Christliche Mystik [1 ed.] 9783788732721, 9783788731649, 9783788731632

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Christliche Mystik [1 ed.]
 9783788732721, 9783788731649, 9783788731632

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Theologische Bibliothek Herausgegeben von Christoph Auffarth / Irene Dingel / Bernd Janowski / Friedrich Schweitzer / Christoph Schwöbel und Michael Wolter

Band IV Wolf-Friedrich Schäufele Christliche Mystik

Wolf-Friedrich Schäufele

Christliche Mystik

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978–3–7887–3164–9 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath

Vorwort

Mystik erfreut sich eines anhaltenden Interesses. Viele Menschen verbinden damit die Verheißung authentischer religiöser Erfahrung in einer zeitgemäßen, nicht durch dogmatische Vorgaben eingeengten Gestalt. Doch die konkreten Vorstellungen, die sich in der Öffentlichkeit mit dem Thema verbinden, sind vage, und nicht selten wird Mystik vor allem als Thema fernöstlicher Religionen oder esoterischer Heilslehren wahrgenommen. Tatsächlich handelt es sich aber um eine bedeutende, zu Unrecht vielfach in Vergessenheit geratene Tradition der Christentumsgeschichte. Dieser Band der Reihe „Theologische Bibliothek“ bietet eine Einführung in die Geschichte der christlichen Mystik von den biblischen Anfängen bis zur Gegenwart. Er will dazu einladen, die uns Heutigen fremd gewordene Tradition mystischer Frömmigkeit und ihre Reichtümer neu zu entdecken. Vollständigkeit war nicht zu erreichen und wurde nicht erstrebt. Nicht alle Personen, Quellentexte und Themen, die in Betracht kämen, wurden aufgenommen. Statt dessen wurde versucht, grundlegende Orientierung zu geben und die großen Entwicklungslinien hervortreten zu lassen. Mit der Vorstellung der wichtigsten Persönlichkeiten und ihrer Werke und zentraler Vorstellungen und Sprachformen der Mystik soll der für eine vertiefte Beschäftigung mit der Thematik notwendige Verstehenshorizont geschaffen werden. Die Literatur zum Verständnis und zur Geschichte der Mystik ist auch für Fachleute nicht mehr überschaubar. Das Literaturverzeichnis im Anhang ver-

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Vorwort

zeichnet trotz seines Umfangs nur eine kleine Auswahl von Titeln, wobei vorzugsweise deutschsprachige Sekundärliteratur angegeben wird. Für Quellenschriften werden durchweg nur Ausgaben in deutscher Übersetzung nachgewiesen. Zur weiterführenden Vertiefung seien vor allem die unvollendete „Geschichte der abendländischen Mystik“ von Kurt Ruh in vier Bänden sowie die auf sieben Bände angelegte Gesamtdarstellung „Die Mystik im Abendland“ von Bernard McGinn, von der bislang fünf Bände vorliegen, empfohlen; auf beide wird in den Anmerkungen durchgehend verwiesen. Zu danken habe ich dem Herausgebergremium der Reihe „Theologische Bibliothek“, insbesondere Frau Direktorin Dr. Irene Dingel vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz, Herrn Prof. Dr. Dr. Christoph Auffarth (Bremen) und Herrn Prof. Dr. Michael Wolter (Bonn), für das mir entgegengebrachte Vertrauen und wertvolle Hinweise und Herrn Ekkehard Starke für die Betreuung im Lektorat. Meine Frau, Pfarrerin Ulla Schäufele, hat die Entstehung des Manuskripts in allen Phasen mit kritischem Rat begleitet. Meinem Kollegen Prof. Dr. Karl Pinggéra danke ich für die Durchsicht des Kapitels zur ostkirchlichen Mystik. Marburg, August 2017

Wolf-Friedrich Schäufele

Inhalt

Vorwort ....................................................................... 5 I. Einleitung: Was ist Mystik? ................................. 10 1. Große Erwartungen ........................................ 10 2. Wunsch und Wirklichkeit ............................... 13 3. Was ist Mystik? Versuch einer Definition ....... 20 4. Eine kleine Typologie der christlichen Mystik ............................................................. 26 5. Die Aufgabe ..................................................... 30

II. Platon in der Wüste: Die altkirchliche Mystik..... 33 1. Biblische Anknüpfungspunkte der christlichen Mystik .......................................... 33 a) Die „Mystik des Apostels Paulus“ ............... 34 b) Einheit in der Liebe: Das johanneische Christentum................... 36 c) Weitere biblische Bezugspunkte ................. 37 2. Aufstieg zur Schau: Von Platon zum Neuplatonismus .................... 40 a) „Hellenisierung des Christentums“? Die Christen und die Philosophie ............... 40 b) Von den Mysterien zu Platon ..................... 42 c) Der Neuplatonismus ................................... 44 3. Christlicher Platonismus: Origenes ................. 46 4. Gregor von Nyssa ............................................ 51 5. Das Mönchtum ................................................ 54 6. Evagrius Ponticus ............................................ 56 7. (Pseudo-)Dionysius Areopagita ....................... 58 8. Augustinus ...................................................... 66

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Inhalt

III. Mönche und Seelenführer: Mystik und Hesychasmus im christlichen Osten ................................................................... 76 1. Johannes Climacus ......................................... 77 2. Symeon – der Neue Theologe ......................... 80 3. Gregor Palamas und der byzantinische Hesychasmus................................................... 83 4. Neohesychasmus und russisches Starzentum. 89 IV. Die westliche Mystik im Frühmittelalter............. 95 1. Gregor der Große ............................................ 96 2. Johannes Scotus Eriugena .............................. 98 V. Ordnung der Liebe: Der Neuaufbruch der westlichen Mystik im 12. Jahrhundert ................................................. 102 1. Mystik und monastische Theologie: Die Zisterzienser ............................................ 105 a) Bernhard von Clairvaux .......................... 105 b) Wilhelm von Saint-Thierry ...................... 112 2. Mystik und scholastische Theologie: Die Viktoriner................................................ 115 a) Hugo von St. Viktor ................................. 116 b) Richard von St. Viktor.............................. 119 c) Thomas Gallus .......................................... 123 VI. Frauenmystik .................................................... 125 1. Hildegard von Bingen ................................... 127 2. Die religiöse Frauenbewegung und die Mystik ........................................................... 131 3. Beatrijs von Nazareth und Hadewijch von Antwerpen ............................................. 136 4. Mechthild von Magdeburg ........................... 139 5. Die Mystikerinnen von Helfta ...................... 143 6. Marguerite Porete und die Brüder und Schwestern des freien Geistes ....................... 146

Inhalt

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VII. Die Mystik der Franziskaner ........................... 151 VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik ................. 159 1. Die Mystik der Dominikanerinnen ............. 159 2. Die spekulative Mystik Meister Eckharts .... 162 3. Heinrich Seuse............................................. 173 4. Johannes Tauler und die Gottesfreunde ..... 178 5. „Der Frankfurter“ („Theologia Deutsch“) . 184 IX. Europäische Mystik im Spätmittelalter ............ 188 1. Die Niederlande ........................................... 188 2. Italien .......................................................... 195 3. England ....................................................... 198 X.

Die katholische Mystik in der Frühen Neuzeit ........................................................... 204 1. Die Mystik im Zeichen der Katholischen Reform ......................................................... 205 2. Der Quietismus und die Krise der Mystik ... 213

XI. Protestantische Mystik in der Frühen Neuzeit ............................................................. 218 1. Luther und die Mystik................................. 219 2. Radikale und Dissidenten ............................ 222 3. Lutherische Orthodoxie und Pietismus ....... 228 XII. Die Mystik in der westlichen Moderne ............ 237 Literatur .................................................................. 244 Quellen ............................................................ 244 Sekundärliteratur ............................................ 246

I. Einleitung: Was ist Mystik?

Am Anfang steht ein doppelter, scheinbar paradoxer Befund. Einerseits gilt: Mystik ist attraktiv. Auf dem bunten Marktplatz religiöser und weltanschaulicher Sinnangebote behauptet sie erfolgreich ihren Platz. Viele Menschen begegnen ihr mit hohen Erwartungen. Andererseits weiß niemand mit letzter Sicherheit zu sagen, was Mystik überhaupt sei. Weder gibt es eine allgemein akzeptierte Definition in der Forschung noch gibt es einen einheitlichen Sprachgebrauch im Alltag. Vielleicht hat die Attraktivität der Mystik gerade mit dieser inhaltlichen Unbestimmtheit zu tun. So kann „Mystik“ als Sehnsuchtsziel und Projektionsfläche vielfältiger Wünsche und als Gegenbild zu traditionellen Formen von Religion dienen. Es bietet sich an, mit einem Blick auf die Erwartungen einzusetzen, die dem Phänomen „Mystik“ heute entgegengebracht werden. Dabei wird sich zeigen, welchen dieser Erwartungen Mystik gerecht werden kann und welchen nicht. Auf diese Weise werden wir uns zugleich einer Definition des Begriffs annähern. Von dort aus wird sich dann ergeben, was genau in diesem Buch zu verhandeln sein wird und welche methodischen Zugänge zu wählen sind.

1. Große Erwartungen Menschen suchen heute einerseits nach authentischer religiöser Erfahrung und andererseits nach einer solchen religiösen Erfahrung, die nicht in herkömmlicher Weise institutionell oder dogmatisch gebunden

1. Große Erwartungen

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ist. Beide Aspekte sollen im Folgenden kurz entfaltet werden. 1. In dem aktuellen Interesse an Mystik äußert sich ein Verlangen nach authentischer religiöser Erfahrung. Wie sich gezeigt hat, sind die vermeintlich wohlfeilen Prophezeiungen von einem Ende der Religion nicht in Erfüllung gegangen. Nicht nur, dass sich Religionen wie der Islam oder in Afrika und Südamerika das Christentum als durchaus vital erweisen – auch in den säkularisierten Gesellschaften der westlichen Moderne halten sich religiöse Bedürfnisse durch, selbst wenn sie sich nicht mehr auf traditionelle Weise äußern oder in neuen, auf den ersten Blick nicht religiös codierten Formen auftreten. Diese Persistenz religiöser Bedürfnisse ist an sich nicht verwunderlich. Denn das Verlangen nach Sinngebung und Deutung des eigenen Daseins gehört zum Menschsein hinzu. Dass sich solche religiösen Bedürfnisse speziell auf religiöse Erfahrung richten, scheint sich von selbst zu verstehen. Tatsächlich ist diese Einsicht aber gerade im Protestantismus alles andere als selbstverständlich. Lange Zeit definierte man hier das Christentum in erster Linie als ein Wissen – als die Kenntnis geoffenbarter übernatürlicher Glaubenswahrheiten – oder als ein Handeln – eine bestimmte, von religiösen Normen bestimmte ethische Lebenshaltung. Dass das Wesen und die Plausibilität von Religion in Wirklichkeit in Gefühl und Erfahrung gründen, ist eine Einsicht, die erst vor zweihundert Jahren der protestantische „Kirchenvater des 19. Jahrhunderts“ Friedrich Schleiermacher (1768–1834) formuliert hat – und die vor gerade erst einem halben Jahrhundert neu errungen werden musste, nachdem unter dem beherrschenden Einfluss der sogenannten „Dialektischen Theologie“ Karl Barths religiöse Erfahrung wieder jahrzehntelang verpönt gewesen war. Im Zeitalter des (post-)modernen Individualismus und Subjektivismus braucht

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I. Einleitung: Was ist Mystik?

Religion die persönliche Überzeugung und die persönliche Erfahrung. Diese Überzeugung steht hinter dem viel zitierten Diktum Karl Rahners (1904–1984), eines der bedeutendsten katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts, der 1966, ganz im Geist des religiösen Aufbruchs des Zweiten Vatikanischen Konzils, formulierte: „Der Fromme von morgen wird ein ‚Mystiker‘ sein, einer, der etwas ‚erfahren‘ hat, oder er wird nicht mehr sein …“.1 Dabei meint „Mystik“ für Rahner nicht mehr als „eine echte, aus der Mitte der Existenz kommende Erfahrung Gottes“.2 2. Angesichts der dramatischen Traditionsabbrüche im verfassten Christentum finden heute immer weniger Menschen religiöse Sinngebung und authentische Gotteserfahrung in den traditionellen Frömmigkeitsformen. Die Suche nach authentischer religiöser Erfahrung richtet sich daher vielfach auf alternative religiös-weltanschauliche Angebote, auf fernöstliche oder esoterische Traditionen, Meditationstechniken, Achtsamkeitsübungen oder eben auf „Mystik“. Für viele Zeitgenossen verbindet sich damit die Verheißung einer konsequent individualistischen, durch keinerlei dogmatische oder moralische Vorgaben eingeengten, transkonfessionellen, ja womöglich transreligiösen Spiritualität, die das Gute in jeder Konfession und Religion anerkennt und integriert. „Mystik“ wird so zum Inbegriff einer modernen, zeitgemäßen Religiosität. Diesen Aspekt hat bereits vor hundert Jahren der bedeutende evangelische Theologe und Religionsphilosoph Ernst Troeltsch (1865–1923) hervorgehoben: Allein die „Mystik“ – so wie er sie verstand: als „radikaler religiöser Individualismus“ , im Unterschied zu den fester gefügten religiösen Sozialgestalten der „Kirche“ und der „Sekte“ – sei unter den Bedingun1 Rahner, Frömmigkeit früher und heute, 22. Vgl. Haas, Mystik als Aussage, 79–81. 2 Rahner, Zur Theologie der Pfarrseelsorge, 161.

2. Wunsch und Wirklichkeit

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gen des modernen, naturwissenschaftlich bestimmten Denkens noch in der Lage, für die Gebildeten eine „Brücke zum Christentum“ zu schlagen; sie sei mittlerweile „die heimliche Religion der Gebildeten“.3 Mit dem Vorverständnis von Mystik als einer individualistischen, undogmatischen und konfessionelle und religiöse Grenzen überschreitenden Religiosität gehen oft zwei weitere Erwartungen einher. Das ist zum einen die Erwartung, hier eine Religiosität zu finden, die nicht rational, sondern affektiv bestimmt ist, also nicht zuerst die Vernunft, sondern das Gefühl anspricht und auch Raum für das Irrationale und „Mysteriöse“ lässt. Wirklich hat Rudolf Otto (1869– 1937), einer der großen evangelischen Theologen und Religionswissenschaftler des frühen 20. Jahrhunderts, Mystik gerade so verstanden: Mystik ist „Religion … mit einseitigem Überwiegen ihrer irrationalen Momente bei gleichzeitiger Überspannung derselben ins Überschwängliche“.4 Eng verwandt damit ist eine zweite Erwartung – nämlich die, dass mystische Religiosität eine Religion „ohne Worte“ sei, eine Frömmigkeit, die nicht auf Sprache ziele, sondern sich vorrangig in Bildern äußere. Mystiker aller Zeiten haben immer wieder betont, dass sich das Zentrum ihrer religiösen Erfahrung nicht adäquat sprachlich ausdrücken und mitteilen lasse. So versprechen sich viele heute von der Mystik in einer von Rationalismus und Geschwätzigkeit beherrschten Welt ein Reservat der Affektivität und der Stille. 2. Wunsch und Wirklichkeit Wie realistisch sind diese Erwartungen? Die Antwort wird differenziert ausfallen müssen. Wirklich hat Mys3 4

Troeltsch, Soziallehren, 926, 930. Otto, Das Heilige, 106, Anm. 1.

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I. Einleitung: Was ist Mystik?

tik es in eminenter Weise mit religiöser Erfahrung zu tun. Ja, Mystik ist in ihrem Kern in gewisser Weise nichts anderes als religiöse Erfahrung. Eben dies besagt die berühmte Formel des großen Franziskanertheologen Bonaventura (1221–1274), der von einer „cognitio Dei quasi experimentalis“, „einer sozusagen auf Erfahrung gegründeten Gotteserkenntnis“ sprach.5 So sehr die Definitionen von Mystik voneinander abweichen – der zentrale Aspekt der Erfahrung fehlt in keiner Wesensbestimmung des gemeinten Phänomens. Es scheint demnach, dass das Verlangen nach authentischer religiöser Erfahrung bei der Mystik an der „richtigen Adresse“ ist. Wie aber verhält sich die religiöse Erfahrung, um der es den Mystikern geht, zu jenen anderen Formen religiöser Erfahrung, die sich immer schon in Gottesdienst, Bibellektüre oder Gebet einstellen können? Wie verhält sich Mystik zu „normaler“ christlicher Frömmigkeit? Wie so viele andere Fragen ist auch diese unter den Fachleuten umstritten. Allerdings zeichnet sich ein gewisser Konsens dahingehend ab, dass Mystik nicht etwa nur eine quantitativ gesteigerte Spielart der Gemeindefrömmigkeit ist, sondern es mit einer erkennbar anderen Art von religiöser Erfahrung zu tun hat, die häufig als „direkt“ oder „unmittelbar“ qualifiziert wird. Wenn sich also das Verlangen nach religiöser Erfahrung heute so ausdrücklich auf „Mystik“ richtet, kann man darin so etwas wie eine Überkompensation sehen. Eine Einübung in die einfachen Formen christlicher Frömmigkeit – ins Bibellesen, ins Gebet, in die gottesdienstliche Feier – würde womöglich bereits genau das leisten, was viele Interessenten suchen.

5

Nachweise bei Grünewald, Franziskanische Mystik, 84, Anm. 185.

2. Wunsch und Wirklichkeit

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Es könnte indessen sein, dass durch die Beschäftigung mit der Mystik dasselbe Ziel schneller und auf zeitgemäßere Weise zu erreichen wäre. Freilich würde das voraussetzen, dass der Weg der Mystik allen Menschen praktisch offensteht, dass also die Mystik mit ihrer Verheißung einer qualitativ anderen Art religiöser Erfahrung nicht bloß ein Elitenphänomen darstellt. Auch damit berühren wir wieder einen in der Geschichte und in der Forschung umstrittenen Punkt. Das oben angeführte Zitat von Karl Rahner versteht „Mystik“ ganz klar als eine allgemeinmenschliche Option, ja als eine jedem Menschen notwendige Voraussetzung des Glaubens. Die ältere katholische Theologie hatte in diesem Punkt anders gedacht und Mystik vor allem mit spirituellen Spitzenphänomenen wie Visionen, Prophetien und Ekstasen in Verbindung gebracht, die nur wenigen herausragenden Persönlichkeiten – meistens Ordensleuten – zuteil wurden. Letztlich hängt die Antwort auf diese Frage davon ab, was genau man unter Mystik versteht. Es spricht aber einiges dafür, dass mystische Frömmigkeit in ihren Höhen für die meisten Menschen nicht persönlich erlebbar sein wird. Doch auch ohne eigene Spitzenerlebnisse ist die Beschäftigung mit der Mystik und ihren Zeugnissen für „gewöhnliche“ Gläubige alles andere als sinnlos. Christliche Mystik ist nicht esoterisch, ihre Zeugnisse sind prinzipiell allen Gläubigen zugänglich, sofern man sich auf ihren besonderen Stil einlässt. Die Auseinandersetzung mit der mystischen Tradition kann daher stärkend und gewissheitsstiftend wirken. Sie gibt Vorbilder und Beispiele religiöser Existenz an die Hand, die zu eigener religiöser Lebenspraxis anleiten und inspirieren können. Die mystagogische Literatur, die zur besonderen mystischen Erfahrung hinführen soll, kann auch in einem allgemeineren Sinne als Anleitung zu einem frommen Leben dienen. Die Be-

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I. Einleitung: Was ist Mystik?

schäftigung mit Mystik kann also zweifellos dem verbreiteten Bedürfnis nach authentischer religiöser Erfahrung entgegenkommen. Wie steht es aber mit der zweiten großen Erwartung an die Mystik, in ihr eine individualistische, undogmatische und überreligiöse, auf das Gefühl statt auf die Vernunft und auf Bilder statt auf Sprache gegründete Frömmigkeit zu finden? Dass die religiöse Erfahrung der Mystiker individuell und Mystik insofern individualistisch ist, trifft natürlich zu. Und in der Religions- und Kirchengeschichte finden sich immer wieder Beispiele dafür, dass mystische Religiosität vom Standpunkt der Institution und des Dogmas aus als bedenklich und gefährlich wahrgenommen wurde. Trotzdem ist es nur begrenzt richtig, dass Mystik undogmatisch und überreligiös, irrational und nonverbal sei. Die Vorstellung einer „universalen Mystik“ hat sich lange Zeit in der Religionswissenschaft großer Beliebtheit erfreut. Dabei nahm man an, dass Mystik so etwas wie ein allgemein-menschliches und allgemeinreligiöses Phänomen sei, das in allen Religionen gleichermaßen möglich und zu finden sei. Eine solche Mystik wäre den Dogmen und Bekenntnissen der konkreten einzelnen Religionen nicht unterworfen, sondern läge ihnen sozusagen voraus, und als eine Art gemeinsamer Wesenskern aller konkreten Religionen wäre sie die naturgegebene Basis für den interreligiösen Dialog. Eine Variante der These von der universalen Mystik bilden Versuche, religiöse oder mystische Erfahrung überhaupt oder wenigstens besondere Spitzenphänomene wie Visionen und Auditionen psychologisch zu erklären. Seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat sich eine regelrechte „Neurotheologie“ etabliert, die religiöse Erfahrungen auf neurophysiologische Vorgänge im Gehirn zurückzuführen

2. Wunsch und Wirklichkeit

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sucht. So wird etwa über erhöhte Aktivitäten im linken Schläfenlappen in Verbindung mit bestimmten Gebets- und Meditationspraktiken berichtet. Die Erschließungskraft solcher Auskünfte ist allerdings gering. Nicht nur, dass bisher nur wenige verifizierte Experimente dieser Art vorliegen: Dass geistige Phänomene ihren Niederschlag in neuronalen Vorgängen finden, ist nicht verwunderlich, und über das Wesen der Phänomene selbst ist damit noch nichts gesagt. Schon gar nicht lässt sich aus den empirischen Befunden ableiten, dass „Gott“ oder „Religion“ nur Epiphänomene physiologischer Vorgänge wären. Doch auch bei den religionswissenschaftlichen Konzepten einer universalen Mystik ist Vorsicht geboten. In der Wirklichkeit kommt so etwas wie „reine Mystik“ oder vor-religiöse Mystik nicht vor. Und es ist sehr fraglich, ob religiöse Erfahrung sozusagen in Reinkultur, also ohne jede vorgängige konzeptuelle, begriffliche oder symbolische Objektivierung überhaupt möglich ist. Denn um religiöse Erfahrung deuten zu können, ja vielleicht auch nur schon, um sie als solche identifizieren zu können, bedarf es eines vorgängigen Deutehorizontes, und diesen entnehmen die Mystiker selbstverständlich ihrer angestammten religiösen Tradition. Zu Recht bemerkt daher Gershom Scholem: „Es gibt nicht Mystik an sich, sondern Mystik von etwas, Mystik einer bestimmten religiösen Form: Mystik des Christentums, Mystik des Islams, Mystik des Judentums und dergleichen.“6 Man könnte sogar noch weiter gehen und fragen, ob man verwandte Phänomene in verschiedenen Religionen alle gleichermaßen als „Mystik“ bezeichnen darf. Der Begriff in seiner heutigen Bedeutung entstammt jedenfalls der christlichen Tradition und wird erst seit dem 19. Jahrhundert von der Religionswissenschaft auch 6

Scholem, Die jüdische Mystik, 6.

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I. Einleitung: Was ist Mystik?

auf andere Religionen angewandt. Tatsächlich scheint hier Vorsicht geboten – ebenso übrigens wie bei der Verwendung eines universalen Begriffs von „Religion“. Was sich mit Sicherheit sagen lässt, ist, dass in verschiedenen Religionen Typen von Frömmigkeit begegnen, die bestimmte strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Im Einzelnen aber ist das, was etwa als christliche, islamische oder jüdische Mystik bezeichnet wird, engstens auf den jeweiligen religiösen Kontext bezogen und von diesem nicht ablösbar. Die Mystiker mögen ihre besondere Erfahrung als eine universale Erfahrung empfinden, die die Grenzen der traditionellen Religion transzendiert – doch sie bleiben letztlich immer deren Sprach- und Bilderwelt und deren Deutungsmustern verhaftet. Rudolf Otto, der selbst von der Existenz transkulturell und transreligiös wirksamer religiöser Urmotive von Mystik überzeugt war, hat dies klar festgehalten: „… nirgends schwebt ‚Mystik‘ frei im Äther. Überall setzt sie auf auf einem gewachsenen Boden gegebener Religion, wölbt sich über diesem und über dieser; und so hoch sie sich wölbe, sie trägt bis zuletzt den besonderen Bodengeschmack und die Bodenfarbe ihres Bodens an sich. Sie mag enden im ‚allgemeinen, weiselosen Sein‘, im ‚Übersein‘, im ‚Nichts‘ und in der ‚Leere‘: solange sie noch Mystik bleibt und nicht Verrücktheit mit Methode ist, solange schmecken diese Nichtse, diese Übersein, diese Leeren noch, und schmecken verschieden“.7 So bleibt auch christliche Mystik immer der allgemeinen christlichen Lehrbildung, ihren Dogmen und Bekenntnissen verhaftet. So sehr die christlichen Mystiker in ihrer Frömmigkeit Individualisten waren, so wenig waren sie doch gewöhnlich Heterodoxe oder Freigeister.

7

Otto, West-östliche Mystik, 194f.

2. Wunsch und Wirklichkeit

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Auch die Vorstellung, dass Mystik per se irrational sei, geht fehl. Das ergibt sich schon aus der oben angeführten Formel von Bonaventura hervor, der von einer „cognitio Dei“, einer „Gotteserkenntnis“ sprach, die, wie der Begriff schon sagt, zweifellos eine kognitive Komponente hat. Das gilt selbst dann, wenn man, wie viele Mystiker, auf dem Weg zur mystischen Gotteserfahrung der Liebe den Vorrang vor der Erkenntnis einräumt. Von Papst Gregor dem Großen (ca. 540– 604) stammt eine in der westlichen Mystik wichtig gewordene Formel, wonach die Liebe selbst Erkenntnis sei (amor ipse notitia est).8 Insofern eignet jeder Mystik auch ein rationales Element. Ebenso wenig kann man sagen, dass mystische Frömmigkeit schlechthin non-verbal sei. Zwar ist es richtig, dass Mystiker regelmäßig betonen, dass sich die eigentliche mystische Spitzenerfahrung nicht angemessen in Worte fassen lässt. Die menschliche Sprache versagt vor der alles übertreffenden Erfahrung der göttlichen Gegenwart. Andererseits aber drängt gerade auch die mystische Erfahrung immer ins Wort, will sich mitteilen und will kommuniziert werden. Das hat tiefere theologische Ursachen; kurz gesagt, liegt es daran, dass nach christlicher Vorstellung Gott-Vater sich durch den Sohn, der zugleich „das Wort“ ist, offenbart. Wie sehr mystische Erfahrung nach Verbalisierung verlangt, lässt sich unschwer an der großen Menge von mystischer Literatur ablesen. Freilich erfordert die Dialektik von Unsagbarkeit und Mitteilungsbedürfnis der mystischen Erfahrung einen besonderen Umgang mit der Sprache, der die Grenzen des Sagbaren transzendiert. Mystische Sprache ist insofern der poetischen Sprache verwandt, häufig ist sie mehr performativ als deskriptiv. Die Bildhaftigkeit mystischer Sprache ist dabei ein zentrales Stilmittel, eine poetische Strategie. 8

Hom. in Ev. 2, 27, 4, 73 (Patrologia Latina 76, 1207A).

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I. Einleitung: Was ist Mystik?

3. Was ist Mystik? Versuch einer Definition Die bislang erreichten Klärungen haben uns einer Definition dessen nahegebracht, was wir unter „Mystik“ verstehen wollen. Wir sagten bereits, dass es eine allgemein anerkannte Mystik-Definition nicht gibt. Es zeichnen sich in der Forschung aber gewisse Tendenzen und Grundlinien ab, an die wir bei unserem eigenen Definitionsversuch positiv oder negativ anknüpfen können. Weshalb ist es so schwierig, eine befriedigende Definition von „Mystik“ zu finden? Drei Gründe lassen sich benennen. Der erste hat mit einer religionsgeschichtlichen Vorentscheidung, der zweite mit der Begriffsgeschichte, der dritte mit der Natur der zu definierenden Sache zu tun. Was den ersten Grund betrifft, so ist damit die Frage berührt, ob man Mystik als ein universales religionsgeschichtliches Phänomen oder als Erscheinungsform einer bestimmten religiösen Tradition (hier: der christlichen) verstehen will. Ein universaler Mystikbegriff muss notwendig weit gefasst und insofern definitorisch unscharf formuliert sein. Denn eine christliche Mystik, die von der Menschwerdung Gottes in Jesus ausgeht, setzt bei allen strukturellen Parallelen natürlich deutlich andere Akzente als eine islamische „Mystik“ oder die „Mystik“ der nicht-theistischen östlichen Religionen. Dieses Buch beschränkt sich auf die christliche Mystik – also auf jene Tradition, aus der der Begriff „Mystik“ stammt und auf die er ursprünglich allein angewendet wurde. Allerdings wird gerade auch die Begriffsgeschichte regelmäßig als Grund für die Schwierigkeit einer Mystik-Definition genannt. In keiner Überblicksdarstellung fehlt der Hinweis, dass das Substantiv „Mystik“ erst spät, im Frankreich des 17. Jahrhunderts, geprägt wurde. Keiner der großen Mystiker der älteren Zeit

3. Was ist Mystik? Versuch einer Definition

21

wusste demnach, dass er „Mystik“ treibe oder „Mystiker“ sei. Freilich war das Adjektiv „mystisch“ (griech. mystikós, lat. mysticus) – in der Grundbedeutung heißt es so viel wie „verborgen“ oder „geheimnisvoll“ und ist mit den Begriffen „Mysterium“ und „mysteriös“ verwandt – schon seit dem Altertum bekannt. Es wurde aber in der christlichen Tradition überwiegend dazu verwendet, den „verborgenen“, „geheimnisvollen“ Tiefensinn der Heiligen Schrift oder die „verborgene“, „geheimnisvolle“ leibliche Gegenwart Christi im Abendmahl zu bezeichnen – also, einer verbreiteten Überzeugung zufolge,9 etwas ganz anderes als das, was wir heute unter „Mystik“ verstehen. Tatsächlich sind die Bedeutungsinhalte so verschieden nicht. Denn die Meditation über den Bibeltext und seine tieferen Sinnebenen und der Empfang des Abendmahls waren klassische Orte „mystischer“ Gotteserfahrung. Und wenn einer der großen Mystiker des Altertums, der sogenannte Pseudo-Dionysius Areopagita, den Terminus einer „mystischen Theologie“ prägte, so bezeichnete dieser durchaus schon Vorstellungen, die für das mit unserem modernen MystikBegriff Gemeinte wichtig werden sollten. Eine dritte Schwierigkeit liegt in der Natur der Sache selbst. Denn wenn nach dem übereinstimmenden Zeugnis von Mystikern aller Zeiten die eigentliche mystische Spitzenerfahrung sprachlich nicht präzise beschrieben werden kann, wenn Sprache nur im uneigentlichen Sinne zur Kommunikation mystischer Erfahrung verwendet werden kann, dann sind damit einer begrifflichen Definition des Wesens von Mystik prinzipielle Grenzen gesetzt. Es kann also nur um eine näherungsweise Begriffsbestimmung gehen, die weit genug ist, um die Vielfalt möglicher Verbalisierungen abzudecken. 9

Vgl. z.B. Ruh, Vorbemerkungen, 343.

22

I. Einleitung: Was ist Mystik?

Angesichts der Probleme vieler älterer Definitionsversuche hat der Literaturwissenschaftler Kurt Ruh, einer der besten Kenner der Mystik im deutschsprachigen Raum, eine originelle Lösung vorgeschlagen, die ganz ohne inhaltliche Wesensbestimmung auskommt.10 Ausgehend von der Feststellung, dass uns nie die mystische Erfahrung als solche, sondern nur die literarischen Zeugnisse von ihr zugänglich sind, will er Mystik als eine literarische Gattung beschreiben. Angesichts der Vielfalt mystischer Texte schlägt er hierfür ein pragmatisches Verfahren vor, das von dem gewachsenen Vorverständnis ausgeht, das bestimmte literarische Werke traditionell der Mystik zuordnet. Welche weiteren Werke darüber hinaus zum Korpus mystischer Literatur zu zählen sind, wäre sodann auf der Grundlage von intertextuellen Beziehungen, also von literarischen Abhängigkeiten und Rezeptionsvorgängen, zu bestimmen. Die Vorteile dieses Mystikbegriffs liegen auf der Hand. Er ist einerseits unmittelbar an den zu bearbeitenden Quellen orientiert und vermeidet andererseits jede inhaltliche Festlegung des Mystischen, wodurch er sich einen unvoreingenommenen Blick auf sein Material bewahrt und Zirkelschlüsse – bei denen man in den Zeugnissen der Mystik nur das wiederfindet, was man zuvor als mystisch definiert hat – vermeidet. Selbst bei Theologen wie Volker Leppin11 – der freilich seinerseits dann doch zu einer inhaltlichen Qualifizierung weiterschreitet – hat Ruhs literaturwissenschaftlicher Mystikbegriff daher Aufnahme gefunden. So elegant Ruhs Lösung erscheint – wir wollen hier einen anderen Weg gehen. Selbstverständlich kann auch die hier vorgelegte Geschichte der Mystik nur von den literarischen Quellen ausgehen. Aber sie 10

Ruh, Vorbemerkungen; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 13–15. 11 Leppin, Die christliche Mystik, 8.

3. Was ist Mystik? Versuch einer Definition

23

legt Wert darauf, dass es sich bei Mystik um mehr als um ein literarisches Phänomen handelt. Zweifellos handelt es sich bei dem, was in und hinter den literarischen Quellen sichtbar wird, zunächst um eine besondere Form von Frömmigkeit und religiöser Praxis, und diese ist es, die vom theologischen (und religionswissenschaftlichen) Standpunkt aus von Interesse ist. Damit aber stellt sich notwendig die inhaltliche Frage nach dem Wesen der Mystik. Im Folgenden soll unter christlicher Mystik eine besondere Form christlicher Religiosität verstanden werden, die auf die unmittelbare Erfahrung einer Begegnung und Vereinigung des Gläubigen mit Gott zielt. Die einzelnen Elemente dieser Definition bedürfen noch der Erläuterung. Wenn wir Mystik allgemein als Form der Religiosität – man könnte auch sagen: der Frömmigkeit, doch der Terminus „Religiosität“ hat heute einen etwas weiteren Bedeutungsumfang – bezeichnen, so ist damit gesagt, dass die besondere religiöse Erfahrung der Mystiker allein noch nicht das Ganze des Phänomens ausmacht. Denn neben der mystischen Spitzenerfahrung gehören dazu der gesamte Lebensvollzug, die Glaubensvorstellungen und religiösen Praxen wie auch der Niederschlag mystischer Erfahrung in Predigt und Literatur. Tatsächlich wird vielen Anhängern mystischer Religiosität die Spitzenerfahrung der Vereinigung mit Gott selbst gar nicht zuteil. Es ist daher übrigens auch nicht sinnvoll, eigene mystische Erfahrungen zum Kriterium dafür zu machen, ob eine Person als „Mystiker“ gelten darf. Ganz abgesehen davon, dass diese Frage mangels eindeutiger Selbstzeugnisse bei historischen Persönlichkeiten oft nicht mit Sicherheit zu beantworten ist, ist sie auch sachlich ohne Bedeutung.12 Denn es geht

12

McGinn, Die Mystik im Abendland, I 194; II 131.

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I. Einleitung: Was ist Mystik?

nicht um die Erfahrung an sich, sondern um die spezifische Religiosität, um den Frömmigkeitsstil. Wenn wir weiterhin die mystische Erfahrung als eine „unmittelbare“ charakterisieren, so ist damit ein kategorialer Unterschied zu anderen Formen religiöser Erfahrung bezeichnet, wie sie im Rahmen einer „gewöhnlichen“ christlichen Religiosität vorkommen: „Die Mystiker versichern, dass sich ihre Zugangsweise zu Gott radikal von der des normalen Bewußtseins unterscheidet – auch von dem Innewerden Gottes in der üblichen religiösen Praxis von Gebet, Sakramenten und anderen Vollzügen. (…) Die Differenz liegt in der subjektiv wie objektiv direkteren, bisweilen sogar unmittelbaren Erfahrung göttlicher Gegenwart.“13 Die Unmittelbarkeit der mystischen Erfahrung führt übrigens tendenziell zu einer Relativierung der traditionellen Formen äußerer „Vermittlung“ der Gottesbegegnung, sei es durch priesterlich-sakramentales Handeln, sei es durch das äußere Wort der Predigt oder durch die kirchliche Gemeinschaft. Insofern eignet mystischer Religiosität ein subversives Potential, das historisch freilich nur in Ausnahmefällen wirksam geworden ist. Der schwierigste Teil der Definition ist die inhaltliche Beschreibung jener Erfahrung, auf die mystische Religiosität zielt. Das hat mit der erwähnten, von den Mystikern selbst konstatierten grundsätzlichen Schwierigkeit zu tun, diese Erfahrung zu verbalisieren. Es gilt, unter der Fülle der im Lauf der Zeit etablierten Sprachbilder und Redeweisen so etwas wie einen sachlichen Kern zu identifizieren. Als solche bietet sich die Erfahrung der „Vereinigung mit Gott“ an.14 Dieser Spitzenbegriff (griech. hénosis, lat. unio oder unio mystica) begegnet in der Tradition seit dem 13 14

McGinn, Die Mystik im Abendland, I 19. Wendel, Christliche Mystik, 27–85.

3. Was ist Mystik? Versuch einer Definition

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Altertum, und immer wieder haben Mystiker ihre besondere Erfahrung als ein Vereinigtwerden, als eine Einung mit Gott beschrieben. Solche Beschreibungen finden sich quer zu den verschiedenen Typen mystischer Religiosität, sie finden sich in platonisierender Erkenntnismystik ebenso wie in einer am Brautmotiv orientierten Liebesmystik, sie finden sich in Entwürfen einer pantheisierenden Wesensmystik, die von einer Entgrenzung, ja von einer völligen Auflösung der Differenz von Mensch und Gott sprechen, ebenso wie in Entwürfen einer Willensmystik, die an dieser Differenz genau festhalten. Nun ist es allerdings richtig, dass nicht alle Mystiker von der unio mystica, der Vereinigung mit Gott, sprechen. Tatsächlich hat sich eine Vielzahl klassischer Sprachspiele herausgebildet, in denen die mystische Spitzenerfahrung artikuliert werden kann. Neben und anstelle der Rede von der Vereinigung finden wir die Konzepte der Gottesschau (Kontemplation), der Vergöttlichung des Menschen, der Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit, der Gottesgeburt in der Seele, der Ekstase, des vollkommenen Gebets und andere mehr. Es ist daher durchaus erwägenswert, in einer Definition der Mystik nach einem allgemeineren Ausdruck zu suchen, der alle diese Formulierungen übergreift. Bernard McGinn etwa spricht in diesem Sinne von einer Erfahrung der „Gegenwart Gottes“. Mir erscheint diese Formulierung zu schwach. Angesichts der Häufigkeit, mit der in der Tradition die Einheitsund Vereinigungsterminologie begegnet, halte ich es für vertretbar, die mystische Erfahrung auch dann so zu charakterisieren, wenn sie im konkreten Fall mit anderen Bildern oder sprachlichen Strategien ausgesagt wird. Wenn wir in unserer obigen Definition nicht nur von „Vereinigung“, sondern von „Begegnung und Vereinigung mit Gott“ gesprochen haben, so fügt dies

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I. Einleitung: Was ist Mystik?

der beschriebenen Grundcharakteristik noch einen weiteren Aspekt hinzu: den Ereignischarakter der mystischen Erfahrung, die nie von Dauer ist, sondern als ein mehr oder weniger kurzzeitiges Geschehen beschrieben wird, zu dem regelmäßig auch die Erfahrung des Entzugs und der Gottesferne gehört. 4. Eine kleine Typologie der christlichen Mystik In der Forschung hat man wiederholt den Versuch unternommen, die große Vielfalt mystischer Religiosität durch die Einführung von Typologien besser überschaubar zu machen. Wenn man sich, wie wir hier, auf die christliche Mystik beschränkt, vereinfacht sich die Aufgabe der Typenbildung, bleibt aber noch schwierig genug. Die geläufigen Typologien sind nach verschiedenen Kriterien gebildet und überschneiden sich daher nicht selten. Sie sind aber, so lange man sich ihrer Grenzen bewusst bleibt, hilfreiche Ordnungsmittel. Eine sehr allgemeine Typologie hat bereits 1908 der Religionswissenschaftler Friedrich von Hügel (1852–1925) vorgeschlagen, indem er anhand des jeweiligen Weltverhältnisses zwischen einer (von ihm kritisch beurteilten) „exklusiven“ Mystik, die Gott in der Verneinung und in der Abstraktion von der Weltwirklichkeit findet, und einer (positiv beurteilten) „inklusiven“ Mystik, die der geschöpflichen Wirklichkeit positiv gegenübersteht, unterschied.15 Verwandt damit ist eine zweite, für die christliche Mystik fundamentale Unterscheidung, die im Blick auf den Weg zur mystischen Erfahrung konstruiert ist: die zwischen Aufstiegsmystik und Abstiegsmystik.16 Aufstiegsmystik erreicht die Vereinigung mit Gott auf 15 16

Vgl. McGinn, Die Mystik im Abendland, I 419–421. Haas, Was ist Mystik, 333; Haas, Mystik als Aussage, 91–101.

4. Eine kleine Typologie der christlichen Mystik

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dem Weg eines intellektuellen Aufstiegs aus der Welt der Erscheinungen über die Welt der geistigen Ideen bis hin zur Schau der überweltlichen Wirklichkeit Gottes – eine Vorstellung, die aus der Philosophie des Neuplatonismus übernommen ist. Als biblisches Vorbild wird gerne der Aufstieg Moses auf den Berg Sinai (Ex 19,16–25) herangezogen. Im Zusammenhang aufstiegsmystischer Konzeptionen finden sich verschiedene Stufenschemata (häufig das Dreierschema von Reinigung – Erleuchtung – Einigung, aber auch andere) und Entwicklungsmodelle. Die Einheit mit Gott wird hier in der „Ekstase“ – vom Griechischen ekstasis = „Heraustreten“ – erreicht, in der der Mensch die sinnlich wahrnehmbare und intellektuell erfassbare Wirklichkeit und nicht zuletzt sich selbst übersteigt. Die seit dem Hochmittelalter entwickelte Abstiegsmystik, wie sie sich etwa bei Bernhard von Clairvaux und in der Frauenmystik findet, beschreibt eine entgegengesetzte Bewegung: Hier vollzieht mystische Frömmigkeit den Weg Christi in der Inkarnation nach: aus der göttlichen Herrlichkeit in die Niedrigkeit der Welt. Die klassische Abstiegsmystik versenkt sich affektiv in das Leiden und in die Demut Christi und erfährt darin die Vereinigung mit dem Erlöser. Im Ergebnis ähnlich, aber unter einem abermals etwas anderen Aspekt konstruiert ist die dritte hier zu erwähnende Typologie, die zwischen Vernunftmystik und Liebesmystik unterscheidet.17 Hier ist der Blick auf die Seelenvermögen gerichtet, die zur unio mystica führen: Vernunft bzw. Wille. Wenngleich die meisten Mystiker betonen, dass beides zusammengehöre, wurden die Akzente im Einzelnen doch unterschiedlich gesetzt. Fast gleichbedeutend mit dieser Unterscheidung ist die zwischen „spekulativer“ und „affektiver“

17

Haas, Mystik als Aussage, 24–36.

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I. Einleitung: Was ist Mystik?

Mystik.18 Sofern die affektive Mystik einen besonderen Akzent auf außerordentliche Erfahrungen wie Visionen oder Entrückungen legt (die von der spekulativen Mystik abgelehnt werden), kann sie auch als „Erlebnis-Mystik“ bezeichnet werden. In der historischen Realität begegnet affektive Mystik deutlich häufiger als spekulative Mystik. Von der Art der erstrebten Vereinigung her konzipiert, aber praktisch weithin mit der Unterscheidung von Vernunft- und Liebesmystik zusammenfallend ist die Unterscheidung von Seinsmystik (oder Wesensmystik) und Willensmystik. Bei der Seinsmystik, bei der es sich regelmäßig um Vernunftmystik handelt, wird die Einigung zwischen Gott und Mensch auf der Grundlage einer Wesensverwandtschaft möglich gedacht: Im Menschen ist ein Wesenskern von göttlicher Substanz, der z.B. „Seelengrund“ oder „Seelenfunke“ heißen kann, der in der unio im göttlichen Wesen aufgeht. Hier besteht eine Tendenz zur Auflösung des Gegenübers zwischen Gott und Mensch. In der Willensmystik wird die Einigung hingegen als Willenseinigung verstanden: Der menschliche Wille wird dem göttlichen Willen gleichförmig und in ihn hinein umgewandelt. Angesichts des trinitarischen Gottesbegriffs kann christliche Mystik sich weiterhin entweder auf Gottvater oder auf Christus richten. Dabei zeigt sich, dass Seinsmystik gewöhnlich Gottesmystik ist, während Willensmystik häufig Christusmystik ist. Gottesmystik ist gewöhnlich etwas stärker philosophisch – d.h. faktisch: neuplatonisch – grundiert, Christusmystik stärker biblisch. Nach der jeweils verwendeten Bildlichkeit kann man ferner zwei häufig vorkommende Typen von Mystik als – v.a. vom alttestamentlichen Buch Hohelied inspirierte – Brautmystik und als Passionsmystik 18

Wendel, Christliche Mystik, 25f.

4. Eine kleine Typologie der christlichen Mystik

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charakterisieren. Erstere ist oft, die zweite immer Christusmystik. Mehr äußerlich bleiben zwei Arten von Typologien, die abschließend noch erwähnt seien. So kann man zum einen nach der Art des Milieus oder der Trägergruppe zwischen bestimmten Ausprägungen mystischer Religiosität unterscheiden. So spricht man im Blick auf die verschiedenen Mönchsorden von zisterziensischer, kartäusischer, dominikanischer und franziskanischer Mystik, aber etwa auch Frauen- oder Beginenmystik. Schließlich kann auch die Sprache der überlieferten mystischen Zeugnisse als Einteilungskriterium dienen. Während im orthodoxen Christentum des Ostens zunächst das dort ohnehin gesprochene Griechisch, bei den neu missionierten slawischen Völkerschaften dann auch die jeweiligen Volkssprachen in Gottesdienst, Theologie und mystischer Literatur Verwendung fanden, hatte sich das westliche Christentum auf die lateinische Liturgie- und Literatursprache festgelegt. Dementsprechend war die westliche mystische Literatur bis ins Hochmittelalter durchweg in lateinischer Sprache verfasst, so dass man hier von „lateinischer Mystik“ sprechen kann. Seit dem Hochmittelalter kam es dann zu einem – durchaus komplexen – Übergang in die jeweiligen Volkssprachen, der teilweise mit der Ausweitung mystischer Frömmigkeit auf bildungsfernere Milieus (Frauen, Beginen), teilweise aber auch mit dem Empfinden zu tun hatte, in der Volkssprache reichere Ausdrucksmöglichkeiten als im steril gewordenen Lateinischen zu besitzen. Diese ganze nicht-lateinische mystische Literatur lässt sich als „volkssprachliche Mystik“ zusammenfassen. Darin könnte man dann wieder „deutsche“, „englische“, „spanische“ Mystik usw. unterscheiden. Diese Bezeichnungen sind freilich streng philologisch und nicht als Chiffren für vermeintlich besondere Nationalcharaktere zu verstehen.

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I. Einleitung: Was ist Mystik?

5. Die Aufgabe Im Folgenden behandeln wir nur die christliche Mystik. Dabei wird die Mystik der westlichen, ursprünglich lateinisch geprägten Christenheit im Vordergrund stehen, doch werden wir auch für die spätere Zeit noch Seitenblicke auf die Entwicklung im orthodoxen Osten werfen. Die Tatsache, dass Mystik immer nur in konkreten historischen Kontexten zu haben und zu rekonstruieren ist, führt zur Notwendigkeit einer historischen Behandlung. Zwar haben auch systematische Analysen der Mystik, wie Theologen und Philosophen sie immer wieder vorlegen, ihren Wert. Das gilt unbeschadet der bei einer solchen Vorgehensweise größeren Gefahr, die bunte Vielfalt der Wirklichkeit dem Zwang zur Systematisierung zu opfern. Doch die Erwartungen einer breiteren Leserschaft richten sich zu Recht auf das konkrete Detail, auf das Exempel, auf das lebendige Beispiel. Das verlangt nach einer quellennahen historischen Darstellung. Wir werden dabei versuchen, die großen Zusammenhänge und Entwicklungslinien deutlich herauszuarbeiten und die wichtigsten Wegmarken an ausgewählten Mystiker-Persönlichkeiten – eine Geschichte der Mystik kann noch weniger als jede andere Art der Geschichtsschreibung den Blick auf die einzelnen Persönlichkeiten entbehren! – vorführen. Die Notwendigkeit einer konsequent kontextualisierenden Behandlung der christlichen Mystik schließt ein, dass deren Entwicklung auch auf die größeren gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Wandlungsprozesse zu beziehen ist. Das gilt umso mehr, als mystische Religiosität zwar prinzipiell eine zu allen Zeiten mögliche und mobilisierbare Spielart christlicher Existenz ist, faktisch aber doch ihre besonderen Konjunkturen hat.

5. Die Aufgabe

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Näherhin lassen sich drei Hoch- und Blütephasen mystischer Religiosität innerhalb der Christentumsgeschichte identifizieren. Die erste reicht vom 3. bis zum 11., im griechischen Osten bis zum 15. Jahrhundert und umfasst die Mystik innerhalb des Mönchtums (s. Kap. II–III). Obwohl von alters her im Christentum angelegt, bildete sich die Mystik als neue Form christlicher Frömmigkeit erst im Zusammenhang mit dem Aufkommen der monastischen Lebensform heraus und gewann ihre besondere Gestalt unter dem Einfluss neuplatonischer Philosophie und monastischasketischer Ideale. Diese Art der Mystik bildete über gut ein Jahrtausend hinweg einen eigenen, mit dem gemeindekirchlichen Christentum konkurrierenden Typus christlicher Religiosität. Eine zweite Blütephase erlebte die Mystik in der lateinisch-westlichen Christenheit vom 12. bis zum 17. Jahrhundert (s. Kap. V–XI). Die Anfänge lagen auch hier im Mönchtum, doch mit der theologischen Entdeckung der Liebe und der Thematisierung der mystischen Erfahrung als solcher setzte eine Entwicklung ein, die die Mystik rasch über das klassische monastische Milieu hinausgreifen und neue Trägerkreise ergreifen ließ: die Bettelorden, Frauen, Beginen, Laien. Damit einher ging der Schritt vom Lateinischen zu den Volkssprachen. Schließlich kam es zu einer breiten „Diffusion“ mystischer Vorstellungen in die allgemeine christliche Frömmigkeit. Diese fortschreitende „Demokratisierung“ und Popularisierung der Mystik ist im engen Zusammenhang mit den langfristigen Prozessen der Individualisierung zu sehen, die ab dem Hochmittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein den einzelnen Menschen als verantwortliches Subjekt in Gesellschaft und Kirche aufwerteten.19 Die Mystik dieser Phase kann so als Vehikel der Individua19

Vgl. Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Mystik, 19–21, 188, 249.

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I. Einleitung: Was ist Mystik?

lisierung verstanden werden. Ihr Abebben seit dem 18. Jahrhundert wäre dann auch als Konsequenz der erfolgreichen Durchsetzung moderner Individualitätsund Subjektivitätsideale zu deuten. Die dritte Blütephase der Mystik ist durch den sogenannten Neohesychasmus in den orthodoxen Kirchen des Ostens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bestimmt (s. Kap. III.4). Sie folgt einem ähnlichen Verlaufsmuster von Anfängen im Mönchtum über die Verbreitung unter den Laien bis hin zur „Diffusion“ in die allgemeine Frömmigkeit und kann – jedenfalls auch – ebenfalls im Kontext einer neuzeitlichen Individualisierung gedeutet werden – einer Individualisierung freilich, die in Abgrenzung zum Westen dezidiert antirationale und konservative Züge trägt. Besondere Aufmerksamkeit soll in unserer Darstellung auch dem ihr eigenen Umgang der Mystik mit Sprache gelten. Sprache dient hier, wie gesagt, nicht einfach der Beschreibung von Sachverhalten, sondern soll gleichsam poetisch etwas an sich nicht Verbalisierbares, Unsagbares inszenieren und kommunizieren. Wir werden sehen, dass dazu in der mystischen Sprache immer wieder bestimmte biblische, aber auch philosophische oder alltagsweltliche Bilder oder Begriffe Verwendung finden. Wir wollen im Folgenden versuchen, auch dafür den Blick zu schärfen. Wenn man den „Sound“ mystischer Texte einmal im Ohr hat, findet man sich sehr viel leichter in der zunächst vielleicht verwirrenden Sprach- und Vorstellungswelt der Mystik zurecht. Die Beschäftigung mit der christlichen Mystik ist insofern vergleichbar mit dem Erlernen einer Fremdsprache. Wenn dieses Buch dazu beitragen kann, dass seine Leserinnen und Leser religiös mehrsprachig werden, dann hat es seinen Zweck erreicht.

II. Platon in der Wüste Die altkirchliche Mystik

Das Christentum der ältesten Zeit war nicht „mystisch“ im strengen Sinne einer auf die erlebnishafte Vereinigung mit Gott zielenden Religiosität. Eine so verstandene Mystik entstand erst im späteren dritten und vierten Jahrhundert. Zwei auf den ersten Blick gegenläufige Entwicklungen waren dafür ausschlaggebend, eine nach außen und eine nach innen gerichtete. Nach außen gerichtet war die Öffnung des Christentums für die Philosophie seiner Umwelt, insbesondere für den Neuplatonismus. Nach innen gerichtet war die dem Weg der Kirche in die Welt entgegengesetzte Herausbildung der neuen, strengen Lebensform des christlichen Mönchtums. Beide Faktoren zusammen haben den Charakter der älteren christlichen Mystik geprägt: Der Neuplatonismus gab ihr Vorstellungsgehalte und Begrifflichkeit, das Mönchtum die institutionelle Basis. Bis ins 12. Jahrhundert war die christliche Mystik so etwas wie die spezifische Frömmigkeitsform des Mönchtums, mit der sich dieses von der Gemeindefrömmigkeit der zur Staatsreligion avancierten Kirche abhob.

1. Biblische Anknüpfungspunkte der christlichen Mystik Auch wenn sich die christliche Mystik erst später unter dem Einfluss des Neuplatonismus herausgebildet hat, lassen sich doch schon im Neuen Testament Anknüpfungspunkte dafür finden. Die Mystik kann insofern als eine legitime Interpretation der christlichen

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II. Platon in der Wüste

Religionsauffassung gelten. Tatsächlich war und blieb die biblische Grundlage für die Entfaltung der Mystik von eminenter Bedeutung. Bis in 12. Jahrhundert hinein wurde mystische Theologie fast ausnahmslos als Bibelauslegung betrieben. In der kunstvoll auf verschiedenen Sinnebenen kommentierten Bibel fand man Vorbilder und Anleitungen für den Aufstieg zur Gottesschau und zur unio mystica. Der Zugang zur mystischen Erfahrung war demnach nur mit der und durch die Bibel möglich – ein Spezifikum christlicher Mystik, das sie grundlegend von den „Mystiken“ anderer Religionen unterscheidet. a) Die „Mystik des Apostels Paulus“ Die allerersten Christen praktizierten ihren Glauben, indem sie die Erinnerung an die Worte und Taten des historischen Jesus von Nazareth pflegten und im Gehorsam gegenüber seiner Botschaft lebten. Mit Paulus hielt eine andere Auffassung der christlichen Existenz Einzug: Als letzter der Apostel, der den historischen Jesus selbst nicht mehr kennengelernt hatte, sondern vom erhöhten Christus in einer Vision berufen worden war, verstand er das Christsein als Leben in der dauernden Gegenwart und Verbundenheit mit dem auferstandenen Christus. Kein Geringerer als der heute nur noch als „Urwalddoktor“ und Friedensnobelpreisträger bekannte Albert Schweitzer (1875–1965), der aber ursprünglich Theologe und Neutestamentler war, fand in dieser Vorstellung, die er „die Mystik des Apostels Paulus“ nannte, die eigentliche Mitte der paulinischen Theologie.20 Dabei legte er einen weit gefassten Mystik-Begriff an: „Mystik liegt überall da 20

Schweitzer, Mystik. Zu den Hintergründen vgl. in der Neuausgabe von 1981 die Einführung von Werner Georg Kümmel (S. I*– XVI*). Zum heutigen Stand der Forschung Meier, Mystik bei Paulus, und Wolter, Paulus, 227-259.

1. Biblische Anknüpfungspunkte der christlichen Mystik

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vor, wo ein Menschenwesen die Trennung zwischen irdisch und überirdisch, zeitlich und ewig als überwunden ansieht und sich selber, noch in dem Irdischen und Zeitlichen stehend, als zum Überirdischen und Ewigen eingegangen erlebt.“21 Konkret handele es sich bei Paulus um eine Christusmystik, genauer: um eine Auferstehungsmystik. Durch die Taufe gewinnt der Mensch naturhaft Anteil am Gestorbenund Auferstandensein Christi und wird dadurch schon jetzt in ein neues Sein versetzt, dessen Subjekt nicht mehr das eigene Ich, sondern Christus ist: „Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ (Gal 2,19f.) Wer auf Christus getauft ist, hat buchstäblich Christus „angezogen“ (Gal 3,27). Die häufige Formel vom „Christus in uns“ – und die entgegengesetzte, Christus sozusagen als Lebensraum des Gläubigen imaginierende Formel „wir in Christus“ – bringt diese paulinische Christusmystik auf den Punkt. Mit ihrer Vorstellung vom Subjektwechsel und vom Sein in Christus bot sie der späteren christlichen Mystik wichtige Anknüpfungspunkte. Daneben griffen spätere Mystiker häufig auf weitere Paulus-Stellen zurück, so etwa auf das Selbstzeugnis des Apostels über seine Entrückung in den „dritten Himmel“ aus 2Kor 12,2–4. Paulus spricht hier offensichtlich von sich selbst, aber verhüllend in der dritten Person und in knapper Nüchternheit. Trotzdem haben die Details seines Berichts die späteren Vorstellungen von mystischer Gottesbegegnung inspiriert: der „dritte Himmel“ (die jüdische Apokalyptik kennt sieben Himmel, von denen der dritte mit dem Paradies als dem Aufenthaltsort der Erlösten identifiziert wird), die dort vernommenen „unaussprechlichen Worte“ und die

21

Ebd., 1.

