Altes Testament und christliche Gemeinde: christliche Zugänge zum ersten Testament der Bibel 9783883097022, 3883097020

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Altes Testament und christliche Gemeinde: christliche Zugänge zum ersten Testament der Bibel
 9783883097022, 3883097020

Table of contents :
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Titelei
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I. Teil: Beiträge aus der theologischen Diskussion
Die Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Gemeinde
Anmerkungen zum Ort des Menschen bei Qohälät
Metamorphosen eines Dämons. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte von Ex 4, 24-26
Die Darstellung Noahs im Qur’an und ihr traditionsgeschichtlicher Kontext
Der Beitrag alttestamentlicher Wissenschaft zur Konturierung eines biblisch-fundierten Missionsverständnisses
Fordert, fördert oder behindert das Alte Testament den Dialog mit dem Islam?
Der Hebräischunterricht – eine Einführung in das AlteTestament? Zur Stellung des Hebräischunterrichtes innerhalb des Theologiestudiums
Theologische Dimensionen des Hebräischunterrichts
‚Die Sündflut’. Die biblische Erzählung von Noah und das Drama von Ernst Barlach
‚Rahel rechtet mit Gott’ Eine Legende von Stefan Zweig
II. Teil: Beiträge aus der Gemeindearbeit
Biblische Betrachtungen zum brennenden Dornbusch
Gedanken zu Psalm 139
Predigt über Genesis 3, 1-19
Predigt über Genesis 13, 1-12
Predigt über Exodus 16, 2-18
Predigt über das Buch Esther
Predigt über Qohälät 3, 1-15
Predigt über Ezechiel 34, 1-16.31
Nachweis der Erstveröffentlichungen
Der Autor

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Altes Testament und christliche Gemeinde

Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie

herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann

Band 10

Verlag Traugott Bautz

Hans-Christoph Goßmann

Altes Testament und christliche Gemeinde Christliche Zugänge zum ersten Testament der Bibel

Verlag Traugott Bautz

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2012 ISBN 978-3-88309-702-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

7

I. Teil: Beiträge aus der theologischen Diskussion

9

Die Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Gemeinde

11

 – Anmerkungen zum Ort des Menschen bei Qohälät

14

Metamorphosen eines Dämons Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte von Ex 4, 24-26

18

Die Darstellung Noahs im Qur’an und ihr traditionsgeschichtlicher Kontext

30

Der Beitrag alttestamentlicher Wissenschaft zur Konturierung eines biblisch-fundierten Missionsverständnisses

37

Fordert, fördert oder behindert das Alte Testament den Dialog mit dem Islam?

53

Der Hebräischunterricht – eine Einführung in das Alte Testament? Zur Stellung des Hebräischunterrichtes innerhalb des Theologiestudiums

60

Theologische Dimensionen des Hebräischunterrichts

65

5

‚Die Sündflut’. Die biblische Erzählung von Noah und das Drama von Ernst Barlach

73

‚Rahel rechtet mit Gott’ Eine Legende von Stefan Zweig

109

II. Teil: Beiträge aus der Gemeindearbeit

129

Biblische Betrachtungen zum brennenden Dornbusch

131

Gedanken zu Psalm 139

141

Predigt über Genesis 3, 1-19

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Predigt über Genesis 13, 1-12

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Predigt über Exodus 16, 2-18

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Predigt über das Buch Esther

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Predigt über Qohälät 3, 1-15

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Predigt über Ezechiel 34, 1-16.31

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Nachweis der Erstveröffentlichungen

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Der Autor

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Vorwort Das Alte Testament wird in der Kirche oft recht stiefmütterlich behandelt. Dies ist bei Lichte besehen nicht nachzuvollziehen. Denn es wäre keineswegs eine Übertreibung, das Alte Testament als die für den christlichen Glauben grundlegende Textsammlung zu bezeichnen. Denn die ersten Christinnen und Christen hatten keine andere Bibel, da es zur Zeit der ersten christlichen Gemeinden noch kein Neues Testament gegeben hat. Dazu kommt, dass das Neue Testament, das wesentliche Inhalte des christlichen Glaubens zur Sprache bringt und entfaltet, immer wieder Bezug auf Texte des Alten Testaments nimmt. Zudem verbindet das Alte Testament die Christenheit auf das Engste mit dem Judentum, da es mit der Hebräischen Bibel des Judentums weitgehend identisch ist. Die Beiträge in diesem Buch zeigen auf unterschiedliche Weise, welche Bedeutung das Alte Testament für Christinnen und Christen hat und wie diese Zugang zu seinen Texten bekommen können. In ihnen werden exegetische Fragen thematisiert, die Rezeptionsgeschichte alttestamentlicher Texte in den Blick genommen – anhand der Werke der beiden Schriftsteller Erst Barlach und Stefan Zweig auch deren Rezeptionsgeschichte in der Literatur des 20. Jahrhunderts – und anhand von Vorträgen und Predigten die Relevanz alttestamentlicher Texte für das christliche Leben aufgezeigt. Dabei wird auch nach der Bedeutung des Alten Testaments für den christlich-islamischen Dialog gefragt sowie die Frage zur Sprache gebracht, wie die hebräische Sprache des Alten Testaments unterrichtet werden kann. Wenn diese Beiträge ihren Leserinnen und Lesern den Zugang zur Welt des alten Testaments erleichtern, hat dieses Buch seinen Zweck erfüllt. Es ist mir eine angenehme Pflicht, Frau Ulla Wieckhorst für ihr sorgfältiges Korrekturlesen zu danken. Hans-Christoph Goßmann

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I. Teil: Beiträge aus der theologischen Diskussion

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Die Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Gemeinde Das Alte Testament bildet zusammen mit dem Neuen Testament die Bibel der Christen. Es ist also in den Kirchen als Teil des Kanons Heiliger Schriften anerkannt. Daneben ist es aber auch die Heilige Schrift der Juden, d. h. Christen sind nicht Alleinerben der Schrift, sondern teilen sie mit den Juden. Deshalb darf die christliche Theologie nicht über das Judentum als legitime Gestalt der Auslegung der Schrift neben der Kirche hinwegsehen. Trotz des gemeinsamen Erbes gingen die Wege der Juden und die der Christen im Laufe der Geschichte immer weiter auseinander. Und es war nicht zuletzt dieses gemeinsame Erbe, das zur Trennung zwischen ihnen beitrug. Denn die Gegensätze zwischen ihnen entzündeten sich auch an der Frage, wie die Heilige Schrift auszulegen sei.1 In der Kirche wurde stets um das Verständnis des Alten Testaments gerungen. Es wurde auch versucht, das Alte Testament ganz für sich zu vereinnahmen, indem gesagt wurde, dass die alttestamentlichen Aussagen früher nur in einem beschränkten und vorläufigen Sinn verstanden werden konnten und dass sie erst jetzt durch Jesus Christus richtig verstanden werden können. Eine solche rein christologische Auslegung des Alten Testaments ist nichts anderes als der Versuch, die Juden theologisch zu enteignen. Andererseits wurden aber auch Versuche unternommen, dem Alten Testament die Anerkennung als Heilige Schrift abzusprechen.2 So hat Markion, wie die Gnostiker, das Alte Testament ganz verworfen. Er unterschied zwischen dem Schöpfergott (Demiurg) des Alten Testaments und dem Vater Jesu Christi, dem guten Gott, der die Liebe und das Erbarmen ist. Er hat als erster einen neutestamentlichen Kanon zusammengestellt, aus dem er seinem Grundsatz gemäß alles Alttestamentliche entfernt

1

R. Rendtorff (Hg.), Arbeitsbuch Christen und Juden. Zur Studie des Rates der Evan-

gelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 1979, S. 109.

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hatte, und hat ein Buch (Antitheseis) geschrieben, in dem er Aussagen des Alten Testaments denen der Religion der Liebe als Gegensatz gegenüberstellte.3 Die Auffassung, dass das Alte Testament nicht denselben Gott bezeugt wie das Neue Testament, wurde auch in der jüngeren Vergangenheit noch vertreten. So schrieb, um nur ein Beispiel zu nennen, der Alttestamentler Franz Hesse 1959 in dem Aufsatz „Zur Frage der Wertung und der Geltung alttestamentlicher Texte“: „Das Alte Testament ist offenbar gar nicht in erster Linie Zeugnis vom Worte und Handeln Gottes ... Die alttestamentliche Religion ist qualitativ anders als der Glaube des Neuen Testaments. Im Glauben Israels und im Christentum haben wir wesensverschiedene Religionen vor uns; das Alte Testament ist Zeugnis aus einer Religion außerhalb des Evangeliums, also aus einer für uns fremden Religion, die geschichtlich gesehen einen anderen Ort hat als die christliche Religion."4 Die Heilige Schrift der ersten Christen war aber im Wesentlichen nichts anderes als das, was in der Kirche später als „Altes Testament“ bezeichnet wurde. Der Jude Jesus hatte sich in der Verkündigung seiner Botschaft auf diese Schrift bezogen. Als die Urgemeinde das Bekenntnis sprach, „dass Christus für unsere Sünden gestorben, ist, nach den Schriften, und dass er begraben und dass er auferweckt worden ist am dritten Tag, nach den Schriften“ (1. Kor. 15, 3f.), so brachte sie damit zum Ausdruck, dass sie den Tod und die Auferstehung Jesu als Heilsereignis, als Erfüllung der göttlichen Verheißung, die die Heilige Schrift bezeugt, deutete.5 Im ersten Jahrhundert wurde nicht damit gerechnet, dass es 2

Nach W. H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament, Berlin / New York, 2. Auflage, 1982, S. 340f., sind drei Vorwürfe immer wieder gegen das Alte Testament erhoben worden: der Vorwurf des Nationalismus (der alttestamentliche Glaube sei an ein bestimmtes Volk gebunden), der Vorwurf der Gesetzlichkeit und der Vorwurf der Diesseitigkeit (das Alte Testament sei „ohne Glauben an ein künftiges Leben“ [Kant]). 3 K. Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, Tübingen, 15. Auflage, 1979, S. 51f. 4 Zitiert nach: R. Rendtorff (Hg.), a.a.O., S. 225f.

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jemals ein Neues Testament geben würde.6 Das „Alte Testament“ war bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts die einzige Schrift der frühen Christen, die als Heilige Schrift anerkannt war. Auch wenn wir als Christinnen und Christen des 21. Jahrhunderts nicht direkt an die frühen Christinnen und Christen anknüpfen können – schließlich liegen fast zwei Jahrtausende Kirchengeschichte, in denen die theologische Entwicklung von den Kirchenvätern über die Scholastiker bis zur Theologie der Gegenwart stattgefunden hat, zwischen ihnen und uns -, so hat doch das Alte Testament seine Bedeutung für die heutige christliche Gemeinde keineswegs verloren. Auch alttestamentliche Texte, die sich eindeutig nur auf das Volk Israel beziehen, sind für die christliche Gemeinde von Bedeutung, da 1. auch die heutige Kirche eine Kirche aus Juden und Heiden ist7 und 2. das Volk Israel für die Kirche Bedeutung hat, denn „das Heil, das dem Heiden in Christus widerfuhr, ist nicht ablösbar vom Heilshandeln Gottes in der Geschichte Israels. Der Heide ist in das Heil hineingenommen, das Gott Israel zugewendet hat, ist Teilhaber der Segensverheißung geworden, die Gott Israel am Anfang seiner Geschichte gab.“8 So ist das Alte Testament ein Teil des Kanons Heiliger Schriften der Christen, die den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs als den Vater Jesu Christi bekennen.

5 M. Metzger, Grundriss der Geschichte Israels (Neukirchener Arbeitsbücher, Bd. 2), Neukirchen-Vluyn, 5. Auflage, 1979, S. 213. 6 P. von der Osten-Sacken, Von der Notwendigkeit theologischen Besitzverzichts, Nachwort zu: R. Ruether, Nächstenliebe und Brudermord, München 1978, S. 247. 7 Auch heute gibt es Juden, die an Jesus Christus glauben. Für sie steht ihr christlicher Glaube in keinem Widerspruch zu ihrer Zugehörigkeit zum jüdischen Volk. So ist es für sie selbstverständlich, dass sie - wie andere Juden auch – die Mizwoth halten. 8 M. Metzger, a.a.O., S. 217.

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 – Anmerkungen zum Ort des Menschen bei Qohälät Die Formulierungist für Qohälät charakteristisch. Sie begegnet an 29 Stellen.9 Daneben findet sich auch die Wendung    jedoch nur an drei Stellen, in 1,13, 2,3 und 3,1. Ist diese unterschiedliche Ausdrucksweise textkritisch zu erklären? Sowohl in 1,13 als auch in 2,3 geben einige Textzeugen die Lesart   an.10 Diese wird in beiden Fällen jedoch nicht die ursprüngliche sein, da sie weder in 1,13 noch in 2,3 sehr gut bezeugt ist und da es wahrscheinlich ist, dass in diesen beiden Fällen    an das sehr viel häufigere   angeglichen worden ist. Keinesfalls ist diese abweichende Lesart ein Argument,    insgesamt an   anzugleichen und damit ganz zu tilgen, da es keinen Textzeugen gibt, der für    in 3,1 die alternative Lesart   bietet, und es somit außer Frage steht, dass bei Qohälät der Ausdruck    begegnet. Ist die Differenz zwischen den beiden Wendungen redaktionskritisch zu erklären, dass   auf Qohälät selbst zurückgeht, während    einem späteren Überarbeiter zuzuschreiben ist? Auch für diese Annahme gibt es keine überzeugenden Gründe, weil – wie im folgenden zu zeigen ist – beide Wendungen nicht einfach synonym,11 sondern sehr

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1,3.9.14, 2,11.17.18.19.20.22, 3,16, 4,1.3.7.15, 5,12.17, 6,1.12, 8,9.15(2x).17, 9,3.6.9 (2x).11.13 und 10,5. LAUHA, A.: Kohelet. – Neukirchen-Vluyn, 1978, (BKAT ; 19), weist zu Recht darauf hin, dass   zu den „Lieblingswörter und Ausdrücke“ gehört, die sich bei Qohälät „stereotyp wiederholen" (S.9). Die Anzahl der Belegstellen gibt er auf Seite 9 allerdings irrtümlicherweise mit 27 an, während auf Seite 33 die richtige Zahl (29) genannt ist. Die Wendung   ist auch in außerbiblischen Texten belegt. LAUHA, Kohelet, 33, führt die entsprechenden Belegstellen auf. 10 In 1,13 sind dies ein Geniza-Fragment, viele Handschriften, die Peschitta, das Targum und die Vulgata und in 2,3 zwei Handschriften, die Septuaginta und die Peschitta. 11 ZIMMERLI, W.: Das Buch des Predigers Salomo. – 2. Aufl. – Göttingen, 1967, (ATD; 16/1,2), scheint die Auffassung zu vertreten, daß die beiden Wendungen synonym gebraucht werden, da er die Rede vom „Leben unter dem Himmel“ für eine

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bewusst in unterschiedlicher Funktion verwendet werden, und es somit nicht notwendig ist, eine von ihnen Qohälät abzusprechen. Denn während   fast nur in negativ wertenden Aussagen begegnet, findet sich die Wendung    in Sätzen mit positivem Inhalt: In 1,1312 geht es um die Frage, was alles unter dem Himmel getan wird und in 2,3 um die Frage, was für die Menschen gut ist, daß sie es tun unter dem Himmel in der Zahl der Tage ihres Lebens. In 3,1 wird die – ebenfalls positive – Aussage gemacht, daß es für jede Sache unter dem Himmel eine Zeit gibt. Wie ist der unterschiedliche Gebrauch dieser beiden auf den ersten Blick synonym wirkenden Wendungen zu erklären? Arbeit „unter der Sonne“ Palästinas13 war zur Zeit Qohäläts so anstrengend wie in heutiger Zeit. Die Sonne war nichts als ein Faktor, der die ohnehin schon anstrengende Arbeit noch mehr erschwerte. Nun wird Qohälät als Angehöriger der Oberschicht sicher nicht selbst körperlich gearbeitet haben. Seine eigene Tätigkeit – den Versuch, sich die eigene, erlebte Realität zu erschließen – muß er jedoch als so anstrengend empfunden haben, daß er auf das Bild der Arbeit „unter der Sonne“

„Variante“ hält, die neben die Rede vom „‘Leben unter der Sonne’“ treten kann (S. 147). 12 Qoh 1,13 mündet zwar in eine negative Aussage. Diese negative Wertung bezieht sich jedoch nicht auf das, was unter dem Himmel getan wird, sondern auf den Versuch des Menschen, dies mit Weisheit zu untersuchen und zu ergründen. Der durch  eingeleitete Relativsatz in 1,13a endet mit der Wendung   , wie an dem Atnach unter   zu sehen ist. Es ist bemerkenswert, dass es in der Zürcher Bibelübersetzung ‚Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testament’. – Zürich, 1971, in der Übersetzung von 1,13 irrtümlicherweise heißt ‚unter der Sonne’ statt ‚unter dem Himmel’ (S. 752). 13 H.W. HERTZBERG hat in seinem Beitrag ‚Palästinische Bezüge im Buche Kohelet’, in: ZDPV 73 (1957), 113-124, m.E. überzeugend nachgewiesen, daß das Buch in Palästina und nicht in Ägypten entstanden ist. Die Prägung der Redeweise durch das palästinische Milieu hat Hertzberg nicht nur bei Qohälät selbst, sondern auch bei dem (ersten) Epilogisten aufgezeigt (S. 122). Zur Lokalisierung s. a. KÖRBER, R.: Der Prediger. – Berlin, 1963, (SQAW ; 13), 8f; MICHEL, D.: Art. Koheletbuch. In: TRE 19. – Berlin ; New York, 1990, 345-356, hier 352, und DERS.: Qohelet. – Darmstadt, 1988, (EdF ; 258), 114f.

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zurückgriff, um dies auszudrücken.14 Diese negative Sicht der Tätigkeit „unter der Sonne“ ging so weit, daß sogar die Sonne als solche negativ gesehen wurde, so in 6,5, wo es als Vorteil der Fehlgeburt genannt wird, daß sie die Sonne nicht sah.15 Dem entspricht die positive Wertung des Schattens in 6,12 7,12 und 8,13.16 Anders verhält es sich mit der Wendung   : Hier wird der Rahmen benannt, innerhalb dessen der Mensch sich bewegen und entfalten kann. Die Aussage in 5,1b (Gott ist im Himmel -   - und du bist auf der Erde, deshalb sollen deine Worte wenige sein) grenzt den Bereich des Menschen scharf von dem Gottes ab. „Dieser Satz heißt also bei Qohelet: Gott ist in seinem eigenen Bereich, der dem Menschen schlechterdings unzugänglich ist, und er bleibt dort als die Macht im Hintergrund der undurchschaubaren Welt. Der Mensch auf der Erde kann wegen der beschränkten Möglichkeiten seines Erkennens diese Kluft nicht überwinden – und Gott tut es nicht. Er ist im Himmel und er bleibt im Himmel, zufrieden damit, als der Unerforschliche gefürchtet zu werden.“17 Dabei ist 5,1b nicht als Einschränkung genuin menschlicher Freiheit mißzuverstehen, sondern weist dem Menschen seinen Platz 14

ZIMMERLI, Prediger, 147, weist mit Recht darauf hin, daß die Beschreibung des Lebens „unter der Sonne“ bei Qohälät „den Akzent lastender Einengung und Versperrtheit in einem Gefängnis“ bekommt. Unverständlich ist die Ablehnung dieser Position durch LAUHA, Kohelet 33, zumal sie nicht begründet wird. 15 Es begegnen bei Qohälät aber auch Stellen, in denen die Sonne positiv gewertet wird: In 7,11 wird die Formulierung   im Sinne von ‚leben’ gebraucht. Hier hat vermutlich ein in der griechischen Poesie seit Homer fest verankerter Terminus seinen Niederschlag im Hebräischen gefunden; vgl. LOHFINK, N.: Kohelet. – Würzburg, 1980, (Die Neue Echter Bibel), 53. In 11,7 wird das Licht süß genannt, und es wird gesagt, daß es für die Augen gut ist, die Sonne zu sehen. Entsprechend wird das Dunkelwerden der Sonne in 12,2, das das langsame Erblinden der alten Menschen meint, negativ dargestellt. An zwei Stellen begegnet die Wendung „unter der Sonne“ sogar in zumindest teilweise positivem Sinne: In 8,15 und 9,9 werden neben der üblichen Aussage, daß das Leben „unter der Sonne“ mit Mühe verbunden ist, auch positive Aspekte dieses Lebens benannt. 16 Vgl. KÖRBER, Prediger, 118. 17 MICHEL, D.: Untersuchungen zur Eigenart des Buches Qohelet. – Berlin ; New York, 1989, (BZAW ; 183), 286.

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innerhalb dieses ihm gesteckten Rahmens zu. Der Mensch erkennt seine Grenzen an, indem er akzeptiert, daß er – als „unter dem Himmel“ befindlich – die Tat nicht begreifen kann, die Gott – der sich „im Himmel“ befindet – gemacht hat (3,11). Er kann nicht einmal die Tat, die „unter der Sonne“ getan wird, erkennen (8,17). Versucht er, sie „herauszufinden“,18 überschreitet er die ihm gesteckten Grenzen. Diese Grenzen bedeuten auch, daß der Mensch nicht weiß, was sein wird (8,7 und 10,14) und seine Zeit nicht kennt (9,12). Sein Platz ist „unter dem Himmel“, nicht „im Himmel“. Qohälät wusste, daß der Mensch innerhalb dieses ihm gesteckten Rahmens ein hohes Maß an Freiheit genießt; er wusste, daß der Ort, an den der Mensch gestellt ist, ein Ort der unbegrenzten Möglichkeiten ist: Für jede Sache unter dem Himmel gibt es eine Zeit (3,1). Qohälät, der realistisch sah, daß nicht jede Sache gut ist, versuchte die Menschen nun zu ergründen, was für die Menschen gut ist, daß sie es tun unter dem Himmel in der Zahl der Tage ihres Lebens (2,3). Damit aber versuchte er, die ihm von Gott gesetzten Grenzen zu überschreiten. Dieser Versuch endet in der Erfahrung der totalen Nichtigkeit, die ihn zu der Erkenntnis führt, daß es keinen Gewinn „unter der Sonne“ gibt (2,11). Während die Wendung    also den dem Menschen zugedachten Lebensbereich als Ganzes bezeichnet, findet die Wendung   dann Verwendung, wenn der Mensch versucht, die ihm gesetzten Grenzen zu überschreiten. Bei diesen zum Scheitern verurteilten Versuchen erlebt der Mensch nach der Auffassung bzw. Erfahrung Qohäläts seine Existenz als nichtig.

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In 3,11 wie auch in 8,17 findet das Verb  Verwendung, um den vergeblichen Versuch des Menschen, die ihm gesteckten Grenzen zu überschreiten, zu bezeichnen. Zu  bei Quhälät vgl. CERESKO, A.R.: The Function of Antanaclasis (  “to find” // “to reach, overtake, grasp”) in Hebrew Poetry, Especially in the Book of Qoheleth. In: CBQ 44 (1982), 551-569, hier 565-567.

