher Fürst des Sonnensitzes.

14. Jede Stunde war mir recht, mein Schöpfer, um böse Dinge zu tun, deren ich mich vor den Menschen erdreistete. Weniger fürchtet ich Deinen Zorn als den der Menschen, König des Himmelszeltes, und ich besserte mich nicht. 15. Oft gelobte ich Dir fest, König des Himmels, abzulassen von den sündhaften Werken und mich den guten zuzuwenden; aber immer wieder kehrte ich zurück in die Sünden, Herr der Wunder, denn so treibt es die Menschheit. 16. Es ist unmöglich, alle Missetaten aufzurechnen, die ich begangen habe, wenn ich Dich nicht sehe, mein sündenloser Herr; denn ich, Dein elender Knecht, habe mich in Sünden aller Art verstrickt, Du um Deiner Liebe willen berühmter Fürst der Sonne. 17. Töricht ist jeder, der Dich nicht liebt, Herr der Welt. Die Last der Sünde liegt auf mir. Du ladest die Menschen zum Frieden ein, allmächtiger Gott, aber andere wirken dagegen, daß die Menschheit selig werde. 18. Herrlicher Herr des Himmels, Du ließest Zeichen Deiner Liebe erscheinen vor den Menschen in Deinem Erdenwandel; hoher Gott, Du verbärgest Deine reine Gottheit in unserer 32

Menschengestalt. Der Menschheit Sünden wurden dadurch vernichtet. 19. Du wurdest, kostbarer Herr der Erde, zur Welt geboren unter den Menschen von der gütigen Magd. Das ist eine große Heiligung für die Menschen. Du, herrlicher Himmelskönig, nähmest alle Schwachheit und Bosheit auf Dich. 20. Dem Fürsten Himmels und der Erde, dem Schuldlosen bin ich es schuldig, bereitwillig und so gut ich es vermag, einen Kehrvers zu dichten: Der rasche Weltenherr schuf Erde und Himmel und das Geschlecht der Menschen. Der tatkräftige König des Sturmsitzes ist besser und herrlicher als alles andere. 21. Einst wurdest Du, hoher Fürst des himmlischen Feuers, von Menschen geschlagen und gebunden für unsere schlimmen Sünden; dann ließest Du Dich, herrlicher Erlöser der Menschheit, an das Kreuz schlagen zwischen üblen Männern. 22. Der eine der Räuber sprach also zum Herrn der Menschheit, o herrlicher Gott — denn seine unselige Seele war übermütig und häßlich —: „Zeig uns Deine Kraft, der Du Dich den eingeborenen Sohn Gottes nennst! Steig nieder vom Kreuz mit Deiner herrlichen Macht!" 23. Der andere Bösewicht sprach zu Dir voller Vertrauen, Du Fürst des hohen Himmels, in seinen Qualen: „Gedenke meiner, König der Sonne" — also redete der Mann —, „wenn Du in Dein Reich kommst, denn ich bin verworfen." 24. Dieser Mann empfing von Dir, Schöpfer der Welt, sofort Deine Gnade wie andere, die den Sünden entsagen. Der wahrhaft weise Friedensgeber verhieß dem Mann des Paradieses Seligkeit. Diese Deine Verheißung erfüllte sich. 25. Der wahre Gott gibt dem, der bereut, die höchste Gnade, Vergebung der Sünden und Freude. Der rasche Weltenherr schuf Erde und Himmel und das Geschlecht der Menschen. Der tatkräftige König des Sturmsitzes ist besser und herrlicher als alles andere. 26. Welcher Mensch, wenn er Dich liebt, wollte so hartherzig sein, Du herrlicher Schöpfer der Sturmhimmel-Sonne, daß er 33

ohne Tränen stehen könnte vor Deiner Pein, Du starker Versöhner der Menschheit. 27. Seliger Walter des Sonnenlandes, Du allein nähmest den schmerzlichen Tod auf Dich für alle. Du befreitest, König der Menschheit, die Scharen vom harten Harm, Du schenktest den Menschen das Leben. 28. Sturmzelt-Feuers Friedensfürst erhob sich dann an jenem berühmten dritten Tag aus dem Grabe. Und Du erfülltest, allgütiger Fürst der Wetterhalle, die klugen Menschen mit Freude, jene, die Dein Tod betrübt hatte. 29. Du fuhrest auf von der Erde in die Höhe, König des Himmels, verklärten Leibes. Weise Männer sahen das deutlich. In Ewigkeit — so glauben wir — lenkst Du die ganze Schöpfung, der Du den Himmel umfängst. 30. Die ganze Heerschar der Engel und die Menschen auf Erden preisen gewißlich den Wächter des Himmels mit dem höchsten Ruhm. Der rasche Weltenherr schuf Erde und Himmel und das Geschlecht der Menschen. Der tatkräftige König des Sturmsitzes ist besser und herrlicher als alles andere. 31. Noch einmal wird der gnädige Fürst des Mond-Zeltes hernieder kommen, die Menschheit zum Gericht zu versammeln. Feuer wird rasen, das Meer wird toben. Alle Menschen werden aus den Gräbern kommen mit schrecklicher Angst. 32. Nicht einer der Menschen wird bei diesem Gericht schuldlos sein vor dem edlen Gott; denn selbst die Engel des herrlichen Herrn der Wettergefilde zittern da in Angst und Furcht. Mächtiges Entsetzen wird sich verbreiten. 33. Leicht wird es der sündigen Menschheit nicht sein, dem harten Urteilsspruch des teuren Himmelsherrn zu entgehen; denn unseres gerechten Königs Wunden und das Kreuz mit dem Blut werden vor unserm kummervollen Auge erscheinen, meine Brüder. 34. Ich ahne, daß wir wenig werden ausrichten können mit unserm Wortschwall beim Gericht des ruhmfrohen Prüfers der Taten, falls wir uns nicht wieder unserer Sünden wegen — 34

schlimm sieht es sonst für uns aus — dem König der Menschheit zuwenden. 35. Niemals werden für Krist geziemende Worte gefunden werden. Der von Güte erfüllte Gott ist höher als alles andere. Die starke Schar lobpreist und verehrt den ratkühnen König des Sonnenheims. Der Himmelsfürst ist herrlicher als alle Güter. 36. Der über die Ehre der Menschen waltet, richtet mit seinem Spruch die Scharen; dort werden die Menschen endgültig geschieden in zwei Haufen. Der König des Sonnengewölbes führt alle seine Kinder von der Gerichtsstätte furchtlos zu Freude und Seligkeit. 37. Die Menschen werden da den Wächter des Himmelsglanzes erblicken in der höchsten Gottheit des heiligen Krist. Den Menschen wird alles nach Wunsch ergehen. Uns ziemt es, die Gnadenfülle des Herrn nie aus dem Gedächtnis zu verlieren. Dort oben sind alle ohne Angst. 38. Die Sündenvollen aber, die nicht hören wollten auf die Gebote des Menschenkönigs, derweil sie lebten, haben Qualen zu erwarten. Sie stürzen als Elende in wahrhaft elende Pein. Furcht wird sie dort ewig quälen, und nichts ist, was da tröstet. 39. Die von Bosheit Erfüllten ertragen dort gräßlichen Gestank. Frost und Hitze legt sich über sie. Da sind noch viele andere Schrecknisse für die Ehrelosen und viele Ängste, mehr als unsere Zunge zu sagen vermag. 40. Weit reicht die Macht und das Reich des herrlichen Wächters der Erde über alle Vernunft der Menschen. Wir sollen sein in der Furcht des Herrn. Die starke Schar lobpreist und verehrt den ratkühnen König des Sonnenheims. Der Himmelsfürst ist herrlicher als alle Güter. 41. Ein jeder eile, sich zu versöhnen mit dem Herrn des Donnerhimmels; sonst bleibt ungewiß, was uns erwartet. Oft ist schon eine Stunde zu spät für die Menschen. Wir sind träge beim Ausrotten unserer Sünden. 42. Ein Mann sollte schon jung das tun, was sich dem Alten zu tun geziemt. Die Hand wird träge in der Gewohnheit, aber niemandem bleibt es erlassen, zu büßen für seine Taten. 35

43. Es ist dem Menschen nicht verheißen vom Fürsten des Himmels, lange zu leben. Das erkennen die Sterblichen. Darum ist für Alt und Jung das einzige, was eingesehen werden muß: sich und seinen Wandel zu reinigen mit schönem Glauben. 44. Der taterprobte Fürst der Sonne hält die Todesstunde absichtlich verborgen vor den Menschen, denn der Himmelsumf asser will, daß die Sterblichen stets vorbereitet sind auf den Tod. 45. Nirgends finden die klugen Menschen Hilfe, die nie versagt, außer bei dem König der Himmelsburg, der sein Versprechen hält. Die starke Schar lobpreist und verehrt den ratkühnen König des Sonnenheims. Der Himmelsfürst ist herrlicher als alle Güter. 46. Weiter will ich in meinem Gedicht vor den klugen Menschen sprechen von unserem gefährlichen Wandel, der uns täglich erschrecken sollte. Der Schluß soll dann dem Volk Beispiele der Gnade zeigen, die mich trösten. Doch will ich niemals ohne Furcht sein. 47. Oft sehe ich, wie sehr ungleich ich den lieben Freunden unseres Herrn bin; schwerer Kummer erwächst mir daraus. Denn diese Männer hielten sich tapfer, stark in Schrecknissen, fern vom Bösen oder büßten willig ihre Taten. 48. Die wackeren Scharen haben gehört, daß König David, der tatenschnelle, nach Sünden rasch seinen Wandel besserte. Der edle Fürst liebte eines andern Weib — das ist verdammt — und sann eilig auf das Ende des Mannes. 49. Der Held, bis dahin glückgesegnet, bat nach seiner bösen Tat rasch den Fürsten des Himmelreiches um Gnade, wie es sich geziemt. Der treffliche Landesherr empfing vom König des Sonnensitzes nun noch herrlichere Freundesgaben als zuvor; so ward er gerettet. 50. Ein hervorragender Apostel verleugnete einst aus Furcht vor den Worten einer Magd den Lenker der Sonne; aber sobald dieser Verherrlicher der Menschheit Reue empfand, wusch er — der sündenlose Petrus — seine Verfehlung ab mit Tränen. 51. Der Herr der Menschheit ließ deshalb seinen Apostel so die Schwäche spüren — die Erfahrung lehrt es —, auf daß der herr36

liehe Held später um so eher Barmherzigkeit habe mit den Menschen, wenn sie in Sünden fielen. 52. Maria ward das Erbarmen des herrlichen Sonnenfürsten zuteil, da die Treffliche die Füße des Menschenprüfers mit ihren Tränen wusch. Der kluge Wächter der Menschheit vergab ihr alsobald alle ihre Sünden, da sie auf Gott vertraute. 53. Diese Deine Wunderzeichen, mein Gott, helfen mir zu der starken Hoffnung — wenngleich unser Erdenwandel sündhaft bleibt—, daß der Himmelskönig mich niemals untergehen lassen wird, wenn ich meine Sünden bereue. 54. Deine Seele verwundete ich durch meine todeswürdigen Sünden, Du Versöhner der Menschheit. Mit Schmerz erfüllt mich das. Nun bitte ich Dich, Stärker der Menschen, die Seelenwunden zu heilen, die unbarmherzig unser Leben verderben. 55. Falsch ist diese Welt, die ich vertrauenswürdig wähnte. Sie macht der Menschen Wandel böse, oft ergeben sie sich den Lastern. Der Mann, der nicht Deinem Wort nachlebt, Du Friedensgeber, sondern die Gunst der Welt sucht, vermehrt seine Schande. 56. Unfähig bin ich, abzulassen von den bösen Taten meiner elenden Seele — oft freue ich mich ihrer sogar ; — um so mehr muß ich Dich, mächtiger Herr des Himmels, bitten um Gnade und Frieden. 57. Richte mich, herrlichster Erlöser der Menschen, mehr mit Deiner teuren Gnade denn nach der Gerechtigkeit. Sieh und prüfe unsere Hinfälligkeit, auf daß uns nach unserer Hoffnung daraus Hilfe werde, o hoher Herr des Sturmhimmels. 58. Wo sollen wir Schutz finden in unserer schweren Sündenschuld, Du freigebiger Versöhner der Menschheit, wenn nicht Du selbst Deinem gebeugten Knecht, den seine Sünden entsetzen, Gnade schenkst, o seliger Schöpfer des Sonnenschreines. 59. Selige Maria, Du erreichst jede Gnade für die Menschen beim Fürsten des gewaltigen Sonnenreiches. Sei Du ewig meine teure Hoffnung, sanfte Mutter des Königs der Ehren, sei Du mir auf immer gnädig! 37