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II. Platon in der Wüste

Möglichkeit, dass diese Erfahrung die Grenzen der Leiblichkeit ekstatisch überschritten habe. Zur Charakterisierung der unio mystica griffen spätere Autoren gerne auf die paulinische Formel „ein Geist mit dem Herrn sein“ (1Kor 6,17) zurück. Nachdem man es gewohnt war, die mystische Spitzenerfahrung mit der griechischen Philosophie als ein Schauen Gottes zu verstehen, wurden weitere Stellen wie etwa 2Kor 3,18 wichtig: „Nun aber schauen wir alle mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel, und wir werden verklärt in sein Bild von einer Herrlichkeit zur andern von dem Herrn, der der Geist ist“. Eine andere zentrale Tradition der Deutung des mystischen Weges operiert mit der Rede vom „Bild Gottes“, die an die Schöpfungserzählung (Gen 1,26f.) anknüpft und schon früh Gegenstand theologischer Reflexionen über Verlust und Wiedergewinnung der Gottebenbildlichkeit des sündigen Menschen wurde. b) Einheit in der Liebe: Das johanneische Christentum Eine von der paulinischen Auffassung deutlich verschiedene Ausprägung des Christentums hat im Johannesevangelium und den Johannesbriefen ihren Ausdruck gefunden. Auch sie hat die spätere Mystik stark inspiriert. Das gilt vor allem für den Grundgedanken des Einsseins – des Einsseins der Glaubenden untereinander, mit Christus und mit dem Vater. Der johanneische Jesus betont wieder und wieder seine Einheit mit dem Vater, die, ähnlich wie bei Paulus, mit reziproken In-Formeln beschrieben wird: „Glaubt mir, dass ich im Vater bin und der Vater in mir“ (Joh 14,11; vgl. 10,38; 14,10). Auch das Verhältnis zwischen den Gläubigen und Christus wird als ein Verhältnis des reziproken In-Seins beschrieben. Die vielleicht bekannteste Formulierung stammt aus dem

1. Biblische Anknüpfungspunkte der christlichen Mystik

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Bildwort vom Weinstock: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht“ (Joh 15,5). Doch auch die Gemeinschaft mit Christus im Abendmahl kann so beschrieben werden: „Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm“ (Joh 6,56). Im Einssein mit Christus werden die Glaubenden zugleich mit hineingenommen in das Einssein Christi mit dem Vater – ein Aspekt, der in der reinen „Christusmystik“ des Paulus noch fehlte. In diesem Sinne stellt Jesus im sogenannten Hohepriesterlichen Gebet gegenüber Gott-Vater fest: „Ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, damit sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, damit sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst“ (Joh 17,22f.). Dazu kommt ein Weiteres: Im johanneischen Schrifttum wird, anders als in den drei ersten Evangelien, die Liebe (agápe) stark betont. Gott selbst ist seinem Wesen nach Liebe, und die Glaubenden erweisen sich dadurch als Gottes Kinder, dass auch sie untereinander Liebe üben. Im Ersten Johannesbrief heißt es: „Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“ (1Joh 4,16). Die von der johanneischen Theologie konstatierte Einheit von Vater und Sohn und deren Einheit mit den Glaubenden ist also eine Einheit in der Liebe. Auch diese Einsicht wurde für die Mystik wichtig. c) Weitere biblische Bezugspunkte Neben den genannten paulinischen und johanneischen Referenzen hat sich die spätere christliche Mystik auf eine Reihe weiterer Bibelstellen aus dem Alten wie aus dem Neuen Testament bezogen. Allesamt sind diese ihrer ursprünglichen Intention nach nicht im

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II. Platon in der Wüste

strengen Sinne als „mystisch“ zu qualifizieren. Sie konnten aber als direkte oder verschlüsselte Aussagen oder bildhafte Veranschaulichungen über oder als Exempel für den Aufstiegsweg zur mystischen Gottesbegegnung und die Einung mit Gott gelesen werden. Möglich wurde dies durch das seit dem dritten Jahrhundert geläufige, auf Origenes zurückgehende Verfahren der allegorischen Bibelauslegung (s.u. Kap. II.3). Im Lauf der Jahrhunderte bildete sich auf diese Weise so etwas wie ein Kanon biblischer Belegstellen mystischer Religiosität heraus, von denen die wichtigsten hier kurz erwähnt seien. Aus dem Alten Testament ist an erster Stelle zu nennen die Erzählung von Moses Begegnung mit Gott am Sinai (Ex 33,18–23), wo Mose das Schauen von Angesicht zu Angesicht versagt bleibt, er Gott aber von hinten sehen darf. Ein ähnliches Motiv konnte man in der Erzählung von Elia am Berg Horeb – der in der späteren biblischen Tradition mit dem Sinai gleichgesetzt wird – in 1Kön 19,11–13 finden. Eine ganz außerordentliche Wirkungsgeschichte hat das Salomo zugeschriebene alttestamentliche Hohelied entfaltet. Eigentlich ein Werk profaner Liebesdichtung, wurde es schon früh von jüdischen wie christlichen Auslegern allegorisch auf das Verhältnis Gottes zu seinem Volk (also Israel bzw. der Kirche) gedeutet. Neben dieser kollektiven Deutung ließ sich das Hohelied aber auch individualisierend auf das Verhältnis Christi zur gläubigen Seele auslegen. Die ersten Ansätze dazu finden sich im 3. Jahrhundert bei Origenes, seit dem 12. Jahrhundert hat dann die individualisierende brautmystische Hohelied-Auslegung weite Verbreitung gefunden. Im Neuen Testament konnten die Erzählungen der drei ersten Evangelien von der Geburt und vom Leiden und Sterben Jesu mystisch gelesen werden. Anhand ihrer konnte man sich nachvollziehend und

1. Biblische Anknüpfungspunkte der christlichen Mystik

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anteilnehmend in den Weg Christi aus der himmlischen Herrlichkeit in die Niedrigkeit der Welt versenken. Diese Versenkung konnte so weit gehen, dass Mystikerinnen des Mittelalters während der Adventszeit in der Erwartung der Geburt des Heilands in der Seele Scheinschwangerschaften entwickelten. Auf der anderen Seite stehen die für uns heute befremdlichen Ausprägungen einer Passionsmeditation, die den Nachvollzug des Leidens Christi durch Selbstgeißelung und andere asketische Übungen bis hin zur Selbstkreuzigung betrieb. In diesem Kontext kam es seit dem Hochmittelalter auch zu wunderhaften Stigmatisierungen, in deren Folge Menschen die Wundmale des gekreuzigten Christus trugen. Weitere, für die Mystik wichtige Evangelienstellen fanden sich in der Bergpredigt mit der sechsten Seligpreisung, die den Menschen reinen Herzens zum Lohn die Schau Gottes in Aussicht stellte (Mt 5,8), oder in der Erzählung von der Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor (Mt 17,1–9; Mk 9,2–13; Lk 9,28–36), die, ebenso wie die Berichte von den österlichen Erscheinungen des Auferstandenen, als Beleg dafür gelesen wurde, dass man durch die meditative Vergegenwärtigung des verherrlichten Christus eine ekstatische Gottesbegegnung erreichen konnte. Zum viel bewunderten Vorbild gläubig-liebender Existenz in der Nachfolge Christi wurde Maria Magdalena. Indem sie schon früh mit der Sünderin, die Jesu Füße wusch (Lk 7,36–50) und schließlich auch mit der Schwester des Lazarus und der Martha gleichgesetzt wurde, entstand eine regelrechte Muster-Biographie, an der sich die Lebensführung der mystisch Frommen orientieren konnte. Für die Erörterung der letztlich aus der griechischen Philosophie rührenden Frage nach dem Vorrang des beschaulichen, kontemplativen oder des aktiven Lebens wurde die Erzählung von Maria und Martha in Lk 10,38–42 wichtig. Meist

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II. Platon in der Wüste

wurde sie als Beweis für den Vorrang der kontemplativen Lebensweise verstanden; allein Meister Eckhart hat sie in einer überraschenden Umkehrung für den Vorrang des aktiven Lebens in Anspruch genommen.

2. Aufstieg zur Schau: Von Platon zum Neuplatonismus

a) „Hellenisierung des Christentums“? Die Christen und die Philosophie Mit seiner missionarischen Ausbreitung und dem Zurücktreten der unmittelbaren Naherwartung der Wiederkunft Jesu begann das Christentum, sich mit den Geistesmächten seiner Umwelt auseinanderzusetzen. Theologische Schriftsteller des frühen Christentums nahmen in Anknüpfung und Abgrenzung das Gespräch mit der Philosophie ihrer hellenistischen Umwelt auf. Aus der Philosophie der Stoa übernahmen sie die Vorstellung vom „Logos“, dem „Wort“ (oder der „Vernunft“), das als göttliche Weltordnung den gesamten Kosmos durchwaltet und zwischen Gott und Welt vermittelt. Diese stoische Weltvernunft ließ sich im christlichen Kontext mit Christus gleichsetzen, der im Prolog des Johannesevangeliums ebenfalls „Logos“ genannt wurde (Joh 1,1). Diese Logos-Spekulation hat nachhaltigen Einfluss auf die denkerische Ausgestaltung der Trinitätslehre gewonnen, und die Vorstellung, dass der „Sohn“ als die zweite Person der Trinität mit dem schöpferischen Wort Gottes identisch sei, hat die christliche Theologie und auch die Mystik zutiefst geprägt. Noch wichtiger als die Rezeption der stoischen Philosophie wurde die Öffnung zur platonischen Philosophie. Der Neuplatonismus wurde für fast ein Jahrtausend zur maßgeblichen Referenzphilosophie der

2. Aufstieg zur Schau: Von Platon zum Neuplatonismus

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christlichen Theologie, und auch die Mystik blieb ebenso lange und länger von ihm geprägt. Man kann sogar sagen, dass die Entstehung einer christlichen Mystik im strengen Sinne überhaupt nur durch die Aufnahme platonischer und platonisierender Vorstellungen ins Christentum möglich wurde. Konkret verdankt die altkirchliche Mystik dem Platonismus die Bestimmung der religiösen Spitzenerfahrung als Schau (griech. theoria) Gottes oder, mit einem gleichbedeutenden lateinischen Begriff, als Kontemplation (contemplatio). Die Gottesbegegnung oder Vereinigung mit Gott wird hier als unmittelbares Sehen Gottes von Angesicht zu Angesicht gedacht, der Weg dorthin als Aufstieg aus der Vielfalt der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungswelt über die Ebene der rein geistigen Ideen bis hin zum göttlichen Einen. Man kann die Mystik des ersten Jahrtausends insofern als eine platonisierende Aufstiegsmystik charakterisieren. Im neueren Protestantismus wurde die Transformation, die das antike Christentum durch die Rezeption der zeitgenössischen Philosophie erlebte, teilweise skeptisch betrachtet, und der Altmeister der evangelischen Dogmengeschichtsschreibung Adolf von Harnack (1851–1930) hat die „Hellenisierung des Christentums“ mit deutlichen Worten kritisiert. Entsprechend argwöhnisch betrachtete er auch die Mystik. Das Christentum hat sich wirklich durch die Rezeption der hellenistischen Philosophie stark gewandelt; man wird aber nicht pauschal sagen können, dass es dadurch verfälscht oder entstellt wurde. Tatsächlich ist die Geschichte des Christentums immer eine Geschichte fortwährender Inkulturationen und Transformationen gewesen; anders wäre auch nicht zu erklären, weshalb eine antike Religion aus dem Vorderen Orient noch heute Menschen in aller Welt Sinn und Orientierung in ihrem Leben geben kann.

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II. Platon in der Wüste

b) Von den Mysterien zu Platon Dass das Ziel religiösen Strebens das Schauen der Gottheit sei, ist eine Vorstellung, die sich vor allem im Umkreis der sogenannten Mysterienreligionen22 entwickelte. Diese unterschieden sich von der üblichen griechischen und römischen Religionspraxis, indem sie geschlossene Kultgemeinden bildeten, die ihre Riten unter dem Siegel der Verschwiegenheit im Geheimen abhielten – „Mysterium“ ist hier also in der Grundbedeutung als „Geheimnis“ zu nehmen. Das große Versprechen dieser neuen Kulte war die individuelle Unsterblichkeit, die die Anhänger, die sogenannten „Mysten“, erlangten, indem sie durch die rituelle Einweihung in das „Mysterium“ wirksam Anteil am Schicksal der Kultgottheit und dem von dieser – häufig durch das eigene Sterben und Wiederauferstehen – errungenen Sieg über den Tod erhielten. Der älteste dieser Kulte waren die seit dem 7. vorchristlichen Jahrhundert nachweisbaren Mysterien der Fruchtbarkeitsgöttin Demeter im griechischen Eleusis, wichtig waren ferner die Mysterien des Dionysos, der Kybele und des Attis, der Isis sowie vor allem des persischen Lichtgottes Mithras. Die strukturellen Parallelen der Mysterienfrömmigkeit zum Christentum – Eingliederung in eine Kultgemeinde, sakramentale Teilhabe am Geschick der Gottheit und Anteil an dessen Sieg über den Tod – haben der Verbreitung des Christentums sicher Vorschub geleistet. In unserem Zusammenhang ist wichtig, dass die Mysterien darauf zielten, ihre Anhänger auf einem gestuften, über verschiedene Phasen der Reinigung und Vorbereitung verlaufenden Weg zur endgültigen „Vollkommenheit“ zu führen. Als höchstes metaphysisches Glück galt dabei oft die „Schau“ 22

Auffarth, Mysterien.

2. Aufstieg zur Schau: Von Platon zum Neuplatonismus

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der Kultgottheit oder der verborgenen Wahrheit. Beide Vorstellungen sind in die christliche Mystik übergegangen – allerdings nicht direkt, sondern in transformierter Gestalt auf dem Weg über die platonische Philosophie. Platon23 sah die Seele auf einer ständigen Suche nach dem Glück, das er mit dem dauerhaften Besitz des Schönen und Guten identifizierte. Angetrieben vom Eros, der Liebeskraft, vollzieht die Seele dabei einen Aufstieg von der Liebe zum sichtbaren, sinnlich Schönen über die Liebe zur nur vernunftmäßig erkennbaren abstrakten Schönheit bis zum Schönen schlechthin, das am Ende des Weges plötzlich in den Blick kommt und ebenso schnell auch wieder verloren wird. Diese Kontemplation des absoluten Schönen-Guten ist die beglückende philosophische Schau, das Ziel alles Erkenntnisstrebens. Der Weg zur Schau, der für Platon ein intellektueller Aufstieg vom sinnlich Wahrnehmbaren über das vernünftig Erkennbare – in seiner Seinslehre die Welt der Ideen – zum Absoluten ist, findet sich besonders eindrücklich im berühmten Höhlengleichnis im 7. Buch seines Dialogs „Politeia“ („Der Staat“) beschrieben. Demnach bedarf es einer mühsamen und schmerzhaften Abwendung von den Dingen der Sinnenwelt, um diese als das zu erkennen, was sie sind: vergängliche Schatten der wahren, ewigen geistigen Wirklichkeit, der Ideen. Der Philosoph muss auf einem beschwerlichen Stufenweg der Reinigung und Erleuchtung allmählich in die Welt der Ideen aufsteigen. Dabei erblickt er zuletzt die Idee des Guten, die mit dem Guten selbst – Platon nennt es auch das Seiende, der Neuplatonismus wird von dem „Einen“ sprechen – identisch ist. Möglich ist diese kontemplative Schau, weil zwischen dem Guten bzw. dem Einen 23

Zum Folgenden vgl. Langer, Christliche Mystik, 55–63.

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II. Platon in der Wüste

und dem obersten Seelenteil des Menschen, den Platon „Vernunft“ nennt, eine substanzielle Identität besteht. Platon hat damit die den Mysterienreligionen zugrundeliegende Idee der sukzessiven Vervollkommnung mit dem Ziel der kontemplativen Schau auf dem Hintergrund seiner idealistischen Seinslehre in das Konzept eines philosophischen Lebens transformiert. c) Der Neuplatonismus Die von Platon gegründete Philosophenschule in Athen, die berühmte „Akademie“, bestand auch nach seinem Tod fort. Allerdings spielte für die „Akademiker“ in hellenistischer Zeit die für Platons Philosophie zentrale Ideenlehre eine immer geringere Rolle. Erst der im ersten vorchristlichen Jahrhundert einsetzende sogenannte Mittelplatonismus kehrte zu ihr zurück. Aus dem Mittelplatonismus ging im 3. Jahrhundert n. Chr. dann der Neuplatonismus hervor, der zur beherrschenden philosophischen Schule seiner Zeit werden und auch die christliche Theologie und Mystik nachhaltig prägen sollte. Der Begründer dieser Schulrichtung war Plotin, an den die eine Generation jüngeren Philosophen Porphyrius und Jamblichus anknüpften; der bedeutendste Vertreter des späteren Neuplatonismus war Proklos. Der Neuplatonismus bildete die Philosophie Platons zu einem umfassenden spekulativen System weiter, das als eine Erlösungslehre verstanden werden kann und geradezu religiösen Charakter annahm. Demnach war die gesamte Weltwirklichkeit aus einem absoluten Prinzip hervorgegangen, das Plotin das „Eine“ nannte. Dieses absolute, göttliche „Eine“ war schlechthin transzendent und unerkennbar, es lag jenseits der Grenzen des menschlichen Denkens, ja für Plotin selbst noch jenseits des Seins. Erst Porphyrios hat das Eine mit dem Sein selbst gleichgesetzt.

2. Aufstieg zur Schau: Von Platon zum Neuplatonismus

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Dennoch blieb die Unerkennbarkeit des göttlichen Einen eine grundlegende Überzeugung des Neuplatonismus und wichtige Mitgift an die christliche Mystik. Dieses Eine oder erste Prinzip hatte sich nach Überzeugung der Neuplatoniker sukzessiv selbst entfaltet und so alles Seiende auch sich selbst hervorgebracht. In einer Abfolge von „Ausflüssen“ (Emanationen) waren aus dem Einen zunächst die Weltvernunft, danach die Weltseele und schließlich die gesamte materielle Welt hervorgegangen. Dieser Prozess der Selbstentfaltung des Einen, der als „Hervorgang“ (griech. próodos, lat. exitus) bezeichnet wird, ist als eine Abwärtsbewegung vorzustellen. Alles Seiende ist hier Teil einer umfassenden ontologischen Hierarchie und hat einen abgestuften Anteil am göttlichen Sein des ersten Prinzips; man spricht daher von einer monistischen Philosophie. Die Materie ist in der Hierarchie des Seienden am weitesten entfernt vom „Einen“, das mit dem absoluten Guten identisch ist, und daher nach dem Urteil der Neuplatoniker böse. Die unsterbliche, immaterielle menschliche Seele, die der geistigen Welt angehört, ist im Körper und in der Materie eingeschlossen wie in einem Gefängnis. Sie daraus zu befreien, ist das Anliegen der neuplatonischen Erlösungslehre. Möglich ist dies durch das philosophische, kontemplative Leben, durch das die Seele in die geistige Welt und in ihren Ursprung zurückkehrt. Diese Rückkehr (griech. epistrophé, lat. reditus) ist als ein Aufstieg aus der Materie in die geistige Welt und mithin als Vergöttlichung zu denken. Sie erfordert eine Reinigung der Seele, die selbst schön und gut werden muss, um sich dem Schönen und Guten anzunähern. Dazu bedarf es der Tugend, der Askese – also des Verzichts auf Nahrung, Kleidung oder Schlaf – und einer systematischen Meditation, die sich Schritt für Schritt über die sinnliche Erscheinungswelt erhebt und gleichsam die Emana-

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tionsstufen in umgekehrter Richtung wieder hinaufsteigt. Dieser Aufstieg kann so weit gehen, dass es schließlich zur Schau, ja in einem Akt der Ekstase zur Vereinigung (henosis) der Seele mit dem unerkennbaren göttlichen Einen kommt. Mit der neuplatonischen Erlösungslehre war das Modell vorgegeben, das auf dem Boden des Christentums die besondere mystische Ausprägung der Frömmigkeit hervorgebracht hat: das Modell eines durch Tugend und Askese vorzubereitenden Erkenntnisaufstiegs aus der Erscheinungswelt in die geistige Welt und schließlich zur momenthaften Schau und Einung mit Gott.

3. Christlicher Platonismus: Origenes Einen mächtigen Impuls zur denkerischen Durchklärung der christlichen Botschaft gab die Bewegung der sogenannten Gnosis, die seit dem späteren 1. Jahrhundert eine eigentümliche Interpretation des Christentums propagierte. Ähnlich wie die Neuplatoniker, so glaubten auch die Gnostiker, dass der göttliche Personkern des Menschen in der materiellen Welt gefangen sei und der Erlösung bedürfe. Mittel zu dieser Erlösung war die Erkenntnis (griech. gnosis), das heißt die Aufklärung des Menschen über seinen Zustand, die häufig zu einer asketischen Lebensweise mit dem Verzicht auf sexuelle Betätigung und bestimmte Lebensmittel führte. Im Unterschied zum Platonismus waren die gnostischen Systeme nicht monistisch, sondern dualistisch konstruiert, vom Gegensatz zweier Prinzipien – Licht und Finsternis, Gut und Böse, Geist und Materie, Erlösergott und Schöpfergott – her. Die gnostische Erlösungslehre war mit wesentlichen Inhalten des Christentums, wie wir es kennen,

3. Christlicher Platonismus: Origenes

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nicht vereinbar. Sie verwarf den Schöpfungsglauben, ließ Christus nicht als wahren Menschen und leidenden Versöhner, sondern nur als Himmelswesen und Lehrer der Gnosis gelten und leugnete die Leiblichkeit des erhofften Heils. Eine ganze Reihe von kirchlichen Schriftstellern, die später so genannten „antignostischen Väter“, trat ihr argumentativ entgegen. Einige von ihnen suchten dabei offensiv das Gespräch mit dem nichtchristlichen Geistesleben ihrer Zeit, so auch mit dem Mittel- und Neuplatonismus. Das gilt besonders für zwei Theologen in der ägyptischen Metropole Alexandria: Clemens von Alexandrien (Clemens Alexandrinus) und Origenes. Im Ergebnis entwickelten sie eine philosophische Theologie, die man mit einem gewissen Recht als „kirchliche Gnosis“ bezeichnen kann.24 Der Ansatz dieser alexandrinischen Theologie war wie bei den Gnostikern dezidiert individualistisch. Die Erlösung des Einzelnen stand hier im Vordergrund – eine Erlösung, die als lebenslanger, ja die Grenzen des irdischen Lebens noch überschreitender kontinuierlicher Prozess persönlicher Vervollkommnung gedacht war. „Gnosis“ war in diesem Zusammenhang kein exklusives esoterisches Erlösungswissen, sondern eine höhere Stufe christlicher Erkenntnis für die auf dem Weg der Vervollkommnung weiter fortgeschrittenen Gläubigen, die die „Pistis“, den einfachen Gemeindeglauben, nicht verwarf, sondern notwendig voraussetzte. Den Vervollkommnungsweg, auf dem sich die Seele von den ungeordneten, d.h. nicht auf Gott ausgerichteten Leidenschaften befreien und damit einen Zustand der Leidenschaftslosigkeit (in der stoischen Philosophie apátheia, Apathie genannt) erreichen sollte, beschrieb Clemens als „Vergöttlichung“ (theopoiesis) Die höchste Gnosis und das Ziel des Weges bildete, gut platonisch, die Schau (theoria) Gottes. Die Alexandri24

Fürst, Christentum als Intellektuellen-Religion.

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ner blieben aber nicht bei der Perspektive auf das gläubige Individuum stehen. Namentlich Origenes zeichnete den Erlösungsweg des Einzelnen in eine umfassende spekulative Kosmologie ein. Mit seiner beeindruckenden Synthese von biblisch-christlicher Überlieferung und platonischer Philosophie gab er der Theologie wichtige Impulse und legte den Grund für die Entstehung der eigentlichen christlichen Mystik. Origenes25 (ca. 184/85–254) war so etwas wie ein Star-Intellektueller seiner Zeit, der auch von gebildeten Heiden hoch geschätzt wurde. Die lose mit der christlichen Gemeinde Alexandrias verbundene Katechetenschule, die er leitete, hatte akademisches Niveau und wurde nicht nur von Christen besucht. Nachdem sich das Verhältnis zu seinem Ortsbischof zusehends verschlechterte, ließ er sich in Caesarea in Palästina nieder. In der großen Christenverfolgung des Jahres 249 verhaftet und gefoltert, starb er 254 an den Spätfolgen. Origenes hatte in Alexandria parallel zu seiner eigenen Lehrtätigkeit fünf Jahre lang bei dem Mittelplatoniker Ammonios Sakkas studiert, möglicherweise gleichzeitig mit dem jungen Plotin, und dort den Platonismus gründlich kennengelernt. Seinem theologischen System, wie er es in seiner großen Abhandlung „Peri archon“ (lat.: „De principiis“, Über die Grundlehren), die man als das erste Lehrbuch der Systematischen Theologie überhaupt bezeichnen könnte, entwickelt hat, ist dieser Hintergrund deutlich anzumerken. Origenes hat den Platonismus aber verchristlicht und mit der Vorstellung der christlichen Heilsgeschichte von Schöpfung, Fall und Erlösung verbunden. Auch für Origenes war Gott der Urgrund alles Seins, der in einem stufenweisen Emanationsprozess alles Seiende aus sich selbst hervorbrachte. Allerdings war diese erste Schöpfung rein geistig, und erst infol25

Crouzel, Origène; McGinn, Die Mystik im Abendland, I 165–195.

3. Christlicher Platonismus: Origenes

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ge des Sündenfalls schuf Gott die materielle Welt und schloss die gefallenen Seelen in materielle menschliche Leiber ein – nicht zur Bestrafung, sondern als Gelegenheit zur Bewährung. Die Erlösung und Rückkehr wurde möglich durch Christus: den göttlichen Logos, den Gott zuallererst als sein wahres Ebenbild aus sich herausgesetzt hatte und der sich mit einer vom Fall unbefleckt gebliebenen menschlichen Seele und einem Körper verbunden hatte. Durch seine Predigt und sein Vorbild leitete er die Menschen auf dem Weg zur Erlösung an – jenem langen, auch über den leiblichen Tod hinaus andauernden Vervollkommnungs- und Vergöttlichungsweg, auf dem sie die materielle, fleischliche Existenz überwinden, um Gott ähnlich zu werden. Auf lange Sicht, so glaubte Origenes, würden so schließlich alle Geistwesen wieder an ihren Ursprungsort zurückkehren und die materielle Welt zerstört werden. Dann wäre die Wiederherstellung aller Dinge (apokatástasis pantón) – ein Begriff aus der griechischen Kosmologie – erreicht. Origenes hat damit die christliche Erlösungsvorstellung erstmals im platonischen Schema von Ausgang und Rückkehr (próodos – epistrophé, exitus – reditus) formuliert. Der individuelle Weg der Seele zur Erlösung wird als eine Reinigung vom Materiellen und von den Leidenschaften mit dem Ziel der Vergöttlichung verstanden. Metaphorisch charakterisiert Origenes den Erlösungsweg bevorzugt als einen Aufstieg, der sich über verschiedene Stufen vollzieht. Entsprechend den drei angeblich von König Salomo verfassten Büchern des Alten Testaments – dem moralisch belehrenden Buch der Sprüche, dem weisheitlich belehrenden Buch des Predigers (Kohelet) und dem die Vereinigung der Liebenden feiernden Hohenlied – unterscheidet er drei solche Stufen: das tugendhafte Leben, die Erkenntnis der Natur der Dinge und die Schau oder Kontemplation. In der späteren Auf-

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II. Platon in der Wüste

stiegsmystik wurde daraus der geläufige Dreischritt von Reinigung – Erleuchtung – Einung, auch wenn im Laufe der Zeit noch eine ganze Anzahl weiterer Stufenschemata ausgearbeitet werden sollte. Origenes brachte die mystische Schau aber auch mit dem alttestamentlichen Hohenlied der Liebe in Verbindung. Darin ist neben seiner Einführung des platonischen Aufstiegsgedankens in die christliche Heilslehre sein zweites großes Vermächtnis an die christliche Mystik zu sehen. Möglich wurde diese Verbindung durch die besondere Art der Bibelauslegung, die Origenes im Anschluss an die ältere hellenistische Philologie und an den jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien entwickelte und die mehr als ein Jahrtausend lang für die christliche Schriftauslegung maßgeblich blieb. Danach enthält die Bibel als Urkunde der göttlichen Offenbarung mehr Wahrheiten, als ihr Wortlaut vermuten lässt. Tatsächlich liegen unter und hinter dem vordergründigen Wortsinn weitere Sinnebenen verborgen, die sich auf moralische oder dogmatische Wahrheiten beziehen. Die übertragende Ausdeutung der Bibel auf solche verborgenen Sinnebenen hin nennt man allegorische Auslegung oder Allegorese. Origenes selbst und seine Nachfolger sprachen zur Unterscheidung vom Wortsinn der Bibel hier vom „mystischen“, also eigentlich: „geheimen“ Sinn der Heiligen Schrift. Die oft vertretene Ansicht, dieser Sprachgebrauch von „mystisch“ habe mit der mystischen Religiosität nichts zu tun, ist offensichtlich irrig. Denn so stark Origenes vom Platonismus geprägt war, so war er doch auch eindeutig Bibeltheologe und gewann das, was man seine „Mystik“ nennen kann, auch durch „mystische“ Auslegung der Bibel. Sein allegorisierendes Interpretationsverfahren gestattete ihm, das Ziel des Erlösungsweges, das er gut platonisch als Kontemplation auffasste, auch mit erotischen Bildern wie dem Kuss (Hld 1,2), der Umarmung

4. Gregor von Nyssa

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(Hld 2,6) oder der Liebeswunde (Hld 2,5) als eine Liebesvereinigung der bräutlichen Seelen mit ihrem göttlichen Bräutigam zu beschreiben. Damit wurde Origenes zum Begründer der vor allem im Mittelalter wichtig gewordenen Tradition der Brautmystik. Daneben findet sich bei Origenes noch ein weiteres Bild, das bei den Kirchenvätern des Altertums verschiedentlich wieder auftaucht und schließlich für Meister Eckhart zentrale Bedeutung gewann: das Bild der Gottesgeburt in der Seele. Hier erscheint die menschliche Seele nicht als Braut, sondern als Mutter Christi, und die Einigung wird nicht als Vermählung, sondern als Geburt imaginiert. Schließlich geht auch die in der Geschichte der Mystik prominente Vorstellung von den geistlichen Sinnen der Seele auf (Clemens und) Origenes zurück. Demnach verfügt der Mensch neben den bekannten fünf Sinnen, mit denen er sich seine materielle Umwelt erschließt, analog auch über höhere, geistige Sinne: ein geistiges Sehen, Hören, Berühren, Riechen und Schmecken, mit denen er Gott und die geistige Welt wahrnimmt. Der gefallene Mensch ist sich dieser Sinne nicht bewusst und gebraucht sie nicht. Doch etwa in der Beschäftigung mit dem mystischen Sinn des Hohenliedes werden diese Sinne in ihm erweckt, und er entwickelt schließlich die Fähigkeit, Gott zu schauen oder zu berühren. 4. Gregor von Nyssa Gregor (ca. 333–394), ein Bruder des Kirchenvaters Basilius von Caesarea, war seit 372 Bischof der kappadokischen Stadt Nyssa.26 Gemeinsam mit Basilius und dessen Freund Gregor von Nazianz arbeitete er 26 Daniélou, Platonisme et théologie mystique; Canévet, Gregor von Nyssa; Marxer, Gregor von Nyssa.

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II. Platon in der Wüste

die maßgebliche, auf dem Konzil von Konstantinopel 381 dogmatisierte Endgestalt der Trinitätslehre aus. Wie Origenes, von dessen Theologie er stark beeinflusst war, verband Gregor von Nyssa biblisches Christentum und platonische Philosophie und baute die Konzeption einer platonisierenden christlichen Aufstiegsmystik systematisch weiter aus. Man hat ihn in der französischen Forschung daher mit einem gewissen Recht den „Vater der christlichen Mystik“ oder „Begründer der mystischen Theologie“ genannt. Freilich hat er fast nur im griechischen Osten gewirkt; die lateinische Christenheit des Westens hat von seinem Werk keine Notiz genommen. Auch für Gregor besteht das höchste Ziel in der Schau Gottes (theoría). Dabei betont er jedoch deutlich stärker als Origenes die prinzipielle Unerkennbarkeit und Unbegreiflichkeit Gottes. Dies ist ein Zug, der in unterschiedlich starker Ausprägung für die gesamte christliche Mystik bestimmend geworden ist. Da, wo Gottes Unerkennbarkeit besonders herausgestrichen wird, bedeutet das im Extremfall, dass sich gar keine positiven Aussagen über Gott machen lassen. Es bleibt dann nur noch übrig, alles das, was sich positiv sagen lässt, als unzutreffend zu verneinen. In diesem Fall spricht man von einer negativen oder apophatischen Theologie. Bei Gregor führt die apophatische Tendenz nicht dazu, dass er gar keine Gotteserkenntnis für möglich hält. Der Grund hierfür liegt im Charakter der menschlichen Seele als Bild Gottes. Zwar kann der Mensch Gott nicht von Angesicht zu Angesicht schauen. Doch weil Gott die menschliche Seele nach seinem Ebenbild erschaffen hat (Gen 1,26f.), kann man ihn dort wie in einem Spiegel erblicken. Allerdings ist das Bild Gottes in der Seele durch die Sünde entstellt und verdunkelt, der Spiegel getrübt und blind. Das Bild Gottes muss erst in seiner ursprüngli-

4. Gregor von Nyssa

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chen Lauterkeit wiederhergestellt, die Seele gereinigt und von den Verstrickungen in die sinnliche Welt befreit werden. Gelingt dies, so kommt es zur Schau Gottes, zur Kontemplation; man findet Gott in der eigenen Seele, in der er tatsächlich schon immer gegenwärtig war, weil er und die Seele wesensverwandt sind. Allerdings bleibt die Schau auch dann noch indirekt und unvollkommen. Aufgrund seiner Begrenztheit ist der Mensch unfähig, die Fülle der Gottheit zu erfassen. Immer wieder und und immer weiter muss er sich, mit Phil 3,13 gesprochen, in Gott hinein „ausstrecken“. Dieses Ausstrecken, die „Epektase“, bildet den Habitus des Menschen auf dem mystischen Weg – einem Weg, der nie, auch nicht im Himmel, ans Ziel kommt und auf dem es gilt, endlos fortzuschreiten. Wie wird nun aber die Reinigung der Seele bewirkt, die die Voraussetzung dafür ist, durch Einkehr in sich selbst zur Schau Gottes zu gelangen? Gregor denkt hier wie Origenes an einen aufsteigenden Stufenweg. Dabei kennt er Modelle mit fünf oder mit acht Stufen, analog den fünf „Büchern“ des Psalters oder den acht Seligpreisungen der Bergpredigt. Am wichtigsten aber wurde das Drei-Stufen-Modell, das Gregor im Anschluss an Origenes erarbeitet und auf Episoden der Mose-Geschichte bezogen hat. Auf der ersten Stufe erfolgt die Reinigung (kátharsis) der Seele von Sünde und Irrtum und die Erlangung der Leidenschaftslosigkeit (apátheia). Diese Stufe ist allegorisch in Moses Gottesbegegnung im brennenden Dornbusch vorgezeichnet (Ex 3,2ff.). Die zweite Stufe des Aufstiegs ist durch die göttliche Führung der Israeliten in der Wüste durch die Wolken- und Feuersäule präfiguriert. Dies ist die Stufe der Erleuchtung (photismós), wenn sich der Geist über die sinnliche Erscheinungswelt hinaus in die Wirklichkeit der Geis-

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teswelt erhebt, die er nicht mehr mit den natürlichen, sondern mit den geistlichen Sinnen der Seele erfährt. Das Ziel der Wüstenwanderung ist der Berg Sinai, auf dem Mose Gott begegnete (Ex 24,12–18) und der allegorisch für den Ort der Gotteserkenntnis steht. Hier, auf der dritten Stufe des Aufstiegs, kommt es zu Schau (theoría) – einer paradoxen Schau freilich, die erkennt, dass das Wesen Gottes nicht zu schauen und nicht zu begreifen ist. Eben dies besagt das biblische Bild der dunklen Wolke (Dtn 4,1; Hebr 12,18), die über dem Berg der Gottesschau liegt. In der späteren Rezeption des dreistufigen Aufstiegsweges wurde die dritte Stufe meist nicht als Stufe der Schau, sondern als Stufe der Einung (griech. hénosis, lat. unio) bezeichnet. Entgegen heute verbreiteten Vorstellungen ist der mystische Weg für Gregor wie für die meisten christlichen Mystiker übrigens nicht der einsame Weg des frommen Individuums, sondern vollzieht sich in der Gemeinschaft der Kirche, ihres Gottesdienstes und ihrer Sakramente. Auch wenn man nicht so weit gehen will wie Jean Daniélou, der die drei Stufen des mystischen Aufstiegs den Sakramenten Taufe, Firmung und Eucharistie zuordnen wollte,27 ist – wie auch schon bei Origenes – die ekklesiologische und sakramentale Verankerung von Gregors Mystik offensichtlich.

5. Das Mönchtum Die entscheidende soziale Basis der christlichen Mystik war die gegen Ende des 3. Jahrhunderts neu entstandene Lebensform des Mönchtums. Man kann mit Recht sagen, dass die christliche Mystik des Altertums 27

Daniélou, Platonisme et theólogie mystique, 26.

5. Das Mönchtum

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ihre eigentliche Gestalt durch die Verbindung der christlich rezipierten platonisierenden Aufstiegslehren mit den asketischen Idealen des Mönchtums erhielt. Wir können hier nicht auf die Ursprünge des monastischen Ideals im älteren Christentum eingehen. Es genügt festzuhalten, dass sich im 3. Jahrhundert vielerorts im Umkreis der christlichen Gemeinden kleine Zirkel asketisch lebender Personen sammelten, aus denen im späteren 3. Jahrhundert das eigentliche Mönchtum hervorging. Die Asketen zogen nun aus der städtischen Gesellschaft, dem Familienverband und der christlichen Gemeinde aus und lebten allein – nichts anderes bedeutet das griechische monachós, von dem unser Wort „Mönch“ kommt – in der Wüste. Die Anfänge dieser Entwicklung lagen in Ägypten, wo gnostische Ideen starken Widerhall gefunden hatten und die Vollkommenheitslehren des Origenes eine große Wirkung entfalteten, und in Syrien. Zwei Grundformen des Mönchtums sind zu unterscheiden: das anachoretische (oder eremitische) und das koinobitische Mönchtum. Das anachoretische oder Einsiedler-Mönchtum war die ursprünglichere Form. Die Anachoreten zogen sich nach dem Vorbild Jesu (Mk 1,13) in die Wüste zurück, wo sie allein oder in losen Kolonien kleine Einsiedeleien bewohnten. In der Einsamkeit suchten sie ein Leben völliger Hingabe an Gott zu praktizieren und die absolute Leidenschaftslosigkeit (apátheia) und Ruhe (hesychía) der Seele zu erreichen. Als Mittel dazu dienten ihnen beständiges Gebet, Schweigen und Meditation der Heiligen Schrift, aber auch Handarbeit und asketische Bußübungen wie Fasten und Schlafentzug. Nur wenig jünger war das koinobitische oder Klostermönchtum. Auch hier sonderte man sich von der Welt ab, fand aber nicht in der Einsamkeit, sondern in der Gemeinschaft das wirksame Mittel der Ausrichtung auf Gott. Die Klostermönche beobachteten strikte Gleichför-

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migkeit in Lebensweise und Kleidung, übten strenge Disziplin und wie die Anachoreten Askese. Die monastisch Lebenden galten als die vollkommenen Christen. Nach dem Ende der Christenverfolgungen verkörperten sie das Ideal der Heiligkeit, für das bis dahin die Märtyrer gestanden hatten. Damit bildeten sie eine über die gewöhnlichen Gemeindechristen erhobene Elite. Nicht zufällig erlebte das junge Mönchtum im vierten Jahrhundert eine rasante Ausbreitung, als im Zuge der sogenannten Konstantinischen Wende das Christentum um den Preis der Ermäßigung seiner ursprünglichen Strenge zur Religion der Massen wurde. Doch indem es gelang, das Mönchtum innerhalb der Großkirche zu halten, erschöpfte es sich nicht in Opposition, sondern konnte auf Dauer eine wichtige Entlastungsfunktion wahrnehmen: Während für die gewöhnlichen Gläubigen ethische Mindeststandards im Umfang der Zehn Gebote ausreichten, konnte im Sinne einer Zwei-StufenEthik die „bessere Gerechtigkeit“ (Mt 5,20) gemäß der Bergpredigt an die monastische Elite delegiert werden. In dieser Konstellation bildete die Mystik mit ihren Vervollkommnungslehren so etwas wie die spezifische Frömmigkeitsform des Mönchtums.

6. Evagrius Ponticus Für die neue Verbindung von platonisierender Aufstiegsmystik in der Tradition des Origenes mit den asketischen Vervollkommnungsidealen des Mönchtum steht ein heute nur wenig bekannter Mönchstheologe aus Kleinasien: Evagrius Ponticus (ca. 345– 399).28 Evagrius war Schüler von Basilius von Caesa28 Balthasar, Metaphysik und Mystik des Evagrius Ponticus; McGinn, Die Mystik im Abendland, I 214–232.

6. Evagrius Ponticus

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rea und Gregor von Nazianz und theologisch stark von Origenes geprägt. In der östlichen Reichshauptstadt Konstantinopel wirkte er als Diakon, zog sich dann aber als Mönch in die ägyptische Wüste zurück. Mit seinen asketisch-moralischen Schriften übte er eine große Wirkung im östlichen, über seinen Schüler Johannes Cassian aber auch im westlichen Mönchtum aus. Seine Leistung besteht in einem Zweifachen: Einerseits hat er die mystischen Ansätze des Origenes in ein festes, vereinfachtes System gebracht, andererseits hat er konsequent mystische Schau und monastische Askese aufeinander bezogen. Gut origenistisch versteht Evagrius den mystischen Aufstiegsweg der Seele als Rückkehr der gefallenen geistigen Schöpfung aus der materiellen Welt zu Gott. Dieser Weg stellt sich ihm im Wesentlichen zweistufig dar. Die erste Stufe ist die praktiké, das praktische, tätige Leben. Hier gilt es, durch die Übung der Askese die Laster zu überwinden und Tugend zu erwerben. Welche Laster es dabei zu bekämpfen galt, hat Evagrius im Schema der acht sündhaften „Gedanken“ zusammengefasst: Völlerei, Unzucht, Habgier, Traurigkeit, Zorn, Trägheit, Ehrsucht und Hochmut. Das Ziel der praktiké ist der Erwerb der Leidenschaftslosigkeit (apátheia). Mit ihr werden die Strebungen des Menschen von der materiellen Welt abgelöst und die fünf geistlichen Sinne geöffnet. Die apátheia ist die notwendige Voraussetzung für die zweite Stufe, die Schau (theoría), die Evagrius auch als „Gnosis“ bezeichnet; dementsprechend heißt diese Stufe die gnostiké. Genau genommen, umfasst diese Stufe zwei aufeinander aufbauende Grade der Beschauung. Insofern liegt unter dem Zweiermuster ein Dreierschema, ähnlich der verbreiteteren Folge von Reinigung, Erleuchtung und Einung. Der erste Grad der gnostiké besteht in der physiké, der tieferen Erkenntnis der materiellen wie immateriellen Dinge

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II. Platon in der Wüste

dieser Welt; im Licht der geistlichen Sinne werden diese auf die göttliche Wirklichkeit hin transparent, werden Spiegel der verborgenen Weisheit, Macht und Güte Gottes. Das eigentliche Wesen Gottes, das innere Geheimnis der Trinität, wird aber erst auf der obersten Stufe, in der nicht durch menschliches Bemühen, sondern allein durch Gottes Gnade erreichbaren eigentlichen Gottesschau (theoría), die Evagrius auch theologiké nennt, offenbar. Dabei fehlt nicht ein an Gregor von Nyssa erinnernder apophatischer Vorbehalt; denn das Nichterkennen der göttlichen Dreifaltigkeit wird nie ein Ende haben. Bezeichnend erscheint die Tatsache, dass Evagrius die Schau auch als „reines Gebet“ kennzeichnet: Mit der Gleichsetzung der mystischen Kontemplation mit dem im Mönchtum gepflegten dauernden Gebet war die Verbindung von Mystik und Mönchtum endgültig etabliert. 7. (Pseudo-)Dionysius Areopagita Einen Höhepunkt der altkirchlichen platonisierenden Mystik stellt das Werk eines Schriftstellers dar, der gewöhnlich als (Pseudo-) Dionysius Areopagita (oder, in der ursprünglichen griechischen Namensform als Pseudo-Dionysios Areopagites) bezeichnet wird.29 Er selbst nennt sich Dionysius und deutet an, ein Schüler des Apostels Paulus zu sein. Zusammen mit dem stark philosophischen Charakter seiner Schriften und seiner Betonung der Unerkennbarkeit Gottes führte dies dazu, dass der Autor mit jenem Athener Ratsherrn Dionysius identifiziert wurde, der sich unter der Predigt des Paulus auf dem Areopag bekehrt hatte (Apg 17,34) und später fälschlich auch mit dem französi29

Suchla, Dionysius Areopagita; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 31–82; McGinn, Die Mystik im Abendland, I 233– 269.

7. (Pseudo-)Dionysius Areopagita

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schen Nationalheiligen Dionysius von Paris (Saint Denis) gleichgesetzt wurde. Der Nimbus des Paulusschülers hat wesentlich zur Wertschätzung seiner eigentümlichen, stark platonisch gefärbten Lehre beigetragen. Erst die Humanisten Lorenzo Valla (gest. 1457) und Erasmus von Rotterdam (gest. 1536) erschütterten nachhaltig den Glauben an die traditionelle Identifizierung des Verfassers, und 1895 gelang der Nachweis, dass seine Schriften die Philosophie des 485 gestorbenen Neuplatonikers Proklos voraussetzen. Der Name Dionysius Areopagita ist daher ein Pseudonym, und dies will der heute gebräuchliche Namenszusatz „Pseudo-“ anzeigen. Wer der Autor wirklich war, ist nicht mit Sicherheit festzustellen; wahrscheinlich war es ein zwischen 485 und 528 in Syrien schreibender Mönch. Bei den Schriften des (Pseudo-)Dionysius – sie werden seit dem 6. Jahrhundert zum sogenannten Corpus Dionysiacum zusammengefasst – handelt es sich um vier Traktate und zehn Briefe.30 Gewöhnlich werden die ursprünglich auf Griechisch verfassten Traktate mit ihren lateinischen Titeln zitiert. Der bekannteste Traktat ist betitelt „De mystica theologia“ („Von der mystischen Theologie“) und behandelt die Vervollkommnungslehre. Sein Titel hat maßgeblich dazu beigetragen, den Begriff des „Mystischen“, der bislang nur für den allegorischen Sinn der Bibel (sensus mysticus) stand, in einem spezielleren Sinne zu füllen. Auch wenn die „mystische Theologie“ des Dionysius nicht deckungsgleich mit unserem heutigen Begriff der „Mystik“ ist, hat sie diesen doch mit vorbereitet. Die drei weiteren Traktate behandeln die Gotteslehre („De divinis nominibus“, „Von den göttlichen Namen“) sowie die Ordnung der Engelwelt („De cae30

Textauswahl in deutscher Übersetzung: Wehr, Der Mystiker Dionysius Areopagita.

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lesti hierarchia“, „Von der himmlischen Hierarchie“) und die Ordnung der kirchlichen Ämter und Heilsgüter („De ecclesiastica hierarchia“, „Von der kirchlichen Hierarchie“). Dionysius hat die konsequenteste und eindrucksvollste Synthese von Neuplatonismus und Christentum ausgearbeitet. Grundlage seiner Theologie ist die uns bereits bekannte neuplatonische Seinslehre. Gott ist streng welt-transzendent, er ist das Eine und das Sein selbst und bleibt stets in sich selbst identisch – Dionysius‘ philosophischer Gewährsmann Proklos sprach von der moné („Bleiben“). Zugleich aber fließt er in seinen Wirkungen in einer Reihe von Emanationen beständig aus sich heraus in die Vielfalt der intelligiblen und sensiblen Welt. Dabei setzt das Eine (hén) zunächst den Geist (noũs) und dann die Seele (psyché) aus sich heraus; diese drei von Plotin so genannten Hypostasen identifiziert Dionysius mit den drei Personen der Trinität. Auf den weiteren Stufen bringt das Ausfließen des Einen alles weitere geistige und materielle Seiende hervor. Es entsteht so eine komplexe, von oben nach unten durchstrukturierte hierarchische Ordnung des Seins. Dabei kehrt die durch die Dreizahl der göttlichen Hypostasen vorgegebene Dreier-Struktur als Ordnungsprinzip immer wieder. Dem beständigen Hervorgang (próodos) alles Seienden aus dem Einen entgegengesetzt vollzieht sich ebenso beständig die Rückkehr (epistrophé) des Seienden aus der Vielfalt der Erscheinungswelt zu seiner Quelle in der göttlichen Einheit, wodurch Gott seine Identität wiedergewinnt. Wie kein anderer Theologe vor ihm hat Dionysius sich mit den Konsequenzen der neuplatonischen Gottes- und Seinslehre für die Möglichkeit von „Theologie“ als dem Wissen und Reden von Gott beschäftigt. Wie kann der Mensch als endliches Geschöpf etwas von dem unendlichen Gott erkennen? Wie lässt sich

7. (Pseudo-)Dionysius Areopagita

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der eine und ungeteilte Gott in seinem ewigen Wesen mit den Mitteln des menschlichen Denkens und Sprechens erfassen, wo beide gleichermaßen auf begrifflichen Unterscheidungen beruhen, die sich sinnvoll nur auf die Vielfalt der Erscheinungswelt anwenden lassen, wo etwas dies oder das ist, nicht aber auf das transzendente Eine, in dem es keine Unterschiedenheit gibt? Das ist das grundlegende Problem, an dem sich Dionysius abarbeitet. Seine berühmte Mystik ist ein Teil seiner Antwort. Die besondere Pointe seiner theologischen Erkenntnislehre besteht darin, dass Dionysius sie mit dem Schema von Ausgang und Rückkehr (próodos – epistrophé) der neuplatonischen Seinslehre verbindet. Dementsprechend kennt er zwei Arten von Theologie: die der Abstiegsbewegung des proódos zugeordnete „kataphatische“ oder „affirmative Theologie“ und die der Aufstiegsbewegung der epistrophé zugeordnete „apophatische“ oder „negative Theologie“. Ob Dionysius neben der rational konstruierten kataphatischen Theologie womöglich zusätzlich eine von der Sinneswahrnehmung ausgehende „symbolische Theologie“ – so der überlieferte Titel eines verlorenen (oder nie geschriebenen?) Traktats – postuliert hat, kann hier außer Betracht bleiben. Die kataphatische oder affirmative Theologie schreibt Gott Begriffe oder Namen zu. Dionysius unterscheidet drei Strategien oder „Wege“ (viae) einer solchen Rede von Gott: die via positiva, die via analogiae und die via eminentiae. Die via positiva spricht von Gott, indem sie ihm positive Prädikate beilegt, die via analogiae beschreibt Gottes Wesen mit Hilfe biblischer Bilder und Symbole. Für beide viae geben die in der Bibel geoffenbarten Gottesnamen Ausgangspunkte. So kann man Gott als gut, vollkommen, gerecht, Licht usw. prädizieren. Freilich weist schon die Vielzahl und Austauschbarkeit der biblischen Gottesnamen darauf

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II. Platon in der Wüste

hin, dass keines dieser Prädikate Gott wirklich gerecht wird, weil sie die grundlegende Differenz von Gott und Welt nicht berücksichtigen. Gott ist ja nicht in gleicher Weise gut oder gerecht wie beispielsweise ein Mensch oder Licht wie irgendeine andere Lichtquelle. Man muss diese Prädikate daher in der via eminentiae noch einmal übersteigern: Gott ist über-gut, übervollkommen, über-gerecht, über-licht usw. Die via eminentiae bildet positive Begriffe, die aber in der übersteigernden, hypereminenten Zusammensetzung letztlich schon auf die Negation des zugrunde liegenden Prädikats hinauslaufen. Damit leitet sie zu der die affirmative Theologie ergänzenden apophatischen oder negativen Theologie über, die Dionysius in seinem Traktat „De mystica theologia“ behandelt. Die apophatische Theologie ist in seinem ontologischen System der Epistrophe zugeordnet. Denn mit dem Erkenntnisaufstieg, der über die Welt der begrifflichen Unterscheidungen hinausführt, konzentriert sich auch die auf diesen Unterscheidungen beruhende Sprache und verschwinden die Begriffe. Man muss daher konstatieren, dass letztlich kein (auf einer Unterscheidung beruhender) Begriff geeignet ist, den einen und unendlichen Gott zu prädizieren. Diese Einsicht erfordert es, über die eminente Redeweise hinausgehend, jeden derartigen Begriff zu verneinen. Im Vollzug einer solchen negativen Theologie muss man sagen: Gott ist nicht-gut, nicht-vollkommen, nicht-gerecht, nicht-licht usw. Damit ist natürlich gerade nicht gemeint, dass Gott böse, unvollkommen, ungerecht oder dunkel wäre, sondern nur, dass keiner dieser Begriffe das trifft, was Gott in seinem Wesen ist. Die vollkommene Apophase muss aber schließlich auch die Verneinung noch überschreiten. Wenn man am Ziel der Epistrophe von Gott in seinem eigentlichen, sich ewig selbst bleibenden Wesen – mit Proklos gesprochen: in seiner Mone – reden will, kann man

7. (Pseudo-)Dionysius Areopagita

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dies nur tun, indem man Position und Negation als gleichermaßen gültig nebeneinander stehenlässt. Indem man die widersprüchlichen Prädikate gleichberechtigt gelten lässt, verlässt man die Unterscheidungen und Begriffe der Erscheinungswelt und tritt in die göttliche All-Einheit ein. Hier ist der Ort der eigentlichen mystischen Gotteserkenntnis, einer momenthaften „ekstatischen“ Erfahrung des Außer-Sich-Seins, einer nicht-schauenden Schau, die die Grenzen der Vernunft und der Sprache überschreitet. Von ihr lässt sich allenfalls im Paradox reden. Dionysius, für den die biblisch begründete Licht-Metaphorik eine überragende Rolle spielt, hat Gott so in einer berühmten hypereminent-paradoxen Formulierung als das „überlichte Dunkel“ charakterisiert. Doch letztlich ist hier allein noch Raum für das Schweigen. Dass in der Ekstase Vernunft und Sprache transzendiert werden, heißt nicht, dass die areopagitische Mystik „irrational“ wäre – der Weg zur transrationalen Gotteserkenntnis ist hier ja durchaus streng rational konzipiert. Sie ist aber auch nicht affektiv: denn wie die Vernunft, so müssen am Ende auch alle Affekte und Emotionen ekstatisch überschritten werden. Es ist daher auch nicht möglich, der Ekstase eine Erfahrungswirklichkeit zuzuordnen. Wie kann die mystische, paradoxe, nicht-schauende Schau Gottes nun praktisch erreicht werden? Der Aufstieg dahin erfolgt über die zwischen Gott und dem Menschen vermittelnden sogenannten Hierarchien. Den Begriff „Hierarchie“ (heilige Ordnung) hat Dionysius geprägt. Er unterscheidet zwei solcher Hierarchien: die himmlische Hierarchie der Engel und die irdische Hierarchie der kirchlichen Ämter. Beide dienen dazu, das von Gott kommende Licht, die Einstrahlung, durch die er dem Seienden Erkenntnis schenkt, in absteigender Folge von Stufe zu Stufe weiterzugeben. Dasselbe Licht weist dann umgekehrt

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II. Platon in der Wüste

wiederum von Stufe zu Stufe aufwärts den Rückweg zu Gott. Die himmlische Hierarchie besteht aus den neun „Chören“ (Ordnungen) der Engel, die nach biblischen Bezeichnungen benannt und entsprechend der Dreizahl der trinitarischen Personen in drei Triaden unterteilt sind: auf der obersten Ebene stehen die „Seraphim“, „Cherubim“ und „Throne“, auf der zweiten die „Herrschaften“, „Mächte“ und „Gewalten“ und auf der dritten die „Fürsten“, „Erzengel“ und „Engel“. Von dort wird das göttliche Licht an die kirchliche Hierarchie weitergegeben. Die kirchliche Hierarchie ist ebenfalls in drei Triaden strukturiert, die jedoch anders angelegt sind: die erste besteht aus den drei Sakramenten Firmung, Taufe und Eucharistie, die zweite aus den drei Ämtern des Bischofs, des Priesters und des Diakons und die dritte aus drei Klassen von Gläubigen: den Mönchen, den Getauften und den Taufbewerbern (Katechumenen). Der mystische Aufstieg zu Gott ist für Dionysius kein einsamer, individualistischer Heilsweg, sondern vollzieht sich in den und durch die Hierarchien, insbesondere auch durch die Kirche, ihre Ämter und ihre Sakramente. Dabei sind die drei hierarchischen Kräfte wirksam, die wir aus den älteren mystischen Stufenlehren kennen: Reinigung, Erleuchtung und Vollendung. Diese wirken im menschlichen Geist, aber auch in jedem anderen Geistwesen und in den Hierarchien. Dabei bewirken auf jeder Stufe jeweils die Gereinigten bei anderen die Reinigung, die Erleuchteten die Erleuchtung, die Vollendeten die Vollendung. Innerhalb der kirchlichen Hierarchie heißt das konkret, dass die Kirche durch die Taufe reinigt, durch die Eucharistie erleuchtet und durch die Firmung vollendet; es reinigen die Diakone, es erleuchten die Priester, es vollenden die Bischöfe; die Katechumenen werden gerei-

7. (Pseudo-)Dionysius Areopagita

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nigt, die Getauften erleuchtet, die Mönche vollendet. In einer analogen Dynamik setzt sich dies auf den Stufen der himmlischen Hierarchie fort. Dabei ist der Aufstieg nicht so zu verstehen, als ob es um ein wirkliches Durchlaufen aller einzelnen Stufen – vom Taufbewerber über das Priester- und Bischofsamt und schließlich in eine Engelsexistenz – ginge. Vielmehr muss man sich die innere Bedeutung dieser Stufen erschließen und zu eigen machen. Mit seiner Begriffsprägung der „mystischen Theologie“, mit seiner beherrschenden Lichtmetaphorik, seinem Modell einer negativen Theologie und seinem von den drei hierarchischen Kräften strukturierten Aufstiegsweg hat Dionysius der späteren christlichen Mystik ein bedeutendes Erbe mitgegeben. Eigentümlichkeiten wie die Tatsache, dass Christus, seiner Inkarnation und seinem Leiden in diesem System keine zentrale Funktion zukommt, haben verschiedentlich und bis heute Kritik auf sich gezogen. Dennoch ist die Wirkung der areopagitischen Theologie und Mystik kaum zu unterschätzen – gerade auch im lateinischen Westen der christlichen Welt. Tatsächlich wurde Dionysius als Mystiker eigentlich nur hier rezipiert, während er im griechischen Osten zwar auch hochgeschätzt, aber nicht in gleicher Weise als Lehrer des mystischen Aufstiegs gelesen wurde. Als Brücke in den Westen fungierte eine prächtige Handschrift des Corpus Dionysiacum, die der byzantinische Kaiser Michael II. im Jahr 827 König Ludwig dem Frommen schenkte. Dieser gab bei Hilduin, dem Abt des Klosters St. Denis, dessen Patron mit Dionysius gleichgesetzt wurde, eine erste Übersetzung ins Lateinische in Auftrag. Doch erst die Neuübersetzung und Kommentierung, die der aus Irland stammende Johannes Scotus Eriugena (s.u. Kap. IV.2) nach 860 im Auftrag König Karls des Kahlen herstellte, eröffnete die abendländische Wirkungsgeschichte des Areo-

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II. Platon in der Wüste

pagiten. Die Einzelheiten müssen hier auf sich beruhen bleiben. Ganz allgemein kann man sagen, dass die eigentümlichen neuplatonischen Elemente zunehmend ausgeschieden wurden und die komplexe mystische Vervollkommnungslehre eine Vereinfachung und eine individualisierende und psychologisierende Umdeutung im Sinne einer inneren Erfahrung des Einzelnen erlebte.31 Eine berühmte These des Kunsthistorikers Erwin Panofsky (1892–1968) wollte sogar die gotische Architektur, wie sie erstmals beim Neubau der Abteikirche von St. Denis unter Abt Suger (1081–1151), einem Nachfolger Hilduins, Anwendung fand und in der das beim Areopagiten so bedeutsame Licht eine besondere Rolle spielt, auf Einflüsse des Dionysius und seines Kommentators Johannes Scotus zurückführen. Die heutige Forschung urteilt hier deutlich zurückhaltender.32

8. Augustinus Wir beschließen unseren Überblick über die Mystik des christlichen Altertums mit dem bedeutendsten Theologen des lateinischsprachigen Westens: Augustinus von Hippo (354–430).33 Chronologisch gehen wir damit ein Jahrhundert vor Dionysius zurück. Wir stoßen hier auf eine deutlich andere, eigenständige Weise der christlichen Rezeption des Neuplatonismus, die gleichfalls wichtige Impulse für die abendländische Mystik gab, auch wenn diese erst ab dem 12. Jahrhundert voll zur Wirkung kamen.