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Metamorphosen eines Dämons Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte von Ex 4, 24-26 Der Gott des Alten Testaments als der hartherzige, rachsüchtige Gott: Diese Charakterisierung begegnet nicht nur bei Marcion, sie prägt auch das Gottesbild zeitgenössischer Autoren. Als Beispiel sei hier ein Abschnitt aus dem Roman „Joseph und seine Brüder“ von Thomas Mann vorgestellt. Es heißt dort über den Gott der Sippe Abrahams: „Ihr Gott daheim in der Wüste war ein schnaubender Kriegsherr und Wettererreger namens Jahu, ein schwer zu behandelnder Kobold mit mehr dämonischen als göttlichen Zügen, tückisch, tyrannisch und unberechenbar, vor dem sein braunes Volk, übrigens stolz auf ihn, in Angst und Schrecken lebte, indem es durch Zaubermittel und Blutriten das zerfahrene Wesen des Dämons zu ordnen und in nützliche Wege zu lenken suchte. Jahu konnte ohne irgend deutliche Veranlassung bei Nach auf einen Mann stoßen, dem wohlzuwollen er allen vernünftigen Grund hatte, - um ihn zu erwürgen; doch war er etwa auf die Weise zu bewegen, von seinem wüsten Vorhaben abzulassen, daß des Überfallenen Weib eilig ihren Sohn mit einem Steinmesser beschnitt, des Unholds Scham mit der Vorhaut berührte und ihm dabei eine mystische Formel zuraunte, deren auch nur einigermaßen sinnvolle Übersetzung in unserer Sprache auf bisher unüberwundene Schwierigkeiten stößt, die aber den Würger besänftigte und verscheuchte. Dies nur zur Kennzeichnung Jahu`s.“19 In seiner Darstellung des alttestamentlichen Gottes greift Thomas Mann auf Ex 4,24-26 zurück.

19

Th. Mann, Joseph und seine Brüder, in: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 1: Die Geschichte Jaakobs, Frankfurt a.M. 1986, 131.

18

Der Text von Ex 4, 24-26 24 Und es geschah unterwegs auf/in einem …20 und YHWH traf ihn und er suchte ihn zu töten. 25 Aber Zippora nahm einen Stein21 und schnitt die Vorhaut22 ihres Sohnes ab und sie berührte23 seine24 Füße25 und sie sagte: „Denn du bist mir ein Blutbräutigam26.“ 20

Im allgemeinen wird das Nomen  von der Wurzel  (schlafen) abgeleitet und somit als „Übernachtungsplatz, Herberge“ wiedergegeben. Bereits in der LXX begegnet diese Deutung:  . In der Vulgata findet sich ebenfalls die Bedeutung Herberge: diversorium. Im modernen Hebräisch hat  dementsprechend die Bedeutung „Hotel“. Daneben gibt es aber eine weitere Möglichkeit, die Etymologie des Nomens  zu erklären: Es kann auch von der Wurzel  (beschneiden) abgeleitet werden, zumal die Endung –on (- oder -) als Lokalendung durchaus gebräuchlich ist (vgl. die Orts-, Länder- und Gebirgsbezeichnungen Ajalon, Askalon, Gibeon, Dibon, Hebron, Helbon, Holon, Hermon, Hesbon, Kesalon, Libanon, Madon, Maon, Abdon, Eglon, Ijon, Ammon, Asmon, Ekron, Sidon, Sion, Kamon, Rimmon, Rakkon u.a.m.). Wenn diese etymologische Ableitung zutrifft, hat  also die Bedeutung „Beschneidungsort“. Auf die Möglichkeit, „daß  zugleich in etymologischer Spielerei als ‘Ort der Beschneidung’ gedacht sei“, hatte Hermann Gunkel in einem Brief an Hugo Greßmann bereits 1913 hingewiesen (H. Greßmann, Mose und seine Zeit. Ein Kommentar zu den Mose-Sagen, FRLANT 18, Göttingen 1913, 58 Anm. 4). Julian Morgenstern hält es ebenfalls für möglich, daß  von der Verbwurzel  abgeleitet ist, aber er hält die Übersetzung „Beschneidungsort“ für falsch und schlägt stattdessen „Beschneidung, Akt der Beschneidung“ vor, da er davon ausgeht, daß ein Nomen mit der Bedeutung „Beschneidungsort“ mit einem Mem-Präfix gebildet werden müsste. (J. Morgenstern, The „Bloody Husband“ (?) (Exod. 4:24-26) once again, HUCA 34 (1963), 35-70, hier 69 Anm. 73). Er übersieht dabei, daß es neben der Möglichkeit dieses Präfixes auch die Möglichkeit der Endung –on (- oder -) gibt, um die lokale Zuordnung zum Ausdruck zu bringen (vgl. J. Barth, Die Nominalbildung in den semitischen Sprachen, Leipzig ²1894 (Nachdr. Hildesheim 1967) 319f Anm. 5; J. Körner, Hebräische Studiengrammatik, Leipzig ²1986, 84). Morgenstern begründet die etymologische Herleitung des Nomens  von der Verbwurzel  vom Gesamtzusammenhang des Textes her: „’lodging place’ makes little or no sence, while the meaning, ’circumcision’, which we propose, fits the context perfectly.“ (S. 69) Die Frage, welche Bedeutung die Vokabel  für den bzw. die Verfasser des vorliegenden Textes hatte, ist nicht mit letzter Sicherheit zu klären. Neben der Möglichkeit, daß es die Bedeutung „Beschneidungsort“ war, gibt es auch die, daß  zwar eindeutig „Übernachtungsplatz, Herberge“ hieß, daß aber der bzw. die Verfasser bewusst dieses und kein anderes Nomen – wie etwa  - gewählt haben, um so bereits auf das Hauptthema dieser drei Verse – die Beschneidung – anzuspielen.

19

21

Der hier genannte scharfe Stein () als Instrument, mit dem die Beschneidung durchgeführt wird, deutet auf das hohe Alter des Textes hin. Er begegnet als Beschneidungsinstrument sonst nur in Jos 5,2f, wo von der Beschneidung erwachsener Männer die Rede ist. 22 Der Ausdruck   (die Vorhaut abschneiden) ist höchst ungewöhnlich. Im allgemeinen wird das Verb  (beschneiden) verwendet. Möglicherweise handelt es sich um einen sehr alten Ausdruck, der aus einer Zeit stammt, als das Verb  noch nicht gebräuchlich war. Dies kann jedoch nicht als Argument für das hohe Alter des Textes angeführt werden, da das Verb  im vorliegenden Text Verwendung findet: In V. 26 und u.U. auch in V. 24 (s.o. Anm. 20). 23 Die exakte Bedeutung von  im Verbalstamm Hiph´il ist nicht mit letzter Sicherheit anzugeben: Es gibt die Möglichkeit, es als „berühren“ wiederzugeben neben der Übersetzungsmöglichkeit als „werfen“. Die LXX liest an dieser Stelle   ! " (sie fiel zu Füßen). Durch diese Geste ist wie in Est 8,3; Hi 1,20 u.a. die Demütigung zum Ausdruck gebracht (W.H. Schmidt, Exodus, BK.AT II,3, Neukirchen-Vluyn 1983, 217). Auch Raschi geht von der Bedeutung „werfen“ aus und paraphrasiert diese Stelle unter Verwendung des Verbs #$ hi. (werfen). G. Richter, Zwei alttestamentliche Studien. I. Der Blutbräutigam, ZAW 39 (1921), 126, vertritt die Übersetzung von  hi. als „werfen“. Auch Gisela Schneemann spricht sich in ihrer mir nicht zugänglichen theologischen Dissertation: Deutung und Bedeutung der Beschneidung nach Ex. 4,24-26, Prag 1979 (vgl. Selbstreferat in ThLZ 105 (1980), Sp. 794) gegen die Übersetzung als „berühren“ aus, da  im Verbalstamm Hiph´il in Verbindung mit der Präposition  im AT für eine Bewegung in eine bestimmte Richtung steht. 24 Aus dem Text geht nicht hervor, ob sich das Suffix der 3. pers. Sg. Masc., das an das Nomen  gehängt ist, auf den nächtlichen Angreifer, auf Mose oder auf den Sohn bezieht. Daß an dieser Stelle kein Name genannt ist, erschwert die Interpretation des ohnehin schon kaum verständlichen kurzen Textes noch mehr (vgl. Anm. 30). 25 Es ist fraglich, ob mit  an dieser Stelle „Fuß“ gemeint ist oder ob hier ein Euphemismus für Genital vorliegt. G. Schneemann, Deutung (s.o. Anm. 23) geht wie bereits H. Greßmann, Mose (s.o. Anm. 20), 58, von der ersten Möglichkeit aus. Dagegen vertritt O. Böcher, Dämonenfurcht und Dämonenabwehr. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der christlichen Taufe, BWANT 5/10, Stuttgart 1970, 123, die letztgenannte Möglichkeit. 26 Die exakte Bedeutung dieses Ausdrucks ist nicht zu ermitteln: H. Gunkel, Das Märchen im Alten Testament, Tübingen 1921, 73, hält ihn für die Bezeichnung des Bräutigams „nach der ersten Beiwohnung“ und übersetzt den Satz  % &'  als: „du hast schon meine Jungfrauenschaft genossen“ (ebd., Anm. 20). Gisela Schneemann, Deutung (s.o.Anm. 23) gibt den Ausdruck dagegen als „ein Bräutigam, der Blut vergossen hat“ wieder und bezieht ihn auf YHWH, der die Absicht hat, Blut zu vergießen. Eine m.E. sehr viel wahrscheinlichere Übersetzung ergibt sich, wenn man die Etymologie von  näher untersucht. Im Arabischen ist diese Wurzel mit der

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26

Und er ließ von ihm ab. Damals sagte sie27 „Blutbräutigam“ bei Beschneidungen28.

Man kann gut verstehen, daß Thomas Mann zu seiner oben angeführten Charakterisierung des Gottes Abrahams kommt, wenn er nur von dieser Erzählung ausgeht. W. H. Schmidt bezeichnet sie zu Recht als „inhaltlich dunkel, in ihrer gedrängten Kürze vieldeutig, dabei erschreckend fremdartig“29. Gott erscheint hier wirklich als unberechenbar – und als höchst ungerecht: Warum greift Gott ausgerechnet Mose an? Warum versucht er ihn, den er sich doch erwählt hat, um sein Volk aus Ägypten herauszuführen, zu töten? Diese Frage zieht sich durch die gesamte Auslegungsgeschichte des Textes. Doch bevor auf sie eingegangen werden kann, soll zunächst der Versuch unternommen werden, die Vorstufe der nun vorliegenden Textgestalt zu eruieren.

Bedeutung „beschneiden“ belegt. &'  wäre somit als „Blut-Beschnittener“ zu übersetzen. Das Blut wäre das, was bei der Beschneidung auftritt. 27 Die Form ist eindeutig eine 3. pers. Sg. Fem.: „sie sagte“. Da jedoch an dieser Stelle aufgrund der Pluralform  (Beschneidungen) viel eher eine allgemeine Aussage „man sagte“ zu erwarten ist, schlagen viele Forscher eine solche Übersetzung vor. So lesen, um nur zwei Beispiele zu nennen, H. Gunkel, Märchen (s.o. Anm. 26), 72 Anm. 4, und G. Greßmann, Mose (s.o. Anm. 20) 56f Anm. 1, an dieser Stelle statt % („sie sagte“) % (3. pers. Pl. C.: „man sagte“). 28 Hier begegnet ein Derivat der Verbwurzel  (beschneiden). Wenn man nicht davon ausgeht, daß V. 26b ein späterer Zusatz ist, so ist erwiesen, daß die Wurzel  dem Verfasser, bzw. den Verfassern des vorliegenden Textes bereits bekannt war. Die These, daß  ein Derivat dieser Wurzel ist (s.o. Anm. 20), gewinnt somit an Wahrscheinlichkeit. Die Formulierung   (die Vorhaut abschneiden) ist also nur eine stilistisch bemerkenswerte Formulierung und deutet nicht etwa auf das hohe Alter des Textes hin (s.o. Anm. 22). 29 W.H. Schmidt, Exodus (s.o. Anm. 23), 218.

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Die ursprüngliche Gestalt von Ex 4, 24-26 Es fällt zunächst einmal auf, daß der Name „Mose“ im gesamten Text kein einziges Mal genannt wird30. Es ist zu vermuten, daß der Text ursprünglich gar nicht von Mose gehandelt hat. Der Grund, der dazu geführt hat, daß diese Erzählung auf Mose übertragen wurde, ist nicht mit letzter Sicherheit zu eruieren. Eventuell gab der Name „Zippora“ den Anlaß: Es ist denkbar, daß die Frau des Überfallenen, von dem der Text ursprünglich handelte, ebenfalls Zippora hieß, und daß eben diese Zippora später für die Frau des Mose gehalten wurde und der Überfallene somit für Mose. Aber dies sind nur Vermutungen, über die man allerdings auch kaum herauskommen wird. Dies gilt auch für die folgende Frage: Wer war der Angreifer? Im Text wird YHWH genannt. Es spricht jedoch viel für die These, daß der Angreifer in der ursprünglichen Gestalt des Textes nicht YHWH war, sondern ein Wüstendämon. Bevor sich der israelitische Monotheismus herausgebildet hat, kannten die Israeliten Dämonen und folglich auch Erzählungen wie die vorliegende. Als die theologische Entwicklung dann so weit vorangeschritten war, daß die Existenz von Dämonen neben YHWH undenkbar war, wurde aus dem jeweiligen Dämon YHWH gemacht, mit anderen Worten: Die Dämonenerzählungen wurden „yahwisiert“31. Ein weiteres Beispiel für eine solche „Yahwisierung“ begegnet in Gen 32, der Erzählung vom Kamp am Jabbok. Nun stellt sich die nächste Frage: Um welche Art von Dämon ging es in Ex 4,24-26 ursprünglich? Dies ist an der Art zu sehen, wie er von 30

Dies ist bereits frühen Übersetzern und Auslegern dieses Textes aufgefallen. Die Peschitta fügt in V. 24a den Namen Mose ein. Auch Raschi nennt Mose in seinem Pentateuchkommentar namentlich. H. Gunkel, Märchen (s.o. Anm. 26), 72, vertritt die Auffassung, daß „der gute hebräische Stil die ausdrücklichen Benennungen, die ’Explicita’, meidet und lieber ’er’ und ’sie’ sagt, in der Erwartung, der Leser werde auch so den Sinn nicht verfehlen“. 31 A. Jirku, Von Jerusalem nach Ugarit. Gesammelte Schriften, Graz 1966, 31.39.57, und A.S. Kapelrud, Die Ras-Schamra Funde und das Alte Testament, München u.a. 1967, 61.

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Zippora vertrieben wird: Sie schnitt die Vorhaut ihres Sohnes ab und berührte seine Füße (V. 25) – was sich hinter diesen Worten verbirgt, ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen. Aber eines ist deutlich: Es ist in jedem Fall ein Vorgang, bei dem Blut fließt. Blut als apotropäisches Mittel begegnet auch in anderen alttestamentlichen Texten – so etwa in Ex 12, wo das an den Türpfosten gestrichene Blut den todbringenden „Verderber“ davon abhält, die Häuser der Israeliten zu betreten (V. 23). Hier wird deutlich, daß hinter Ex 4,24-26 und auch hinter Ex 12 ein anderer Typ von Dämon steht als hinter Gen 32. Häufig wird Gen 32 zur Interpretation von Ex 4,24-26 herangezogen und umgekehrt. Dies geschieht nicht ohne Berechtigung: Beiden Texten ist gemeinsam, daß sie in ihrer ursprünglichen Gestalt nicht von YHWH, sondern von einem Dämon handeln. Trotzdem besteht der entscheidende Unterschied, daß es sich um zwei völlig unterschiedliche Dämonen handelt. Da über die Dämonen selbst in den Texten recht wenig steht – schließlich geht die vorliegende Textgestalt in beiden Fällen von YHWH und nicht von einem Dämon aus -, können sie nur durch die Art, wie sie vertrieben werden, näher bestimmt werden. Es stellt sich also die Frage nach dem jeweiligen apotropäischen Mittel. In Ex 4,24-26 ist dies, wie auch in Ex 12, Blut. In Gen 32 dagegen Tageslicht (V. 26). Exkurs: Blut als apotropäisches Mittel Als Trauerritus ist der Brauch belegt, Erde (hebr. '%) auf sein Haupt zu streuen. Dieser Trauerritus war ursprünglich nichts anderes als ein apotropäischer Ritus gegen den Geist des bzw. der Verstorbenen, den Totengeist. Dasselbe gilt für den Brauch, sich Schnittwunden zuzufügen32. Sicherlich geht es bei diesen Riten auch darum, sich für den Totengeist unkenntlich zu machen, aber im Vordergrund steht doch wohl, daß der Totengeist durch Blut abgewehrt wird. Denn das hebräi32

Jer 16,6 u.a. (verboten in Lev 19,28; 21,5; Dtn 14,1). Der Trauerritus, sich Schnittwunden zuzufügen, begegnet nicht nur im AT, sondern auch in ugaritischen Texten (A.S. Kapelrud, Ras-Schamra Funde [s.o. Anm. 31], 52).

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sche Nomen '% (Erde) hängt eng mit dem Nomen &' (Blut) zusammen33. Letztlich geht es bei den genannten Riten um das apotropäische Mittel &' bzw. '%. Blut war also apotropäisches Mittel gegen Totengeister. Um aber von diesem apotropäischen Mittel darauf schließen zu können, daß der abzuwehrende Geist ein Totengeist ist, bzw. ursprünglich war, wäre der Nachweis zu erbringen, daß nur Totengeister mit Blut abgewehrt wurden, d.h. daß die oben genannten Riten nur angewandt wurden, nachdem jemand gestorben war. Dies ist jedoch nicht der Fall. In 2 Sam 13,19 und in Est 4,1.3 findet dieser Ritus als vorbeugende Maßnahme Verwendung: Ein drohender Tod ist abzuwehren, d.h. es gibt noch keinen Totengeist, der derart zu vertreiben wäre. Nun ist es aber durchaus denkbar, daß dieser Ritus ursprünglich zwar nur gegen Totengeister eingesetzt wurde, später jedoch eine Bedeutungsveränderung erfuhr, so daß er auch als vorbeugende Maßnahme verwendet wurde. Unter dieser Voraussetzung sind die fraglichen Texte hinsichtlich ihres Alters zu untersuchen – bei alten Texten kann davon ausgegangen werden, daß der durch Blut zu vertreibende Geist ein Totengeist ist. Ex 4,24-26 ist nun solch ein alter Text, da in einem jüngeren Text eine Frau (Zippora) nicht als Durchführende einer Beschneidung dargestellt worden wäre34. Die These, daß die Beschneidung ursprünglich ein apotropäischer Ritus war, lässt sich zumindest nicht mit Ex 4,24-26 begründen. Wäre dies der Fall, so hätte Zippora Mose und nicht den Sohn beschneiden müssen, da der

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J.G. Plöger, Art. '%, ThWAT 1, Sp. 95, spricht von der Möglichkeit, daß '% von &' etymologisch herzuleiten ist. 34 In 1 Makk 1,60 ist von Frauen die Rede, die ihre Kinder hatten beschneiden lassen. Sie führen die Beschneidung also nicht selbst durch. Da eine Beschneidung von Männern durch Frauen ohne Parallelen ist, vermutet E.A. Knauf, Midian. Untersuchungen zur Geschichte Palästinas und Nordarabiens am Ende des 2. Jahrtausends v.Chr., Wiesbaden 1988, 151f, daß der Text auf eine vage Kenntnis der auch in Westarabien praktizierten Mädchenbeschneidung schließen lässt. Der Erzähler, der diesen Ritus nicht kannte, habe die Beschneidung auf den Sohn übertragen.

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Sohn beschneiden müssen, da der Dämon Mose bedrohte35. Wäre die Beschneidung hier ein apotropäischer Ritus, so hätte Zippora den Sohn vor dem Zugriff des Dämons bewahrt. Der wandte sich jedoch von Mose ab, was darauf schließen lässt, daß ihn das bei der Beschneidung ausgetretene Blut vertrieb. Die Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Identität des nächtlichen Angreifers in Ex 4,24-26 lautet also: Hinter dem genannten YHWH steht ein Dämon, bei dem es sich wahrscheinlich um einen Totengeist handelt.

Die weitere Geschichte des Textes A. Die Rezeption und Interpretation in der Septuaginta Die oben genannten Erwägungen zur ursprünglichen Gestalt von Ex 4, 24-26 wurden in der Zeit, als die Septuaginta entstand, natürlich nicht angestellt. Es ging vielmehr um eine ganz andere Fragestellung: Sollte Gott höchstpersönlich des Nachts gekommen sein, um Mose umzubringen? In dem Bestreben, anthropomorphe Ausdrücke zu meiden, wurde aus dem YHWH des hebräischen Bibeltextes ein **  in der Septuaginta. Auf diese Weise wurde aus Gott selbst ein Bote Gottes36. Dies gilt nicht nur für die LXX. Auch in der späteren rabbinischen Literatur ist nicht von YHWH, sondern von seinem #% (Boten) die Rede.

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H. Greßmann, Die Anfänge Israels. Von 2. Mosis bis Richter und Ruth, SAT 2, Göttingen 1914, 37, geht davon aus, daß der Text ursprünglich von der Beschneidung des Mose handelte: „Nach dem überlieferten Text wird nicht Mose, sondern sein Sohn beschnitten, doch ist dieser erst eingesetzt worden, weil man später nicht mehr die Erwachsenen, sondern nur noch die Kinder zu beschneiden pflegte.“ 36 J. Leipoldt / W. Grundmann, Umwelt des Urchristentums, Bd. 1: Darstellung des neutestamentlichen Zeitalters, Berlin 1985, 317.