60. Mit Beben warten wir auf Deine Gnade, Du strahlender Tempel des höchsten Königs der Sonne; Maria, Dein sanfter Wandel tröstet meinen Geist, aber unser Leben macht mich kummervoll, Du herrliche Burg des himmlischen Königs. 61. Kein Mensch geht verloren, der zu Dir betet, Du Sanfte, Höchste der Frauen; mein ganzes Vertrauen setze ich in Dich, denn Du, weise Mutter des Himmelskönigs, willst und kannst uns Menschen alles Gute schenken. 62. Alle Heiligen bitte ich um Hilfe und Fürbitte beim König der Ehren — nie versagende Hilfe—, auf daß nichts Ungesühntes an mir gefunden wird, wenn der liebevolle König der Menschen meine Seele abberuft. 63. Laß, Du mächtiger Erbarmer über die Menschen, das Ende meines Lebensweges so sein, wie es Dir gefällt; gib, daß ich nie von Dir getrennt werde in dem herrlichen Licht — das ist meine Bitte —, Du edler Walter des Himmels. 64. Ich habe mein Gedicht gesprochen — es soll ,Sorgensonne' heißen — vor hochgemuten Männern. Ein jeglicher, der dieses Preislied hört, bitte Gott um Gnade und Frieden für mich. 65. Laß keinen Menschen ohne Deine große Gnade sein, sorgenvernichtender Herr der Sonne — das allein ist wichtig. Herrlicher Wächter des Wolkenzeltes, Herr, versammele alle Christen dort, wo Freude und Frieden niemals enden! Anonym W E G W E I S U N G ODER D E R H I M M E L S B R I E F

.Wegweisung' als Titel wird vom Dichter, über den nichts bekannt ist, in der vorletzten Strophe anbefohlen. Das Thema des Gedichts wird in Strophe 5 und 45 bezeichnet: Taten Gottes und Christi sollen behandelt werden und zwar unter der Fiktion, sie seien jeweils an einem Sonntag vollbracht worden. Zweck der Dichtung ist, die Sonntagsheiligung durchzusetzen. Thema und Motive stammen aus der abendländischen Literatur. Seit dem 6. Jahrhundert sind sie bekannt: Christus ließ einen Brief auf die Erde gelangen, in dem er streng die Sonntagsruhe befahl. Offenbar entsprach diese .zusätzliche Offenbarung' einem gefühlten Bedürfnis. 38

Die Legende von diesem pseudepigraphischen Dokument wucherte üppig. Der isländische Dichter beschnitt sie rigoros, um Raum zu gewinnen für sein eigentliches Thema: die Taten. Er gliederte sein Werk überaus kunstvoll, indem er die heilige Dreizahl zugrunde legte: 12 Strophen Einleitung, 21 Strophen Hauptteil, 12 Strophen Schluß. Die Sonntagstaten Gottes, neun an der Zahl, werden in drei mal drei aufgeteilt durch die wiederkehrende Stef-Strophe: 1—3 aus der Urgeschichte der Menschheit, 4—6 aus der Geschichte des jüdischen Volkes, 7—9 aus der Übergangszeit zum neuen Bunde. Die Sonntagstaten Christi, sechs an der Zahl, werden in zwei mal drei aufgeteilt: 1—3 Wunder, 4—6 die letzten Taten. Diese sichtlich vom Inhalt geforderte — andererseits von der Disposition her die Auswahl der Taten bestimmende — Gliederung in neun und sechs Taten wird nun noch durch ein raffiniert zu nennendes Verhältnis überschnitten: die ersten sechs Taten stammen aus dem Alten Testament, die folgenden neun Taten aus dem Neuen Testament. Der Übergang zum neuen Bunde steht somit in doppelter Weise im Zentrum des Gedichts. Der Dichter gehört nicht zu den größten. Er ist ein Künstler, der predigt. Was er an Kunstverstand besitzt, legt er in die Komposition, die allerdings ihresgleichen sucht. 1. Eifrig will ich Dein Lied bereiten, König des Himmels, und rasch will ich stimmen Mund und Lippen zu Deinem Ruhme! Der Herr des Sonnensitzes möge mir den kostbaren Wortreichtum und die Einsicht verleihen, auf daß ich noch einmal rühmen kann den wahren Gott. 2. Ich bitte den ruhmvollen Herrn des strahlenden SturmhausLichtes, der im Himmel herrscht, mein Preislied zu hören — noch vor dem Geschlecht der Menschen. Die zureichenden Worte erbitte ich vom allmächtigen Gott. Meine Lippen sollen sich rühren zur Rühmung — die Menschen mögen schweigen! 3. Nun bitte ich Vater und Sohn, einzurichten die Form des Gedichts. Der Heilige Geist unterstütze schwierigen Werk. Unsere armen Worte dürften dem Herrn der Welt kaum genügen, würde nicht Gott leihen zur Rühmung. 39

kunstvolle mich beim berühmten die Worte

4. Gewiß bin ich begierig, meine kundige Rede zu erproben vor den Männern. Es ist ein gutes Gedicht. Aber nur deshalb hat der reine Herr des Sturmhimmels mir die Worte verliehen, auf daß ich sie nütze zu diesem Gedicht. 5. Schweigen gebiete ich den klugen Kriegern fürs Gedicht; sie mögen still sein, derweil ich spreche. Vom Tage des tatgewaltigen Herrn will ich einiges berichten. Die Seekrieger mögen lauschen, während ich das Gedicht aufsage. 6. Damit beginne ich: Allbekannte Wahrzeichen geschahen vor den Männern Jerusalems, wahrhafte Zeichen erschienen: der mächtige Weltenherr sandte einen Brief vom Himmel, mit goldenen Buchstaben, zur Rettung des Stadtvolks. 7. Dieser Brief, den der weise Gott verfaßte und niederfallen ließ auf die grüne Erde, ward aufgefunden an einem Sonntag. Segen dürfen wir erhoffen. Dieses Schriftstück, golden geschrieben, lasen nun wohlgesonnene Männer. Der wird weise, der sich vertraut macht mit der herrlichen Botschaft. 8. Der Brief verkündete den Seekriegern aus den Worten Gottes, welche böse Sünde das Glück der Männer gefährde: .Wahrlich, alle, die da arbeiten an meinem Tage, werden den größten Kummer davon haben', sprach der hochgeehrte Geber aller guten Gaben. 9. Der heilige Gott spricht, daß alle diejenigen in Gefahr kommen, welche die Festtage seines herrlichen Sohnes nicht ehren. Denn die Menschen werden mit unterschiedlichen Sünden geboren; auch Kinder und Weiber sind manchmal böse. 10. ,Ich will' — so sprach der Wächter des Himmels — .Leid werfen in alle Glieder der Menschheit; Leid soll sie plagen bis in den Tod, wenn die Menschen an den heiligen Tagen eifrig arbeiten oder den Zehnten nicht recht entrichten.' 11. Der Sündenvernichter, hold den Menschen, gebietet den Sterblichen, in alle Ewigkeit feierlich den Friedenssonntag zu halten. Der hochgerühmte Ausrotter der Sünden verspricht dafür, dem Volke unverbrüchlichen Segen mit allen Ehren und reinen Frieden zu schenken. 12. Keiner, der die Taufe empfangen hat, mag den Segen haben ohne Gegengabe. Gut ists für die Menschen, die Erlösung an40

zunehmen. Worte, die Gott uns lehrte, werden nicht vergehen^ Von der Wahrheit weicht, wer anderes glaubt. 13. Ein hohes (nun wiederkehrendes) Wort soll rasch gedichtet werden für Gott, wenn ich schöne Worte dazu finde. Noch will ich das tüchtige Lied nicht beenden. Engel und Menschen neigen sich furchtlos dem herrlichen Gott. Besser als alles andere ist allein der Fürst des Sonnensitzes. 14. An einem Sonntag schuf der eine Oberkönig die reinen Engel. Himmelreichs Herr hat solche wahren Taten vollbracht. Und der glückliche Weltenlenker setzte, voll der Gnade, diesen Tag als Ruhetag der Schöpfung, die Gott geschaffen hatte. 15. Der behende Krist setzte einen kräftigen Frieden zwischen Erde und Himmeln, zwischen Gott und die Menschen. Not ist es den Menschen, diese Ehre anzunehmen. Der ratkühne Himmelsherr legte seinen tatengeschmückten Frieden über all die Schöpfung. Das geschah an einem Sonntag. 16. Die Flut tobte um das spantenstarke Schiff, ehe der weise Noah die grüne Erde erreichte; aber als die Arche sich unbeschädigt aufs Land setzte, verließ das Volk das schmucke Schiff. Das geschah an einem Sonntag. 17. Des hohen Sturmhauses Herr waltet über die Erde wie über den Himmel. Der allgütige Gott läßt die Menschen ein gutes Leben gewinnen. Engel und Menschen neigen sich furchtlos dem herrlichen Gott. Besser als alles andere ist allein der Fürst des Sonnensitzes. 18. Es folgte das Volk dem gesetzkundigen Moses aus dem Lande. Die Woge zerriß vor seinem Stabe. Das geschah an einem Sonntag. Das heidnische Heer jagte mutig auf den Meerweg; aber rasch brachte das häßliche Meer dem Pharao den Tod. 19. Der allwissende König der Sonnenbrücke gab damals dem Moses die zehn Gebote — der geliebte Freund Gottes war erschöpft vom Fasten —, und unser Herr schenkte dem mutigen Obmann des Volks die weitberühmte Ehre an einem Sonntag. 20. Der tatenreiche Herr schmückte seinen Tag mit hervorragenden Werken, als das klare Wasser aus dem Steine rann, den Kriegern zum Trank. Der gabenmilde, ratstarke Gott ließ 41