31 32 33

Vgl. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 57. Markschies, Theologie der gotischen Kathedrale. Brown, Augustinus von Hippo; Geerlings, Augustinus – Leben und Werk; Flasch, Augustin; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 83–117; McGinn, Die Mystik im Abendland, I 330–380.

8. Augustinus

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Generell kann man sagen, dass die christliche Theologie im griechischsprachigen Osten des Römischen Reichs während der ersten Jahrhunderte deutlich fortgeschrittener war als im lateinischsprachigen Westen. Erst seit dem Ende des 2. Jahrhunderts gibt es überhaupt eine lateinischsprachige Theologie, und erst ab dem 4. Jahrhundert erreichte sie ein der östlichen vergleichbares Niveau. Auch das Mönchtum war ein Produkt des griechischen Ostens gewesen und erst eine Generation später in den Westen gelangt. Zu den bedeutendsten Multiplikatoren monastischer Ideale im Westen gehörte Johannes Cassian (ca. 360 – ca. 435), der sich auf ausgedehnten Reisen durch Ägypten mit dem dortigen Mönchtum vertraut gemacht und sich schließlich in Marseille in Südgallien niedergelassen und dort zwei Klöster gegründet hatte. Theologisch war Cassian stark von Origenes und von Evagrius Ponticus geprägt. Mit seinen vielgelesenen Schriften übertrug er die monastischen Ideale des Ostens nach Westen; überhaupt hielt er allein die Mönche der Erlangung der christlichen Vollkommenheit für fähig. Dem westlichen Mönchtum hat Cassian auch die evagrianische Mystik vermittelt.34 Besonders propagierte er die an Evagrius anknüpfende Praxis des immerwährenden Herzensgebets, wie sie besonders im Osten populär wurde (s.u. Kap. III.1). Augustinus kann mit Recht als der abendländische Kirchenvater gelten. Bis zur Rezeption der aristotelischen Metaphysik in der Scholastik des 13. Jahrhunderts war die gesamte lateinische Theologie augustinisch geprägt, und auch darüber hinaus blieb sein Einfluss spürbar. Für die reformatorische Theologie wurde Augustinus mit seiner profilierten Lehre von Sünde und Gnade erneut zum maßgeblichen Referenzautor. 34

Vgl. McGinn, Die Mystik im Abendland, I 315–328.

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II. Platon in der Wüste

Dass Augustinus ein Mystiker war, ist seit dem 19. Jahrhundert immer wieder in Frage gestellt worden. Richtig ist, dass er die Vorstellung einer Einung der Seele mit Gott nicht kennt. Auch hat er kein System und keine Theorie der Mystik entwickelt. Doch offensichtlich hat er selbst mystische Erfahrungen gemacht, und auf jeden Fall legte er die Grundlagen, auf denen sich vor allem ab dem 12. Jahrhundert eine eigenständige westliche Mystik entfalten konnte. So oder so wird man ihn einen „Vater der Mystik“ nennen können.35 Augustinus war der typische spätantike Bildungsaufsteiger. Aus der römischen Provinz „Afrika“ stammend, hatte er eine Karriere als Rhetoriklehrer gemacht, die ihn bis in die damalige Kaiserresidenz Mailand führte. Obwohl Sohn einer christlichen Mutter, hatte er sich in seiner Jugend der gnostischen Neureligion des Manichäismus angeschlossen, weil sie ihm eine plausiblere Antwort auf seine Frage nach dem Ursprung des Bösen versprach. Die Frage, woher das Böse kommt, wenn Gott doch gut und allmächtig ist, löste sich scheinbar leicht auf, wenn man wie im gnostisch-dualistischen System der Manichäer Gut und Böse als zwei selbstständige Prinzipien annahm. Bezeichnenderweise war es der Neuplatonismus, der Augustinus in seiner Mailänder Zeit den Rückweg zum Christentum ebnete. In der monistischen platonischen Seinslehre fand er eine neue Lösung seiner alten Frage. Demnach gab es das Böse in Wahrheit nicht – es war ein Mangel an Gutem und damit auch ein Mangel an Sein, nicht aber eine eigene Substanz wie im Manichäismus. Neben dem Neuplatonismus waren es die Predigten des Mailänder Bischofs Ambrosius, die Augustinus der christlichen Großkirche wieder näherbrachten. Im August 386 hatte er im Garten seines Hauses ein Be35

Ebd., I 332–334.

8. Augustinus

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kehrungserlebnis, in der Osternacht des Jahres 387 empfing er die Taufe. In seine nordafrikanische Heimat zurückgekehrt, wurde Augustinus 396 Bischof der christlichen Gemeinde der Hafenstadt Hippo Regius im heutigen Algerien. Als wortmächtiger Prediger, fruchtbarer Schriftsteller und einflussreicher Kirchenpolitiker hat er hier bis zu seinem Tod im Jahr 430 gewirkt. Die Beschäftigung mit dem Neuplatonismus hat Augustinus dauerhaft geprägt, auch wenn er später vom platonischen Denken wieder weiter abgerückt ist. Vor allem sein Frühwerk der Jahre 386 bis 395 ist stark von der Synthese von neuplatonischer Philosophie und biblischem Christentum bestimmt. Das gilt auch für seine Mystik, die aber einen deutlich anderen Zuschnitt hat als etwa die areopagitische Mystik. In den im Winter 386/87 entstandenen „Soliloquia“ hat Augustinus sein theologisches Erkenntnisinteresse auf eine prägnante Formel gebracht: „Gott und die Seele will ich erkennen“. Beides gehört für ihn eng zusammen, und der Grund dafür liegt in der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die Wiederherstellung der durch den Sündenfall verdunkelten und entstellten Gottebenbildlichkeit in der Schau Gottes ist für Augustinus wie für viele andere Mystiker – erinnert sei etwa an Gregor von Nyssa – ein zentrales Thema. Einen besonderen Akzent erhält der Gedanke der Gottebenbildlichkeit bei Augustinus durch die Verbindung mit seiner besonderen Trinitätslehre. Demnach ist der Mensch nicht nur einfach Ebenbild Gottes (imago Dei), sondern näherhin Ebenbild der göttlichen Dreieinigkeit (imago trinitatis): aus der Dreiheit der menschlichen Geistesvermögen Gedächtnis (memoria), Einsicht (intelligentia) und Wille (voluntas) bzw. Liebe (amor) lässt sich per Analogie auf die Dreiheit der göttlichen Personen und deren Beziehungen

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II. Platon in der Wüste

zueinander schließen. Man hat insofern treffend von einer „psychologischen Trinitätslehre“ gesprochen.36 Aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen folgt für Augustinus zweierlei. Zum einen ist damit die Möglichkeit einer personalen, mystischen Begegnung von Gott und Mensch gegeben. Zum anderen bedeutet dies, dass Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis praktisch zusammenfallen: Selbsterkenntnis ist in einer unmittelbaren Weise zugleich Gotteserkenntnis und umgekehrt. Mehr als ein Jahrtausend später hat Johannes Calvin diesen Gedanken prominent an den Anfang seiner „Institutio Christianae Religionis“ gestellt. Wie die ältere christliche Mystik, so erkennt auch Augustinus der Schau (visio) Gottes eine Spitzenstellung zu. Grundlegende Überlegungen dazu finden sich schon in seinem 386 verfassten Traktat über das Wesen der Glückseligkeit „De beata vita“. Danach streben alle Menschen von Natur aus nach dem Glück, ohne dieses dauerhaft erlangen zu können. Der Besitz irdischer Güter kann das Glücksstreben nicht befriedigen, weil alles Irdische vergänglich ist. Allein der dauerhafte Besitz Gottes als des höchsten und ewiges Gutes schenkt wahre Erfüllung. Man kann die berühmte theologische Autobiographie Augustins, die „Confessiones“, als einen exemplarischen Kommentar zu dieser Einsicht und das berühmte Eingangswort als deren prägnante Formulierung lesen: „Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir [= Gott]“.37 Der beglückende Besitz Gottes, das „Genießen Gottes“ (frui Deo) wie Augustinus auch sagt, besteht, gut platonisch, in der Gottesschau, der visio oder contemplatio. Diese ist für ihn nicht primär wie im Neuplatonismus das jederzeit erreichbare Ziel des kontemplati36 37

Schmaus, Psychologische Trinitätslehre. Augustinus, Bekenntnisse, 33.

8. Augustinus

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ven Lebens, sondern zuerst und eigentlich ein eschatologisches Heilsgut: die ewige Seligkeit, deren sich die Erlösten im Himmel erfreuen werden und die ein Geschenk der göttlichen Gnade ist. Nur in unvollkommener Weise und gleichsam als Vorgeschmack der jenseitigen Seligkeit ist sie auch in diesem Leben kurzzeitig möglich. Als biblische Beispiele für diese Möglichkeit führt Augustinus Mose und Paulus an.38 Beide erlebten eine Entrückung (raptus), die ihnen die Schau (visio) Gottes eröffnete. Eine solche Entrückung setzt gewöhnlich die Trennung der Seele vom Leib durch den Tod voraus, sie ist aber auch möglich, wenn die Seele so losgelöst von den leiblichen Dingen und ihrer sinnlichen Erfahrung ist, dass sie, wie Paulus es beschreibt (2Kor 12,3), ebenfalls gleichsam außerhalb des Leibes ist. Gut neuplatonisch ist der Gedanke, dass das göttliche Licht nur geschaut werden kann, weil der menschliche Geist selbst von Gott erleuchtet wird und so an Gottes Licht Anteil hat. Anscheinend hat Augustinus derartige Erfahrungen selbst gemacht. In den „Confessiones“ hat er zwei mystische Erlebnisse geschildert. Wir geben seine Berichte hier im Wortlaut, da sie anschaulich machen, wie man sich einen platonisierenden mystischen Erkenntnisaufstieg vorzustellen hat. Die erste mystische Vision hatte Augustinus 386 in Mailand, nach der Lektüre der Platoniker. Beim Nachdenken über die Maßstäbe, nach denen das menschliche Denkvermögen die sinnlich wahrnehmbaren Dinge beurteilt, vollzog sich der Aufstieg: „Und so stieg ich stufenweise auf, von den Körperdingen beginnend: zunächst zu der Seele, die wahrnimmt mit Hilfe eines Körpers; von da zu deren innerer Kraft, der die Sinne die äußeren Eindrücke vermitteln und die auch 38

Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 105–107.

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II. Platon in der Wüste

die Tiere besitzen; und von da weiter zur Denkkraft, der zur Beurteilung vorgelegt wird, was die äußeren Sinne aufnehmen; und indem diese sich in mir als veränderlich erfaßte, reckte sie sich auf zur Einsicht ihrer selbst, sie befreite das Denken aus der Gewohnheit, indem sie sich den widersprüchlichen Massen von Phantasiebildern entzog, um das Licht zu entdecken, das sie überkam, als sie völlig frei von Zweifel ausrief, das Unveränderliche sei dem Veränderlichen vorzuziehen. In diesem Licht kannte sie das Unveränderliche … und so erreichte sie im Blitz eines erzitternden Blicks das Wesen, das wahrhaft ist. Damals erfaßte ich wirklich geistig dein Unsichtbares auf dem Weg über das, was du gemacht hast, aber ich konnte den Blick darauf nicht festhalten. Zurückgeworfen durch meine Schwäche, kehrte ich zum Gewöhnlichen zurück. In mir blieb nichts zurück als ein liebevolles Erinnern, wie das Verlangen nach einer Speise, deren Duft ich gerochen hatte, die ich aber noch nicht essen konnte.“39 Die Schilderung zeigt – ebenso wie die zweite, gleich zu besprechende – deutliche literarische Anklänge an Plotin. Wie bei diesem ist ein dreistufiges Aufstiegsschema vorausgesetzt, das mit dem Rückzug aus der Sinnenwelt beginnt und über die Einkehr in die eigene Seele zur momenthaften, ja geradezu „blitzartigen“ und unvollkommenen Gottesschau führt. Noch berühmter ist die Vision, die Augustinus 387 in der Hafenstadt Ostia bei Rom gemeinsam mit seiner Mutter Monnica wenige Tage vor deren Tod erlebt haben will. Sie vollzieht sich im gemeinsamen Gespräch, und beide erlangen zugleich die Schau – ein singuläres Vorkommnis! In Ostia also lehnen Monnica und Augustinus an einem Fenster, blicken hinaus in den Garten und sprechen über das ewige Leben:

39

Augustinus, Bekenntnisse, 189f.

8. Augustinus

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„Als unsere Unterhaltung zu dem Ergebnis kam, fleischliche Sinnesgenüsse, wie groß sie seien und in welchem körperlichen Glanz auch immer sie strahlten, duldeten mit der Freude jenes Lebens [= des ewigen Lebens der Heiligen] nicht nur keinen Vergleich, sondern seien nicht einmal der Erwähnung wert, da richteten wir uns in noch glühenderem Verlangen nach ihm auf und durchwanderten dabei alle körperlichen Stufen, auch den Himmel, von dem aus Sonne, Mond und Sterne die Erde beleuchten. Und noch höher stiegen wir, in stillem Nachdenken, im Gespräch, beim Bewundern deiner Werke. Und wir kamen zu unseren Geistseelen und überstiegen auch sie, um die Region nie versagenden Überflusses zu berühren, wo du Israel auf ewig weidest auf der Wiese der Wahrheit. Das Leben dort, das ist die Weisheit, durch die all diese Dinge geworden sind, auch alles, was war und was sein wird. (…) Gewesensein und Zukünftigsein ist in ihr nicht, sondern nur Sein, weil sie ewig ist … Und sieh, während wir sprechen und uns hinaufsehnen, berühren wir diese Weisheit ein wenig mit dem ganzen Aufzucken unseres Herzens. Wir stöhnten und ließen dort gebunden zurück die Erstlinge die Geistes [Röm 8,23]. Dann wandten wir uns wieder dem Geräusch unserer Rede zu, wo ein Wort anfängt und aufhört.“40 Auch hier also wieder der bekannte Dreischritt von der Sinnenwelt über die Seele zur Schau, die hier aber interessanterweise nicht als ein Sehen, sondern als ein Berühren qualifiziert wird. Andernorts hat Augustinus statt des Dreierschemas von sieben Stufen des geistigen Aufstiegs gesprochen.41 Mit den sieben Stufen des Aufstiegs hat Augustinus dann auch die sieben Gaben des Heiligen Geistes, die (eigentlich acht) Se40 41

Ebd., 241. Zum Folgenden Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 93–96.

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II. Platon in der Wüste

ligpreisungen und die sieben Bitten des Vaterunsers in Verbindung gebracht – ein Gedanke, der im Mittelalter populär wurde. Auch wenn Augustinus die visio gut neuplatonisch als eine intellektuelle Schau versteht, so teilt er doch keineswegs den ausgeprägten Intellektualismus der areopagitischen Mystik. Bereits die Schilderung der Ostia-Vision zeigt auch deutlich affektive Züge; die Berührung der göttlichen Weisheit geschieht mit dem „Aufzucken“ des Herzens (toto ictu cordis). Diese Eigenart der augustinischen Mystik hat sich im Spätwerk des Bischofs von Hippo noch verstärkt. Voraussetzung der Schau ist demnach die Reinigung des Herzens. Letztlich bedarf es der Verbindung von Liebe und Erkenntnis, um die Seligkeit zu erlangen.42 Diese Liebe ist ein Geschenk Gottes, der uns zuerst geliebt hat; sie wirkt in der menschlichen Seele die Sehnsucht nach Gott und öffnet das geistliche Sehen. Interessanterweise hat Augustinus sich für die affektive Seite der Mystik nicht auf das Hohelied bezogen. In dem alten Streit, ob die vita contemplativa der Gotteserkenntnis oder die vita activa der tätigen Liebe höher stehe, hat selbstverständlich auch Augustinus an der Überlegenheit der vita contemplativa festgehalten, zugleich aber die Verpflichtung betont, in diesem Leben auf das Glück der Kontemplation zu verzichten, wenn die Liebe zum Nächsten es fordert. In den späteren Schriften wird auch die christologische und ekklesiologische Rückbindung der augustinischen Mystik ganz deutlich, so vor allem in seinem großen Psalmenkommentar.43 Danach ist die Gottesschau im vollen und eigentlichen Maße erst im Himmel möglich. In diesem Leben kann sie nur innerhalb der Kirche erlangt werden, die der Leib Christi ist, der 42 43

McGinn, Die Mystik im Abendland, I 371–378. Zum Folgenden ebd., I 344–349.

8. Augustinus

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mit den Gläubigen zusammen den „ganzen Christus“ (totus Christus) bildet. Dabei sind die Gottesschau im Himmel und die in der Kirche streng aufeinander bezogen: Im Augenblick der visio überschreitet der Mystiker ekstatisch die Grenze von der Kirche, dem vorläufigen Heiligtum, in dem Christus auf Erden gegenwärtig ist, hin zum himmlischen Haus Gottes.

III. Mönche und Seelenführer Mystik und Hesychasmus im christlichen Osten

Die Teilung des Römischen Reiches und der Untergang römischer Staatlichkeit in der Westhälfte im Jahr 476 trugen zur weiteren Auseinanderentwicklung des „orthodoxen“ griechischsprachigen Christentums des Ostens und des „katholischen“ lateinischsprachigen Christentums des Westens bei. Die wachsende Entfremdung zwischen Ost und West führte schließlich 1054 zur bis heute andauernden Aufhebung der Kirchengemeinschaft. Auch die Entwicklung der Mystik ging seit der Spätantike in Ost und West getrennte Wege. Im Osten blieb die Mystik wesentlich im monastischen Milieu und seinen Frömmigkeitstraditionen verwurzelt, wobei die starke philosophische Überformung durch den Platonismus, wie wir sie bei Origenes oder Dionysius fanden, gegenüber biblischen und monastisch-asketischen Denk- und Redeweisen zurücktrat. Die besondere Ausprägung der östlichen Mystik im sogenannten Hesychasmus wirkte schließlich auch über das Mönchtum hinaus und prägte den Charakter des orthodoxen Christentums insgesamt einschließlich der Laienfrömmigkeit nachhaltig mit. Wir können hier nur einige der wichtigsten Gestalten und Entwicklungsstufen der östlichen Mystik in den Blick nehmen. Ganz außer Betracht bleiben muss die Mystik im orientalischen, namentlich im syrischen Christentum.

1. Johannes Climacus

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1. Johannes Climacus Johannes Climacus – seine Lebenszeit wird herkömmlich auf ca. 575 – ca. 650 datiert44 – wurde als Sechzehnjähriger Mönch im dem berühmten Kloster am Berg Sinai, dem heutigen Katharinenkloster. Nach einigen Jahren im Kloster selbst lebte er vierzig Jahre unweit davon als Eremit, bis er schließlich zum Abt des Sinaiklosters gewählt wurde. Nach seinem Wirkungsort wird er auch Johannes Sinaites genannt. Johannes verfasste eine Reihe von asketischen Schriften, von denen aber nur jene erhalten ist, der er seinen Beinamen „Climacus“ (griech. Klimakos) verdankt: „Die Leiter (griech. klimax) zum Paradies“.45 Darin beschreibt Johannes den stufenweisen Aufstieg des Mönchs zur Vollkommenheit im Bild einer Leiter oder Treppe – das griechische klimax kann beides heißen – mit dreißig Stufen. Das Bild ist der Erzählung von Jakobs Traum in Bethel (Gen 28,10–19) entnommen, die Zahl der Stufen entspricht den Lebensjahren Jesu vor seinem öffentlichen Auftreten. Ziel des Aufstiegs ist die Wiedererlangung der Gottebenbildlichkeit und die Vereinigung mit Gott. Dabei knüpft Johannes an ältere monastische Traditionen an. Besonders Evagrius Ponticus und die Überlieferungen der ägyptischen Wüstenmönche haben ihn beeinflusst, doch gehören auch etwa Johannes Cassian und Gregor von Nyssa zu seinen Gewährsleuten. Am Anfang stehen die Abkehr von der Welt (Stufen 1–3) und die Entwicklung der grundlegenden Tugenden Gehorsam, Reue und Bußgesinnung (Stufen 4–7). Besonders hebt Johannes die Bedeutung des 44

Müller, Das Konzept des geistlichen Gehorsams, schlägt eine frühere Datierung auf ca. 525–603 vor. Johannes vom Sinai, Klimax. – Völker, Scala Paradisi; Müller, Das Konzept des geistlichen Gehorsams; Blum, Byzantinische Mystik, 71–158. 45

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III. Mönche und Seelenführer

Gehorsams gegenüber einem geistlichen Vater hervor (Stufe 4). Die Figur dieses Seelenführers spielt eine bedeutende Rolle; sie hat in späteren Zeiten auch eine Ausstrahlung monastischer Vollkommenheitsideale über das Kloster hinaus ermöglicht. In erster Linie ist der Gehorsam aber natürlich Gott geschuldet; denn so wie der erste Mensch infolge seines Ungehorsams aus dem Paradies vertrieben wurde, so eröffnet der Gehorsam die Rückkehr dorthin. Auf den Stufen 8 bis 26 geht es um das, was Evagrius die praktiké genannt hatte: die sukzessive Reinigung von Lastern und Leidenschaften wie Zorn, Lügen, Völlerei, Habgier und Stolz, gefolgt vom Erwerb der Tugenden der Sanftmut, Demut und Weisheit (Unterscheidung). Damit sind die Voraussetzungen für das Ersteigen der vier letzten Stufen (27–30) gegeben: die Erlangung der Seelenruhe (hesychía), des reinen Gebets, der Freiheit von den Leidenschaften (apátheia) und der Liebe (agápe). Hier, in der Liebe, und nicht wie bei Origenes oder Evagrius in der Erkenntnis, sieht Johannes das Ziel und den Höhepunkt des geistlichen Lebens. Durch die Liebe zu Gott, durch Hoffnung und Glaube wird der Mensch Gott ähnlich, und Gott kann in der liebenden Seele Wohnung nehmen. Dadurch kommt es schon in diesem Leben, wenn auch momenthaft, zur Schau (theoría) des göttlichen Lichts und zur Vereinigung mit Christus. Die „Leiter“ des Johannes Climacus ist für die Unterrichtung von Mönchen geschrieben. Nur sie sind in der Lage, den mühsamen Aufstieg zu vollziehen – ja, eigentlich ist dies nur Eremiten möglich, während sich schon die Klostermönche damit schwer tun. Wichtig ist zu bedenken, dass der Weg zur Vollkommenheit für jeden Einzelnen anders aussieht. Die dreißig Stufen der Leiter beschreiben insofern keine ein für alle Mal festgelegte Reihenfolge, sondern wollen als Hilfestellung für den individuellen Weg gelesen werden.

1. Johannes Climacus

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Es mag überraschen, dass auf der 28. Stufe, zwischen der hesychía und der apátheia, das Gebet steht. Tatsächlich spielt das Gebet für Johannes und die von ihm repräsentierte monastische Spiritualität eine hervorgehobene Rolle. Demnach lebt der Mönch in der vollkommenen hesychía in vollkommener Konzentration auf das Gebet, das recht eigentlich die Vereinigung mit Christus bewirkt. Das gilt für das gemeinschaftliche wie das individuelle, vor allem aber für das hier erstmals ausdrücklich empfohlene Jesus-Gebet oder Herzensgebet (Stufe 15).46 Diese besondere Gebetspraxis geht auf das eremitische Mönchtum des 4. Jahrhunderts zurück. Im Kern besteht sie in der immer wiederholten formelartigen Anrufung des Namens Jesu, meist mit den Worten „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“ (vgl. Mk 10,47). Da diese Art des Betens in der Wiederholung eines einzigen Gebetsrufs besteht, spricht man auch vom monologischen Gebet. Mit der Einübung der Formel verselbstständigt sich die anfangs hörbar ausgesprochene Anrufung in der Form eines inneren Gebets, das oft mit dem Rhythmus des Aus- und Einatmens oder des Herzschlags kombiniert wird. Das Gebet wird so zu einer dauernden Lebenshaltung, ganz im Sinne des Apostelwortes „Betet ohne Unterlass!“ (1Thess 5,17). Anders als im Westen, wo das Herzensgebet trotz der Empfehlung durch Johannes Cassian keine bedeutende Rolle spielte, wurde es im Osten nicht zuletzt durch Johannes Climacus sehr populär. In vielen Klöstern wurde die Praxis des monologischen Gebets gepflegt. Im sogenannten Hesychasmus, einer seit dem 12. Jahrhundert vollständig ausgebildeten, an altmonastische Traditionen anknüpfenden Form mystischer Frömmigkeit (s.u. Kap. III.3), kam dem Jesusgebet die zentrale Rolle zu. 46

Chryssavgis, The Jesus Prayer.

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III. Mönche und Seelenführer

2. Symeon – der Neue Theologe Symeon ist neben dem Evangelisten Johannes und dem Kirchenvater Gregor von Nazianz (ca. 329–390) der Einzige, der in der orthodoxen Tradition den Beinamen des „Theologen“ trägt.47 Was genau dieses Attribut besagen soll, ist umstritten. Natürlich ist keine rational-wissenschaftliche Theologie im heutigen Sinne gemeint. Im Gegenteil, Symeon hielt nur eine solche Theologie oder Rede von Gott für möglich, die sich aus der mystischen Schau Gottes speiste, und lehnte jede bloß intellektuelle, nicht auf Erfahrung beruhende Gotteserkenntnis ab. Der aus adeliger Familie stammende Symeon (949–1022) hatte in Konstantinopel eine Laufbahn am kaiserlichen Hof eingeschlagen. Inspiriert durch das Vorbild der alten Mönchsväter, suchte er sich schon in jungen Jahren einen Seelenführer, den er in Symeon Eulabes (gest. 987), einem Mönch des Studion-Klosters fand. Unter dessen Anleitung trieb er neben seiner Tätigkeit bei Hof geistliche Übungen und erlebte zwanzigjährig eine erste ekstatische Schau des göttlichen Lichts – bemerkenswerterweise ohne jede asketische Vorbereitung. Sieben Jahre darauf trat er selbst in das Studion-Kloster ein, konnte sich aber nur schwer einfügen und wechselte in das kleine Mamaskloster über, wo er nach wenigen Jahren zum Abt gewählt wurde. Im Jahr 1009 wurde Symeon wegen liturgischer Eigenmächtigkeiten vom Patriarchen von Konstantinopel abgesetzt und verbannt. In seinem Exil in Chrysopolis baute er ein eigenes kleines Kloster auf, in dem er auch blieb, als ihm die Rückkehr nach Konstantinopel angeboten wurde.

47 Zum Folgenden Völker, Praxis und Theoria; Blum, Byzantinische Mystik, 207–264; Hausammann, Alte Kirche, V 201–218.

2. Symeon – der Neue Theologe

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Das Ziel des Mönchslebens sah Symeon in der Vergöttlichung des Menschen, in der Schau Gottes und der Vereinigung mit Christus. Der Weg dorthin erforderte Umkehr, Welt- und Selbstverachtung, den Gehorsam gegen Gottes Gebote und das beständige, monologische Gebet. Doch der Vervollkommnungsweg war nach Symeons Überzeugung immer ein persönlicher, individuell unterschiedlicher, für den sich keine allgemeinen Regeln und Vorschriften formulieren ließen. Nicht zuletzt daher rührte seine Hochschätzung des erfahrenen Seelenführers, dem man gehorchen müsse wie Christus. Wie er es von den Wüstenvätern gelesen und selbst als Schüler des Symeon Eulabes erfahren hatte, hielt er diese Art individueller Anleitung für unverzichtbar. Überhaupt ist für Symeons Mystik eine große Originalität und Ferne von hergebrachten Traditionselementen charakteristisch. Seine mystische Lehre steht demgegenüber unter dem beherrschenden Eindruck eigener religiöser Erfahrung. Das verleiht ihm eine einzigartige Stellung in der mystischen Tradition des Osten, erklärt aber auch, dass er kaum direkte Schüler und Fortsetzer gefunden hat. Eine Konsequenz der Individualisierung des Vervollkommnungsweges ist, dass wir bei Symeon keinen ausgefeilten Schematismus der Aufstiegsstufen finden. Selbstverständlich war ihm das traditionelle DreiStufen-Schema bekannt. Die vierunddreißig Katechesen (Unterweisungen), die er seinen Mönchen im Mamaskloster hielt, hat er mit Begriffen von Evagrius Ponticus als „praktisch“, „gnostisch“ oder „theologisch“ klassifiziert. Doch galten ihm die drei Stufen nicht als feste Vorbedingung für die Schau Gottes. Diese war vielmehr jederzeit erreichbar, und sie war auch nicht etwa den fortgeschrittenen Eremiten vorbehalten, sondern prinzipiell jedem zugänglich.

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III. Mönche und Seelenführer

Die mystische Schau ist für Symeon wesentlich Schau des göttlichen Lichts. Gott selbst ist Licht, und man kann ihn nicht anders erkennen als in der Schau des Lichtes, das von ihm ausgeht. Diese Schau geht anfangs oft mit einem ekstatischen Außer-Sich-Sein der Seele und emotionalen Ausnahmezuständen einher, kommt aber mit zunehmender geistlicher Erfahrung ohne eine derartige Ekstase aus. Gleichwohl ist für Symeons Frömmigkeit im Ganzen die starke affektive Qualität der Glaubensäußerungen charakteristisch. Symeon selbst hat zeit seines Lebens immer wieder Schauungen des göttlichen Lichtes erfahren und sie auch mit ungewöhnlicher Freimütigkeit mitgeteilt. Dabei lassen seine Schilderungen eine Steigerung der Intensität und Veränderung der Qualität dieser Erfahrungen erkennen. In seiner ersten Schau sah er lediglich das göttliche Licht und in diesem seinen geistlichen Vater Symeon Eulabes. In späteren Schauungen begegnete ihm im göttlichen Licht Christus selber. Schließlich hörte Symeon auch die Stimme Christi, die ihn zur Beständigkeit auf dem geistlichen Weg ermahnte. Symeon berichtet, dass der Wechsel zwischen den beglückenden Christuserscheinungen und dem jedes Mal darauf folgenden Entzug für ihn eine Anfechtung war – bis ihm schließlich aufging, dass er Christus jederzeit im Spiegel seiner Seele erkennen konnte, wenn diese nur von Lastern und Sünden gereinigt war. Auch wenn der „Neue Theologe“ keine Schule begründet hat, wirkte seine auf die Schauungen des göttlichen Lichts ausgerichtete Mystik stark auf den sogenannten Hesychasmus. Ein Zeugnis dafür ist ein erst dem 12. oder 13. Jahrhundert angehörender, aber dennoch unter Symeons Namen verbreiteter Traktat „Methode des heiligen Gebets und der Achtsam-

3. Gregor Palamas und der byzantinische Hesychasmus

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keit“,48 bei dem es sich um so etwas wie die Programmschrift und Gründungsurkunde des eigentlichen Hesychasmus handelt. Im Zentrum dieses spirituellen Lebensideals für Mönche stand das monologische Herzensgebet, das auch als „geistiges Gebet“ bezeichnet wird, obwohl es in seinem Vollzug ganz wesentlich auch die Leiblichkeit – Körperhaltung, Atem, Herzschlag – mit einbezieht. Für seine richtige Durchführung wurden in der Folgezeit bald detaillierte Anleitungen verfasst, so etwa von dem Mönch Gregor vom Sinai (Gregorios Sinaites, gest. 1346).49 Das hesychastische Herzensgebet, das von der Bekämpfung der Laster begleitet werden muss, führt zur Seelenruhe (hesychía) und letztendlich zur Schau des göttlichen Lichts selbst. Dieses Licht ist das „Taborlicht“ – dasselbe ungeschaffene Licht, in dem sich Jesus auf dem Berg der Verklärung Petrus, Jakobus und Johannes zeigte (Mk 9,2–9 parr.), und es ist als wahres göttliches Licht nicht nur mit dem inneren, sondern auch mit dem äußeren, leiblichen Auge wahrnehmbar. Im Schein des Taborlichts wird der Mensch erleuchtet, er schaut Gott und erkennt sich selbst und die Welt.

3. Gregor Palamas und der byzantinische Hesychasmus Zum maßgeblichen Repräsentanten des byzantinischen Hesychasmus wurde im 14. Jahrhundert der Athos-Mönch Gregor Palamas (1296/97–1359).50 Die Klöster am Berg Athos waren bereits früh Zentren 48 Deutsche Übersetzung: Gouillard, Kleine Philokalie, 157–168. Vgl. Blum, Byzantinische Mystik, 313–323. 49 Blum, Byzantinische Mystik, 325–354. 50 Podskalsky, Gregorios Palamas; Hausammann, Alte Kirche, V 230–270; Blum, Byzantinische Mystik, 355–429; Wendebourg, Geist oder Energie.

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III. Mönche und Seelenführer

hesychastischer Frömmigkeit geworden, und hier lernte auch Gregor, der am Hof in Konstantinopel erzogen worden war, bevor er sich zwanzigjährig für ein monastisches Leben entschied, diese Art der Spiritualität kennen. In den folgenden Jahrzehnten lebte er in verschiedenen Klöstern auf dem Athos sowie zwischenzeitlich in Thessaloniki, wo er 1326 die Priesterweihe empfing, und in Beröa in Makedonien. Gregors geschichtliche Bedeutung beruht auf seinem Engagement im sogenannten Hesychasmusstreit der Jahre 1338 bis 1351. In diesem Kontext arbeitete er eine eigenwillige mystisch fundierte Theologie aus, die man als Palamismus bezeichnet und die der hesychastischen Frömmigkeit ihr besonderes Profil verleihen sollte. Am Anfang des Hesychasmusstreits standen komplizierte theologische Fragen. Hauptkontrahent Gregors war der aus dem damals noch weithin griechisch besiedelten Süditalien stammende orthodoxe Mönch Barlaam von Kalabrien (ca. 1290–1348). Der philosophisch gebildete Barlaam nahm im Auftrag des byzantinischen Kaisers an den Verhandlungen um eine Wiedervereinigung zwischen dem griechischorthodoxen Christentum des Ostens und dem römischen Christentum des lateinischen Westens teil. Dabei spielte vor allem die bis heute strittige Frage nach dem Verhältnis des Heiligen Geistes zu Gott-Vater und Gott-Sohn eine Rolle. Worum es sich bei diesem Streit genau handelte, ist heutigen Zeitgenossen nur noch schwer verständlich zu machen, und auch Barlaam mahnte zur Zurückhaltung, da Gottes innerstes Wesen der menschlichen Vernunft nicht zugänglich sei. Gregor wollte diese Position nicht gelten lassen und sprach sich in zwei Traktaten dagegen aus: Eine wirkliche Erkenntnis von Gottes Wesen sei möglich – zwar nicht mittels vernünftiger Spekulation, aber kraft der auf dem Weg der hesychastischen Frömmigkeit zu erreichenden göttlichen Erleuchtung.

3. Gregor Palamas und der byzantinische Hesychasmus

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Für Barlaam wurde Gregors Widerspruch zum Anlass, sich eingehender mit dem ihm fremden Hesychasmus zu befassen und grundsätzliche theologische Einwände dagegen vorzutragen. Wir können hier den Streit nicht im Einzelnen verfolgen. Im Juni und August 1341 entschieden zwei Synoden in Konstantinopel zugunsten von Gregor. Gleichwohl gab es weiterhin eine nicht unbedeutende Opposition gegen seine Anschauungen, die sich um seinen ehemaligen Schüler Gregor Akindynos sammelte. Zu einer endgültigen Entscheidung kam es erst 1351, als eine Synode in Konstantinopel die palamitische Theologie abschließend für orthodox und verbindlich erklärte. Damit wurde der Palamismus zur offiziellen Reichstheologie und der Hesychasmus zur herrschenden Frömmigkeitsauffassung. Man kann sagen, dass es beim Palamismus im Wesentlichen um die Frage nach der Methode und den Bedingungen theologischer Erkenntnis geht. Barlaam und die meisten anderen Antipalamisten waren hier durch die Apophatik (Betonung der Unerkennbarkeit Gottes) des Dionysius Areopagita geprägt und betonten die wesentliche Unerkennbarkeit Gottes. Grundlegend für Barlaams theologische Erkenntnislehre war die Unterscheidung zwischen dem Ungeschaffenen und dem Geschaffenen oder, anders gesagt, zwischen Gott und der Schöpfung. Das Ungeschaffene, also Gottes inneres Wesen, sei der menschlichen Vernunft nicht zugänglich, möglich sei nur eine negative Theologie, die feststelle, was Gott nicht ist. Allein das Geschaffene sei dem menschlichen Erkennen erschlossen, und aus ihm könne man dann indirekt auch Erkenntnisse über Gott gewinnen. Palamas verwarf diese stark apophatisch akzentuierte theologische Erkenntnislehre Barlaams. Stattdessen propagierte er einen mystisch-hesychastischen Erkenntnisweg. Demnach ist eine vom Menschen

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III. Mönche und Seelenführer

ausgehende, auf der Vernunft und den Methoden der Philosophie beruhende Gotteserkenntnis grundsätzlich unmöglich, auch nicht indirekt aus den geschaffenen Dingen. Insofern ist der Palamismus scharf antirationalistisch und antiphilosophisch orientiert. Gleichwohl ist für Gregor eine sichere Gotteserkenntnis möglich, weil Gott selbst sich auch heute noch den Gläubigen offenbart. Diese göttliche Selbstoffenbarung erschließt sich in der Schauung des göttlichen Lichtes, die durch die Einübung in das monologische Gebet erreicht wird und prinzipiell jedem Gläubigen zugänglich ist. Gregor und die Hesychasten betonten, dass im Taborlicht eine wirkliche und wahre Erkenntnis des Wesens Gottes möglich sei – denn dieses sei, wie Gott selber, ungeschaffen und daher selbst göttlich. Barlaam hatte diese Möglichkeit bestritten. Er konnte sich das Taborlicht nur als ein geschaffenes Licht vorstellen und hielt die Vorstellung, man könne mit den leiblichen Augen in einem solchen geschaffenen Licht den ungeschaffenen Gott sehen, für blasphemisch. Demgegenüber hielt Gregor mit der hesychastischen Tradition an der Ungeschaffenheit des Taborlichts fest. Freilich wollte auch er nicht so weit gehen zuzugestehen, dass damit Gottes innerstes Wesen menschlichem Erkennen vollständig zugänglich und erschlossen sei. Daher führte er im Anschluss an ältere Vorbilder (u.a. bei Gregor von Nyssa) eine Fundamentalunterscheidung ein, die zum Markenzeichen seines theologischen Systems werden sollte: die Unterscheidung zwischen dem „Wesen“ (usía) und den „Energien“ (enérgeiai) Gottes. Erkennbar ist demnach nicht Gottes Wesen, sondern allein die von ihm ausgehenden Energien oder Wirkungen, die, ganz im Sinne des Neuplatonismus gedacht, zwischen Schöpfer und Geschöpfen vermitteln. Zu diesen Energien zählt auch das Taborlicht. Damit ist eine grundsätzliche apophati-

3. Gregor Palamas und der byzantinische Hesychasmus

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sche Sicherung in die theologische Erkenntnislehre eingezogen. Gottes Wesen als solches bleibt der Erleuchtung mit dem Taborlicht entzogen. Doch die göttlichen Energien sind nach Gregor ebenso ungeschaffen wie Gottes Wesen, und Gott ist in jenen ebenso gegenwärtig wie in diesem. Folglich ist im Taborlicht trotzdem eine wirkliche Gotteserkenntnis möglich. Erlangt wird die göttliche Erleuchtung auf einem geistlichen Weg umfassender Neugestaltung und Umwandlung des Gläubigen, der vom Heiligen Geist unter Mitwirkung des menschlichen Willens bewirkt wird. Gott und Mensch, göttlicher und menschlicher Wille wirken dabei im Sinne eines Synergismus zusammen. Doch liegt die Priorität auf der Seite Gottes, dessen Energie den Menschen in der Taufe zur Wohnung Christi macht und ihn im Abendmahl Anteil an Leib und Blut Christi gibt. Damit ist auch bei Gregor der mystische Weg an die Kirche, ihren Gottesdienst und ihre Sakramente rückgebunden. Ziel des mystischen Umwandlungsprozesses ist die Vergöttlichung (théosis) des Menschen, die aus ihm einen „Gott aus Gnade“ macht. In der unverfügbaren, von Gott gnadenhaft gewährten Schau des Taborlichts wird diese Vergöttlichung schon auf Erden je und dann manifest, ans Ziel kommt sie aber erst im Jenseits in der vollen Teilhabe an der Herrlichkeit Gottes. Dabei stellt die Unterscheidung von Wesen und Energien Gottes sicher, dass die letzte Differenz zwischen Gott und Mensch gewahrt bleibt: Auch der vergöttlichte Mensch verschmilzt nie mit dem eigentlichen Wesen Gottes. Die Kritik der Antipalamisten und Antihesychasten richtete sich aber nicht nur auf das Verständnis der Schau des Taborlichts, sondern auch auf die Praxis des monologischen Gebets als Vorbereitung darauf. War nicht die Vorstellung vermessen, die göttliche Er-

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III. Mönche und Seelenführer

leuchtung so geradezu technisch-methodisch herbeiführen zu können? Tatsächlich, so entgegnete Gregor, muss der Mensch sich auf die Erleuchtung mit dem Taborlicht vorbereiten, doch lässt sich diese nicht erzwingen, sondern bleibt ein unverfügbares Gnadengeschenk Gottes. Das Herzensgebet dient nicht dazu, Gott zu etwas zu bewegen, sondern allein dazu, den Beter zu Gott zu erheben. Auch an der leiblichen Dimension des monologischen Gebets hatte Barlaam Anstoß genommen. Tatsächlich handelt es sich beim „Herzensgebet“ ja nicht um eine rein intellektuelle Übung, sondern um eine ganzheitliche Gebetspraxis, an der der ganze Körper beteiligt ist; in der einschlägigen Anleitungsliteratur spielen die einzunehmende Körperhaltung und der Zusammenhang mit dem Atem und dem Herzschlag eine wichtige Rolle. Für ein am Platonismus geschultes philosophisches Denken, aber auch im Sinne der älteren platonisierenden Aufstiegsmystik musste das irritierend wirken – galt doch dort, dass der Weg zu Gott nur durch das Übersteigen des Materiellen und Leiblichen hin zur Welt der intelligiblen Ideen und darüber hinaus weiter zum göttlichen Einen möglich sei. Dennoch hielt Palamas an der körperlichen Dimension des monologischen Gebets fest. Durch dieses werde der Körper zusammen mit der Seele zu Gott emporgehoben, so dass vermittels der Seele auch der Körper das Göttliche erfahren und so veredelt und gereinigt werden könne. Durch die Lehrentscheidung von 1351 gelangten die Theologie des Palamas und mit dieser der Hesychasmus zu beherrschendem Einfluss auf die byzantinische Theologie und Frömmigkeit, der bis zum Beginn der türkischen Herrschaft im 15. Jahrhundert andauerte. Dabei strahlte der ursprünglich im monastischen Milieu beheimatete Hesychasmus zunehmend auch auf die Laien aus, wozu besonders der Laientheo-

4. Neohesychasmus und russisches Starzentum

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loge Nikolaus Kabasilas51 (1319/23–1397/98) mit seinen „Sieben Büchern vom Leben in Christus“ beitrug. Im 20. Jahrhundert etablierte sich ein selbstbewusster und wirkungsmächtiger Neupalamismus. Auf dem orthodoxen Theologenkongress in Athen 1936 forderte der im westlichen Exil lebende russische Theologe Georgij Florovskij (1893–1979) programmatisch die Erneuerung des Palamismus, die in den folgenden Jahren von verschiedenen orthodoxen Theologen, unter anderem von dem in Frankreich und den USA lehrenden John Meyendorff (1926–1992) betrieben wurde. Regelmäßig verbindet sich dieser Neupalamismus mit einer scharfen Absage nicht nur an die Philosophie und die westliche Theologie, sondern auch an die orthodoxe Universitätstheologie. Die Anhänger des Neupalamismus sehen in diesem eine authentische Entfaltung der klassischen Väterlehre und die genuine Zusammenfassung orthodoxer Theologie. Demgegenüber erkennen Kritiker wie Gerhard Podskalsky oder Dorothea Wendebourg in der neupalamitischen Theologie einen verhängnisvollen Bruch mit den älteren Lehrtraditionen der Orthodoxie. Umstritten ist auch das Verhältnis von Hesychasmus und Palamismus: Während orthodoxe Theologen beide gewöhnlich als untrennbar miteinander verbunden ansehen, unterscheiden westliche Autoren stärker zwischen hesychastischer Frömmigkeitspraxis und palamitischer Theologie.

4. Neohesychasmus und russisches Starzentum Mit der Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen 1453 und der Ausdehnung der osmanischen 51 Hausammann, Alte Kirche, V 264–282; Blum, Byzantinische Mystik, 431–459.

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III. Mönche und Seelenführer

Herrschaft über den Balkan bis nach Ungarn geriet ein großer Teil der orthodoxen Christenheit unter islamische Herrschaft. Zwar war christliches Leben hier weiterhin möglich, doch die erschwerten äußeren Bedingungen setzten theologischen Debatten und Neuentwicklungen enge Grenzen. Umso mehr gewannen Russland als Schutzmacht der Orthodoxie und das Patriarchat von Moskau, das seit dem 16. Jahrhundert als das „dritte Rom“ – nach der alten Reichshauptstadt selbst und Konstantinopel als dem „zweiten Rom“ – galt, an Bedeutung. Unter der osmanischen Herrschaft konnte der Hesychasmus seine überragende Bedeutung nicht behaupten. Lediglich in den Klöstern, die vielerorts zum institutionellen Rückhalt der christlichen Bevölkerung wurden, hielt er sich. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kam es zu einer Wiederbelebung. Wieder waren es die Klöster auf dem Athos, aus denen die entscheidenden Impulse kamen. Hier stellte der Mönch Nikodemos Hagioreites (1749–1809) eine fünfbändige Sammlung mit Auszügen aus Werken der älteren monastisch-hesychastischen Tradition zusammen, darunter solchen von Evagrius Ponticus, Johannes Climacus, Symeon dem Neuen Theologen und Gregor Palamas. 1782 erschien diese Sammlung unter dem Titel „Philokalie“ („Liebe zum Schönen bzw. Guten“) in Venedig erstmals im Druck.52 Durch die Philokalie wurde die Kenntnis und Praxis des Herzensgebets im orthodoxen Christentum nachhaltig verbreitet – gerade auch unter den Laien. Überhaupt ist es ein Kennzeichen des so entstandenen Neohesychasmus, dass er aus dem monastischen Milieu heraus in weite Kreise orthodoxer Gläubiger ausstrahlte. Er erfüllte damit im orthodoxen Christentum des 18. 52

Text: Philokalie der heiligen Väter der Nüchternheit, 5 Bde., Würzburg ²2007. Eine Auswahl in: Kleine Philokalie (Dietz).

4. Neohesychasmus und russisches Starzentum

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und 19. Jahrhunderts eine ähnliche Funktion wie die westliche Mystik des Hochmittelalters, und man kann ihn als eine dritte Blütephase mystischer Frömmigkeit in der Geschichte des Christentums ansehen. Eine besondere Rolle in der neuzeitlichen Renaissance des Hesychasmus kam Russland zu. Hier hatten die hesychastischen Ideale erstmals gegen Ende des 14. Jahrhunderts Eingang gefunden. Ihr Wegbereiter war der in dem bedeutenden Kirillo-Beloserski-Kloster in Nordwestrussland lebende Mönch Nil Sorskij53 (1433–1508) gewesen. Bei einer Reise zum Athos hatte er die hesychastische Gebetspraxis kennengelernt und in seine Heimat mitgebracht; sein Versuch, hier ein hesychastisches Reformmönchtum zu etablieren, blieb auf Dauer jedoch ohne Erfolg. Auch in Russland war es schließlich die Publikation der „Philokalie“, die zur Durchsetzung der Praxis des Jesusgebets und des Hesychasmus führte. Der ukrainische Mönch Paisij Veličkovskij (Paissi Welitschkowski, 1722–1794), der lange auf dem Athos gelebt hatte und schließlich Archimandrit (Klostervorsteher) des Neamţ-Klosters im rumänischen Teil des Fürstentums Moldau geworden war, übersetzte das Werk ins Kirchenslawische und ließ es 1793 unter dem Titel „Dobrotoljubie“ drucken; seine Schüler fertigten auch eine rumänische Übersetzung an. Eine stark erweiterte Ausgabe der Philokalie in modernem Russisch stellte ein Jahrhundert später der auch als Theophan der Rekluse bekannte Einsiedler Theophan (Feofan) Goworow54 (1815–1894) zusammen. Neben der Philokalie bzw. Dobrotoljubie war es vor allem ein anonymes Buch mit dem Titel „Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers“,55 dessen erster Teil 1870 herauskam, das in Russland und weit dar53 54 55

Lilienfeld, Nil Sorskij. Špidlik, Theophan der Rekluse. Aufrichtige Erzählungen.

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III. Mönche und Seelenführer

über hinaus die hesychastische Frömmigkeit populär machte – gerade auch unter Laien und einfachen Gläubigen. Das Buch wurde rasch in viele Sprachen übersetzt und kann zu den Klassikern der orthodoxen Spiritualität gezählt werden. Unter seinem Einfluss erlebte das Herzensgebet eine bis in die Gegenwart anhaltende Konjunktur. In den orthodoxen Klöstern wird es ganz selbstverständlich gepflegt, und auch viele Laien praktizieren es unter der Anleitung von geistlichen Seelenführern, wobei als Hilfsmittel gerne das Komposkini, eine Knotenschnur aus Wolle, verwendet wird. Eine Besonderheit des russischen Neohesychasmus ist das Starzentum.56 Dem russischen Wortsinn nach ist ein Starez (Plural: Starzen) „ein alter (Mann)“. Tatsächlich bezieht sich der Begriff nicht auf das Lebensalter, sondern bezeichnet den geistlichen Vater und Seelenführer. Bereits im ältesten Wüstenmönchtum hatten die Anfänger auf dem monastischen Weg den Rat von im geistlichen Leben erfahrenen „Vätern“ gesucht. Später hatten unter anderen Johannes Climacus und Symeon der Neue Theologe die Bedeutung der Anleitung des Einzelnen durch einen persönlichen Seelenführer hervorgehoben. Im russischen Neohesychasmus spielten solche geistlichen Führer eine zentrale Rolle. Als Starzen fungierten in den Klöstern erfahrene Mönche, die auf dem mystisch-asketischen Vervollkommnungsweg weit vorangeschritten waren und oft eine Zeitlang als Einsiedler gelebt hatten. Ihnen oblag die Unterrichtung und Anleitung der Novizen, aber auch die geistliche Begleitung von Laien, denen sie mit ihrem Rat und mit Anweisungen für das Herzensgebet und andere Frömmigkeitsübungen und für eine christliche Lebensführung zur Seite standen. Seinen Höhepunkt erlebte das russische Starzen56

Smolitsch, Leben und Lehre der Starzen.

4. Neohesychasmus und russisches Starzentum

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tum in der Zeit vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Seit dem frühen 19. Jahrhundert war das rund 200 Kilometer südwestlich von Moskau gelegene Optina-Kloster (Optina Pustyn) ein Zentrum der Bewegung; hier wirkten neben anderen die weithin berühmten Starzen Leonid Nagolkin (1768–1841), Makari Iwanow (1788–1860) und Amwrossi Grenkow (1812–1891). Der berühmteste Starez des 19. Jahrhunderts war Seraphim Moschnin von Sarow (1759–1833). Literarisch lässt sich der Einfluss des Starzentums u.a. bei Dostojewski und Tolstoj nachweisen. Die Gestalt des Mönches Sossima in Dostojewskis 1880 veröffentlichtem Roman „Die Brüder Karamasow“ kann als exemplarische Verkörperung eines neohesychastischen Starzen aus dem Optina-Kloster gelten. Eine originelle Verbindung von russischem Neohesychasmus und philosophischen Traditionen des Westens schuf der Religionsphilosoph Wladimir Solowjow (1853–1900). Eine Sonderform des russischen Neohesychasmus bildete die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene sogenannte Imjaslavie („Namensverehrung“).57 An ihrem Beginn stand das 1907 erstmals erschienene Buch „Auf den Bergen des Kaukasus“ des russischen Athos-Mönchs Schimonach Ilarion, der später als Einsiedler im Kaukasus gelebt hatte. Darin vertrat Ilarion die Auffassung, dass es sich auch beim Gottesnamen um eine der ungeschaffenen göttlichen Energien im Sinne des Palamas handele, in denen Gott selbst anwesend und wahrnehmbar sei. In der orthodoxen Kirche war diese Lehre umstritten, befruchtete aber die russische Religionsphilosophie. Mit der kommunistischen Oktoberrevolution von 1917 und den folgenden Zwangsmaßnahmen gegen die russisch-orthodoxe Kirche wurde das Starzentum 57

Alfejev, Le Nom grand et glorieux.

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III. Mönche und Seelenführer

zurückgedrängt, kam aber nie ganz zum Erliegen. Auf dem Berg Athos führte der Mönch Siluan (1866– 1938) in einem äußerlich unscheinbaren Leben die Tradition des Hesychasmus weiter.58 Die Schriften von Sophrony Sakharov (1896–1993), dem prominentesten Siluan-Schüler, haben zur Verbreitung der hesychastischen Spiritualität im Westen erheblich beigetragen. Mit einer Klostergründung in Essex schuf Sophrony, der den Athos 1947 verlassen hatte, im Abendland einen Ort gelebter hesychastischer Frömmigkeit.

58

Lilienfeld, Starec Siluan.

IV. Die westliche Mystik im Frühmittelalter

Während im Osten die mystischen Traditionen des Altertums im Mönchtum bruchlos fortbestanden, gab es im lateinischen Westen keine vergleichbare Kontinuität. Im Jahr 476 endete hier die römische Staatlichkeit, und neue germanische und slawische Reiche etablierten sich diesseits und jenseits der alten Grenzen. Dabei übernahmen die Sieger die Errungenschaften der antiken römischen Kultur und auch die christliche Religion und verwandelten sie ihrem eigenen Empfinden an. Auf diese Weise entstand jene teils spannungsvolle, teils harmonische Synthese von Christentum, antiker Kultur und germanischer bzw. slawischer Mentalität, die das abendländische Mittelalter ausmacht. Für die Christentumsgeschichte Lateineuropas bildete die Zeit des Frühmittelalters – wir sprechen von der Periode vom 6. bis zum 10. Jahrhundert – einen nicht unerheblichen Einschnitt. Die christliche Theologie, die seit dem 4. und 5. Jahrhundert namentlich im Osten, dann aber auch im Westen eine beachtliche Höhe erreicht hatte, konnte lange nicht an den in der Antike erreichten Stand anknüpfen. Erst seit dem 11. Jahrhundert entstand in Gestalt der sogenannten Scholastik eine neue, eigenständige Form abendländischer Theologie. Auch für die Mystik bedeutete das lateinische Frühmittelalter so etwas wie Latenzzeit bis zu ihrem eindrucksvollen Neuaufbruch im 12. Jahrhundert. Wie im Osten, so war auch im Westen das Mönchtum der entscheidende Träger von asketischen und spirituellen Traditionen mystischer Prägung. Freilich spielte hier das Eremitentum eine geringere Rolle,

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IV. Die westliche Mystik im Frühmittelalter

und durch Benedikt von Nursia (ca. 480–547) erhielt das abendländische Mönchtum seine besondere, eigene Prägung. Im Hinblick auf die Mystik wird man ihm in diesen Jahrhunderten eher eine bewahrende als eine schöpferische Rolle zusprechen müssen. Maßgeblich neue Impulse für die mystische Frömmigkeit sind im abendländischen Frühmittelalter im Wesentlichen nur von zwei Autoren ausgegangen: dem ersten Mönchspapst Gregor dem Großen und dem fränkische Hoftheologen Johannes Scotus Eriugena. 1. Gregor der Große Gregor der Große (ca. 540–604) steht in verschiedener Hinsicht auf der Schwelle zwischen Antike und Mittelalter.59 Aus altem stadtrömischem Adel stammend, hatte er eine politische Laufbahn eingeschlagen und war bis zum Stadtpräfekten aufgestiegen. 575 richtete er in seinem Elternhaus ein Kloster ein, in das er selbst als Mönch eintrat. Nachdem er längere Zeit im päpstlichen Dienst diplomatische Missionen wahrgenommen hatte, wurde er im Jahre 590 als erster Mönch selbst zum Papst gewählt. Späteren Zeiten galt er als Inbegriff des vorbildlichen Papstes, seit dem 9. Jahrhundert gab man ihm den Beinamen „der Große“. Gregors zahlreiche Schriften sind literarisch anspruchslos und praktisch-moralisch, nicht spekulativtheologisch orientiert. Neben den „Dialogi“, Lebensbeschreibungen italienischer Heiliger, insbesondere von Benedikt von Nursia, und der „Regula pastoralis“, einer weit verbreiteten Anleitung für Seelsorger, sind vor allem sein Kommentar zum Hiob-Buch (Moralia in Iob) und seine Predigten zum Hohenlied zu erwäh59 Zum Folgenden Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 145–167; McGinn, Die Mystik im Abendland, II 63–130; Richards, Gregor der Große; Eich, Gregor der Große.