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B. Die Rezeption und Interpretation in der rabbinischen Literatur Auch den Rabbinen bereitete dieser Text Probleme. Zwei Punkte waren es, an denen sich die Diskussion entzündete: a. Die Tatsache, daß Zippora – also eine Frau – die Beschneidung durchführte und b. Das Theodizeeproblem: Warum wollte Gott Mose umbringen? Da an der Gerechtigkeit Gottes nicht zu zweifeln ist, muß Mose Schuld auf sich geladen haben. Das unter a. genannte Problem wurde wie folgt gelöst: Die Form + in V. 25 wird nicht als Qal, sondern als Hiph’ il vokalisiert. Sie heißt dann: „sie ließ nehmen“ statt „sie nahm“. Konsequent wird auch für die folgende Verbform  die Lesung als Hiph’il statt Qal vorgeschlagen, die dann entsprechend nicht „sie schnitt“, sondern „sie ließ schneiden“ heißt. Bezeichnenderweise endet die Diskussion über diese Frage mit dem Vorschlag, man könne den Text ja auch so verstehen, daß sie begann und Mose daraufhin kam und es vollendete37. Das unter b. genannte Problem war ungleich schwieriger. Galt es doch auf der einen Seite, das Verhalten Gottes zu rechtfertigen und somit die Schuld des Mose herauszustellen – und zwar aufgrund des vorliegenden Textes! – und auf der anderen Seite, Moses Verhalten zumindest als menschlich verständlich darzustellen. Schließlich war Mose ja derjenige, durch dessen Hände Gott seinem Volk die Tora übergeben hatte. R. Jehoschua b. Qorha findet folgende Lösung: Moses Schuld besteht darin, daß er seinen Sohn nicht beschnitten hatte. Dies ist zum einen direkt aus dem Text zu erheben, schließlich findet die Beschneidung erst in Gegenwart Gottes statt. Zum anderen bietet diese Lösung auch die Erklärung, warum Gott von Mose ablässt: Die Beschneidung ist vollzogen und somit besteht kein Anlaß mehr, Mose zu verfolgen38. Aber diesem 37

Vgl. bAZ 27 a. Vgl. bNed 31b-32a. Diese Begründung findet sich auch im Pentateuchkommentar des Raschi zu dieser Stelle. 38

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Lösungsvorschlag kann Rabbi nicht zustimmen: Er verteidigt das Verhalten des Mose: Er hat die Beschneidung nicht vernachlässigt, sondern bewusst aufgeschoben, um das Leben seines Sohnes nicht zu gefährden. Denn – so wird aus Gen 34,25 gefolgert – am dritten Tag nach der Beschneidung leidet der Beschnittene Schmerzen. Am dritten Tag wären Mose und Zippora mit ihrem Sohn aber bereits auf der Reise gewesen und hätten somit keine Möglichkeit gehabt, ihn angemessen zu versorgen. Die Reise hätte aber auch nicht verschoben werden können, da Gott den Befehl zum Aufbruch bereits gegeben hatte. Gott wollte Mose vielmehr aus dem Grund umbringen, weil er sich zuerst um die Herberge und dann erst um die Beschneidung gekümmert hatte. Zwei weitere Erklärungen werden vorgetragen: R. Simon b. Gamliel geht davon aus, daß der nächtliche Angreifer (den er interessanterweise nicht für Gott, sondern für den Satan hält – s.u.) nicht Mose, sondern den Sohn töten wollte. Jehuda b. Bizna vermutet sogar, daß Mose Zippora umbringen wollte39. Bereits diese wenigen Beispiele aus der Auslegungsgeschichte von Ex 4,24-26 belegen, welche Probleme dieser Text seinen späteren Interpreten bereitet hat. In erster Linie geht es um die Schwierigkeit, zu begründen, warum Gott nun ausgerechnet seinen Diener Mose umbringen wollte. Eine wirklich überzeugende Lösung wird dabei nicht gefunden. Deshalb wundert es nicht, daß der Gedanke aufkommt, es sei gar nicht Gott oder sein Bote gewesen, der Mose töten wollte, sondern sein Widersacher. Davon war auch R. Simon b. Gamliel ausgegangen (s.o.). Dieser Gedanke begegnet jedoch nicht erst im Babylonischen Talmud, sondern bereits in einer sehr viel früheren Schrift, dem Jubiläenbuch. C. Die Rezeption und Interpretation im Jubiläenbuch Im Jubiläenbuch ist Mastema der Gegenspieler des Engels Gottes. Ex 314 ist als Kampf zwischen den beiden dargestellt. Dabei hat die in Ex 4, 39

Vgl. bNed 32a.

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24-26 geschilderte Szene die Funktion, die Befreiung aus Ägypten einzuleiten: Mastema versucht vergeblich, Mose umzubringen, um so die Ägypter zu retten. In Jub 48,2 heißt es: „Und du weißt, was er mit dir geredet hat auf dem Berge Sinai und was der Fürst Mastema mit dir tun wollte, als du nach Ägypten zurückkehrtest, auf dem Weg bei der Tanne am schattigen Or.“40 Bei dieser Erklärung des Textes muß die Schuld nicht bei Mose gesucht werden, um den nächtlichen Angriff zu rechtfertigen, da dieser nicht von Gott ausgeführt wird. Auch in den Schriften der Kirchenväter begegnet die Auffassung, daß der nächtliche Angreifer ein feindlich gesinnter Dämon ist – so bei Origenes. D. Die Rezeption und Interpretation bei Origenes An zwei Stellen geht Origenes auf Ex 4, 24-26 ein: In De Principiis III, 2 – dem Kapitel De contrariis potestatibus. Es heißt dort in 2,1 (GCS Orig 5,244): „R=quirendum etiam illud est, de quo in Exodo dicitur, quia voluerit interficere Moysen pro eo quod abibat in Aegyptum.“ Allein, daß Origenes auf diese Bibelstelle in dem Kapitel eingeht, das davon handelt, wie der Teufel und die feindlichen Mächte nach Aussage der Schrift gegen das Menschengeschlecht zu Felde ziehen, zeigt bereits, daß er den Angreifer für einen feindlich gesinnten Dämon hält. In der Schrift Contra Celsum geht Origenes auf Ex 4, 24-26 noch näher ein. Er spricht in Buch V, Kapitel 48 (GCS Orig 2,52) von einem   >

** , der vor der Beschneidung des @ \^ noch Gewalt über Mose hatte, danach aber jeden Einfluß auf ihn verloren hat41. Zusammenfassung Es begegnen also insgesamt zwei unterschiedliche Arten, das Theodizeeproblem zu lösen: 40

Übersetzung nach K. Berger, Das Buch der Jubiläen, JSHRZ II/3, Gütersloh 1981, 542f. In Anm. c wird diese Übersetzung näher erläutert. 41 Origenes hält die Beschneidung folglich für ein apotropäisches Mittel.

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a. Die Schuld des Mose wird herausgestellt, um so das Verhalten Gottes bzw. seines Engels zu rechtfertigen und b. der nächtliche Angreifer wird als feindlicher Geist dargestellt. Damit entfällt die theologische Notwendigkeit, sein Verhalten zu rechtfertigen. Dieser Lösungsversuch erinnert an Marcion, dem es ebenfalls nicht möglich war, den lieben und den harten, schwer zu verstehenden Gott zusammenzudenken und der deshalb einerseits von dem "_ > *, dem Schöpfergott des Alten Testaments, und andererseits von dem Vater Jesu Christi, dem guten Gott, der die Liebe und das Erbarmen ist, sprach. So schließt sich der Kreis: Aus dem Dämon war (in der hebräischen Bibel) YHWH geworden, aus diesem dann ein Engel Gottes (in der Septuaginta und auch in der späteren rabbinischen Literatur) und schließlich der Fürst Mastema, der gegen den Engel Gottes kämpfte (im Jubiläenbuch) bzw. der Dämon, der als feindliche Macht in Erscheinung tritt (bei Origenes). Der Dämon hatte nach etlichen Metamorphosen auf manch verschlungenen Pfaden also wieder sein „wahres“ Gesicht als Dämon angenommen.

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Die Darstellung Noahs im Qur’an und ihr traditionsgeschichtlicher Kontext Im christlich-islamischen Dialog werden oft biblische Gestalten, die auch im Qur’an vorkommen, als Gegenstand für das interreligiöse Gespräch gewählt - in der Annahme, wenn die entsprechenden Prophetengestalten in den Heiligen Schriften beider Religionen vorkommen, so werden sie einen guten Ausgangspunkt für ein interreligiöses Gespräch bieten. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass das Gegenteil der Fall sein kann: Über diese sowohl in der Bibel als auch im Qur’an begegnenden Gestalten sich zu verständigen ist besonders schwer, da jeder der Dialogpartnerinnen und partner das Bild der Gestalt vor Augen hat, das durch die Aussagen der je eigenen Heiligen Schrift geprägt ist. Lassen sich die Aussagen der Bibel hinsichtlich der Prophetengestalt nun nicht mit denen des Qur’ans in Einklang bringen - und das ist in der Regel der Fall - so ist der Dialog oft beendet, bevor er überhaupt richtig begonnen hat. Die Darstellung in der Heiligen Schrift des Dialogpartners zu hinterfragen, hieße, deren Offenbarungscharakter in Frage zu stellen. Die Aussagen der eigenen Heiligen Schrift zur Disposition zu stellen, käme der Diskreditierung der eigenen Position im interreligiösen Dialog gleich. Die Darstellung der Noahgestalt verdeutlicht dieses Problem exemplarisch: Noah wird in der Bibel anders dargestellt als im Qur’an. Dies wird - wie auch in Bezug auf andere Aussagen des Qur’ans - religionsgeschichtlich damit erklärt, dass Muhammad die biblischen Erzählungen nicht gelesen hat, sondern nur aus mündlicher Überlieferung kannte.42 42

Vgl. R. Paret, Mohammed und der Koran. Geschichte und Verkündigung des arabischen Propheten, Stuttgart 19805, S. 92. Diese Erklärung würde ein frommer Muslim vehement mit der Begründung zurückweisen, dass der Qur’an Gottes Wort sei, das Muhammad offenbart wurde. Abweichungen zwischen dem Qur’an und der Bibel könnten daher ihren Grund nur darin haben, dass die biblische Offenbarung durch Menschenhand verfälscht sei. Dieser Einspruch liegt auf der Ebene des Glaubens, um die es im Rahmen dieses Textes nicht geht. Hier geht es vielmehr darum, die einzelnen Texte religionsgeschichtlich zu untersuchen und literarische Parallelen zwischen ihnen herauszustellen. Dabei wird

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Im folgenden wird der Versuch unternommen, zu zeigen, wo die Wurzeln des qur’anischen Noah-Bildes liegen. Viele Züge dieses Bildes, die einem Leser der biblischen Urgeschichte sehr fremd sind und den Eindruck hervorrufen können, sie seien ausschließlich im Qur’an zu finden, begegnen uns bereits in anderen Schriften. Um dies zu verdeutlichen, wird im Folgenden gezeigt, wie vielschichtig das Noah-Bild des Qur’ans ist. Die Noah-Darstellung im Qur’an In anderen - biblischen wie außerbiblischen - Texten, in denen Noah eine Rolle spielt, geht es primär um die Sintflut. Dies ist im Qur’an anders. Hier steht Noah (arabisch: nuh) im Vordergrund, und die Flut ist nur deshalb von Bedeutung, weil sie die Strafe ist, die Noah angekündigt hat. Das Hereinbrechen der Flut beweist, dass Noah entgegen dem Zweifel und Spott seiner Zeitgenossen43 wirklich der Gesandte Gottes war. In folgenden Stellen ist im Qur’an von der Sintflut die Rede: Sure 6,6; 11,42; 29,13f. und 54,11f. Sure 29,13f. ist die einzige Stelle, in der die Flut at-tufan genannt wird. Dieser Terminus wird auch verwendet, um die erste der zehn Plagen zu bezeichnen.44 In Sure 11,40 heißt es, dass die Vernichtung durch Hitze durchgeführt wurde. Dies entspricht der rabbinischen Vorstellung, dass die Wasser der Sintflut heiß waren.45 Muhammad hat viel jüdisches Material kennen gelernt, da er mit Juden Umgang pflegte und daher Kenntnisse über jüdisches Leben hatte.46 Daneben hat er auch christliche Überlieferungen kennen gelernt,47 wenn versucht, qur’anische Aussagen vor dem Hintergrund der Vita Muhammads zu interpretieren. 43 Vgl. Sure 11,32.35; 23,24f. und 26,105-117. 44 Vgl. H. Speyer, Die Biblischen Erzählungen im Qoran, Hildesheim 19612, S. 113. 45 Lev. r. 7,6. 46 Vgl. A. Geiger, Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen?, Leipzig 19022, S. 198. 47 So R. Paret (s.o. Anm. 42), S. 63 und S. 92; anders: A. Geiger, Vorrede, in: Was hat Mohammed aus dem Judenthume aufgenommen? (s.o. Anm. 46), S. I.

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auch Sagen, die von Noah handeln, in jüdischen Volkskreisen sicher polulärer waren als in christlichen.48 Die Übermittlung des jüdischen und christlichen Gedankengutes erfolgt nur durch mündliche Überlieferung.49 In diesen jüdischen Sagen wird Noah immer als * ( dargestellt, während die   für die nichtjüdischen Völker stehen, da für sie nur die sieben noahitischen Gebote verpflichtend sind.50 Die Christen, die Muhammad kannte und durch die er das Christentum kennen lernte, waren wahrscheinlich Ebioniten.51 Der Qur’an sieht in Noah einen Propheten.52 Dies entspricht zwar nicht der biblischen Noah-Darstellung,53 hat jedoch Parallelen im tannaitischen (1 54 und in „De civitate Dei"55 von Augustin, in denen Noah ebenfalls als Prophet dargestellt wird. Die Art, in der die Noah-Gestalt - wie auch andere biblische Gestalten - im Qur’an rezipiert wurde, lässt Rückschlüsse auf die Situation Muhammads zu: Je intensiver er sich mit den biblischen Gestalten auseinander setzte, um so deutlicher gelangte er zu der Überzeugung, dass in seiner Gegenwart im Grund dasselbe geschieht wie zu deren Zeit: Der Prophet, den Gott als Bußprediger zum Volk sendet, wird von diesem abgelehnt und verspottet, worauf Gott das Volk straft.56 Diese Überzeugung hatte eine 48

Vgl. H. Speyer (s.o. Anm. 44), S. 96. Vgl. R. Paret (s.o. Anm. 42), S. 92. 50 Vgl. H. Speyer (s.o. Anm. 44), S. 96. Siehe dagegen die negative Wertung der   in CD III, 1. 51 So H.-J. Schoeps, Das Judenchristentum. Untersuchungen über Gruppenbildungen und Parteikämpfe in der frühen Christenheit, Bern / München 1964, S. 107. G. Strecker weist in dem Artikel ‚Judenchristentum’ (in: TRE, Bd. 17, Berlin / New York 1988, S. 310-325) jedoch darauf hin, dass „es sich hierbei um ein weitgehend noch unbearbeitetes Forschungsgebiet handelt.“ (S. 323). 52 Vgl. B. Heller, Art. ‚Nuh’ (in: A.J. Wensinck; J.H. Kramers [Hgg.], Handwörterbuch des Islam. Im Auftrag der Koninklijke Akademie van Wetenschappen, Amsterdam, herausgegeben von A.J. Wensinck und J.H. Kramers, Leiden 1941, S. 589-591), S. 589. 53 Vgl. A. Geiger (s.o. Anm. 46), S. 108. 54 Vgl. B. Heller (s.o. Anm. 52), S. 589. 55 Vgl. H. Speyer (s.o. Anm. 44), S. 114, Anm. 1. 56 Vgl. R. Paret (s.o. Anm. 42), S. 99. 49

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Identifikation Muhammads mit den biblischen Gestalten zur Folge, im vorliegenden Falle mit Noah. So geht es in der qur’anischen NoahDarstellung letztlich nicht um Noah, sondern um Muhammad selbst. Dies kommt an zwei Stellen besonders zum Ausdruck: - In Sure 10,72 wird Noah als Muslim bezeichnet.57 - Sure 71,2 bezeichnet sich Noah als nadir mubin. Dies ist eine häufig verwendete Selbstzeichnung Muhammads.58 - In den Versen 21-23 derselben Sure, die in die mekkanische Frühzeit zu datieren ist, werden die altarabischen Götter Wadd, Suwa', Yagut, Ya'uq und Nasr, denen die Zeitgenossen Muhammads anhingen, als Götter der Zeitgenossen Noahs ausgegeben und somit in die Zeit Noahs datiert.59 Die Aufnahme der Überlieferung von Noah und der von diesem angekündigten Flut hat im Qur’an die Funktion, den Mekkanern deutlich zu machen, dass mächtigere und reichere Völker als sie von Gott bestraft wurden, weil sie nicht auf seinen Propheten gehört haben.60 Der Grund für die Rezeption der Noah-Gestalt im Qur’an ist also der Wunsch Muhammads, seiner Predigt an die Mekkaner mehr Nachdruck zu verleihen, indem er ihnen gegenüber gleichsam als neuer Noah auftritt.

57

H. Speyer (s.o. Anm. 44), S. 113f. So u.a. Sure 7,183; 22,48 und 29,49. Vgl. H. Speyer (s.o. Anm. 44), S. 93, Anm. 7. 59 Vgl. R. Paret, Der Koran. Kommentar und Konkordanz, Stuttgart 19802, S. 489, und H. Speyer (s.o. Anm. 44), S. 101. 60 Vgl. H. Speyer (s.o. Anm. 44), S. 115. 58

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Der traditionsgeschichtliche Kontext der koranischen NoahDarstellung Neben den bereits genannten Elementen der qur’anischen Noah-Darstellung, die uns auch in anderen Texten begegnen,61 gibt es weitere, auf die im Folgenden eingegangen wird: Noah tritt im Koran als Bußprediger auf (s.o.). Er soll in aller Öffentlichkeit die Arche bauen (Sure 11,38f.), damit seine Zeitgenossen die Möglichkeit haben, ihn nach dem Anlass des Baues zu fragen und sich zu bessern.62 Dass Noah im Koran als Bußprediger dargestellt ist, hat seine Parallelen in Klemens 7,6 und 9,4, in 2. Petrus 2,5 und in den Antiquitates Iudaicae des Josephus: Klemensbrief In 7,6 wird Noah als ein Beispiel dafür genannt, dass Gott denen, die sich bekehren wollten, Gelegenheit zur Buße gab. 23! 456!" !"," 4. . %4%"!$ 370". In 9,4 wird Noah neben anderen biblischen Gestalten genannt, die als gläubig gefunden wurden. Von ihm wird auch hier gesagt, dass er verkündigte. ( 456!"): 23! ,#$ !%!7!.$ &, 5$ !,).$ %% ,))!"!." 4#8 456!". 4. &, 8!" &,` %% # &!#0$  !.!7#" " #". /3 !.$ 0" 4,98#". 2. Petrus 2,5 In 2. Petrus 2,5 wird Noah explizit als &,4,%"0$ 456 („Herold der Gerechtigkeit") bezeichnet: 4. :. 4# %4 ;!.  #)&" 23! &,4,%"0$ 454 ;6!" 44#" 4#8 !93" 6$. Die Rettung Noahs und der wenigen, die zu ihm hielten, wird hier damit begründet, dass Noah nicht nur für sich gerecht lebte, sondern auch 61

S.o. die auch in der rabbinischen Literatur begegnende Vorstellung, dass die Wasser der Sintflut heiß waren (s.o. Anm. 45) sowie die Vorstellung, dass Noah ein Prophet war, die sich auch im tannaitischen  (1 und in Augustins „De civitate Dei" findet. 62 Vgl. H. Speyer (s.o. Anm. 44), S. 92f.

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bemüht war, die Anderen zur Buße zu rufen und zu einem gottgefälligen Leben zu bekehren.63 Die Antiquitates Iudaicae des Josephus Josephus stellt Noah zum einen als vollkommenen Gerechten dar: ´O & 7!#$ %"  " 5$ &,4,%"0$ 5)0! (I, § 75), was dem im AT über Noah Gesagten entspricht (Gen 6,8 [J]; Gen. 6,9 [P]. Zum anderen begegnet Noah hier als Missionar, der sich vergeblich bemüht, seine Mitmenschen zu einem besseren Lebenswandel zu bewegen, um so Gottes Strafgericht, die Sintflut, abzuwenden: 23:$ & ,$  ",$ %` %3" &:!."8" 4. ,$ 9!%," 0&8$ :8" !,7!" , # 4!," 5" &,"," %%$ 4, $ 6!,$ !; !,", #3" &` %4 "&,&#"$, ` .:3$ %# 5$ 5&"5$ 3" 443" 4!40 "$, &!.$ 5 4. ;"!%8," %#" ! )",43" 4.  4"8" 4. 3" %,$ ",43" 6!:30! 5$ )5$ (I, § 74). Bei der qur’anischen Noah-Darstellung fallen weitere interessante Einzelheiten auf: Zu den Menschen, die durch die Flut vernichtet werden, gehört auch Noahs Sohn (Sure 11,45f.). Vermutlich stehen hier Gen 9,18-29 und Teile verschiedener Sagen im Hintergrund: Muhammad lässt Noahs Sohn wie die übrigen sündigen Zeitgenossen Noahs umkommen.64 Auch Noahs Frau, über die in der Bibel keine Aussage gemacht ist, kommt um (Sure 66,10). Hier scheint Muhammad das Schicksal der Frau Lots, die er ebenfalls an dieser Stelle erwähnt, auf die Frau Noahs übertragen zu haben.65

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Vgl. Fr. Hauck, Die Briefe des Jakobus, Petrus, Judas und Johannes (Kirchenbriefe) (NTD, Bd. 10), Göttingen 19474, S. 92. 64 Vgl. A. Geiger (s.o. Anm. 46), S. 109, B. Heller (s.o. Anm. 52), S. 590, und H. Speyer (s.o. Anm. 44), S. 105. 65 Vgl. A. Geiger (s.o. Anm. 46), S. 109, B. Heller (s.o. Anm. 52), S. 590, und H. Speyer (s.o. Anm. 44), S. 108.