vom Himmel Speise regnen, die Manna heißt, zur Errettung vieler Menschen. 21. Der einzige Steurer der Welt ist sehr glücklich über all seine hohe Schöpfung. Den Menschen ziemt es, sich den Glauben zu gewinnen. Engel und Menschen neigen sich furchtlos dem herrlichen Gott. Besser als alles andere ist allein der Fürst des Sonnensitzes. 22. Ein seliger Engel kam, zu reden mit der jungen Magd, und er gebot der herrlichen Frau die Geburt des Königs der Herrlichkeit. Aber die hervorragende Birke des Goldschmucks, Maria, empfing den Heiligen Geist. Diese Heiligung geschah — so hörte ich — am Tage des Herrn. 23. Der Herr der höchsten Herrlichkeit ließ sich von der berühmten, der besten Magd zur Welt bringen in der Nacht, an einem Tag des Herrn. Rechtschaffen ist es daher, daß wir den Tag des tatkühnen Herrn über alle Feste setzen. 24. Der einzige Walter aller Ehre ließ den edlen Johannes, den reinen herrlichen Mann, taufen im Jordan. Der Heilige Geist kam gnaden voll und legte das Salböl aufs H a u p t des tatenreichen Engelkönigs. 25. Nochmals will ich ein hohes (nun wiederkehrendes) Wort dichten in diesem schönen Preislied für den herrlichsten Herrn der himmlischen Heerscharen. Sturmhauses Herr schuf Himmel und Erde und das Menschengeschlecht. Der ratkühne König des Sonnensitzes ist der einzige Retter. 26. Der reine Fürst der Sonnenlande wies den klugen Menschen auf Erden in reinem Glauben rasche Zeichen. Der tatentüchtige Himmelsfürst machte an einem Sonntag aus barem Wasser lieblichen Wein. Das Volk war glücklich darüber. 27. Der Lenker des Himmels gab an einem Tag des Herrn seine teuren Zeichen, da Gott das rühmliche Volk sättigte mit einem kleinen Brot. Der kühne Herr der Seligkeit erquickte eine Menge Volks mit zwei Fischen und fünf schönen Broten. 28. Weitbekannt ist der Ruhm: der Herr sättigte das über die Tat fröhliche Volk mit wenig Speise. Oft wurde Krist bekannt 42

ob seiner Kraft. Man sagt, daß ein großer Vorrat, zwölf Körbe voll, übrig blieb. Den klugen Männern reichte das Mahl. 29. Der herrlichste Vater vermag alles unablässig zu lenken. Niemand ist so stark, daß er wehren könnte der Kraft des Herrn. Sturmhauses Herr schuf Himmel und Erde und das Menschengeschlecht. Der ratkühne König des Sonnensitzes ist der einzige Retter. 30. Der gnädige Fürst des Sonnenweges ritt siegreich an seinem Tage in das weite Jerusalem. Die Sorge der Menschen verging; und das furchtlose Volk dort im Land trug bunte Kleider und Palmen vor dem mächtigen Fürsten des Himmels. 31. Der Welt mutiger Vater stand auf vom Tode an seinem Tag mit Sieg. Der Fürst des Sonnenreichs tröstete die Menschen. Aber vorher hatte der ehrenstarke Heilige Geist den in Bosheit klugen Feind gebunden und die Menschen erlöst aus der Finsternis. 32. Die Boten des reinen Fürsten des Glanzheims waren an einem hochberühmten Sonntag versammelt in einem Hause. Da gab der König des Wolkenlandes seinen Aposteln den Heiligen Geist. Der herrliche Gott befreie die Menschen vom Bösen. 33. Der Fürst des Sonnenheims, der höher ist als alles andere, gibt den Menschen alles Gute. Gott segnet das Gedeihen der Menschen. Sturmhauses Herr schuf Himmel und Erde und das Menschengeschlecht. Der ratkühne König des Sonnensitzes ist der einzige Retter. 34. Hier will ich — der Hauptteil ist vorbei — in Demut den Schluß beginnen, wenn der herrliche Gott mich weiterhin die Worte finden läßt. Herr aller Ehren, gib mir die Kraft zum Gedicht. Zu nicht einem Wort reicht mein Vermögen, wenn Gott nicht hilft. 35. Das ist gewiß: daß der Herr der Sonne herniederkommen wird vom Himmel an einem Sonntag, zu richten die Menschen. Diesen drohenden Tag der Qual sollten wir nie vergessen. Das Volk sollte den König des Sonnengefildes um Gnade bitten. 36. Der kühne, kraftberühmte König aller setzt in Wahrheit seinen Tag höher als alle anderen hohen Tage. Die zahlreichen 43

Hauptzeugnisse der Werke ehren den Tag des teuren, tatstarken Sonnenherrn — mit Recht spreche ich so. 37. Die Menschen sollen den Höchsten, der die Sünden des Volks ausreißt, von ganzem Herzen lieben. Vieles müßte ich da noch sagen. Der Glaubende, der ihn liebt, empfängt von Gott die wahre Stärke. Krist gibt den Menschen die Hoffnung auf Frieden. 38. Dürften wir doch zur Rechten des berühmten Fürsten aller Welt sein, wollte doch der Vater der Menschen es so geschehen lassen; und der herrlichste König des Himmelreichs möge uns führen aus der schrecklichen Furcht und aus dem Gericht — heim in die Halle des Himmels. 39. Wir sollen gewiß den heiligen Gott mit Tränen bitten um Gnade — Schlimmes geschieht, wenn wir zögern; wir müssen um jeden Preis dem Bösen entgehen; damit wir, wenn der mächtige Mehrer aller Ehren das Urteil spricht, eilig kommen dürfen in die schöne Herrlichkeit Gottes. 40. Wir Einsichtigen alle sollen — so sehr wir nur können — Krist bitten um ein ewiges Dasein beim heiligen Kreuz. Eine Stätte beim Herrn ist höher, lockender und besser als alles andere. Fröhlich sind die, welche die Seligkeit erlangen. Sie leben furchtlos. 41. Ewiger Schicksalsherr, bewahre uns vorm Feuer und der Finsternis, wenn wir diese Welt verlassen. Krist . .., so daß wir alle heimkommen dürfen in vollem Frieden und ohne Furcht zu unserm Herrn, wenn der Weltenlenker die Menschen richtet. 42. Edler Oberkönig des Sonnenlandes, erlöse mich von aller Sünde. Mein Herz ist voll Jammers. Der König der Sonne möge mir eine viel höhere Gnade gewähren, als ich sie erbitten kann. Krist gebe den Menschen unverrückbaren Frieden. 43. Ein ausgezeichneter Priester half mir freundlich bei den meisten Fragen, als ich mein Gedicht entwarf. — Der ist klug, der sich um das Gute bemüht. — Das Urteil aller wird leicht zu erfahren sein, wie wir ein starkes Werk errichteten, Runolf, und wie mir der Abschluß des Liedes gelang. 44

44. Meine Zunge erlahmt. Das rechte Maß ist nötig. Der Dichter hat sein Preislied beendet. Die Männer sollen den klaren Sang .Wegweisung' nennen. Möge doch das Volk Freude haben an diesem Gedicht. 45. Nun sehe das Volk auf das Ende der Dichtung: laßt uns Tag für Tag verehren des tatkräftigen Himmelskönigs Werk. Der herrliche Herr der Welt lade die ganze Christenheit vom Gericht heim zu sich. Das Volk möge freundlich sprechen von diesem Gedicht. Anonym DAS S O N N E N L I E D

Der Dichter des Sonnenliedes — es trägt diesen Namen nach den mächtigen Abschiedsstrophen des Sterbenden (39—45) — ist unbekannt, doch dürfte er ein isländischer Geistlicher gewesen sein. Das Alter des Gedichts wurde lange überschätzt; heute setzt man es allgemein um 1200 an. Das Werk ist reich überliefert, wenn auch nur in jüngeren Handschriften. Selbst in neuerer Zeit hielt man es auf Island noch der Abschrift für wert. Das Gedicht ist im Spruchton-Maß abgefaßt. Wort- und Formelschatz berühren sich sehr oft mit der eddischen Dichtung, so daß der Gedanke, es handele sich hier um eine Konkurrenzdichtung zu bestimmten heidnischen Stücken der Lieder-Edda, nicht fern liegt. Das Gedicht gibt sich als Rede des toten Vaters an den Sohn (Strophe 78) und handelt von der üblen Welt und den letzten Dingen. Die Einheit des Werkes ist ohne hinreichende Gründe angezweifelt worden. Es beginnt mit fünf Exempeln (1—24) über die sündige Welt (Parabel vom büßenden Räuber — Irdische Güter taugen nicht — Liebe zerstört Freundschaft — Hochmut kommt vor dem Fall — Traue nicht bösen Menschen). Sinn dieser Exempla ist es, die Welt als radikal böse und fragwürdig zu zeichnen. Den Exempeln folgen sieben Ratschläge des toten, im Traum erscheinenden Vaters (25—32), Mahnungen zur Tugend. In drei großen Abschnitten schildert der Sprecher dann seinen Tod (33—52) und seine Erfahrungen aus Hölle (53—68) und Himmel (69—75). 45

Etliche Strophen, in denen vieles unklar bleibt, schließen das Gedicht ab. Die Gliederung ist durch Absätze und Überschriften deutlich gemacht worden. In der zweiten Hälfte — und vermehrt gegen das Ende hin — tauchen mythische und pseudomythische Namen auf; sie sind bis heute nicht zulänglich gedeutet und waren vielleicht schon dem Dichter wenig mehr als • dunkle Andeutungen. Auf Kommentare wurde verzichtet; sie müßten sehr weitläufig sein und gäben doch nur Vermutungen. Das Werk ist ein Lehrgedicht über Tugenden und Laster. Dichtungsgeschichtlich ist das Sonnenlied in zwei Hinsichten bedeutend: es übernimmt das europäische Thema der Jenseitswanderung aus der Visionenliteratur, und es gibt damit das erste große Himmels- und Höllengemälde der altnordischen Dichtung. Die Übersetzungen von K.Simrock (Die Edda, 6. Aufl., 1876, S.320—330) und A.Baumgartner (Stimmen aus Maria-Laach 34, 1888, S.429—440) habe ich dankbar benutzt, jedoch stark überarbeitet. Wo der Stabreim sich nur durch Nötigung des Textes ergeben hätte, wurde auf ihn verzichtet. Auch sonst habe ich die Strophen frei behandelt, eine Probe altnordischer Verskunst war nicht beabsichtigt. Exempel über die sündige Welt 1. Gut und Leben raubte den Leuten einst ein grimmiger Kerl. Über den Weg, den er bewachte, konnte keiner lebend kommen. 2. Einsam aß er alle Tage, lud keinen Mann zum Mahl, bis ein müder und ermatteter Wandrer des Weges kam. 3. Des Tranks zu bedürfen — so beteuert er — und heißen Hunger zu haben. Zagenden Herzens zeigt er Vertrauen dem, der ein Wütrich einst war. 4. Trank und Speise spendet der dem Müden gern aus ganzem Herzen. 46