1. Gregor der Große

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nen. Man kann darüber streiten, ob Gregor ein Mystiker im engeren Sinne genannt werden kann. Doch hat er ausweislich seiner Briefe selbst mystisch-kontemplative Erfahrungen gemacht und eine Vervollkommnungslehre entworfen, die der abendländischen Mystik wichtige Impulse gab. Gregor zufolge hatte Adam in der beständigen Gottesschau gelebt, bis er durch den Sündenfall die Fähigkeit zur Kontemplation verlor. Durch Gottes Gnade ist dem Menschen jedoch möglich, die Gottesschau schon in diesem Leben wenigstens teilweise wiederzuerlangen. Von Seiten des Menschen setzt dies eine asketische Reinigung des Willens von allen irdischen Begierden voraus, eine Abkehr von allen äußeren Zerstreuungen und Einkehr ins Innere. Dabei spielt vor allem die Einübung der Tugenden, allen voran der monastischen Zentraltugend der Demut, eine Rolle, aber auch die Meditation der Bibel und das beständige Gebet. Von Seiten Gottes wird die Vervollkommnung des Menschen und die Wiedergewinnung der Kontemplation durch die gnadenhaft geschenkten sieben Gaben des Heiligen Geistes nach Jes 11,2f. – Verstand, Wissenschaft, Weisheit, Rat, Frömmigkeit, Furcht, Stärke – und die drei theologischen Tugenden nach 1Kor 13,13 – Glaube, Hoffnung und Liebe – ermöglicht, die Gregor in den zehn Söhnen und den drei Töchtern Hiobs vorgebildet fand. Die herausgehobene Stellung der Liebe verbindet Gregor mit Augustinus. Freilich ist nach Gregor zur Erlangung der Gottesschau nicht allein die Liebe notwendig, sondern auch das Wissen. Ja, er versteht die Liebe selbst als eine Form des Wissens; nicht anderes besagt seine berühmte Formel „amor ipse notitia est“. Zur Beschreibung des mystischen Aufstiegs kann sich Gregor des klassischen Dreiermusters bedienen – auf ihn geht die im Westen weit verbreitete Unterscheidung der drei Menschenklassen (habitus) der „Beginnenden“ (inci-

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IV. Die westliche Mystik im Frühmittelalter

pientes), „Fortschreitenden“ (proficientes) und „Vollkommenen“ (perfecti) zurück –, er kennt aber auch Vierer- und Fünferschemata. Die Gottesschau, wie Gregor sie beschreibt, ist eine Schau des göttlichen Lichtes. Gerne charakterisiert er sie aber auch als ein Schmecken von Süßigkeit. In diesem Leben ist sie nie vollkommen zu erreichen; sie bleibt ein Vorgeschmack auf die vollkommene Gottesschau, die den Seligen im Himmel vorbehalten ist. Im Anschluss an das Hohelied hat Gregor daneben auch Ansätze einer Brautmystik entwickelt. Dabei hebt er besonders die Dialektik von Gegenwart und Abwesenheit des göttlichen Liebhabers, von liebender Erfüllung und Sehnsucht hervor. Einen bedeutenden Beitrag hat Gregor auch zur Frage nach dem Verhältnis von aktivem und kontemplativem Leben geleistet. Für ihn, der aus Sehnsucht nach einem Leben der Kontemplation Mönch geworden war, sich dann aber als Kirchendiplomat und Papst doch wieder dem aktiven Leben verpflichtet sah, hatte die Frage unmittelbare persönliche Relevanz. Es erscheint bezeichnend, dass Gregor das aktive Leben nicht geringer schätzte als ein Leben der Kontemplation, sondern die Verbindung beider Lebensweisen zum Ideal für die Kleriker erklärte; ihre Zusammengehörigkeit veranschaulichte er mit Lea und Rahel, den beiden Ehefrauen Jakobs (Gen 29), aber auch mit der Vereinigung von göttlicher und menschlicher Natur in Christus oder mit der Zweizahl der Augen.

2. Johannes Scotus Eriugena Während Gregor der Große in der Tradition der asketisch-monastischen Mystik stand, knüpfte Johannes Scot(t)us Eriugena (9. Jh.) an die stark philosophisch

2. Johannes Scotus Eriugena

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geprägte platonisierende Mystik des Dionysius Areopagita an.60 Eriugena war, wie sein in dieser Form erst seit dem 17. Jahrhundert gebräuchlicher Beiname besagt, ein aus Irland gebürtiger Kelte. Seine Wirkungsstätte fand er im Frankenreich, wo im Gefolge der religiösen und kulturellen Erneuerungsbestrebungen der sogenannten Karolingischen Renaissance die wissenschaftliche Theologie eine kurzzeitige Blüte erlebte. Eriugena unterrichtete an der Kathedralschule in Laon, bevor er um 850 Hoftheologe und Leiter der Hofschule bei dem westfränkischen König Karl dem Kahlen (reg. 843–877) wurde. Er kann als der bedeutendste spekulative Denker des frühen Mittelalters gelten. Was ihn vor den meisten seiner Zeitgenossen auszeichnete, war seine Kenntnis des Griechischen, die ihn in den Stand setzte, die Werke wichtiger Autoren der östlichen mystischen Tradition zu rezipieren und ins Lateinische zu übersetzen: vor allem von Gregor von Nyssa, Dionysius Areopagita und dem bedeutenden Origenisten und Dionysius-Kommentator Maximus Confessor (ca. 580–662). In seinen eigenen Schriften schuf Eriugena eine beachtliche eigenständige Synthese von Christentum und Neuplatonismus, mit der er neben dem Areopagiten zum Anreger der späteren spekulativen Mystik des Westens wurde. Eriugena geht es nicht wie den zuletzt betrachteten monastischen Vätern um den Aufstieg der einzelnen frommen Seele zur mystischen Gottesschau. Vielmehr entwirft er ein in seinem Anspruch an Origenes erinnerndes umfassendes, Wissenschaft und Glauben integrierendes Denksystem. Darin beschreibt er im bekannten neuplatonischen Schema von Ausgang (exitus) und Rückkehr (reditus) bzw. von Abstieg 60

Zum Folgenden Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 172–206; McGinn, Die Mystik im Abendland, II, 131–188.

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IV. Die westliche Mystik im Frühmittelalter

und Wiederaufstieg die Rückführung des Kosmos zur Vereinigung mit seinem göttlichen Schöpfer. Die Schöpfung als Selbstentfaltung des göttlichen Einen in die Vielheit der materiellen Welt ist nach Eriugena ein zweistufiger, allerdings nicht im Sinne eines zeitlichen Nacheinanders zu verstehender Prozess: Gott schafft zunächst aus sich selbst das Wort (Verbum), das mit der zweiten Person der Trinität – dem Sohn –, aber auch mit den platonischen Ideen als den alles Geschaffenen identisch ist. Aus diesem geht sodann die sinnlich wahrnehmbare materielle Welt hervor. Gott ist daher für Eriugena einerseits die innerste Wirklichkeit der Welt und das Wesen alles Seienden, andererseits steht er streng jenseits der Welt und ist selbst kein Seiendes. Insofern kann Eriugena mit deutlichem Anklang an Dionysius formulieren, Gott sei „überseiend“. Wie bei der Schöpfung, so kommt dem „Wort“ auch bei der Rückkehr des Geschaffenen zu seinem göttlichen Ursprung eine Schlüsselrolle zu. Indem das Wort die menschliche Natur annimmt und in die materielle Welt eintritt, um dann zum Vater zurückzukehren, erhebt es die Menschheit und mit ihr die gesamte materielle Schöpfung zu Gott. Infolgedessen werden alle Menschen nach ihrem Tod in den ursprünglichen Stand der Natur zurückgeführt werden. Darüber hinaus aber gewährt Gott einigen wenigen, die als Glieder der Kirche nach der Gottesschau gestrebt und in ihrem Leben dem Vorbild Christi gefolgt sind, die Gnade der Vergöttlichung. Diese scheint nicht völlig dem künftigen Leben vorbehalten, sondern ansatzweise schon in diesem Leben möglich zu sein. Eriugena verbindet die Vergöttlichung eng mit der Kontemplation, der Gottesschau, aber auch mit der Einung. Zu deren Beschreibung verwendet er als erster westlicher Autor Metaphern, die in der Theologie des Altertums für die Beschreibung der Einung

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von göttlicher und menschlicher Natur in Christus Verwendung fanden: das Strahlen der vom Licht durchfluteten Luft oder das Glühen des Eisens im Feuer. Eriugena kann die Vergöttlichung aber auch im Anschluss an Origenes, Gregor von Nyssa und Maximus Confessor als immerwährende Geburt des Gottessohnes im Herzen des Gläubigen beschreiben – eine Vorstellung, die wir dann prominent bei Meister Eckhart wiederfinden.61

61

Nach Hugo Rahner hat Eriugena als Vermittler diese Idee an die spätere westliche Mystik vermittelt: Rahner, Gottesgeburt, 406– 415. Anders Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 206.

V. Ordnung der Liebe Der Neuaufbruch der westlichen Mystik im 12. Jahrhundert

Wir stellten eingangs fest, dass die Mystik ihre geschichtlichen Konjunkturen hat. Ihre erste Blütezeit erlebte die mystische Frömmigkeit seit dem 3. Jahrhundert als die spezifische Frömmigkeitsform des Mönchtums. Eine zweite, andersartige Blüte der Mystik entwickelte sich in der westlichen Christenheit seit dem 12. Jahrhundert und dauerte bis ins 17. Jahrhundert, also noch über die Epochenschwelle zur Neuzeit hinaus, an. In dieser Phase griff die Mystik über ihr monastisches Ursprungsmilieu hinaus und erreichte schließlich die kirchlichen Laien; ihre wesentliche Funktion erfüllte sie hier als Vehikel religiöser und sozialer Individualisierung. Die Ursprünge dieser neuen Blüte der Mystik lagen im Reformmönchtum des 12. Jahrhunderts. Mit Bernhard von Clairvaux und anderen Angehörigen des Zisterzienserordens und mit den großen Vertretern der Schule von St. Viktor bei Paris traten damals große Persönlichkeiten auf den Plan, mit denen sich eine lebendige eigengeprägte Form mystischer Theologie und Frömmigkeit etablierte. Wie kam es zu dieser Initialzündung? Dass es sich beim 12. Jahrhundert um eine bedeutende Wegmarke in der politischen und wirtschaftlichen, insbesondere aber in der geistes- und kulturgeschichtlichen Entwicklung des Mittelalters handelte, steht außer Frage. Bereits 1927 entwickelte der englische Historiker Charles Homer Haskins das Konzept der „Renaissance des 12. Jahrhunderts“.62 Der Begriff 62

Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century; Benson/Constable/Lanham, Renaissance and Renewal.

2. Johannes Scotus Eriugena

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wies auf die intensivierte Anknüpfung an antike Vorbilder in Wissenschaft, Literatur und Recht hin, sollte aber darüber hinaus eine schon um 1070 einsetzende umfassende Kulturblüte bezeichnen, die Phänomene wie den Aufstieg der Städte und der Nationalstaaten, die Kreuzzüge, die Herausbildung der gotischen Architektur, Malerei und Plastik, die Etablierung volkssprachlicher Literaturen und die Entstehung der neuen Institution der Universität einschloss. Nicht zuletzt begann im 12. Jahrhundert die neuzeitliche Entdeckung und Aufwertung des Individuums, und das neue Interesse an psychologischer Selbsterforschung des Einzelnen befruchtete auch die christliche Frömmigkeit.63 In religiöser Hinsicht wirkten sich vor allem die Impulse der großen Kirchenreform der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts aus, die nach ihrem bedeutendsten Protagonisten, Papst Gregor VII. (Papst 1073– 1085), die Gregorianische Reform genannt wird.64 Mit der Zentralisierung und Klerikalisierung der lateinischen Kirche, ihrer Lösung aus dem Einfluss der weltlichen Gewalt und ihrer normativen Orientierung am Urchristentum waren weitreichende und folgenschwere Entwicklungen eingeleitet. Flankiert wurde die allgemeine Kirchenreform von einem Neuaufbruch im Mönchtum. Neue Orden wie die Kartäuser und die Prämonstratenser verwirklichten neue oder wiederentdeckte alte Frömmigkeitsideale. Die bedeutendste Neugründung war der Zisterzienserorden, der die Rückbesinnung auf die benediktinischen Ideale und die wörtliche Einhaltung der Benediktsregel mit einer strikten Weltabkehr im Geist der eremitischen Lebensform verband. Es waren diese neuen Mönchs63 Southern, The Making of the Middle Ages; Morris, The Discovery of the Individual. – Kritisch dazu: Bynum, Did the Twelfth Century Discover the Individual? 64 Laudage, Gregorianische Reform und Investiturstreit.

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V. Ordnung der Liebe

orden, vor allem die der Kartäuser und Zisterzienser, in denen sich der Neuaufbruch der Mystik vollzog. Doch nicht nur die monastische, auch die Laienfrömmigkeit erhielt durch die Gregorianische Reform wichtige Anstöße, die nicht zuletzt der Verbreitung mystischer Frömmigkeitsformen über die monastischen Milieus hinaus zugutekamen. Über die inhaltliche Neuausrichtung der Theologie und Frömmigkeit des 12. Jahrhunderts wäre viel zu sagen.65 Im Hinblick auf die neu erwachende Mystik sind vor allem zwei Punkte bedeutsam. Zum einen rückte nun anstelle der Gottheit Christi der Mensch Jesus ins Zentrum des Interesses. Imitatio Christi, die Nachfolge des demütigen und armen Lebens Jesu auf Erden, wurde zum neuen religiösen Leitbild. Damit einher ging eine neue Aufmerksamkeit für die Passion Jesu, an deren Betrachtung sich das Mitleid der Gläubigen entzünden konnte. Die Frömmigkeit des 12. Jahrhunderts kann insofern als eine affektive Frömmigkeit charakterisiert werden. In engem Zusammenhang damit steht der zweite hier relevante Punkt: die Entdeckung der Liebe als Thema von Theologie und Frömmigkeit. Die Liebe Gottes und die Liebe zwischen Gott und Mensch waren natürlich bereits biblische Themen und auch in der Mystik präsent gewesen, doch nun rückten sie ins Zentrum des theologischen und mystischen Denkens und Sprechens. Mit Bernard McGinn könnte man die Mystik des 12. Jahrhunderts insgesamt als den Versuch einer „Ordnung der Liebe“ (ordinatio caritatis) charakterisieren: als das paradoxe Unternehmen einer Zähmung, Regelung und Lenkung der an sich unbezähmbaren und unbeherrschbaren Liebesglut im Sinne einer Reinigung und Vervollkommnung der verschiedenen, systematisch voneinander zu unterscheidenden Formen 65

Vgl. Chenu, La théologie au douzième siècle.

1. Mystik und monastische Theologie: Die Zisterzienser

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der Liebe auf dem Weg zur mystischen Gotteserfahrung.66 Nicht zufällig erlebte die Auslegung des Hohenliedes in dieser Zeit eine besondere Blüte. Die Konjunktur des Liebesthemas beschränkte sich übrigens keineswegs auf den religiösen Bereich; auch die gleichzeitige Troubadour- und Minnelyrik des 12. Jahrhunderts war darauf gestimmt.

1. Mystik und monastische Theologie: Die Zisterzienser a) Bernhard von Clairvaux Neben den Kartäusern trugen besonders die Zisterzienser zum Neuaufbruch der Mystik bei. Der bedeutendste Vertreter der Zisterziensermystik, ja der bedeutendste mystische Autor des lateinischen Mittelalters überhaupt, war Bernhard von Clairvaux (ca. 1090–1153).67 1112 oder 1113 trat der Sproß einer burgundischen Adelsfamilie mit einer Reihe von Freunden und Verwandten in das noch junge Reformkloster Cîteaux bei Dijon ein, und schon 1115 wurde er zum Abt des neu gegründeten Tochterkloster Clairvaux in der Champagne gewählt. Dem Klischeebild des weltflüchtigen Mönchs und Mystikers entsprach Bernhard nicht. Denn obwohl er ein großer Kontemplativer war, der sich auf eigene mystische Erfahrungen berufen konnte, wirkte er weit in Kirche und Politik hinein, hatte das Ohr der Mächtigen sei66 67

McGinn, Die Mystik im Abendland, II 13f, 240f. Dinzelbacher, Bernhard von Clairvaux; Köpf, Religiöse Erfahrung; Leclercq, Bernhard von Clairvaux; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 226–275; McGinn, Mystik im Abendland, II 244–340; Leppin, Die christliche Mystik, 58–70. – Lateinischdeutsche Werkausgabe: Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke (= BCSW).

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V. Ordnung der Liebe

ner Zeit und gehörte zu den eifrigsten Förderern der Kreuzzugsbewegung. Vor allem aber war er der große Organisator, ja in einem gewissen Sinne der eigentliche Gründer seines Ordens. Im Gedächtnis der Nachwelt blieb Bernhard vor allem als Prediger und erbaulicher Autor. Auch Bernhards berühmtestes Werk, seine Auslegung des Hohenliedes (Sermones super Cantica Canticorum, ca. 1135–1153), ist kein gelehrter Kommentar, sondern besteht aus Predigten. Bernhard war aber nicht nur ein großer Kontemplativer, Prediger und Erbauungsschriftsteller, sondern ein Theologe von Rang. Als solcher ist er erst seit den 1930er Jahren gewürdigt worden. Heute sprechen wir von Bernhard als Vertreter einer eigenen monastischen Theologie, die im 12. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte und sich von der rationalen und spekulativen Art des Theologietreibens, die wir Scholastik nennen, durch ihren Erfahrungsbezug, die Ausrichtung auf die Frömmigkeitspraxis, die Orientierung an der allegorisch ausgelegten Bibel und die bildlichmetaphorische Redeweise unterscheidet.68 Auch für Bernhards Mystik ist der durchgehende Erfahrungsbezug konstitutiv. Neben dem „Buch der Schöpfung“ und dem „Buch der Schrift“, also der Bibel, gilt ihm die Erfahrung als ein drittes „Buch“ der Gotteserkenntnis. Immer wieder fordert er seine Hörer und Leser auf, seine Ausführungen mit ihrer eigenen Glaubenserfahrung zu vergleichen und an ihr zu überprüfen. Eine Besonderheit Bernhards ist, dass er seine Ideen gerne in vielfach variierter Form vorträgt und sich nicht ohne weiteres auf bestimmte Formeln und Schematismen festlegen lässt. Sein Grundsatz war: „Verschiedenes schließt einander nicht aus“ (diversa non adversa).69 68 69

Köpf, Monastische und scholastische Theologie. McGinn, Die Mystik im Abendland, II 263.

1. Mystik und monastische Theologie: Die Zisterzienser

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Bernhards Mystik ist, dem Geist seiner Zeit entsprechend, eine Christus- und Liebesmystik, sie steht aber auch in der von Augustinus geprägten Tradition der abendländischen Theologie. Mit Augustinus geht Bernhard davon aus, dass der Mensch als Bild des dreieinigen Gottes geschaffen, diese Gottebenbildlichkeit aber durch den Sündenfall beeinträchtigt wurde. Die menschliche Seele ist nach Gen 1,26 als „Abbild Gottes“ (imago Dei) und „Ebenbild Gottes“ (similitudo Dei) geschaffen. Was das heißt, hat Bernhard in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich entfaltet. Für unsere Zwecke reicht es aus festzuhalten, dass durch den Sündenfall des ersten Menschen das schöpfungsmäßige „Abbild“, das Bernhard unter anderem mit dem freien Willen identifizieren kann, nicht oder nur teilweise beeinträchtigt wurde, während das „Ebenbild“, wozu Bernhard die Fähigkeit, die Sünde zu vermeiden und die Unsterblichkeit rechnet, ganz oder zum großen Teil verloren oder zumindest verdeckt ist. Durch die Sendung des Gottessohnes, des göttlichen Wortes in die Welt, ist die Möglichkeit zur Wiedererlangung der Gottebenbildlichkeit eröffnet, indem der Mensch kraft seines freien Willens die ihm in Christus begegnende göttliche Liebe erwidert, bis er in reiner Gottesliebe Gott so ähnlich, ja selbst vergöttlicht, ist, dass es zur liebenden Vereinigung des menschlichen mit dem göttlichen Willen und zur Schau Gottes kommt. Vollkommen wird diese erst in der himmlischen Seligkeit erlangt, doch ansatzweise ist sie schon in diesem Leben erreichbar. Den Weg dahin hat Bernhard immer wieder mit unterschiedlichen Akzentsetzungen beschrieben. Am Anfang muss die schonungslose Selbsterkenntnis stehen, die durch systematische Gewissensprüfung gewonnen werden kann. Die Einsicht in die eigene Sündhaftigkeit und Schlechtigkeit führt den Men-

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V. Ordnung der Liebe

schen zur Buße und zur Demut, ja in ein ganzes Leben der Umkehr (conversio) – ein typisch monastisches Motiv! Wir sagten, Bernhards Mystik sei eine Christusund Liebesmystik. Dementsprechend führt für ihn der Weg zu Gott über den menschgewordenen Christus, und es ist ein Weg, auf dem die der göttlichen Liebe antwortende menschliche Liebe geordnet und gereinigt werden muss. Der Liebesaufstieg zur Einung mit Gott beginnt mit der Liebe des Menschen zu Christus. Dies ist eine fleischliche Liebe zum fleischlichen Christus, die sich affektiv von der Demut und Selbsterniedrigung des menschgewordenen und gekreuzigten Gottessohnes anrühren lässt und den Menschen zum Mitleiden (compassio) führt. Dass Gott den Menschen in Christus gerade hier, in seiner auf sich selbst bezogenen fleischlichen Liebe, aufsucht, ist selbst Beweis der Liebe Gottes zu uns. Von dieser Überzeugung ausgehend, kommt dann auch meditative Versenkung in die Demut und Niedrigkeit Christi zentrale Bedeutung zu. Bernhard selbst hat dabei die Menschwerdung und das Erdenleben Jesu insgesamt als Weg in die Erniedrigung im Blick. Spätere haben, an Bernhard anschließend und über ihn hinausgehend, den Fokus sehr viel stärker und exklusiver auf die Passion Christi gelegt. Auch wenn die meisten Werke der abendländischen Passionsfrömmigkeit des Hoch- und Spätmittelalters, die unter Bernhards Namen umliefen, nicht von dem Abt von Clairvaux stammen, kann man ihn gleichwohl mit einem gewissen Recht den Begründer dieser bedeutenden Frömmigkeitsrichtung nennen.70 Worauf es nun aber ankommt, ist, von der fleischlichen zur geistlichen Liebe, ja zur reinen Gottesliebe aufzusteigen. Bernhard hat diesen Aufstieg und diese 70

Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 243f.

1. Mystik und monastische Theologie: Die Zisterzienser

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Ordnung der Liebe unterschiedlich beschrieben. So kannte er etwa einen auf Origenes zurückgehenden Dreischritt von der fleischlichen über die vernünftige zur geistlichen Liebe (amor carnalis – rationalis – spiritualis). Das berühmteste Schema dieser Art sind jedoch die vier Grade der Liebe, die er in seinem Traktat „Von der Gottesliebe“ („De diligendo Deo“, BCSW I 113– 127) beschrieben hat. Demnach steht am Anfang die fleischliche Liebe des Menschen zu sich selbst. Die Betrachtung der Heilstaten Christi verwandelt diese in eine Liebe zu Gott, die aber immer noch um des eigenen Selbst willen empfunden wird. Erst im dritten Grad wird daraus die reine Liebe zu Gott um Gottes willen – eine selbstlose Liebe, die Gott nicht unbeantwortet lassen kann. Der vierte Grad, der aber in diesem Leben kaum und nicht vollständig erreicht werden kann, wird von Bernhard als eine Liebe des Menschen zu sich selbst um Gottes willen beschrieben. Man wird dies im Sinne einer Auslöschung aller Eigenliebe in der mystischen Vereinigung mit Gott verstehen dürfen. Die starke Betonung der Liebe bedeutet übrigens nicht, dass Bernhard der Erkenntnis auf dem mystischen Aufstiegsweg keine Bedeutung beimessen würde. Denn die Liebe, die Gott ist, ist mit der Wahrheit identisch, und aus diesem Grund müssen auf dem Weg zu Gott auch beim Menschen Liebe und Erkenntnis zusammenwirken. Eine bildliche Veranschaulichung des liebenden Aufstiegs zur unio mystica fand Bernhard im Hohenlied, das er konsequent individualistisch auf den liebenden Umgang der Seele mit Christus auslegte, auch wenn er die traditionelle Deutung auf die Kirche als ganze und die von Ambrosius von Mailand eingeführte Deutung auf Maria nicht verwarf. Bernhards Mystik ist insofern nicht nur als Liebes- und Christusmystik, sondern auch als Brautmystik zu charakterisieren. Die 86 Predigten über das Hohelied, die Bernhard in

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V. Ordnung der Liebe

den Jahren 1135–1153 vor seiner Klostergemeinde gehalten hat, reichen nur bis Hld 3,4, enthalten aber bereits das Ganze seiner mystischen Lehre. Nicht umsonst gelten die „Sermones super Cantica Canticorum“ als eines der schönsten Zeugnisse christlicher Mystik überhaupt. Auf Einzelheiten können wir hier nicht eingehen. Nur zwei Punkte seien genannt. So hat Bernhard aus Hld 1,1 („Er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes“) eine Betrachtung über den Aufstieg der Seele zur bräutlichen Vereinigung mit Christus im Bild der Abfolge von drei Küssen entwickelt.71 Auf der untersten Stufe küsst die für die Seele stehende Braut, wie ehedem die Sünderin von Lk 7,38, die Füße ihres Bräutigams Jesus, was die notwendige Reue und Buße für die Sünden symbolisiert. Es folgt der Kuss der Hände Jesu, der für das von Gott geschenkte neue Leben im Kampf gegen die Sünde steht. Auf der höchsten Stufe küsst die Braut Jesu Mund und erlebt so die liebende Vereinigung mit ihm. Das Dreierschema erinnert an den Dreischritt von Reinigung – Erleuchtung – Einung; auch mit den drei Menschenklassen der Anfangenden, Fortschreitenden und Vollkommenen nach Gregor dem Großen hat Bernhard es in Verbindung gebracht. Mit der aus dem Hohenlied entlehnten Bildlichkeit hat Bernhard wirkungsmächtig eine explizit erotische Metaphorik in die mystische Sprache eingeführt. Neben dem Kuss der Lippen kann er für die Liebesvereinigung der Seele mit Christus auch das Bild der Umarmung der Braut durch den Bräutigam nach Hld 2,6f. und 3,4 verwenden, das an die geschlechtliche Vereinigung von menschlichen Liebenden denken lässt. Es blieb indessen späteren Mystikerinnen und Mystikern wie Mechthild von Magdeburg vorbehal71

BCSW 5, 77–91, 121–133. Vgl. Leppin, Christliche Mystik, 64–69.

1. Mystik und monastische Theologie: Die Zisterzienser

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ten, eine konsequent erotisch codierte Beschreibung der mystischen Einung zu formulieren. Wie genau die mystische Einung aufzufassen ist, hat Bernhard vor allem in den kurz vor seinem Tod verfassten Hoheliedpredigten 77 bis 85 entfaltet. Demnach ist die Vereinigung der Seele mit Christus nicht als eine unterschiedslose Verschmelzung von Gott und Mensch zu denken, sondern als eine Willens- und Liebesvereinigung, in der die Seele mit Christus zu einem Geist wird. Bernhard bezieht sich dafür auf 1Kor 6,17 („Wer aber dem Herrn anhängt, der ist ein Geist mit ihm“). Von der Einheit der drei göttlichen Personen ist diese Art von mystischer Einung klar unterschieden. Bernhard kann sie mit der älteren Tradition auch als Kontemplation, als Gottesschau beschreiben. Bezeichnend ist, dass diese vollkommene Schau in diesem Leben nur selten und kurzzeitig72 möglich ist. Zwar kennt Bernhard auch einen unerwarteten und unvorbereiteten, jähen Aufschwung zur Gottesschau, den er „Entrückung“ (raptus, vgl. 2Kor 12,2) oder „Ekstase“ (excessus mentis) nennt. Doch geht es ihm bei der mystischen Schau und Einung nicht um außerordentliche Seelenzustände. Das geht aus einem seiner seltenen Selbstzeugnisse hervor. Bernhard deutet wiederholt an, dass er selbst mystische Erfahrungen gemacht habe, zeigt sich aber zurückhaltend, darüber Auskunft zu geben. Eine der wenigen Stellen, an denen er deutlicher wird, findet sich in der 74. Hoheliedpredigt. Bernhard berichtet hier, dass er oft die Gegenwart des Wortes, also des Gottessohnes, in seiner Seele verspürt habe, nicht aber dessen Kommen oder Gehen.73 Bei der mystischen Einung geht es 72 73

„rara hora et parva mora“ (BCSW 5, 344, 20). „Und obwohl es [= das Wort] öfters bei mir eintrat, merkte ich mehrere Male nicht, als es eintrat. Ich merkte, wenn es da war, ich erinnere mich, daß es da gewesen ist; manchmal konnte ich auch

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V. Ordnung der Liebe

demnach nicht um exzeptionelle Erfahrungen, sondern um das Wirken der erneuernden Liebe in der Seele, um einen Zustand, in dem alles Fühlen und Wollen in der umfassenden göttlichen Liebe aufgehoben ist. An anderem Ort kann Bernhard das Ziel des mystischen Weges auch als ein Wohnen Gottes oder als Geburt Gottes in der menschlichen Seele beschreiben. „Bernhards Christus- wie seine Brautmystik gehören zu den wenigen wahrhaft epochalen Innovationen in der Geschichte der abendländischen Mystik“.74 Seine Wirkung kann kaum überschätzt werden; sie reicht weit über das Mittelalter hinaus und auch in den Protestantismus hinein. b) Wilhelm von Saint-Thierry Neben Bernhard von Clairvaux hat der Zisterzienserorden im 12. Jahrhundert weitere mystische Autoren hervorgebracht, die freilich bald im übergroßen Schatten des Abtes von Clairvaux standen. Auch wenn sie alle ihre je eigenen Akzente setzten, erscheint es gerechtfertigt, sie unter dem Oberbegriff einer „zisterziensischen Mystik“ zusammenzufassen. Kennzeichnend dafür sind ein besonderes Interesse an der Anthropologie, das Verständnis Gottes als Liebe und die Beschäftigung mit dem Wesen, der Ordnung und den Stufen der Liebe.75 Wilhelm von Saint-Thierry76 (ca. 1075/80–1148) war neben Bernhard zweifellos der bedeutendste Mystiker des Zisterzienserordens. Er hatte, vielleicht sein Eintreten vorausahnen, fühlen niemals, nicht einmal sein Fortgehen“ (BCSW 6, 499). 74 Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 268. 75 Merton, St. Aelred of Rievaulx, 216–221. 76 Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 276–319; McGinn, Die Mystik im Abendland, II 341–417; Verdeyen, Wilhelm von Saint-Thierry.

1. Mystik und monastische Theologie: Die Zisterzienser

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an der berühmten Kathedralschule von Reims, vielleicht auch in Laon, eine exzellente philosophischtheologische Ausbildung erhalten und sich für eine Gelehrtenlaufbahn qualifiziert, war dann aber in ein Benediktinerkloster in Reims eingetreten. 1121 wurde Wilhelm zum Abt des nahe gelegenen Benediktinerklosters Saint-Thierry gewählt. Wohl kurz zuvor hatte er die Bekanntschaft Bernhards von Clairvaux gemacht, die zu einer engen Freundschaft und für sein weiteres Leben und Wirken bestimmend werden sollte. Als Wilhelm schwer erkrankte, holte Bernhard ihn zur Behandlung in das Hospital von Clairvaux, wo er ihn in täglichen Gesprächen in die allegorische, brautmystische Deutung des Hohenliedes einführte. Im Gefolge dieser Unterredungen begannen Bernhard und Wilhelm 1135 beide mit der schriftlichen Auslegung dieses biblischen Buches. Bernhards HoheliedPredigten und Wilhelms „Expositio super Cantica Canticorum“ haben also denselben Ursprung, sind aber ganz unabhängig voneinander verfasst. Gerne wäre Wilhelm in den Zisterzienserorden übergewechselt, doch Bernhard war daran gelegen, ihn in seinem Amt zu halten. 1135 legte Wilhelm dann doch seine Abtswürde nieder und trat als einfacher Mönch in das Zisterzienserkloster Signy ein, wo er noch anderthalb Jahrzehnte lebte. Wie Bernhard, so geht es auch Wilhelm um die Wiederherstellung der verlorenen Gottebenbildlichkeit (similitudo Dei) durch den Liebesaufstieg der Seele zur Vereinigung mit Gott. Doch wo Bernhards Mystik klar als Christusmystik profiliert ist, da grundiert Wilhelm seine mystische Vervollkommnungslehre entweder trinitarisch – ein Novum in der westlichen Mystik! –, oder er hebt besonders auf das Wirken des Heiligen Geistes ab. Man könnte bei Wilhelm daher auch von einer Geistmystik sprechen. Das Ziel des Aufstiegs ist die Geisteseinheit (unitas spiritus), jene

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mystische Einung von Gott und Mensch, die letztlich nichts anderes als der Heilige Geist selbst ist. Damit ist, wie bei Bernhard, keine Wesens-, sondern eine Willenseinheit gemeint, in der der menschliche Wille nichts anderes mehr will und wollen kann, als was Gottes Wille ist. Wie Bernhard hat Wilhelm den mystischen Weg auch mit der erotischen Bildlichkeit des brautmystisch interpretierten Hohenliedes gedeutet. Dabei legt er einen stärkeren Akzent auf die Dynamik der Beziehung zwischen Bräutigam und Braut, auf den andauernden Wechsel zwischen Sehnsucht und Gewährung, Entzug und Erfüllung; freilich kann er das heftige Verlangen der Seele nach dem abwesenden Bräutigam auch als eine Form von dessen Gegenwart verstehen. In seinen Überlegungen zur Ordnung der Liebe hat Wilhelm eine bemerkenswerte Verhältnisbestimmung von Liebe (amor) und Vernunft (ratio) ausgearbeitet. Stärker noch als Bernhard misstraut er den Möglichkeiten der Vernunft; tatsächlich kann allein die Liebe Gott erreichen, während die Vernunft ihn nur in dem schauen kann, was er nicht ist. Trotzdem hält auch Wilhelm daran fest, dass der Aufstieg nur im Zusammenwirken der affektiven und kognitiven Seelenkräfte möglich ist. In freier Anverwandlung eines Bildes aus der platonischen Philosophie kann er Liebe und Vernunft als die beiden Augen der erkennenden Seele bezeichnen. Allerdings müssen am Ende beide Augen zu einem einzigen werden, indem die Vernunft die Liebe belehrt und umgekehrt selbst von der Liebe erleuchtet wird. An anderer Stelle spricht Wilhelm ausdrücklich von der Notwendigkeit einer schrittweisen Aufhebung der Vernunft durch die Liebe oder eines Übergangs von der Vernunft zur Liebe. Das Misstrauen gegenüber der Vernunft hat Wilhelm zu einem Gegner der zu seiner Zeit aufblühenden ratio-

2. Mystik und scholastische Theologie: Die Viktoriner

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nal-dialektischen Theologie gemacht. Allein eine affektiv-voluntative Gotteserkenntnis hielt Wilhelm für angemessen – hierin zeigt sich eine entfernte Parallele zu Gregor Palamas und zum Hesychasmus. 2. Mystik und scholastische Theologie: Die Viktoriner Neben dem jungen Zisterzienserorden wurde die Schule des 1108 gegründeten Kanonikerstifts von St. Viktor bei Paris zum zweiten institutionellen Träger des Neuaufbruchs der abendländischen Mystik. Die überragende Lehrerpersönlichkeit dort war Hugo von St. Viktor. Unter seinen Schülern und Nachfolgern ragen vor allem zwei Männer von den britischen Inseln hervor, Achard und Richard von St. Viktor. Die Viktoriner haben bedeutende Beiträge zur theologischen Wissenschaft geleistet, Hugo und Richard gehörten aber auch zu den führenden Mystikern ihrer Zeit. Anders als die Zisterzienser waren die Viktoriner keine Mönche, sondern Kanoniker, also Kleriker, die ein Gemeinschaftsleben nach der Regel Augustins führten. Die traditionelle monastische Theologie verbanden sie mit Ansätzen einer neuen, stärker rational und dialektisch orientierten Wissenschaft, die wir heute „scholastische“ Theologie nennen; das zeigte sich etwa in einem größeren Interesse an Systematisierungen und einem stärkeren Rückgriff auf die areopagitische Mystik. Im Übrigen waren die Hauptlinien der viktorinischen Mystik die gleichen wie in der Zisterziensermystik: der Ausgang bei der Gottebenbildlichkeit des Menschen und der Möglichkeit ihrer Wiederherstellung, die Betonung der geordneten Liebe als Weg zu Gott, das Interesse an der menschlichen Erfahrung. Auch personell gab es enge Verbindungen zu den Zisterziensern, Hugo von St. Viktor und Bernhard von Clairvaux waren befreundet.

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a) Hugo von St. Viktor Der sächsische Adelige Hugo77 (ca. 1197–1141) trat um 1115 in das Stift St. Viktor ein, wo er als Vorsteher der Stiftsschule zum eigentlichen Begründer der viktorinischen Theologie wurde. Auch Hugos Mystik kann als Liebesmystik charakterisiert werden. Doch sie war eingebettet in ein enzyklopädisches Wissenschaftssystem, in dem Hugo alle Wissenschaften und Künste unter dem gemeinsamen Ziel der Wiederherstellung der verlorenen Gottebenbildlichkeit des Menschen, die ihre Erfüllung in der kontemplativen Gottesschau findet, zusammenordnete. Philosophie und Theologie, menschliche Wissenschaft und göttliche Weisheit waren für ihn unlösbar verbunden. Mit seinem Kommentar zu Dionysius‘ Buch über die himmlische Hierarchie gehört Hugo zu jenen Autoren, die die areopagitische Mystik im Westen bekannt gemacht haben. Dabei hat er die Aufstiegslehre des Dionysius in charakteristischer Weise transformiert und mit traditionellen monastischen Vollkommenheitslehren und der Liebesmystik Augustins verbunden. Ein in sich geschlossenes System hat er freilich nicht hinterlassen. Bezeichnend erscheint bereits Hugos Behandlung der areopagitischen Trias von Reinigung, Erleuchtung und Einung. Die Reinigung ist hier nicht mehr intellektuell im Sinne einer Ablösung des Geistes von der sinnlich-materiellen Welt verstanden, sondern moralisch als Kampf gegen die Laster. Diese Korrektur der areopagitischen Mystik wird besonders augenfällig in drei Traktaten, in denen Hugo den Aufbau der Arche Noah allegorisch auf den Aufstieg der Seele zu Gott deutete. Dieses Verfahren, die systematische Analyse auf das „geistliche Verständnis“ (intellectus spiritualis) 77

Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 355–380; McGinn, Die Mystik im Abendland, II 571–601.

2. Mystik und scholastische Theologie: Die Viktoriner

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eines biblischen Leitsymbols zu gründen, kann als typisch für das theologische Verfahren der Viktoriner gelten. Die Kajüte der Arche steht hier für das Haus Gottes, der in der gläubigen Seele Wohnung nehmen will. Der Weg zu Gott ist demnach zugleich ein Aufstieg hinauf zur Spitze der Arche und ein Abstieg hinab in die innerste Tiefe der Seele. Der Weg hinauf zu Gott wird von Hugo als ein komplex differenzierter Aufstieg beschrieben, der von allen vier Ecken der pyramidenförmig gedachten Kajüte über je drei Stufen zu ihrer Spitze hinaufführt.78 Der erste dieser Aufstiege, der von Nordosten, bezeichnet das Erwachen zum geistlichen Leben und geht über die Stufen von Furcht, Leid und Liebe. Der zweite Aufstieg von Südwesten steht für die moralische Reinigung von Lastern und hat die Stufen der Geduld, Barmherzigkeit und Reue. Der dritte Aufstieg ist der der Erleuchtung; er beginnt im Nordwesten und führt über Erkenntnis und Besinnung zur mystischen Schau. Der vierte Aufstieg von Südosten, der Aufstieg zu Einung mit Gott, umfasst schließlich die Stufen der Mäßigkeit, Klugheit und Stärke. Der einfache areopagitische Dreischritt ist somit zu einem Zwölferschema ausgebaut und moralisiert. Bezeichnenderweise ist die Kontemplation hier nicht mehr das Ziel des Aufstiegs, sondern wird im guten Handeln noch einmal moralisch transzendiert. Derselbe ordnende Geist, der sich in Hugos allegorischer Auslegung der Arche Noah niederschlug, begegnet uns auch in seinen verschiedenen Versuchen, die Grundelemente des geistlichen Lebens oder „Kontemplationsstufen“, die in der monastischen Spiritualität des Westens seit dem frühen Mittelalter thematisiert wurden, in feste Schematismen zu bringen. Während man sonst gewöhnlich einen Weg von der Lesung (lectio) und Betrachtung (meditatio) der Bibel über das Gebet (oratio) zur Gottesschau (contemplatio) 78

McGinn, Die Mystik im Abendland, II 579–582.

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V. Ordnung der Liebe

annahm, stellte Hugo seine Reihung, die vom Nachdenken (cogitatio) über die biblische Betrachtung (meditatio) zur Schau (contemplatio) führt, eher auf die geistige Tätigkeit der Seele ab. Neben der Ordnung des mystischen Aufstiegs und der Kontemplationsstufen hat Hugo weitere wirkungsmächtige Schemata entworfen, von denen nur eines hier noch erwähnt werden soll: die Unterscheidung der drei Augen der Seele. Diese stehen für drei verschiedene Erkenntnisvermögen. Im Urstand verfügte die Seele über alle drei Augen: das fleischliche Auge, mit dem sie die Welt um sich herum wahrnahm, das Auge der Vernunft, mit dem sie sich selbst erkannte, und das Auge der Kontemplation, mit dem sie Gott schaute. Durch die Sünde wurde das Auge der Kontemplation geschlossen und das Auge der Vernunft getrübt, so dass allein das fleischliche Auge in Funktion blieb. Mit der von Gottes Gnade geschenkten Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit ist dann auch die Wiedergewinnung der verlorenen Erkenntnisvermögen verbunden. So sehr der Frühscholastiker Hugo die Erkenntnis betont – auch in seiner Mystik kommt der Liebe die Hauptrolle zu. Das wird besonders deutlich in dem kleinen Dialog „Die Brautgabe der Seele“ („De arrha animae“), der das meistgelesene Werk Hugos ist.79 Mit Motiven der Brautmystik des Hohenliedes schärft Hugo seinen Lesern den Blick für die allgegenwärtige Liebe des göttlichen Bräutigams, die nach der Liebesantwort der Seele verlangt. Freilich ist die Braut von der Sünde entstellt und muss erst wieder würdig zur Hochzeit mit Gott gemacht werden, muss ihre ursprüngliche Schönheit wiedererlangen. Dazu bedarf es der Ordnung der Liebe: Die ungeordnete Begierde nach vergänglichen Gütern muss dem geordneten Liebesbegehren nach Gott weichen. Praktisch ge79

Hugo von St. Viktor, Mystische Schriften, 69–97.

2. Mystik und scholastische Theologie: Die Viktoriner

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schieht dies durch die Sakramente der Kirche wie durch eigene Zurüstungen, denen die göttliche Gnade zu Hilfe kommt. Die vollständige Schau und Einung werden erst im Jenseits erreicht, vorläufig und unvollkommen können sie aber schon in diesem Leben erfahren werden. Hugos bevorzugte Metapher für die Liebe ist das Feuer. In der bildlichen Beschreibung der Eigenschaften und Arten der Liebe hat er eine ungewöhnliche Meisterschaft an den Tag gelegt. So unterscheidet er in seinem Dionysius-Kommentar anlässlich der Beschreibung der Seraphim aus Jes 6 fünf verschiedene Erscheinungs- und Wirkungsweisen des „seraphischen Feuers“ der Liebe: die bewegliche, unablässige, heiße, durchdringende und übersprudelnde Liebe. Dabei ist es die durchdringende Liebe, die im brennenden Verlangen in den Geliebten eindringt und zur Einigung führt, zugleich aber die Seele zum Dahinschmelzen bringt und flüssig macht (Hld 5,6) – beides starke erotische Metaphern. Doch muss sie am Ende in die übersprudelnde Liebe münden, in der die Seele in völliger Selbstvergessenheit mit dem göttlichen Liebhaber eins wird. Das ist jener Überstieg (transitus) der Liebe, der in der mystischen Tradition sonst auch als Außersichsein (exstasis) oder Entrückung (raptus) beschrieben wird. b) Richard von St. Viktor Der vermutlich aus Schottland oder England stammende Richard (ca. 1110–1173) lehrte als Magister an der Schule von St. Viktor, bis er 1162 Prior des Stifts wurde.80 Er kann als bedeutendster Vertreter der viktorinischen Theologie im Allgemeinen und der viktorinischen Mystik im Besonderen gelten. 80

Coulter, Per visibilia ad invisibilia; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, I 381–406; McGinn, Die Mystik im Abendland, II 607–638.

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V. Ordnung der Liebe

In seinem „Buch von den zwölf Patriarchen“ („Liber de duodecim patriarchis“) nimmt er eine feinfühlige psychologische Analyse des geistlichen Aufstiegsweges vor, die als Musterbeispiel der neuen Mystik des 12. Jahrhunderts gelten kann. Das Grundgerüst gewinnt er aus der allegorisch interpretierten Erzählung von Jakob, seinen zwei Frauen und deren Mägden und seinen zwölf Söhnen, die zu den Vätern der zwölf Stämme Israels wurden (Gen 29,31–30,24; 34,1–31; 35,16–26). Jakob selbst, der später den Beinamen Israel – Richard übersetzt mit der älteren Tradition fälschlich „der Gott sieht“ – erhält, steht hier für die Seele auf ihrem Aufstieg zur ekstatischen Kontemplation, die durch Benjamin, den jüngsten Sohn, verkörpert wird. Am Beginn des mystischen Weges steht die Einübung in die Tugenden, die durch die Söhne Leas, der mit der Leidenschaft gleichgesetzten ersten Frau Jakobs, symbolisiert werden. Die beiden Söhne von Rahels Magd Bilha, die für die Vorstellungskraft steht, bedeuten sodann die Bilder der materiellen und der geistigen Welt, von denen der weitere Aufstieg seinen Ausgang nimmt. Mit der Vereinigung von Jakob und Leas Magd Silpa, der Sinnlichkeit, werden zwei weitere Söhne gezeugt, die Enthaltsamkeit und Geduld bedeuten. Lea selbst gebiert daraufhin in einer zweiten Fruchtbarkeit die Freude an der inneren Süße und den Hass gegen die Laster, bis Jakob mit Rahel, der Vernunft, endlich die Mäßigkeit und – in Gestalt Benjamins – die ekstatische Beschauung selbst zeugt. Aus der Tatsache, dass Rahel bei Benjamins Geburt stirbt, folgert Richard, dass die ekstatische Kontemplation in dem Augenblick erreicht wird, wo die Vernunft stirbt. Dann leuchtet in der Seele gleich einem Blitz das göttliche Licht auf, das ihr eine dauernde Sehnsucht nach der erst im Jenseits vollkommen zu erreichenden Gottesschau einpflanzt.

2. Mystik und scholastische Theologie: Die Viktoriner

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In seinem Werk „Die geheime Lade“ („De arca mystica“) entwickelte Richard anhand der allegorisch gedeuteten Bundeslade von Ex 25,10–30 eine in ihrer Vollständigkeit und schulmäßigen Systematik einzigartige Lehre vom Wesen der mystischen Kontemplation. Gut neuplatonisch beschrieb er hier den Weg der Kontemplation als Aufstieg von der Erkenntnis der sinnlich wahrnehmbaren materiellen Dinge über die Vernunfterkenntnis der mathematisch-philosophischen Wahrheiten bis hin zur Erkenntnis der geistlichgöttlichen Dinge. Dabei kommen drei grundlegende Erkenntniskräfte zur Wirkung: Vorstellung, Vernunft und Einsicht. Je nachdem, in welcher Weise diese Kräfte wirken – nur jeweils für sich oder schon in Verbindung mit der jeweils höheren Erkenntniskraft –, ergeben sich sechs Arten oder Stufen der Schau, entsprechend den sechs Flügeln der Seraphim aus Jesaja 6: Auf den ersten vier Stufen erfolgt die Schau „in der Vorstellung und gemäß der Vorstellung“, „in der Vorstellung und gemäß der Vernunft“, „in der Vernunft und gemäß der Vernunft“ sowie „in der Vernunft und nicht gemäß der Vernunft“. Auf dieser Stufe wird die Selbsterkenntnis erlangt, mit der der Übergang zur mystischen Schau im eigentlichen, engeren Sinne erfolgt. Diese wird auf den beiden obersten Stufen verwirklicht, die eine Schau „oberhalb, aber nicht außerhalb der Vernunft“ und schließlich eine Schau „außerhalb der Vernunft“ verkörpern. Die sechs Stufen der Kontemplation veranschaulicht Richard anhand der Bundeslade. In den verschiedenen Materialien und Elementen der Lade findet er die verschiedenen Arten der Schau wieder. Dabei steht die Deckplatte der Lade für die vierte Stufe, die den Durchbruch zur Selbsterkenntnis bezeichnet, während die beiden oberen Stufen der ekstatischen Kontemplation durch die beiden Cherubim, die einander zugewandten, korrespondierenden Engelsfi-

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V. Ordnung der Liebe

guren präfiguriert sind, die auch als Symbol für den Zusammenfall der Gegensätze in Gott verstanden werden können. Auf dieser Stufe wird der Mensch den Engeln gleich, in seiner Tugendhaftigkeit wie in der Art seiner Schau. Im Blick auf den Menschen, der den Weg der Beschauung beschreitet, unterscheidet Richard drei verschiedene Zustände. Auf den vier unteren Stufen vollzieht sich die durch menschliche Anstrengung zu erlangende Ausdehnung des Geistes. Auf den höheren Stufen kommt es im Zusammenwirken von menschlichem Bemühen und Gottes Gnade zur Erhebung des Geistes und schließlich, in der mystischen Kontemplation selbst, zu dem, was Richard Entfremdung des Geistes (alienatio mentis) nennt. Bei dieser vergisst der Mensch sich selbst und die Welt, es kommt zur Entrückung (excessus mentis, raptus) oder zum Außersichsein (exstasis). Näherhin umfasst die Entfremdung des Geistes die drei Aspekte der „Größe der Hingabe“, „Größe des Staunens“ und „Größe des Überschwangs“; unter letzterem verstand er den ekstatischen Jubel, der vor allem in der Frauenmystik eine große Rolle spielen sollte. Auch wenn Richards Kontemplationslehre neuplatonisch geprägt ist, so ist doch auch er vor allem ein Mystiker der Liebe. Eindrucksvoll ausgearbeitet hat er seine Auffassung in dem berühmten Traktat „Die vier Stufen der gewaltsamen Liebe“ („De quatuor gradibus violentae caritatis“). Die Liebe, die zu Gott führt, ist die ungestüme, wahnhafte, gewaltsame Liebe – eine Liebe, die im zwischenmenschlichen Bereich pathologische Züge trüge und zerstörerisch wirken müsste, gegenüber Gott aber die einzig angemessene Antwort auf dessen überwältigende göttliche Liebe ist. Die erste Stufe ist die verwundende Liebe: Wie ein Pfeil durchbohrt sie die Seele und entzündet in ihr ein unauslöschliches Verlangen nach dem Geliebten. Auf der zweiten Stufe steht die fesselnde Liebe, die den Geist

2. Mystik und scholastische Theologie: Die Viktoriner

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so sehr mit Beschlag belegt, dass er sich in beständigen Gedanken an den Geliebten verzehrt. Auf der dritten Stufe folgt die krankmachende Liebe, die alles Denken, Tun und Empfinden lähmt; hier geschieht die eigentliche Entrückung des Geistes (excessus mentis), nachdem es bereits auf der zweiten Stufe zur Kontemplation gekommen war. Es erscheint bemerkenswert, dass auch bei Richard die mystische Kontemplation und die Ekstase, die hier ausnahmsweise unterschieden werden, noch nicht das Ende des mystischen Weges bezeichnen. Dieses wird vielmehr erst mit der vierten Stufe der dahinschwindenden Liebe erreicht. Hier verzichtet die Seele willig auf die Freuden der liebenden Vereinigung mit dem göttlichen Bräutigam und stellt sich wie Christus in den Dienst der Liebe zum Nächsten. So schlägt auf der höchsten Stufe der Aufstieg in den Abstieg um. Wie die Braut die Freuden der Hochzeitsnacht und des liebenden Umgangs mit dem Bräutigam preisgibt, um sich als Mutter in Liebe ihren Kindern zuzuwenden, so kehrt der Mystiker in das aktive Leben tätiger Nächstenliebe zurück. c) Thomas Gallus Wie Hugo, so verband auch Thomas Gallus (ca. 1190/ 1200–1246), einer der letzten Viktoriner-Theologen, die areopagitische Aufstiegsmystik mit der Brautmystik des Hohenliedes und der Liebestheologie der viktorinischen Schule.81 Thomas war Stiftsherr in St. Viktor gewesen, bevor er 1226 Abt eines neugegründeten, mit St. Viktor verbundenen Klosters in Vercelli im Piemont wurde. Mit seinen Kommentaren zu den Schriften des Dionysius Areopagita trug er maßgeblich zur Blüte einer areopagitisch inspirierten Mystik im 13. Jahrhundert bei. 81

Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, III 59–81; McGinn, The Role of Thomas Gallus; Lawell, Affective Excess.

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V. Ordnung der Liebe

Die Besonderheit seines Ansatzes lag in der konsequenten Umgestaltung des areopagitischen intellektuellen Erkenntnisaufstiegs in einen affektiven Liebesaufstieg. Deutlich sichtbar ist dies in der Neuinterpretation der himmlischen Hierarchie, die bei Thomas zu einer Art von Aufstiegsstufen auf dem individuell zu durchlaufenden mystischen Weg wird. Der Seele ist aufgegeben, den Engeln gleich zu werden, um der Vereinigung mit Gott teilhaftig zu werden. Faktisch setzt Thomas die dionysianischen dreimal drei Chöre der Engel mit neun Seelenkräften gleich. Dabei ordnet er die erste Triade der Engelchöre dem natürlichen Bemühen des Menschen, die zweite dem Zusammenwirken des menschlichen Willens mit der göttlichen Gnade und die dritte dem Gnadenwirken Gottes allein zu. Diese oberste Triade ist der Bereich der von Gott geschenkten Entrückung (excessus mentis). Auf ihren ersten beiden Stufen, für die die „Throne“ und die Cherubim stehen, wirken beim Menschen noch Erkenntnis und Liebe zusammen, doch die höchste Stufe, die der Seraphim, ist ausschließlich in der Liebe erreichbar. Die Seele muss hier alle intellektuelle Erkenntnis, alles Wissen, hinter sich lassen. Thomas stellt damit Liebe und Erkennen in einer bislang nicht gekannten Weise schroff gegeneinander. Mit der Verinnerlichung und Psychologisierung der himmlischen Hierarchie und der exklusiven Betonung der Liebe hat Thomas eine den ursprünglichen Intentionen des Areopagiten widersprechende Adaptation seiner Aufstiegsmystik an die abendländische Tradition mystischer Theologie vorgenommen. Sie hat im 13. und 14. Jahrhundert eine erhebliche Wirkung entfaltet und wird im Unterschied zu einem spekulativen Dionysianismus, wie wir ihn etwa bei Meister Eckhart finden, als „empfindsamer“ oder „affektiver Dionysianismus“ bezeichnet.

VI. Frauenmystik

Mit der zisterziensischen und viktorinischen Mystik des 12. Jahrhunderts und ihrer Erfahrungsorientierung, ihrem psychologischen Interesse und ihrer brautmystischen Auslegung des Hohenliedes hatte das Aufblühen einer neuartigen Mystik begonnen. Im 13. Jahrhundert erreichte die damit eingeleitete Entwicklung eine erstaunliche Dynamik. Binnen weniger Jahrzehnte nahm die mystische Frömmigkeit des lateinischen Westens einen ganz eigenen Charakter an. War die ältere Mystik fast ausschließlich im Mönchtum beheimatet und in den monastischen Vollkommenheitslehren verankert, so erfasste sie nun immer neue Trägerschichten außerhalb des klassischen Mönchtums: die neu entstehenden weltzugewandten Bettelorden, fromme Frauen, die neue, weniger regulierte Lebensformen als Beginen oder Terziarinnen für sich entdeckten, und schließlich religiös interessierte Kreise in der „Welt“ lebender Laien. Aus einem elitärmonastischen Phänomen wurde eine für weite Kreise zugängliche Frömmigkeitsform. Man hat daher zugespitzt von einer Popularisierung oder „Demokratisierung der Mystik“82 gesprochen. Damit einher ging der Übergang der mystischen Literaturproduktion von der lateinischen Kirchen- und Gelehrtensprache in die jeweiligen Volkssprachen, die in dieser Zeit auch sonst einen großen Aufschwung als Literatursprachen erlebten. Allerdings war das Verhältnis von lateinischer und volkssprachlicher mystischer Literatur komplex; es kam auch vor, dass volkssprachliche Schriften ins 82

Oberman, Spätscholastik und Reformation, I 318–322.