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Die Arche landet nach Sure 11,44 auf dem arabischen Berg al-?@ABCDE) nördlich von Bethlehem. Im Jeremia 31, 15b wird die Trauer Rahels um ihre exilierten Kinder zur Sprache gebracht: „Rahel weint über ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen über ihre Kinder; denn es ist aus mit ihnen.“ Aufgrund dieses Bibelverses ist Rahel in der jüdischen Tradition aufs Engste mit der Trauer um das verlorene Volk verknüpft. Im Neuen Testament wird dieses Weinen Rahels auf den Kindermord des Herodes in Bethlehem bezogen (Matthäus 2, 18). Zur innerbiblischen Rezeptionsgeschichte der Rahel-Erzählung gehört auch, dass Rahel im Buch Ruth zusammen mit ihrer Schwester Lea in

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einem Hochzeitssegen als Stammmutter Israels genannt wird: „Der Herr mache die Frau, die in dein Haus kommt, wie Rahel und Lea, die beide das Haus Israel gebaut haben; sei stark in Efrata, und dein Name werde gepriesen zu Bethlehem.“ (4, 11b). Im Hinblick auf die nachbiblische Rezeptionsgeschichte ist der Schabbatsegen für Töchter zu nennen, in dem auch Rahel genannt wird, wenn es heißt: „Gott lasse dich werden wie Sara, Rebekka, Rahel und Lea.“ III. Die Legende ‚Rahel rechtet mit Gott’ von Stefan Zweig Die Legende ‚Rahel rechtet mit Gott’ ist ein kurzer Text. In dem von Knut Beck herausgegebenen gleichnamigen Band (Stefan Zweig, Rahel rechtet mit Gott. Legenden [Gesammelte Werke in Einzelbänden], Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1990, 3. Auflage: 2007), der neben dieser Legende noch drei weitere enthält – ‚Die Legende der dritten Taube’, ‚Die Augen des ewigen Bruders’ und ‚Der begrabene Leuchter’ – hat die Legende einen Umfang von nicht mehr als siebzehneinhalb Duckseiten (S. 56 bis 73). Aber es ist trotz seiner Kürze ein gewichtiger Text. Dies liegt nicht nur an seinem Inhalt, sondern auch an seiner sprachlichen Gestalt, die jegliche Form von Oberflächlichkeit konsequent vermeidet. Diese sprachliche Gestalt weckt vielfältige Erinnerungen an die Sprache deutscher Bibelübersetzungen. Sprache, also Form, und Inhalt entsprechen sich dabei. Inhaltlich geht es um die erfolgreiche Fürsprache Rahels bei Gott für ihr Volk. Dabei kommen vielfältige Bezüge zu anderen biblischen Inhalten zum Tragen. Im Folgenden werde ich den Verlauf der Legende referieren und dabei explizite sowie implizite biblische Bezüge benennen: Am Anfang steht ein schwerer Konflikt zwischen Gott und seinem Volk. Durch erneuten Götzendienst hat das Volk den Zorn Gottes ausgelöst. Der erste Absatz der Legende lautet: Abermals hatte das halsstarrige und wetterwendische Volk zu Jerusalem des geschworenen Bundes vergessen, abermals hatten sie den erzenen

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Götzen von Tyr und Ammon blutige Gabe gebracht. Und nicht genug des Frevels, daß sie jenen räucherten auf Höhen und steinernen Altären – auch in Gottes leibeigenes Haus, das Salomo, sein Knecht, ihm gebaut, stellten sie Bildnis des Baal und schwemmten die Fliesen mit Schlachtwerk, bis die heilige Stätte stank von Räucher und Blut. Dieser Götzendienst hat Konsequenzen. Im folgenden Satz heißt es: Als nun Gott sah, daß sie seiner spotteten bis in das innerste Herz seines Heiligtums, da entbrannte mächtig sein Zorn. Der göttliche Zorn entlädt sich wie eine Naturkatastrophe, die Zweig wie folgt beschreibt: Schaudernd erbebten, als so der Ingrimm Gottes zur Stimme ward, die gefesselte Erde und die Höhen des Himmels. Es flohen die Ströme davon und beugten sich die Meere, es wankten die Berge Trunkenen gleich, und sanken die Felsen in die Knie. Die Vögel stürzten tot aus den Lüften, und selbst die Engel bargen ihr Haupt unter die riesige Flügel, denn auch sie, die Fühllosen vermochten den Blitz seines Zornblickes nicht zu schauen, und der Schrei seines Ingrimms fuhr ehern in ihr Ohr. Die Menschen, die all dies durch ihren Götzendienst ausgelöst haben, werden dadurch zutiefst verschreckt und versuchen, Gottes Zorn durch Bußpraktiken zu besänftigen – allerdings ohne Erfolg. In der Legende heißt es: Da entstürzten jäh die Geschreckten ihren Häusern, damit der First nicht über sie falle, und als sie aufsahen, erschraken sie abermals, denn schon hing das Gewölk über ihnen dräuender als Fels, und feurig von Schwefelfaden schmeckte die sausende Luft. Vergebens, daß sie ihr Angesicht zur Erde warfen und den Herrn um Vergebung anriefen für

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ihren Vorwitz – die Wolke wuchs weiterhin schwarz, und es erlosch das lebendige Licht über dem Lande. Das Strafgericht Gottes ist so schrecklich, dass selbst die Toten in ihren Gräbern erwachen. Das mag Assoziationen an die Erweckung der Toten auslösen, die in Ezechiel 37 geschildert wird. Aber während es bei Ezechiel um den Ausdruck der Verheißung geht, in das verheißene Land Israel zurückkehren zu können, ist das Erwachen der Toten in der Legende von Stefan Zweig Ausdruck des schrecklichen Ausmaßes des göttlichen Gerichts und somit keineswegs positiv konnotiert. Dergestalt aus dem Tod aufgeschreckt, steigen die Seelen der Verstorbenen zu Gott auf, um Fürbitte für die vom Strafgericht Bedrohten zu halten – aber ohne auch nur den geringsten Erfolg. In der Legende wird dies folgendermaßen in Worte gekleidet: Flatternd wie Vögel wider großen Wind, scharten sich die Seelen der Väter und Urväter alldort im Kreise, damit sie vereint den Allmächtigen anflehten und Rache wendeten von ihren Kindern und den Zinnen der heiligen Stadt. Isaak und Jakob und Abraham, die Erzväter, einer gedrängt von den andern, traten vor zur rauschenden Bitte. Doch der Donner zerbrach ihren Ruf, und in ihr Stammeln fuhr neuerdings des Herrn Wort: überlang schon habe er geduldet das Unmaß des Undanks, jetzt aber wolle er den Tempel zerschmettern, damit im Zorn ihn erkenneten, die seiner Liebe sich gewehrt. Nach den Erzvätern versuchen die Propheten Moses, Samuel, Elias und Elisa, die Gottes eigene Rede im Munde trugen, Gott umzustimmen, doch auch ihnen ist kein Erfolg beschieden. In dieser Situation, als keine weitere Fürbitte irgendeinen Sinn mehr zu haben scheint, tritt Rahel auf. Dies wird in der Legende in eindruckvollen Worten beschrieben:

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Verschüchtert schwieg jede irdische Stimme – da trat Rahel, die Erzmutter Israels, allein aus dem Wald ihres Ängstens. Auch sie hatte in ihrem Grabe zu Ramah Gottes Zornwort vernommen, und die Tränen rannen ihr nieder, da sie ihrer Kindeskinder gedachte. So packte sie stark die Kraft im eigenen Leibe und stieß sich hin vor den Unsichtbaren. Kniend erhob sie ihre Hände, kniend erhob sie ihr Wort zu dem Herrn: Dies ist der Anfang der Fürbitte Rahels, auf den der Titel der Legende Bezug nimmt. Sie beginnt mit folgenden Worten: „Das Herz bebt mir im Leibe, zu dir zu sprechen, Allmächtiger, doch wer denn du schufst mir dies Herz im Leibe, daß es bebend werde in deiner Furcht, und wer die Lippe, daß sie ihre Angst ausgieße ins Gebet? Aus deiner Furcht schreie ich mich auf in deine Liebe, aus meiner Kinder Not hebe ich mein klein Wort in deine Unendlichkeit. Nicht Klugheit gabst du mir, noch List, und nichts finde ich, um dein Zürnen zu beschwichtigen, denn von mir selber zu sprechen, wie ich einstens meinen Zorn obsiegte. Wohl weiß ich, du kennst meine Rede, ehe sie geredet, ist doch in ihr jedes Wort längst gestaltet, ehe es Laut wird an der Menschen Lippe, und jede Tat, ehe sie ausfährt unserer irdischen Hand. Dennoch aber, ich flehe dich an, höre mich geduldig um der Sündigen willen.“ Dies ist der Auftakt einer Rede, in der Rahel für ihr Volk bittet. Die Intensität, in der sie dies tut und die bereits in diesen einleitenden Sätzen zu spüren ist, lässt an Genesis 18, 22b-33, denken, wo erzählt wird, dass Abraham mit Gott regelrecht feilscht, um das Unglück von Sodom abzuwenden. Sie verhält sich dabei keineswegs unterwürfig, auch wenn sich dieser Eindruck auf den ersten Blick einstellen könnte, denn sie parallelisiert das Zürnen Gottes und ihren Zorn. Damit erinnert ihre Rede zugleich auch an die Hiobs, in der dieser Gott direkt herausfordert:

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O hätte ich einen, der mich anhört - hier meine Unterschrift! Der Allmächtige antworte mir! -, oder die Schrift, die mein Verkläger geschrieben! Wahrlich, dann wollte ich sie auf meine Schulter nehmen und wie eine Krone tragen. Ich wollte alle meine Schritte ihm ansagen und wie ein Fürst ihm nahen. (Hiob 31, 35-37) Dieser Auftakt der Rede Rahels hat ihre Wirkung: Gott hält inne; er hört Rahel zu. Und so berichtet sie, wie sie ihre Lebensgeschichte erlebt hat, wie sie Jakob kennen und lieben gelernt hat. Und wie sehr sie ihn begehrte. Zu ihrem sexuellen Begehren bekennt sie sich nicht nur, sondern sie führt auch dieses – wie bereits das bebende Herz in ihrem Leibe (s.o.) – unmittelbar auf Gott zurück, wenn sie sagt: Nur eine Stunde war es, daß wir einer den andern gesehen, und schon brannten unsere Blicke inwendig uns ein und unsere Herzen sehnten sich eines dem andern zu. Und ich lag nachts wach, seiner begehrend – doch siehe, Herr, ich schämte mich meines Blutes nicht, denn wer, wenn nicht du, Herr, hast dies in uns getan, daß jählings das Herz uns aufbricht zum flammenden Dornbusch der Liebe? Von dir, Herr, von dir allein ist es gewollt, daß die Jungfrau sich öffne dem Manne, daß Blick in Blick und Leib zum Leibe stürmig sich dränge. Mit dem Hinweis auf den flammenden Dornbusch der Liebe vollzieht Rahel in diesen Worten eine weitere Parallelisierung: die der Liebe Gottes, in der er sich Mose offenbarte (vgl. Exodus 3f.), mit der begehrenden Liebe zwischen ihr und Jakob. Sie erinnert klagend und damit auch anklagend daran, dass sie aufgrund der Hartherzigkeit ihres Vaters Laban lange sieben Jahre auf die Hochzeit mit Jakob hat warten müssen. Dabei sagt sie:

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Denn sieben Jahre, Herr, ich weiß es, für dich sind sie bloß ein Tropfen, der niederfällt, ein Wimperschlag kaum deinem ewigen Auge, geht doch wie Rauch die Zeit durch die Himmel deiner Urewigkeit. Damit wird auf Psalm 90 angespielt, in dem es heißt: Denn tausend Jahre sind vor dir / wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. (Psalm 90, 4) Auch in dem darauf folgenden Satz begegnet eine Anspielung auf diesen Psalm: Doch sieben Jahre, Herr, geruhe es zu bedenken, uns Menschen sind sie ein Zehent des Lebens, denn kaum daß wir die Augen aufschlagen vom Dunkel in dein heiliges Licht, schon schließt sie uns neu die Nacht unseres Todes. Wie ein Strom im Frühling strömt rasch unser Leben, und keine Welle kehrt da nochmals zurück. Diese beiden Sätze lassen an folgenden Vers denken: Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon. (Psalm 90, 10) Rahel schildert, wie froh sie war, als diese lange Frist endlich ihr Ende erreicht hatte – und wie unendlich enttäuscht sie war, als ihr Vater Laban dann sein Wort brach und ihr eröffnete, dass nicht sie Jakob heiraten werde, sondern ihre Schwester Lea. Sie berichtet, dass sie heimlich lauschte, als ihr Vater Lea seinen Plan darlegte, sie als Braut zu Jakob zu führen anstelle von ihr - und wie daraufhin ihr Zorn entbrannte, gegen

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ihren Vater Laban ebenso wie gegen ihre Schwester Lea. Zu diesem Zorn bekennt sie sich ebenso wie zuvor zu ihrer begehrenden Liebe zu Jakob – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie Gott wegen ihres Zornes um Verzeihung bittet: - verzeih es, Herr! Liegt hier bereits eine indirekte Kritik am Zorn Gottes vor? Diese Frage legt sich nahe, denn wenn Rahel betont, dass sie sich für das Gefühl der begehrenden Liebe nicht schämen muss, jedoch für das Gefühl des Zornes um Verzeihung bittet, dann könnte hier angesichts der zuvor zur Sprache gebrachten Parallelisierung von göttlicher und menschlicher Liebe – die beide gut und legitim sind – der Gedanke angedeutet sein: Wie der menschliche Zorn der Verzeihung bedarf, so auch der göttliche. Dass ein derartiger Gedanke, der die Grenze zur Blasphemie zumindest tangiert, von Rahel lediglich in dieser verklausulierten Form geäußert werden kann, versteht sich von selbst. Aber Rahel bleibt nicht bei diesem Gedanken stehen, sondern wagt noch einen weitergehenden Schritt: Sie thematisiert ihre Empörung gegen ihren Vater, parallelisiert diese mit der Empörung ihres Volkes gegen Gott und legitimiert die Empörung auf dieselbe Art und Weise, wie sie eingangs bereits die begehrende Liebe legitimiert hatte: indem sie sie auf Gott zurückführt. Dies tut sie mit folgenden Worten: Da stemmte mein Sinn sich störrig auf und ich empörte mich wider meinen Vater, so wie meine Kinder sich empörten wider dich, ihren ewigen Vater, denn auch dies, Herr, hast du in uns getan, daß starr uns der Nacken wächst im Zorn, sobald uns ein Unrecht geschieht. Dann setzt Rahel die Schilderung der dramatischen Ereignisse fort und berichtet, dass sie mit Jakob heimlich als Erkennungszeichen vereinbarte, dass die Braut ihn dreimal auf die Stirn küsst, bevor sie das Zelt betritt. Als der Abend der Hochzeitsnacht herangekommen ist, lässt Laban seine Tochter Rahel in den Speicher gehen, um so zu verhindern, dass sein Betrug an Jakob vorzeitig entdeckt wird. Als sie dort ist, spürt

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sie nur Schmerz und Zorn. Ihrer Schwester Lea, mit der sie sich früher immer gut verstanden hat, gönnt sie die Hochzeitsnacht mit Jakob nicht. Als sie dort in Schmerz und Zorn versunken sitzt, geht die Tür auf und Lea kommt hinein. Zornig wendet sich Rahel ab. Und es ist nicht nur Zorn, der sie beseelt, sondern das Böse selbst. Als Lea ihr sagt, dass der Betrug ihres Vater ihr zuwider ist und sie fürchtet, dass Jakob sie nach der Hochzeitsnacht wegjagen werde und somit Schande über sie kommen werde, löst dies in Rahel böse Freude aus. Rahel schildert dies in aller Offenheit: Herr, noch stand der Zorn mir aufrecht im Leibe, und obzwar ich jene liebte, frohlockte noch immer das Böse in mir und ihre Angst letzte mich wie ein köstlich Gericht. Dann aber verändern sich mit einem Mal ihre Gefühle. Denn Lea nennt den Namen Gottes. Was dies in ihr auslöst, beschreibt Rahel nicht minder ausführlich als ihre vorigen Gefühle des Zornes und des Bösen. Diese Beschreibung ihres Gefühlsumschwungs beginnt mit den Worten: Da sie aber deinen heiligen Namen nannte, Herr, deinen heiligsten Namen, den Namen des Allerbarmers – Herr, da widerfuhr’s mich wie ein feuriger Strahl, umgeschüttelt ward mir mein Herz im geweiteten Leibe, und deiner Güte Gewalt, deines Erbarmens rauschende Macht, Herr, süß fühlte ich sie eindringen in die verdunkelte Seele. So wendet sich Rahel wieder ihrer Schwester Lea zu, erkennt deren innere Not, erbarmt sich ihrer und verrät ihr das geheime Erkennungszeichen, den dreimaligen Kuss auf die Stirn. So unterstützt sie den Betrug, unter dem sie selbst so sehr leidet, um der Liebe Gottes willen. Die Bedeutung dieser Entscheidung hebt sie in ihrer Darstellung dieses Erlebnisses mit der folgenden Aufforderung an Gott hervor:

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Herr, höre jetzt wohl auf mein Wort! Und sie lässt die Darstellung dieser Entscheidung in die Worte einmünden: - so, Herr, schlug ich, Rahel, meiner Eifersucht ins Antlitz, so verriet ich Jakob und meine eigene Liebe um deiner Liebe willen. Lea ist ihr zutiefst dankbar und die beiden Schwestern finden wieder in Liebe zueinander. Dann jedoch befällt Lea erneut Angst, da ihr klar wird, dass Jakob sie an ihrer Stimme erkennen kann. Und wieder wendet sie sich voll Sorge an Rahel. Diesmal richtet sie jedoch keine direkte Bitte an sie, sondern fragt, was sie tun soll, wenn Jakob sie in der Hochzeitsnacht anspricht. Es legt sich der Gedanke nahe, dass sie deshalb keine konkrete Bitte äußert, weil ihr klar ist, dass sie damit die Grenze dessen überschreiten würde, was sie Rahel zumuten kann. Aber auch diesmal unterstreicht sie die Dringlichkeit ihrer Bitte um Hilfe, indem sie Gott nennt. So lässt sie ihre Frage bzw. Bitte in die flehentliche Bitte einmünden: Hilf mir Rahel, hilf mir, du Kluge, hilf mir, du Hilfreiche, um des Allerbarmers willen! Und Rahel ist bereit, ihrer Schwester das anzubieten, was diese nicht explizit von ihr erbeten hat: dass sie sich in die Kammer Jakobs einschleicht, sich dort neben das Lager kauert und anstelle von Lea Jakob Antwort gibt, wenn er Lea anspricht. Dass sie zu diesem Opfer bereit ist, hat seinen Grund darin, dass Lea sich in ihrer abschließenden flehentlichen Bitte auf Gott berufen hat. So sagt Rahel zu Gott: Und abermals, Herr, da sie mich anrief mit dem heiligsten deiner Namen, abermals ging dieser feurige Strahl durch mich hin und zer-

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trennte jedwede Härte in meiner Seele, daß sie helle ward und offen ihrer klagenden Not. Und zum andernmal nahm ich mein eigenes schreiendes Herz, abermals trat ich das Schmerzhafte hin unter die Füße. Und als ich es aufhob und wieder faßte, war es lind in Erbarmen und jedem Opfer bereit. Dementsprechend verspricht Rahel ihrer Schwester, auch dieser zweiten, für sie ungleich schmerzhafteren Bitte nachzukommen: So antwortete ich ihr: ‚Sei getrost Lea, meine Schwester, und sorge dich nicht. Denn um des Allerbarmers willen will ich dies auf mich nehmen, … […] Dies aber will ich tun, Lea, um der Liebe willen, die wir eine zur andern hegten von Kindheit an, und um des Allbarmherzigen, den du angerufen, damit auch er dereinst barmherzig sei meinen Kindern, wann immer sie ihn anrufen mit seinem heiligsten Namen.’ Und so, wie die beiden Schwestern es geplant haben, geschieht es dann auch. Für Rahel ist diese Nacht extrem schmerzhaft. So sagt sie: … mir war, als läge ich lebendigen Leibes im Feuer, da jener liebend Lea umfasste und meinte, mich zu nehmen, die ihm offenstand mit aller Glut ihres Blutes. Herr, entsinne dich, Allgegenwärtiger du, entsinne dich jener Nacht, da ich sieben Stunden mit schmerzenden Knien und schmerzender Seele neben ihr kauerte und hören musste, was mir galt und mir selbst zu fühlen verwehrt war! Sieben Stunden, sieben Ewigkeiten lag ich gebückt, den Atem verpreßt, und rang wider den eigenen Schrei, wie Jakob einst rang mit deinem Engel, und siebenzigmal dünkten sie mich länger, diese Stunden, als die sieben Jahre des Wartens. Rahel betont, dass sie dies nur hat durchstehen können, weil sie den Namen Gottes wieder und wieder anrief:

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Und ich hätte sie nicht ertragen, diese Nacht meiner Langmut, hätte ich nicht immer wieder deinen heiligen Namen angerufen und mich gestärkt im Gedanken deiner unendlichen Geduld. In diesem Abschnitt wird direkt auf Genesis 32, 23-33, Bezug genommen, wo der Kampf Jakobs am Jabbok dargestellt ist. Zudem werden hier die symbolträchtige Zahl sieben sowie deren Steigerung siebenzig als sprachliche Mittel eingesetzt, um die Bedeutung des Opfers, das Rahel für ihre Schwester bringt, hervorzuheben. In ihrer Darstellung dieses Opfers bezieht sich Rahel auf die Gottesebenbildlichkeit, die sie gemäß Genesis 1, 27 als Mensch hat: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Weib.“ Diesen Bezug artikuliert sie in ihren folgenden Worten: Dies, Herr, war meine Tat, die einzige, deren ich mich rühme auf Erden, weil ich in ihr dir selber ähnlich ward in Langmut und Erbarmen – denn über aller Menschen Maß litt meine Seele Not und ich weiß nicht, ob du jemals, Herr, ein Weib so hart versucht hast auf Erden denn mich in jener unseligen Nacht. Auch hier wird Gott somit auf seinen Langmut und sein Erbarmen angesprochen. Nach der Hochzeitsnacht entdeckt Jakob den Betrug, rast vor Zorn und stürmt mit einem Beil auf Laben zu, um ihn zu töten. Dieser sinkt zutiefst erschreckt zu Boden und ruft den Gottesnamen an, was wiederum Rahel den Mut und die Kraft gibt, sich Jakob entgegenzustellen, damit sein Zorn sie treffe und nicht ihren Vater Laban. Jakob schlägt Rahel mit seinen Fäusten nieder, erschrickt im selben Augenblick über diese seine Tat und erbarmt sich Rahels wie auch Labans. Auch Lea verstößt er nicht aus seinem Zelt. Daraufhin gibt ihm Laban als zweite Frau Rahel nach sieben Tagen.

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Dies entspricht der biblischen Darstellung (s.o.). Bemerkenswert ist jedoch, dass der in Palästina lebende Maler Hermann Struck sich an Stefan Zweig wandte, um diesen auf einen vermeintlichen Fehler aufmerksam zu machen: Laban – so Struck – habe Rahel dem Jakob erst nach sieben weiteren Jahren zur Frau gegeben. Zweig ließ sich dadurch verunsichern und schrieb ihm: „Ihr Hinweis war mir sehr wertvoll. Ich hatte die Legende nur in ihrer übernommenen Form gekannt, in der Umdeutung auf die christliche Religion. Selbstverständlich werde ich in der Buchausgabe den Fehler berichtigen.“ Es ist nicht ersichtlich, was Zweig an dieser Stelle mit „der Umdeutung auf die christliche Religion“ meint (siehe dazu: Knut Beck, Nachbemerkung des Herausgebers, in: ders. [Hg.], Stefan Zweig, Rahel rechtet mit Gott. Legenden [Gesammelte Werke in Einzelbänden], Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1990, 3. Auflage: 2007, S. 195-209, hier S. 205f.). Rahel berichtet weiter, dass auch sie Kinder bekam, und sagt über diese: - Kinder, die ich nährte mit der Milch meines Leibes und dem Worte deiner Verheißung. Kinder, die ich mahnte, in höchster Not kühnlich dich anzurufen mit dem Geheimnis deines unvorstellbaren Namens. Und daran schließt Rahel ihre abschließende Bitte an Gott um Verschonung ihrer Kinder an: Und mit diesem deinem Namen des Allerbarmers, Herr, rufe ich dich heute aus meiner letztlichen Not: tue, was jener getan, lasse sinken das Schlagbeil deines Ingrimms und verwehen die Wolke deines Zornes! Um Rahels Erbarmen willen erbarme dich noch einmal, Herr, übe Geduld für meine Geduld und spare deine heilige Stadt! Schone, Herr, meiner Kinder und Enkel, verschone Jeruscholajim!“ Nach Ende dieses eindringlichen und ergreifenden Appells bricht Rahel zusammen und wartet auf eine Antwort Gottes. Die erfolgt jedoch nicht.