Gottes gedacht er und gab dem Bedürftigen, weil er sich verworfen wußte. 5. Aufstand jener mit üblem Vorsatz, nicht bedurfte der Wandrer der Wohltat. Die Sünde schwoll, im Schlaf erstach er den weisen, reuigen Wirt. 6. Zum Gott der Himmel um Hilfe schrie, der da todwund erwachte. Und so bekam die Sünden zu tragen, der den Schuldlosen schlug. 7. Heilige Engel schwebten vom Himmel und zogen die Seele zu sich. Ein lauteres Dasein wird sie nun leben ewig beim allmächt'gen Gott. 8. Reichtum und Heil halten nicht lange, wie gut's auch einem ergeht. Mancher findet, was er flieht. Keiner setzt sich selbst sein Schicksal. 9. Unnar und Saewald ahnten es nicht, daß ihr Glück so bald zerbräche. Nackt waren sie da, genommen ward alles, sie flohen wie Wölfe zum Wald. 10. Die Macht der Liebe hat manchen gequält, viel Schmerzen schufen die Frauen. Schändliche wurden, die schön doch schuf der allgütige Gott. 11. Schwertbrüder waren Svafad und Skarthedin, keiner mochte den andern missen. Dann um ein Weib wüteten sie, zum Schicksal war sie bestimmt. 12. Dachten nicht mehr ob der lichten Maid des Spiels und der strahlenden Tage. Nichts mehr wollten die Männer wissen als der Liebsten schönen Leib. 47

13. Da wurden düster die dunklen Nächte, keiner fand mehr freundlichen Schlaf. Aus diesem Harm wuchs grimmiger H a ß zwischen vertrauten Freunden. 14. Leidenschaft wird im Leben immer grimmig vergolten. Zum Holmgang schritten sie um das herrliche Weib und lagen beide im Blute. 15. Übermuts soll sich keiner vermessen, des ward ich wohl gewahr. Denn immer fallen, die ihm folgen, aus Gottes Gnade. 16. Reich waren einst Radny und Vebodi und glaubten an ihr Glück. Nun hocken sie da und halten an's Feuer wechselweis ihre Wunden. 17. Auf sich allein bauten sie stolz und wähnten sich hoch über allen. Aber den Lauf wies ihrem Los anders der allmächtige Gott. 18. Der Lust überall lebten sie so und sparten im Spiel nicht der Schätze. Vergolten wird es. Sie wanken dahin zwischen Frost und Feuer. 19. Falschen Freunden sollst du nicht trauen, wenn sie auch schmeichelnde Worte sprechen. Versprich Gutes. Des anderen Schaden laß dir weislich zur Warnung dienen. 20. So geschah es Sörli dem Guten, da er sich gab in Vigolfs Gewalt: er traute ihm treulich, doch jener trog ihn, der seinen Bruder erschlagen. 21. Frieden versprach er aufricht'gen Herzens, und jene gelobten dagegen Gold. 48

Sie saßen versöhnt beim Sühnetrunk, doch Arglist wuchs alsobald. 22. Aber darauf, am anderen Tag, als sie ins Rygjartal ritten, mit Schwertern erschlugen sie den Schuldlosen und ließen sein Leben fahren. 23. Die Leiche schleppten sie auf lichtscheuen Wegen und bargen im Brunnen die Stücke. Hehlen wollten sie's, doch Gott, der Herr, sah es vom Himmel. 24. Die Seele berief der selige Gott heim in seine Herrlichkeit. Die Mörder aber, meine ich, werden spät aus ihren Qualen kommen. Mahnungen zur Tugend 25. Die Disen bitte, die Bräute des Himmels, dir holdes Herz zu hegen. In der Woche darauf wird, was du willst, nach deinem Wunsche sich wenden. 26. Werke des Zorns, die du wild begangen, büße nicht mit noch mehr Bösem. Den du betrübt hast, den sollst du trösten. Das, sagt man, frommt der Seele. 27. Um Gnadengaben flehe zu Gott, dem mächtigen, der uns Menschen schuf. Unglück leidet jeder, der aufhört mit der Suche nach Gott. 28. Erbitten mußt du mit aller Mühe, wessen du dich bedürftig weißt. Nichts erhält, wer nichts erbittet. Wenige denken des Darbenden. 29. Spät erst komm' ich, wenn auch früh beschieden, vor des Gerichtsherrn Tor. Da erhoff' ich, was mir verheißen war: Gegeben wird dem, der verlangt. 49

30. Die Sünde macht, daß wir sorgenvoll scheiden aus der schrecklichen Welt. Wer nichts verbrach, braucht nichts zu fürchten. Gut ist: schuldlos zu sein. 31. Wölfen gleich werden sie sein, alle, die falschen Sinnes sind. Jeder erfährt es, der fahren muß über glutheiße Wege. 32. Freundliche Ratschläge, weise geformte, sagt' ich dir, sieben zumal. Vernimm sie wohl und vergiß sie nie. Nimm sie, alle sind nützlich. Der Tod 33. Nun ist zu sagen, wie selig ich war in der herrlichen Welt. Und nun das andere: wie alle Menschen wider Willen sterben müssen. 34. Hoffahrt und Übermut verführen die Menschen, daß sie gieren nach Gut. Leuchtende Schätze bringen langen Kummer. Gold machte manchen zum Affen. 35. Glücklich in allem galt ich den Menschen, denn wenig wüßt' ich voraus. Die zeitliche Welt hat wonnereich der Schöpfer geschaffen. 36. Gebeugt saß ich, lange schwankt' ich, groß war die Lust zu leben. Aber des Waltenden Wille entschied. Abwärts führt des Todgeweihten Straße. 37. Hels Fesseln wurden fest und fester gegürtet um meine Glieder. Sprengen wollt' ich sie, doch sie waren stärker; leichter geht's sich lose. 38. Ich allein wußte, wie allerwegen schwollen die Sorgen um mich. 50

Hels Mägde holten mich heim Abend für Abend. 39. Die Sonne sah ich, wahren Stern des Tags, sinken in tosende Sphären. Der Hei Pforten hörte ich drüben donnernd dröhnen. 40. Die Sonne sah ich blutig gezeichnet, fast war ich da der Welt entrückt. Gewaltiger schien sie mir zu glühen, als ich jemals sie gesehen. 41. Die Sonne sah ich, scheinen wollt' mir, als sah' ich den großen Gott. Ihr neigt' ich mich zum letzten Mal in der Welt der Menschen. 42. Die Sonne sah ich, sie strahlte so hell, daß ich wähnte, nichts mehr zu wissen. Gylfs Ströme zur andern Seite brüllten, vom Blute rot. 43. Die Sonne sah ich mit zitterndem Blick, furchterfüllt und voll Bangen, dieweil mein Herz, das hart bedrängte, zerging in Gram. 44. Die Sonne sah ich trauriger selten, fast war ich da der Welt entrückt. Die Zunge stand mir starr im Munde, von außen faßte Frost mich. 45. Die Sonne sah ich seitdem nicht mehr, nach diesem traurigen Tag. Schreckensfluten schlugen über mir zusammen; ich verschwand, die Schmerzen vergingen. 46. Der Hoffnungsstern — in der Stunde der Neugeburt — flog fort von meiner Brust. Er stieg so hoch und setzte sich nirgends, daß er zur Ruhe kommen konnte. 47. Länger als alle war die eine Nacht, da ich starr lag auf Stroh. 51

Da begreift man Gottes Wort: Von Staub sind die Sterblichen alle. 48. Das wiß' und erwäge der waltende Gott, der da schuf Himmel und Erde: wie einsam wir beim Abschied bleiben, zählen wir gleich viele Freunde. 49. Seiner Werke Lohn wird jedem; glücklich, wer Gutes getan! Schatzentblößt ward mir ein Bett von schierem Sand bereitet. 50. Leibes Lust betört die Leute, mancher tut manches zuviel. Aber des Leichenbades Lauge war mir von allem das Ärgste. 51. Auf der Nornen Stuhl saß ich neun Tage, ward dann auf den Hengst gehoben. Schauerlich schien die Sonne der Riesin aus wolkenverhängtem Himmel. 52. Von außen und innen glaubt' ich zu fahren durch sieben Siegwelten. Auf und ab sucht' ich andere Wege, wo es leichter zu wandern wäre. Die Hölle 53. Nun ist zu sagen, was zuerst ich sah, als ich nach Qualheim kam. Versengte Vögel — Menschenseelen — schwirrten wie Mückenschwärme. 54. Von Westen sah ich Drachen des Wahns fliegen mit feuriger Spur. Sie schlugen die Schwingen, als sollte bersten der Himmel und die Erde. 55. Den Sonnenhirsch sah ich von Süden kommen, es führten ihn zwei am Zaum. Seine Füße auf dem Felde standen, aber die Hörner berührten den Himmel. 52

56. Von Norden sah ich Nidis Söhne reiten, sie waren sieben beisammen. Aus vollen Hörnern tranken sie herrlichen Met aus dem Brunnen Baugregins. 57. Der Wind schwieg. Die Wasser standen. Da hörte ich häßlichen Lärm. Ihren Männern mahlten Weiber, truggewohnte, Staub zur Speise. 58. Bluttriefende Steine die traurigen Weiber düster drehten. Blutige Herzen aus der Brust ihnen hingen, müde vom großen Gram. 59. Manchen Mann sah ich, mächtig zerhauen, gehen die glühenden Straßen. Ihr Antlitz schien mir über und über rot vom Blut der Hexe. 60. Viele sah ich der Erde befohlen ohne der Sterbenden Stärkung. Heidnische Sterne standen überm Haupt ihnen, eingeritzt schreckliche Runen. 61. Männer bemerkt' ich, die Mißgunst nährten gegen andrer Leute Glück. Blutige Runen auf ihrer Brust waren vermerkt ob der Meintat. 62. Männer sah ich, die mußten weglos in der Öde traurig irren. Solches erlost, wer seinerzeit sich locken ließ vom Laster. 63. Männer sah ich da, die manches Stück von anderer Gut sich angeeignet. In Scharen zogen sie zu Schatzgierlings Burg, gebeugt unter Bürden von Blei. 64. Männer sah ich da, die manchen hatten um Gut und Leben gebracht. Die Brust durchbohrten den Bösewichtern grimme Giftdrachen. 53

65. Männer sah ich da, die mitnichten wollten halten die heiligen Tage. Die Hände waren an heißen Steinen ihnen notvoll angenagelt. 66. Männer sah ich da, die frevlen Mutes einst prunkten in prächtigem Staat. Ihre Gewänder wurden wunderbar von Flammen umfaßt. 67. Männer sah ich da, die manches Mal über andre Leute logen. Der Hölle Raben aus ihren Häuptern unbarmherzig die Augen hackten. 68. Alle Schrecken wirst du nie erfahren, die die Verdammten erdulden. Auf süße Sünde folgt schwere Buße. Immer folgt der Lust das Leid. Der

Himmel

69. Männer sah ich da, die manchen Schatz Gott zuliebe gegeben. Helle Kerzen überm Haupte ihnen schienen mit schimmerndem Glanz. 70. Männer sah ich da, die aus mildem Herzen den Armen geholfen hatten. Heilige Bücher und himmlische Schriften lasen über ihnen die Engel. 71. Männer sah ich da, die sich gemartert hatten viel mit Fasten. Gottes Engel grüßten sie alle. Das ist die seligste Seligkeit. 72. Männer sah ich da, die ihrer Mutter das Mahl zum Munde geführt. Auf Himmelsstrahlen standen ihnen die Betten gebreitet. 73. Heilige Jungfrauen hatten reinlich die Seelen von Sünden gewaschen 54

jenen Männern, die manchen Tag gepeinigt sich selbst. 74. Herrliche Wagen sah ich himmelwärts fahren, sie wußten die Wege zu Gott. Männer lenkten, die schuldlos litten von Mörderhand den Tod. 75. Allmächtiger Vater, gleichmächtiger Sohn, Heiliger Geist des Himmels! Laß uns scheiden, der Du uns schufest, — ich bitte Dich — vom Elend der Welt. Schlußrede 76. Ljugvör und Listvör sitzen in Lävis Tor auf dem Orgelstuhl. Nornenblut aus den Nasen fließt, so wecken sie Wut unter Menschen. 77. Odins Weib fährt auf der Erde Schiff, lechzend nach Lust. Ihre Segel werden spät geborgen, die an trotzigen Tauen hängen.