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VI. Frauenmystik

Lateinische übersetzt wurden. Nicht zuletzt wandelten sich auch der Charakter der mystischen Erfahrungen selbst, ihr Verständnis und die Art ihrer Beschreibung sehr deutlich. Hatten die älteren Mönchsmystiker stets betont, dass die unio mystica nur selten und kurzzeitig erlebt werden konnte und sich über das Wesen dieser Erfahrung ausgeschwiegen oder nur sehr vage ausgedrückt, so waren für die neue Mystik seit dem 13. Jahrhundert häufige und mitunter lange andauernde ekstatische und visionäre Erfahrungen kennzeichnend, die oft ausführlich beschrieben wurden. Die auffallendste Neuerung im 13. Jahrhundert war das Aufkommen einer Frauenmystik. Zwar gab es seit dem Altertum auch ein (zahlenmäßig freilich weniger bedeutendes) weibliches Mönchtum, doch waren Frauen von der Produktion theologischer Literatur und der öffentlichen Auslegung der Bibel ausgeschlossen. Es gibt daher aus dem ersten Jahrtausend der Christentumsgeschichte keine literarischen Zeugnisse einer weiblichen Mystik. Das änderte sich schlagartig um die Wende zum 13. Jahrhundert. Die religiöse Frauenbewegung, die im Gefolge der Gregorianischen Reform entstand, brachte nun auch eine eindrucksvolle Frauenmystik und entsprechende Literatur hervor.83 Allerdings ist der in der Forschung herkömmlich gebrauchte Begriff der „Frauenmystik“ nicht unproblematisch.84 Tatsächlich lassen sich fast alle Züge mystischer Frömmigkeit, die als bezeichnend für die Mystikerinnen des 13. und 14. Jahrhunderts erscheinen, 83 Zur mittelalterlichen Frauenmystik allgemein vgl. Dinzelbacher/ Bauer, Frauenmystik im Mittelalter; Dinzelbacher/Bauer, Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit; Peters, Religiöse Erfahrung; Stölting, Christliche Frauenmystik; Weiß, Die deutschen Mystikerinnen; Weiß, Ekstase und Liebe; Weiß, Der dreieine Schöpfer. 84 McGinn, Die Mystik im Abendland, III 10–12, 44–47.

1. Hildegard von Bingen

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auch bei einzelnen männlichen Mystikern wiederfinden. Vor allem aber muss man die Tatsache ernst nehmen, dass die Erzeugnisse der Frauenmystik fast immer im Zusammenspiel von Frauen und Männern entstanden sind, wobei die Männer in verschiedenen Rollen auftraten: als Beichtväter, Seelenführer, Biographen oder Protokollanten und Herausgeber mystischer Zeugnisse. Umgekehrt beeinflussten die Mystikerinnen männliche Autoren wie etwa die großen Dominikanermystiker des 14. Jahrhunderts. Nicht selten kam es auch zu engen „geistlichen Freundschaften“ oder sogar „geistlichen Vermählungen“ zwischen mystisch interessierten Frauen und Männern.85 Trotzdem zeigen die mystischen Zeugnisse von Frauen im Ganzen ein eigenes Profil, das sie von den mystischen Zeugnissen von Männern derselben Zeit abhebt. Im Folgenden sollen vor allem diese Besonderheiten herausgestellt werden. Von einer theoretischen Einordnung der Befunde aus der Genderperspektive muss hier abgesehen werden, da es trotz einer Reihe profunder Einzelbeiträge einen Forschungskonsens noch nicht gibt. 1. Hildegard von Bingen Die erste Frau, der wir in der Geschichte der Mystik begegnen, ist Hildegard von Bingen (1098–1179).86 Hildegard gehört noch nicht zur eigentlichen „Frauenmystik“, die erst eine Generation später einsetzt. Ja, es wird heute sogar bestritten, dass man sie überhaupt als Mystikerin ansprechen darf, weil bei ihr das The85

So z.B. zwischen Margareta von Ypern und Siger von Lille, Christina von Stommeln (1242–1312) und Petrus de Dacia (McGinn, Die Mystik im Abendland, III 296f; 318–323) oder Elsbeth Stagel und Heinrich Seuse (s.u. Kap. VIII.3). 86 Sudbrack, Hildegard von Bingen; Pernoud, Hildegard von Bingen; McGinn, Die Mystik im Abendland, II 509–514.

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VI. Frauenmystik

ma der mystischen Vereinigung mit Gott nicht vorkommt und ihre Werke auch nicht zum späteren Traditionsbestand mystischen Schrifttums gehörten.87 Gleichwohl erscheint ihre Aufnahme in eine Geschichte der Mystik gerechtfertigt. Denn Hildegard hat höchstwahrscheinlich selbst mystische Erfahrungen gemacht, und wir finden bei ihr erstmals das für die spätere Frauenmystik charakteristische Muster einer Selbstlegitimierung durch Visionen. Hildegard war eine Zeitgenossin Bernhards von Clairvaux und Hugos von St. Viktor. Als zehntes Kind einer Adelsfamilie wurde sie von ihren Eltern bei einer Verwandten in einer dem Kloster Disibodenberg bei Staudernheim an der Nahe angegliederten Frauenklause untergebracht. Nach dem Tod ihrer Mentorin sammelte sie dort eine Frauengemeinschaft um sich, für die sie um 1150 auf dem Rupertsberg bei Bingen ein eigenes Kloster gründete, dessen Äbtissin sie wurde; 1165 gründete sie ein weiteres Kloster in Eibingen auf der anderen Rhein-Seite. Hildegard wurde als die „deutsche Prophetin“ (prophetissa Teutonica) bekannt. Seit 1141 hatte sie immer wieder Visionen, die sie mit Hilfe von Sekretären aufzeichnete. Ihr Hauptwerk, dem sie den Titel „Scivias“ („Wisse die Wege“) gab und das sie nach ihren Angaben illustrieren ließ, besteht vollständig aus derartigen Aufzeichnungen visionärer Offenbarungen. Daneben verfasste sie theologische, naturkundliche und musiktheoretische Werke, Lieder und Gedichte. Entscheidend für Hildegards Renommee war, dass Papst Eugen III., ein Schüler Bernhards von Clairvaux, 1147 ihre Visionen als authentisch anerkannte. Ihre ausgedehnte Korrespondenz und mehrere Predigtreisen nach Süddeutschland und im Rheinland zeugen von ihrem Einfluss. 87

Ruh, Vorbemerkungen, 345f.

1. Hildegard von Bingen

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Auch wenn Hildegard eine Visionärin war, müsste sie allein deswegen nicht zwangsläufig als Mystikerin gelten. Zwar legt die große Rolle der Gottesschau in der mystischen Tradition eine Verbindung zu visionären Erlebnissen nahe, doch hat nicht jede Vision mystischen Charakter. Das gilt für die im Frühmittelalter geläufigen Visionen von Himmels- oder Höllenfahrten, bei denen die Seher Jenseitsorte besuchen, aber keine unmittelbare Vereinigung mit Gott erfahren, es gilt aber etwa auch für die Visionen von Hildegards jüngerer Zeitgenossin Elisabeth von Schönau (1129– 1164), der von Engeln Botschaften aufgetragen wurden, ohne dass damit eine Gottesschau verbunden war.88 Auch die Mehrzahl der Visionen Hildegards ist in diesem Sinne nicht mystischen Charakters. Es handelt sich um prophetische Offenbarungen über Glaubensgeheimnisse oder das Verständnis der Bibel, nicht aber um Entrückungen oder mystische Einungserfahrungen. In einem berühmten Brief hat sie 1175 freimütig über die Art ihrer Schauungen berichtet:89 „… meine Seele steigt – wie Gott will – in dieser Schau empor bis in die Höhe des Firmamentes … Ich sehe aber diese Dinge nicht mit den äußeren Augen und höre sie nicht mit den äußeren Ohren, auch nehme ich sie nicht mit den Gedanken meines Herzens wahr noch durch irgendwelche Vermittlung meiner fünf Sinne. Ich sehe sie vielmehr einzig in meiner Seele, mit offenen leiblichen Augen, so daß ich dabei niemals die Bewußtlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies, bei Tag und Nacht.“ In diesen Visionen nahm Hildegard, wie sie weiter ausführt, innerlich ein strahlendes Licht wahr, auf 88 89

Kemper, Das benediktinische Doppelkloster Schönau. Hildegard von Bingen, „Nun höre und lerne …“, 226–228.

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VI. Frauenmystik

dem ihr wie auf einer Leinwand die allegorischen Sinnbilder und Texte erschienen, die ihr offenbart wurden. Neben dieser Art von Visionen, die sie selbst als „Schau des Schattens des lebendigen Lichts“ bezeichnete, kannte Hildegard noch eine zweite, seltenere Art, die „Schau des lebendigen Lichts selbst“: „In diesem Licht sehe ich zuweilen, aber nicht oft, ein anderes Licht, das mir das ‚Lebendige Licht‘ genannt wird. Wann und wie ich es schaue, kann ich nicht sagen. Aber solange ich es schaue, wird alle Traurigkeit und alle Angst von mir genommen, so daß ich mich wie ein einfaches junges Mädchen fühle und nicht wie eine alte Frau.“ Hildegard hat demnach anscheinend selbst die mystische Kontemplation erfahren – auch wenn sie sich in ihren Schriften nicht mit den Voraussetzungen und dem Weg zur Erlangung der Gottesschau, mit deren Eigenarten und den daraus folgenden Konsequenzen befasst hat. Für die Geschichte der Mystik von Bedeutung ist Hildegard noch aus einem anderen Grund: Wie für sie, so sollte auch für die Vertreterinnen der Frauenmystik des 13. und 14. Jahrhunderts die Berufung auf detailliert berichtete Visionen oder Auditionen eine zentrale Rolle spielen. Hier wie dort verliehen solche außerordentlichen, direkt auf Gottes Wirken zurückgeführten Erscheinungen Frauen eine charismatische Autorität, die es ihnen gestattete, entgegen den üblichen Rollenmustern schreibend, lehrend oder gar predigend in die Öffentlichkeit zu treten.90

90 McGinn, Die Mystik im Abendland, II 496–552, bes. 503, 509, 510; III 284f.

2. Die religiöse Frauenbewegung und die Mystik

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2. Die religiöse Frauenbewegung und die Mystik Die Frauenmystik des 13. Jahrhunderts ist eine Frucht der religiösen Frauenbewegung, die seit dem 12. Jahrhundert im Gefolge der Erneuerungsimpulse der Gregorianischen Reform das Abendland erfasst hatte.91 Immer mehr Frauen suchten nach Möglichkeiten einer religiösen Lebensgestaltung. Die bestehenden, vielfach adelig geprägten Benediktinerinnenklöster und Damenstifte boten dazu keine Gelegenheit. In begrenztem Umfang boten die weiblichen Zweige der neuen Ordensgemeinschaften der Prämonstratenser und der Zisterzienser, vor allem aber der Franziskaner und Dominikaner den neuen Bedürfnissen Raum. Daneben entwickelten Frauen, die keine Aufnahme ins Kloster fanden oder ein Leben in Klausur und mit Klostergelübden bewusst ablehnten, eine eigene, neue Lebensform zwischen Kloster und Welt. Diese „frommen Frauen“ (mulieres religiosae) wurden als Beginen bezeichnet. Die Anfänge des Beginentums liegen im Bistum Lüttich im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts. Hier hatte die religiöse Frauenbewegung in kurzer Zeit eine Intensität und Breite gewonnen wie nirgends sonst in Europa. Die Lebensformen der Beginen waren unterschiedlich. Es gab allein lebende, sesshafte oder bettelnd umherziehende Frauen, häufiger waren jedoch mehr oder weniger selbstständige Gemeinschaften, die in den Städten in eigenen Beginenhäusern oder Beginenhöfen gemeinsam lebten, wirtschafteten und ihre Frömmigkeit pflegten – in freiwilliger Armut und Keuschheit, aber ohne Ordensregel oder Gelübde, häufig mit Mönchen der neuen Bettelorden als Seelsorgern und im engen Kontakt zur städtischen Gesellschaft. Bald breitete sich das neue Lebensideal 91

Grundmann, Religiöse Bewegungen, 173–352.

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VI. Frauenmystik

nach den Niederlanden, nach Nordfrankreich und ins Rheinland aus. Dabei gab die unregulierte Lebensform der frommen Frauen und die Tatsache, dass sie sich durch die Wahl eigener Beichtväter der Pfarrseelsorge entzogen, Anlass zu allerlei Anfeindungen und Verdächtigungen. 1311 verbot das Konzil von Vienne die Lebensweise des nicht sesshaften, umherziehenden Beginentums. Doch auch die ortsfesten Beginengemeinschaften gerieten häufig unter Druck. In der Folge nahmen viele Beginenhäuser stärker regulierte Formen an und lehnten sich an die Konvente der Bettelorden an, bis sie schließlich in deren weiblichen Ordenszweigen oder lose organisierten „Dritten Orden“ aufgingen. Die Lebensform des Beginentums bildete einen fruchtbaren Nährboden für die neue Frauenmystik. Viele der Mystikerinnen des 13. Jahrhunderts waren Beginen, wenngleich es auch unter Zisterzienserinnen und Angehörigen anderer Orden mystisch inspirierte Frauen gab. Leider haben nur wenige dieser Mystikerinnen eigene Schriften hinterlassen. Die Mehrzahl ist uns nur aus den damals in größerer Zahl entstandenen Lebensbeschreibungen (Viten) bekannt, die im Regelfall von männlichen Seelenführern und Beichtvätern oder Bewunderern verfasst wurden. Technisch gesehen, handelt es sich bei dieser Literaturgattung um Hagiographie, und dementsprechend bedienen die Autoren ausgiebig die üblichen Topoi, berichten vom tugendsamen und moralisch vorbildlichen Lebenswandel der Beginen, von asketischen Leistungen und erstaunlichen Wundertaten. Dabei konnte das Wunderhafte grotesk übersteigert werden. So berichtete der Dominikaner Thomas von Cantimpré von Christina der Wunderbaren (Christina Mirabilis, ca. 1150 – ca. 1224) aus Sint-Truiden in Flandern, dass sie in glühende Öfen kroch, in Kessel mit kochendem Wasser sprang und über Tage hinweg im eiskalten Wasser

2. Die religiöse Frauenbewegung und die Mystik

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der winterlichen Maas ausharrte, aber auch die Fähigkeit besaß, einem Vogel gleich auf Bäume oder Kirchendächer zu fliegen und dass ihre Brüste ein nährendes und heilendes Öl absonderten.92 Das mittelalterliche Publikum scheint an derlei drastischen Erzählungen keinen Anstoß genommen zu haben – im Gegenteil: je größer und unwahrscheinlicher das Wunder, umso größer die göttliche Gnade, die auf der so ausgezeichneten Heiligen ruhte. Auch wenn man die literarischen Konventionen in Rechnung stellt, lässt sich aus den überlieferten Viten ein Gesamtbild der neuartigen Form mystischer Frömmigkeit gewinnen, die in den Beginenkreisen gepflegt wurde. So finden wir regelmäßig Berichte über exzessive, bis zum Äußersten gesteigerte Bußübungen und asketische Praktiken, die als Voraussetzung für den Empfang der mystischen Gnaden galten. Häufig liest man von strengem Fasten, von Nachtwachen und langen Zeiten des Schweigens, aber auch von schmerzhaften Selbstkasteiungen und Selbstverletzungen wie Geißelungen oder Einschnürungen der Gliedmaßen. Hierher gehört auch die Vorstellung, dass körperliche Krankheit in besonderem Maße zu mystischer Erfahrung disponiere. Die Hochschätzung der Askese stand im Zusammenhang mit der nun ausgiebig betriebenen Meditation der Passion Christi, in dessen Leiden man sich hineinversetzte und das man am eigenen Leibe nachvollziehen wollte. Eine besondere Rolle spielte dabei die Betrachtung seiner Wunden. Neu entdeckt als Gegenstand der Betrachtung und der frommen Hingabe wurde das (blutende) Herz Jesu, das oft mit der Seitenwunde der Kreuzigung in Verbindung gebracht wurde.

92 Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, II 101f.; McGinn, Die Mystik im Abendland, III 294–296.

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Die Mystik der Beginen war jedoch nicht nur Passionsmystik, sondern auch und mehr noch eine Liebesmystik in der Nachfolge der Zisterzienser und Viktoriner – eine Liebesmystik freilich, die in ihrer Impulsivität und Vehemenz mit dem Gedanken einer „Ordnung der Liebe“ wenig gemein hat. Die Maßlosigkeit und überwältigende Macht, die die Mystikerinnen des 13. Jahrhunderts der Gottesliebe und der menschlichen Liebe zuschrieben, und die Übersteigerung des Verlangens zum unstillbaren Liebeswahn und zur Sehnsucht nach Auflösung und Zunichtewerden erinnern an die „gewalttätige Liebe“ Richards von St. Viktor. Die vom Hohenlied inspirierte erotische Sprache, die von den Mystikern des 12. Jahrhunderts noch mit großer Zurückhaltung verwendet wurde, wird nun direkt und drastisch. Heutige Leser sind oft peinlich berührt, mit welcher Deutlichkeit der liebende Umgang mit Christus als erotischer Austausch von Zärtlichkeiten bis hin zur sexuellen Vereinigung beschrieben wird. Mitunter geht mit der Neigung zur Maßlosigkeit und zum Exzess im Liebesverlangen auch eine veränderte Auffassung der unio mystica einher, die dann nicht mehr als eine affektive Einigung des göttlichen und menschlichen Willens, sondern als ein völliges Aufgehen des menschlichen Ich in Gott, als ein Verschmelzen oder eine ununterscheidbare Identität aufgefasst wird. In traditioneller Terminologie spricht man in solchen Fällen von „Wesensmystik“ (im Unterschied zu „Willensmystik“). Damit wird in theologisch nicht unproblematischer Weise die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf überschritten. Erfahren wird die mystische Vereinigung mit Christus – seltener mit Gott oder der göttlichen Dreifaltigkeit – in ekstatischen Entrückungserfahrungen, die regelmäßig mit Visionen oder Auditionen, also dem Hören von Himmelsstimmen, verbunden sind.

2. Die religiöse Frauenbewegung und die Mystik

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Derartige Entrückungs- und Visionsberichte sind eines der wichtigsten Merkmale der Frauenmystik des 13. und 14. Jahrhunderts. Betonte die ältere Mystik die Seltenheit und kurze Dauer der mystischen Ekstase, so hören wir hier von häufigen und langen, teilweise Tage oder Wochen andauernden ekstatischen Zuständen. Oft ereignen sie sich in der Kirche, während des Gottesdienstes oder nach dem Empfang der Eucharistie. Christus erscheint den Mystikerinnen in Gestalt des Kindes oder des Schmerzensmannes, aber auch als schöner junger Mann, als Priester oder als himmlischer Richter. Das Christuskind in den Armen zu halten oder gar zu stillen, den göttlichen Bräutigam zu küssen und zu liebkosen, den Gekreuzigten zu umarmen, sind häufige Bestandteile solcher Begegnungen. Neben den Christusvisionen werden auch Marienvisionen sowie Begegnungen mit Engeln oder Heiligen berichtet, häufig wird auch vom Lebendigwerden von Christus- und Marienbildern gesprochen. Die Gottesbegegnung wird hier in einer neuen, sehr unmittelbaren, leiblichen und sinnlichen Weise erfahren. Damit wird die von der älteren Mystik im Anschluss an Origenes betonte Unterscheidung von äußeren und geistlichen Sinnen eingeebnet.93 In der neuen Mystik wird geschaut, gehört, getastet, geschmeckt. Ein drastisches Beispiel wird von der Wiener Begine Agnes Blannbekin berichtet, die bei der meditativen Versenkung in Jesu Beschneidung auf ihrer Zunge die Vorhaut Jesu spürte und diese immer und immer wieder herunterschluckte, was ihr höchste Wonnen verschaffte.94 Dazu passt, dass die mystischen Ekstasen regelmäßig von besonderen körperlichen Manifestationen begleitet werden, die man als „paramystische Phänomene“ bezeichnet. Besonders häufig 93 94

McGinn, Die Mystik im Abendland, III 285f. Ebd., III 330.

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ist der sogenannte „Jubilus“, das als Vorwegnahme des himmlischen Lobgesangs verstandene unwillkürliche Aufschreien vor Freude. Doch auch von Tränenausbrüchen oder Blutungen ist die Rede, ja sogar von Levitationen – dem Schweben über dem Boden – und Stigmatisierungen, also dem äußerlichen, manchmal aber auch nur innerlichen, gleichwohl aber schmerzhaft fühlbaren Empfang der Kreuzigungswunden Christi.

3. Beatrijs von Nazareth und Hadewijch von Antwerpen Die ersten Mystikerinnen, von denen wir eigene Aufzeichnungen besitzen, sind Beatrijs von Nazareth und Hadewijch von Antwerpen. Sie sind zugleich die ersten, die mystische Schriften in der niederländischen Volkssprache verfasst haben. Beatrijs95 (1200–1268) war keine Begine, sondern Zisterzienserin; nach Aufenthalten in anderen Klöstern wurde sie 1236 in das neugegründete Kloster Nazareth bei Lier nahe Antwerpen versetzt, wo sie im Jahr darauf Priorin wurde. Dort entstand ihr Buch „Sieben Arten der Liebe“. Ganz im Sinne der Zisterziensermystik galt ihr Interesse der Wiederherstellung der verlorenen Gottebenbildlichkeit durch das Wirken der Liebe. Beatrijs will dazu anleiten, auf dem Weg innerer Verwandlung zum „Genießen der Liebe“ zu gelangen. Die von ihr beschriebenen „Arten der Liebe“ sind aber nicht als Stufen eines linearen Aufstiegs zu verstehen, sondern als verschiedene Aspekte. Bemerkenswert erscheinen vor allem die vierte und fünfte Art: Demnach schenkt die Liebe der Seele ei95

Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, II 137–157; McGinn, Die Mystik im Abendland, III 303–316.

3. Beatrijs von Nazareth und Hadewijch von Antwerpen

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nerseits höchste Seligkeit, Wonne und Süßigkeit, wenn sie in den Abgrund der göttlichen Liebe gezogen und selbst in Liebe verwandelt wird. Andererseits bereitet sie der Seele große Qual und Sehnsucht, ja sie verwundet das Herz. Mit dem „Abgrund“ und der „Liebeswunde“ bedient sich Beatrijs hier zweier für die abendländische Mystik wichtiger Bilder. Auch das für die niederländische Mystik bezeichnende Stichwort der „orewoet“ (etwa: Geistesraserei) als Ausdruck für die ungestüme, gewalttätige Kraft der Liebe findet sich hier bereits. Über das Leben Hadewijchs von Antwerpen96 (1. Hälfte 13. Jh.) ist fast nichts bekannt. Vielleicht stammte sie aus einer hochadeligen Familie, zeitweise war sie wohl Vorsteherin einer Beginengemeinschaft. Ihre Schriften wurden erst lange nach ihrem Tod bekannt. Hadewijch war eine kunstfertige und erfindungsreiche Dichterin, vertraut mit den poetischen und literarischen Konventionen der Zeit. Wir haben von ihr zwei Gedichtsammlungen, die „Strophischen Gedichte“ und die „Vermischten Gedichte“, außerdem Briefe und eine Aufzeichnung ihrer Visionen, das erste Buch dieser Art in der Volkssprache.97 Auch Hadewijchs Mystik ist Liebesmystik. „Liebe ist alles“, so schreibt sie in einem ihrer Briefe.98 Gleichwohl zeigt ihre Liebesmystik ein markantes eigenes Profil. In den „Strophischen Gedichten“ drückt sie ihre mystische Erfahrung in der Sprache der höfischen Minnedichtung ihrer Zeit aus. Daneben finden wir aber auch die uns schon von Beatrijs her bekannten Stichworte der „orewoet“ und des „Abgrunds“. In stärker lehrhafter Form hat Hadewijch ihre Liebes96

Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, II 158–232; McGinn, Die Mystik im Abendland, III 359–225. 97 Hadewijch, Werke; Hadewijch, Das Buch der Visionen. 98 Brief 25 (Hadewijch, Werke, 53).

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VI. Frauenmystik

mystik in den „Vermischten Gedichten“ entfaltet. Dort unterscheidet sie an einer Stelle „sieben Namen der Liebe“, die an die sieben „Arten“ bei Beatrijs erinnern, aber eigenständig konzipiert sind.99 Demnach kann die Liebe als Fessel, Licht, Kohle, Feuer, Tau, Lebensquelle und – als Hölle charakterisiert werden. Die Liebe als Hölle: Das ist die Erfahrung der unerbittlichen, gewaltsamen Liebe, die die Seele verschlingt und aufzehrt und sie in den Abgrund und die Finsternis stürzt. Eine ähnliche Pointe findet sich in der großen Abschlussvision von Hadewijchs Visionenbuch.100 Hier wird Hadewijch in einer drei Tage und drei Nächte andauernden Ekstase in den Himmel der Seraphim versetzt, wo sie Gottes Angesicht schauen darf – etwas, was Mose versagt blieb (Ex 33,20) und was der älteren Mystik als etwas in diesem Leben schlechthin Unmögliches und erst der himmlischen Vollendung Vorbehaltenes galt. Dabei begegnen ihr drei Arten von Seelen auf dem Weg zur Vervollkommnung: jene, die in der Demut zunichte geworden sind und alles Eigene abgelegt haben, jene, die in der Freiheit der Liebe auch die Demut noch hinter sich gelassen und Erkenntnis erlangt haben, und schließlich jene, die zum „Berühren“ und zum „Genuss Gottes“ in der Vereinigung mit dem Geliebten gelangt sind. Diese vollkommenen Seelen besitzen alle sieben Gaben des Heiligen Geistes – und darüber hinaus als achte Gabe das „Nichttrauen“ (ontrouwe). Indem sie sich in immerwährendem Verlangen verzehren, aber nicht an die Liebe ihres Geliebten glauben, verzichten sie nicht nur auf alle gegenwärtigen Tröstungen der Liebe, sondern lassen auch die Hoffnung auf künftigen Trost fahren. Sie geben die Liebe um der Liebe willen preis 99 100

McGinn, Die Mystik im Abendland, III 356–368. Vision 14 (Hadewijch, Werke, 102–108).

4. Mechthild von Magdeburg

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und erreichen so erst eigentlich die Tiefe der reifen Liebe, die zur Vereinigung mit Gott führt. Auch Hadewijch ist diesen Weg gegangen: Sie erfährt den unaussprechlichen Genuss der Vereinigung mit Gott, muss aber um ihrer Mitschwestern willen in ihr irdisches Dasein zurückkehren. Der ekstatische Liebesgenuss ist nicht das höchste Ziel dieses Lebens; vielmehr hat sich die „gerechte Liebe“, die außer Gott nichts Eigenes mehr hat, in einem Leben der Tugenden und guten Werke zu bewähren.

4. Mechthild von Magdeburg In verschiedener Hinsicht steht die große deutschsprachige Mystikerin Mechthild von Magdeburg101 (ca. 1207–1282) Hadewijch nahe. Über ihr Leben ist nur bekannt, was aus ihrem Buch hervorgeht. Ihre erste mystische Erfahrung – sie selbst spricht von einem „Gruß“ des Heiligen Geistes – machte sie mit 12 Jahren. Seit etwa 1230 lebte sie als Begine in Magdeburg. Schwere Anfechtungen und Krankheit bestimmten ihr Leben. Ab etwa 1250 begann Mechthild auf Anregung ihres Beichtvaters mit der Niederschrift ihres Buches, dem sie den Titel „Das fließende Licht der Gottheit“ gab. Um 1270 zog sie sich in das Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben zurück, wo sie ihre letzten Lebensjahre verbrachte. Mechthilds „Fließendes Licht der Gottheit“102 entstand über einen Zeitraum von rund dreißig Jahren hinweg. Das mittelniederdeutsche Original ist nicht erhalten, dafür besitzen wir eine lateinische Übersetzung – als erste volkssprachliche mystische Schrift 101 Keul, Verschwiegene Gottesrede; Keul, Mechthild von Magdeburg; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, 245–295; McGinn, Die Mystik im Abendland, III 395–430. 102 Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit.

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VI. Frauenmystik

wurde das Buch bald nach ihrem Tod von den Dominikanern in Halle ins Lateinische übertragen – und eine alemannische Übertragung, die ein Jahrhundert später in Basel im Kreis der sogenannten Gottesfreunde entstand. Eine weite Verbreitung scheint das Buch nicht gefunden zu haben; es war lange vergessen, bis es 1861 wiederentdeckt wurde. Das „Fließende Licht“ enthält Texte unterschiedlicher literarischer Gattungen. Darunter sind auch Visionsschilderungen, obwohl diese bei Mechthild eine deutlich geringere Rolle spielen als bei anderen Mystikerinnen. Mit Vorliebe hat sie ihre eigenen mystischen Erfahrungen vielmehr in Dialogen zwischen der Seele und Gott, Christus und anderen Gesprächspartnern formuliert – eine Form, die gut die Unmittelbarkeit und Vertrautheit des Umgangs zwischen der Seele und ihrem Bräutigam zum Ausdruck bringt. Als bedeutendste mystische Dichterin ihrer Zeit neben Hadewijch hat sie das Potential poetischer Sprache, mit sprachlichen Mitteln die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten, in vielfältiger Weise fruchtbar gemacht. Dabei erhebt sie für ihr Buch den Anspruch, nicht ihr eigenes, sondern unmittelbar Gottes Werk zu sein. Ihre Inferiorität als Frau und als Mensch ohne formale Bildung habe sie besonders dazu prädestiniert, Gottes Offenbarungen zu empfangen. Bereits der von Mechthild selbst stammende Titel verrät, dass ihre Mystik spekulativer angelegt ist als etwa diejenige Hadewijchs. Das „Fließen“ ist eine zentrale Metapher, mit der sie das Wesen Gottes beschreibt. Gott „fließt“, ist in unablässiger Bewegung und Tätigkeit – bereits in sich selber, in der dynamisch zu denkenden Dreieinigkeit, aber er strömt auch nach außen aus sich heraus in die Schöpfung. Auch die menschliche Seele ist aus Gott herausgeströmt und dazu bestimmt, an ihren Ursprungsort zurückzukehren. Unschwer erkennt man hier einen Reflex neuplatonischer Vorstellungen.

4. Mechthild von Magdeburg

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Vor allem aber ist Mechthilds Mystik eine Liebesmystik. Sie steht in der Tradition der zisterziensischviktorinischen Mystik des 12. Jahrhunderts wie der Frauenmystik ihrer eigenen Zeit, wenn sie das Verhältnis zwischen der Seele und Gott dem Liebesverhältnis zwischen Braut und Bräutigam vergleicht. Doch Mechthild verwendet nicht die Bilderwelt des Hohenliedes, sondern schöpft aus der Sprache weltlicher Liebe, wobei sie weniger als Hadewijch auf literarische Vorbilder höfischer Minnedichtung zurückgreift, sondern in schöpferischer Freiheit selbst formuliert. Die vielleicht eindrucksvollste erotisch-metaphorische Verdichtung von Mechthilds mystischer Erfahrung findet sich im 44. Kapitel des ersten Buches des „Fließenden Lichts“. In der Form eines regelrechten Liebesdramas beschreibt die Autorin hier den Weg von der Sehnsucht der Seele nach ihrem Bräutigam über ihre Bekleidung mit den Tugenden und den gemeinsamen Tanz bis hin zur Vereinigung mit dem Geliebten im „verborgenen Gemach der unschuldigen Gottheit“: „Da sagt unser Herr: ‚Bleibt stehen, edle Seele!‘ ‚Was gebietest du, Herr?‘ ‚Ihr sollt Euch ausziehen!‘ ‚Herr, was wird dann mit mir geschehen?‘ ‚Edle Seele, Ihr seid meiner Natur so innig verbunden (so sere genatúrt in mich), daß gar nichts zwischen Euch und mir sein darf …‘ ‚Herr, nun bin ich eine nackte Seele und du in dir selbst ein Gott in großer Herrlichkeit. Unser beider Gemeinschaft ist das ewige Leben ohne Tod.‘ Darauf tritt da eine selige Stille ein, wie es beide wollen. Er schenkt sich ihr, und sie schenkt sich ihm. Was ihr jetzt geschieht, das weiß sie – und dies ist mein Trost.“103 103

Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, 65.

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VI. Frauenmystik

Mechthilds Buch ist „vielleicht die kühnste erotische Dichtung, die wir aus dem Mittelalter besitzen“.104 Allerdings scheint die Direktheit von Mechthilds erotischer Bildsprache ihre Zeitgenossen weniger frappiert zu haben als die neuzeitlichen Leser, die hier religiöse Taktlosigkeit (Albrecht Ritschl) oder eine misslungene Sublimation der Triebe (Simone de Beauvoir) diagnostizieren zu müssen meinten.105 Kühn ist aber nicht nur die erotische Metaphorik, sondern auch das Verständnis der Einung, die anscheinend auf eine unterschiedslose Identität im Sinne einer Wesensmystik hinausläuft; denn so wie die menschliche Seele einst aus Gott ausgeflossen ist, so kehrt sie in eine wesenhafte Einheit mit ihm zurück. Jedenfalls kann man etwa die Feststellung des Bräutigams, die Seele sei in ihn „genatúrt“ – eine begriffliche Neubildung Mechthilds – in diesem Sinne verstehen.106 Allerdings ist für Mechthild wie schon für Hadewijch die Wonne der Vereinigung mit dem himmlischen Bräutigam nicht die höchste und letzte Stufe der Gottesliebe. So, wie die Geliebte, die zur Braut geworden ist, schließlich zur Hausfrau und Mutter werden muss, die in der Sorge um ihre Familie den Genuss der bräutlichen Vereinigung preisgibt, so muss die minnende Seele die Freuden der Ekstase preisgeben, ihr eigenes Glück hintanstellen und freiwillig die Gottesferne, die „Verworfenheit“ und „Entfremdung von Gott“ auf sich nehmen. Im Herabsinken von den Höhen der Einung mit dem Geliebten in die tiefsten Tiefen der Hölle vollzieht die „sinkende Demut“ das Herabfließen Gottes, seine Selbstentäußerung, den Weg Christi in Niedrigkeit und Leiden nach. So erst gewinnt sie hier, in der Gottesferne, in paradoxer 104 105 106

Mohr, Darbietungsformen der Mystik, 393. Vgl. Langer, Christliche Mystik im Mittelalter, 251. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, II 267f.

5. Die Mystikerinnen von Helfta

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Weise die eigentliche Gottesnähe und die vollkommene Gottesliebe: „Willst du Liebe gewinnen, dann mußt du Liebe aufgeben“.107

5. Die Mystikerinnen von Helfta Als Mechthild von Magdeburg um 1270 im siebten Lebensjahrzehnt in das Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben eintrat, traf sie dort auf zwei jüngere Mitschwestern, die ebenfalls als Verfasserinnen mystischer Schriften berühmt werden sollten: Mechthild von Hackeborn (1240–1298), die Leiterin der Klosterschule, und ihre Schülerin und Vertraute Gertrud von Helfta (1256–1301/02), die später auch Gertrud die Große genannt wurde.108 Leider schweigen die Quellen darüber, wie sich das Verhältnis der drei mystisch begabten Frauen zueinander gestaltete und ob und welchen Einfluss Mechthild von Magdeburg auf ihre Mitschwestern ausübte. Fest steht, dass die beiden Mystikerinnen von Helfta eine deutlich anders geprägte Spiritualität vertraten. Ein Indiz dafür ist allein schon die Tatsache, dass sie ihre Schriften auf Latein verfassten. Mechthild von Hackeborn hatte schon längere Zeit visionäre Erfahrungen gehabt, ohne jemandem davon zu erzählen, als sie um 1290 im 50. Lebensjahr eine geistliche Krise erlebte, die sich im Ausbleiben der göttlichen Gnadenerweise und in unerträglichen Kopfschmerzen äußerte, die sie ans Bett fesselten. Nach sieben Tagen setzten die mystischen Visionen wieder ein, intensiver als zuvor, und mit einer festen Gewissheit der eigenen Erwählung und Erlösung verbunden. 107 108

Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit, 121. Zu den Mystikerinnen von Helfta vgl. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, II 296–337; McGinn, Die Mystik im Abendland, III 467–491.

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VI. Frauenmystik

Es war diese Lebenskrise, die Mechthild veranlasste, sich Gertrud und einer weiteren, uns namentlich nicht bekannten Mitschwester anzuvertrauen und von ihren visionären Erfahrungen zu berichten. Ohne Mechthilds Wissen zeichneten diese ihre Berichte auf und stellten sie zu einem lateinischen Visionenbuch, dem „Buch der besonderen Gnade“ („Liber specialis gratiae“)109 zusammen. Mechthild hieß das Werk erst gut, nachdem sie in besonderen Visionen von Gott darin bestärkt worden war. Es wurde seit dem 15. Jahrhundert auch in die Volkssprachen übersetzt und sollte ein Bestseller der mystischen Literatur werden. Gertrud von Helfta hatte seit einer Christusvision 1281 regelmäßig visionäre Erfahrungen gehabt und im Winter 1282/32 eine „innerliche“, d.h. für sie spürbare, aber nicht äußerlich sichtbare Stigmatisierung erlebt. Zeugnisse ihrer mystischen Frömmigkeit sind die beiden unter ihrem Namen überlieferten Werke: „Der Gesandte der göttlichen Gnade“ („Legatus divinae gratiae“)110 und die „Geistlichen Übungen“ („Exercitia spiritualia“). Eine präzise Datierung ist nicht möglich. Dabei ist vom „Legatus“ nur das zweite Buch von Gertrud selbst verfasst, die übrigen Teile gehen auf dieselbe unbekannte Mitschwester zurück, die auch an der Zusammenstellung von Mechthilds Visionenbuch beteiligt war. Die moderne Forschung hat die jahrhundertelang vernachlässigten Unterschiede zwischen den beiden Mystikerinnen von Helfta herausgearbeitet. Dennoch haben beide auch viel gemeinsam, so etwa die auf Visionen gründende Gewissheit der eigenen göttlichen Erwählung und Erlösung. Überhaupt spielen Visionen bei ihnen eine bedeutende Rolle. Allerdings stehen diese häufig im Zusammenhang mit dem litur109 Auswahl: Mechthild von Hackeborn, Das Buch vom strömenden Lob. 110 Gertrud die Große, Gesandter der göttlichen Liebe.

5. Die Mystikerinnen von Helfta

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gischen Leben der Klostergemeinschaft, besonders mit dem Empfang der Eucharistie, und sie sind nicht selten auch inhaltlich auf die Gemeinschaft als ganze bezogen. Bezeichnend erscheinen in dieser Hinsicht Gertruds „Geistliche Übungen“, die zur systematischen Meditation über sieben Stationen des Ordenslebens von der Taufe über die Profess bis zum Stundengebet anleiten. Insgesamt ist der Ton nüchterner als in der Beginenmystik, außerordentliche asketische Leistungen spielen ebenso wenig eine Rolle wie ekstatische Phänomene. Von ihrem Profil her ist die Mystik von Helfta eine Braut- und Passionsmystik. Mechthild und Gertrud bedienen sich der Liebessprache des Hohenliedes, vermeiden aber die uns von den Beginen bekannten erotischen Übersteigerungen; affektiver Überschwang nach Art einer „Liebesraserei“ ist den Nonnen von Helfta fremd. Die unio mystica wird als Vereinigung der Herzen von Braut und Bräutigam gedacht. In diesem Zusammenhang hat vor allem Mechthild von Hackeborn ein gesteigertes Interesse am Herzen Jesu als Symbol der göttlichen Liebe entwickelt. In ihrem Visionenbuch ist es ein zentrales Thema, das in immer neuen Bildern eindrucksvoll entfaltet wird. Die Erfahrung, dass Gott ihr sein Herz schenkt, stand demnach bereits wie eine Initiation am Beginn ihres geistlichen Lebens, und auf dem Sterbebett hätten sie und der göttliche Geliebte einander gegenseitig ihre Herzen aufgetan und vereinigt. Mechthild beschreibt das Herz Jesu als unerschöpfliche Quelle geistlicher Nahrung und als Tür zu Gott; sie sieht in ihm eine Trinkschale, eine Quelle, eine Lampe, ein Haus, eine Küche. Die Verbindung der Seele zum liebenden Herzen Jesu erscheint ihr bildlich in Gestalt von Lichtstrahlen, Röhren oder Schnüren. Die mittelalterliche Herz-Jesu-Frömmigkeit hat durch Mechthild entscheidende Anregungen erfah-

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VI. Frauenmystik

ren. Auch Gertrud wurde von ihr beeinflusst. Etwa 1289 erlebte sie auf Grund der Fürbitte Mechthilds in einer Vision, wie aus der Seitenwunde des in einem Buch abgebildeten gekreuzigten Christus ein Lichtstrahl in Form eines Pfeiles hervorbrach und wie das Herz Christi ihr Herz durchbohrte. Seitdem stand bei ihr nicht mehr so sehr das Herz Jesu als vielmehr seine stärker passionsmystisch akzentuierte Seitenwunde im Zentrum ihres visionären Erlebens. 6. Marguerite Porete und die Brüder und Schwestern des freien Geistes Zu den großen Gestalten der Frauenmystik zählt auch Marguerite Porete. Ihre mystische Lehre setzt allerdings deutlich andere Akzente – Akzente, die sie in Konflikt mit den kirchlichen Autoritäten und auf den Scheiterhaufen brachten. Dabei handelte es sich nicht um die einsamen Einfälle einer kreativen Einzelgängerin, sondern um Gedanken, die damals gewissermaßen in der Luft lagen. Marguerite kann als Exponentin einer mystischen Richtung gelten, die unter dem Namen „Brüder und Schwestern des freien Geistes“ bekannt war.111 Deren Anhänger verstanden die mystische Einung des „Vollkommenen“ mit Gott als eine effektive Vergöttlichung unter Auslöschung der menschlichen Individualität. Der vollkommene Mystiker werde dadurch sündlos und in den Zustand paradiesischer Unschuld zurückversetzt. Er bedürfe weder der kirchlichen Heilsvermittlung noch müsse er gute Werke tun, und er sei den Geboten von Bibel, Kirche und Moral nicht mehr unterworfen. Die Bewegung des freien Geistes trat vom späteren 13. bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts in Nordwest- und Mittel111 Lerner, The Heresy of the Free Spirit; Patschovsky, Freiheit der Ketzer.

6. Marguerite Porete und die Brüder und Schwestern

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europa auf, ist historisch aber nur schwer fassbar. 1317 wurde sie päpstlich verurteilt und seitdem systematisch verfolgt. In der Geschichte der Mystik bezeichnet die Verurteilung der Bewegung des freien Geistes eine Zäsur: denn von nun an gab es neben der akzeptierten Tradition mystischer Frömmigkeit auch eine offiziell lehramtlich verworfene Spielart der Mystik. Marguerite (Margareta) Porete112 (ca. 1250/60– 1310) stammte vermutlich aus Valenciennes im Nordosten Frankreichs. Wahrscheinlich gehörte ihre Familie zur städtischen Oberschicht, sie selbst verfügte über eine ausgezeichnete Bildung und profunde theologische Kenntnisse. Anscheinend lebte sie als selbstständige Begine ohne Anschluss an eine Gemeinschaft. In den 1290er Jahren schrieb sie in altfranzösischer Sprache die erste Fassung ihres Buchs „Der Spiegel der einfachen Seelen“ („Le miroir des simples âmes“)113 – ein Dokument kühner Wesensmystik, das geeignet war, die kirchlichen Autoritäten zu alarmieren, zumal Marguerite zwar behauptete, ihr Buch stamme von Gott, sich dafür aber nicht wie die meisten anderen Mystikerinnen auf besondere göttliche Offenbarungen in Gestalt von Visionen berief. Der Bischof von Cambrai ließ den „Miroir“ als häretisches Buch öffentlich verbrennen. Davon unbeeindruckt, verbreitete Marguerite eine überarbeitete Fassung und ließ sich von mehreren Theologen seine Rechtgläubigkeit bescheinigen. Daraufhin wurde sie 1308 verhaftet und in Paris ein Inquisitionsprozess gegen sie eröffnet. Eine Theologenkommission befand 15 ausgewählte Sätze aus Marguerites Buch für häre-

112 Leicht, Marguerite Porete; Field/Lerner/Piron, Marguerite Porete; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, II 338–371; McGinn, Die Mystik im Abendland, III 431–465. 113 Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen (Gnädinger); Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen (Kern).

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VI. Frauenmystik

tisch. Da sie einen Widerruf verweigerte, wurde sie am 1. Juni 1310 in Paris als Ketzerin verbrannt. Marguerites Buch nimmt eine Sonderstellung in der Frauenmystik ein. Es handelt sich nicht so sehr um die Aufzeichnung persönlicher mystischer Erfahrung – die sonst so häufigen Visionsberichte fehlen völlig – als vielmehr um einen mystagogischen Text, ein Lehr- und Anleitungsbuch für ein breite Leserschaft. Charakteristisch ist die fast durchgehend verwendete Dialogform. Disposition und Gedankenführung sind nicht stringent. Tatsächlich handelt es sich um eine Anleitung, die ihre Leser dahin bringen soll, dass sie keine Anleitung benötigen. In gewissem Sinne kann man sagen, dass der „Spiegel“ ein auf Implosion angelegter Text sei.114 „Es gehört zur Eigenart der mystischen Therapie des ‚Spiegels der einfachen Seelen‘, starke Dosen der Verwirrung und des Schwindelgefühls zu verabreichen“.115 Die uns bekannten mystischen Hauptthemen spielen hier kaum eine Rolle. Die Topoi der Brautmystik sind vorhanden, stehen aber nicht im Zentrum, die Passionsmystik mit ihrer Versenkung in das Leiden Christi kommt nicht vor. Stattdessen geht es um das Zunichtewerden der Seele als Weg zur Vereinigung mit Gott. Dahinter steht die Grundüberzeugung von der absoluten Nichterkennbarkeit Gottes: Nur indem die Seele zunichte wird, kann sie Gott erreichen, der in seiner Unerkennbarkeit und Unsagbarkeit Nichts und Alles zugleich ist. Das gibt Marguerites Mystik einen starken apophatischen Zug, der sich sprachlich in antithetischen Zusammenstellungen scheinbarer Gegensätze und paradoxalen Formulierungen äußert. Die berühmteste dieser Formeln ist der Name, den sie, angelehnt an eine Episode aus dem damals sehr be114 115

McGinn, Die Mystik im Abendland, III 442f. Ebd., 439.

6. Marguerite Porete und die Brüder und Schwestern

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liebten Alexanderroman, Gott beilegt: der Fern-Nahe, der „Loingprés“. Im „Spiegel der einfachen Seelen“ stellt Marguerite verschiedene Stufenmodelle für den Weg zur unio mystica vor. Am wichtigsten ist der siebenstufige Weg, der im ursprünglich vorletzten Kapitel 118 entfaltet wird. Auf der ersten der sieben Stufen – Marguerite spricht von „Seinsweisen“ oder „Zuständen“ – stirbt die Seele der Sünde ab und hält die (für alle Christen verbindlichen) Gebote Gottes, auf der zweiten stirbt sie der Natur ab und beachtet zusätzlich die sogenannten evangelischen Räte (Armut, Keuschheit und Gehorsam). Auf der dritten Stufe ist ihr einziges Bestreben, Werke der Liebe zu vollbringen. Auf der vierten Stufe gibt sie die äußeren Werke auf und erreicht dadurch die Höhe der Kontemplation. Doch das eigentliche Ziel des Aufstiegs, der „Friede der Liebe im vernichteten Leben“, wird erst auf den drei folgenden Stufen erreicht. Auf der fünften Stufe beginnt das Zunichtewerden der Seele: Sie erkennt, dass Gott das Sein selbst, sie hingegen in allem ihrem Wollen Nichts – und das heißt: unabwendbar zum Bösen geneigt – ist. Eine solche Seele stürzt sich aus der Liebe ins Nichts; sie gibt ihren eigenen Willen preis und will nur noch, was Gott will. Dadurch wird sie Seele frei und wird selbst in die Natur der Liebe verwandelt. Das ist die sechste Stufe, die höchste, die in diesem Leben erreicht werden kann; die siebte Stufe bezeichnet schon die ewige Seligkeit. Die ekstatische Vereinigungserfahrung oder Entrückung der sechsten Stufe, wie Marguerite sie beschreibt, kann immer wieder, aber immer nur für kurze Zeit erlangt werden. Sie vollzieht sich, einem Blitz vergleichbar, in einem plötzlichen Öffnen und Wiederzuschließen, in dem Gott die vernichtete Seele zu sich emporreißt. In der Ekstase sieht die Seele weder sich selbst – wegen ihrer Demut – noch Gott – wegen seiner Unerkennbarkeit.

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VI. Frauenmystik

Stattdessen sieht hier umgekehrt Gott sich selbst in der Seele, die zu seinem Spiegel geworden ist. Was in der Einung geschieht, ist letztlich nicht oder nur im apophatischen Paradox aussagbar: „Diese Vereinigung versetzt die Seele in ein Sein ohne Sein, welches das Sein selbst ist.“116 Die Seele ist hier in das einfache, ursprüngliche Sein in der Einheit mit Gott zurückgekehrt, in jenen Zustand vor der Schöpfung, in dem Gott alles in allem war. Marguerites Mystik ist insofern als Wesensmystik zu charakterisieren. Schon dies musste sie beinahe zwangsläufig in Konflikt mit den kirchlichen Autoritäten bringen. Dazu kam ein Weiteres. Nach Marguerite gibt die „vernichtete und freie Seele“ die guten Werke preis, Sakramente, Gebet und Fasten haben für sie keine Bedeutung mehr. Ja, sie ist frei auch von den Tugenden und gibt ohne Beschwerung des Gewissens der Natur alles, was diese verlangt. Damit schien sie einer gefährlichen Amoralität das Wort zu reden. Tatsächlich lag diese Konsequenz kaum in ihrer Intention; denn die zunichte gewordene Seele will ja nur noch, was Gott will. Die kirchenamtliche Verurteilung hat der Verbreitung und Beliebtheit des „Spiegels der einfachen Seelen“ keinen Abbruch getan. Vor allem in Italien wurde er viel gelesen. Auch Meister Eckhart, der das Buch bei seiner zweiten Pariser Lehrtätigkeit als Magister kennengelernt haben könnte, dürfte davon beeinflusst worden sein.

116 Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen (Kern), 173. Vgl. McGinn, Die Mystik im Abendland, III 459.

VII. Die Mystik der Franziskaner

Neben den verschiedenen Gemeinschaften frommer Frauen waren es die sogenannten Bettelorden, die seit dem 13. Jahrhundert zum Nährboden der neuen abendländischen Mystik wurden. Die Bettelmönche oder Mendikanten waren den im Gefolge der Gregorianischen Reform von der religiösen Armutsbewegung verbreiteten Idealen des apostolischen Lebens (vita apostolica) und der Nachfolge Christi in Armut, Demut und Wanderpredigt verpflichtet. Die gleichen Ideale hatten auch die großen Ketzerbewegungen des Hochmittelalters inspiriert, doch die Mendikanten gaben ihnen eine mit der kirchlichen Autorität zu vereinbarende Gestalt. Die vier klassischen Bettelorden waren die Orden der Franziskaner und der Dominikaner, der Orden der Augustiner-Eremiten und der bereits um 1150 im Heiligen Land gegründete und im 13. Jahrhundert zum Bettelorden umgestaltete Karmeliten-Orden. Vom älteren Mönchtum unterschieden sie sich durch das konsequente Armutsideal, das nicht nur den einzelnen Ordensleuten, sondern auch der Gemeinschaft als ganzer Besitzlosigkeit auferlegte. Vor allem aber suchten die Bettelorden nicht die Weltabgeschiedenheit als Mittel zur eigenen geistlichen Vervollkommnung, sondern sahen sich in die Welt gesandt. Ihre Klöster errichteten sie in den Städten, in Predigt und Seelsorge widmeten sie sich dem Dienst an den Menschen. Auch in der Geschichte der Mystik spielten Angehörige der Bettelorden eine bedeutende Rolle. Die karmelitische Mystik erlebte ihre Blütezeit im 16. Jahrhundert (s.u. Kap. X.1), als einen von der Mystik

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VII. Die Mystik der Franziskaner

berührten Vertreter der Augustinereremiten werden wir Martin Luther kennenlernen (s.u. Kap. XI.1). Im Mittelalter waren der Franziskaner-, vor allem aber der Dominikanerorden wichtige institutionelle Träger der Mystik. Franziskus von Assisi (1181/82–1226) war die wohl charismatischste Persönlichkeit der mittelalterlichen Christentumsgeschichte.117 Mit seiner besonderen Frömmigkeit sammelte er rasch Gleichgesinnte und Bewunderer um sich. Die kompromisslose Christusnachfolge des Franziskus und seiner Gefährten war nur mit Mühe mit den Notwendigkeiten einer institutionellen Verfestigung vereinbar, und die Umwandlung der Bewegung in einen verfassten Orden ging denn auch nicht ohne Schwierigkeiten und Konflikte vonstatten. Franziskus selbst hat nur wenige und kurze schriftliche Dokumente hinterlassen. Zeugnisse mystischer Frömmigkeit sind sie nicht. Doch die zeitgenössischen Biographien, hinter deren ausmalenden Schilderungen die historische Gestalt des Heiligen oft nur noch mit Mühe zu erkennen ist, schildern Franziskus sehr wohl als Mystiker. Dabei ist die Mystik des Franziskus als eine Passionsmystik, eine Mystik des Gleichförmigwerdens mit der Niedrigkeit, der Armut und dem Leiden Christi zu charakterisieren. Nichts anderes besagt die Erzählung von der Vermählung des Franziskus mit „Frau Armut“, die er sich zur Braut erwählt habe. Hier geht es nicht um Brautmystik im Sinne des Hohenliedes – das wird schon daran deutlich, dass nicht Christus, sondern Franziskus die Rolle des Bräutigams einnimmt –, sondern um die Nachfolge der Armut Christi. Die Gleichförmigkeit mit dem leiden117 Feld, Franziskus von Assisi; Le Goff, Franz von Assisi; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, II 377–398; McGinn, Die Mystik im Abendland, III 87–128.

VII. Die Mystik der Franziskaner

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den Christus findet ihre höchste und deutlichste Manifestation in der von den Biographen berichteten Stigmatisierung des Franziskus. Demnach hatte dieser sich im September 1224, zwei Jahre vor seinem Tod, zum Fasten und zur Meditation auf den Berg Alverna zurückgezogen. Dort erschien ihm in einer Vision die Gestalt eines gekreuzigten Seraphen, also eines sechsflügeligen Engels. Bei der meditativen Versenkung in das Geschaute zeigten sich an Franziskus‘ Händen und Füßen die Nägelmale, an seiner rechten Seite die Lanzenwunde Christi. Zu Lebzeiten suchte er die Stigmata geheim zu halten, erst nach seinem Tod verbreitete sich die Kunde davon. Die Stigmatisierung des Franziskus – wenn nicht die erste überhaupt, so doch die erste prominente, der bis in die Gegenwart viele weitere folgen sollten – ließ den Heiligen als den vollkommenen Nachfolger Christi, ja als einen von Gott mit einer besonderen heilsgeschichtlichen Funktion betrauten „zweiten Christus“ (alter Christus) erscheinen.118 Als der neunte Generalminister des Franziskanerordens, der auch als scholastischer Theologe berühmte Bonaventura von Bagnoregio (1221–1274), 1260/62 die als „Legenda maior“ bekannte ordensoffizielle Franziskusbiographie verfasste, deutete er darin die Vision und Stigmatisierung des Ordensgründers auf dem Alverna als ein mystisches Geschehen. Sie erscheint hier als Zielpunkt einer Reihe von sieben Visionen des gekreuzigten Christus, durch die Franziskus von der Kraft der brennenden Gottesliebe in das vollkommene Ebenbild Christi umgestaltet wird. Er ist so der Inbegriff des Kontemplativen und Vorbild für die Gläubigen. Mehr noch, er ist der Engel von Offb 7,2, der die Auserwählten der Endzeit mit dem Siegel 118 Vgl. dazu pointiert Feld, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, 256–277.

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VII. Die Mystik der Franziskaner

des lebendigen Gottes versiegelt. Wirklich hat die Person des Franziskus und ihre Verehrung als Weg zu Christus für die franziskanische Spiritualität eine entscheidende Funktion gewonnen. Die FranziskusVerehrung und die Betonung der Nachfolge der Armut und des Leidens Christi bestimmen gemeinsam das besondere Profil der franziskanischen Mystik. Während Franziskus selbst keine mystischen Schriften hinterlassen hat, war Bonaventura ein mystischer Autor von Rang, dem man den Ehrennamen eines „seraphischen Lehrers“ (doctor seraphicus) beilegte.119 Sein bekanntestes Werk, „Der Pilgerweg des Geistes in Gott hinein“ („Itinerarum mentis in Deum“), will er 1259 im Anschluss an eine Meditation auf dem Alverna am 33. Todestag – die Zahl entspricht den Lebensjahren Jesu – des Franziskus geschrieben haben. Angelehnt an das Bild des sechsflügeligen Seraphen entwickelt er hier ein von den Stufenschemata der zisterziensischen und viktorinischen Mystik inspiriertes Modell des Aufstiegs zu Gott in sechs „Erhebungen“ oder „Erleuchtungen“, die jeweils paarweise zusammengeordnet sind. Die ersten beiden Erhebungen führen zur Erkenntnis Gottes „außerhalb unserer selbst“ (extra nos), also in der materiellen, geschöpflichen Welt, die zeichenhaft auf ihren Schöpfer verweist. Die beiden folgenden erkennen Gott „in uns selbst“ (in nobis): in unseren natürlichen Anlagen als Menschen wie in der durch Christus gnadenhaft erneuerten Gottebenbildlichkeit; auf der vierten Stufe kommt es auch zur Wiederherstellung der durch die Sünde verdunkelten geistlichen Sinne. Die beiden höchsten Erhebungen führen in den Bereich der eigentlich mystischen Gotteserkenntnis „oberhalb unserer selbst“ (supra nos), die in der Betrachtung des We119

Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, II 406–445; McGinn, Die Mystik im Abendland, III 168–213.