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Denn Gott schweigt. Da dieses Schweigen furchtbar ist und Rahel es nicht erträgt, wendet sie sich noch ein letztes Mal an Gott. Und in ihrem letzten Appell an Gottes Erbarmen fordert sie Gott regelrecht heraus, indem sie ihm zu sagen wagt: … Denn dies darf nicht sein, daß vor deiner Engel Antlitz ein Mensch sich beschämte und jene redeten: es war ein Weib einst auf Erden, ein schwach, sterblich Weib, Rahel genannt, die bezähmte ihren Ingrimm. Er aber, Gott, der Herr aller ist und des Alls, er diente seinem Zorn als Knecht. Nein, Gott, das darf nicht sein, denn so dein Erbarmen nicht ohne Ende ist, dann bist du selber unendlich nicht – dann – bist – du – nicht – Gott. [Im Original Hervorhebung durch Kursivdruck anstelle von Unterstreichung] Dann bist du der Gott nicht, den ich schuf aus meinen Tränen und dessen Stimme mich anrief in meiner Schwester geängstetem Schrei – ein Fremdgott dann bist du, ein Zorngott, ein Strafegott, ein Rachegott, und ich, Rahel, ich, die nur den Liebenden liebt und nur dem Barmherzigen diente, ich, Rahel – ich verwerfe dich vor dem Antlitz deiner Engel! Mögen diese hier, mögen deine Erwählten und Propheten sich beugen – siehe, ich, Rahel, die Mutter, ich beuge mich nicht – aufrecht recke ich mich auf und trete in deine eigene Mitte, ich trete zwischen dich und dein Wort. Denn ich will rechten mit dir, ehe du rechtest mit meinen Kindern, und so klage ich dich an: dein Wort, Gott, ist Widerspruch wider dein Wesen, und dein zorniger Mund verleugnet dein eigentlich Herz. So richte, Gott, zwischen dir und deinem Wort! … Auch diese erneute Rede Rahels mündet in einen eindringlichen Appell an Gott, ihre Kinder und die heilige Stadt zu verschonen. Auch nach dieser Rede bricht Rahel zusammen. Nun entfernen sich die Erzväter und Propheten ängstlich von ihr, da sie erwarten, dass Gott einen Blitz auf Rahel niederfahren lässt angesichts der wahrlich ungeheuerlichen Aussagen, die sie in dieser abschließenden Rede zu äußern gewagt hat. Dass sie Gott als Fremdgott bezeichnet, ist eine kaum zu überbietende

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Provokation in Anbetracht der Tatsache, dass sich der Zorn Gottes daran entzündet hat, dass das Volk Fremdgöttern huldigte. Dass Rahel es wagt, Gott anzuklagen und mit ihm zu rechten, ist der Höhepunkt ihrer Rede an Gott. Dass Stefan Zweig diese Legende mit dem Titel überschrieben hat ‚Rahel rechtet mit Gott’, hat somit seine tiefe Berechtigung. Diese Anklage Gottes erinnert an die Hiobs, der ebenfalls Gott direkt herausfordert (s.o.). Aber entgegen den Befürchtungen der Erzväter und Propheten reagiert Gott auf diese Anklage nicht mit einer Strafe. Vielmehr ist plötzlich ein Leuchten auf Rahels Gesicht zu sehen. Die Engel sahen, daß mit einemmal ein Licht ausging von Rahels Antlitz und ihre Stirne erglänzte. Wie von innen hob ihres Leibes Haut an zu strahlen, und die Tränen auf ihren Wangen, den mütterlichen, funkelten morgenrötlich wie Tau. Da erkannten die Engel, daß Gott mit all seiner atmenden Liebe Rahel ins Antlitz gesehen. Gott antwortet Rahel nicht mit Worten, aber dieses Zeichen sagt mehr als alle Worte. Das Licht, von dem hier die Rede ist, weckt Erinnerungen an den Aaronitischen Segen in Numeri 6, 24-26 (Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden) sowie an Psalm 36, 10 (Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht). Die Engel erkennen, daß Gott die Leugnerin seines Wortes mehr liebte um ihres Glaubens Unmaßes und Ungeduld willen denn die Diener, die frommen seines Worts, um ihrer Hörigkeit. Das gute Ende der Geschichte äußert sich nicht nur in diesem Licht, sondern auch im Gesang:

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Das Leuchten aber auf Gottes Antlitz wuchs zu unendlichem Glanz, bis die Firmamente solche Fülle nicht mehr trugen und zu strömen begannen vom Brausen des Lichts. Und auf klangen da in heiliger Eintracht die Stimmen der Engel und die Stimmen der Toten und aller jener, die Gott noch nicht zur Erde gerufen, bis alles ein selig Atmen ward und ein großer Gesang. Am Ende wird das Aufsteigen eines Regenbogens dargestellt. Damit werden das Abwenden des drohenden göttlichen Gerichts und die erneute Zuwendung Gottes zu seinem sündigen Volk zu dem Bund in Beziehung gesetzt, den Gott gemäß Genesis 9, 16f. nach dem Ende der Sintflut mit Noah geschlossen hat. Dass die Menschen auf der Erde, die die drohende Katastrophe durch ihren Götzendienst ausgelöst haben, von alledem nichts mitbekommen, wird ebenso betont wie schon davor immer wieder einmal eingestreut wird, dass sie weder die Dimensionen ihres Tuns noch dessen Konsequenzen verstehen. Angesichts dieses Unverständnisses der Menschen, bei deren Darstellung Stefan Zweig gewiss auch an seine Zeitgenossen gedacht haben wird, ist seine Legende ‚Rahel rechtet mit Gott’ als eindringlicher Appell gegen jegliche Form der Unterwürfigkeit zu verstehen – sicher nicht nur gegen die des Glaubens, aber gewiss auch gegen diese.

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II. Teil: Beiträge aus der Gemeindearbeit

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Biblische Betrachtungen zum brennenden Dornbusch Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder! Das Bild vom brennenden Dornbusch kennen wir wohl alle. Es ist eine faszinierende Vorstellung, die Vorstellung von einem Feuer, das brennt, jedoch nicht verbrennt. In unserer Jerusalem-Gemeinde ist uns dieses Bild nahe; befindet es sich doch auf dem Siegel unserer Gemeinde. In der Hebräischen Bibel, dem Alten Testament unserer christlichen Bibel, wird dieses Feuer in der Erzählung der Berufung des Mose im dritten Kapitel des Buches Exodus geschildert. Ich lese den Text vor: (1.) Und Mose war Hirte des Kleinviehs Jitros, seines Schwiegervaters, des Priesters von Midjan und er trieb das Kleinvieh hinter die Wüste und er kam zum Berg Gottes, zum Horeb. (2.) Und der Bote des Herrn zeigte sich ihm in einer Feuerflamme aus der Mitte des Dornstrauches und er sah und siehe, der Dornstrauch brannte in dem Feuer und der Dornstrauch wurde nicht verzehrt. (3.) Und Mose sagte: „Ich will doch abweichen und diese große Vision ansehen, warum der Dornstrauch nicht verbrennt.“ (4.) Und der Herr sah, dass er abwich, um zu sehen. Und Gott rief aus der Mitte des Dornstrauches zu ihm und er sagte: „Mose! Mose!“ Und er sagte: „Hier bin ich.“ (5.) Und er sagte: „Nahe nicht hierher! Ziehe deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist Erde der Heiligkeit.“ (6.) Und er sagte: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.“ Und Mose verbarg sein Gesicht, denn er fürchtete sich davor, zu Gott aufzublicken. (7.) Und der Herr sagte: „Ich habe das Leiden meines Volkes, das in Ägypten ist, wahrlich gesehen und ihr Geschrei vor ihren Treibern habe ich gehört, denn ich habe seine Leiden erkannt. (8.) Und ich bin hinab gestiegen, um es aus der Hand Ägyptens zu retten und es aus jenem Land hinaufzuführen in ein gutes und geräumiges Land, das von Milch und Honig überfließt, zu dem Ort des Kanaaniters und des Hethiters und des Amoriters und des Pherisiters und des Hewi-

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ters und des Jebusiters. (9.) Und jetzt, siehe, das Geschrei der Söhne Israels drang zu mir und ich habe auch die Bedrückung gesehen, mit der die Ägypter sie bedrücken. (10.) Und jetzt geh! Und ich werde dich zum Pharao schicken. Und führe mein Volk, die Söhne Israels, aus Ägypten!“ (11.) Und Mose sagte zu Gott: „Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehen werde und dass ich die Söhne Israels aus Ägypten führen werde?“ (12.) Und er sagte: „Ich werde gewiss mit dir sein. Und dies ist für dich das Zeichen, dass ich dich geschickt habe: während du das Volk aus Ägypten hinausführen wirst, werdet ihr Gott auf diesem Berg dienen.“ (13.) Und Mose sagte zu Gott: „Siehe, wenn ich zu den Söhnen Israels kommen werde und zu ihnen sagen werde: „Der Gott eurer Väter hat mich zu euch geschickt.“ Und sie mir sagen werden: „Was ist sein Name?“ – was werde ich ihnen sagen?“ (14.) Und Gott sagte zu Mose: „Ich werde da sein, als der ich da sein werde.“ Und er sagte: „So wirst du den Söhnen Israels sagen: „‘Ich werde da sein‘ hat mich zu euch geschickt.“ Exodus 3, 1-14 Nehmen wir diese Erzählung genauer in den Blick: Es wird berichtet, dass Mose in Midian die Schafe seines Schwiegervaters hütete. Wer war er aber, dieser Mose? Gebürtiger Midianiter war er ja nicht. Als Flüchtling war er aus Ägypten nach Midian gekommen. Erinnern wir uns, wie es überhaupt dazu gekommen war: Als die Israeliten in Ägypten lebten und von den Ägyptern zu Frondiensten gezwungen wurden, wurde Mose dort als Sohn einer Israelitin geboren. Ramses II, der damalige Pharao, hatte den Befehl gegeben, alle neugeborenen israelitischen Knaben umzubringen. Um Mose das Leben zu retten, versteckte seine Mutter ihn drei Monate lang. Als das nicht länger möglich war, legte sie ihn in ein Kästchen, das sie ins Schilf am Ufer des Nils setzte. Dort wurde Mose von der Tochter des Pharao gefunden und adoptiert. So wuchs er als Israelit am ägyptischen Hof heran und wurde von Ägyptern erzogen. Als er erwachsen war, ging er einmal zu seinen Landsleuten hinaus und sah,

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wie schwer sie arbeiten mussten. Er wurde Zeuge, wie ein ägyptischer Aufseher einen Israeliten erschlug. Voller Zorn brachte er den Ägypter um. Beamte genießen aber überall und stets staatlichen Schutz. Das war zur Zeit der Pharaonen nicht anders als heute. Deshalb musste Mose fliehen, nachdem seine Tat bekannt worden war, um sich der Todesstrafe zu entziehen. Er floh aus dem ägyptischen Hoheitsgebiet nach Osten. Da Kanaan zu der Zeit ägyptisch besetztes Gebiet war, ging Mose in das gebirgige Midian östlich des Golfes von Elath. Dort lernte er an einem Brunnen die sieben Töchter des Jitro, des Priesters von Midian, kennen. Er half den Mädchen, als einige Hirten sie vom Brunnen wegdrängen wollten. Daraufhin lud Jitro ihn zu sich ein. Mose blieb bei ihm. Er wurde Schafhirt und heiratete Zippora, eine der Töchter Jitros. Der Flüchtling hatte also ein neues Zuhause gefunden. Er konnte sich in Midian eine neue Existenz aufbauen. Seine Vergangenheit lag hinter ihm. Als er nun eines Tages mit den Schafen auf der Steppe war und sie hütete, zog er mit ihnen etwas weiter, als er es gewöhnlich tat. Er kam zum Berg Choreb. Da sah er Rauch. Als er nachsah, woher dieser Rauch kam, sah er, dass es ein Busch war, der brannte. Plötzlich stutzte er. Der Busch verbrannte ja gar nicht! So etwas hatte er noch nie gesehen. Der Sache musste er auf den Grund gehen! Also ging er auf den Busch zu. Aber noch bevor er ihn erreichte, hörte er eine Stimme, die ihm zurief: Mose! Mose! Niemand hätte es ihm verdenken können, wenn er jetzt mit den Schafen geflohen wäre. Es war ja auch wirklich beängstigend: erst der brennende Busch, der nicht verbrannte und nun die Stimme. Wer ihn rief, wusste Mose nicht – er sah ja niemanden. Aber dieser unsichtbare Rufer hatte anscheinend auf ihn gewartet. Schließlich hatte er ihn bei seinem Namen gerufen. Mose floh nicht. Er behielt einen klaren Kopf und antwortete: „Hier bin ich.“ Darauf hörte er wieder die Stimme: „Nahe nicht hierher! Ziehe deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, auf dem du stehst, ist Erde der Heiligkeit.“

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Mose soll sich auf dem heiligen Boden mit nackten, d.h. in ihrer Ursprünglichkeit gelassenen Füßen bewegen. Würde er diesen Boden mit Ledersandalen betreten, so würde er ihn entweihen, da Leder von einem toten Tier stammt und unrein macht. Dass man heiligen Boden nur barfuss betritt, ist auch bei Muslimen und Samaritanern Brauch. Diesen Brauch setzt auch das priesterschriftliche Kultgesetz (Exodus 29, 20 und Leviticus 8, 23) voraus. Nun erfuhr Mose auch, mit wem er es zu tun hatte: „Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.“ Jetzt hatte Mose Angst! Gott selber war es, der mit ihm sprach! Er fürchtete sich, zu Gott hinzusehen, und verbarg sein Gesicht, denn wer die Gottheit ansah, musste – nach altorientalischer Ansicht – sterben. Dabei zog er vermutlich sein Obergewand vor sein Gesicht. Genauso verhielt sich auch Elia, als ihm Gott an demselben Ort erschien (1. Könige 19, 13). Gott sprach weiter: „Ich habe das Leiden meines Volkes, das in Ägypten ist, wahrlich gesehen und ihr Geschrei vor ihren Treibern habe ich gehört, denn ich habe seine Leiden erkannt. 8. Und ich bin hinab gestiegen, um es aus der Hand Ägyptens zu retten und es aus jenem Land hinaufzuführen in ein gutes und geräumiges Land, das von Milch und Honig überfließt, zu dem Ort des Kanaaniters und des Hethiters und des Amoriters und des Pherisiters und des Hewiters und des Jebusiters. 9. Und jetzt, siehe, das Geschrei der Söhne Israels drang zu mir und ich habe auch die Bedrückung gesehen, mit der die Ägypter sie bedrücken. 10. Und jetzt geh! Und ich werde dich zum Pharao schicken. Und führe mein Volk, die Söhne Israels, aus Ägypten!“ Im hebräischen Text steht an dieser Stelle das Verb ( (hinabsteigen). Dieses Verb wird sehr häufig gebraucht, um den Weg nach Ägypten zu bezeichnen. So auch im vorliegenden Fall. Gott stieg zu den Israeliten nach Ägypten herab, um sich über deren Lage näher zu informieren. Die Zuwendung Gottes, die sich in seinem Herabsteigen zu den leidenden Menschen verwirklicht, ist ein Zentralthema alttestamentlicher Theolo-

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gie. Dem Gebrauch von ( entspricht der seines Oppositums  (hinaufsteigen), das in demselben Vers im Verbalstamm Hiph’il begegnet. Dieses Verb wird durchgehend benutzt, um die Reise von Ägypten nach Israel bzw. zu den Stationen auf der Wanderung dorthin sowie den Aufstieg von der Wüste ins Land Kanaan zu bezeichnen. Diese Redeform wird so stereotyp gebraucht, dass die topographischen Angaben ganz fehlen können. Die Bedrückung durch die Ägypter, die Gott hier zur Sprache bringt, verstößt gegen das Schutzrecht, das nach altorientalischem Recht den Fremden (hebräisch: ) zusteht (vgl. Exodus 22, 20 und 23, 9). Als solche haben aber die Israeliten in Ägypten gewohnt. Wie mochte Mose sich gefühlt haben, als Gott ihn ansprach? Das können wir natürlich nicht wissen, aber ich halte es für gut möglich, dass er in dem Moment dachte: „Jetzt hatte sie mich wieder eingeholt – die Vergangenheit in Ägypten, der ich doch hatte entfliehen wollen, die ich ein für allemal vergessen wollte.“ Und damit nicht genug: Gott gab ihm einen Auftrag, durch den er sich nun völlig überfordert fühlte. Er sollte die Israeliten aus Ägypten herausführen. Das war einfach unmöglich! Die Ägypter würden seine Landsleute niemals ziehen lassen, wenn er zum Pharao ginge und darum bitten würde. Nein, Gott hatte sich den Falschen ausgesucht. Diese Aufgabe kann nur jemand erfüllen, der sehr stark ist. Wie kam Gott ausgerechnet auf ihn? Ich kann sehr gut verstehen, dass Mose entgegnete: „Wer bin ich, dass ich zu Pharao gehen werde und dass ich die Söhne Israels aus Ägypten führen werde!“ Verhalten wir uns nicht genauso, wenn Forderungen an uns gestellt werden, denen wir uns nicht gewachsen fühlen? „Warum gerade ich?“, „Das schaff ich ja nie!“ So oder ähnlich lauten unsere Antworten in solchen Situationen. Und die Aufgabe des Mose war viel schwerer als die Aufgaben, die uns normalerweise zugemutet werden. Er, der einen Sprachfehler hatte und dem es daher schwer fiel, zu sprechen, sollte sich zum Fürsprecher seines Volkes bei der ägyptischen Regierung machen. Dass er zudem von dieser Regierung als Mörder gesucht wurde, kam noch erschwerend hinzu. Dass Mose in Anbetracht

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dieser Probleme der Auffassung war, für diesen Auftrag nun wirklich der Falsche zu sein, ist unmittelbar einleuchtend. Aber Gott hatte all das bedacht, als er Mose für diese Aufgabe auswählte. Seine Antwort auf dessen Einwand lautete: „Ich werde gewiss mit dir sein.“ Er sicherte Mose seinen Beistand und seine Hilfe zu. Das veränderte die Situation völlig. Mit Gottes Hilfe war die Aufgabe zu schaffen. Wenn er Gott auf seiner Seite hatte, dann musste Mose sich keine Sorgen mehr machen. Gott sprach weiter: „Und dies ist für dich das Zeichen, dass ich dich geschickt habe: während du das Volk aus Ägypten hinausführen wirst, werdet ihr Gott auf diesem Berg dienen.“ Aber Mose war noch nicht so weit, als dass er schon über den Auszug des Volkes aus Ägypten hätte nachdenken können. In seinen Gedanken war er noch ganz am Anfang der geplanten Aktion: „Siehe, wenn ich zu den Söhnen Israels kommen werde und zu ihnen sagen werde: ‚Der Gott eurer Väter hat mich zu euch geschickt.’ Und sie mir sagen werden: ‚Was ist sein Name?’ – was werde ich ihnen sagen?“ Für ihn war die Frage, wie er seinen Brüdern und Schwestern von dem Gott erzählen kann, der jetzt zu ihm sprach – wie er ihnen diesen Gott vorstellen kann, im Augenblick wichtiger als die Frage, wo sie ihm während des Auszuges aus Ägypten dienen würden. Der Auszug lag noch in weiter Ferne. Gott antwortete ihm: „Ich werde da sein, als der ich da sein werde.“ Und er sagte: „So wirst du den Söhnen Israels sagen: „‘Ich werde da sein‘ hat mich zu euch geschickt.“ „Ich werde da sein, als der ich da sein werde“ – das ist in der Tat eine merkwürdige Antwort auf die Frage nach einem Namen. Um zu verstehen, was mit diesem Ausdruck gemeint ist, ist es hilfreich, die Formulierung im hebräischen Text sowie dessen Übersetzungen ins Griechische sowie ins Lateinische in den Blick zu nehmen. Im hebräischen Text heißt es an dieser Stelle:        . In der Septuaginta, der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel, wurde diese Formel mit den Worten !)3 !,,  3" übersetzt, wörtlich: ich bin

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der Seiende, während Hieronymus in seiner lateinischen Übersetzung der hebräischen Bibel, der so genannten Vulgata, an dieser Stelle geschrieben hat: ego sum qui sum, zu Deutsch: ich bin, der ich bin. Das hebräische Verb   wurde also im Griechischen als !,", und im Lateinischen als esse wiedergegeben. Durch diese Übersetzungen wurde aber die Bedeutung von   nicht genau wiedergegeben, da dieses hebräische Verb im Qal nicht nur „sein“, sondern auch „werden, wirken, geschehen, sich verhalten“ bedeutet.        ist also eine Aussage über das Wirken Gottes, über seine immer neue Aktivität in der Geschichte. Auch in einem anderen Punkt geben weder die griechische noch die lateinische Übersetzung den hebräischen Text adäquat wieder: Die hebräische Präformativkonjugation wurde sowohl in der Septuaginta als auch in der Vulgata als Präsens wiedergegeben. Sie hat aber nicht nur präsentische, sondern auch futurische Bedeutung. Weder die lateinische noch die griechische Sprache bieten jedoch die Möglichkeit einer korrekten Wiedergabe der hebräischen Präformativkonjugation. Somit sind die Übersetzungen in diese beiden Sprachen hinsichtlich ihrer Interpretationsmöglichkeiten sehr viel stärker festgelegt als der hebräische Text, der mehr Möglichkeiten des Verstehens bietet. Entsprechendes gilt auch für die deutsche Sprache. Will man den hebräischen Relativsatz        angemessen ins Deutsche übersetzen, so ist dies mit lediglich einer Übersetzung nicht möglich. Deshalb nenne ich hier drei Möglichkeiten: „ich bin, der ich bin“, „ich werde sein, der ich sein werde“ und „ich werde mich als der erweisen, als der ich mich erweisen werde“. Das Gottesbild, das der hebräische Text vermittelt, ist ungleich dynamischer als die vergleichsweise statisch wirkenden Übersetzungen ins Griechische, Lateinische und auch Deutsche. Diese Antwort Gottes auf die Frage nach seinem Namen ist somit mehr als nur die Nennung eines Namens – sie ist das Versprechen, für Mose da zu sein. Nur vor dem Hintergrund dieses Versprechens kann in angemessener Weise verstanden werden, dass Gott Mose beauftragt und ihn auf seinen neuen Weg schickt.

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Viermal wird in der Erzählung das hebräische Verb , zu Deutsch: schicken, senden, gebraucht, in den Versen 10, 12, 13 und 14. Dieses Wort verwenden auch die Propheten später zur Charakterisierung ihres Auftrages. Dadurch, dass sie gesendet sind, unterscheiden sich die wahren von den falschen Propheten (Jeremia 27, 15 und Ezechiel 13, 6). Diese Erzählung gehört zur Gattung der Berufungsgeschichten. Sie folgt dem geprägten Schema der Retter- und Prophetenberufung. Die Elemente dieses Schemas sind: Ͳ Not (Exodus 3, 7 und 9) Ͳ Beauftragung (Exodus 3, 10) – Einwand (Exodus 3, 11) – Beistandsverheißung (Exodus 3, 12) Ͳ Beglaubigungszeichen (Exodus 3, 12). Nach diesem Schema sind auch die Berufungsgeschichten Gideons (Richter 6, 11–24), Jeremias (1, 4-10), Sauls (1. Samuel 9-10) und Ezechiels (1, 4 - 3,11) aufgebaut. Mose führte den Auftrag, den er von Gott erhalten hatte, mit dessen Hilfe erfolgreich aus. Aufgrund der göttlichen Zusage, die im Namen Gottes zum Ausdruck kommt, war Mose seiner Aufgabe gewachsen. Er hat sie erfüllt, obwohl anfangs so viel dagegen sprach. Es ist bemerkenswert, dass Gott, der Mose seinen Auftrag gibt und ihn zugleich befähigt, diesen auszuführen, sich im brennenden Dornbusch offenbart, genauer gesagt: in dem Feuer, das brennt, jedoch nicht verbrennt. Das Element Feuer hat – wie auch das Element Wasser – einen zutiefst ambivalenten Charakter. Es kann auf der einen Seite lebensbedrohend und auf der anderen Seite lebenserhaltend wirken. Wie bedrohlich Wasser sein kann, zeigt die biblische Sintflut ebenso wie die derzeitigen verheerenden Überschwemmungen in Pakistan. Zugleich gilt: Ohne Wasser könnten wir nicht leben. Und wenn wir schwimmen oder in einem Boot sitzen, erfahren wir die tragende Kraft des Wassers; wenn wir auf einer langen Wanderung zu einer Quelle kommen, erfahren wir die erfrischende und Leben spendende Kraft des Wassers. Wasser erhält unser Leben und kann es zugleich bedrohen. Entspre-

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chendes gilt für das Feuer. Es kann uns Wärme und Licht spenden, aber als verzehrendes Feuer auch unser Leben bedrohen. Offenbart sich Gott dem Mose im Feuer in eben dieser Ambivalenz – sowohl bedrohlich als auch rettend? Nein, denn das Feuer, in dem Er sich offenbart, ist nicht von dieser Ambivalenz geprägt. Es erleuchtet den Lebensweg des Mose, aber es ist kein verzehrendes Feuer. Der Dornbusch brennt, aber er verbrennt nicht. In diesem Feuer offenbart sich Gott als der, der so da ist, wie er es in der Antwort auf die Frage nach seinem Namen zugesagt hat. Diese Erzählung richtet sich nicht in erster Linie an uns Christen. Aber sie kann uns Mut machen. Denn Gott hat mit der Nennung seines Namens ein Versprechen gegeben, das nicht nur dem Mose galt, sondern das allen Menschen gilt, die an ihn glauben. Die Erzählung von der Berufung des Mose kann uns zeigen, dass auch wir als Mitglieder der christlichen Gemeinde unsere Aufgaben in der Gemeinde und in der Welt erfüllen können, dass wir, nur um ein Beispiel zu nennen, als ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter bei der Betreuung älterer Mitmenschen gebraucht werden – trotz aller Selbstzweifel und Fragen, die uns immer wieder kommen werden und die in Fragen wie diesen ihren Ausdruck finden: Was kann ich denn einem älteren Menschen, der sich auf den Tod vorbereitet, mit auf den Weg geben? Bin ich überhaupt der Richtige für diese Aufgabe?... Reinhard von Kirchbach, ehemaliger Propst des ehemaligen Kirchenkreises Schleswig, hat in seinem kleinen Buch „H E R D F E U E R G O T T E S . Ein Lese – Gebetsbüchlein. Aufzeichnungen aus den Jahren 1991 - 1994 mit den Treffen zum interreligiösen Dialog in Cochin, Südindien, 1991 und 1993, in Bali, Indonesien, 1992 und in Wulfshagen bei Kiel, 1994” (Altenhof, im März 1995) ein Gebet formuliert, in dem er Gott darum bittet, die verwandelnde Kraft Seines Feuers erfahren zu dürfen. Mit diesem Gebet schließe ich meine „biblischen Betrachtungen zum brennenden Dornbusch”. Es hat folgenden Wortlaut:

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Was ich mir wünsche. Daß DU mich verwandelst i m F e u e r . Im Feuer Deiner Nüchternheit, in der die Wahrheit leuchtet, in der die Gesetze der Erde wohnen und in der das Wachstum des Geistes in unseren Herzen langsam sich entfaltet. Daß DU mich verwandelst im Feuer Deiner Kraft, in dem das alte verbogene und zerrüttete Wesen verbrennt, in dem der Tod nicht mehr leben kann, und in dem meine Gesichte versinken mit den ersten Schritten in Deinem Licht. Daß Du mich verwandelst im Geist und in der Wahrheit, daß die Lüge in mir ausschmilzt, der Stolz, die Überheblichkeit und der Neid auch in ihren heimlichen Gängen erkannt und herausgedrängt werden; daß durch Deine Einwohnung ein reines Herz sich ohne Unterlaß Dir zuwendet. Ich wünsche mir in den Feuern Deiner Liebe zu wohnen, und in ihnen zusammen mit den Menschen Deiner Liebe, in Freuden Dir zugewandt zu bleiben.