78. Sohn, dein Vater und Solkatlas Söhne haben für dich gedeutet Des Hirsches Hörn, das aus dem Hügel barg der weise Vigdvalin. 79. Hier sind die Runen, die einstmals ritzten neun Töchter Njörds: Radveig, die älteste, und Kreppvör, die jüngste, und sieben Schwestern zumal. 80. Wie viele Greuel begingen nicht Svafr und Svafrlogi! Blut weckten sie auf und sogen's aus Wunden und trieben es wütend und wüst. 81. Dieses Lied, das ich dich lehrte, sollst du vor dem Volke singen. 55

Das Sonnenlied wird selten wohl den Leuten zu lügen scheinen. 82. Laß uns nun scheiden! Am Friedenstage werden wir uns wiedersehen. Der Herr, mein Richter, gebe Ruhe den Toten und Liebe den Lebenden.

Eystein Asgrimsson DIE LILIE EIN MARIENPREIS AUS DEM 14. JAHRHUNDERT Eystein war wie Gamli Augustinermönch, dichtete aber fast zweihundert Jahre später als jener, nämlich um die Mitte des 14. Jahrhunderts. Durch verstreute Überlieferung weiß man einiges aus seinem Leben, doch nicht genug, um eine ganze Vita zeichnen zu können. Eystein war Isländer, ein unsteter, streitbarer und leidenschaftlicher Mann, der sich nicht scheute, seinen Abt zu verprügeln und auf einen Bischof Schmähverse zu dichten. Er erreichte gleichwohl hohe kirchliche Ämter und starb 1361 in einem norwegischen Kloster. Die ,Lilie' ist ein später Höhepunkt der an Höhepunkten wahrlich nicht armen Dichtungsgeschichte Islands, im 14. Jahrhundert aber ein einsamer Leuchtturm. Man hat das Gedicht „das vollendetste und schönste religiöse Gedicht des Mittelalters" genannt (Mogk). Ein geflügeltes Wort sagt, jeder isländische Dichter wünschte, die ,Lilie' verfaßt zu haben. Der Ruhm des Gedichts war so groß, daß viele der Gläubigen es sich zur Pflicht machten, das Gedicht täglich einmal zu sprechen. Das Versmaß der Dichtung — ein längst geübtes Maß — wurde fortan zu Ehren der ,Lilie' Liljulag genannt. Gleich zu Beginn, in Strophe 4, setzt sich Eystein ab gegen die alte skaldische Kunst, um am Ende (Str. 97, 98) sein Dichtungsideal, die schlichte verständliche Predigt, noch einmal scharf zu formulieren gegen archaisierende Künstelei und Dunkelheit. Eine neue, stark von festländischen Vorbildern abhängige Dichtweise hat sich durchgesetzt und ein Werk geschaffen, das keinen Vergleich zu scheuen braucht. Es würde zu weit führen, hier auf die stilistischen Neuerungen einzugehen. Selbst die schlichte Prosa56

Übertragung wird noch etwas von der Kraft und Ergriffenheit Eysteins spüren lassen. Das Gedicht gibt die ganze Heilsgeschichte vom Engelsturz bis zum Gericht. Die Abschnitte wurden durch hinzugefügte Überschriften deutlich gemacht. Nach altem Brauch schmückt Eystein sein Werk mit zwei prächtigen Stef-Halbstrophen. Auch diese schaffen eine Gliederung: Str. 1—25 (bis zur Verkündigung) ohne Stef; die folgenden 50 Strophen mit dieser Auszeichnung (von Christi Geburt bis zum Gericht); das letzte (wie das erste) Viertel ohne Kehrstrophe (Gebet und Lobpreis). Der Wechsel der beiden Kehrstrophen geschieht, hart nebeneinander, in der Mitte des Gedichts (50/51), zugleich im Höhepunkt, dort, wo das Kreuz steht. Das Werk hat hundert Strophen. Die Zahl ist eine Huldigung an Maria (s. Paasche), der ja das ganze Lied gewidmet ist; denn der englische Gruß hat in seiner seit dem 13. Jahrhundert gültigen Form hundert Buchstaben — diese Hundert war dem Mittelalter bedeutungsvoll genug, mehrere Mariendichtungen wurden über dieser Zahl erbaut —: Ave Maria, gratia plena, dominus tecum, benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui Jesus Christus. Amen. Eingangsgebet 1. Allmächtiger Gott, Herrscher aller Engel- und Völkerscharen, der Du keiner Stätte noch Stunde bedarfst, der Du die Welt in Stete bewahrst, der Du weilst außen und innen, oben und unten und in der Mitte: Ehre sei Dir in Zeit und Ewigkeit, Du wahre Einheit selbdritt. 2. Ich bitte Dich um Dein großes Erbarmen, daß Du mir gönnen wollest, wenn ich es demütigen Sinnes suche, denn es gibt kein anderes Gut außer von Dir, Herr. Reinige mein Herz und führe mit Kunst das rühmende Wort in die richtige Form, auf daß durch meinen Mund das Lied recht werde für Dich. 3. Dich bitte ich, Jungfrau und Mutter, daß die Worte mit Deiner Hilfe recht und in schönen Strophen von meinen Lippen rinnen. Mögen die Worte klar und rein von meinem Munde kommen, glänzend wie von leuchtendem Gold: Gott sollen sie gewidmet sein. 57

4. Frühere Dichter, die alte und kluge Kunde aus heidnischen Büchern hatten, sangen kunstvolle Preislieder auf Könige in nordischer Sprache. Mehr als jene bin ich pflichtig, in unserer Muttersprache dem allmächtigen König ein Gedicht darzubringen, gesprochen mit Worten der Liebe.

Lucifer 5. Schöpfung und Geburt, Taufe und Herrlichkeit, die hohe Weisheit, die besser ist als alle Schätze, das Blut aus der Wunde Christi, die Vergebung der Sünden und des Tages Freude, die hohe Hoffnung auf himmlische Seligkeit, unsre Niedrigkeit: all dies gebietet mir, die schönen Wunder der göttlichen Taten zu preisen. 6. Gott der Herr, der herrlicher ist als alles, schuf im Anfang Himmel und Erde und schmückte sie mit drei mal drei Engelscharen — das ist mein rechter Glaube. Noch ehe die Schöpfung war, war er sich selbst genug und ist immer der gleiche. Er schuf die Welt und gab der Zeit ihr Maß; beide, gleich alt, sind in seiner Macht. 7. Der Mächtige, der alles übertraf im Glanz seiner Natur, gut erschaffen und leuchtend in seiner Pracht, in höchster Ehre dem Schöpfer am nächsten: er, der Engel, ließ es sich nicht genügen an der Macht, die er empfing; mit Gewalt wollte er noch höheren Thron und noch höhere Ehre. 8. In rasendem Übermut wollte er sich mit Gottes eingeborenem, übermächtigen Sohn vergleichen und niemandem nachstehen. Dieser schändliche Ehrgeiz war sehr töricht, wie die Schrift beweist. Er wähnte, sich an Kraft mit dem herrlichen König vergleichen zu können. Das nahm ein schlimmes Ende. 9. Dies ist zu berichten: im gleichen Augenblick, da der Engel begann böse zu werden, sank er mit seinen Genossen wie ein Bleilot in die Tiefe der Erde, dorthin, wo der schreckliche Übermut seinen blinden Vater, den Teufel, im Höllenfeuer peinigt. Töricht ist, wer an dieser Sippschaft hängt und seinen Glauben verdirbt. 58

Schöpfung und Sündenfall 10. Sechs Tage kamen und gingen über das Meer, ehe Erde und Himmel, die der Herr schuf, all ihre Aussteuer empfingen: Wolken am Sturmhimmel, Eis und Feuer und die Planeten, Hagel und Tiere und Fische und Vögel, die schönen Blumen und Fruchtgärten. 11. Gott änderte nun seine Arbeitsweise und verwandelte Wasser und Erde in Blut und Fleisch; er nahm aus der höchsten Luft den Atem und von der Sonne die Lebenswärme; dazu gab er endlich die Seele, die den Willen des Herrn versteht und den Leib belebt: leuchtendes Leben vom Heiligen Geist. 12. So ging ein Mensch hervor aus der Muttererde und doch schönen Leibes, Adam genannt. Er hatte über alles in der Welt Gewalt mit Freiheit und Gnade. Ein sanfter Schlaf kam über diesen Erdenherrscher; er empfing da eine reine Geistesgabe — das zeigte sich dann —, Erleuchtungen auszusprechen, die in Erfüllung gingen. 13. Aus Adams Seite ließ der Herr dann Eva hervorgehen, wie Moses bezeugt. Beiden gab Gott eine sichere Bleibe mit Ehre, Macht und Liebe im Paradies, bis sie — und das ist die größte Gnade — später bei den Engeln leben sollten in alle Ewigkeit mit ihren Nachkommen, Gott zu danken. 14. Aber auf daß irdisches Verdienst ein sicherer Grund zur Erlangung der Himmelsfreude sei, gab der Herr ihnen ein einziges Wort zu befolgen: „Da ist ein Apfel, den zu essen ich euch beiden verbiete; aber ihr bestimmt es selbst. Ihr sollt sterben, wenn ihr das einfache Gebot nicht befolgt mit reiner Treue." 15. Der Engel, der verdammt worden war, erhob sich und schwoll; ihm mißfiel es sehr, daß das Menschenvolk, geboren auf Erden, dort eine Bleibe haben sollte, die er selbst verloren hatte; und, einen Todestrank bereitend, verbarg er sich vor den Augen der Menschen. Zauberkundig, in Schlangengestalt, hub er an zu sprechen. 16. Prüfend sprach er zu Eva: „Sage mir schnell, warum verbot euch der Herr, die süßeste Frucht zu essen, da er euch doch alles andere erlaubte?" Es geschah, daß Eva antwortete, wie es sich 59