VII. Die Mystik der Franziskaner

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sens Gottes und der Eigenschaften der trinitarischen Personen gewonnen wird. Dabei dient Bonaventura das Bild der einander zugewandten Cherubim über der Bundeslade als Symbol für die Einung von Gott und Mensch in Christus. Auf dieser Stufe erreicht der Geist das mystische Außersichsein (excessus mentalis et mysticus), mit dem er in der Schau alles und auch sich selbst übersteigt und den vom menschgewordenen Gottessohn ermöglichten ekstatischen Übertritt (transitus) in Gott vollzieht. Dabei handelt es sich um einen wesentlich affektiven Vorgang, der durch die Preisgabe des erkennenden Denkens erreicht wird. Weitere Aufstiegsschemata hat Bonaventura in seinem ebenfalls 1259 verfassten, im Mittelalter viel gelesenen Werk „Der dreifache Weg“ („De triplici via“) ausgearbeitet. Vor allem hat er hier der von Dionysius Areopagita beschriebenen Trias der hierarchischen Akte von Reinigung, Erleuchtung und Einung ihre klassische abendländische Gestalt eines Schemas von drei „Wegen“ gegeben, die er mit den drei Menschenklassen Gregors des Großen – den „Beginnenden“, „Fortschreitenden“ und „Vollkommenen“ – und mit drei „Übungen“ – der Meditation, dem Gebet und der Beschauung – verband. Wenn Bonaventura Franziskus als den Engel mit dem Siegel des lebendigen Gottes beschrieb, machte er sich damit ein Element der heilsgeschichtlichen Deutung der Franziskus-Gestalt zu eigen, die in den Kreisen der sogenannten Franziskaner-Spiritualen verbreitet war. Dabei handelte es sich um jene Fraktion der Gemeinschaft, die die zunehmende Institutionalisierung des Ordens und die Aufweichung der ursprünglichen Ideale des Franziskus ablehnte. Von der Ordensmehrheit, der sogenannten Kommunität, und den Päpsten bedrückt und blutig verfolgt, bildeten die Spiritualen bis weit ins 14. Jahrhundert hinein ein Element der Unruhe im Orden. Folgenreich wur-

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VII. Die Mystik der Franziskaner

de ihre Rezeption der Geschichtstheologie des aus Kalabrien stammenden ehemaligen Zisterzienserabtes Joachim von Fiore120 (ca. 1130/35–1202). Joachim hatte den Verlauf der Geschichte, entsprechend den drei trinitarischen Personen, in drei Zeitalter eingeteilt und unterschied das zurückliegende Zeitalter des Vaters von dem gegenwärtigen Zeitalter des Sohnes, auf das nach einer Zeit der verborgenen Vorbereitung ein Zeitalter des Heiligen Geistes folgen sollte – ein Zeitalter der Mönche, in dem an die Stelle des Buchstabens des Alten bzw. Neuen Testaments das geistliche Verstehen und die vollkommene Kontemplation treten sollten. In Anknüpfung an Berechnungen Joachims erwarteten die Spiritualen den Anbruch des Geistzeitalters für das Jahr 1260 und sahen in Franziskus den entscheidenden Wegbereiter und im Franziskanerorden den geistlichen Orden der Endzeit. Man kann diese besondere, gegenüber der üblichen Erwartung des nahe bevorstehenden Weltendes revolutionäre Geschichtsanschauung, die in einer durch Bonaventura entschärften Gestalt auch in die Kommunität hineingewirkt hat, ebenfalls als eine Form der Mystik beschreiben – einer Mystik, die die Schau und geistige Erkenntnis Gottes im Diesseits nicht nur für wenige ausgezeichnete Menschen in der Gegenwart vorsieht, sondern für alle Menschen in der endzeitlichen, aber immer noch innerweltlichen Zukunft. Bernard McGinn spricht in diesem Zusammenhang von einer „kollektiven apokalyptischen Mystik“.121 Es ist hier nicht der Raum, auf die konkreten mystischen Lehren der wichtigsten Franziskaner-Spiritualen wie Petrus Johannis Olivi (1248–1298) und Ubertino von Casale (1259 – nach 1328), die sich 120

Reeves, Joachim of Fiore and the Prophetic Future; Reeves, The Influence of Prophecy. 121 McGinn, Die Mystik im Abendland, III 184f.

VII. Die Mystik der Franziskaner

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keineswegs in joachitisch-chiliastischer Mystik erschöpften, einzugehen. Erwähnt sei nur, dass aus dieser Richtung auch einer der begabtesten mystischen Dichter des Mittelalters neben Hadewijch und Mechthild von Magdeburg hervorgegangen ist: der ehemalige Jurist und „Gottesnarr“ Jacopone von Todi (ca. 1236–1306), der überschwängliche Lobgesänge (Laudi) in der umbrischen Volkssprache über die überwältigende Macht der göttlichen Liebe verfasst hat.122 Wie der Dominikanerorden, so wurde auch der Franziskanerorden mit seinem weiblichen Ordenszweig wie mit seinem nicht klösterlich lebenden sogenannten Dritten Orden ein wichtiger institutioneller Rückhalt für Teile der religiösen Frauenbewegung. Namentlich in Italien gab es im Umkreis des von Klara von Assisi gegründeten Klarissenordens und franziskanisch geprägter Büßergemeinschaften eine Reihe mystisch begabter Frauen. Als herausragendes Beispiel sei hier nur Angela von Foligno (1248–1309) genannt.123 Die Ehefrau und Mutter erlebte durch eine Traumerscheinung des Franziskus eine Bekehrung und wurde nach dem Tod ihrer Familienangehörigen Mitglied des Dritten Ordens. Im umbrischen Foligno sammelte sich um sie ein Kreis religiös interessierter Laien und Kleriker, zu dem auch Ubertino von Casale zählte. In dem bis ins 17. Jahrhundert hinein viel gelesenen „Buch der seligen Angela“, das ihr Beichtvater nach ihrem Diktat niederschrieb, schilderte sie ihren geistlichen Weg zum mystischen Einswerden mit Christus.124 Auffällig dabei ist vor allem die zentrale Rolle der Passion Christi. Die mysti122 Peck, The Fool of God; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, II 473–485; McGinn, Die Mystik im Abendland, III 237–246. 123 Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, II 510–523; Dinzelbacher, Christliche Mystik im Abendland, 245–252; McGinn, Die Mystik im Abendland, III 264–278. 124 Angela von Foligno, Das Memorial und die letzten Worte.

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VII. Die Mystik der Franziskaner

sche Einung, die Angela erfährt, ist nicht die geistliche Hochzeit, von der die Brautmystik spricht, sondern ein Einswerden mit dem Leiden Christi, sozusagen eine unio passionalis. Bezeichnend dafür erscheint eine Vision vom Karsamstag 1294, in der Angela sich in der Ekstase mit dem toten Christus im Grab liegend wahrnimmt. Sie küsst ihn auf die Brust und den Mund und legt ihr Gesicht an das seine, bis er sie an sich drückt.125

125

Ebd., 142f.

VIII. Die deutsche DominikanerMystik

Es erscheint bemerkenswert, dass es im Ganzen nicht der Franziskanerorden, sondern der Bettelorden der Dominikaner war, in dem es im ausgehenden Mittelalter zu einer besonderen Blüte der Mystik kam – jener Orden, der von der Gestalt seines Gründers wie von seiner religiösen Physiognomie her auf den ersten Blick weniger für affektive Liebesglut als für kühle intellektuelle Brillanz steht. Innerhalb der dominikanischen Ordensgemeinschaft blühte vor allem in Deutschland und in Italien in den verschiedenen Frauengemeinschaften ein reges mystisches Leben, das sich in den traditionellen Bahnen affektiver Erlebnismystik bewegte. Zugleich bildete es den Wurzelgrund, auf dem sich im 14. Jahrhundert in Deutschland eine neuartige Form spekulativer Mystik entwickeln konnte. Wir sehen im Folgenden von der dominikanischen Frauenmystik in Italien ab, deren Protagonistinnen mit Ausnahme von Katharina von Siena (s.u. Kap. IX.2) fast nur lokale Bekanntheit genießen, und konzentrieren uns auf den deutschen Sprachraum, der sowohl durch die Verbreitung und Intensität der weiblichen Dominikanermystik als auch durch die spekulative Mystik Meister Eckharts und seiner Schüler besondere Bedeutung erlangt hat.

1. Die Mystik der Dominikanerinnen Auch bei den Dominikanern gab es, wie erwähnt, einen weiblichen Ordenszweig, den sogenannten Zweiten Orden. Der Ordensgründer Dominikus selbst

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

hatte bereits 1206 in Prouille in Südfrankeich ein Frauenkloster gegründet. Später waren es nicht selten bereits bestehende Beginengemeinschaften, die sich dem Dominikanerorden anschlossen. Die Inkorporation solcher Frauenkonvente war nicht unumstritten, erlegte sie doch den männlichen Angehörigen des Ersten Ordens seelsorgerliche Verpflichtungen auf, die mit ihrer eigentlichen Aufgabe, der Predigt und gelehrten Bekämpfung der Häresie, nicht vereinbar schienen. Trotzdem konnte sich der Zweite Orden rasch etablieren. Besonders in Süddeutschland und der Schweiz entstanden zahlreiche Dominikanerinnenkonvente, darunter die Klöster Engelthal bei Nürnberg, Unterlinden in Colmar, Oetenbach in Zürich und Töss bei Winterthur. Im Jahre 1277 zählte man in der deutschen Ordensprovinz, der „Teutonia“, bereits 40 Frauenklöster, zu Beginn des 14. Jahrhunderts waren es 65 – gegenüber 76 Frauenkonventen in allen 17 anderen Ordensprovinzen zusammen. Namentlich in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts blühte hier eine mystisch geprägte Spiritualität, die nicht nur von einzelnen Personen, sondern von der Mehrheit der Schwestern, ja von ganzen Konventen gepflegt wurde.126 Unterrichtet sind wir darüber durch eigene Aufzeichnungen mystisch begabter Klosterfrauen, vor allem aber durch die sogenannten Schwesternbücher: Sammelbiographien der Schwestern jeweils eines Konvents. Diese wurden unter den Klöstern ausgetauscht und haben sicher dazu beigetragen, das mystische Frömmigkeitsleben weiter anzufachen. Thematisch bewegte sich die Mystik der Dominikanerinnen im Wesentlichen in den Bahnen der älteren Frauenmystik. Wir finden hier einerseits eine vom Hohenlied geprägte Brautmystik, andererseits eine stark ausgebildete Passionsmystik. Die unio mystica 126 McGinn, Die Mystik im Abendland, III 507–548; Dinzelbacher, Christliche Mystik im Abendland, 315–330.

1. Die Mystik der Dominikanerinnen

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konnte dementsprechend entweder als bräutliche Einung oder als unio compassionis, als Einung im Miterleiden, erlebt werden. Einen besonderen Akzent erhielt die Passionsmystik durch die bettelordenstypische Betonung des Armutsideals. Praktisch wirkte sich die große Bedeutung der Passionsmystik in der extrem gesteigerten Praxis der Askese und der Selbstkasteiung aus: neben Fasten, Wachen, Schweigen und körperlichen Übungen wie Kniebeugen berichten die Schwesternbücher von Selbstgeißelungen mit Peitschen, Dornen oder Ketten, Selbstverwundungen wie dem Einschneiden von Kreuzen in die Brust und der Einschnürung durch Bußgürtel. Ein neues Phänomen war die Verwendung von Kunstobjekten. Bilder, vor allem aber Skulpturen dienten als Gegenstand meditativer Betrachtung und als Objekte körperlich manifestierter Begegnung mit Christus. So wurden Figuren des Christuskindes, die eingekleidet und in Krippen gelegt werden konnten, von den Nonnen gewiegt oder an die Brust gelegt, Skulpturen des Gekreuzigten oder des Schmerzensmannes liebevoll umarmt und geküsst. In Visionen sahen die Mystikerinnen derartige Kunstwerke lebendig werden und hörten sie zu ihnen reden. Überhaupt spielten Visionen und Auditionen eine erhebliche Rolle. Ekstatische Verzückungen und Einungserfahrungen traten häufig auf, als Begleiterscheinungen verzeichnen die Schwesternbücher immer wieder den „Jubilus“, das unwillkürliche Aufjauchzen, aber auch Lichterscheinungen, Levitationen und Stigmatisierungen. Die bekanntesten Vertreterinnen der deutschen Dominikanerinnenmystik waren Christine Ebner und Margaretha Ebner. Trotz des gleichen Zunamens waren die beiden nicht miteinander verwandt. Die Nürnberger Patriziertochter Christine Ebner127 (1277–1356) 127

Ringler, Christine Ebner.

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

war seit 1289 Nonne, seit 1345 Priorin in Kloster Engelthal. Seit ihrem 14. Lebensjahr hatte sie Visionen und mystische Erlebnisse, die sie in autobiographischen Werken aufzeichnete; auch das Schwesternbuch von Engelthal mit dem Titel „Von der Gnaden Überlast“ ist ihr Werk. Mehrfach besuchte sie der Weltpriester Heinrich von Nördlingen (ca. 1310–1379), einer der großen Multiplikatoren mystischer Frömmigkeit. Mit dem bekannten Dominikanermystiker Johannes Tauler stand sie in Briefkontakt. Margaretha Ebner128 (ca. 1291–1351) aus Donauwörth war Nonne im Kloster Maria Medingen bei Dillingen. Seit einem Bekehrungserlebnis im Jahre 1311 hatte sie häufig Visionen. Infolge schwerer Krankheit jahrelang bettlägerig, wurde sie von Heinrich von Nördlingen geistlich betreut; sie sammelte seine Briefe, und er veranlasste sie, ihre Erfahrungen schriftlich aufzuzeichnen. Bemerkenswert erscheint die Rolle, die der körperlich-sinnliche Umgang mit Skulpturen des Jesuskindes und des Gekreuzigten für ihre Frömmigkeit spielte. Immer wieder erlebte sie ein mitunter mehrere Wochen andauerndes „gebundenes Schweigen“, während dessen sie unfähig war zu reden; dann wieder hatte sie Phasen, in denen sie zwanghaft fortlaufend den Namen Jesu rief oder stundenlang laut schrie.

2. Die spekulative Mystik Meister Eckharts Neben der affektiven Erlebnismystik der Dominikanerinnen hat die dominikanische Spiritualität noch eine sehr andere, spekulative Spielart von Mystik hervor128 Dinzelbacher, Christliche Mystik im Abendland, 324–329; McGinn, Die Mystik im Abendland, III, 534–543; Bürkle, Die Offenbarungen der Margareta Ebner.

2. Die spekulative Mystik Meister Eckharts

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gebracht. Der eigentliche Begründer und Hauptvertreter dieser spekulativen Mystik ist Meister Eckhart; bei seinen Schülern Heinrich Seuse und Johannes Tauler verbinden sich seine Grundgedanken schon wieder mit traditionellen Motiven affektiver Mystik. Gleichwohl werden alle drei gewöhnlich zu einer Gruppe zusammengefasst, die die ältere Forschung lyrisch das „dominikanische Dreigestirn“ zu nennen pflegte. Eckhart verkörpert in herausragender Weise das, was man früher „deutsche Mystik“ nannte. Der Begriff erscheint heute wegen seiner früheren ideologischen Aufladung problematisch. Geprägt wurde er 1831 von dem Hegel-Schüler Karl Rosenkranz (1805– 1879), der bei Eckhart den Beginn der Entwicklung des „deutschen Geistes“ und der diesem eigenen Spekulation erblickte.129 Später nahmen vor allem völkische und „deutschgläubige“ Kreise Meister Eckhart und Jakob Böhme als Exponenten einer angeblich besonderen deutschen Geistesart in Anspruch, und auch Alfred Rosenberg (1893–1946) wollte 1930 in „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ die deutsche Mystik und Meister Eckhart in den Dienst des Aufbaus einer „artgemäßen“ deutschen Religion auf der Grundlage des „arischen Blutes“ stellen130 – ein Unterfangen, das in Deutschland in der Nachkriegszeit lange jede Beschäftigung mit der Mystik kompromittierte. Wenn man heute von „deutscher Mystik“ spricht, so ist damit schlicht die volkssprachliche mystische Literatur in deutscher Sprache gemeint. Für die Mystik Eckharts, Seuses und Taulers im Besonderen hat sich der präzisere Terminus der „deutschen Domini129 130

Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Mystik, 1, 251. Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus, 197– 270. – Von Luthers Verhältnis zu den verschiedenen Spielarten der Mystik her hat 1937 der Kirchenhistoriker Erich Vogelsang seinen Begriff der „deutschen Mystik“ entwickelt (Vogelsang, Luther und die Mystik).

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

kanermystik“ oder – nach französischem Vorbild – der „oberrheinischen Mystik“ eingebürgert. So verschieden die Erlebnismystik der Dominikanerinnen und die spekulative Mystik Meister Eckharts auch sind, so scheint zwischen beiden doch ein Zusammenhang zu bestehen. Denn Eckhart war wie viele seiner Ordensbrüder in die seelsorgerliche Betreuung der Frauenklöster, die cura monialium, eingebunden. Die neuere Forschung geht davon aus, dass seine mystische Lehre in Anknüpfung an und Abgrenzung von dieser Form von Frömmigkeit entstanden ist. Auch Seuse und Tauler waren als Seelsorger mit der Dominikanerinnen-Mystik konfrontiert und von ihr inspiriert. Eckharts äußerer Lebensweg ist bewegt und entspricht ebenso wenig wie der Bernhards von Clairvaux dem Klischee des weltflüchtigen Mystikers. Wir haben es vielmehr mit einem hochrangigen Ordensfunktionär und gelehrten Universitätstheologen zu tun; „Meister“ meint seinen akademischen Grad als Magister – wir würden heute sagen: Professor Eckhart131 (ca. 1260 – ca. 1328) wurde in Hochheim bei Gotha geboren und trat um 1275 ins Erfurter Dominikanerkloster ein. Seine theologische Bildung erhielt er wohl am Generalstudium des Ordens in Köln, vielleicht auch in Paris, wo er von 1293 bis 1294 als Lektor lehrte, um dann als Prior und Stellvertreter des Provinzials der Ordensprovinz Teutonia in seinen Erfurter Heimatkonvent zurückzukehren. 1302/03 versah Eckhart als Magister an der Pariser Universität einen der seinem Orden vorbehaltenen theologischen Lehrstühle, nach der abermaligen Rückkehr nach 131 Ruh, Meister Eckhart; McGinn, The Mystical Thought of Meister Eckhart; Flasch, Meister Eckhart, Philosoph des Christentums; Hackett, A Companion to Meister Eckhart; Cognet, Gottes Geburt, 11–90; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, III 216–353; McGinn, Die Mystik im Abendland, IV 167–340.

2. Die spekulative Mystik Meister Eckharts

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Erfurt wurde er Provinzial der neu geschaffenen Ordensprovinz „Saxonia“. Von 1311 bis 1313 bekleidete Eckhart dann zum zweiten Mal das Pariser Magisterium, was als besondere Auszeichnung gelten kann. Möglicherweise lernte er damals Marguerite Poretes „Spiegel der einfachen Seelen“ kennen, die im Jahr zuvor hingerichtet worden war. Die Jahre 1314 bis 1323 verbrachte Eckhart anscheinend in Straßburg, wo er als Generalvikar des Ordensgenerals für die Seelsorge in den Frauenklöstern der Provinz Teutonia zuständig gewesen sein dürfte. Aus dieser Zeit stammt der größere Teil der deutschsprachigen Predigten Eckharts, die er für die ihm anvertrauten Ordensfrauen hielt. Möglicherweise hat es schon hier erste Beanstandungen seiner Lehre gegeben; jedenfalls wurde Eckhart 1323 oder 1324 nach Köln versetzt, wo er als Prediger und Lektor am Generalstudium tätig war. 1326 wurde er hier von Mitbrüdern seines eigenen Ordens wegen Häresieverdachts beim Kölner Erzbischof angezeigt. Dieser leitete einen förmlichen Inquisitionsprozess ein – der einzige, der im Mittelalter gegen einen Theologen seines Ranges geführt wurde. Der Verlauf des Prozesses war, auch durch Eckharts Ungeschicklichkeit, ernüchternd. Schließlich wusste er sich keinen anderen Rat mehr, als an den Papst zu appellieren. Bald darauf muss er nach Avignon aufgebrochen sein, wo damals die Kurie ihren Sitz hatte. Vermutlich 1328 ist Eckhart dort gestorben, ohne dass wir etwas über die Umstände seines Todes wüssten. Angeblich soll er die ihm vorgeworfenen Irrtümer widerrufen haben. Trotzdem erging am 27. März 1329 mit der päpstlichen Bulle „In agro dominico“ noch ein förmliches Urteil, mit dem 28 Sätze aus Eckharts Traktaten und Predigten teils als häretisch, teils als häresieverdächtig verdammt wurden. Es ist nicht leicht, Eckharts Denken gerecht zu werden. Einerseits war er ein scholastischer Theologe

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

von Rang, der in lateinischer Sprache philosophischtheologische Probleme bearbeitete und eine neuartige Gesamtdarstellung des biblisch-exegetischen und dogmatischen Wissens seiner Zeit in Angriff nahm. Andererseits hinterließ er als Ordensoberer und Seelsorger in deutscher Sprache drei Traktate – „Die Reden der Unterweisung“, „Das Buch der göttlichen Tröstung“ und „Vom edlen Menschen“ – und rund 150 Predigten, die seine mystische Lebenslehre enthalten.132 Die Frage, wie beides zueinanderpasst, hat die Forschung lange beschäftigt. Heute besteht ein Konsens dahingehend, dass man den lateinisch schreibenden Gelehrten und den deutsch schreibenden Mystiker nicht gegeneinander ausspielen darf. Theologische Wissenschaft und Frömmigkeit, Scholastik und Mystik gehören bei Eckhart untrennbar zusammen. Er wollte nicht nur ein „Lesemeister“ – also ein Lektor, ein Theologieprofessor – sein, sondern ein „Lebemeister“ – ganz im Sinne des ihm zugeschriebenen Aphorismus: „Besser wäre ein Lebemeister als tausend Lesemeister“. Dass Eckhart sich für seine im engeren Sinne mystischen Schriften der Volkssprache bediente, war nicht bloßes Zugeständnis an seine Predigthörerinnen, sondern eine bewusste Entscheidung, die ihm Ausdrucksmöglichkeiten eröffnete, die das zur sterilen Gelehrtensprache gewordene Latein nicht bot. Dabei zeigte er sich als ein Sprachvirtuose von hohen Graden, der viele neue Begriffe in die deutsche Sprache eingeführt hat. Aber war Eckhart wirklich ein Mystiker? Neuerdings hat vor allem der Philosophiehistoriker Kurt Flasch diese Frage verneint: Eckhart sei eindeutig und ausschließlich als Philosoph zu verstehen.133 Nun ist es 132

Neuhochdeutsche Übertragung: Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate. 133 Flasch, Meister Eckhart und die „Deutsche Mystik“. Vgl. Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, III 227–231.

2. Die spekulative Mystik Meister Eckharts

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richtig, dass Meister Eckhart für außerordentliche religiöse Erfahrungen, wie sie in der Erlebnismystik seiner Zeit an der Tagesordnung waren, nichts übrig hatte und auch nicht von eigenen mystischen Erfahrungen berichtet. Auch mystagogische Anleitungen findet man hier nicht. Doch der Gedanke des Einswerdens mit Gott, der unio mystica, steht, wenn auch in einer sehr speziellen Ausprägung, so dominierend im Mittelpunkt seines Denkens, dass es gerechtfertigt erscheint, ihn als „Mystiker“ anzusprechen. Gleichwohl muss klar festgehalten werden, dass Eckharts Denken alles andere als repräsentativ für die Mystik seiner Zeit war. Eckhart zu verstehen, ist schwierig. Er selbst scheint sich nicht sonderlich darum bemüht zu haben, verstanden zu werden. Dahinter stand die Einsicht, dass keine noch so bemühte Pädagogik ein abstraktes Verständnis der mystischen Erfahrung vermitteln kann. Nur wer diese Erfahrung selbst gemacht hat, kann nachvollziehen, wovon Eckhart spricht. Ausdrücklich tröstete er einmal seine Hörer: „Wer diese Rede nicht versteht, der bekümmere sein Herz nicht damit. Denn solange der Mensch dieser Wahrheit nicht gleicht, solange wird er diese Rede nicht verstehen. Denn es ist eine unverhüllte Wahrheit, die da gekommen ist aus dem Herzen Gottes unmittelbar.“134 Wir können hier nicht auf die philosophischen und theologischen Traditionen eingehen, in denen Eckhart steht. Erwähnt sei, dass er stark von dem damals wiederentdeckten Neuplatonismus, von Plotin, Augustinus und Dionysius Areopagita, aber auch von den arabischen Aristoteles-Kommentatoren Averroes und Avicenna beeinflusst war, die er vor allem durch seinen Ordensbruder Dietrich von Freiberg (ca. 1245 – ca. 1320) kennengelernt hatte. 134

Meister Eckehart, Deutsche Predigten und Traktate, 309.

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

Grundlage der spekulativen Mystik Eckharts ist seine neuplatonisch geprägte Seinslehre. Danach ist Gott das ungeschaffene, absolute Sein selbst. Von diesem ist das geschaffene, partikulare Sein der Kreaturen zu unterscheiden, das Eckhart als ein „Dies-undDas-Sein“ (esse hoc et hoc) qualifiziert. Anders als im Neuplatonismus geht Eckhart aber nicht von einer hierarchisch gestuften graduellen Teilhabe aller Geschöpfe an dem mit Gott identischen einen Sein aus, sondern versteht das Dies-und-Das-Sein der Geschöpfe als vollständig vom göttlichen Sein abhängig; ihr Sein haben sie ausschließlich in Gott, die Geschöpfe an und für sich sind nichts. Dasselbe wie für das Sein gilt für alle anderen Vollkommenheiten wie Wahrheit, Güte oder Gerechtigkeit. „Gut“ ist ein Geschöpf nur, indem es an der Güte Gottes, „gerecht“ nur, indem es an der Gerechtigkeit Gottes partizipiert – und nicht etwa, indem es gut oder gerecht handelt. Tatsächlich geht nach Eckhart das Gut-Sein oder Gerecht-Sein dem guten bzw. gerechten Handeln voraus. Güte und Gerechtigkeit sind demnach keine Tugenden, sondern sogenannte Transzendentalien, die mit dem Sein und mit Gott identisch sind. Im Zentrum von Eckharts Mystik steht die Vorstellung von der Gottesgeburt in der Seele. Der Gedanke an sich war nicht neu. Im Anschluss an die Paulusstelle Gal 4,19 („Meine lieben Kinder, die ich abermals unter Wehen gebäre, bis Christus in euch Gestalt gewinne!“) hatten Origenes und die Väter der Ostkirche das neue Sein des Christen als Geburt Christi in der Seele des Gläubigen gedeutet, und auch im lateinischen Westen war diese Vorstellung seit Ambrosius und Augustinus bekannt. Was Eckharts Rede von der Gottesgeburt besonders macht, ist ihre Radikalität, die die Grenzen zwischen Gott und Mensch, Schöpfer und Geschöpf zu verwischen droht. Eckhart setzt bei Gott, nicht beim Menschen an: Wenn Gott mit der

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biblisch-christlichen Tradition als Vater charakterisiert wird, schließt dies immer schon zugleich die Existenz des Sohnes ein. Indem der Vater den Sohn hervorbringt – Eckhart spricht von „gebären“ –, spricht er sein göttliches Wort, den Logos (vgl. Joh 1,1), aus, tritt sich selbst gegenüber und erkennt sich selbst. Diese innertrinitarische Hervorbringung des Sohnes aus dem Wesen des Vaters vollzieht sich vor und außerhalb der Zeit. So wie Gott selbst ewig ist, so gebiert Gottvater ewig und immerfort den Sohn. Gott gebiert seinen Sohn aber nicht nur fortwährend innertrinitarisch in seiner eigenen Natur, sondern er will, ja muss seinen Sohn auch in der Seele des Menschen gebären. Wie ist es aber überhaupt möglich, dass Gott seinen Sohn in der menschlichen Seele gebären kann? Ist die geschaffene Seele nicht viel zu eng, als dass sie Gott, den Schöpfer aller Dinge, fassen könnte? Tatsächlich gibt es in der Seele einen besonderen Ort, der Gott fassen kann und in den hinein Gott seinen Sohn gebiert. Es ist der edelste, höchste Seelenteil (apex mentis, „Spitze des Geistes“), den Eckhart meist das „Fünklein“ oder den „Grund“ der Seele nennt. Dieser Seelengrund ist selbst von göttlicher Art; an mehreren Stellen scheint Eckhart anzunehmen, dass der Seelengrund nicht erschaffen, sondern ewig und ein Teil der göttlichen Substanz sei. Er macht den „Adel“ der Seele aus. Für gewöhnlich ist der Seelengrund allerdings nicht bereit, Gott zu empfangen und als Ort der Gottesgeburt zu dienen. Die Seelenkräfte sind durch fleischliche Begierden geschwächt, der Mensch ist in seinem Eigenwillen gefangen, er hängt am Äußerlichen und Kreatürlichen und ist nicht offen für Gott. Um die Gottesgeburt zu ermöglichen, muss der Seelengrund erst gereinigt und bereitet, muss der Mensch von allem Kreatürlichen und Äußerlichen frei werden, auch von seinem eigenen Willen, ja von sich selbst. Dieses Freiwerden hat Eckhart mit verschiede-

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

nen, von ihm selbst geprägten Begriffen beschrieben. Der bekannteste dieser Begriffe ist der der „Gelassenheit“. Es gilt, alles Äußere und sich selbst zu „lassen“, ein „gelassener“ Mensch zu werden. Im selben Sinne kann Eckhart auch von „Abgeschiedenheit“ von allem Äußerlichen oder – bezeichnend für den Angehörigen eines Bettelordens – von „geistlicher Armut“ sprechen. Zum Freiwerden vom Kreatürlichen gehört für Eckhart auch die Preisgabe aller bildlichen Vorstellungen von den Dingen; erst dieses „Entbilden“ ermöglicht das „Einbilden“ und „Überbilden“ durch Gott. Die Gottesgeburt selbst versteht Eckhart nicht nur metaphorisch oder moralisch, sondern als eine wirkliche Vergottung des Menschen. Indem Gott in der Seele des Menschen fortwährend seinen Sohn gebiert, wird der Mensch selbst zum Sohn Gottes und in seiner Menschheit mit Gott vereint: „Wo der Vater seinen Sohn in mir gebiert, da bin ich derselbe Sohn und nicht ein anderer.“135 Mitunter hat Eckhart sprachliche und theologische Sicherungen eingebaut, die eine Verwischung der Grenzen zwischen Gott und Mensch verhindern sollen. Häufig geht aber auch das Einheitspathos mit ihm durch: In der Gottesgeburt werden Gott und Mensch eins, geht die Seele des Menschen unterschiedslos und identisch in der Gottheit auf. Die Folgerungen, die Eckhart daraus zieht, klingen noch für den heutigen Hörer kühn, ja überspannt. So ist er der Ansicht, dass, da sich Gottvater in der Gottesgeburt der Seele ganz mitteilt, auch der Mensch seinerseits zum Vater wird, der im selben Moment den Sohn in Gott zurückgebiert. Gebären und Wiedergebären gehören zusammen wie Schall und Echo. Mehr noch: Indem die Seele mit Gott vereinigt wird, vollzieht sich ihr „Durchbruch“, kehrt sie in den Zustand 135

Ebd., 172.

2. Die spekulative Mystik Meister Eckharts

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der Ungeborenheit zurück, in jene ursprüngliche Einheit des göttlichen Seins, die vor der Schöpfung bestand. In dieser Einheit gab es keinerlei Differenz und Unterschiedenheit im Sein, kein „dies und das“, nicht Mensch und nicht Gott; denn erst durch die Schöpfung traten Schöpfer und Geschöpfe einander gegenüber, erst damals wurde aus der alles umfassenden „Gottheit“ der personale „Gott“ als Gegenüber des Menschen. In einer seiner letzten Predigten, der berühmten Armutspredigt, malt Eckhart in einem Akt intellektueller Ekstase diese Rückkehr des Ichs in seine Ungeborenheit in kühnsten Formulierungen aus: „Darum bin ich die Ursache meiner selbst meinem Sein nach, das ewig ist, nicht aber meinem Werden nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich ungeboren, und nach der Weise meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und werde ich ewiglich bleiben. (...) In meiner ewigen Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, so wäre weder ich noch wären alle Dinge; wäre aber ich nicht, so wäre auch ‚Gott’ nicht: daß Gott ‚Gott’ ist, dafür bin ich die Ursache; wäre ich nicht, so wäre Gott nicht ‚Gott’“.136 Der „Durchbruch“, von dem Eckhart spricht, ist kein affektiver, sondern ein intellektueller Akt. Auch wenn er als punktuelles Geschehen erscheint, ist die Einheit mit Gott, die sich durch die Gottesgeburt erschließt, kein besonderes spirituelles Ereignis, kein ekstatischer Ausnahmezustand. Es handelt sich vielmehr um ein sich fortwährend vollziehendes dynamisches Geschehen, eine dauerhaft erschlossene Gegenwart Gottes im Grund der menschlichen Seele. Dementsprechend hat Eckhart die landläufigen Erscheinungsformen der 136

Ebd., 308.

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

Erlebnismystik wie Ekstasen, Visionen oder den „Jubilus“ abgelehnt. Bemerkenswert ist, dass Eckhart zwar immer wieder von der Gottesgeburt spricht und von der Gelassenheit, die die Voraussetzung dafür bildet, aber keine konkreten Anweisungen gibt, wie der Mensch die Gelassenheit erreicht. Zwar kann er mit der Tradition vom Aufstieg der Seele zu Gott oder vom Abstieg Gottes in die Seele sprechen, doch von einem mehrstufigen Aufstiegsweg, wie wir ihn in der älteren Mystik fanden, weiß Eckhart nichts. Tatsächlich gibt es kein Rezept für das Erreichen der Gelassenheit. Gelassenheit wird nicht notwendig durch Rückzug aus der Welt oder durch beschauliches klösterliches Leben erlangt – Eckhart selbst hat ja kein solches Leben geführt. Im Gegenteil, eine aus dem Inneren der Seele hervorgehende Aktivität – Eckhart spricht von „Gewerbe“ im Unterschied zu den von außen kommenden „Werken“ – steht sogar höher als bloße Kontemplation. In diesem Sinne hat er die biblische Erzählung von Maria und Martha (Lk 10,38–42), die herkömmlicherweise als Beleg für die Überlegenheit der vita contemplativa galt, umgedeutet: Die geschäftige Martha ist auf dem geistlichen Weg schon weiter fortgeschritten als Maria, die noch zu den Füßen ihres Heilands sitzt; doch eines Tages wird auch Maria eine Martha werden.137 Die praktische Tat der Nächstenliebe ist vollkommener als die subjektive Erfahrung, als Entrückungen und Visionen. Doch kann keine Tätigkeit, keine Anstrengung, keine Askese, keine geistliche Disziplin die Gelassenheit herbeizwingen: Denn solange der Mensch noch etwas erreichen will, hat er sich nicht völlig gelassen. Die Gelassenheit wird nur auf einem „weglosen Weg“ erreicht, im Vernichten seiner selbst, das zugleich ein Tun und ein Erleiden, 137

Ebd., 281–289.

3. Heinrich Seuse

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zugleich aktiv und passiv ist. Dieses Ziel aber, das kein Ziel sein darf, ist mit ganz verschiedenen Entwürfen christlicher Existenz vereinbar. Dass einige der zugespitzten Formulierungen Eckharts, vorgetragen in der Volkssprache vor Frauen, die kirchlichen Autoritäten alarmieren mussten, leuchtet ein. Bis heute wird darüber diskutiert, ob seine Spitzensätze noch von der biblisch-christlichen Tradition gedeckt sind oder ob sie die Grenzen zum Pantheismus überschreiten. Christus und sein Erlösungswerk spielen bei ihm – anders als in der zeitgenössischen Braut- und Passionsmystik – bezeichnenderweise keine Rolle. Mehr noch: Mit seiner Konzeption des Einsseins mit der Gottheit schien er den gefährlichen Positionen Marguerite Poretes und der Brüder des freien Geistes nahezustehen. Auch wenn weder die Person noch die Schriften Eckharts, sondern lediglich einzelne Sätze seiner mystischen Lehre verurteilt wurden, hat die päpstliche Bulle die Rezeption seiner Ideen erschwert, wenn auch nicht verhindert. Texte Eckharts wurden jahrhundertelang nur anonym oder in Zuschreibung an andere Autoren verbreitet. Erst im 19. Jahrhundert, zur Zeit des deutschen Idealismus, wurde er wieder entdeckt und begeistert rezipiert.

3. Heinrich Seuse In gewisser Hinsicht kann man Heinrich Seuse und Johannes Tauler als Schüler Eckharts bezeichnen, von dem sie wichtige Grundgedanken übernahmen. Doch mieden sie dessen provokante Spitzenaussagen und verbanden jeder auf seine Weise Eckharts spekulative Mystik mit traditionellen Elementen affektiver Mystik. Heinrich Seuse (1295/1297–1366) stammte aus einer Konstanzer Patrizierfamilie und ist vermutlich 1297 in Konstanz, vielleicht aber auch in Überlingen,

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

der Heimat seiner Mutter, geboren.138 Nach dem Familiennamen der Mutter („Süß“) nannte er sich „Seuse“ (latinisiert: Suso). Mit nur 13 Jahren wurde er in das Konstanzer Inselkloster der Dominikaner gegeben und erhielt hier und in Straßburg die ordensübliche Ausbildung. Von 1324 bis 1327 studierte er am Generalstudium der Dominikaner in Köln bei Meister Eckhart, zu dessen engstem Schülerkreis er gehörte. Vielleicht hat diese gefährliche Schülerschaft verhindert, dass er in Paris weiterstudieren durfte. Stattdessen kehrte Seuse 1327 in sein Heimatkloster zurück, um dort als Lesemeister den Ordensnachwuchs in Theologie zu unterrichten. Doch auch dort fiel noch der lange Schatten seines Lehrers auf ihn: Nach Eckharts kirchlicher Verurteilung wurde Seuse 1329 für fünf Jahre von seinem Amt suspendiert. Nachdem er lange als Dozent gewirkt hatte, wurde Seuse im Alter von etwas über 40 Jahren zum Seelsorger. Den Anlass dazu gab die Übersiedlung seines Konvents nach Diessenhofen bei Stein am Rhein im Jahre 1338, nachdem der Papst in seinem Machtkampf mit dem deutschen König das Interdikt – das Verbot aller Gottesdienste – über Konstanz verhängt hatte. Seuse fungierte dort 1343/44 als Prior, widmete sich sonst aber einer ausgedehnten Reisetätigkeit als Seelsorger in Dominikanerinnenklöstern im Elsass und der Schweiz; mit der Nonne Elsbeth Stagel (ca. 1300 – ca. 1360) im Kloster Töss, der Verfasserin des dortigen Schwesternbuches, unterhielt er eine geistliche Freundschaft. Auch zum Kreis der sogenannten „Gottesfreunde“ um den Priester Heinrich von Nördlingen stand er in engen Beziehungen (s.u. Kap. VIII.4.). 1346 kehrte Seuse mit seinen Ordensbrüdern 138 Haas, Kunst rechter Gelassenheit; Cognet, Gottes Geburt, 125– 166; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, III 415–475; McGinn, Die Mystik im Abendland, IV 341–411.

3. Heinrich Seuse

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nach Konstanz zurück, doch schon im Jahr darauf wurde er nach Ulm strafversetzt, nachdem seine Magd ihn fälschlich beschuldigt hatte, der Vater ihres unehelichen Kindes zu sein; hier verbrachte er seine beiden letzten Lebensjahrzehnte. Seuses mystische Lehren sind uns in zwei Traktaten – dem „Büchlein der Wahrheit“ und dem „Büchlein der ewigen Weisheit“ –, einer kleinen Briefsammlung und seiner geistlichen Autobiographie, der „Vita“, überliefert.139 Das „Büchlein der Wahrheit“ entstand 1329/30, als Seuse wegen seiner Schülerschaft bei Meister Eckhart vom Lehramt suspendiert war, und zeugt vom Bestreben des Verfassers, die Anschauungen seines Lehrers gegen Missdeutungen zu verteidigen. Formal handelt es sich um einen Dialog zwischen dem „Jünger“ und der „Wahrheit“ über die rechte Gelassenheit. Durchweg bewegt Seuse sich hier in Gedankengängen Eckharts, wenn er dessen Seinslehre entwickelt und die Gelassenheit als Weg zum Durchbruch zur Gottesgeburt beschreibt, doch setzt er dabei auch eigene Akzente. So grenzt der „Jünger“ im Gespräch mit einem Wesen, das sich selbst „das namenlose Wilde“ nennt, die wahre Freiheit, die die Gelassenheit mit sich bringt, von der falschen, ungebundenen Freiheit ab, wie sie die Brüder und Schwestern des freien Geistes (die aber nicht beim Namen genannt werden) propagierten. Stärker als im „Büchlein der Wahrheit“ trat Seuses eigenes Profil im kurz danach entstandenen „Büchlein der ewigen Weisheit“ hervor; für den Gebrauch von Klerikern erstellte er eine bearbeitete lateinische Fassung unter dem Titel „Horologium Sapientiae“. Beide wurden im Spätmittelalter viel gelesen. Die Eckhartschen Gedanken treten hier hinter eine Passionsmystik zurück, die sich an der Betrachtung der Leiden 139

Seuse, Deutsche mystische Schriften.

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

Christi entzündet und auf das Mitleiden und Mitsterben des Menschen mit Christus zielt. Sachlicher und historischer Kern des Büchleins sind einhundert „Betrachtungen“, mit denen eine systematische Meditation der Leiden Christi betrieben werden konnte; Seuse will sie, nach der Mette vor einem Kruzifix betend, von Gott offenbart bekommen haben. Auch dieses Werk hat die Form eines Dialogs, diesmal zwischen der „ewigen Weisheit“, die für Christus steht, und ihrem „Diener“ – möglicherweise eine Umkehrung der herkömmlichen brautmystischen Konstellation mit Christus als männlichem Bräutigam und der weiblich gedachten Seele als seiner Braut. Der starke passionsmystische Akzent zeigt sich auch in der „Vita“ Seuses, die gegen Ende seiner Ulmer Zeit entstanden ist. Sie ist, wie heute nicht mehr bezweifelt wird, von ihm selbst verfasst, wobei die späteren Teile Seuse zufolge auf Aufzeichnungen Elsbeth Stagels zurückgehen sollen. Die „Vita“ ist keine Autobiographie im modernen Sinne. Vielmehr handelt es sich um eine religiöse Beispielerzählung, in der der Verfasser sein eigenes Leben als Exempel für eine fromme Lebensführung schlechthin stilisiert. Dazu passt, dass Seuse von sich durchgehend in der dritten Person spricht und in der uns bereits bekannten literarischen Rolle des „Dieners der ewigen Weisheit“ auftritt. Als Aufbauprinzip dient Seuse die Unterscheidung der drei Menschenklassen der „Anfangenden“, „Fortschreitenden“ und „Vollendeten“. Die Biographie wird so zur Veranschaulichung des klassischen dreistufigen Aufstiegsweges. Die ersten 18 Kapitel beschreiben den Status des „anfangenden Menschen“. Seuse berichtet hier, wie er nach fünf Jahren im Kloster eine plötzliche Bekehrung erlebte, die ihn zur Abwendung von allem Äußeren und zu einem von härtester Askese, aber auch immer wieder von Visionen geprägten

3. Heinrich Seuse

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Frömmigkeitsleben führte. Im Mittelpunkt stand dabei die Vergegenwärtigung des Leidens und Sterbens Christi durch Meditation wie durch praktischen Mitund Nachvollzug. So ritzte sich Seuse mit einem spitzen Schreibgriffel den Namen Jesu über dem Herzen in seine Brust. Immer wieder geißelte er sich blutig und rieb Essig und Salz in die Wunden. Für seinen Unterkörper ließ er sich ein härenes Bußkleid mit 150 spitzen Messingnägeln anfertigen, das er zum Schlafen anlegte, und jahrelang trug er ein mit spitzen Nägeln beschlagenes Kreuz auf dem Rücken, das ihm das Fleisch zerriss. Im Alter von vierzig Jahren – wohl eher eine Symbolzahl, die an die vierzigjährige Wüstenwanderung des Volkes Israel oder an das vierzigtätige Fasten Jesu in der Wüste erinnert, als eine reale biographische Reminiszenz – will Seuse dann abermals eine Lebenswende erfahren haben. Damals soll ein Engel ihm verkündigt haben, dass er nun in die Schule der fortschreitenden Menschen aufgenommen sei, in der man das gänzliche, völlige Lassen seiner selbst – eben die Gelassenheit – erlerne (Kap. 19–32). Seuse erkannte jetzt, dass in allen seinen Bußübungen und Selbstkasteiungen immer noch sein Eigenwille am Werk gewesen war. Er hatte sich diese Übungen selbst auferlegt, von außen kommende Widerwärtigkeiten dagegen ängstlich gemieden. Nun galt es, die schmerzliche Unterwerfung unter den Willen Gottes zu lernen, der ihm Enttäuschungen, Verleumdungen und Verlassenheit von Gott und Menschen eintragen sollte. Zugleich damit wurde Seuse aber auch frei, sich dem Dienst an seinen Mitmenschen zu widmen. Mit Kapitel 33 beginnt der angeblich von Elsbeth Stagel aufgezeichnete Teil der Vita, der schildert, wie Elsbeth unter Seuses Anleitung den dreistufigen Aufstiegsweg beschreitet. Er mündet in den letzten vier Kapiteln (Kap. 50–53) in eine anspruchsvolle mysta-

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gogische Belehrung. Seuse schildert hier in eindrucksvollen, an Meister Eckhart und Dionysius Areopagita erinnernden Formulierungen, wie der menschliche Geist zum „Nichts der Einheit“ gelangt, indem er im göttlichen Abgrund versinkt und „in die geheimnisvolle Unnennbarkeit und in unheimliche Entfremdung“ kommt. Da „strahlt aus der Einfachheit ein einfaches Licht, und dieses weiselose Licht wird von den drei Personen ausgestrahlt in der Unverhülltheit des Geistes. Von dieser Einstrahlung entsinkt der Geist sich selbst und all seiner Selbstheit, er entsinkt auch der Wirksamkeit der Kräfte und wird vernichtet und des Geistes beraubt. Und das liegt an der Entrückung, durch die er aus seiner Selbstheit in die fremde Seinsheit gegangen ist und sich darin verloren hat gemäß der Stille der verklärten, glanzvollen Finsternis in dem lauteren, einfachen Einen. Und in diesem weiselosen Wo liegt die höchste Seligkeit.“140

4. Johannes Tauler und die Gottesfreunde Johannes Tauler141 (ca. 1300–1361) entstammte einer wohlhabenden Straßburger Ratsherrenfamilie. Im Alter von 13 oder 14 Jahren trat er ins dortige Dominikanerkloster ein. Die übliche ordensinterne Ausbildung scheint er vollständig in seinem Heimatkonvent erhalten zu haben, zum Theologiestudium in Köln oder gar in Paris wurde er nicht vorgesehen. Stattdessen wurde er schon in jungen Jahren mit praktischen Aufgaben als Prediger und Seelsorger in den acht Straßburger Dominikanerinnenklöstern und in Begi140 141

Seuse, Deutsche mystische Schriften, 206. Gnädinger, Tauler; Gabriel, Rückkehr zu Gott; Cognet, Gottes Geburt, 91–124; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, III 476–526; McGinn, Die Mystik im Abendland, IV 412–502.

4. Johannes Tauler und die Gottesfreunde

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nenhäusern betraut. In Straßburg muss Tauler Meister Eckhart kennengelernt haben, der damals dort als Generalvikar des Ordens amtierte; anders als Seuse hat er ihn aber nicht als theologischen Lehrer erlebt. Wie Seuses Konstanzer Konvent, so wurden 1339 auch Tauler und seine Straßburger Mitbrüder in die Auseinandersetzungen zwischen dem Papst und dem deutschen König hineingezogen. Im Gehorsam gegenüber dem päpstlichen Interdikt suchten sie in Basel Zuflucht; erst 1343 konnten sie nach Straßburg zurückkehren. Dort erlebte Tauler die schweren Erdbeben der Jahre 1346 bis 1356 und die von Geißlerzügen und Judenpogromen begleitete verheerende Pestepidemie des „Schwarzen Todes“ 1348/49 mit. So wie Seuse im Alter von vierzig Jahren eine entscheidende Lebenswende erlebt haben will, so nahm auch Tauler an, dass sich die Bekehrung des Menschen zur Innerlichkeit gewöhnlich zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr vollziehe. Tatsächlich machten die meisten Mystikerinnen und Mystiker bereits seit ihrer Kindheit außerordentliche geistliche Erfahrungen, doch könnte Taulers Auffassung von seiner eigenen Biographie gedeckt sein. Jedenfalls ist sein fünftes Lebensjahrzehnt durch eine rastlose Tätigkeit im Dienst der Förderung mystisch geprägter Frömmigkeit gekennzeichnet. Bereits im Basler Exil und dann wieder in Straßburg engagierte er sich für die Bewegung der sogenannten „Gottesfreunde“. Mit diesem der Bibel entnommenen Begriff (z.B. Ex 33,11; Joh 15,15) bezeichneten sich lose Kreise frommer Laien, Kleriker und Ordensleute, die sich an volkssprachlicher mystischer Literatur inspirierten.142 Mit ihrem starken Laienelement verkörperten die Gottesfreunde beispielhaft die spätmittelalterliche 142 Rapp, Gottesfreunde; McGinn, Die Mystik im Abendland, IV 674–711.

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„Demokratisierung“ der Mystik. Die Bewegung bestand zwischen 1330 und 1400 und hatte ihre Schwerpunkte im Rheinland und in der Schweiz. Zwischen 1339 und 1343 wurde Basel durch das Wirken Taulers und Heinrichs von Nördlingen eines ihrer Zentren. Diese beiden waren einander 1338 im Dominikanerinnenkloster Maria Medingen begegnet, wo Tauler Heinrichs Beichtkind Margaretha Ebner besucht hatte, und Heinrich hatte Tauler ins Basler Exil begleitet, wo beide als Volksprediger und als Seelsorger für Nonnen, Beginen und andere fromme Frauen tätig waren. Hier, in Basel, fertigte Heinrich für den Gebrauch der Gottesfreunde eine Übersetzung des „Fließenden Lichts der Gottheit“ Mechthilds von Magdeburg ins Alemannische an, vielleicht unter Taulers Mithilfe. Tauler selbst scheint im Dienst der Gottesfreunde mehrere Jahre lang zwischen Basel, Straßburg und Köln gependelt zu sein. In Köln predigte er, scheint aber auch dort und vielleicht sogar in Paris mystische Schriften beschafft zu haben. Aus Groenendaal bei Brüssel – vielleicht war Tauler auf seinen Reisen auch dorthin gekommen – schickte der Mystiker Jan van Ruusbroec den Gottesfreunden sein Hauptwerk, die „Geistliche Hochzeit“ zu, die von ihnen ins Alemannische übersetzt wurde. Auch in Straßburg bildete sich im Umkreis Taulers ein Zentrum der Gottesfreunde. Einer der prominentesten Angehörigen des dortigen Kreises war der wohlhabende Kaufmann Rulman Merswin (1307–1382), der sich 40-jährig von seinen Geschäften und seiner Familie zurückzog, durch Heinrich von Nördlingen zu den Gottesfreunden kam und Tauler zu seinem Beichtvater und Seelenführer wählte. 1364 kaufte Merswin das leerstehende Straßburger Kloster „Zum Grünenwörth“, wo er mit Gleichgesinnten ein mystisch geprägtes Gemeinschaftsleben führte; 1371 übereignete er den Grünenwörth dem Johanniterorden, behielt aber, obwohl Laie, selbst die Leitung.

4. Johannes Tauler und die Gottesfreunde

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Merswin verfasste mehr als zwanzig religiöse Schriften. Auch mehrere Traktate, als deren Verfasser ein geheimnisvoller „Gottesfreund vom Oberland“ firmierte, dürften in Wahrheit aus seiner Feder stammen. Sein berühmtestes Werk war das sogenannte „Meisterbuch“, das berichtet, wie eben jener „Gottesfreund vom Oberland“ einen gelehrten, aber dem toten Buchstaben der Bibel verhafteten „Meister der Heiligen Schrift“ zu einer wahren innerlichen Frömmigkeit bekehrt und zu einem erfolgreichen Prediger macht. Seit dem Ende des Mittelalters hat man den „Meister“ mit Tauler identifiziert und das Buch als Episode aus seiner Biographie verstanden; erst am Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese Deutung widerlegt. Tatsächlich handelt es sich beim „Meisterbuch“ nicht um einen historischen Bericht, sondern um eine lehrhafte Beispielerzählung. Seine letzten Lebensmonate verbrachte Tauler krank in einem Gartenhaus des Straßburger Dominikanerinnenklosters „St. Nikolaus in undis“, dem seine leibliche Schwester Gertrud angehörte. Am 16. Juni 1361 ist er gestorben. Im Kreuzgang des ehemaligen Straßburger Dominikanerklosters hat sich seine Grabplatte erhalten, die in feiner Umrisszeichnung die zerbrechliche Gestalt eines schmächtigen Mönches zeigt. Von Johannes Tauler sind uns etwa 80 deutsche Predigten überliefert.143 Dabei handelt es sich wohl nicht um Mitschriften, sondern um eigens ausgearbeitete Lesepredigten. Anders als Eckhart oder Seuse scheint Tauler keine Traktate verfasst zu haben. Überhaupt ist seine mystische Lebenslehre weniger spekulativ als die der beiden anderen großen Dominikanermystiker. Tauler war eben nicht theologischer Lehrer, sondern Seelsorger, und in seinen Predigten behandelte er vor allem praktische Fragen des christli143

Tauler, Predigten.

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

chen Lebens und des mystischen Wegs zur Einheit mit Gott. Die dogmatischen und moralischen Seiten des Christentums wie auch die kirchliche Heilsvermittlung treten bei ihm stärker hervor. Man kann Taulers Predigten mystagogisch nennen. Das Ziel, zu dem er seine Hörer leiten will, ist die unio mystica, von der freilich nur andeutungsweise und uneigentlich, in Bildern und Gleichnissen gesprochen werden kann. Erreicht wird sie auf dem klassischen Dreistufenweg von Reinigung, Erleuchtung und Einung. Regelmäßig operiert Tauler mit dem bekannten Schema der drei Menschenklassen der Anfangenden, Fortschreitenden und Vollendeten, auch wenn er den Schematismus selten konsequent durchführt. Dabei versteht er stärker als andere Autoren die Zubereitung der anfangenden Menschen, die Reinigung, als Möglichkeit menschlicher Anstrengung; durch moralische Bemühung und Selbstheiligung kann der Mensch selbst die Voraussetzungen für den mystischen Aufstieg schaffen. Tauler nimmt in seinen Predigten wiederholt Gedanken und Formulierungen Meister Eckharts auf. Er spricht vom Seelenfunken und vom Seelengrund, einmal auch von der Gottesgeburt. Doch die gefährliche Einheitsmetaphysik Eckharts vermeidet er. Nicht zum Vernichten seiner selbst ruft Tauler auf, sondern zur Erkenntnis und Anerkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit und Nichtswürdigkeit. Im Bewusstsein seiner unentrinnbaren Verstrickung in die Sünde muss sich der Mensch dem Willen Gottes unterwerfen, dessen gerechtes Gericht über die Sünde akzeptieren und bereit werden, Trostlosigkeit und Schmerz, ja sogar ewige Höllenstrafen zu erleiden. Diese „resignatio ad infernum“, dieses Sich-Ergeben in die Hölle, ist freilich nicht das Ende des Weges. Denn wenn der Mensch so jeden Anspruch auf Glück, ja auf seine

4. Johannes Tauler und die Gottesfreunde

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ewige Seligkeit preisgibt, erhebt Gott ihn gnadenhaft zu sich und schenkt ihm Ruhe und Freude in Gott. Wie Seuse, so zeichnet sich auch Tauler in seinen Predigten durch eine feine psychologische Beobachtung aus. Als Beispiel dafür sei hier seine Predigt über Jesu Ruf: „Wer Durst hat, komme zu mir und trinke!“ (Joh 7,37) angeführt.144 Tauler versteht den Durst als Liebesdurst des Menschen nach Gott. Dieser ist bereits eine Wirkung des Heiligen Geistes, äußert sich aber vorerst nur als unbestimmtes Sehnen und Überdruss an allen Kreaturen. Sobald der Mensch erkennt, dass er nach Gott durstig ist, beginnt er, sich von der Welt abzuwenden. Er kann in den Ruf des Psalmisten einstimmen: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir“ (Ps 42,2). Und wirklich ergeht es dem anfangenden Menschen wie dem durstigen Hirsch. Wie dieser von den Hunden des Jägers gehetzt wird, so wird der Anfänger im religiösen Leben von Anfechtungen und Versuchungen bedrängt. Diese muss man abschütteln oder am Kreuz Christi zerschmettern, so wie der Hirsch den in seine Flanke verbissenen Jagdhund an einem Baum abstreift. Dabei sind die kleinen, unterschätzten Sünden gefährlicher als die großen – so wie die kleinen Hunde gefährlicher sind als die großen. Letztlich führt die Hetzjagd nur dazu, den Durst immer weiter zu steigern; dahinter steht eine verborgene Pädagogik, durch die Gott den Menschen zu sich zieht. Tauler ist davon überzeugt, dass der Mensch alle Jagdhunde, d.h. alle Versuchungen der Sünde überwinden kann. Dann gelangt er zu Gott, ans Wasser, und trinkt sich mit Gott voll, bis er ganz trunken von Gott ist und in einen geistlichen Rauschzustand gelangt. Manche Menschen ertragen diesen Jubelrausch nicht und sterben darüber. Gewöhnlich aber greift 144

Tauler, Predigten, I 75–82.

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

Gott rechtzeitig ein, und wie ein guter Vater sein betrunkenes Kind, so bringt er die Seele zur Ernüchterung, indem er sie züchtigt und ihr das Glücksempfinden wieder entzieht. Dann erst kommt die Seele zu sich selbst, zu Besonnenheit und realistischer Selbsterkenntnis. Die fortschreitenden Menschen suchen Gott nicht mehr im überschwänglichen Jubel der niederen Seelenkräfte, sondern in den oberen Seelenkräften – in Verstand, Gedächtnis und Wille –, die das Abbild Gottes sind. Ja, die Suche nach Gott führt sie noch darüber hinaus: „Da wird der Geist über alle Kräfte hinweg in eine einsame Wildnis geführt, von der niemand sprechen kann, in die verborgene Dunkelheit des weiselosen Gutes“, in die Einheit, in der alle Mannigfaltigkeit aufgehoben ist. Erst hier, in der lichten Finsternis jenseits des menschlichen Begreifens, trinkt die Seele am rechten Ort, aus der Quelle und dem Brunnen, da, wo das Wasser am süßesten ist. Taulers Predigten haben eine erstaunliche Wirkungsgeschichte gehabt. Im Spätmittelalter, aber auch in der Neuzeit wurden sie viel gelesen; auch andere mystische Schriften wurden bald unter Taulers Namen verbreitet. Der junge Luther hat Tauler hoch geschätzt, und auch später gab es im Protestantismus eine rege Tauler-Rezeption. Im Katholizismus des 16. Jahrhunderts kam er deshalb teilweise in Verruf, doch auf Dauer tat dies seiner Hochschätzung auch in der katholischen Kirche keinen Abbruch.