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Gedanken zu Psalm 139 Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Schwestern und Brüder! Die diesjährige Nacht der Kirchen steht unter dem Motto „Wunderbar“ – einem Motto, das auf den 139. Psalm Bezug nimmt. Um diesen Psalm wird es nun gehen. Bevor ich jedoch diesen biblischen Psalm näher in den Blick nehme, möchte ich zumindest in aller Kürze etwas zur Bedeutung der Psalmen in der christlichen Tradition sagen: Psalmen werden gebetet; ihre Texte finden in christlichen Gottesdiensten wie auch im persönlichen Gebet Verwendung, um sich mit ihnen an Gott zu wenden. So ist es in den Gottesdiensten unserer Jerusalem-Gemeinde – wie auch in unzähligen anderen Kirchengemeinden – usus, im ersten Teil des Gottesdienstes ein gemeinsames Psalmgebet zu sprechen. Dabei geht es nicht um eine biblische Lesung, wie wir sie in unseren Gottesdiensten als Lesung aus der Hebräischen Bibel, als Epistellesung oder als Evangelienlesung hören. Bei einer Lesung hören wir auf die biblischen Worte und lassen sie auf uns wirken. Anders ist es beim Gebet. Da wenden wir uns an Gott und bringen das, was uns umtreibt – unsere Bitten, unseren Dank und gegebenenfalls auch unsere Klage -, vor Ihn. Auch wenn das Gebet sicher keine gleichsam monologische Veranstaltung ist, die Gott auf die Rolle des Hörenden reduziert, und das Gebet somit ein Ort der Gottesbegegnung ist, so ist dennoch zu konstatieren, dass das Gebet im gottesdienstlichen Vollzug ein anderes Element ist als das der Lesung(en). Da mag man sich fragen, warum wir als Christinnen und Christen mit den Worten der Psalmen beten, anstatt unsere Gebete in eigene Worte zu kleiden. Diese Frage kann durchaus auch provokativen Charakter annehmen, wenn gleichsam zugespitzt gefragt wird, ob wir denn keine eigenen Worte für unsere Gebete haben. Auf eine derartige Frage können wir nur antworten: Ja, es gibt in der Tat Situationen, in denen die Not, die Ratlosigkeit und im Extremfall auch die Verzweiflung so groß sind, dass sie die Betroffenen verstummen lassen, so dass sie nicht mehr

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in der Lage sind, eigene Worte zu formulieren, mit denen sie sich im Gebet an Gott wenden können. Da ist es von unschätzbarem Wert, dass wir die Psalmen haben, bei denen wir uns in solchen Situationen gleichsam Worte leihen können. Zudem ist es so, dass wir uns in eine alte Tradition stellen, wenn wir mit den Worten der Psalmen beten. Denn dies tun Menschen jüdischen wie auch christlichen Glaubens seit Jahrtausenden. Mit diesen Vorgängern, also mit unseren Vorvätern- und – müttern im Glauben können wir uns als Glaubende verbunden wissen, wenn wir mit den Worten der Psalmen beten. Und so haben wir hier in der Jerusalem-Gemeinde ein Psalmenheft, das wir für unser Psalmengebet verwenden. In den meisten anderen evangelisch-lutherischen Kirchengemeinden hierzulande gibt es kein solches Psalmenheft. Da wird stattdessen der Psalmenteil im hinteren Teil unseres ‚Evangelischen Gesangbuches’ (EG), in dem viele Psalmen – meist in Auswahl - stehen, für das Psalmengebet verwendet. Darüber hinaus gibt es viele Psalmen im Gesangbuch in vertonter Form als Kirchenlieder (EG 270 bis 310, 578 bis 586 u.a.). Damit stehen sie uns ebenfalls als Gebetstexte zur Verfügung, denn Kirchenlieder sind nichts anderes als gesungene Gebete. Gebete werden in christlicher Tradition nicht nur gesprochen, sondern auch gesungen. Nach diesen Vorbemerkungen werde ich mich nur dem 139. Psalm zuwenden. Ich lese ihn zunächst in der Übersetzung Martin Luthers (in der Textfassung von 1984): „Ein Psalm Davids, vorzusingen.“ HERR, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüsstest.

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Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir. Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen. Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein -, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht. Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war. Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß! Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: Am Ende bin ich noch immer bei dir. Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten!

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Dass doch die Blutgierigen von mir wichen! Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut. Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden. Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege. Nehmen wir diesen Psalm näher in den Blick: Er beginnt mit dem Bekenntnis: „HERR, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, HERR, nicht schon wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir“ (Verse 1 bis 5). Die Aussage, dass Gott eines jeden Menschen Herz kennt, steht auch im Ersten Buch der Könige, wo an Gott die dringliche Bitte herangetragen wird, dass Er Gebete erhören möge: „… dass Du jedem gibst, wie er gewandelt ist, wie Du sein Herz erkennst – denn Du allein kennst das Herz aller Menschenkinder“ (1. Könige 8, 39b). Gott kennt die Menschen; keines ihrer Pläne und/oder Taten ist ihm verborgen. Diese alles durchschauende Erkenntnis Gottes übersteigt das Fassungsvermögen des Psalmbeters und so sagt er: „Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen“ (Vers 6). Da Gott nichts entgeht, ist es auch nicht möglich, Ihm zu entfliehen und sich vor Ihm zu verbergen, wie im Psalm des Weiteren ausgeführt wird, wenn es dort heißt: „Wohin soll ich gehen vor deinem Geist, und wohin soll ich fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du

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auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein -, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht“ (Verse 7 bis 12). Auch eine Flucht in den äußersten Westen oder Osten hätte keinen Sinn. Alle nur denkbaren Möglichkeiten werden in den Blick genommen, um schließlich zu dem Ergebnis zu kommen: Gott ist omnipräsent; wo immer sich der Psalmbeter auch befindet, Gott ist immer bei ihm. Warum Gott den Psalmbeter so gut kennt, dass durchaus gesagt werden kann, dass Gott ihn besser kennt als er sich selbst, so dass Gott auch immer weiß, wo sich der Beter befindet, wird im Psalm unmittelbar darauf zur Sprache gebracht: „Denn du hast meine Nieren bereitet und hast mich gebildet im Mutterleibe. Ich danke dir dafür, dass ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind deine Werke; das erkennt meine Seele. Es war dir mein Gebein nicht verborgen, als ich im Verborgenen gemacht wurde, als ich gebildet wurde unten in der Erde. Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war, und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war“ (Verse 13 bis 16). Der Beter bekennt sich mit diesen Worten zu Gott als seinem Schöpfer und er bringt damit zugleich auch zum Ausdruck, wie er sich selbst versteht: als Geschöpf Gottes. Die Nieren, von denen hier die Rede ist, gelten als Sitz der innersten Gefühls- und Willensregungen des Menschen. Gott, der Schöpfer, kennt Sein Geschöpf, den Menschen. Bemerkenswert ist, wie dies im Psalm zum Ausdruck gebracht ist, wie detailliert die Erschaffung des Menschen geschildert ist und dass betont wird, dass Gott den Menschen bereits kannte, als dieser noch gar nicht geboren war. Auch diese Erkenntnis führt den Psalmbeter an die Grenzen seines Fassungsvermögens – und darüber hinaus. Und so kann er nur sagen: „Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß! Wollte ich sie

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zählen, so wären sie mehr als der Sand“ (Verse 17.18a). Der Sand steht in der Hebräischen Bibel für eine unermesslich große Zahl. Aber auch der zum Scheitern verurteilte Versuch, die Gedanken Gottes zu zählen, würde den Psalmbeter nicht von Gott trennen, so dass er sagen kann: „Am Ende bin ich noch immer bei dir“ (Vers 18b). Auch hier wird nochmals betont, dass nichts den Menschen als Geschöpf von Gott, seinem Schöpfer trennt. Dann folgen vier Verse, die auf den ersten Blick nicht in den Zusammenhang zu passen scheinen: „Ach Gott, wolltest du doch die Gottlosen töten! Dass doch die Blutgierigen von mir wichen! Denn sie reden von dir lästerlich, und deine Feinde erheben sich mit frechem Mut. Sollte ich nicht hassen, HERR, die dich hassen, und verabscheuen, die sich gegen dich erheben? Ich hasse sie mit ganzem Ernst; sie sind mir zu Feinden geworden“ (Verse 19 bis 22). Hier wird deutlich, dass sich der Psalmbeter in Not befindet: Von Gottlosen wird er bedroht. In seinen eigenen Feinden erkennt er Feinde Gottes und so bittet er Gott, gegen diese gottlosen Feinde mit aller Härte vorzugehen. Mit solchen Aussagen tun wir uns schwer. Es stellt sich die Frage, wie wir mit ihnen umgehen können. Oft werden sie einfach gleichsam ausgeblendet und damit verdrängt. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im Psalmenteil im hinteren Teil des ‚Evangelischen Gesangbuches’ (EG) sind – wie eingangs bereits gesagt – viele Psalmen nicht ganz, sondern nur gekürzt abgedruckt. So auch Psalm 139, der dort unter der Nummer 754 steht. Bei dem Psalm sind eben diese vier Verse weggelassen. Das halte ich für höchst problematisch. Denn wenn wir durch die Bibel gleichsam durchgehen wie durch die Gänge eines Supermarktes und nur das mitnehmen, was uns angenehm erscheint, dann wird uns vieles entgehen – vieles, was für unseren Glauben von entscheidender Bedeutung ist. Natürlich ist es durchaus nachvollziehbar, dass zum Beispiel ein so langer Psalm wie der 119. nicht zur Gänze übernommen wird. Aber auch kürzere Psalmen werden oft nur in Auszügen wiedergegeben. Und die

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Verse, die dabei wegfielen, sind – wie bei Psalm 139 - nun im Allgemeinen gerade diejenigen, die nicht schön und harmonisch klingen, die Verse, in denen es um Gewalt geht. So verständlich es ist, dass viele Menschen diese Verse am liebsten übergehen würden, weil sie sich mit ihrem Bild vom ausschließlich lieben Gott nur schwer in Einklang bringen lassen, so problematisch ist es zugleich, damit nun so umzugehen, dass diese Verse einfach weggelassen werden. Denn damit nehmen wir uns selbst die Chance, an der Auseinandersetzung mit für uns schwierigen Bibelstellen im Glauben zu wachsen und zu reifen. Deshalb bin ich dafür dankbar, dass wir in unserer Jerusalem-Gemeinde unsere eigenen Psalmenhefte haben. Denn dort sind die schwierigen Verse nicht einfach weggelassen, sondern kommen ebenfalls zur Sprache. Unterscheiden wir als Christinnen und Christen zwischen den Teilen der Bibel, die wir behalten wollen, und denen, von denen wir uns distanzieren möchten, dann dauert es meist nicht lange, bis die Ansicht geäußert wird, dass wir uns von der Hebräischen Bibel, unserem Alten Testament, trennen und uns vielmehr ganz auf das Neue Testament konzentrieren sollten, da wir es im Alten Testament mit einem Gott der Rache zu tun haben, im Neuen Testament dagegen mit einem Gott der Liebe. Macht, Vergeltung, Rache und Zorn werden dann schnell als etwas abgetan, was mit unserem christlichen Glauben nichts zu tun hat. Und begegnen sie doch einmal auch in neutestamentlichen Texten, dann werden sie eben als Relikte einer überwundenen Religion abgetan, die für unseren christlichen Glauben keine Bedeutung mehr haben. Dies entspricht der zutiefst antijüdischen Theologie eines Markion, von dem sich die Gemeinde in Rom im Jahr 144 n.Chr. getrennt hat – zum Glück, denn der Weg Markions kann nicht unser Weg sein, wenn wir nach einem verantwortlichen Umgang mit der gesamten Botschaft der Bibel in all ihrer Vielfalt suchen. Dieser Ansatz, Gottes Zorn und Gericht einfach aus der Bibel zu streichen, ist nämlich seinerseits selbst äußerst gewalttätig. In der Theologie nach Auschwitz wurde erkannt, dass mit der traditionellen christlichen

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Abwertung des Alten Testaments, der Hebräischen Bibel des Judentums, auch das Judentum abgewertet und als veraltet und überholt erklärt wurde. Es wurde erkannt, dass diese Abwertung und das Schweigen der Kirchen angesichts der Ausgrenzung, Enteignung, Entrechtung und schließlich Ermordung von Jüdinnen und Juden im nationalsozialistischen Deutschland in einem ursächlichen Zusammenhang stehen. Damit ist deutlich, wie höchst problematisch es ist, schwierige Texte über Zorn und Vergeltung als veraltet und überholt zu erklären und einfach zu streichen. Wenden wir uns auch solchen biblischen Texten zu, lesen wir sie, setzen wir uns mit ihnen auseinander! Denn dann eröffnet sich uns die Möglichkeit, Gottes Allmacht, Güte, Barmherzigkeit und Treue zu loben, ohne die dunklen Seiten des Lebens ausblenden zu müssen. Dann können wir in das Lob der Treue Gottes einstimmen, ohne etwas verdrängen zu müssen. Und so tun wir gut daran, auch Psalm 139 mit allen seinen Aussagen zu hören und zu lesen – auch mit den eben zitierten vier Versen, die uns den Zugang zu diesem Psalm sicher nicht so leicht machen wie dessen übrige Verse. Vielleicht ist die Abwehr gegen diese vier Verse aber auch darin begründet, dass wir letztlich genau wissen, dass auch wir in unserem Leben immer wieder in der Gefahr stehen, auf die Seite der Gottlosen und damit die Seite der Feinde Gottes zu geraten – wir diese Gefahr jedoch nicht wahrhaben wollen. Und so verdrängen wir sie, statt sie selbstkritisch in den Blick zu nehmen. Wenn wir sie verdrängen, zahlen wir dafür jedoch einen hohen Preis. Denn wir nehmen uns die Möglichkeit, an Gott angesichts dieses selbstkritischen Blickes auf uns als fehlbare Menschen die Bitte zu richten: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine. Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege“ (Verse 23f.). In diese Bitte mündet der 139. Psalm ein. Und in diese Bitte einzustimmen, haben wir Christinnen und Christen in unserem Leben – in unse-

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rem persönlichen Leben ebenso wie im Leben unserer Gemeinde immer wieder Anlass. Es ist gut, dass in der Hebräischen Bibel, die ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil unserer christlichen Bibel ist, der 139. Psalm steht, der uns daran immer wieder aufs Neue erinnert und für uns die Worte bereithält, um diese Bitte zum Ausdruck zu bringen.

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Predigt über Genesis 3, 1-19 Liebe Gemeinde, der Bibeltext, der uns für den heutigen Sonntag Invokavit auf den Weg gegeben ist, kennen wir wohl alle. Nun erschließt sich jedoch nicht auf den ersten Blick, worum es in diesem Text eigentlich geht. Deshalb werde ich ihn jetzt nicht mit einer zusammenfassenden Überschrift versehen, sondern vorlesen. Er steht im Ersten Buch Mose im dritten Kapitel und lautet: Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten? Da sprach die Frau zu der Schlange: Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet! Da sprach die Schlange zur Frau: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esst, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und die Frau sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon und er aß. Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze. Und sie hörten Gott den HERRN, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes des HERRN unter den Bäumen im Garten. Und Gott der HERR rief Adam und sprach zu ihm: Wo bist du? Und er sprach: Ich hörte dich im Garten und fürchtete mich; denn ich bin nackt, darum versteckte ich mich. Und er sprach: Wer hat dir gesagt, dass du nackt bist? Hast du nicht gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot, du solltest nicht davon essen? Da

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sprach Adam: Die Frau, die du mir zugesellt hast, gab mir von dem Baum und ich aß. Da sprach Gott der HERR zur Frau: Warum hast du das getan? Die Frau sprach: Die Schlange betrog mich, sodass ich aß. Da sprach Gott der HERR zu der Schlange: Weil du das getan hast, seist du verflucht, verstoßen aus allem Vieh und allen Tieren auf dem Felde. Auf deinem Bauche sollst du kriechen und Erde fressen dein Leben lang. Und ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinem Nachkommen und ihrem Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen. Und zur Frau sprach er: Ich will dir viel Mühsal schaffen, wenn du schwanger wirst; unter Mühen sollst du Kinder gebären. Und dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein. Und zum Mann sprach er: Weil du gehorcht hast der Stimme deiner Frau und gegessen von dem Baum, von dem ich dir gebot und sprach: Du sollst nicht davon essen -, verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist. Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden. Genesis 3, 1-19 Die Fragen, worum es in diesem Text im Wesentlichen geht und mit welcher Überschrift er dementsprechend versehen werden kann, hängen auf das Engste miteinander zusammen. Sehen wir, mit welcher Überschrift, genauer gesagt: mit welchen Überschriften dieser Text versehen wurde: In der Luther-Ausgabe von 1984 ist dieser Text mit „Der Sündenfall“ überschrieben, in der Rev. Elberfelder ebenfalls, nur noch etwas ausführlicher. Dort lautet die Überschrift: „Der Sündenfall und dessen Folgen“. Ganz ähnlich lautet auch die Überschrift der Schlachter-Bibelübersetzung von 2000: „Der Sündenfall des Menschen“. Von der Sünde

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des bzw. der Menschen ist auch in der entsprechenden Überschrift der Bibelübersetzung Neues Leben die Rede, diesmal jedoch in Form eines vollständigen Satzes. Diese Überschrift lautet: „Der Mann und die Frau sündigen“. Die Überschriften dieses Kapitels in der Bibelübersetzung Hoffnung für alle sowie in der Gute Nachricht Bibel sind ebenfalls vollständige Sätze. In der Hoffnung für alle lautet er: „Der Mensch zerstört die Gemeinschaft mit Gott“ und in der Gute Nachricht Bibel: „Die Menschen müssen den Garten Eden verlassen“. Das, worum es in einem Text geht, wird im Allgemeinen in Form einer kurzen und zugleich aussagekräftigen Überschrift zusammengefasst. Jede Überschrift ist somit zugleich bereits eine Interpretation des Textes, auf den sie sich bezieht. Die verschiedenen Überschriften, mit denen unser heutiger Predigttext versehen wurde, belegen dies eindrucksvoll. Treffen die Interpretationen, die in diesen Überschriften ihren Niederschlag gefunden haben, den Kern des Textes oder verfehlen sie ihn? Wie wurde - und wie wird - dieser Bibeltext interpretiert, wie wurde und wird er verstanden und ausgelegt? Die Antworten auf diese Frage sind nicht nur erfreulich. So wurde dieser Text in seiner Wirkungsgeschichte immer wieder pädagogisch missbraucht, ganz in dem Sinne: „Wenn Du nicht das tust, was ich Dir sage, wirst Du von Deinem schönen Ort vertrieben!“ Wenn der Text dergestalt missbraucht wird, kann er für die Betroffenen nicht nur unangenehm, sondern regelrecht gefährlich werden. Denn dann wird er benutzt, sie klein zu machen und Macht über sie auszuüben. Auf eine solche Pädagogik werden wir wohl alle getrost verzichten können, aber diese zieht sich wie ein roter Faden durch die Auslegungsgeschichte dieses Bibeltextes. Sehen wir, wie dieser Text im Hinblick auf die Rolle der Frau ausgelegt wurde, stimmt der Befund keineswegs fröhlicher. Da wird einzig und allein der Frau die Verantwortung für die so genannte Vertreibung aus dem Paradies zugesprochen – als ob der Mann nicht ebenfalls aus freien Stücken von der Frucht des verbotenen Baums gekostet hätte! Davon, dass die Frau ihn genötigt hätte, von der Frucht zu essen, steht ja nun wirklich nichts im Text!