der sehr böse Feind gedacht hatte: „Damit wir nicht leicht von dem Weg des Lebens niedersteigen zur Stätte des Todes." 17. Leicht fand er in der vagen Antwort ein klares Zeugnis der Sorglosigkeit. Also erdreistete er sich zu weiterer Versuchung, der Trugvolle, und sprach mit List: „Nicht werdet ihr mit den weißen Gesichtern, du und Adam, sterben, wenn ihr in den Apfel beißt. Vielmehr werdet ihr mit Ehre und Macht, ihr Klugen und Starken, euch der Gottheit vergleichen." 18. Eva, leicht zu verlocken, glaubte das. Sie aß die Frucht und verlor die Ehre; und sie lockte Adam mit sich, daß er aß, der doch das Verbot wußte. Er fürchtete, Eva werde ihm zürnen, wenn er ihr die Bitte nicht erfüllte. So gelang es dem Feind im Anbeginn, unsere Voreltern durdi Trug mit Blindheit zu schlagen. 19. Der mächtige Gott strafte sie mit gerechtem Urteil für diese Untat. Er trieb sie aus der ehrenvollen Stätte arm und nackt in Pein und Tod. Sie irrten elend herum in der erbärmlichen Welt, in der seitdem das ganze Menschengeschlecht mit schweren Sünden gleichsam aus Adams Lenden kam. 20. Die Bitternis der Sünde gedieh von der Wurzel bis in die Zweige, sie rann von einem zum andern. So ging es mit der Welt lange Zeit, des Lebens beraubt, doch der Sünde voll. Angst und Furcht nahmen kein Ende. Doch eins ist das schlimmste und zugleich das letzte: die offene Hölle, voll der Schrecken, die sich auftut beim Tod eines jeden. 21. Die Welt ist tot, was ist zu tun? Wo findet sich einer, der sich selbst retten kann? Nirgends, denn im Schmutz der Sünden beschwert wahrhaft einer den andern. Einen Ausweg nur gibt es, den ich bezeugen will — unter Tränen trete ich vor: daß Du selber, teurer Gott, der Menschheit hilfst, auf daß sie ihr Leben empfange. Verkündigung und Christi Geburt 22. Gegeben ist das Leben! Es kann das unsere sein. Gegeben ist das Leben, das Adam vertat. Die Gnade erging zu gesetzter Stunde aus der Hand der Gottheit, als ein lebendes Licht in die Welt trat — in Wahrheit ein lebendes —, das die gequälten 60

Seelen aus dem Sumpf des Teufels führte. Die Herrlichkeit der Engel waltete darüber. 23. Entflammt sei meine Zunge und spreche mit Pracht von ihrem Herrn; über die Großtaten soll sie singen des Umfassers der drei Welten. Verwundet und gelähmt wäre sie, gebunden in Banden des niedrigsten Teufels, wenn nicht Gottes Erlösung, der Erde geschenkt, mich befreit hätte. 24. Der das Nahe und Ferne tnit scharfer Allwissenheit ordnet zusammen mit dem Sohne und dem Heiligen Geist, Gottvater gab einem Engel den Auftrag, der lautete: „Fliege hin und sage der herrlichen Magd Maria, die ich hüten will, daß mein eingeborener Sohn sich schmücken will mit der Gehorsamen lichtem Leib." 25. Für uns ist Maria die Mutter, Blüte der Herrlichkeit, voll der Ehre, prächtig wie die roteste Rose, entsprungen dem Wasser des Lebens, der Demut duftende Wurzel, leuchtend in der Keuschheit Glanz, Gott und gute Menschen liebend — Gott gleichend in diesen Tugenden. 26. Das sehe ich: daß keine irdische Zunge, hoher Herr des Sternenlandes, fähig ist, eine Kehrstrophe zu dichten, die Deiner würdig wäre. Ehre sei Dir in wahrer Herrlichkeit, Dein Ruhm sei gesungen von allen Zungen in Ewigkeit mit Sieg und Seligkeit. Deine Ehre und Herrschaft werden nie vergehen. 27. Es schwebte — den Pfauen noch in seiner Pracht übertreffend — durch das geschmückte Firmament Gabriel wie ein Strahl der Sonne heiter hernieder in die tieferen Regionen. Der Gesandte des siebenfältigen Geistes kam — so ist zu berichten — zu einem Haus: darin saß die wahre Weibheit, die Keuschheit selbst, der Edelstein der Frauen. 28. Und er wandte sich an die sanfte Magd also: „Maria, lausche meinen Worten, Du berühmteste Frau, Dir bringe ich das Ave, erfüllt von der Gnade süßem Brunnen: der seine Schöpfung in Händen hält, der wahre Herr der Engel und Menschen, wohnt unter Deiner reinen Brust, gesegnete Jungfrau, Du bist herrlicher als alle Weiber." 61

29. Die Jungfrau hörte ruhig und glaubte, aber sie verwunderte sich über die Worte, denn sie wußte niemanden, dem auf Erden jemals ein solcher Ehrengruß zuteil geworden. Der Erzengel gebot ihr, sich nicht zu fürchten; dann fuhr er fort: „Der Gott der Himmel wird von Dir geboren werden, Du leuchtende Frau." 30. Die fragte nun, wie ihr diese Freude widerfahren sollte, da doch die Mauer um das Heim ihrer keuschen Tugend nicht zerbrach. Der Engel sprach: die Jungfrau werde ihre Reinheit bewahren, denn des Heiligen Geistes herrliche Schöpferkraft werde den Knaben bereiten als Fleisch und Bein aus reinem Leibe. 31. Alle Sphären waren von Licht standen verwundert, die ganze Natur In Maria Blut verbanden sich ihre Gottheit; unter ihrem reinen Herzen Dreifaltigkeit.

erfüllt, Meere und Erde lag schweigend in Banden. Seele und die Kraft der wohnte der Eine aus der

32. Die Herzen jubeln und Freudentränen strömen aus allen Augen, ewig danksagend für Deine Gnade, da Du Mensch wurdest, mein König. Ehre sei Dir in wahrer Herrlichkeit, Dein Ruhm sei gesungen von allen Zungen in Ewigkeit mit Sieg und Seligkeit. Deine Ehre und Herrschaft werden nie vergehen. 33. Neun Monate später ward ein Knabe geboren von der reinen Magd, wie wenn ein Strahl vor unsern Augen durch das hellste Glas bricht. So strahlte da die Sonne, das Glas blieb heil. So leuchtend kam das Kind von der Mutter, daß das Siegel ihres reinen Magdtums nicht gebrochen ward. 34. Niemals hörte man dergleichen, nie geschah solches vorher oder nachher: hier war eine Jungfrau und doch auch Mutter, hier war Gott und zugleich doch auch Mensch. Der Himmel sang dem gekommenen König Preis, die Hirten eilten; die himmlische Herrlichkeit hat sich zur Erde geneigt, Engel und Menschen vereinten sich. 35. Doch war die reichste Mutter nicht so reich, daß sie gute Windeln gehabt hätte. Drum ward der Knabe mit hartem Heu bedeckt zum Schutz vor der Kälte. Am achten Tage war das 62

Fest der Beschneidung; Blut floß über den lichten Leib, und denkwürdige Tränen rannen über die Wangen. 36. Am dreizehnten Tage kamen ausgezeichnete Männer, die im Osten der Welt Reiche regierten, mit Opfergaben zum Herrn, um so den Knaben zu ehren. Nachdem vierzig Tage vergangen waren, beschloß Jesus, selbst für uns im Tempel dargebracht zu werden. 37. Der H e r r der Himmel weihte sich uns mit dreißig Jahren, da er getauft ward aus der reinen Quelle des Jordans. Johannes Baptista diente dem Herrn. Dieser liebe Freund Jesu Christi bezeugt, daß an jenem Tag die strahlende Dreifaltigkeit offenbar wurde unter den Menschen auf der grünen Erde. 38. Ich fühle, wie all unser Menschenwitz kläglich ist, wenn er, sanfter Herr, Deine Macht preisen soll. Sie ist größer als alles andere. Ehre sei Dir in wahrer Herrlichkeit, Dein Ruhm sei gesungen von allen Zungen in Ewigkeit mit Sieg und Seligkeit. Deine Ehre und Herrschaft werden nie vergehen.

Die Versuchung 39. Der altböse Feind verwunderte sich über den Menschensohn — ihn zu verstehen war ihm versagt —, und es war, als spräche der Teufel also zu sich: „Es scheint mir, als ob sich etwas ganz Neues der Welt und den Menschen nähert; etwas Merkwürdiges hat der Herr ersonnen. Mir ist es verborgen, es geht verschwiegen vor sich. 40. Die Scharen der Engel und das Sternenlicht und die Opfergaben und der Friede in allen Landen verkünden Jesu Herrlichkeit. Diese herrlichen Zeichen, den Menschen offenbart, vermehren meine Qualen. Ich trage Sorge, daß seine kräftige Herrschaft mich von allen Seiten bedrängen wird. 41. Seine Vater-Abkunft werde ich kaum erraten, doch ist seine Mutter von irdischem Geschlecht. Jesu Herkunft ist mir ein Rätsel, kaum werde ich es begreifen. Sein Dasein paßt mir nicht. Niemals habe ich mich auf Erden so vor einem Mann gefürchtet. 63

42. Ihn dürstet und er ist bleich vom Fasten, er lacht nicht, aber er kann weinen; ermüden kann er und ist von einer Mutter Brust ernährt, auch ward er gekleidet. Mich dünkt, alles das macht offenbar, daß er von menschlicher N a t u r ist. Es gelüstet mich, ihn durch des Lasters Stachel zur Untat zu treiben. 43. Mir scheint, daß Adam, geliebt von Gott, weit höher stand in der Gnade des Herrn, ehe ich ihn und Eva verführte, fort von der Ehre in Finsternis und Tod. Wahr ists, daß wenige den Trug bestehen, so wird es auch diesem Jesus ergehen. Drum will ich ihn getrost versuchen; seit alters bin ich ein Meister des Trugs." 44. Maria Sohn! Du teurer Sohn, menschlicher Sohn Maria und Gottes! Lehre Du mich, den Teufel zu meiden, den zauberkundigen, und Dich zu lieben. Ehre sei Dir in wahrer Herrlichkeit, Dein Ruhm sei gesungen von allen Zungen in Ewigkeit mit Sieg und Seligkeit. Deine Ehre und Herrschaft werden nie vergehen. 45. Das erfuhr ich: daß des Teufels List den vom Fasten erschöpften Herrn versuchte mit Lastern, der Böse, der sieggewohnt glaubt, jeden Menschen zur Sünde verführen zu können. Alle die bosheitsvollen Pfeile des listenreichen Feindes, oft von klirrender Sehne verschossen, wenden sich und treffen des Teufels Brust.