5. „Der Frankfurter“ („Theologia Deutsch“) Nicht eigentlich der Dominikanermystik zugehörig, aber wegen ihrer Nähe zu den mystischen Gedanken Meister Eckharts wie Taulers sinnvollerweise hier zu behandeln ist eine anonyme mystische Schrift, die im Mittelalter als „Der Frankfurter“ bekannt war, heute

5. „Der Frankfurter“ („Theologia Deutsch“)

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aber meist mit einem von Luther formulierten Titel als die „Theologia Deutsch“ bezeichnet wird.145 Dem von späterer Hand hinzugefügten Prolog zufolge wurde sie von einem Priesterbruder der Deutschordenskommende im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen verfasst. Allen Anstrengungen der Forschung zum Trotz ist eine überzeugende Identifizierung des Autors bislang nicht gelungen; entstanden ist das Buch vermutlich im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts. Viele Vorstellungen hat der „Frankfurter“ mit Dionysius Areopagita, Eckhart und Tauler gemeinsam. Gott ist für ihn gut neuplatonisch das Eine, das alles und über alles ist und von dem alles Geschaffene Sein und Gutsein hat. Der mystische Heilsweg ist ein Weg zur Vergottung des Menschen und zur Einung mit dem absoluten Sein Gottes. Dabei hat der Mensch den klassischen Dreistufenweg der Reinigung, Erleuchtung und Einung zu beschreiten. Auf diesem Weg muss er alles, was er ist und hat, lassen, alles partikulare „Dies und Das“, alle Sinneseindrücke und Bilder und seinen eigenen Willen und muss zur Wohnung für Gott und dessen Willen werden. Es geht, mit Eckhart gesprochen, darum, „weiselos“ zu werden. Bezeichnenderweise ist beim „Frankfurter“ keine Rede von der Gottesgeburt in der Seele. Überhaupt sind die spekulativen Elemente stark zurückgenommen, stattdessen dominiert die biblische Belehrung. Über vierzig Zitate aus dem Neuen Testament – teils aus den Paulusbriefen, teils aus den Evangelien – dienen zur näheren Beschreibung des mystischen Weges. Es ist diese biblische Grundierung, die der Schrift ihr besonderes Profil gibt. In paulinischer Terminologie geht es bei dem mystischen Aufstieg um die Vernichtung des alten und das 145 Zecherle, Die „Theologia Deutsch“; Wegener, Der ,Frankfurter‘; McGinn, Die Mystik im Abendland, IV 652–670. – Übertragung in modernes Deutsch: „Der Franckforter“.

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VIII. Die deutsche Dominikaner-Mystik

Wachstum des neuen Menschen (Eph 4,22–24, Kol 3,9–10). Der alte Mensch ist vor allem durch den Ungehorsam gegenüber Gottes Willen gekennzeichnet. Dieser Ungehorsam besteht im „Annehmen“ – dass der Mensch das Gute, das er von Gott empfängt und nur kraft seiner Teilhabe an Gott hat, fälschlich als sein Eigentum ansieht – und im gottwidrigen Eigenwillen. Der neue Mensch zeichnet sich hingegen durch den Gehorsam gegenüber Gott aus, und sein Inbegriff ist Christus (Röm 5). So geht es letztlich darum, in der Nachfolge Christi Christus gleichförmig zu werden und nach seinem Vorbild den eigenen Willen ganz in den Willen Gottes zu ergeben. Der Weg zur unio mystica ist so ein Weg des Gehorsams, das Leben Christi mit allen seinen Facetten die verbindliche Vorlage und Norm der ganzen menschlichen Existenz. Deshalb sind auch gute Werke und äußere Ordnungen nicht etwa irrelevant, sondern integraler Bestandteil des mystischen Weges – das wird gegen die „freien Geister“ deutlich betont. Mit der Nachfolge Christi (imitatio Christi) zeichnet der „Frankfurter“ ein Grundmotiv spätmittelalterlicher Frömmigkeit in die mystische Lebenslehre ein, das einen sehr viel weiteren Horizont umschließt als die ältere Passionsfrömmigkeit. Auf diesem Weg wird die Einung mit Gott erreicht, die der „Frankfurter“ auch als Wesenseinung oder als Schau Gottes beschreiben kann, die aber doch vor allem und in erster Linie als eine Willenseinung zu verstehen ist, wobei der geschaffene menschliche Wille in den ewigen Willen Gottes eingeschmolzen und vernichtet wird, so dass allein der ewige Wille Gottes wirksam wird. Dieses Ziel ist in diesem Leben freilich nur teilweise, nur als „Vorgeschmack“ zu erreichen. Mit der biblisch begründeten Deutung des mystischen Weges als Weg des Gehorsams in der Nachfolge

5. „Der Frankfurter“ („Theologia Deutsch“)

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Christi hat der „Frankfurter“ ein originelles eigenes Profil entwickelt. Im Mittelalter wurde das Buch kaum rezipiert. Seine eigentliche Karriere begann mit der Drucklegung durch Martin Luther. Luthers Herausgeberschaft und Empfehlung sicherte der „Theologia Deutsch“ ein lang andauerndes Interesse in bestimmten protestantischen Milieus. In der katholischen Kirche gab es dagegen, durch die Empfehlung Luthers bedingt, starke Vorbehalte, die freilich nicht verhinderten, dass das Buch im 16. Jahrhundert auch hier seine Leser fand.

IX. Europäische Mystik im Spätmittelalter

Das Spätmittelalter, insbesondere das 14. Jahrhundert, war eine Blütezeit der Mystik in Europa. Quantitativ und qualitativ mit Abstand am bedeutendsten waren die damals in den deutschsprachigen Ländern entstandenen mystischen Schriften. Doch auch in den Niederlanden und in England blühte im 14. Jahrhundert die volkssprachliche Mystik auf. Italien, das traditionell reich an mystisch begabten Menschen war, brachte damals mit Katharina von Siena seine bedeutendste Mystikerin hervor. Im 15. Jahrhundert ließ die Produktion origineller neuer Entwürfe nach, doch die Verbreitung und Popularisierung mystischer Frömmigkeit erreichte bislang ungekannte Ausmaße. Aus dem einsamen Vervollkommnungsweg weniger Klosterleute wurde nun endgültig ein für breite Kreise der europäischen Christenheit zugängliches und inspirierendes Frömmigkeitsideal. Wir können im Folgenden nur einen knappen Überblick über die wichtigsten Autoren und Richtungen der spätmittelalterlichen Mystik außerhalb Deutschlands geben. Dabei gilt hier fast mehr noch als für die „deutsche Mystik“, dass keine Rede von geschlossenen „nationalen“ Ausprägungen der Mystik sein kann. Tatsächlich sind die einzelnen Autorinnen und Autoren in ihren Prägungen und Auffassungen durchaus verschieden. 1. Die Niederlande Die beherrschende Gestalt der niederländischen Mystik und neben Hadewijch der bedeutendste Autor

1. Die Niederlande

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mittelniederländischer Sprache war der flämische Priester Jan van Ruusbroec146 (Ruysbroek, 1293– 1381). Als uneheliches Kind wurde er dem Brüsseler Priester Jan Hinckaert zur Erziehung anvertraut. 1317 wurde er selbst zum Priester geweiht und war wie sein Ziehvater 25 Jahre lang Vikar an der Brüsseler Kathedralkirche St. Michael und St. Gudula. Gegen Ende dieser Zeit begann er, sich als mystischer Schriftsteller zu betätigen. 1343, im Alter von 50 Jahren, floh er aus der städtischen Betriebsamkeit und richtete sich gemeinsam mit Hinckaert und dem Priester Vrancke van Coudenberg, der schon in Brüssel mit beiden zusammen gewohnt hatte, in den Wäldern südlich von Brüssel in der Einsiedelei Groenendaal ein. In den folgenden Jahren wurde Groenendaal ein bedeutendes geistliches Zentrum. Weitere Gleichgesinnte ließen sich dort nieder, 1350 nahm die Gemeinschaft die Regel der Augustiner-Chorherren an. Ruusbroec, der als Prior fungierte, war die führende Persönlichkeit, doch auch einige seiner Mitbrüder verfassten mystische Schriften. Häufig kamen Besucher, darunter möglicherweise Johannes Tauler. Von den elf Schriften, die Ruusbroec verfasst hat, kann das um 1340 noch in Brüssel entstandene Buch „Die Zierde der geistlichen Hochzeit“ („Die chierheit der gheesteliker brulocht“) als sein Hauptwerk gelten.147 Ruusbroecs Mystik hat in den Niederlanden maßstabgebend gewirkt, wurde durch lateinische Übersetzungen seit dem 15. Jahrhundert aber auch in anderen europäischen Ländern rezipiert. Ruusbroec war von Augustinus, Dionysius Areopagita, Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von St. 146 Warnar, Ruusbroec; Arblaster, A Companion to John of Ruusbroec; Cognet, Gottes Geburt, 199–242; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, IV 29–82; McGinn, Die Mystik im Abendland, V 24–110. 147 Ruusbroec, Die Zierde der geistlichen Hochzeit.

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IX. Europäische Mystik im Spätmittelalter

Thierry geprägt, kannte aber auch die Schriften Hadewijchs. Auch mit der spekulativen Wesensmystik Meister Eckharts war er vertraut, und zentrale Vorstellungen und Begriffe wie die des Seelengrundes, der Entbildung oder der Gottesgeburt in der Seele hat er übernommen, zugleich aber auch deutliche Kritik an Eckhart geübt: Anders als dieser legte Ruusbroec Wert auf eine sorgfältige Vorbereitung auf die Einung mit Gott durch das Wachsen in den Tugenden und auf das von der Gottesschau unabtrennbare Tätigsein in der Liebe; gegen die Vorstellung einer Einung in Ununterschiedenheit betonte er die bleibende Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf auch in der unio mystica. Ruusbroecs Mystik ist in einzigartiger Weise trinitarisch konzipiert. Sein Gottesbegriff ist bestimmt durch die Dialektik von „Wesen“ und „Werk“. In seinem Wesen (oder Sein) ruht Gott in unbewegtem Einssein in sich selbst, zugleich aber ist er in seinem Werk (oder Handeln) unablässig nach außen hin tätig. In Gestalt der drei Personen der Trinität und ebenso in der Schöpfung ist er in ständigem Ausfließen und Zurückfließen begriffen. Dieselbe Dialektik von Ruhe und Tätigsein bestimmt Ruusbroecs anthropologisches und mystagogisches Denken. Das Ziel des mystischen Weges ist das „gemeinsame Leben“, die Anteilhabe des Menschen am göttlichen Leben mit seinem komplementären Miteinander von passivem Genießen des weiselosen Einsseins und aktiver Liebe, in dem die scheinbaren Gegensätze verschmelzen. Vita contemplativa und vita activa gehören untrennbar zusammen. Ruusbroec ist Mystagoge, der systematische Anleitung zum geistlichen Leben und zum mystischen Aufstieg gibt. Dieser Aufstieg vollzieht sich im klassischen Dreischritt von Reinigung, Erleuchtung und Einung, der bei ihm als Trias von tätigem, gottbegehrendem/ innigem und gottschauendem/überwesentlichem Le-

1. Die Niederlande

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ben begegnet – freilich nicht im Sinne eines Nacheinanders, bei dem man mit jeder neuen Stufe die frühere hinter sich ließe, sondern als zusammengehörige und dauerhaft zur mystischen Existenz erforderte Aspekte. Am Anfang muss die gründliche Disposition und Vorbereitung der Seele stehen. Durch Kampf gegen die Sünde, Wachsen in den Tugenden und ein Leben in der Nachfolge Christi muss das tätige, aktive Leben geordnet und auf Gott ausgerichtet werden, um die Erleuchtung des Herzens zu erreichen. Dabei kommt Gott in seiner Gnade dem Bemühen des Menschen zuvor und verwandelt ihn durch die sieben Gaben des Heiligen Geistes. Auf der zweiten Stufe geht es darum, leer zu werden und den Willen Gott zuzuwenden, alle seelischen und körperlichen Kräfte zu sammeln und sie für Gottes Kommen in die Seele aufnahmebereit zu machen. Dieses Kommen wird auf verschiedene Weise empfunden; gerne spricht Ruusbroec vom inneren Berührtwerden, aber auch vom Schmecken oder Kosten von Süßigkeit, bezieht sich also wie viele andere Mystiker auf Wahrnehmungen des Tast- und Geschmackssinns. Gegenüber spektakulären Phänomenen der Erlebnismystik wie Visionen wahrt er eine reservierte Distanz, können sie doch trügen oder – wie im Fall der Brüder und Schwestern vom Freien Geist – dazu verführen, selbstsüchtig im bloßen Genuss zu verharren, der das Tätigsein in der Liebe vergisst. Über die letzte Stufe des mystischen Weges hat sich Ruusbroec nur andeutungsweise ausgesprochen. Sie wird in diesem Leben nur von wenigen Menschen erreicht. Ruusbroec beschreibt sie mit der älteren mystischen Tradition als Kontemplation (Gottesschau), als geistliche Hochzeit oder als Gottesgeburt in der Seele, ja sogar als Vergöttlichung und Einssein mit Gott, ein Sich-Selbst-Verlieren und Zurück- und Über-

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IX. Europäische Mystik im Spätmittelalter

fließen in die Finsternis Gottes, wobei er freilich die bleibende Unterschiedenheit von Schöpfer und Geschöpf betont. Auch Geert Grote (1340–1384), der Begründer der Frömmigkeitsbewegung der „Devotio moderna“ („neue Frömmigkeit“), war von Ruusbroec geprägt, den er 1377 in Groenendaal besuchte.148 Grote, ein Patriziersohn aus Deventer, hatte nach einem Studium in Paris und vielleicht auch an anderen Universitäten eine kirchliche Laufbahn als Domherr an St. Martin in Utrecht eingeschlagen. 1374 erlebte er eine Bekehrung. Durch die Lektüre mystischer Schriften – u.a. von Hugo von St. Viktor, Heinrich Seuse, Meister Eckhart und Ruusbroec – entdeckte er für sich das Ideal der Innerlichkeit, das er aber nicht im Sinn der Weltflucht verstand. Auf einem Mittelweg zwischen weltlicher und klösterlicher Lebensweise wollten Grote und Gleichgesinnte, die sich um ihn scharten, inmitten der pulsierenden Welt der niederländischen Städte ein Leben nach dem Vorbild der Wüstenmönche des Altertums führen. Dabei ging es ihnen nicht um das Beschreiten eines individuellen mystischen Vervollkommnungsweges, sondern um eine Erneuerung der Kirche nach apostolischem Vorbild. Grote selbst ließ sich zum Diakon weihen und wirkte bis zu seinem frühen Tod an der Pest in den südlichen Niederlanden als Bußprediger. Institutionelle Gestalt gewann die „neue Frömmigkeit“ Grotes in drei Gründungen: den „Brüdern vom gemeinsamen Leben“, den „Schwestern vom gemeinsamen Leben“ und der Windesheimer Kongregation. Während die Schwesternhäuser ähnlich strukturiert waren wie Beginenhäuser, lebten in den Bruderhäusern Geistliche und Laien in einer frommen Wohngemeinschaft zusam148 Brouette, Devotio moderna; Weiler, Geert Grote und seine Stiftungen; Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, IV 150–165; McGinn, Die Mystik im Abendland, V 166–211.

1. Die Niederlande

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men; häufig widmeten sie sich dem Kopieren von Büchern und der Unterrichtung von Schulkindern. Mit der Gründung des Augustiner-Chorherrenstifts Windesheim bei Zwolle, das bald Zentrum einer Kongregation ähnlich ausgerichteter Männer- wie Frauenklöster wurde, entstand eine klösterlich organisierte Spielart der Devotio moderna; 1412 schloss sich ihr auch Ruusbroecs Gründung Groenendaal an. Die Devotio moderna verbreitete sich rasch in den gesamten Niederlanden und strahlte auch nach Deutschland und Nordfrankreich aus; für die Belebung der Volksfrömmigkeit hat sie eine nicht zu unterschätzende Wirkung gehabt. Typisch für die Frömmigkeit der Devoten war ein streng geregeltes geistliches Leben mit regelmäßiger Gewissenserforschung, erbaulicher Lektüre und Meditation; viele Fromme führten geistliche Tagebücher und legten Sammlungen von Zitaten und Auszügen aus Erbauungsbüchern an. Auch wenn es sich bei der Devotio moderna nicht um eine dezidiert mystische Bewegung wie die der Gottesfreunde handelte, so lasen und verbreiteten die Devoten doch auch mystische Schriften, und ihr Frömmigkeitsstil war mystisch geprägt. Allerdings handelte es sich um „eine Mystik en détail: man hatte nur ‚einen Einschlag bekommen‘, ‚ein Fünklein empfangen‘, und erlebte in dem engen, stillen, bescheidenen Kreis die Entrückung in vertrautem geistlichem Umgang in Briefwechsel und Selbstbetrachtung“.149 Die berühmteste der zahlreichen Erbauungsschriften, die im Umkreis der Devotio moderna neu verfasst wurden, ist das lateinische Andachtsbuch „Von der Nachfolge Christi“ („De imitatione Christi“).150 Zu149 150

Huizinga, Herbst des Mittelalters, 323. Bodemann/Staubach, Aus dem Winkel in die Welt; Ruh, IV 186– 205; McGinn, Die Mystik im Abendland, V 172–185. Von den zahl-

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IX. Europäische Mystik im Spätmittelalter

sammengestellt wurde es wahrscheinlich von dem Augustiner-Chorherrn Thomas von Kempen (ca. 1380–1471) im zur Windesheimer Kongregation gehörigen Kloster Agnetenberg bei Zwolle. Das Werk gliedert sich in vier „Bücher“, die ursprünglich selbstständig gewesen sein mögen. Formal handelt es sich um eine thematisch geordnete Sammlung von Sentenzen und Maximen zur Anleitung im frommen Leben, die ursprünglich wohl für Novizen der Windesheimer Klöster gedacht war. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat Thomas von Kempen auf ältere Sammlungen, vielleicht sogar von Geert Grote selbst, zurückgreifen können; spätestens 1427 lag das Ganze fertig vor. Die „Nachfolge Christi“ will zur Verinnerlichung anleiten, zur Überwindung der Welt und des eigenen Ich in einem zurückgezogenen, auf Gott ausgerichteten Leben. Der Gesamttitel ist zugleich der Titel des ersten „Buches“ und das geistliche Programm der ganzen Schrift. Nachfolge, wörtlich: Nachahmung des irdischen Lebens Jesu ist der Weg zur wahren Frömmigkeit. Dabei geht es mehr um die Gesinnung und innere Haltung als um die praktischen Taten: Jesus ist für die Frommen das verbindliche Vorbild der Demut, des Gehorsams, der Selbstüberwindung und des freiwillig auf sich genommenen Leidens. Inhaltlich entspricht der Weg der Nachfolge Christi der vorbereitenden Reinigung auf dem mystischen Aufstiegsweg. Diese steht hier stark im Vordergrund, wenngleich sich auch Hinweise auf die folgenden Stufen der göttlichen Erleuchtung und der Einung mit Gott finden. Doch die unio mystica ist nicht das Ziel, zu dem das Buch hinführen will. Dieses ist, bescheidener, vielmehr Friede und Freiheit des Geistes. Die Einung reichen deutschen Übersetzungen sei hier nur genannt: Thomas von Kempen, Das Buch von der Nachfolge Christi (Sailer/Kröber).

2. Italien

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oder Gottesschau wird zwar häufig erwähnt, erscheint aber nicht wirklich als realistische Möglichkeit in diesem Leben, sondern ist in ihrer Vollgestalt der ewigen Seligkeit vorbehalten. Tatsächlich erlebt der Fromme das Einswerden mit Christus vor allem in der Feier der Eucharistie. Diesem Thema ist das ganze vierte Buch der „Nachfolge Christi“ gewidmet. Die „Mystik“ der „Nachfolge Christi“, wenn von einer solchen überhaupt die Rede sein kann, ist also klar kirchlich rückgebunden. Die „Nachfolge Christi“ wurde und wird viel gelesen. Sie ist das erfolgreichste Buch der christlichen Frömmigkeitsliteratur, angeblich sogar das nach der Bibel am weitesten verbreitete Buch überhaupt. Auch im Protestantismus wurde sie hoch geschätzt; allerdings ließ man hier regelmäßig das sakramentenfromme vierte Buch fort.

2. Italien Im Hoch- und Spätmittelalter war Oberitalien ein Zentrum mystischer Frömmigkeit in Europa. Zahlreiche mystisch begabte Frauen, aber auch Männer lebten hier, viele sind in der katholischen Kirche als Selige oder Heilige kanonisiert worden. Die meisten sind heute indessen außerhalb ihrer engeren Heimat kaum bekannt. Ein wichtiger institutioneller Rückhalt der italienischen Frauenmystik war die dominikanische Ordensgemeinschaft. Auch wenn das mystische Frömmigkeitsleben der süddeutschen Dominikanerinnen in dieser Intensität eine Besonderheit war, gab es doch auch in Italien im Zweiten Orden des Dominikus zahlreiche Mystikerinnen und Visionärinnen.151 Daneben 151

Dinzelbacher, Christliche Mystik, 253–256.

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IX. Europäische Mystik im Spätmittelalter

war hier auch der sogenannte Dritte Orden stark vertreten: Frauen, die als Büßerinnen im Geist der dominikanischen Gemeinschaft, aber nicht in Klöstern klausuriert, lebten. Aus diesem Milieu gingen im 13. und frühen 14. Jahrhundert ebenfalls einige Mystikerinnen hervor, darunter die bedeutendste italienische Mystikerin überhaupt: Katharina von Siena152 (1347– 1380). Über ihr Leben sind wir durch die von ihrem Beichtvater Raimund von Capua, dem späteren Generalmagister des Dominikanerordens, verfasste Vita unterrichtet. Einblicke in ihr religiöses Denken gibt das von ihr verfasste Buch, meist „Der Dialog“ („Il dialogo“) genannt, das eines der meistgelesenen mystischen Werke wurde. Aus Katharinas ausgedehnter Korrespondenz sind rund 380 Briefe überliefert. Katharina war das 24. Kind eines vermögenden Stofffärbers aus Siena. Im siebten Lebensjahr hatte sie ihre erste Christus-Vision, der bald weitere Visionen folgen sollten. Bereits als Kind führte sie in ihrem Elternhaus ein zurückgezogenes religiöses Leben und legte ein Jungfräulichkeitsgelübde ab. Um das zwanzigste Lebensjahr herum schloss Katharina sich der dem Dominikanerorden verbundenen Büßerinnengemeinschaft der „Mantellaten“ an, die sonst eigentlich nur Witwen aufnahm. Wie viele Mystikerinnen praktizierte sie eine strenge Askese. Häufig verzichtete sie auf Nahrung, und am Ende ihres Lebens scheint sie sich geradezu zu Tode gehungert zu haben. Eine Reihe spektakulärer Visionen sind von ihr bezeugt: 1367 erlebte sie in einer Vision die geistliche Vermählung mit Christus, der ihr einen nur für sie sichtbaren Ehering ansteckte, in einer weiteren Visionen drei Jahre später tauschte Christus sein Herz mit dem ih152 McGinn, Die Mystik im Abendland, IV 329–412; Gnädinger, Caterina von Siena; Muessig/Ferzoco/Kienzle, A Companion to Catherine of Siena.

2. Italien

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ren. 1375 erfuhr Katharina auf einer Reise in Pisa vor einem Kruzifix eine innerliche, nach außen nicht sichtbare, für sie selbst aber schmerzhaft spürbare Stigmatisation. Katharina führte kein zurückgezogenes Leben der Beschauung, sondern wusste sich von Gott in die Öffentlichkeit gestellt. Seit 1374 sammelte sich um sie ein Kreis von Laien und Klerikern, eine sogenannte „Familie“, wie wir sie schon bei Angela von Foligno kennengelernt hatten. Wiederholt schaltete sie sich persönlich und brieflich in die politischen Auseinandersetzungen zwischen den oberitalienischen Stadtstaaten ein und suchte Frieden zu stiften. Doch war ihr auch die Behebung kirchlicher Missstände ein persönliches Anliegen. 1376 reiste sie an die päpstliche Kurie nach Avignon, um in der militärischen Auseinandersetzung zwischen der Stadt Florenz und Papst Gregor IX. zu vermitteln und den Papst zu bewegen, nach fast siebzig Jahren die päpstliche Residenz von Avignon nach Rom zurückzuverlegen – ein Anliegen, in dem sie mit der drei Jahre zuvor verstorbenen Mystikerin und Prophetin Birgitta von Schweden153 (1303–1373) übereinstimmte. Wirklich kehrte Gregor noch im selben Jahr in die Heilige Stadt zurück, und 1378 kam ein Friedensschluss mit Florenz zustande. 1380 starb Katharina in Rom. Mit ihrem „Dialog“ und ihren Briefen ist Katharina, die selbst nicht schreiben konnte und sich der Dienste mehrerer Sekretäre bediente, die erste bedeutende Schriftstellerin in der italienischen Volkssprache. Auffallend ist der große Reichtum an Vergleichen, Metaphern und Symbolen in ihrer mystischen Lehre. Ein zentrales Bild ist das von Christus als der Brücke zu Gott und zur himmlischen Seligkeit; damit beschreibt sie zugleich den mystischen Aufstiegsweg 153

McGinn, Die Mystik im Abendland, V 322–328.

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IX. Europäische Mystik im Spätmittelalter

mit seinen verschiedenen Stufen. Eine noch wichtigere Rolle in ihrer Bildersprache spielt das erlösende Blut Christi; Bernard McGinn hat Katharina sogar geradezu eine „Apostelin des Blutes Christi“ genannt.154 Dieses bestimmt für sie das ganze Christenleben. Schon bei der Taufe, vor allem aber im Empfang der Eucharistie, doch auch mit jedem guten Werk badet die Seele im Blut Christi. Die mystische Ekstase kann Katharina als ein Sich-Betrinken mit Christi Blut schildern, das Blut ist aber auch das Hochzeitskleid der Seele bei der bräutlichen Einung mit Gott. In immer neuen Metaphern äußert sich Katharinas Blutmystik: „Blut ist Leben, Blut ist Speise und Trank, Blut ist Bad, Blut ist Band und Mörtel, Blut ist Lösegeld, Blut ist Schlüssel, Blut ist Kleid, Blut ist Tadel, Blut ist Zeugnis, Blut ist sogar Gnade, und noch vieles mehr“.155 1461 wurde Katharina von Siena heiliggesprochen, die katholische Kirche verehrt sie seit 1970 als Kirchenlehrerin und seit 1999 als Mitpatronin Europas.

3. England Im mittelalterlichen England erlebte die Mystik ihr „Goldenes Zeitalter“, wie man gerne sagt, ebenfalls im 14. Jahrhundert.156 Erst ab etwa 1340, ein Jahrhundert später als auf dem europäischen Kontinent, setzte hier die Produktion mystischer Schriften in der Volkssprache ein. Inwieweit die englische Mystik auch inhaltlich als eine Sonderentwicklung anzusehen ist, ist in der Forschung umstritten. 154 155 156

McGinn, Catherine of Siena. McGinn, Die Mystik im Abendland, IV 350. Knowles, The English Mystical Tradition; Fanous/Gillespie, The Cambridge Companion to Medieval English Mysticism.

3. England

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Der zu seiner Zeit meistgelesene englische Mystiker und der einzige, der – dank seiner lateinischen Schriften – auch im übrigen Europa eine nennenswerte Rezeption erfuhr, war Richard Rolle157 (ca. 1300–1349). Ein Universitätsstudium in Oxford brach er ab und entschied sich für ein Leben als Einsiedler in seiner Heimat Yorkshire. Rolle scheint an wechselnden Orten gelebt zu haben, zuletzt in Hampole bei Doncaster. In fortgeschrittenem Alter diente er Ordensfrauen als Seelenführer. Von Rolle sind über zwanzig Schriften teils in lateinischer, teils in mittelenglischer Sprache überliefert. Sein vielleicht wichtigstes Werk „Der Liebesbrand“ („Incendium Amoris“) ist ein praktisches Anleitungsbuch für den mystischen Weg zur Gottesschau. Auffällig ist, dass Rolle hier durchgehend seine eigenen geistlichen Erfahrungen mitteilte. Er tritt so als lebendiges Exempel eines Menschen auf dem geistlichen Weg vor seine Leser – so wie Seuse in seiner „Vita“. Im Zentrum des in leidenschaftlichem Stil verfassten Werkes steht die Liebe zu Christus. Zu ihr will Rolle seine Leser führen. Dabei stellt er die wahre, rettende Liebe, die zu Gott führt, der falschen, fleischlichen Liebe zur Welt gegenüber, die zum Teufel führt. Der Weg, auf dem die Einung mit Gott erlangt wird, ist ein Weg der Liebe, und seine Stufen sind Stufen der Liebe: die „unüberwindliche Liebe“, die in der allgemeinen Kirchenfrömmigkeit gelebt wird, die „unnennbare Liebe“ im Ordensleben und die „einzigartige Liebe“ der Kontemplativen. Die Verbindung der Stufen mit verschiedenen Lebensweisen deutet bereits darauf hin, dass nach Rolle nur wenige Menschen, nämlich allein die Eremiten, das Ziel des mystischen Weges erreichen können. 157 Watson, Richard Rolle; McGinn, Die Mystik im Abendland, IV 563–615.

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IX. Europäische Mystik im Spätmittelalter

Dieses Ziel kann er traditionell als Kontemplation, Entrückung oder Einswerden mit Gott umschreiben. Für ihn wichtiger sind indessen die drei Gaben, die der Mensch im Aufstieg zu Gott empfängt und die er unmittelbar mit seinen körperlichen Sinnen wahrnehmen kann. Diese drei Erscheinungsformen der göttlichen Gnade sind ein innerliches Hitzeempfinden – darauf spielt der „Liebesbrand“ im Titel an –, ein Schmecken göttlicher Süßigkeit und ein Hören des himmlischen Gesangs. Etwas von diesem himmlischen Gesang lässt ein weiteres lateinisches Werk Rolles erahnen: das „Melos Amoris“ („Der Klang der Liebe“), das in Serien von Stabreimen verfasst ist. Neben den Schriften von Richard Rolle wurden in England vor allem die Bücher des aus den East Midlands stammenden Augustiner-Chorherrn Walter Hilton158 (ca. 1340–1396) gelesen. Nach einem JuraStudium in Cambridge entschied er sich für ein zurückgezogenes geistliches Leben und verbrachte mehrere Jahre wie Rolle als Einsiedler, bevor er 1386 in das Kanonikerstift von Thurgarton eintrat. Hilton schrieb mehrere Bücher in lateinischer und englischer Sprache, darunter „Die Leiter der Vollkommenheit“ („The Scale of Perfection“),159 ein bis ins 17. Jahrhundert hinein viel gelesenes Handbuch des geistlichen Lebens. Dabei zeigt sich Hilton, wie im Grunde alle englischen Mystiker, weniger lehrhaft als praktischmystagogisch orientiert. Im Zentrum seines Denkens steht die Wiedergewinnung der verlorenen Gottebenbildlichkeit der Seele; auf dem mystischen Weg wird der Mensch nach und nach wieder in das Ebenbild Gottes verwandelt. Dieses Ziel ist ihm zufolge nicht nur für einige wenige, sondern für alle Christen er158 Hopf, Der Weg zur christlichen Vollkommenheit; McGinn, Die Mystik im Abendland, V 617–657. 159 Deutsche Übersetzung: Hilton, Glaube und Erfahrung.

3. England

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reichbar. Gegenüber sinnlich wahrnehmbaren Empfindungen der göttlichen Gnade, wie sie Rolle für sich in Anspruch nahm, aber auch gegenüber sonstigen außerordentlichen Phänomenen wie Visionen und Auditionen zeigte Hilton sich reserviert; ohnehin müssten diese sich stets dem Urteil der Kirche und ihres Lehramts unterwerfen. Zur gleichen Zeit und in der gleichen Region wie Walter Hilton lebte der unbekannte Verfasser der „Wolke des Nichtwissens“ („The Cloud of Unknowing“) und einiger weiterer Schriften. Im Mittelalter fanden Rolle und Hilton mehr Leser, doch heute ist die „Wolke“ das wohl bekannteste Produkt der älteren englischen Mystik.160 Der Verfasser war ein Priester und Seelenführer. Sein Buch hatte er ursprünglich als Anleitung für einen seiner Schüler, einen 24-jährigen Einsiedler, verfasst, es richtete sich aber darüber hinaus an alle Menschen auf dem Weg der geistlichen Vervollkommnung. Es handelt sich also um ein weiteres praktisches Handbuch für das mystische Leben – doch, wie schon der Titel verrät, mit einem starken apophatischen, also die Nichterkennbarkeit Gottes betonenden Einschlag: Die „Wolke“ – das biblische Vorbild ist die Wolke über dem Gottesberg Sinai aus Ex 24,15–18 – hatte schon Dionysius Areopagita als wichtiges Symbol gedient. Der Weg zur Gottesbegegnung führt über die unbedingte Liebe zu Gott, über die ungeteilte Ausrichtung des Willens und der Aufmerksamkeit auf Gott. Dazu ist es erforderlich, alles Geschaffene zu vergessen, mithin auch alle eigenen Gedanken und Willensregungen und selbst das eigene Ich preiszugeben – bildlich gesprochen: zwischen sich und das Geschaffe160 Das Buch von der mystischen Kontemplation (Riehle). Vgl. McGinn, Die Mystik im Abendland, V 657–702; Steinmetz, Mystische Erfahrung.

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IX. Europäische Mystik im Spätmittelalter

ne eine „Wolke des Vergessens“ zu legen. Sobald der Mensch durch das Lassen der geschaffenen Dinge leer geworden ist, tritt er in eine andere Wolke ein, die „Wolke des Nichtwissens“, die zwischen ihm und Gott liegt. Die Metapher steht für die wesentliche Unerkennbarkeit Gottes. Doch der Mensch sich nach Gott ausstreckt und alle seine Seelenkräfte in der Liebe in einem „nackten Ausgerichtetsein“ Gott zuwendet, dann kann er im liebenden Nichtwissen dennoch zur mystischen Berührung mit Gott kommen, die freilich ein unverfügbares Geschenk der göttlichen Gnade und mit menschlichen Worten nicht zu beschreiben ist: „Vielleicht sendet Er dann gelegentlich einen Strahl geistigen Lichtes aus, der diese Wolke durchbricht, die zwischen dir und Ihm ist, um dir etwas von seinen Geheimnissen zu zeigen, von denen der Mensch weder sprechen darf noch kann. Dann spürst du, wie das Feuer Seiner Liebe dein Herz entflammt, stärker als ich es dir jetzt sagen kann, darf oder will. Denn von dem Werk zu sprechen, das allein Gott zukommt, darf ich mit meiner stammelnden irdischen Zunge nicht wagen, und, um es kurz zu sagen, ich täte es nicht, auch wenn ich es dürfte.“161 Wir haben es somit hier wie bei Thomas Gallus (s. Kap. V.2c) mit einem affektiven Dionysianismus zu tun , der areopagitische Mystik und westliche Liebestheologie miteinander verbindet. Wie die „Wolke des Nichtwissens“, so finden in jüngerer Zeit auch die Offenbarungen der Juliana von Norwich (Julian of Norwich, ca. 1342 – nach 1416) starkes Interesse.162 Über ihre Biographie ist kaum 161 162

Das Buch von der mystischen Kontemplation, 83. Herbert McAvoy, A Companion to Julian of Norwich; McGinn, Die Mystik im Abendland, V 704–777.

3. England

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etwas bekannt. Die entscheidende Episode ihres geistlichen Lebens fiel in das Jahr 1373, als sie schwer erkrankte. Der herbeigerufene Priester hielt ihr ein Kruzifix vor. Daraufhin erlebte Juliana in den folgenden Stunden eine Serie von 16 Visionen (showings), beginnend mit einer ausgedehnten Vision des Leidens Christi. Es folgten Himmelsvisionen und Erscheinungen von Heiligen, Wortoffenbarungen (Auditionen) und innere Eingebungen. Nach dem Aufhören der Visionen war sie geheilt, fortan lebte sie als sogenannte Reklusin in einer an die Kirche St. Julian in Norwich angebauten Zelle. Juliana hat ihre Offenbarungen aufgezeichnet. Eine erste, kurze Fassung dürfte unmittelbar nach den Erlebnissen selbst entstanden sein, eine zweite, längere hat sie zwanzig Jahre später als Ergebnis ausgiebiger Meditation und Reflexion des Erlebten verfasst.163 Bemerkenswert erscheint vor allem Julianas Überzeugung von der Universalität der Liebe Gottes, die sie an eine endgültige Versöhnung aller Menschen im Jenseits glauben ließ. Diese optimistische Erwartung brachte sie auf die Formel: „Alles wird gut“ („all shall be well“). Das moderne Interesse an Juliana ist indessen eher darin begründet, dass sie in den Kapiteln 58 bis 61 ihres Offenbarungsbuches mehrfach von Gott als nährender, tröstender oder liebender Mutter spricht, um seine Fürsorge und Liebe gegenüber den Menschen auszudrücken.

163

Julian of Norwich, Offenbarungen von göttlicher Liebe.

X. Die katholische Mystik in der Frühen Neuzeit

Die im 12. Jahrhundert einsetzende „neue“ Mystik des lateinischen Westens erlebte ihre produktive Hochphase im 13. und 14. Jahrhundert und ihre größte Ausstrahlung im 15. Jahrhundert. Auch noch jenseits der Epochenschwelle zur Frühen Neuzeit setzte sich diese westliche Mystik fort, bis sie seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert in die Krise geriet. Bei aller Kontinuität bedeutete das 16. Jahrhundert doch auch eine Zäsur. Mit der durch die Reformation und die Katholische Reform bewirkten Transformation des abendländischen Christentums änderten sich die Rahmenbedingungen mystischer Frömmigkeit. Die religiöse Individualisierung, als deren Vehikel die abendländische Mystik seit dem Hochmittelalter gedient hatte, vollzog sich nun beschleunigt mit anderen Mitteln. Im Gegenüber der christlichen Konfessionen sah sich Mystik mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Der neuzeitliche Katholizismus konnte problemloser an die mittelalterliche Mystik anknüpfen als der Protestantismus. Doch auch an ihm gingen die religiösen Umwälzungen des 16. Jahrhunderts nicht spurlos vorüber. Es wäre ein Irrtum zu meinen, dass die römisch-katholische Kirche mit der mittelalterlichen Kirche identisch wäre. Tatsächlich ist der Katholizismus der Neuzeit das Ergebnis von Wandlungsprozessen, die man unter dem Begriff der „katholischen Reform“ zusammenfasst und die historisch vor allem mit dem Konzil von Trient (1545–1563) verbunden sind.

1. Die Mystik im Zeichen der Katholischen Reform

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1. Die Mystik im Zeichen der Katholischen Reform Die wichtigsten Impulse für die katholische Mystik der Frühen Neuzeit kamen aus Spanien, wo bereits vor Beginn des Reformationszeitalters eine religiöse und gesellschaftliche Erneuerungsdynamik eingesetzt hatte. 1492 war die Reconquista, die Rückeroberung der iberischen Halbinsel von den Mauren, zum Abschluss gekommen. Seitdem betrieben die katholischen Herrscher Spaniens die äußere Neuformierung des Christentums, begleitet von harten Zwangsmaßnahmen gegen Muslime, Juden und christliche Dissidenten aller Art. Dazu kamen innere Erneuerungsbestrebungen. Der Humanismus fasste in Spanien Fuß, und es gab verbreitete Tendenzen in Richtung einer verinnerlichten Religiosität. In diesem Zusammenhang florierte auch die Mystik – wenngleich zunächst in einer von den kirchlichen Autoritäten beargwöhnten Form. Die sogenannten Alumbrados164 („Erleuchtete“) beschrieben einen mystischen Vervollkommnungsweg, in dem die innere Erleuchtung durch Gott und das sogenannte innere Gebet eine zentrale Rolle spielten; die unio mystica war dabei nicht durch menschliche Aktivität, sondern nur durch Passivität der Seele gegenüber dem Wirken Gottes erreichbar. In den Augen ihrer Kritiker leistete die Bewegung damit einem für das sittliche Leben wie für die kirchliche Heilsvermittlung gefährlichen Quietismus Vorschub; seit 1525 wurde sie von der Inquisition verfolgt. Die eigentlich wirkungsmächtige, kirchlich anerkannte spanische Mystik verdankt sich dem Zusammentreffen dieser quietistisch-mystischen Tendenzen mit der im Zuge der Katholischen Reform erfolgenden Erneuerung des Mönchtums. Dazu kam es in Spanien im Karmelitenorden, seine Protagonisten waren Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz. 164

Hamilton, Heresy and Mysticism.

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X. Die katholische Mystik in der Frühen Neuzeit

Teresa von Ávila165 (1515–1582) trat 1535, von Furcht vor der ewigen Verdammnis bewegt, gegen den Willen ihres Vaters in das Karmelitinnenkloster ihrer Heimatstadt ein, ohne dort jedoch die erhoffte Seelenruhe zu finden. Mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung drei Jahre später bahnte sich eine Wende an. Als Genesende las Teresa „Das dritte geistliche ABC“ („Tercer abecedario espiritual“) des Franziskaners und prominenten Alumbrados Francisco de Osuna (ca. 1492 – ca. 1541). Das Buch bestärkte sie in der Praxis des „inneren Gebets“, das nicht mit dem mantraartigen Jesus- oder Herzensgebet der Ostkirche vergleichbar, sondern so etwas wie eine innerliche Sammlung und Vergegenwärtigung des Menschen Jesus war, die Teresa mit dem schlichten, vertrauten Sprechen mit einem Freund verglich. Doch noch mehr als anderthalb Jahrzehnte blieb Teresa angefochten und auf der Suche, gab zwischenzeitlich auch das innere Gebet wieder auf. Erst in der Fastenzeit des Jahres 1554 erfuhr sie die ersehnte Befreiung, als sie bei der Betrachtung einer Figur Christi als Schmerzensmann vom Empfinden der Gegenwart und Liebe Gottes überwältigt wurde. Mit dieser Erfahrung begann ein intensives mystisches Leben mit häufigen Christusvisionen und Entrückungen, das Teresa zunächst ängstigte; erst das gute Zureden zweier Seelenführer konnte sie über die Echtheit und Legitimität ihrer Visionen beruhigen. Im Zentrum ihres Frömmigkeitslebens stand gleichwohl weiterhin das innere Gebet als freundschaftliches Gespräch mit Christus. Ihr Wunsch nach einem konsequenten Leben der Innerlichkeit und des Gebets, das ihr im eigenen Konvent mit seiner Größe und seinen laxen Sitten unmöglich erschien, ließ Teresa zur Ordensreformerin werden. Mit der Unterstützung einflussreicher Freun165

Dobhan, Gott, Mensch, Welt; Koldau, Teresa von Ávila.

1. Die Mystik im Zeichen der Katholischen Reform

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de und der Erlaubnis des Papstes gründete sie 1562 gemeinsam mit einigen Mitschwestern ein eigenes Kloster in Ávila. Bald folgten weitere Gründungen: Insgesamt gehen 17 reformierte Frauenklöster auf Teresas Wirken zurück, dazu ab 1568 auch 16 reformierte Männerklöster, bei deren Gründung sie mit dem Karmelitermönch Johannes von Kreuz zusammenwirkte. Seitens des Stammordens wurden diese Bemühungen mit Argwohn beobachtet und zeitweise massiv behindert. 1571 wurde Teresa zur Priorin ihres ursprünglichen Konvents in Ávila ernannt und führte auch dort die Reform ein. Die Angehörigen der Reformklöster bemühten sich um eine strenge Observanz der Ordensregel; sie nannten sich selbst die „Unbeschuhten Karmelitinnen bzw. Karmeliten“, da sie als Zeichen des apostolischen Lebens keine festen Schuhe, sondern Sandalen aus Hanf trugen. Seit 1593 bilden diese Gemeinschaften des sogenannten Teresianischen Karmels selbstständige Orden. Für die Geschichte der Mystik wichtig wurden die zahlreichen Schriften und Briefe Teresas, die sie in den letzten beiden Lebensjahrzehnten verfasste.166 In ihrer Autobiographie, dem „Buch meines Lebens“ („Libro de la vida“) verband sie den Bericht über die eigene Lebensgeschichte mit einer mystagogischen Anleitung zu einem Leben der Innerlichkeit. Im „Weg der Vollkommenheit“ (Camino de perfección) fasste sie auf Wunsch ihrer Mitschwestern ihre Lehren über das innere Gebet und den mystischen Weg zusammen. Als das Hauptwerk Teresas kann „Wohnungen der inneren Burg“ („Moradas del castillo interior“; auch: „Die Seelenburg“) gelten, worin sie die Seele im Bild einer Burg mit sieben Gemächern beschreibt, die nacheinander zu durchschreiten sind, um dem in ihrer Mitte wohnenden Gott zu begegnen. 166

Teresa von Ávila, Gesammelte Werke.

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X. Die katholische Mystik in der Frühen Neuzeit

Im Zentrum von Teresas Mystik steht das innere Gebet. Die asketische Härte, die uns im Mittelalter so häufig begegnete, ist ihr fremd, ebenso aber auch die Vorstellungen vom Lassen der Dinge und vom Leerwerden und „Entbilden“ der Seele. Allein das innere Gebet bringt den Menschen zu Gott – ein Gebet, das keinen festen Anforderungen unterliegt und keine vorgegebenen Regeln und Techniken kennt, sondern nichts anderes ist als das zwanglose Gespräch und der vertraute Umgang mit Jesus. Freilich hat auch dieses innere Gebet seine Stufen. In der „Seelenburg“ unterscheidet Teresa sieben, sonst häufig vier derartige Stufen. Immer geht es dabei um den Fortschritt von aktiven zu passiven, allein von Gottes Gnade getragenen Gebetszuständen. In ihrer Autobiographie bedient sich Teresa des Bildes von vier verschiedenen Arten der Bewässerung eines Gartens:167 Die erste Stufe, vergleichbar dem anstrengenden Schöpfen mit einem Eimer aus dem Brunnen, ist das aktive diskursive Gebet. Die zweite Stufe entspricht dem leichter zu bedienenden mechanischen Schöpfrad: Sie besteht im aktiven affektiven Gebet, in dem die Sinne gesammelt sind und das auch „Gebet der Ruhe“ genannt werden kann. Auf der dritten Stufe, veranschaulicht durch die noch komfortablere Bewässerung aus einem Fluss oder Bach, wird ein Zustand erreicht, der als passives affektives Gebet charakterisiert werden kann, in dem der menschliche Wille und die übrigen Seelenkräfte in Übereinstimmung mit Gott stehen. Dem schließt sich, der für den Gärtner gänzlich mühelosen Bewässerung durch den Regen vergleichbar, auf der vierten und höchsten Stufe das „Gebet der Vereinigung“ an, in dem die Seele in völliger Passivität und Hingabe die liebende Vereinigung mit Gott erlangt. Teresa kennt die außerordentlichen Erfahrun167

Ebd., I 181–318.

1. Die Mystik im Zeichen der Katholischen Reform

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gen auf dem mystischen Weg wie Visionen, Entrückungen und Levitationen (Schweben) und beschreibt freimütig eigene Erlebnisse, hält diese jedoch für sekundär gegenüber der Vervollkommnung der Freundschaft zu Gott und dem Wachsen in der Liebe zu ihm und zum Nächsten, das durch die Hingabe an die vorgängige Liebe Gottes erreicht wird. Teresas Leitideen der Gottesfreundschaft und des inneren Gebets und ihre Betonung der Passivität der Seele auf den höheren Stufen des mystischen Weges waren in der erregten religiösen Atmosphäre im Spanien des 16. Jahrhunderts nicht ohne Brisanz, wurden sie doch ganz ähnlich auch von den Alumbrados vertreten. Vielleicht deshalb hat sich Teresa ausdrücklich zum Gehorsam gegenüber der Kirche bekannt und mit Nachdruck die verschiedenen Erscheinungsformen einer sakramental-institutionellen Frömmigkeit empfohlen. 1622 wurde Teresa heiliggesprochen, 1970 zusammen mit Katharina von Siena zur Kirchenlehrerin erhoben. Eine Generation jünger als Teresa von Ávila, wurde Johannes vom Kreuz (1542–1591) ihr wichtigster Mitarbeiter bei der Reform des Karmelitenordens und Mitbegründer der spanischen Karmelitenmystik.168 1563 trat Johannes, der sich nach vergeblichen Versuchen, in verschiedenen Handwerken Fuß zu fassen, als Krankenpfleger bewährt hatte, in Medina del Campo in den dortigen Karmel ein. In Salamanca studierte er Theologie und empfing die Priesterweihe. 1567 lernte er Teresa kennen, die in Medina del Campo ihr zweites Reformkloster gründete; im Jahr darauf gründete er mit zwei Mitbrüdern in Duruelo seinerseits ein reformiertes Karmelitenkloster. Als Teresa 1571 die Leitung ihres alten Klosters in Ávila über168

Dobhan/Körner, Johannes vom Kreuz. – Schriften: Johannes vom Kreuz, Sämtliche Werke.

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X. Die katholische Mystik in der Frühen Neuzeit

nahm, rief sie Johannes als Beichtvater dorthin. 1577 spitzte sich die Konfrontation zwischen den Unbeschuhten Karmeliten und dem Stammorden zu. Johannes wurde festgesetzt und in Toledo in Klosterhaft gehalten, aus der er erst neun Monate später fliehen konnte. Die Zeit der Gefangenschaft war von entscheidender Bedeutung für seine Frömmigkeit. Hier verfasste er mehrere mystische Dichtungen in spanischer Sprache, deren bekannteste „Die dunkle Nacht der Seele“ („La noche oscura del alma“) ist. In den folgenden Jahren wirkte Johannes, der, anders als Teresa, keine leitende Position in seinem Reformorden errang, an verschiedenen Orten, darunter von 1582 bis 1588 als Prior des Karmels in Granada. In dieser Zeit verfasste er ausführliche Kommentare zur „Dunklen Nacht der Seele“ und zu seinen anderen geistlichen Gedichten, worin er seine mystische Lehre entfaltete. 1726 wurde Johannes heiliggesprochen, 1926 als Kirchenlehrer anerkannt. Der Titel seines Hauptwerks lässt erkennen, dass Johannes, anders als Teresa, stark vom Neuplatonismus und seinen Traditionen einer negativen Theologie beeinflusst war; doch auch ein möglicher Einfluss der mystischen Dichtungen islamischer Sufis wird diskutiert. Dagegen verbindet ihn die Betonung der Passivität der Seele auf der Höhe des mystischen Weges mit seiner Ordensschwester. Während Teresa die Stufen des mystischen Aufstiegs als verschiedene Ausprägungen des Gebets interpretiert, spricht Johannes von vier verschiedenen Arten der „dunklen Nacht“. Zusammen beschreiben sie einen Stufenweg der fortschreitenden Lösung aus allen Bindungen an irdische Dinge. Dabei sind die beiden ersten Stufen noch durch die Aktivität der Seele bestimmt: Die aktive Nacht der Sinne und die aktive Nacht des Geistes beschreiben die Tätigkeiten der aktiven Reinigung und Selbstentäußerung der Seele. Mit der dritten

1. Die Mystik im Zeichen der Katholischen Reform

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Stufe, der passiven Nacht der Sinne, beginnt das kontemplative Leben, in dem die Seele ohne eigenes Bemühen rein passiv Gottes Gnade an sich wirken lässt. Mit der vollständigen Ablösung der Sinne vom Irdisch-Geschöpflichen tritt sie in den undurchdringlichen, dunklen Abgrund des göttlichen Mysteriums ein. Auf der vierten und höchsten Stufe, der passiven Nacht des Geistes, die zu erreichen aber nur wenigen gegeben ist, wird die Seele mit der Erfahrung des Nichts konfrontiert, durch die sie im „nackten Glauben“ zur unio mystica gelangt. Neben den Orden waren es vor allem Bischöfe, die die Erneuerung der römischen Kirche im Sinn der katholischen Reform betrieben. Auch in diesem Kontext konnte mystische Frömmigkeit eine Aufgabe erfüllen. Das zeigt sich besonders am Wirken des Genfer Bischof Franz von Sales169 (François de Sales, 1567–1622). Ihm gebührt das Verdienst, eine Mystik für alle propagiert zu haben, eine Form mystisch bestimmter Spiritualität, die von allen Gläubigen auch inmitten des weltlichen Lebens praktiziert werden konnte. Damit setzte er konsequent die Tendenz zur Popularisierung und „Demokratisierung“ der Mystik fort und trug wesentlich zur Formierung der Frömmigkeit des nachtridentinischen Katholizismus bei. Franz von Sales entstammte einer savoyischen Adelsfamilie. Nachdem er in Padua die Rechte studiert hatte, empfing er 1593 die Priesterweihe und wurde Propst des Genfer Domkapitels, das seit 1569 gemeinsam mit dem Bischof nicht mehr in der nunmehr calvinistischen Bischofsstadt, sondern in Annecy residierte. Im Auftrag seines Bischofs betrieb er in den folgenden Jahren die Gegenreformation im Chablais südlich des Genfer Sees und erwies sich dabei als begabter Volksprediger, Seelsorger und Autor. 1599 169

Wehrl, Franz von Sales.

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X. Die katholische Mystik in der Frühen Neuzeit

wurde Franz Bischofs-Koadjutor (Hilfsbischof) und 1602 selbst Fürstbischof von Genf. Als solcher gehörte er zu den großen Bischofspersönlichkeiten, die ihre Diözesen im Geist des Konzils von Trient reformierten und leiteten. Besonders als Seelsorger zeichnete er sich aus. Davon zeugen neben seinen mystisch-erbaulichen Schriften zahlreiche seelsorgerliche Briefe. Vor allem etliche hochgestellte Frauen gehörten zu seinen Beichtkindern, die er auf ihrem religiösen Weg beriet. Mit der Witwe Jeanne Françoise Frémyot de Chantal schloss er eine geistliche Freundschaft; gemeinsam gründeten beide 1610 den Orden des Salesianerinnen. 1665 wurde Franz von Sales heiliggesprochen, 1877 zum Kirchenlehrer ernannt. Für die Geschichte der Mystik wichtig wurden seine beiden Bücher „Philothea“ und „Theotimus“.170 Die „Philothea“ oder „Anleitung zum frommen Leben“ (Introduction à la vie dévote, 1609, Endfassung 1619) ist aus seelsorgerlichen Briefen des Verfassers an die mit ihm weitläufig verschwägerte Louise du Chastel hervorgegangen. In fünf Abschnitten führte das Buch seine Leser auf einen mystischen Heilsweg, der mitten im weltlichen Leben beschritten werden konnte. Dabei spielen der Kampf gegen Sünden und Versuchungen und die Einübung der Tugenden sowie die Selbstprüfung eine große Rolle. Die eigentlich mystische Erfahrung der Vereinigung mit Gott in der Liebe wird dem Menschen aus Gnade geschenkt. Erlangt wird sie vor allem durch das Gebet und den Empfang der Sakramente, wodurch sich die Seele zu Gott erhebt. Franz’ Auffassung vom Gebet ist der Teresas von Ávila nicht unähnlich: er spricht von „geistigem Gebet“ oder „schlichter Hingabe“. Dabei betont er, dass die Haltung einer inneren Einkehr der Seele unbeschadet des Umgangs mit anderen Menschen 170 Franz von Sales, Deutsche Ausgabe der Werke, Bd. 1 (Philothea) und Bd. 3–4 (Theotimus).

2. Der Quietismus und die Krise der Mystik

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und der weltlichen Berufsarbeit eingeübt und durchgehalten werden kann. Ja, die Liebe zu Gott hat sich notwendig immer auch in der Liebe zum Nächsten zu bewähren. Weniger erfolgreich als die „Philothea“ war der „Theotimus“ oder „Abhandlung über die Gottesliebe“ (Traité de l’amour de Dieu, 1616). Auch hier standen das Gebet und die Gottes- und Nächstenliebe im Zentrum. Mit seiner Empfehlung der Verehrung des Herzens Jesu hat der „Theotimus“ in Frankreich zu der dort starken neuzeitlichen Herz-Jesu-Frömmigkeit beigetragen, wie sie sich monumental in der Pariser Kirche Sacré-Cœur manifestiert hat; nicht zufällig war es eine Salesianerin, Margarete Maria Alacoque (1647– 1690), die zur wichtigsten Multiplikatorin dieser katholischen Frömmigkeitsform wurde. 2. Der Quietismus und die Krise der Mystik Mystische Frömmigkeit kann, wie wir sahen, keineswegs pauschal als individualistisch und im Widerspruch zur kirchlichen Institution stehend begriffen werden. Dennoch war es seit dem ausgehenden Mittelalter wiederholt zu Konflikten zwischen Mystikern und den kirchlichen Autoritäten gekommen. Die Brüder und Schwestern vom Freien Geist, Margarete Porete, Meister Eckhart und die spanischen Alumbrados waren kirchlich verurteilt worden. Solche Konflikte ergaben sich immer dort, wo Vertreter einer Wesensmystik die Differenz zwischen Schöpfer und Geschöpf in pantheistischer Weise aufzuheben drohten, und dort, wo das Ideal der Passivität des Menschen und die Überzeugung von der Auslöschung der menschlichen Individualität in der Einung mit Gott zur Abwertung der guten Werke, der kirchlich-sakramentalen Heilsvermittlung oder der Autorität des kirchlichen Lehramts zu führen schien.

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X. Die katholische Mystik in der Frühen Neuzeit

Die romanische Mystik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts hatte mit ihrer Empfehlung des „inneren Gebets“ und ihrer Betonung der menschlichen Passivität auf den höheren Stufen des mystischen Weges Elemente aufgegriffen, die unter diesem Aspekt nicht ohne Brisanz waren. In Weiterführung dieser Elemente entwickelten im 17. Jahrhundert spanische, italienische und französische Mystikerinnen und Mystiker eine Auffassung des religiösen Lebens, die als „Quietismus“ bezeichnet wurde.171 Dabei wurde die völlige Selbstentäußerung und passive Hingabe an Gott als Weg zur unio mystica propagiert; nicht Askese und äußere Frömmigkeitsübungen, sondern das innere Gebet führte zur Vereinigung mit Gott. Besonders wurde auch das bereitwillige Ertragen von Leiden als Weg zur Erfahrung der Gottesnähe betont. Parallelen zum ostkirchlichen Hesychasmus (s. Kap. III.3) sind offensichtlich, doch scheinen keine kausalen Zusammenhänge zu bestehen; vielmehr setzen sich im romanischen Quietismus Tendenzen aus der älteren westlichen Mystik-Tradition fort, wie wir sie bei Margarete Porete und den freien Geistern und bei den Alumbrados fanden – und wie diese, so verfiel auch der romanische Quietismus dem kirchlichen Verdikt. Im Zentrum des Konflikts stand der spanische Priester Miguel de Molinos172 (1628–1696), der in Rom als Seelsorger und Seelenführer wirkte. Berühmt wurde er durch seinen 1675 erstmals auf Spanisch gedruckten „Geistlichen Wegweiser“ („Guía espiritual“), der bald auch ins Italienische („Guida spirituale“), in andere europäische Sprachen und ins Lateinische übersetzt und vielfach nachgedruckt wurde.173 171 172 173

Bendiscioli, Quietismus. Dyckhoff, Finde den Weg. Molinos, Geistiger Wegweiser.