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Dennoch wird aus diesem Text abgeleitet, dass Frauen sich unterzuordnen haben und nicht lehren dürfen. Eine solche Auslegung begegnet bereits im Neuen Testament, im Ersten Brief an Timotheus (2, 12-15) und wurde in der Auslegungsgeschichte unseres Predigttextes immer wieder vertreten. Werden solche Auslegungen dem Text gerecht? Besteht seine Intention darin, uns Menschen, insbesondere die Frauen unter uns, klein zu halten? Nehmen wir ihn genauer in den Blick, um uns einer Antwort auf diese Frage anzunähern! Im Text begegnen außer Gott drei Akteure: die Schlange, die Frau und der Mann. Der Text beginnt mit dem Satz: „Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde, die Gott der HERR gemacht hatte, und sprach zu der Frau: Ja, sollte Gott gesagt haben: Ihr sollt nicht essen von allen Bäumen im Garten?“ (Vers 1). In diesem Text redet die Schlange, so wie Tiere es in Märchen oft tun. Gut kommt sie hier wirklich allerdings nicht weg, die Schlange. Sie wird als listig, ja hinterhältig geschildert. Bemerkenswert ist, dass Benno Jacob in seiner Auslegung des Ersten Buches Mose dazu schreibt: „Die begehrlichen, arglistigen und zum Tiere ziehenden Gedanken der Menschen sind dem Tiere in den Mund gelegt, weil sie aus dem Tier im Menschen stammen“ (Benno Jacob, Das Buch Genesis, Stuttgart 2000, S. 102). Die Frau tappt dann auch sogleich in die Falle, die die Schlange ihr mit dieser scheinbar rhetorischen Frage stellt. Sie erliegt der Versuchung, das zu tun, was wir Menschen nur allzu gerne tun: andere auf ihre Fehler hinzuweisen. Und so antwortet sie: „Wir essen von den Früchten der Bäume im Garten; aber von den Früchten des Baumes mitten im Garten hat Gott gesagt: Esset nicht davon, rühret sie auch nicht an, dass ihr nicht sterbet!“ (Verse 2b.3). Und schon hat sie sich in ein Gespräch hineinziehen lassen, aus dem sie nur als Verliererin herausgehen konnte. Mit dem Argument, dass der Genuss der Früchte dieses Baumes keineswegs zum Tode führe, veranlasst die Schlange die Frau dazu, die Früchte begehrlich zu betrachten und schließlich auch zu essen. Ihrem Mann bietet sie

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diese Frucht auch an und der isst sie ohne irgendeinen Einwand. Die Schlange hat also ihr Ziel erreicht. Vergegenwärtigen wir uns, wo der verbotene Baum im Garten Eden steht: mitten im Garten. Wenn die beiden ersten Menschen auf dem kürzesten Weg von einem Ende des Gartens zum anderen gelangen wollen, kommen sie zwangsläufig direkt an ihm vorbei, und damit auch an der Versuchung, auch von den Früchten dieses Baumes zu essen. Die Versuchung, nicht auf Gottes Wort zu hören, liegt nicht an der Peripherie unseres Lebens, sondern mitten in dessen Zentrum. Welche Folgen hat dieser Verstoß gegen Gottes Gebot? „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan und sie wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“ (Vers 7). Hier ist eine Beobachtung am Text von Bedeutung: Im ersten Schöpfungsbericht wird die Gottesebenbildlichkeit des Menschen erwähnt, nicht hingegen im zweiten. Der Mensch wird hier erst durch das verbotene Essen der Frucht Gott ähnlich. Als die beiden sich Schurze gemacht und vor Gott versteckt haben, da dauert es nicht mehr lange, bis Gott sie zur Rede stellt und des Gartens Eden verweist. Ist dies nun eine Bestrafung der beiden, weil sie sein Gebot übertreten haben? So wird es oft dargestellt. Aber ist es wirklich eine Strafe? Nur als Gedankenspiel: Was hätten die beiden wohl getan, wenn sie im Garten Eden geblieben wären? Wahrscheinlich hätten sie auch von den Früchten des Baums des Lebens gegessen, nachdem sie schon von den Früchten des Baumes der Erkenntnis gegessen haben. Vom Baum der Erkenntnis haben sie schon gegessen. Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Sie sind jetzt - um es mit den Worten der Schlange zu sagen - „wie Gott und wissen, was gut und böse ist“. Damit werden sie nun leben müssen. Aber vom Baum des Lebens haben sie nicht gegessen, noch nicht. Würden sie dies tun, dann wären sie unsterblich. Davor bewahrt sie Gott, indem er sie des Gartens verweist und sie somit nicht mehr der Versuchung ausgesetzt sind, auch von den Früchten des zweiten verbotenen

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Baums zu kosten. Die Unsterblichkeit wäre für die Menschen letztlich kein Segen, sondern vielmehr ein Fluch. Und vor dem bewahrt Gott das erste Menschenpaar. Somit geht es im Predigttext für den heutigen Sonntag Invokavit letztlich nicht um Strafe, sondern – ganz im Gegenteil – vielmehr um Bewahrung. Dem entspricht, dass Gott dem Mann und der Frau Röcke von Fellen macht und sie ihnen zudem noch anzieht (vgl. Vers 21). Bewahrung – das ist das Thema unseres Predigttextes und letztlich auch das der gesamten Tora. Im Talmud wird eben diese Sicht zur Sprache gebracht. Dort heißt es: „Rabbi Simalai legte aus: Die Weisung – ihr Anfang ist ein Erweis von Liebestaten, und ihr Ende ist ein Erweis von Liebestaten. Ihr Anfang ist ein Erweis von Liebestaten, denn es steht geschrieben: Da machte der Herr, Gott, für den Menschen und für sein Weib Fellröcke, damit er sie bekleide. Und ihr Ende ist ein Erweis von Liebestaten, denn es steht geschrieben: Da begrub er ihn im Tale.“ Gott bleibt bei uns Menschen, selbst dann, wenn wir gegen sein Gebot handeln. Das ist die gute Nachricht, die uns der heutige Predigttext vermittelt. Und deshalb würde ich diesen Text mit der Überschrift versehen: „Die göttliche Bewahrung vor der Unsterblichkeit“. Amen.

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Predigt über Genesis 13, 1-12 Liebe Gemeinde, welche Rolle spielen Konflikte in unserem Leben? Wie gehen wir mit ihnen um? Diese Fragen gehen uns alle an, denn wir alle kennen die Konflikte, in denen wir uns immer ’mal wieder befinden und denen wir uns dann zu stellen haben. Niemand von uns findet es sonderlich angenehm, sich in einer Konfliktsituation zu befinden. Aber Konflikte gehören zu unserem Leben dazu. Wir werden ihnen letztlich nicht auf Dauer aus dem Weg gehen können. Somit stellt sich die Frage, wie wir mit ihnen umgehen. Verdrängen wir sie, dann holen sie uns wieder ein – und das im Allgemeinen auf eine für uns unangenehme Art und Weise. Verdrängen wir sie dagegen nicht, sondern versuchen wir, uns ihnen zu stellen, dann stehen wir vor der Frage, wie und mit welchem Ziel wir dies tun. Geht es darum, unsere Interesse(n) durchzusetzen und somit als „Sieger“ aus der Auseinandersetzung hervorzugehen? Diese Fragen stellen sich nicht nur im großen gesellschaftlichen Rahmen, wenn z.B. Tarifverhandlungen geführt werden oder seitens der Politik zu klären ist, in welchen Arbeitsbereichen mehr gespart werden soll und in welchen weniger oder gar nichts. Ginge es nur um solche Konflikte, dann könnten sich die meisten von uns ja sagen, dass sie auf die Lösung derartiger Konflikte ja keinen unmittelbaren Einfluss haben. Aber – wie gesagt - gehören Konflikte nicht nur zum Leben von Berufspolitikern, sondern auch zu unserem Leben, etwa zu unserem Familienleben, um nur ein Beispiel zu nennen. So ist das Zusammenleben mit Geschwistern und von Geschwistern oft alles andere als konfliktfrei. Bei Konflikten zwischen Geschwistern kommt oft der Wunsch auf, dass Geschwister sich vertragen mögen - dies ist bei jüngeren Kindern oft der sehnsüchtige Wunsch der Eltern, und bei älteren Geschwistern ist es oft der eigene Wunsch, wenn Konflikte die Beziehung beeinträchtigen. Dieser Wunsch findet auch in der Hebräischen Bibel seinen Ausdruck. Der 133. Psalm beginnt mit den Worten: „Siehe, wie gut und angenehm

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es ist, wenn Geschwister auch zusammen wohnen.“ Das hebräische Wort ahim, das an dieser Stelle im Text steht, ist gewiss kollektiv gemeint und bezeichnet nicht nur die Brüder, wie es in vielen deutschen Übersetzungen steht, sondern auch die Schwestern. Kann dieses Psalmwort ein Leitwort für unsere Frage nach dem Umgang mit Konflikten zwischen uns und unseren Nächsten sein? Dieses Wort drückt soviel Nähe aus, dass es überhaupt keine Distanz und somit auch keine Konflikte zu geben scheint. Distanz und Konflikte gibt es jedoch zwischen uns Menschen - trotz aller uns verbindender Gemeinsamkeiten. Es gibt in der biblischen Überlieferung ein Beispiel, in dem gezeigt wird, wie Geschwister einen Konflikt miteinander zu bewältigen haben und dabei erkennen, dass sie getrennte Wege gehen müssen, und sich trennen: Genesis 13 - die Erzählung der Trennung von Abram und Lot. Nun sind Abram und Lot zwar streng genommen keine Brüder, denn Lot ist der Neffe von Abram, aber dies spielt für die Erzählung keine Rolle, und so ist es auch nur natürlich, dass die beiden im hebräischen Text wieder mit dem Nomen ahim bezeichnet werden. Ich lese die ersten zwölf Verse dieses Kapitels: Und Abram ging hinaus aus Ägypten - er und seine Frau und alles, was ihm gehörte und Lot mit ihm in die Südgegend. Und Abram war sehr reich an Besitz, an Silber und an Gold. Und er wanderte stationsweise aus der Südgegend und nach Bethel, zu dem Ort, wo am Anfang sein Zelt gewesen war zwischen Bethel und Ai, zu der Stätte des Altars, welchen er dort früher errichtet hatte, und Abram rief dort den Namen JHWH's an. Aber auch Lot, der mit Abram zog, gehörten Kleinvieh und Rindvieh und Zelte. Und das Land trug es nicht, daß sie miteinander wohnten, denn ihr Besitz war groß, und sie konnten nicht miteinander wohnen. Und es war Streit zwischen den Hirten von Abrams Herden und den Hirten von Lots Herden, und die Kanaaniter und die Pherisiter wohnten damals in dem Land. Und Abram sprach zu Lot: Es soll doch

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nicht Zank zwischen mir und dir und zwischen meinen Hirten und deinen Hirten sein, denn wir Männer sind Brüder. Ist nicht das ganze Land vor dir? Trenne dich doch von mir! Wenn zur Linken, werde ich mich zur Rechten wenden, und wenn zur Rechten, werde ich mich zur Linken wenden. Und Lot hob seine Augen und sah die gesamte umliegende Gegend des Jordan, denn sie war eine wasserreiche Gegend, bevor JHWH Sodom und Gomorra zugrunde richtete, wie der Garten JHWH' s, wie das Land Ägyptens, wenn man nach Zoar kommt. Und Lot erwählte sich die ganze umliegende Gegend des Jordans aus, und Lot brach von Osten auf, um weiter zu ziehen, und sie trennten sich - jeder von seinem Bruder. Abram ließ sich im Land Kanaan nieder, und Lot ließ sich in den Städten der umliegenden Gegend nieder, und er zog mit seinen Zelten weiter bis Sodom. Genesis 13, 1-12 Diese ersten zwölf Verse des 13. Kapitels des Ersten Buches Mose können uns bei der Frage nach einem angemessenen Umgang mit Konflikten weiterhelfen. Denn in ihnen schlummern Aussagepotentiale, die es verdienen, zum Klingen gebracht zu werden: Abram und Lot waren gemeinsam auf dem Weg von Ägypten in den Negev. Sie waren nicht allein, sondern reisten mit ihren Angehörigen, ihren Bediensteten und ihren Viehherden. Es kam zu einem Konflikt zwischen den beiden, und der Grund für diesen Konflikt wird auch genau benannt: „Und das Land trug es nicht, dass sie gemeinsam wohnten, denn ihr Besitz war viel, und sie konnten nicht gemeinsam wohnen.“ Es gehört zu den Grundgesetzen nomadischen Lebens, dass die Herden nicht zu groß sein dürfen, weil sonst der karge Boden nicht genug Nahrung hergibt, und so war eine Trennung der beiden unausweichlich. Diese Trennung verlief äußerst harmonisch, denn Abram war sofort bereit, dem Jüngeren die Auswahl des Geländes zuzugestehen. Er sagte zu ihm: „Es soll doch nicht Zank zwischen mir und dir und zwischen meinen Hirten und deinen Hirten sein, denn wir Männer sind Brüder . Ist nicht das ganze Land vor dir? Trenne dich doch von mir! Wenn zur Linken, werde ich mich zur Rechten wenden, und wenn zur Rechten, werde ich mich zur Linken wenden.“ Und so geschah es dann auch. Abram und Lot trennten sich, weil sie nicht mehr zusammen bleiben konnten und gingen von da an getrennte Wege. Beeindruckend ist die gegenseitige Achtung, in der die Trennung vollzogen wurde, nachdem sie erkannt hatten, dass der gemeinsame Weg nicht mehr möglich war. Ein solcher Umgang miteinander wäre auch da wünschenswert, wo es zwischen Geschwistern keinen gemeinsamen Weg gibt. Denn eine solche Trennung bedeutet keineswegs, dass die gegenseitige Solidarität aufgekündigt wird. Im unmittelbar darauf folgenden Kapitel des Ersten Buches Mose wird berichtet, dass Lot nach der Trennung von Abram in seiner neuen Heimat Sodom in eine kriegerische Auseinandersetzung hineingezogen und als Kriegsgefangener weggeschleppt wird. Als dies Abram zu Ohren kommt, bricht er sofort auf, um Lot zu befreien (Genesis 14). Auf die Beziehung zwischen Geschwistern bezogen kann dies bedeuten, dass diese zueinander stehen und sich aufeinander verlassen können - auch dann, wenn sie so unterschiedlich sind, dass sie nicht alle ihre Lebenswege gemeinsam beschreiten können. Die Frage nach dem Umgang mit Konflikten unter Geschwistern stellt sich nicht nur im Rahmen der je eigenen Familie. In unserer JerusalemGemeinde beschäftigen wir uns in besonderer Weise mit dem Verhältnis von uns Christen zu den Juden. Juden und Jüdinnen werden oft als die „älteren Geschwister“ bezeichnet. Diese Bezeichnung umschreibt das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum auf eine durchaus angemessene Art und Weise, ist das Christentum doch religionsgeschichtlich gesehen aus dem Judentum hervorgegangen. Dass die Geschichte von Christentum und Judentum in weiten Teilen eine Konfliktgeschichte ist, wissen wir. Im Laufe der Geschichte ist die Kirche an ihren älteren Geschwistern immer wieder schuldig geworden. Ein Aufarbeiten dieser Schuldgeschichte und die Erlangung einer neuen,

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wertschätzenden Sicht des Judentums wurden erst im letzten Jahrhundert im Rahmen der ‚Theologe nach Auschwitz’ erarbeitet. Dabei stellte sich heraus, dass viele der angeblichen Unterschiede zwischen Christentum und Judentum, die seitens der Christen über Jahrhunderte hinweg zur Begründung für Ausgrenzung, Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung herangezogen wurden, bei Lichte betrachtet gar nicht bestehen. Nun wurde der Blick frei für viele verbindende Gemeinsamkeiten zwischen Judentum und Christentum. Bedeutet dies nun, dass es letztlich keine wirklichen Unterschiede zwischen diesen beiden Religionen gibt? Nein. Es gibt grundlegende Unterschiede zwischen Judentum und Christentum; so wird im Rahmen des christlichen Glaubens Jesus Christus als Wort Gottes verstanden, das in seiner Präexistenz bereits da war, als die Welt noch gar nicht erschaffen war, und das in Jesus von Nazareth Mensch geworden ist, um uns aus der Gottesferne zu erlösen. Diese Sicht Jesu Christi wird von Jüdinnen und Juden nicht geteilt. Selbst wenn sie ihn trotz all des Unrechts, das ihnen in seinem Namen angetan wurde, nicht zur Gänze ablehnen, so ist er für sie bestenfalls der ‚Bruder Jesus’ und nicht wie für uns ‚wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch’, wie es auf dem Konzil von Chalcedon im Jahr 451 formuliert wurde. Ein weiterer Unterschied zwischen Judentum und Christentum besteht darin, dass das Judentum sowohl eine Volks- als auch eine Glaubensgemeinschaft ist, während sich das Christentum demgegenüber lediglich als Glaubensgemeinschaft versteht und dementsprechend an keine ethnischen Grenzen gebunden ist. In diesem Zusammenhang ist auch das von Gott verheißene Land zu nennen, das für das Judentum theologisch eine gänzlich andere Bedeutung hat als für das Christentum. Die Liste der Unterschiede ließe sich ohne weiteres ergänzen. Es handelt sich bei Judentum und Christentum eben um zwei Religionen und nicht lediglich um zwei Konfessionen innerhalb einer Religion – trotz aller verbindenden Gemeinsamkeiten, deren Bedeutung gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Ich nenne hier als Beispiele für diese Gemeinsamkeiten nur den Glauben an den Gott Israels und die Tatsache, dass

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die Hebräische Bibel des jüdischen Volkes Bestandteil unserer christlichen Bibel ist. Oft werden die Unterschiede gerade da am deutlichsten, wo die verbindenden Gemeinsamkeiten bestehen, so paradox dies im ersten Moment auch klingen mag. Um dies an einem Beispiel zu zeigen: Juden beten mit den Worten der Psalmen. Wir auch. In jedem unserer Gottesdienste wenden wir uns mit Worten der Psalmen im Gebet an Gott. Dies gehört zweifellos zu den Gemeinsamkeiten, die jüdische und christliche praxis pietatis zutiefst miteinander verbinden. Aber – und dies trennt uns von unseren jüdischen Geschwistern - wir lassen unser Psalmgebet jeweils in das trinitarische Lob Gottes einmünden: ‚Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist, wie es war im Anfang, jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.’ Dass Jüdinnen und Juden dies nicht mitsprechen können, versteht sich von selbst. Womöglich werden sie es sogar als einen Akt der theologischen Enterbung verstehen, als ob es darum ginge, die Psalmen durch dieses Gotteslob gleichsam christlich zu taufen und ihnen somit zu nehmen. Dabei geht es uns als christliche Gemeinde um etwas gänzlich anderes: Wir bringen mit diesem Lob zum Ausdruck, dass wir als diejenigen, die aus den nichtjüdischen Völkern stammen und denen Zugang zum Glauben an den Gott Israels und damit auch zu den Psalmen geschenkt wurde, diesen Zugang nur deshalb haben, weil er uns durch das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus eröffnet worden ist. So paradox es auch anmuten mag: Hier ist es ein Lob Gottes, das wir Christen im Anschluss an unser Gebet der Psalmen sprechen, das eine Grenze zwischen den Religionen Judentum und Christentum markiert – obwohl oder vielleicht gerade weil es dieselben Psalmen sind, mit deren Worten sich auch Jüdinnen und Juden im Gebet an Gott wenden. Das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum ist somit davon geprägt, dass es auf der einen Seite Gemeinsamkeiten gibt, die wirklich tragen, und auf der anderen Seite Unterschiede, die nicht übersehen oder gar verdrängt werden dürfen. Dieses Gemisch von Gemeinsamkeiten und Unterschieden ist für Geschwister nicht ungewöhnlich und so ist es

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in der Tat angemessen, in Bezug auf das Verhältnis von Juden und Christen von „Geschwistern“ zu sprechen. Und so ist es hilfreich, das Verhältnis von Juden und Christen vor dem Hintergrund der Erzählungen im 13. und 14. Kapitel des Ersten Buches Mose zu sehen, in denen es darum geht, dass die Wege von Abram und Lot auseinander gegangen sind, ihre gegenseitige Solidarität darunter jedoch nicht gelitten hat. Auf die Beziehung zwischen Christen und Juden in unserer Gesellschaft bezogen kann dies bedeuten, dass Christinnen und Christen den seit einigen Jahren wieder in größerer Zahl hier lebenden Jüdinnen und Juden ihre Solidarität zeigen, auch wenn es zwischen ihren Religionen Unterschiede gibt, vor denen nicht die Augen verschlossen werden sollten. Hätten Abram und Lot die Notwendigkeit, getrennte Wege zu gehen, nicht erkannt und sich nicht zur Trennung durchgerungen, dann wären die Konflikte nicht gelöst worden, sondern wahrscheinlich noch sehr viel bedrängender geworden. Auch wenn es gut und angenehm wäre, wenn Geschwister auch zusammen wohnten, so gibt es doch auch gute Gründe, anzuerkennen, dass nicht alle Wege gemeinsam beschritten werden können. Dies bedeutet jedoch - wie gesagt - keineswegs ein Aufkündigen der gegenseitigen Solidarität. Das Anerkennen der Unterschiede zwischen Christentum und Judentum steht zu der Solidarität, die Christinnen und Christen den hier lebenden Jüdinnen und Juden schulden, in keinem Widerspruch. Dass es nach der langen Geschichte der ‚Vergegnungen’, um diese Wortschöpfung Martin Bubers hier zur Sprache zu bringen, in unseren Tagen zu wirklichen Begegnungen zwischen Christen und Juden kommt, ist ein Wunder, für das wir nur dankbar sein können. Wie der Mandelzweig, der wieder blüht und treibt, ist auch dies ein Fingerzeig, dass die Liebe bleibt. Amen.

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Predigt über Exodus 16, 2-18 Liebe Gemeinde, der Predigttext, der uns am heutigen siebenten Sonntag nach Trinitatis auf den Weg in die neue Woche mitgegeben wird, steht im sechzehnten Kapitel des Buches Exodus, des zweiten Buches der Bibel. Ich lese ihn vor: Es murrte die ganze Gemeinde der Israeliten wider Mose und Aaron in der Wüste. Und sie sprachen: „Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HERRN Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen. Denn ihr habt uns dazu herausgeführt in diese Wüste, dass ihr diese ganze Gemeinde an Hunger sterben lasst. Und der HERR sprach zu Mose: Ich habe das Murren der Israeliten gehört. Sage ihnen: Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden und sollt innewerden, dass ich, der HERR, euer Gott bin. Und am Abend kamen Wachteln herauf und bedeckten das Lager. Und am Morgen lag Tau rings um das Lager. Und als der Tau weg war, siehe, da lag's in der Wüste rund und klein wie Reif auf der Erde. Und als es die Israeliten sahen, sprachen sie untereinander: Man hu? Denn sie wussten nicht, was es war. Mose aber sprach zu ihnen: Es ist das Brot, das euch der HERR zu essen gegeben hat. Das ist's aber, was der HERR geboten hat: Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht, einen Krug voll für jeden nach der Zahl der Leute in seinem Zelte. Und die Israeliten taten's und sammelten, einer viel, der andere wenig. Aber als man's nachmaß, hatte der nicht darüber, der viel gesammelt hatte, und der nicht darunter, der wenig gesammelt hatte. Jeder hatte gesammelt, soviel er zum Essen brauchte. Exodus 16, 2-18

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Die Israeliten waren in der Wüste. Sie waren schon eine ganze Weile unterwegs. Nach dem eiligen Aufbruch aus Ägypten hatten sie das Wunder am Schilfmeer erlebt. Dann ging es weiter in die Wüste Schur. In Mara fanden sie Brackwasser, das Mose mit Gottes Hilfe in Süßwasser verwandelte. Der weitere Weg führte sie nach Elim, einer paradiesisch schönen Oase. Im letzten Vers des vorangehenden fünfzehnten Kapitels heißt es: „Und sie kamen nach Elim; da waren zwölf Wasserquellen und siebzig Palmbäume. Und sie lagerten sich dort am Wasser.“ Eine Oase mitten in der Wüste mit zwölf Wasserquellen und siebzig Palmbäumen ist in der Tat ein wunderschöner Ort, an dem niemand Hunger und Durst leiden muss. Aber dort konnten sie nicht bleiben, denn das Ziel ihrer Reise war das Gelobte Land und nicht eine Wüstenoase, so schön sie auch sein mag. Und so zogen sie weiter. Einen Monat später neigte sich der Vorrat an Speisen seinem Ende entgegen. Die Israeliten waren mitten in der Wüste. Nun hatten sie Angst, in der Wüste zu sterben. Diese Angst äußert sich nicht zuletzt in Aggressionen, die sich gegen Mose und Aaron richten. Die Israeliten machten Mose und Aaron die Vorwürfe, die in unserem Predigttext zur Sprache kommen. Die Vorwürfe waren keineswegs gerechtfertigt, ganz im Gegenteil. So ist die Unterstellung, die beiden hätten die ganze Gemeinde in diese Wüste hinausgeführt, um sie sterben zu lassen, infam. Hier wird die Absicht des Pharao, die Israeliten zu töten, auf Mose und Aaron projiziert – gerade auf die beiden, die das Volk aus der Unterdrückung durch den Pharao hinaus in die Freiheit führen wollen! Die Wahrheit wird hier auf den Kopf gestellt. Das Leben in Ägypten wird im Rückblick verklärt. Dass sie in Ägypten Sklaven waren, spielt keine Rolle mehr. Dort waren die Fleischtöpfe, hier droht der Hungertod. In der rabbinischen Auslegung unseres Textes wird die kritische Frage gestellt, ob es denn überhaupt so war, dass die israelitischen Sklaven wirklich von dem Fleisch in den Töpfen gegessen haben. Rabbinische Auslegungen zeichnen sich dadurch aus, dass sehr genau wahrgenommen wird, was im jeweiligen biblischen Text steht, so auch bei unserem Predigttext.