Christi Passion und Tod 46. N u n begann der liebe Krist seine Lehre über das Land auszubreiten, er suchte und fand Schüler, die ihm ihr Leben lang dienen wollten; darüber hinaus half er und machte Blinde sehend, Aussätzige rein, Stumme redend, Taube hörend, Tote lebendig, Kranke gesund, Irre vernünftig, Lahme gehend. 47. Das sah der Teufel: wie seine Schar sich verkleinerte, und er ergrimmte darüber, daß die guten Taten sich überall vermehrten, während H a ß und Sünde seltener wurden. Der gepeinigte Teufel fand sich nicht in dieses Spiel, dessen Gefahr er erkannte; drum befahl er seinen Scharen, den Verderber der Sünden sofort zu töten. 64

48. Der Oberste der Mörder verlockte einen elenden Kerl zu bösem Tun — es war einer der Männer Jesu, Judas genannt, der den Verrat auf sich nahm. Den milden Gott verkaufte er für Silber an das Volk, Juden geheißen; die waren von Grausamkeit erfüllt, Zorn brüllte in ihrer Brust. 49. Gierig rannten sie und fanden Jesum; den Gefundenen mißhandelten sie, schlugen und banden ihn. Den Gebundenen führten sie fort und spotteten seiner in ihrer Lust. Den Verspotteten und Verleumdeten schlugen und entkleideten sie; die Teufelskinder drückten eine Dornenkrone in die gesegnete Stirn. Sie nagelten Krist ans Kreuz, schlugen aufs Eisen, daß das Blut sprang. 50. Wir sollen voll Vertrauen aus tiefstem Herzensgrund allzumal unter Tränen unsern Herrn Jesum anrufen. Ehre sei Dir in wahrer Herrlichkeit, Dein Ruhm sei gesungen von allen Zungen in Ewigkeit mit Sieg und Seligkeit. Deine Ehre und Herrschaft werden nie vergehen. 51. Guter Jesus, Erlöser der Menschen, vollkommener Geber aller Gaben, laß mich ein rühmendes (nun wiederkehrendes) Wort zustande bringen! In Ewigkeit soll mit gefalteten Händen, lobsingend, die ganze Welt in die Knie fallen vor Deinem Angesicht, mein Schöpfer. 52. Ewig denkwürdiges Vorbild wird dies bleiben: der König Himmels und der Erde neigte sein Haupt und war demütig vor jeglichem Knecht, der ihn schlug; der Herr sprach wenig, still stand er mit leuchtendem Antlitz: so befahl er seine Seele in den bitteren Tod um meinetwillen. 53. Sie spien auf ihn mit erhobenem Haupte, Heiden sowohl wie die schändlichen Juden. Die meisten aus Krists Gefolge flohen in diesem Getümmel. Aber einer muß ich gedenken: Gottes Mutter stand da in Tränen. Möge es sein, daß sie sich dereinst auch meiner Angst erbarmt. 54. Die Himmelskönigin, von Gram verzehrt — geneigt, gebeugt, zitternd im Schmerz —, sie trat hinzu, als das Blut in Strömen aus den Wunden über das Kreuz floß; ihre Brust bebte, ihr Herz zitterte, ihr Leib war kraftlos und ihre Seele jammerte, 65

ihre Augen ertranken und wurden dunkel in der Flut der Tränen. 55. Die Stimme des Engels grüßte sie einst, gegrüßt vom Engel ward sie zur Freude geführt. Freudig gebar die Jungfrau den Vater, den Geborenen kleidete sie. Den also Gekleideten ließ sie nie von sich; geführt von der Mutter breitete er die Arme aus, mit ausgebreiteten Armen erlöste er die Menschen, er erlöste uns in seiner Todesqual. 56. Doch nun weinte sie, durchbohrt von des bittersten Schmerzes Schwertern. Ihr Kind, Gott den Herrn, sah sie an den Nägeln hängen. Die Hände schmerzten von den scharfen Stacheln, der Leib hing schlaff. Beide, Mutter und Sohn, wahrhaft Geheiligte, litten Qual um der Menschen Erlösung. 57. Bei Maria selgem Leibe, bei Maria bittren Tränen laß mich teilhaben an Deiner Erlösung, lebendiger Gott und Vater und Heiliger Geist. In Ewigkeit soll mit gefalteten Händen, lobsingend, die ganze Welt in die Knie fallen vor Deinem Angesicht, mein Schöpfer. 58. Die schwarzen Kerle brachten Maria Sohn einen gallebitteren Trank. Jeglichen Hohn und alle Pein erdachten sie — aber das Weltall stöhnte. Bleich ward der Leib, verzerrt die Züge; seine Worte wurden selten, die Kraft verging ihm. Der gepeinigte Jesus gab seinen Geist auf, der Waltende über Himmel und Erde. 59. Das sage ich fürwahr: kein Mensch kann ohne Tränen die Lippen bewegen, mein Jesus, wenn er ergriffenen Herzens liest von Deinen Qualen; denn die ganze Natur schrie bebend auf in Furcht und die Himmel verfinsterten sich, da man Dich Wehrlosen band. Die Erde zitterte in Deinem Tod. 60. Uns ist überliefert, daß bei Jesu Tod der Teufel, der Listenkundige, sich zum Kreuze schlich und spähte, ob nicht doch eine Spur von Sünde zu finden sei. Aber, o Freude: hier ward ihm sein Vorwitz zur Schande; nichts mehr hat nun der elende Drache, da er nach dem Köder schnappte, an der Angel zu erwarten. 66

Höllenfahrt 61. Die Eisenpforten der Hölle beben alle, die Finsternis wundert sich, daß das Licht siegt. Die Teufel rennen und suchen Rettung, Ungeheures haben sie zu melden. Entsetzen flog durch das Reich des Todes. Heilige Männer, die in Fesseln lagen, mußte der Teufel — geschlagen war er — freigeben, da es die Allmacht befahl. 62. Was begab sich? Erlöst ist die Menschheit! — Wie das? Durch Jesu Leiden! — Was begab sich? Geschlagen ist der Teufel! — Wer war Sieger? Der Schöpfer der Menschen! — Was begab sich? Heilige steigen . . . — Wohin? Auf die Ehrensitze! — Was begab sich? Der Himmel steht offen! — Wem? Uns, die das Kreuz preisen! 63. Gesegnetes Licht, o süßer Jesus, der Du den Toten das Leben schenkst, führe auch mich aus dem Reich des Teufels, milder König, und laß mich bei Dir sein. In Ewigkeit soll mit gefalteten Händen, lobsingend, die ganze Welt in die Knie fallen vor Deinem Angesicht, mein Schöpfer. 64. Ich weiß niemanden, der zulänglich — selbst wenn er alle Wortkunst aufböte — die erfüllte Freude schildern könnte, die der alte Adam erlebte bei der Ankunft Jesu. Denn Adam allein war es ja, der seine Kinder in den Tod gegeben hatte durch seine Sünde; aber nun erlöste eines von seinen Kindern sie alle aus der Verdammnis und gewährte ihnen Gnade. 65. Warum trachtetest Du, altböser Feind und Ehrenloser, nach dem Tode Jesu? Glaubtest Du etwa stärker zu sein? Sähest Du nicht seine Gottheitskraft? Täuschte Dich seine Menschengestalt? Den Leib empfing er von einer mächtigen Frau. Die Menschen peinigten den Schuldlosen. Der Makelloseste verdiente keine Strafe. 66. D u verdarbest die arme Eva, Eva dann ihren Mann mit der verbotenen Frucht; der verdarb dann alle Geschlechter, diese Geschlechter verdammten dann Krist, da sie ihn mit dem Speer durchbohrten. Krist aber verdammte Dich, der Du als erster, lüstern auf Vernichtung, den Trug übtest. So bog sich der Untat krummes Schwert zurück in Deinen eigenen Rachen. 67

Auferstehung

und Gericht

67. Mit Sieg erhob sich dann an einem Sonntag der Gnadenherr vom Tode und offenbarte vor vielen Menschen seine Unsterblichkeit, er, der sich doch selbst in den Tod gegeben hatte. Vierzig Tage gingen ins Land, ehe er seinen Leib, den er von der Mutter empfing, in die himmlischen Höhen hob. 68. Nach sieben Wochen und einem Tage sandte er seinen Jüngern hernieder den allerreinsten Heiligen Geist. Prächtig sitzt er zur rechten H a n d Gottes in wahrer Herrlichkeit. Er breitet seine Arme aus und lädt die Menschen ein in die himmlische Freude. 69. Sohn Maria, um Deiner Gnade und um Deines Erdenwandels willen gedenke meiner, mein Herr, in Deinem Reich. In Ewigkeit soll mit gefalteten Händen, lobsingend, die ganze Welt in die Knie fallen vor Deinem Angesicht, mein Schöpfer. 70. Einmal wird er noch wiederkommen, der allwaltende König im Glanz seiner Ehren, um die Taten der Menschen zu lohnen beim letzten Gericht. Dann rast Feuer mit heißer Lohe über die Erde; nichts in der Welt bleibt unverbrannt, hinauf bis in die Wolken und nieder bis in den letzten Grund. 71. Vor den Auferstandenen aller Welt wird Jesus dann bei dem schrecklichen Gericht seine schmerzlichen Wunden und die Marterwerkzeuge zeigen. Eines jeglichen Worte, Gedanken und Taten liegen dann offen. Flüche und Eide sind dann nutzlos, Bestechungsgaben ganz unmöglich. 72. Bei diesem Gericht gibts keine Wortschwalle und keine kluge Verteidigung, wenn auf das Wort des Herrn die Menschen in zwei Scharen geteilt werden; die eine hebt er mit höchster Ehre über die äußerste Sphäre hinaus, die andere stürzt er in Elend und Jammer, mitten in das Teufelsreich. 73. Die Verdammten versinken im Tode, nieder zu den Flammen; dort ist Zähneknirschen in Stank und Frost, die Teufel stehen im Kreise umher. Strafe und Spott folgen den Sünden, grimmiger Kummer in Finsternis und Schrecken. Es gibt keine Hoffnung auf Ende der Pein. Die N o t ist ewig. Es lebt nur

der Tod. 68

74. Aber ein jeder wird Freude finden, den der Herr mit höchster Ehre in seine Herrlichkeit entbietet; denn die Heimgeführten werden jung und froh, frei und schön, gesund und kräftig, weise und leuchtend. Ein hohes Fest wird ihnen mit Ehren gegeben in alle Ewigkeit. Gebet und

Lobgesang

75. Die Tränen strömen, die Zunge schweigt, die Stimme versagt, die drängende Seele macht den Leib beben. So bete ich in Furcht: Hilf mir, Herr! In Ewigkeit soll mit gefalteten Händen, lobsingend, die ganze Welt in die Knie fallen vor Deinem Angesicht, mein Schöpfer. 76. Zwei Dinge fürchte ich: das Gericht und den Tod. Da stirbt so mancher, den keiner birgt. Mein eigenes sündiges Leben — ich weiß es — führt mich in den Zorn des Herrn. Da brennt die Brust und ängstigt sich im Sündenpfuhl vor Strafe. N u r weniges bleibt, was für mich zeugt. 77. Oft wurde meine arme Seele vom Sturm des Übermuts verwüstet, oft versank sie, schwarz und häßlich, im Gift des Neides. Zorngalle ließ mein Inneres wie Geschwüre schwellen. Mißmut riß des Herzens Stärke in Verfinsterung. 78. Oft hat sich die Kälte der Gier im Unwetter der Laster meiner Brust bemächtigt. Um sich fressende Gier grub sich mit allen Widerhaken der Sünden ein. Gräßlich wird mit blinder Schmeichelei das Fleisch verführt zum Tode. All dies macht, daß ich nicht ohne Furcht sein kann, wenngleich die Gnade uns tröstet. 79. Vergib mir, süßer Vater, vergib mir! Worte, Gedanken und böse Taten will ich in tiefer Demut beweinen und dem ewigen Tod entgehen. Drum kniee ich nun zu Deinen Füßen, bedrängt und gequält von all meinen Sünden. Unter Tränen und in Furcht dränge ich mich zu Deiner Gnade, der rettenden in meiner Not. 80. Ich sehne mich, o süßer Jesus, nach Vergebung meiner Sünden, auf daß ich begreife, wie sie gleich Drachengift um mein Herz liegen. Sende mir die Gabe des siebenfältigen Geistes, der meine Seele aus der Verdammnis lösen möge, auf daß ich Deiner Ehre dienen kann, Du Blume Maria. 69