2. Der Quietismus und die Krise der Mystik

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Der „Geistliche Wegweiser“ propagierte einen mystischen Vervollkommnungsweg, der von der aktiven, diskursiven Meditation zum wortlosen inneren Gebet der Ruhe und zur vollkommen passiven Hingabe an Gott unter Aufgabe jedes Eigenwillens führt. Durch die so erreichte innere Einkehr und Ruhe der Seele kommt es im Seelengrund, dem Ort der Anwesenheit Gottes im Menschen, zur liebenden Vereinigung der Seele mit Gott. Obwohl Molinos eigens eine kirchliche Druckerlaubnis eingeholt hatte, wurde sein „Wegweiser“ schon bald von Angehörigen des Jesuitenordens beanstandet. 1685 wurde Molinos verhaftet, 1687 nach einem erzwungenen Widerruf zu lebenslanger Klosterhaft verurteilt. Den Rest seines Lebens verbrachte er als Gefangener in einem römischen Dominikanerkloster. Die Verurteilung von Molinos hatte Signalwirkung. Auch in Frankreich schritten die kirchlichen Autoritäten nun gegen prominente Anhänger eines quietistisch-mystischen Frömmigkeitsideals ein. Hier waren es vor allem Madame Guyon und der Erzbischof von Cambrai, François Fénelon, gegen die kirchliche Sanktionen verhängt wurden. Jeanne Marie Guyon du Chesnoy174 (1648–1717) war durch ihre Erziehung im Kloster und die Lektüre der Schriften von Franz von Sales frühzeitig mit mystischer Frömmigkeit in Berührung gekommen. Nach dem Tod ihres Ehemannes betätigte sie sich zunächst als Erzieherin von calvinistischen Konvertitinnen zum Katholizismus, führte dann aber ein Leben als mystische Schriftstellerin. 1685 veröffentlichte sie ihr Hauptwerk „Kurze und ganz leichte Methode, um zu beten“ (Moyen court et très facile de faire oraison).175 Seit 1686 lebte sie in Paris, wo sie in frommen Adels174 175

Jungclaussen, Suche Gott in Dir. Guyon, Von der Leichtigkeit, Gott zu finden.

216

X. Die katholische Mystik in der Frühen Neuzeit

kreisen verkehrte und sich mit der königlichen Mätresse Madame de Maintenon befreundete. Nachdem sie schon früher wegen ihrer quietistisch-mystischen Lehren und ihrer ostentativen Berufung auf eigene Visionen das Missfallen kirchlicher Autoritäten erweckt hatte, wurde sie 1687, im Jahr des Urteils gegen Molinos, erstmals inhaftiert. Nachdem sie zwischenzeitlich ihren Rückhalt bei Hof verloren hatte, trat 1694 der einflussreiche Bischof von Meaux, Jacques-Bénigne Bossuet (1627–1704), gegen sie auf und beschuldigte sie, in ihren Schriften Irrtümer verbreitet zu haben. Obwohl sie den geforderten Widerruf leistete, wurde Madame Guyon von 1698 bis 1703 in der Bastille in Haft gehalten, anschließend lebte sie zurückgezogen unweit von Blois. Einen engen Vertrauten und wichtigen Fürsprecher hatte Madame Guyon in dem Geistlichen François Fénelon176 (1651–1715). Seit 1689 wirkte dieser in Paris als Prinzenerzieher, 1695 wurde er Erzbischof von Cambrai. Fénelon sympathisierte mit der quietistischen Frömmigkeit, und als sein Gegner Bossuet den Quietismusstreit begann, richtete sich dessen Angriff auch auf ihn. Fénelon verfasste eine Verteidigungsschrift für Madame Guyon, in der er den Quietismus gegen den Vorwurf der moralischen Indifferenz in Schutz nahm, die Heilsmittlerschaft der Kirche betonte und das Ideal der „reinen Liebe“ (pur amour) entwickelte – einer Liebe zu Gott ganz ohne jedes Eigeninteresse. Gleichwohl konnte er seine Seelenfreundin nicht retten, vielmehr wurde seine Verteidigungsschrift selbst von der Inquisition verurteilt; Fénelon verlor seine Stellung bei Hof und zog sich in seine Diözese zurück. Im Streit um den Quietismus trafen theologische, religiöse und ganz weltliche Motive in einer eigen176

Melchior-Bonnet, Fénelon.

2. Der Quietismus und die Krise der Mystik

217

tümlichen Mischung zusammen. Die damaligen Verwerfungen werden heute allgemein als ungerechtfertigt oder wenigstens als nicht zwingend beurteilt. Im historischen Kontext bedeuteten sie einen massiven Angriff auf eine wichtige Spielart mystischer Frömmigkeit und hatten wesentlichen Anteil daran, dass die Mystik im 18. Jahrhundert in eine Krise geriet – eine Krise, die durch die Aufklärung und den neuzeitlichen Rationalismus noch verschärft wurde. Gleichwohl hat die mystische Frömmigkeit im Katholizismus der Neuzeit weiter ihren Ort gehabt. Einerseits wurde die Gemeindefrömmigkeit stark von Traditionen beeinflusst, die ihren Ursprung in der mittelalterlichen Mystik hatten – zu nennen sind hier die Passionsfrömmigkeit und die Herz-Jesu-Verehrung –, andererseits gab es in den Klöstern, mitunter aber auch außerhalb, weiterhin mystisch begabte Persönlichkeiten, die eine affektive Erlebnismystik mit besonderen visionären Erfahrungen und Entrückungen praktizierten – man denke etwa an die stigmatisierte münsterländische Visionärin Anna Katharina Emmerick (1774–1824) mit ihren eindrucksvollen, von Clemens Brentano aufgezeichneten Schauungen des Lebens und der Passion Christi177 – ebenso wie Autoren, die neue Beiträge zur mystischen Theologie leisteten – man könnte hier den französischen Jesuiten Jean-Pierre de Caussade (1675–1751) nennen, der die mystische Selbsthingabe in den aktiven Dienst in der Welt einband, oder die Karmelitin Therese von Lisieux178 (1873–1897).

177 178

Adam/Engling, Anna Katharina Emmerick. Görres, Thérèse von Lisieux.

XI. Protestantische Mystik in der Frühen Neuzeit

Während in der römischen Kirche die Mystik relativ problemlos für die Formierung einer neuzeitlichen katholischen Frömmigkeit in Dienst genommen werden konnte, war das Verhältnis des Protestantismus zur Mystik ambivalent. In bestimmten Milieus wurden die verschiedenen179 Traditionen der mittelalterlichen Mystik, ja sogar die zeitgenössische romanische Mystik rezipiert, im Hauptstrom evangelischer Kirchlichkeit überwog dagegen nicht selten eine ablehnende Haltung. Der sachliche Grund dieser Ambivalenz dürfte in dem Nebeneinander von Übereinstimmung in religiösen Grundintentionen und Differenz in den dazu gebrauchten Mitteln liegen. Wie die abendländische Mystik, so zielt auch der Protestantismus auf die religiöse Individualität und persönliche Gottunmittelbarkeit des Menschen. Doch während die Mystik diese Gottunmittelbarkeit auf dem Weg der Innerlichkeit und der individuellen religiösen Erfahrung zu erreichen suchte, wurde sie für Luther und die ihm folgenden reformatorischen Theologen durch das äußere Wort der Bibel und der Predigt hergestellt, durch das Gott jeden einzelnen Menschen unmittelbar ansprach und zum persönlichen Glauben rief. Doch in der Geschichte des Protestantismus kamen auch konkurrierende theologische Modelle zur Geltung, die einer mystischen Innerlichkeit wieder Raum boten.

179

Zur Mystik im Protestantismus insgesamt vgl. Ebert, Protestantische Mystik (mit Quellentexten); Meyer/Sträter, Zur Rezeption mystischer Traditionen; Zimmerling, Evangelische Mystik.

1. Luther und die Mystik

219

1. Luther und die Mystik Die Ambivalenz des Protestantismus gegenüber der Mystik lässt sich bereits bei Martin Luther (1483– 1546) beobachten. Dass Luther durch die dominikanische und zisterziensische Mystik beeinflusst war, ist unstrittig, wenngleich über die Bedeutung dieser Prägung und ihr Verhältnis zu seiner reformatorischen Theologie in der Forschung keine Einigkeit herrscht.180 In den Jahren 1515 bis 1518 beschäftigte sich Luther intensiv mit der deutschen Dominikanermystik, genauer: mit Johannes Tauler und dem „Frankfurter“. Den Anstoß dazu dürfte sein Ordensoberer und Beichtvater Johann von Staupitz gegeben haben. Seit 1515 oder 1516 besaß Luther einen 1508 erschienenen Augsburger Druck der Predigten Taulers, den er durcharbeitete und mit Randnotizen versah. Im Jahr 1516 veranstaltete er die erste gedruckte Ausgabe des „Frankfurters“ – es war seine erste Publikation überhaupt. Allerdings hatte Luthers Vorlage nur ein Viertel des Originaltextes enthalten; im Sommer 1518 gab er dasselbe Werk nach einer anderen Handschrift noch einmal vollständig heraus und gab ihm nun auch den Titel, unter dem es seither vor allem bekannt ist: „Eine deutsche Theologie“, oder einfacher: „Theologia Deutsch“. In einem berühmten Brief an den kurfürstlichen Sekretär Georg Spalatin vom Dezember 1516 lobte er sowohl Taulers Predigten als auch den „Frankfurter“ in höchsten Tönen,181 und in der Vorrede zu dem Druck von 1518 erklärte er, er habe aus keinem Buch mehr über Gott, Chris180 Zum Folgenden vgl. Leppin, Mystik (2005); Klitzsch, Mystik; Hamm/Leppin, Gottes Nähe unmittelbar erfahren, 165–287; Leppin, Die fremde Reformation. 181 „Denn ich habe weder in lateinischer noch in unserer Sprache eine Theologie gesehen, die heilsamer und mit dem Evangelium mehr übereinstimmend wäre“ (Luther Deutsch, X 21).

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XI. Protestantische Mystik in der Frühen Neuzeit

tus, den Menschen und alle Dinge gelernt als aus diesem. Auch mit der Brautmystik Bernhards von Clairvaux, dessen Schriften er seit seinen ersten Klosterjahren kannte, war Luther vertraut. Diesem Vorstellungskreis entnahm er das berühmte Bild vom „fröhlichen Wechsel und Streit“ in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520). Danach vereint der Glaube die Seele mit Christus wie die Braut mit dem Bräutigam, so dass alles, was Christus an Gütern und Seligkeit hat, der Seele übereignet und umgekehrt alles, was diese an Sünde hat, auf Christus übertragen wird.182 Die areopagitische Mystik lehnte Luther hingegen ab: Dionysius sei mehr Platoniker denn Christ und lehre nichts von Christus;183 sein Buch enthalte nur „reinsten Unsinn“. Im selben Zusammenhang kritisierte Luther auch Bonaventura, der ihm einst die Sehnsucht nach der unio mystica eingepflanzt habe, aber doch nur ein Fanatiker sei.184 Die Beschäftigung mit der Mystik hat deutliche Spuren in Luthers früher Theologie hinterlassen. So liegen etwa der monastisch geprägten Demutstheologie der Römerbriefvorlesung, wonach der Mensch vor Gott gerecht wird, indem er seine eigene Nichtigkeit anerkennt und sich unter das gerechte Urteil Gottes beugt, Motive zugrunde, die sich ähnlich bei Tauler finden. Auch das neue, nicht sakral-institutionelle, sondern auf die innerliche Reue als Lebenshaltung ausgerichtete Bußverständnis Luthers, wie er es in seinen 95 Thesen formuliert hat, dürfte eine Frucht seiner Beschäftigung mit der Mystik gewesen sein.

182 183 184

Luther, Deutsch-Deutsche Studienausgabe, I 291. Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, III 347. Luther, Werke, Abt. Tischreden, I 302.

1. Luther und die Mystik

221

Mit Hilfe mystischer Denkfiguren konnte der junge Luther gegen eine veräußerlichte, an der kirchlichen Institution, sakramentalen Vollzügen und guten Werken orientierten Religiosität eine innerliche, auf die persönliche Gottunmittelbarkeit des Einzelnen ausgerichtete Frömmigkeit propagieren und damit seinem religiösen Hauptanliegen Ausdruck verleihen. Doch im Ganzen blieb Luthers Rückgriff auf die Mystik eine Episode. Gegenüber neueren Versuchen, eine dauerhafte, lediglich durch eine „worttheologische Brechung“ modifizierte mystische Prägung von Luthers Theologie nachzuweisen,185 wird man die grundlegenden Differenzen zwischen der reifen reformatorischen Theologie Luthers und der mystischen Theologie in Rechnung stellen müssen. Der Kern und das eigentliche systemsprengende Element der reformatorischen Theologie war die Absage an die Vorstellung eines vielfach gestuften, durch verschiedene Zwischeninstanzen und Vermittlungsstufen strukturierten kontinuierlichen Zusammenhangs und Übergangs vom Natürlich-Zeitlichen zum Himmlisch-Ewigen, die Berndt Hamm als „Gradualismus“ bezeichnet hat186 und die für die gesamte mittelalterliche Theologie und Frömmigkeit grundlegend war. Auch den Vollkommenheits-, Aufstiegs- und Vergöttlichungslehren der mystischen Tradition lag dieser Gradualismus zugrunde. Luther hingegen stellte den Menschen direkt, ohne jede priesterlich-sakramentale Vermittlung, aber auch ohne jede Abstufung, ohne quantitatives „mehr“ oder „weniger“ an Sünde oder Heiligkeit, Gott gegenüber. Bei aller Betonung der Gottunmittelbarkeit des Einzelnen und seiner individuellen, persönlichen Gottesbeziehung konnte Luther aber auch das innere 185 186

So pointiert Leppin, Die fremde Reformation. Hamm, Reformation als normative Zentrierung, 251–253.

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XI. Protestantische Mystik in der Frühen Neuzeit

religiöse Erleben nicht als Grundlage der christlichen Existenz anerkennen. Die für Luther religiös zentral wichtige persönliche Heilsgewissheit war nur zu erreichen, wenn sie von keinerlei eigenen Vorleistungen, Erfahrungen und Gefühlen abhängig war. Auch die eindrucksvollste religiöse Erfahrung konnte das Ergebnis von Selbsttäuschung oder rein psychologischen Vorgängen sein und vermochte in Zeiten der Anfechtung keine Gewissheit zu geben. Dazu bedurfte es einer unverfügbaren, äußeren Grundlage, die Luther im Wort Gottes fand – und zwar im äußeren Wort der Heiligen Schrift und der Predigt, in dem Gott selbst jedem einzelnen Menschen Vergebung der Sünde und ewiges Leben zusagte, nicht in einem inneren, von besonders begnadeten Menschen in der eigenen Seele wahrnehmbaren und von der eigenen Subjektivität nicht unterscheidbaren Wort. Allein das „extra nos“ (das Außerhalb-unser-selbst) des heilschaffenden Gotteswortes war es, das die Heilsgewissheit verbürgte. Diese Grundprinzipien ließen für eine mystische Frömmigkeit im Vollsinn keinen Raum mehr. Bei den anderen großen Reformatoren, insbesondere bei Huldrych Zwingli in Zürich und bei Johannes Calvin in Genf, fällt das Bild noch eindeutiger aus. Neben der Absage an den Gradualismus war es hier vor allem die stark betonte Unterscheidung von Gott und Welt, die eine positive Aufnahme der Mystik ausschloss. Im Protestantismus hat die Mystik ihren Ort daher zunächst nicht im reformatorischen Hauptstrom, sondern bei Radikalen und Dissidenten gefunden.

2. Radikale und Dissidenten Im 16. Jahrhundert waren es vor allem jene Vertreter der „radikalen Reformation“, die mit einem modernen

2. Radikale und Dissidenten

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Begriff als Spiritualisten bezeichnet werden, die Impulse der mystischen Tradition aufnahmen und weiterführten.187 Bei allen Differenzen im Einzelnen einte sie die Überzeugung, dass Gott im Geist direkt und ohne jedes äußere Mittel an und in der menschlichen Seele handele – ohne priesterliche Vermittlung und Sakramente, aber auch ohne das äußere Wort der Heiligen Schrift und der Predigt. Entscheidend sei allein das innere Wort Gottes, das unmittelbar in der Seele des Menschen vernehmbar werde. Nicht wenige dieser Spiritualisten knüpften an Denkfiguren der mystischen Tradition an – man spricht hier im Unterschied zu anderen Spielarten von „mystischem Spiritualismus“. Diese Anknüpfung geschah nicht zwingend an Luther vorbei, sondern konnte sich auf dessen eigene anfängliche Hochschätzung der Mystik berufen. Dabei waren es regelmäßig vor allem drei Traditionszeugen, die im mystischen Spiritualismus – und im späteren Pietismus – herangezogen wurden: Taulers Predigten, die „Theologia Deutsch“ und die „Nachfolge Christi“ des Thomas von Kempen.188 Ein bedeutender Vertreter mystisch-spiritualistischer Positionen war Luthers Antipode Thomas Müntzer (ca. 1489–1525), der als evangelischer Prediger in Allstedt und Mühlhausen in Thüringen seine Gemeinden zu radikaler Aktion anleitete, sich 1525 an die Spitze des Thüringer Bauernaufstandes setzte und nach verlorener Schlacht hingerichtet wurde.189 In Wittenberg lernte er durch Luther 1518 die Theologia Deutsch kennen, im Winter 1519/20 scheint er als Beichtvater im Zisterzienserinnenkloster Beuditz bei Weißenfels Schriften Seuses und Taulers studiert zu haben. Gegen die „zarten Schriftgelehrten“ der Wit187 188 189

Benrath, Die Lehre außerhalb der Konfessionskirchen, 560–610. Ebd., 565–568. Bräuer/Vogler, Thomas Müntzer; Hans-Jürgen Goertz, Thomas Müntzer.

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XI. Protestantische Mystik in der Frühen Neuzeit

tenberger Reformation beharrte er darauf, dass die Gläubigen Gottes Geist in ihrem Inneren spüren müssten. Der Heilsweg war ein mystischer Abstieg, den Müntzer in Anlehnung an Formulierungen Taulers beschrieb: Der Mensch müsse sich von Gottes Geist in Anfechtung und Leid führen lassen, sich von allen Bindungen an die Kreaturen lösen und leer werden, um endlich, am tiefsten Punkt der Gottverlassenheit, das Zeugnis des Geistes und das innere Wort Christi in seinem Herzen zu vernehmen. Dadurch, nicht durch das Hören auf das Wort der Predigt, entstand der wahre, „unüberwindliche Christenglaube“. Was Müntzers Theologie ihre politische Brisanz verlieh, war die eigentümliche Verbindung dieses mystischen Spiritualismus mit einer virulenten Apokalyptik, die verlangte, dass die Auserwählten vor der Wiederkunft Christi das Gericht an den Gottlosen vollziehen sollten. Ein anderer bekannter Vertreter eines mystischen Spiritualismus war Luthers Fakultätskollege Andreas Karlstadt (ca. 1480/86–1541), der führende Kopf bei den reformatorischen Unruhen in Wittenberg während Luthers Exil auf der Wartburg.190 Er war von der deutschen Mystik beeinflusst, namentlich von Tauler, dessen Predigten er seit 1517 las; 1523 publizierte er eine Abhandlung zur Gelassenheit („Was gesagt ist: Sich gelassen“). Doch auch etwa der Humanist, Bibelübersetzer und Täufer Hans Denck191 (ca. 1500–1527), der als Verlagskorrektor in Basel Editionen mystischer Texte betreut hatte und die Innerlichkeit der religiösen Erfahrung betonte, und der Schriftsteller Sebastian Franck192 (1499–1542) aus Donauwörth, der von Tauler und der Theologia Deutsch geprägt war, wären hier zu nennen. 190 191 192

Sider, Andreas Bodenstein von Karlstadt. Packull, Hans Denck. Hannak, Geist=reiche Critik, 73–171.

2. Radikale und Dissidenten

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Einer jüngeren Generation gehörte der lutherische Theologe Valentin Weigel193 (1533–1588) an, der als Pfarrer in Zschopau unter dem äußeren Anschein der Orthodoxie insgeheim mystisch-spiritualistische Schriften verfasste, die erst nach seinem Tod durch den Druck bekannt wurden. Darin propagierte er einen verinnerlichten Glauben und stellte die innere Erleuchtung durch den Heiligen Geist über das äußere Wort der Bibel. Die Rechtfertigung wollte er, im Gegensatz zur lutherischen Kirchenlehre, nicht als bloße äußere Gerechtsprechung des Sünders um Christi willen, sondern als eine effektive Erneuerung und Wiedergeburt durch das Wirken Christi in der Seele, als eine von innen heraus geschehende Umwandlung des „alten“ in den „neuen Adam“ verstehen. Damit verband sich bei ihm scharfe Kritik an der äußeren Institution der „Mauerkirche“. Von Weigel beeinflusst war der Görlitzer Schuhmachermeister Jakob Böhme194 (1575–1624), den Hegel den „ersten deutschen Philosophen“ nannte. Mit dem von ihm entwickelten naturphilosophischtheosophischen System, das Natur und Geist, Vernunft und Glaube integrieren wollte, hat er noch den deutschen Idealismus stark beeinflusst. Vor allem sein dynamisches Verständnis Gottes wie der Natur, das durch den Gedanken des dialektischen Zusammenwirkens entgegengesetzter Prinzipien bestimmt war, wirkte bahnbrechend. Den ersten Anstoß zu Böhmes Theosophie gaben mystische Erfahrungen. Die erste widerfuhr ihm im Jahr 1600 in seiner Werkstatt. Rückblickend berichtete er, sein Geist sei „durch die Pforten der Hölle durchgebrochen bis in die innerste Geburt der Gottheit“ und in unbeschreiblicher Freude mit dem Licht 193 194

Ebd., 173–306. Werke: Weigel, Sämtliche Schriften. Wehr, Jakob Böhme; Gauger, Jakob Böhme.

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XI. Protestantische Mystik in der Frühen Neuzeit

göttlicher Erkenntnis erfüllt worden.195 Doch erst nach zwölf Jahren des Durchdenkens und des autodidaktischen Studiums machte er sich daran, die ihm aufgegangenen Erkenntnisse in seinem Erstlingswerk „Aurora oder die Morgenröte im Aufgang“ niederzulegen. Seit 1618 widmete Böhme sich, von der lutherischen Geistlichkeit zeitlebens angefeindet, vollzeitlich der theosophischen Schriftstellerei und der Korrespondenz mit seinen zahlreichen Anhängern. Die Erlösung des Menschen verstand Böhme als effektive Wiederherstellung der verlorenen Gottebenbildlichkeit. Im Urstand war der androgyn geschaffene Mensch mit der himmlischen Sophia, der personifizierten Weisheit Gottes, als seiner jungfräulichen Braut zum vollkommenen Ebenbild Gottes verbunden gewesen, bis er durch den Sündenfall die Verbindung mit der Sophia verlor und in die Gottesentfremdung, die „Selbheit“ und die zweigeschlechtliche Polarität fiel. Durch die Vereinigung des Menschen mit Christus und die Einwohnung Gottes in der Seele kommt es zur Wiedergeburt und zur Wiedervereinigung und Vermählung mit der himmlischen Sophia. Dadurch werden die Gottebenbildlichkeit und das urständliche Verhältnis zwischen Gott und Mensch wiederhergestellt, der Mensch wird erneuert und verwandelt und erlangt die Erkenntnis des Zusammenhangs der gesamten Wirklichkeit. Gegen ein „buchstäbliches“ Verständnis der Heiligen Schrift beharrte Böhme darauf, dass es um die Erkenntnis von deren tieferem, geheimem Sinn gehe, die dem Wiedergeborenen von Gott im Geist offenbart werde. Mit diesen Gedanken hat Böhme eine starke Wirkung vor allem im radikalen Pietismus entfaltet; seine eigentümliche Sophienmystik hat hier viele Nachfolger gefunden und nicht selten einer Abwertung der menschlich-geschlechtlichen Ehe Vorschub geleistet. 195

Böhme, Werke, 336f.

2. Radikale und Dissidenten

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Eine besondere Wendung erhielt Böhmes SophienMystik durch die englische Visionärin Jane Leade (1624–1704).196 Sie sah die himmlische Sophia sehr viel eindeutiger als weiblich an und verstand die Wiedergeburt, das Werden des neuen Menschen, als einen veritablen Geburtsprozess aus der Gebärmutter der Sophia. Vor allem aber verband sie diese Vorstellungen mit der Erwartung des unmittelbar bevorstehenden tausendjährigen Friedensreiches Christi auf Erden nach Offb 20,1–6. In diesem Zusammenhang identifizierte sie die himmlische Sophia mit der Frauengestalt von Offb 12 und sah in ihr die Gebärerin eines auserwählten endzeitlichen Geschlechts. Damit verband sie das Ziel der Sammlung einer endzeitlichen Heilsgemeinde, die sich, durch ihre viel gelesenen und übersetzten Schriften inspiriert, in England und auf dem europäischen Kontinent in überkonfessionellen sogenannten „philadelphischen Sozietäten“ sammelte. Diese Bezeichnung spielte auf die in Offb 3,7–13 erwähnte Gemeinde von Philadelphia an, die als Chiffre für ein neues, besseres Zeitalter des Christentums verstanden wurde, das das bisherige Zeitalter von „Sardes“ (Offb 3,1–6) ablösen sollte. Vor allem im deutschen Pietismus haben Jane Leades Ideen vielfach nachgewirkt. In einem weiteren Sinn als protestantischer Dissident zu bezeichnen ist der schlesische Arzt und Dichter Johannes Scheffler (1624–1677), besser bekannt unter seinem Literatennamen Angelus Silesius.197 Durch die Lektüre Böhmes hatte er zu einer mystisch geprägten, verinnerlichten Frömmigkeit gefunden, die schließlich 1653 zu seiner Konversion zum Katholizismus führte. Den Amtsträgern seiner lutherischen Heimatkirche warf er die „freventliche Verwerfung 196 197

Meier, Der neue Mensch. Kemper, Deutsche Lyrik, 208–244.

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XI. Protestantische Mystik in der Frühen Neuzeit

der ihnen (den Lehrern insgemein) ganz unerkannten, geheimen, mit Gott gemeinschaft-Kunst (Theologiae mysticae), welche doch der Christen höchste Weisheit ist“, vor.198 Scheffler war mit zahlreichen Autoren der mystischen Tradition vertraut, darunter Augustinus, Dionysius Areopagita, Bernhard von Clairvaux, Wilhelm von St. Thierry, Mechthild von Magdeburg, Gertrud von Helfta, Bonaventura, Jan van Ruusbroec und Johannes vom Kreuz, deren Lehren er in den von ihm verfassten Sinnsprüchen – meist gereimten Zweizeilern in Alexandrinern – zusammenfasste. Dabei zeigte er sich besonders von der Negativen Theologie beeindruckt, die von Gott nur in der Verneinung sprechen kann. In seiner Beschreibung der Vereinigung von Gott und Mensch bediente er sich vorzugsweise einer paradoxalen Sprache. 1657 gab er diese „Geistreichen Sinn- und Schlussreime“ erstmals heraus, 1675 erschienen sie in einer erweiterten Neuauflage unter dem Titel „Der Cherubinische Wandersmann“.199 Auch eine Sammlung geistlicher Lieder (Heilige Seelen-Lust, 1657) gab Scheffler heraus, die sich im Halleschen Pietismus großer Beliebtheit erfreuten und von denen vier noch heute im Evangelischen Gesangbuch stehen.200

3. Lutherische Orthodoxie und Pietismus Durch Außenseiter und Dissidenten wie Valentin Weigel und Jakob Böhme waren Elemente mystischer Frömmigkeit gleichsam untergründig im Protestantismus präsent geblieben. Seit der Wende zum 17. Jahrhundert hielten sie dann auch wieder in den 198 199 200

Zitiert nach Lemcke, Angelus Silesius, 454. Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann. U.a. „Mir nach, spricht Christus, unser Held“ und „Ich will dich lieben, meine Stärke“.

3. Lutherische Orthodoxie und Pietismus

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etablierten kirchlichen Protestantismus Einzug.201 Ob es im Luthertum der dritten Generation wirklich eine veritable „Frömmigkeitskrise“ infolge des Auseinandertretens von theologischer Lehre und christlichem Leben gab, wie die ältere Forschung meinte, ist umstritten. Auf jeden Fall mehrten sich hier jetzt Bestrebungen zur Wiedergewinnung einer verinnerlichten persönlichen Frömmigkeit, wobei man auf Elemente der älteren mystischen Tradition zurückgriff. Solche Ansätze fanden sich sowohl in der herrschenden „orthodoxen“ Theologie, die keinesfalls spirituell so steril war, wie später behauptet wurde, als auch in der zum Pietismus hinführenden Arndtschen Frömmigkeitsbewegung. Im orthodoxen Luthertum entstand so seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert eine neuartige Erbauungsliteratur. Eine besondere Rolle spielten dabei Gebetbücher, die mit Anleitung und Beispielen die Praxis des persönlichen Gebets beleben wollten und dafür auch Anleihen bei der mittelalterlichen Mystik und der katholischen Gebetsfrömmigkeit machten. Die Traditionen, an die sich Autoren wie der Görlitzer Pastor Martin Moller202 (1547–1606) anschlossen, entstammten der augustinischen und bernhardinischen Liebes- und Brautmystik. Von der Brautmystik Bernhards geprägt war auch etwa der „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ des orthodox-lutherischen Pfarrers Philipp Nicolai (1556–1608), in dem das bekannte Lied „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ steht.203 Die unio mystica avancierte schließlich sogar zum Fachterminus der orthodox-lutherischen Theologie, wo sie als ein Aspekt von Gottes Gnadenhandeln am Menschen galt – allerdings ohne besondere Erfah201 202 203

Zum Folgenden Zeller, Luthertum und Mystik. Axmacher, Meditation und Mystik. Zimmerling, Evangelische Mystik, 58–61.

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rungsqualität und anderen Aspekten wie Rechtfertigung, Berufung, Wiedergeburt, Bekehrung, Buße und Erneuerung gleichgeordnet. Während die orthodoxe Mystik-Rezeption sich vor allem an Bernhard und seiner Brautmystik orientierte, spielte für die Mystikrezeption der auf den Pietismus zulaufenden Frömmigkeitsbewegung die uns aus dem mystischen Spiritualismus bekannte Trias – Tauler, Theologia Deutsch und Thomas von Kempen –, zu der je nachdem weitere Autoren hinzugenommen wurden, eine deutlich größere Rolle. Tatsächlich stand Johann Arndt (1556–1621), der Begründer dieser Richtung, dem Spiritualismus auch theologisch nahe.204 Nach Stationen als Pfarrer in Quedlinburg, Braunschweig und Eisleben war er 1611 Generalsuperintendent des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel in Celle geworden. Mehr als durch seine kirchenleitende Tätigkeit hatte er jedoch als religiöser Schriftsteller gewirkt. Seine „Vier Bücher vom Wahren Christentum“ (1605–1610), ein Andachtsbuch, das Anleitung zu einer verinnerlichten Frömmigkeit und einem christlichen Leben gab, wurde ein Bestseller.205 Auch Arndts 1612 erstmals gedrucktes „Paradiesgärtlein“, eine lehrhaft konzipierte Sammlung von Gebeten, fand weite Verbreitung. Unter dem Eindruck der Lektüre Weigels wandte sich Arndt Ende 1595 der Mystik zu und studierte zunächst die „Theologia Deutsch“, die er mit einer eigenen Vorrede neu herausgab. Eifrig sammelte und las er seitdem Autoren wie Bernhard, Angela von Foligno, Tauler und Thomas von Kempen. Außer der „Theologia Deutsch“, die er insgesamt dreimal her204 Schneider, Der fremde Arndt, bes. 216–246 (Johann Arndt und die Mystik). Vgl. ferner Wallmann, Arndt und die protestantische Frömmigkeit; Braw, Bücher im Staube; Geyer, Verborgene Weisheit. 205 Arndt, Vier Bücher vom wahren Christentum.

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ausgab, ließ er zweimal die „Nachfolge Christi“ sowie zwei Traktate von Staupitz und Schriften Taulers (worunter sich auch Texte Meister Eckharts befanden) nachdrucken. Hier fand Arndt Anhalt für seine spiritualistische, von der orthodox-lutherischen abweichende Position: Nicht das äußere Wort und die Gerechtsprechung des Sünders um Christi willen, sondern das innere Wort und der innerliche, mystische Heilsweg der Vereinigung der Seele mit Gott stand hier im Zentrum. Arndts mystisch-spiritualistischer Standpunkt kam auch im „Wahren Christentum“ zum Ausdruck, wo er im ersten und zweiten Buch aus der „Theologia Deutsch“, dazu im ersten Buch aus Thomas von Kempen und im zweiten aus Angela von Foligno sowie im dritten Buch ausführlich aus Tauler schöpfte. Im „Paradiesgärtlein“ verarbeitete er dagegen vor allem (pseudo-)bernhardinische Literatur. Dass Arndts Theologie trotz Anfeindungen in der lutherischen Kirche letztlich geduldet wurde, war einer vom Autor selbst entwickelten kirchlich-orthodoxen Interpretation zu verdanken, wonach es ihm allein um die Ergänzung der reinen Lehre durch die Frömmigkeit und das christliche Leben gegangen sei. Nicht zuletzt durch Arndt erhielt der spätere Pietismus sein mystisch-spiritualistisches Erbe vermittelt. Im Bemühen um eine verinnerlichte persönliche Frömmigkeit knüpften kirchliche wie radikale Pietisten an die Mystik an. Wir greifen drei prominente Beispiele heraus. Einer der bekanntesten Vertreter des radikalen Pietismus, der häufig die Separation von der als „Babel“ disqualifizierten Amtskirche forderte, war der Theologe Gottfried Arnold (1666–1714).206 Arnold hatte sich als Hauslehrer in Quedlinburg einem mystischen Spiritualismus zugewandt und seinen Verzicht auf 206

Blaufuß/Niewöhner, Gottfried Arnold; Mißfeldt, Gottfried Arnold.

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Pfarramt und Ehe erklärt; stattdessen betätigte er sich als religiöser Schriftsteller. Ein Buch über die von ihm idealisierte Urkirche trug ihm 1697 einen Ruf als Geschichtsprofessor an die Universität Gießen ein; doch nach nur sieben Monaten legte er dieses Amt nieder und kehrte nach Quedlinburg zurück. 1699/1700 erschien das große Geschichtswerk, das Arnolds Ruhm begründete: die „Unparteiische (d.h. überkonfessionelle) Kirchen- und Ketzerhistorie“, in der er, gut spiritualistisch, die wahre Kirche nicht in den Institutionen, Organisationsformen und fixierten Bekenntnissen der etablierten Kirchentümer, sondern bei den geisterfüllten Wiedergeborenen, den angeblichen Ketzern und den Mystikern fand. Wenn Arnold sich entgegen seinen früheren Erklärungen 1701 verheiratete und als Pfarrer und später als Superintendent in den kirchlichen Dienst trat, so bedeutete das keine grundsätzliche Abkehr von seinen mystisch-spiritualistischen Positionen, aber doch eine Wiederannäherung an den kirchlichen Pietismus. Wie Arndt, so beschäftigte sich auch Arnold eingehend mit der Mystik, verfasste Biographien von Mystikern, darunter auch Teresa von Ávila und Johannes vom Kreuz, und gab mystische Schriften in deutscher Übersetzung heraus, darunter den „Geistlichen Wegweiser“ von Miguel de Molinos und die Schriften von Jan van Ruusbroec und Thomas von Kempen. Die Öffnung für Autoren aus dem nachreformatorischen Katholizismus erscheint bezeichnend für Arnolds „unparteiischen“ Standpunkt, im Grunde aber für den Pietismus insgesamt: Im Namen der praktischen Frömmigkeit fand man hier die Gemeinsamkeit im Glauben über Konfessionsgrenzen hinweg. Tief geprägt war Arnold von der Sophienmystik Jakob Böhmes, die er 1700 in seinem Buch „Das Geheimnis der göttlichen Sophia oder Weisheit“ entfaltete. Anscheinend hat er auch selbst mystische Erfahrungen ge-

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macht. Eine grundsätzliche Abhandlung über das Wesen und die Geschichte der „mystischen Theologie“, wie man sie seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert gerne der herrschenden Schultheologie entgegenstellte, schuf Arnold mit der „Historia et descriptio theologiae mysticae“ (1702), die 1703 auch auf Deutsch erschien.207 Auch die großen Gestalten des kirchlichen lutherischen Pietismus in Deutschland wie Philipp Jakob Spener (1635–1705) und August Hermann Francke (1663–1727) inspirierten sich an der mystischen Tradition. Die originellste Anverwandlung mystischer Frömmigkeit fand sich indessen bei Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760), dem Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine.208 Zinzendorf war vor allem von Ideen der Braut- und Passionsmystik beeinflusst, die sich zwanglos in den Rahmen seiner auf den Erlöser Jesus konzentrierten Heilandsfrömmigkeit einfügten. Den von ihm propagierten „täglichen Umgang“ mit Jesus konnte er so auch als Vereinigung mit dem himmlischen Bräutigam verstehen. Eigentümlich waren die Konsequenzen, die Zinzendorf aus dieser insoweit traditionellen brautmystischen Deutung des Verhältnisses zwischen Jesus und der Seele zog. So galt ihm die menschliche Seele wegen ihrer Bestimmung zur Braut Jesu als von Natur aus weiblich und das männliche Geschlecht lediglich als ein mit dem Tod endender Zwischenzustand. Noch sonderbarer erscheint Zinzendorfs sogenannte „Ehereligion“, die die irdische Ehe zwischen Mann und Frau als Abbildung und Nachvollzug der Ehe zwischen Jesus und der Seele verstand. Danach hatte der Mann als „VizeChristus“ seiner Frau gegenüber den Erlöser zu vertreten und sie an seiner Stelle zu lieben. Ja, in der 207 208

Arnold, Hauptschriften II. Zimmerling, Evangelische Mystik, 132–150.

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XI. Protestantische Mystik in der Frühen Neuzeit

geschlechtlichen Vereinigung erkannte Zinzendorf einen geradezu sakramentalen Vollzug der unio mystica selbst. Passionsmystisch grundiert war Zinzendorfs bereits in der Kindheit einsetzende Verehrung der Seitenwunde des gekreuzigten Erlösers. Auch in der Frömmigkeit der Herrnhuter Brüdergemeine sollte das „Seitenhöhlchen“ eine hervorgehobene Rolle spielen. Bis zum Exzess steigerte sich dies in der von Zinzendorf später so genannten „Sichtungszeit“ (d.h. Prüfungs- oder Versuchungszeit) der späten 1740er Jahre in den Kolonien Herrnhaag und Marienborn in der Wetterau unter der Führung von Zinzendorfs Sohn Christian Renatus (1727–1752).209 Dort wurde eine verspielte, ausgelassene Religiosität gepflegt, die sich auch in einer ausufernden und in drastischen Bildern ausgemalten barocken Blut- und Wundenfrömmigkeit erging. In deren Mitte stand das „Seitenhöhlchen“, das vielfältig besungen, gefeiert und zum Inbegriff der Heilssehnsucht gemacht wurde. Bald verstanden sich die Gläubigen als die „Kreuzluftvögelein“, die im Seitenhöhlchen nisten wollten. Mit liturgischen Feiern, Inszenierungen, Ausschmückungen und Lichtinstallationen wurde dem „Gott Seitenhöhlchen“ gehuldigt. Folgenreich wurde die Verschmelzung passionsmystischer und brautmystischer Motive, indem das Seitenhöhlchen als Gebärmutter der christlichen Gemeinde oder als weibliches Geschlechtsorgan vorgestellt wurde. So konnte es in einer erotischen Aufladung zum religiösen Sehnsuchtsziel für die ledigen Brüder werden, denen die sexuell-religiöse Erfahrungsdimension der Zinzendorfschen Ehereligion verschlossen war: In ihren Feiern spürten sie die Gegenwart des Seitenhöhlchens, das sie schmecken, küssen und mit dem sie sich vereinigen wollten. In Fortführung von Zin209

Peucker, Blut auf unsre grünen Bändchen.

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zendorfs Überzeugung von der Weiblichkeit der Seele erklärte man Ende 1748 schließlich die Unterschiede der Geschlechter für aufgehoben und segnete die ledigen Brüder als Schwestern ein; in Gestalt der sogenannten „Schätzel“, lediger Männer, die als Ehefrauen Jesu galten und spielerisch die eheliche Vereinigung mit ihm feierten, bildete sich eine Art geistlicher Elite heraus. 1749 machte Zinzendorf, der damals in London lebte, diesen Auswüchsen ein Ende. Der bedeutendste Vertreter des reformierten Pietismus in Deutschland und zugleich ein veritabler Mystiker war Gerhard Tersteegen210 (1697–1769). Nach Gymnasialbesuch und einer kaufmännischen Lehre lebte Tersteegen in Mülheim an der Ruhr jahrelang in quasi-monastischer Abgeschiedenheit mit Handarbeit als Bandwirker und erbaulicher Lektüre. Mit der förmlichen Selbstverschreibung mit dem eigenen Blut an den „Blutbräutigam“ (vgl. Ex 4,25f.) Christus am Gründonnerstag 1724 wandte er sich dauerhaft von der Welt ab, öffnete sich dafür aber der Diaspora der Frommen. Mit Übersetzungen mystischer Schriften suchte Tersteegen Menschen für ein Leben der Innerlichkeit zu gewinnen Er hielt Erbauungsversammlungen und betreute mit Briefen und Besuchen erweckte Kreise im Bergischen Land, ja selbst in den Niederlanden. Um 1730 entstand unter seinem Einfluss die „Pilgerhütte“ Otterbeck, eine evangelische Bruderschaft, der er geistliche Regeln gab. Tersteegen kannte und schätzte Tauler und Thomas von Kempen, dessen „Nachfolge Christi“ er in deutscher Übersetzung herausgab. Sein besonderes Augenmerk galt indessen der katholischen romanischen Mystik und hier neben Johannes vom Kreuz besonders den französischen Quietisten, die er durch 210 Benrath, Gerhard Tersteegen in seiner Zeit; ders., Tersteegens Begriff der Mystik; Zimmerling, Evangelische Mystik, 112–131.

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die Schriften des mystisch interessierten reformierten Pfarrers Pierre Poiret (1646–1719) kennengelernt hatte; Werke von Jean de Bernières-Louvigny (1602– 1659; „Das verborgene Leben mit Christo in Gott“) und Madame Guyon („Die heilige Liebe Gottes und die unheilige Natur-Liebe“) ließ er auf Deutsch drucken. Auch Tersteegens eigene Dichtungen, namentlich sein „Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen“ (1729, 7. Aufl. 1768), das Sinngedichte und seine beliebten geistlichen Lieder (u.a. „Gott ist gegenwärtig“) enthielt, waren von mystischen Vorstellungen und Sprachbildern geprägt. Doch im Vordergrund stand die biblische Begrifflichkeit. Tersteegen lehnte es ab, die mystischen Lehren über Gott und die Seele absolut zu setzen; zentrale Elemente wie der dreistufige Aufstiegsweg und die unio mystica kommen bei ihm nicht vor. „Mystik“ war für ihn keine besondere Frömmigkeitstradition neben anderen, sondern der Inbegriff des allgemeinen christlichen Heilswegs schlechthin: eines vor Gott geheiligten innerlichen Lebens im Absterben gegenüber der Welt, in vorbehaltloser Hingabe an Gott und im Wachstum in der Liebe zu ihm. Dieses Verständnis von Mystik hat Tersteegen auch in zwei von ihm selbst zum Druck gegebenen Briefen – dem „Handbrieflein von der Mystik“ (1735) und dem „Kurzen Bericht von der Mystik“ (1768) – entfaltet. Auch wenn Tersteegen sein Tätigkeitsfeld vor allem außerhalb der verfassten Kirche fand, hat er sich nie von seiner reformierten „ErbReligion“ getrennt und eine starke Nachwirkung im kirchlichen Pietismus gehabt. Im 19. Jahrhundert wurden seine Lieder vom landeskirchlichen Protestantismus „entdeckt“ und haben dazu beigetragen, Vorstellungen der quietistischen Mystik im evangelischen Liedgut zu verankern.

XII. Die Mystik in der westlichen Moderne

Mit ihren Ausläufern im romanischen Quietismus und im protestantischen Pietismus im 17. und 18. Jahrhundert kam die große Zeit der westlichen Mystik, die im 12. Jahrhundert einsetzte, im 13. und 14. Jahrhundert ihre größte Blüte und im 15. Jahrhundert ihre stärkste Verbreitung und Wirkung erreichte, an ihr Ende. Anders als in den orthodoxen Ostkirchen, wo sie seit dem späteren 18. Jahrhundert in Gestalt des Neohesychasmus eine dritte Blütezeit erlebte (s. Kap. III.4), spielte die Mystik in der westlichen Moderne nur eine untergeordnete Rolle, ohne doch je ganz aus dem gebildeten Bewusstsein und der religiösen Praxis zu verschwinden. Der Bedeutungsverlust der Mystik im Westen hat eine ganze Reihe von Ursachen. Vordergründig spielte in der katholischen Kirche die kirchenamtliche Verurteilung des Quietismus, die geeignet war, die mystische Tradition als ganze unter Verdacht zu stellen, eine gewisse Rolle – ebenso wie im Protestantismus die Auseinandersetzungen um den Pietismus. Entscheidend dürfte indessen hier wie dort die Ausbreitung der Ideale der Aufklärung gewesen sein. Durch sie gerieten zunächst die außerordentlichen, wunderhaften Begleiterscheinungen mystischer Frömmigkeit, die im Westen seit dem 13. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt hatten (und im nachreformatorischen Katholizismus weiterhin spielten), in ein schiefes Licht. Die Berichte von Visionen, Auditionen, Stigmatisierungen und Levitationen (Schweben) galten nun als Ausdruck vernunftwidrigen Aberglaubens. Vor allem aber war es die Konzentration der Aufklärer auf

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XII. Die Mystik in der westlichen Moderne

die Aufgaben praktischer Weltgestaltung, die mystischen Idealen den Boden entzog. Die vita contemplativa galt nun nicht mehr als die der vita activa überlegene Lebensform, sie erschien vielmehr als eine illegitime und unwürdige Form der Lebensgestaltung. Abgeschiedenheit, Weltflucht und Innerlichkeit vertrugen sich nicht mit dem zupackenden Optimismus des aufklärerischen Ethos. Dazu kam ein Drittes: Wenn die These richtig ist, dass die westliche Mystik, funktional betrachtet, ein Vehikel der Individualisierung war, so wurde sie in dieser Funktion nun durch andere Instrumente ersetzt: Die moderne Vorstellung der Individualität musste sich nicht mehr auf religiöse Vorstellungen wie die Gottebenbildlichkeit des Menschen oder auf die persönliche Gotteserfahrung gründen, sondern wurde vernünftig und naturrechtlich begründet, mit der jedem einzelnen Menschen als vernunftbegabtem Lebewesen eigenen Fähigkeit zu selbstständigem Urteil und selbstständigen Lebensentscheidungen. Das Projekt der Moderne und der von ihm ausgehende große Individualisierungsschub kam ohne explizit religiöse, konkret: mystische Motive aus. Die veränderte geistige Situation wirkte sich bis in den Kernbereich des Religiösen aus. Im Katholizismus führte die Aufnahme des neuen Denkens in der Katholischen Aufklärung zu erheblichen Eingriffen in das Ordensleben. In Österreich unter Kaiser Joseph II. (reg. 1765–1790) und im gesamten Heiligen Römischen Reich seit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 wurden zahllose Klöster, vor allem solche beschaulicher (kontemplativer) Ausrichtung, aufgehoben. Auf Dauer konnten sich diese progressiven Tendenzen freilich nicht durchsetzen. So wurde auch das Existenzrecht der Mystik in der katholischen Kirche nicht grundsätzlich bestritten. Allerdings setzte man Mystik nun gemeinhin mit außerordentlichen und wunderhaften Phänomenen gleich, wodurch aus

XII. Die Mystik in der westlichen Moderne

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der mystischen Theologie faktisch eine Unterabteilung der Hagiographie wurde. Sehr viel deutlicher fiel die Verwerfung beschaulicher und mystischer Frömmigkeitsformen im modernen Protestantismus aus. Die seit dem späteren 19. Jahrhundert einflussreiche Liberale Theologie kritisierte jede Mystik – und ebenso auch den Pietismus – als weltflüchtig, mittelalterlich und unevangelisch. Der einflussreiche Theologe Albrecht Ritschl (1822– 1889) nannte die Mystik „die prononcierte Stufe der katholischen Frömmigkeit“.211 In demselben Sinne schrieb der eine Generation jüngere Kirchenhistoriker Adolf von Harnack (1851–1930): „Die Mystik wird man niemals protestantisch machen können“, oder, aphoristisch gewendet: „Ein Mystiker, der nicht katholisch wird, ist ein Dilettant.“212 Auch wenn die Theologen der aus der Liberalen Theologie hervorgegangenen Religionsgeschichtlichen Schule wie Ernst Troeltsch (1865–1923), Rudolf Otto (1869–1937) und Albert Schweitzer (1875–1965) ebenso wie die Vertreter der sogenannten Luther-Renaissance um Karl Holl (1866–1926) der Mystik im Allgemeinen aufgeschlossen gegenüberstanden, wurde die Diskussion vor allem von den mystikkritischen Urteilen bestimmt. Auch die große theologische Gegenbewegung gegen den Liberalismus, die sogenannte Dialektische Theologie des Schweizer Theologen Karl Barth (1886– 1968), stand der Mystik, wenngleich mit anderen Gründen, ablehnend gegenüber. Infolge der Erneuerung einer dezidierten Wort-Gottes-Theologie und der Betonung der unendlichen qualitativen Differenz von Gott und Mensch geriet hier jede Art von „Religion“ (im Sinne einer menschlichen Eigentätigkeit) und so auch die Mystik in Verdacht. Barths zeitweiliger Ver211 212

Ritschl, Geschichte des Pietismus, I 28. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, III 377, 436.

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bündeter Emil Brunner (1889–1966) brachte dieses Urteil 1924 in seinem (eigentlich gegen die Theologie Friedrich Schleiermachers gerichteten) Buch „Die Mystik und das Wort“ scharf zugespitzt auf den Punkt: „Mystik – das ist unsere Antithese, ist die feinste sublimste Form der Naturvergötterung, des Heidentums, der Geistverdinglichung.“213 Dass die völkisch-nationale Gruppierung der „Deutschen Christen“, gegen die sich die Vertreter der Dialektischen Theologie im Kirchenkampf der Jahre nach 1933 positionierten, im Gefolge Alfred Rosenbergs die „deutsche Mystik“ Meister Eckharts rühmten, diskreditierte das Ansehen der Mystik zusätzlich. Zu folgenreichen theologischen Neubewertungen der Mystik kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Protestantismus wurde mit der zunehmenden Abkehr von der Dialektischen Theologie das Recht der religiösen Subjektivität und der religiösen Erfahrung wiederentdeckt und damit zugleich eine positive Würdigung der Mystik ermöglicht. Im Katholizismus hatte es bereits in der Zwischenkriegszeit in Frankreich eine lebhafte theologische Beschäftigung mit der Mystik gegeben. Folgenreich wurde dann vor allem die „Demokratisierung“ der Mystik durch Karl Rahner (1904–1984). Er sah in der Mystik nicht mehr ein geistliches Eliten- und Ausnahmephänomen, sondern eine allen Christen zugängliche Form religiöser Erfahrung. In diesem Sinne ist das eingangs zitierte berühmte Diktum von dem Gläubigen der Zukunft, der ein Mystiker sein müsse, zu verstehen.214 Drei Jahrzehnte später formulierte die evangelische Theologin Dorothee Sölle (1929–2003) ähnlich, dass Mystik „die zukünftige Gestalt der Religion“ sein werde.215 213 214 215

Brunner, Die Mystik und das Wort, 2. S.o. Kap. I.1, Anm. 1. Sölle, Mystik und Widerstand, 370.

XII. Die Mystik in der westlichen Moderne

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Ungeachtet der wechselnden theologischen Beurteilung ist die Mystik in der Moderne nie ganz aus der religiösen Praxis verschwunden. Das war schon deshalb nicht zu erwarten, weil es infolge der „Demokratisierung der Mystik“ seit dem Spätmittelalter und auch noch in der Frühen Neuzeit zu einer breiten „Diffusion“ mystischer Vorstellungen in die allgemeine christliche Frömmigkeit gekommen war.216 Doch auch Elemente und Errungenschaften der mystischen Tradition im engeren Sinne blieben lebendig, wenn auch mit verändertem Stellenwert. In der Regel begegnet Mystik heute nicht mehr als eine lebendige, zusammenhängende Tradition, sondern dient Einzelnen oder kleinen Zirkeln als Inspiration, als eklektisch verwertbares Vorstellungsmaterial oder als ebenso eklektisch ausschöpfbare Quelle religiöser Sprachspiele. Wie vital sich die Traditionen der christlichen Mystik gleichwohl bis in die Gegenwart erweisen, ist immer wieder überraschend. Aus einer großen Fülle möglicher Beispiele seien nur wenige herausgegriffen. Auf katholischer Seite denke man etwa an die aus einer jüdischen Familie stammende französische Philosophin und politische Aktivistin Simone Weil (1909– 1943), die über ihr sozialrevolutionäres Engagement und ihre humanistischen Ideale zum katholischen Christentum und zu einer mystischen Frömmigkeit fand, auch wenn sie nicht förmlich konvertierte.217 Als weiteren bedeutenden katholischen Mystiker der jüngeren Zeit könnte man den amerikanischen Trappistenmönch Thomas Merton (1915–1968) nennen, der mit seiner Autobiographie „Der Berg der sieben Stufen“ (1946) und vielen weiteren Publikationen ein großes Publikum für eine kontemplative Frömmigkeit begeisterte und sich um einen mystisch grundierten 216 217

Zum Spätmittelalter Dinzelbacher, Christliche Mystik, 418–441. Abbt/Müller, Simone Weil; Wehr, Nirgends, Geliebte, 57–64.

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XII. Die Mystik in der westlichen Moderne

Brückenschlag vom Christentum zu den östlichen Religionen bemühte.218 Aus dem Protestantismus sei der schwedische Politiker und UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld (1905–1961) genannt, der durch sein postum veröffentlichtes Tagebuch „Zeichen am Weg“ (1963) für die Öffentlichkeit überraschend als Vertreter einer ernsten, tief empfundenen Christusmystik bekannt wurde.219 Ebenso überraschend erschien das Bekenntnis zur Mystik, das die politisch engagierte Theologin und prominente Vertreterin einer „Theologie nach dem Tode Gottes“ Dorothee Sölle (1929–2003) in ihrem Spätwerk „Mystik und Widerstand“ (1997) ablegte – zu einer Mystik freilich, die sie politisch interpretierte, als eine im Kampf gegen das Unrecht in der Welt engagierte religiöse Haltung.220 Doch auch außerhalb des Binnenbereichs kirchlichen Christentums ist es in der Moderne mehrmals zu Wellen eines gesteigerten Interesses an der Mystik gekommen. Derartige Konjunkturen lassen sich vor allem im frühen 19. Jahrhundert unter dem Einfluss der Philosophie des Deutschen Idealismus und der Romantik221 sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der damaligen antihistoristischen Bewegung222 beobachten. Auch in der Gegenwart ist in bestimmten Milieus wieder ein starkes, wenngleich im geschilderten Sinne eklektisches Interesse an Mystik zu beobachten. „Die soziologischen Gründe reichen vom ‚Unbehagen an der Moderne‘ über den postmodernen bzw. spätmodernen Individualismus bis 218 219

Mandl-Schmidt, Biographie – Identität – Glaubenskultur. Beyschlag, Dag Hammarskjöld; Zimmerling, Evangelische Mystik, 159–169. 220 Wind, Dorothee Sölle; Zimmerling, Evangelische Mystik, 188– 201; Wehr, Nirgends, Geliebte, 160–164. 221 Wentzlaff-Eggebert, Deutsche Mystik, 226–245. 222 Maass, Mystik im Gespräch.

XII. Die Mystik in der westlichen Moderne

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hin zur Erlebnisorientierung der gegenwärtigen Kultur.“223 Für nicht wenige ist „Mystik“ ein Sehnsuchtsziel enttäuschter religiöser Erwartungen. Andere entdecken in der Mystik die Verheißung einer universalen Religiosität, die dazu verhilft, jenseits kontroverser Lehrbildungen die Gemeinsamkeit der verschiedener Religionen zu entdecken, und so ein interreligiöses Verstehen und Voneinanderlernen ermöglicht. Die Beschäftigung mit der Mystik erweist sich aber auch für Christinnen und Christen als lohnend, die ihre eigene religiöse Tradition neu und tiefer kennenlernen wollen. Sie können hier den Anschluss an eine bedeutende Tradition der Christentumsgeschichte wiederfinden und vergessene Reichtümer christlicher Frömmigkeit neu entdecken.

223

Zimmerling, Evangelische Mystik, 34.

Literatur Quellen Angela von Foligno, Das Memorial und die letzten Worte, übers. und kommentiert von Louise Gnädinger, St. Ottilien 2012 Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe, hg. von Louise Gnädinger, Stuttgart 2000 Arndt, Johann, Vier Bücher vom wahren Christentum, hg. von Johann Anselm Steiger (Johann-Arndt-Archiv 2), 3 Bde., Hildesheim 2007 (= Nachdruck der Ausgabe Magdeburg 1610) Arnold, Gottfried, Hauptschriften in Einzelausgaben. Bd. 2: Historie und Beschreibung der mystischen Theologie, Stuttgart / Bad Cannstatt 1969 Augustinus, Bekenntnisse, übersetzt, mit Anmerkungen versehen und hg. von Kurt Flasch / Burkhard Mojsisch, Stuttgart 1989 Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, hg. von Emmanuel Jungclaussen, Freiburg/Basel/Wien 41996 Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke. Lateinisch/deutsch, 10 Bde., hg. von Gerhard B. Winkler, Innsbruck 1990–1999 [= BCSW] Böhme, Jacob, Werke. Text und Kommentar, hg. von Ferdinand van Ingen, Frankfurt a.M. 2009. Das Buch von der mystischen Kontemplation genannt Die Wolke des Nichtwissens, worin die Seele sich mit Gott vereint, übersetzt und hg. von Wolfgang Riehle (CMe 8), Freiburg i.Br. 51995 Christliche Mystik. Texte aus zwei Jahrtausenden, hg. von Gerhard Ruhbach / Josef Sudbrack, München 1989 [Dionysius Areopagita], Der Mystiker Dionysius Areopagita, hg. von Gerhard Wehr, Wiesbaden 2013 „Der Franckforter“. Theologia Deutsch in neuhochdeutscher Übersetzung, hg. von Alois M. Haas, Einsiedeln ²1993 Franz von Sales, Deutsche Ausgabe der Werke, hg. von Franz Reisinger / Anton Nobis, 12 Bde., Eichstätt 1959–1983 Gertrud die Große, Gesandter der göttlichen Liebe, übersetzt und hg. von Johanna Lanczkowski, Heidelberg 1989 [Guyon, Jeanne Marie], Von der Leichtigkeit, Gott zu finden. Das innere Gebet der Madame Guyon, übersetzt von Maria Wachinger, hg. von Emmanuel Jungclaussen, Schwarzenfeld ²2016 Hadewijch, Die Werke der Hadewijch, aus dem Altflämischen übersetzt und hg. von Joseph Otto Plassmann, Hagen/Darmstadt 1923 Hadewijch, Das Buch der Visionen, hg. und übersetzt von Gerald Hofmann. 2 Bde., Stuttgart / Bad Cannstatt 1998

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