81. Laß mich niemals los, Krist, im Wettersturm der Sünden! Züchtige und strafe meine entflammte Brust mit Gnadenstrenge, so daß ich weinend, strahlender Vater, zu Deinen Füßen liege, jedesmal, wenn ich der Sünden bittere Kälte in mir spüre. 82. Nun bitte ich um Deiner Mutter sanftes Gebet und herrliche Hilfe, Krist, voll Vertrauen auf Deine Gnade, die den Verlorenen hilft. Peinige mich, ehe der Tod mich trifft, mein Herr, mit Qual und Krankheit, auf daß ich dafür später um so weniger zu leiden habe unter den bitteren Waffen des Teufels. 83. Der Du das Leben bist, löse meine Verdammnis, wenn dies Leben endet, um meiner wahren Angst willen; gib, daß ich mit der heiligen Ölung eingehe in Deine Gnade. Gib meinem Herzen das reine Fleisch und Blut, das Du von der Mutter empfingest, auf daß ich zur Reise gerüstet bin, wenn die Seele die Leibesbande verlassen darf. 84. Ich fürchte, daß mein Gewissen vor Schmerzen brennen wird bis zum Grunde, ganz und gar zerrissen, wenn die Sünden ihr Eigentum an meinem Herzen fordern. Des Teufels schwarze Scharen steigen herauf mit Gebrüll, bereit, mich zu verbrennen und zu zerreißen, zu beißen, zu zerschmettern und zu zerfetzen. 85. Willst Du wirklich, Du teurer Herr, zulassen, daß der Teufel Scharen meine Seele verwunden und peinigen, willst Du Deine Hilfe versagen, Sohn Maria? Mit Deinem heißen und roten Herzblut hast Du mich erlöst, und deshalb wage ich das Vertrauen, Jesus, auf Deine Liebe, der Du uns alle vom Tode zum Leben rufst. 86. Höre mich, Du Gefäß aller Tugenden Himmels und der Erde, höchste Königin der Menschen und Engel, Mutter Gottes, Du Segen der Völker! Wenn ich in große Not gerate, sei Du meiner Seele nahe, hülle sie in Deine Barmherzigkeit, Du bist meine Hoffnung, die uns Menschen hilft. 87. Maria, Königin, laß die Milch Deiner Brüste fließen vor Deinem Sohn! Sohn Maria, zeige dem Vater die blutigen Wunden, von Nägeln zerrissen! Dies hoffe ich: daß keine Pein Euern Knecht überwältigen darf, da die sanftesten Zeichen der Barmherzigkeit im Himmel erscheinen. 70

88. Tritt Du, die Du den Herrn gebarest, vor Dein leuchtendes Kind, bitte, daß jeder Erbarmen finde und Erlaß der Sünden. Sprich Du mit Deinem sanften Mund die Fürbitte für unsere Seelen, Maria, teuerste Mutter Jesu, und laß mich nicht vergessen sein. 89. Du bist der Keuschheit reine Taube, Gottes Tochter und Wunderbalsam, Weg des Segens und Himmelsstrahl, Edelstein der Bräute und Königin der Himmel, Herberge Gottes und Vergessen der Not, Nahrung der Freude, Vernichterin des Lasters, Brunnen der Barmherzigkeit und Leben der Menschen, gepriesene Jungfrau, Du, höher als die Engel! 90. Vor allen Frauen verdienst Du unsere Liebe, Berühmteste um Deiner Demut willen; Du hilfst uns von den Sünden fort, gesegnete Magd, Du bist dem Herrn am liebsten. Du bist die warme Wohnung des Heiligen Geistes und geschmückt mit allen guten Taten. Nichts weißt Du Sündenlose von Schwachheit und Schuld. 91. Maria, Du bist die reinste Mutter — Maria, Du lebst in der höchsten Ehre — Maria, die liebste um Deiner Gnaden willen — Maria, löse uns von der Sündennot — Maria, sieh auf unsere Sünden — Maria, sieh gütig auf unsere Tränen — Maria, heile unser Übel — Maria, salbe unsre Wunden! 92. Wenn ein Dichter — und sänge er noch so süß und hätte er auch die größte Kunst — in einem Lied Deine Ehre nach Verdienst preisen wollte, so gliche er einem Mann, der verirrt von einem Weg zum andern stürzt und taumelt, sich eingeschlossen sieht und keinen Pfad aus dem Labyrinth findet. 93. Selbst wenn aller Menschen Leiber zu lauter Zungen würden, dazu noch die Winde, Blitz und grüne Flur, duftende Kräuter, Staub und Sand, Hagel und Schnee, Vogel und Fisch, alle Tiere, Wald und Feld, Haar und Korn und die leuchtenden Sterne, Tropfen und Funken, 94. Baum und Stein und Stätten und Straßen, Saiten und Himmel, Luft und Engel, Schlangenscharen und leuchtende Äcker, Pflanzen, Erz und laubreiche Palmen selbst wenn alle diese Dinge nicht einen Augenblick schwiegen, sie würden 71

INHALT Einleitung

5

Bruchstücke aus den ersten Jahren der Bekehrung

11

Bruchstücke aus dem 12. Jahrhundert

16

Einar Skulason: Preislied auf den heiligen Olaf

20

Bruder Gamli: Die Sorgensonne

30

Anonym: Wegweisung oder der Himmelsbrief

38

Anonym: Das Sonnenlied

45

Eystein Asgrimsson: Die Lilie. Ein Marienpreis aus dem 14. Jahrhundert

56

Literatur

73

Palaestra Untersuchungen aus der deutschen und englischen Philologie Herausgegeben tan WolfgangKayser, HansNeumann, Ulrich PreisetundErmt

Theodor Sebrt

Diese von dem Berliner Germanisten Erich Schmidt und dem Berliner Anglisten Alois Brandl begründete Schriftenreihe, die früher in Leipzig erschien, hat seit jeher einen besonderen Ruf. Zahlreiche Arbeiten führender Anglisten und Germanisten unserer Zeit sind in dieser Reihe erschienen.

Band 222 WOLFGANG LANGE

Studien zur christlichen Dichtung der Nordgermanen 1000—1200 303 Seilen, broscb. etwa 30,— DM Lange sammelt im ersten Teil seines Buches die christliche Dichtung von 1000—1200, ordnet, kommentiert, interpretiert und versucht im zweiten Teil eine Übersicht auf breitestem Raum, wobei auch die nicht-dichtetischen Zeugnisse berücksichtigt werden. Ein frühes Christentum eigentümlicher Prägung und eine ganz neue Auflassung vom Dichten und dem Dichter selbst zeichnen sich bei der Darstellung ab. Die Arbeit bringt überraschende Gesichtspunkte in das Geschichtsbild vom Mittelalter.

Band 224 ARNDT RUPRECHT

Die ausgehende Wikingerzeit im Lichte der Runeninschriften Etwa 196 Seilen, broscb. etwa 19,80 DM Dieser wichtige Zeitabschnitt von rund hundert Jahren, in dem sich der Übergang Skandinaviens von der germanischen Frühzeit zum Mittelalter vollzog, wird hier unter umfassender Berücksichtigung der neueren philologischen, historischen und archäologischen Forschung und besonders der skandinavischen Arbeiten dargeboten. Dabei haben die Runeninschriften als nahezu einzige ereignisnahe Quellen des Nordens besondere Bedeutung. In erster Linie wird auf Ereignisse der Politik, des Handels, der Kriegsfahrten und der Mission, die sich in den Inschriften widerspiegeln, Gewicht gelegt.

VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N U N D ZÜRICH

DIE KLEINE VANDENHOECK-REIHE Jeder Band in der gleichen Geschenkausstattung 2,40 DM, Doppelband 3,60 DM 1 2 3 4 5 6/7 8 9 10 11 12/13 14 15 16 17 18 19 20 21 22/23 24/25 26 27 28/29 30 31

Carl Friedrich von Weizsäcker Die Geschichte der Natur Karl Barth Mensch und Mitmensch Nicolai Hartmann Philosophische Gespräche Gustav Padbruch Kleines Rechtsbrevier Leopold von Ranke Die großen Mächte. Politisches Gespräch Julius von Parkas Sttdosteuropa Viktor von Weizsäcker Menschenführung Herbert Schöffler Kleine Geographie des deutschen Witzes Bruno Snell Neun Tage Latein Heinrich von Treitschke Das deutsche Ordensland Preußen Fritf Rörig Die europäische Stadt im Mittelalter und die Kultur des Bürgertums Arthur Stanley Eddmgton Sterne und Atome Viktor von Weizsäcker Soziale Krankheit und soziale Gesundung Sören Kierkegaard Christliche Reden Heinz-Horst Schrey Weltbild und Glaube im 20. Jahrhundert Karl Kerinyi Umgang mit Göttlichem Erich Preiser Die Zukunlt unserer Wirtschaftsordnung Gustav Radbruch Der Geist des englischen Rechts Johann Nepomuk David Die Jupiter-Symphonie Wallher Küly Wandlungen des lyrischen Bildes Paul Joachimsen Vom deutschen Volk zum deutschen Staat Herbert Schöffltr Lichtenberg Hermann Heimpel Kapitulation vor der Geschichte? Theodor W. Adorno Dissonanzen Karl Löaith Wissen, Glaube und Skepsis Eberhard Buchwald Bildung durch Physik

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Julius Schniewind Die Freude der Buße Holger V. Broendsted Das Atomzeitalter und unsere biologische Zukunft Johann Nepomuk David Die zweistimmigen Inventionen von Johann Sebastian Bach Sonderband 4,80 DM Friedrich Co garten

Was ist Christentum? Ulrich Ebbecke Wirklichkeit und Täuschung 38 John 0. McCormick Amerikanische Lyrik der letzten 50 Jahre 40 Ernst Beutler Wiederholte Spiegelungen Drei Essays über Goethe 41 Gustav Radbruch Karikaturen der Justiz Mit 27 Lithographien von Honor£ Daumier 42 Carl Friedrich von Weissäcker Die Verantwortung der Wissenschaft im Atomzeitalter 43 C. Fr. von Weizsäcker / / . Juilfs. Physik der Gegenwart 44 Erich Thier Das Menschenbild des jungen Marx 45 Frank E. Adcock Cisar als Schriftsteller 46/47 Friedrich Meinecke DasZeitalter der deutschenErhebung 48 Karl Barth Weihnacht 49 Rudolf Stephan Musik der Gegenwart 50 Martin Doerne Gott und Mensch in Dostojewskijs Werk 51/52 Gustav Radbruch Der Mensch im Recht 53 Maximilian Braun Der Kampf um die Wirklichkeit in der russischen Literatur 54 Wolfgang Lange Christliche Skaldendichtung 55 Herman Nohl Erziehergestalten 56 Goethe über den Faust Herausgg. von Alfred Dieck mit einem Vorwort von Kurt Schreinert 57 Richard Alevtyn Über Hugo von Hofmannsthal Sanderbind 4,80 OH 58 Joachim Leuschner Der Stil der deutschen Außenpolitik 1938 36

V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N UND Z Ü R I C H