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Und so wird gesehen, dass der Vorwurf gegen Mose und Aaron mit den Worten beginnt: „Wollte Gott, wir wären in Ägypten gestorben durch des HERRN Hand, als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen.“ – „als wir bei den Fleischtöpfen saßen und hatten Brot die Fülle zu essen.“ Im Text steht nichts davon, dass die Israeliten selbst Fleisch gegessen haben. Zu essen hatten sie Brot, das auch ausreichend, aber wenn der Satz genau gelesen wird, wird schnell deutlich, dass nur vom Sitzen an den Fleischtöpfen die Rede ist, nicht dagegen vom Genießen ihres Inhalts. In Midrasch Exodus Rabba, 16, 4, wird dies deutlich artikuliert. Dort heißt es: „Es heißt nicht ‚als wir aus dem Fleischtopf aßen, sondern ‚als wir am Fleischtopf saßen’. Ihr Brot haben Sklaven ohne Fleisch gegessen!“ Hier drängt sich in der Tat der Eindruck auf, dass aufgrund der drohenden Not der Gegenwart die Vergangenheit nur noch in leuchtenden Farben gesehen wird. Dass diese Sicht den tatsächlichen Gegebenheiten keineswegs entspricht, ist offensichtlich. Aber wir tun dennoch gut daran, uns eines allzu schnellen Urteils über das Verhalten der Israeliten zu enthalten und stattdessen zu versuchen, dieses Verhalten zu verstehen. Der Schlüssel zum Verständnis liegt im Text selbst. Es ist die Angabe, wo dies alles geschieht: in der Wüste. Die Wüste hat gleichsam zwei Gesichter. Das eine ist faszinierend. In der Wüste scheinen die Uhren anders zu gehen. Man kann sich der Wirkung dieser Landschaft kaum entziehen. Sie strahlt Ruhe aus und diese Ruhe schärft die Empfindungen für all das, was es zu sehen und auch zu hören gibt. Licht und Schatten und die mit ihnen verbundenen Farbschattierungen nehmen wir in der Wüste meist sehr viel intensiver wahr als an anderen Orten. Von der Wüste geht eine ganz eigene und auch eigenartige Faszination aus. Neben dieser faszinierenden Seite gibt es aber auch die lebensbedrohliche Seite der Wüste. Diese Seite nehmen wir oft nicht bewusst wahr. Das wird gewiss auch damit zusammenhängen, dass wir die Wüste oft erleben, wenn wir in einem klimatisierten Bus sitzen und aus dessen Fenstern nach außen blicken. Die oft brütende Hitze spüren

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wir nicht. Sie löst deshalb bei uns auch keinen Durst aus. Der lebensbedrohenden Seite der Wüste haben wir uns im Allgemeinen nicht zu stellen. Das war bei den Israeliten anders, vollkommen anders. Sie waren der Wüste unmittelbar ausgeliefert, der Hitze des Tages ebenso wie der Kälte des Nachts. Es gab keine Bäume, deren Früchte sie hätten essen können. Und dann neigten sich ihre Essensvorräte dem Ende entgegen und der Hunger bedrohte ihr Leben. Was sollten sie tun? Sie waren bereits viel zu weit gewandert, als dass sie den Weg zurück zur Oase Elim hätten bewältigen können. Diese Situation war zutiefst bedrohlich und wird bei den Israeliten wohl Angst und auch Verzweiflung ausgelöst haben – und auch hilflose Wut, die sich dann gegen Mose und Aaron richtete. Natürlich war dies nicht fair, aber in der Situation spielte Fairness keine Rolle. Das Verhalten der Israeliten war gewiss nicht gutzuheißen, aber es war durchaus nachvollziehbar. Wem der Tod durch Verhungern droht, bei dem sollten selbst Worte ungerechter Vorwürfe nicht auf die Goldwaage gelegt werden. Bertold Brecht, dessen fünfzigsten Todestag wir im nächsten Monat begehen werden, prägte den kurzen und prägnanten Satz: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“. Auch wenn wir von anderen und nicht zuletzt auch von uns selbst ein anderes Verhalten erwarten und wünschen – die Realität ist wohl eher so, wie sie Brecht in seinem so wenig schmeichelhaften Ausspruch auf den Punkt bringt. In dieser Hinsicht werden wir Heutige uns von den durch die Wüste ziehenden Israeliten wohl kaum allzu sehr unterscheiden. Wir haben wahrlich keinen Anlass, uns besser zu dünken und den Israeliten posthum vorzuwerfen, dass sie ein murrendes und undankbares Volk gewesen seien. In Extremsituationen reagieren Menschen auf eine extreme Art und Weise. Das war damals so und das ist heute nicht anders. Und die Israeliten verhielten sich so, wie sie es getan haben, weil sie sich in einer Extremsituation befanden, als sie sich in der Wüste mit dem drohenden Hungertod konfrontiert sahen. Und so kritisierte Gott das Verhalten der Israeliten auch nicht mit einer Silbe. Jetzt war nicht der Moment ermahnender Worte oder gar strafen-

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der Taten. Jetzt galt es zu handeln. Er sagte Mose, dass er das Murren der Israeliten gehört habe, und kündigt umgehend an, das Notwendige zu tun - das, was die Not des drohenden Hungers abwendet. Fleisch und Brot gibt er ihnen, Wachteln und Manna. Die Israeliten wussten nicht, was es war, das ihnen da als Speise gegeben wurde, und so fragten sie untereinander danach. Wir sind heute im Hinblick auf diese Frage auch nicht klüger als die Israeliten damals. Es ist nicht möglich, das Manna mit einer uns bekannten Speise zu identifizieren. In der rabbinischen Tradition begegnet der interessante Gedanke, dass jeder, der von dem Manna aß, den Geschmack verspürte, den er sich wünschte. Aber: Was das Manna nun genau war, war nicht wichtig. Wichtig war, dass es da war und die Israeliten ihren Hunger stillen konnten. Auch wenn der Mensch nicht vom Brot allein lebt – ohne Brot kann er nicht leben. Dem Zuspruch, den Gott den Israeliten mit dieser Gabe gibt, folgt der Anspruch, mit ihr verantwortungsvoll umzugehen. Auf den Indikativ der Hilfe Gottes folgt der Imperativ, verantwortungsbewusst zu handeln. Jeder soll soviel nehmen, wie er benötigt – nicht weniger und nicht mehr. In der Verdeutschung der Hebräischen Bibel von Martin Buber und Franz Rosenzweig heißt es an dieser Stelle: „jeder nach seinem Eßbedarf“. Und als die Israeliten dann sammelten, hatte niemand zu wenig und niemand zu viel gesammelt. Dass dies so gut aufging, bezeichnet der bedeutende jüdische Gelehrte und Talmudkommentator Raschi als „großes Wunder“. Die Anweisungen Gottes zielten darauf ab, dass die Israeliten mit der ihnen von Gott geschenkten Speise keinen Handel treiben und keinen Reichtum anhäufen sollten. Sie sollten sich vor Augen halten, dass sie sie nur deshalb haben, weil Gott sie ihnen gegeben hat. Essen und Gotteserkenntnis hängen untrennbar miteinander zusammen. Als Gott dem Mose die Bereitstellung der Speise angekündigt hatte, brachte er dies auch zur Sprache: „Gegen Abend sollt ihr Fleisch zu essen haben und am Morgen von Brot satt werden und sollt innewerden, dass ich, der HERR, euer Gott bin.“ Die Israeliten erhalten gleichsam eine Wegweisung: Sie sollen angesichts des Fleisches und des

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Brotes, mit dem sie ihren Hunger stillen können, innewerden, dass der Herr ihr Gott ist – ihr Gott, der sie geschaffen hat und der sie auch erhält, indem er ihnen Speise gibt zur rechten Zeit. Diese Wegweisung wird den Israeliten als geistliche Wegzehrung auf ihren weiteren Weg in das Gelobte Land mitgegeben – und darüber hinaus. Auch in den wechselhaften Zeiten, die das jüdische Volk in dem ihm verheißenen Land und auch in der Diaspora verbrachte und noch verbringt, hat diese Wegweisung nie ihre Bedeutung als geistliche Wegzehrung verloren. Und auch uns ist diese Wegzehrung durch den Predigttext des heutigen siebenten Sonntags nach Trinitatis mit auf unseren Weg gegeben – auf den persönlichen Lebensweg jeder und jedes Einzelnen von uns ebenso wie auf den Weg, den wir als christliche Gemeinschaft gemeinsam beschreiten. Auch uns gilt der Zuspruch Gottes, uns die Speise zu geben, die wir zum Leben brauchen, aus dem der Anspruch folgt, mit ihr verantwortungsvoll umzugehen. Der verantwortungsvolle Umgang mit der uns von Gott gegebenen Nahrung folgt aus der Erkenntnis, dass wir sie von Gott empfangen. Diese Erkenntnis ist heutzutage alles andere als selbstverständlich. Wir gehen oft mit unserer Nahrung um, als ob wir sie selbst produzieren würden, als ob sie von uns kommen würde und nicht letztlich von Gott. Demgegenüber ist es gut, sich bewusst zu sein, dass wir all das, was wir zum Leben brauchen, aus der Hand Gottes empfangen. Dafür ist Gott täglich zu danken. So gut es ist, dass wir im Ablauf unseres Kirchenjahres den Erntedanksonntag haben, darf das jedoch nicht zur Folge haben, dass wir unseren Dank Gott gegenüber nur einmal pro Jahr - an diesem Erntedanksonntag - zum Ausdruck bringen. Unser Dank an Gott hat nicht nur einmal jährlich seinen Ort, sondern täglich. Dies wussten bereits die Rabbinen: Im Babylonischen Talmud, Traktat Brachot, 48b, heißt es, dass Mose für die Israeliten das Tischgebet verordnet hat, als das Manna gefallen ist. Den Brauch, Gott im Tischgebet für die Speise zu danken, die er gibt, gibt es nicht nur im jüdischen Volk, sondern auch in unserer Gemeinschaft von Christinnen und

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Christen. Der Dank an Gott dafür, dass er uns unsere Nahrung gibt, ist untrennbar verbunden mit dem Vertrauen, dass er uns dies auch weiterhin gewähren wird. Dass Gott uns die Nahrung geben möge, die wir für den jeweiligen Tag brauchen, beten wir, wenn wir die Vaterunserbitte sprechen: „Unser tägliches Brot gib uns heute“. In der Bitte um das Brot für den jeweiligen Tag artikuliert sich auch das Vertrauen, dass Gott uns auch darüber hinaus die Speise geben wird, die wir benötigen. Um noch einmal rabbinische Weisheit zu Wort kommen zu lassen: Rabbi El’asar haModa’i pflegte zu sagen: „Wer heute zu essen hat und fragt: ‚Was werde ich morgen essen?’, zählt zu den Kleingläubigen.“ Wörtlich heißt der letzte Teil dieses Satzes: „ist ohne Vertrauen“. Der Dank für die Speise und das damit verbundene Vertrauen verändern uns in unserem Umgang mit unserer Nahrung. Wenn wir in ihr eine Gabe Gottes erkennen, können wir nicht mehr achtlos mit ihr umgehen. Dann nehmen wir das, was wir brauchen – nicht mehr und nicht weniger. Nicht mehr, weil wir das Überflüssige achtlos wegwerfen würden und die Erfahrung machen würden, dass Überfluss zu Überdruss führt. Nicht weniger, weil wir uns dann nicht an der Nahrung satt essen würden, so wie es Gottes Willen entspricht. Wenn wir also in der Nahrung den Zuspruch Gottes erkennen, werden wir gar nicht anders handeln können als gemäß den Anspruch Gottes. Klingt dies zu weltfremd – zu fremd, als dass es in unserer realen Welt Bestand haben könnte? Ist dies lediglich ein Postulat, das in einer Sonntagspredigt seinen legitimen Ort hat, nicht jedoch in unserem alltäglichen Leben? Diese kritischen Fragen drängen sich förmlich auf angesichts der realen Ernährungskrise und des damit verbundenen Hungers in unserer Welt. Ohne nun auf komplexe Probleme mit simplen Lösungen reagieren zu wollen, denke ich, dass uns der heutige Predigttext einen Impuls gibt, der sich als weiterführend erweisen kann. Denn die derzeitige Ernährungskrise hat auch eine geistliche Dimension, da nur allzu oft Nahrungsmittel betrachtet und behandelt werden, als wären sie Produkte menschlichen Handelns. Es wird nicht mehr gesehen, dass sie eine

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letztlich unverfügbare Gabe Gottes sind und mit ihnen dementsprechend z.B. nicht spekuliert werden darf. Eine andere Einstellung kann zu einer anderen Umgangsweise führen und so gesehen kann sich der Hinweis auf den Zusammenhang von Zuspruch und Anspruch Gottes, den unser heutiger Predigttext uns in Bezug auf unsere Nahrung gibt, als hilfreich erweisen, wenn es darum geht, unsere Welt so mitzugestalten, wie es dem Willen Gottes entspricht. Amen.

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Predigt über das Buch Esther Liebe Gemeinde, lange Zeit haben wir uns in der wöchentlichen Bibelstunde mit dem biblischen Buch Esther beschäftigt, dreieinhalb Monate lang – von Anfang November bis jetzt. Wir haben es gründlich gelesen und dabei immer wieder neue Entdeckungen im Text machen können. Wir haben auch immer wieder Querverbindungen im Text gefunden: Aussagen oder Formulierungen, die uns in derselben oder zumindest in ähnlicher Form im Text bereits begegnet waren. Es war spannend und wir haben viele Fragen klären können. Eine Frage wurde bereits recht früh laut und begleitete uns in der ganzen Zeit, in der wir uns mit Esther beschäftigten – eine Frage, die an Radikalität wohl schwerlich überboten werden könnte: die Frage, warum das Buch Esther eigentlich überhaupt in die Bibel mit aufgenommen wurde, warum es seinen Platz im Kanon biblischer Schriften hat finden können. Diese Frage drängte sich uns förmlich auf. Denn in der Bibel geht es ja immer in irgendeiner Weise um Gott und sein Wirken in unserer Welt. Aber im Buch Esther wird Gott kein einziges Mal genannt. So unglaublich dies auf den ersten Blick auch wirken mag: Das Wort ‚Gott’ begegnet im gesamten Buch Esther kein einziges Mal! Dies ist nun in der Tat ein bemerkenswerter Befund. In der Bibelstunde stand uns dies in besonderer Deutlichkeit vor Augen, weil wir direkt davor das Buch Ruth gemeinsam gelesen und ausgelegt haben. Und in diesem Buch kommt der Glaube an Gott unmissverständlich zur Sprache. Der Kontrast zwischen diesen beiden biblischen Büchern, in denen es jeweils um eine bemerkenswerte jüdische Frau geht, springt förmlich ins Auge. Mit dieser einen Frage, warum das Buch Esther Eingang in die Bibel gefunden hat, hatten wir uns aber auch noch aus einem anderen Grund auseinanderzusetzen: der Schilderung im neunten Kapitel, wie die Juden an ihren Feinden Rache nahmen: „Niemand konnte ihnen widerstehen“

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heißt es in Vers 2 und in den Versen 5 bis 10 ist zu lesen: „So schlugen die Juden alle ihre Feinde mit dem Schwert und brachten um und taten nach ihrem Gefallen an denen, die ihnen feind waren. Und in der Festung Susa töteten und brachten die Juden um fünfhundert Mann. Dazu töteten sie Parschandata, Dalfon, Aspata, Porata, Adalja, Aridata, Parmaschta, Arisai, Aridai und Wajesata, die zehn Söhne Hamans, des Sohnes Hammedatas, des Judenfeindes.“ Das entspricht so gar nicht dem Bild, welches wir sonst im Allgemeinen von Juden, insbesondere von jüdischen Gemeinden in der Diaspora haben. Es stellt sich die Frage, wie sich Esther selbst dazu stellt. Stellt sie diese so unverhältnismäßig wirkende Racheaktion in Frage, distanziert sie sich gar von ihr, oder heißt sie sie gut? Als die Kunde von diesen Tötungen vor den König, also ihren Ehemann kommt, fragt dieser sie: „Was bittest du, dass man’s dir gebe? Und was begehrst du mehr, dass man’s tue?“ (Vers 12b). Die Antwort Esthers zielt nun keineswegs darauf ab, der Racheaktion ein schnelles Ende zu bereiten; ganz im Gegenteil, sie lautet: „Gefällt’s dem König, so lasse er auch morgen die Juden in Susa tun nach dem Gesetz für den heutigen Tag, aber die zehn Söhne Hamans soll man an den Galgen hängen.“ (Vers 13). Der König ließ dem Wunsch seiner Gemahlin entsprechend handeln; das Gesetz wurde in Susa gegeben und die bereits getöteten Söhne Hamans wurden an den Galgen gehängt (Vers 14). Daraufhin versammelten sich die Juden auch am vierzehnten Tag des Monats Adar und töteten in Susa dreihundert Mann (Vers 15). Im Hinblick auf die Juden in den anderen Teilen des persischen Reiches wird im letzten Vers dieses neunten Kapitels gesagt, dass sie fünfundsiebzigtausend von ihren Feinden töteten. Selbst wenn wir dabei die immense Größe dieses Reiches in den Blick nehmen und somit auch die unvorstellbar große Zahl der Menschen, die in diesem Reich lebten, so ist die Zahl von fünfundsiebzigtausend Getöteten hoch, sogar sehr hoch – einmal ganz abgesehen davon, dass jeder Einzelne dieser Getöteten ein Mensch und somit gemäß dem ersten Buch der Bibel ein Ebenbild Gottes ist (Genesis 1, 27).

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Mit dieser Schilderung tun wir uns schwer. Die Juden als diejenigen, die gnadenlos ein Massaker an Anderen vollziehen? Diese Vorstellung ist sperrig; sie entspricht so wenig unserem Bild, welches wir uns sonst von Menschen gemacht haben, die dem jüdischen Volk angehören – dem Volk, dem wir uns als Christinnen und Christen in besonderer Weise verbunden fühlen. Und so ist es nicht verwunderlich, dass diese Schilderung im neunten Kapitel des Esther-Buches mit dazu beiträgt, dass sich viele mit diesem biblischen Buch schwer tun, ja dass sogar die eingangs genannte Frage gestellt wird, warum dieses Buch Eingang in den Kanon biblischer Schriften hat finden können. Und es ist in der Tat bemerkenswert, dass keiner der Kirchenväter – nicht einer! – einen Kommentar zu dem Buch Esther hinterlassen hat. Diese Tradition via negationis – wenn ich sie einmal so nennen darf – fand in der Reformationszeit ihre Fortsetzung: Weder Martin Luther noch Johannes Calvin haben Estherkommentare geschrieben. Bleiben wir jedoch nicht bei der Distanzierung stehen, sondern wenden wir uns der Frage zu, wie diese so anstößig wirkenden Aussagen des Estherbuches verstanden werden können. Ich möchte mich dieser Frage dergestalt nähern, dass ich danach frage, wer diesen Text geschrieben hat und für wen dieser Text geschrieben wurde. Es ist offensichtlich, dass wir einen jüdischen Text vor uns haben, einen Text, bei dem außer Frage steht, dass die Person, die ihn geschrieben hat, bzw. die Personen – wenn wir von zwei oder mehreren Verfassern oder auch Verfasserinnen ausgehen – eine jüdische Identität haben. Niemand würde dies ernstlich in Frage stellen wollen. Stelle ich dann in einem zweiten Schritt die Frage nach denjenigen, an die sich dieser Text in erster Linie richtet, die Frage nach ihren Hörerinnen und Hörern, ihren Leserinnen und Lesern, dann ist dieselbe Antwort zu geben: Auch bei diesen ist vorauszusetzen, dass sie Jüdinnen und Juden sind. Das Estherbuch ist also von Juden für Juden geschrieben worden, es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein innerjüdischer Text. Dass wir Christinnen und Christen mit den Inhalten dieses Buches

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durchaus unsere Probleme haben, ist demnach nichts, was diesen Text grundsätzlich in Frage stellen könnte, ja mehr noch: Es ist nicht von allzu großer Bedeutung, schließlich ist der Text ja nicht für uns geschrieben. An dieser Stelle wird wieder einmal deutlich, dass der erste Teil unserer christlichen Bibel, den wir als Altes Testament bezeichnen, weitestgehend identisch ist mit der Hebräischen Bibel, der Bibel des jüdischen Volkes. So wenig wie das Neue Testament ohne den Hintergrund des Alten verstanden werden kann, so wenig sind wir legitimiert, das Alte Testament gleichsam zur Gänze für uns in Anspruch zu nehmen. Es gilt vielmehr, immer im Blick zu haben, dass wir nicht die einzigen Adressatinnen und Adressaten dieser Sammlung heiliger Schriften sind, sondern diese sich in erster Linie an Jüdinnen und Juden richten. Damit hängt untrennbar die Einsicht zusammen, dass einige dieser Schriften von uns auch gar nicht ohne weiteres zu verstehen sind. Um eine Schrift, die sich an bestimmte Adressatinnen und Adressaten richtet, angemessen verstehen zu können, ist es unerlässlich, deren Situation mit in den Blick zu nehmen. Gehen wir davon aus, dass das Esther-Buch in jüdischen Diasporagemeinden gelesen wurde und nach wie vor wird, dann bekommen ihre eingangs zitierten Aussagen einen anderen Klang. Viele dieser Gemeinden lebten und leben in dem Bewusstsein permanenter Bedrohung. Selbst wenn das letzte Pogrom bereits in weiter Ferne liegt und nichts darauf hindeutet, dass es in absehbarer Zeit wieder eins geben könnte, ganz sicher konnten und können sich die Mitglieder jüdischer Gemeinden nie sein. Anders zu sein als andere, als die Mehrheitsgesellschaft, kann gefährlich sein, insbesondere dann, wenn diese Andersartigkeit religiöser Natur ist und von der Mehrheitsgesellschaft als Infragestellung des eigenen Glaubens empfunden wird. Man befindet sich in der Position der ungleich Schwächeren und ist sich dessen im Allgemeinen auch bewusst - mit allen Konsequenzen, die dies mit sich bringt. Zu diesen Konsequenzen gehört, immer wieder Unrecht erleiden zu müssen, ohne auch nur den Hauch einer Chance zu haben, dagegen die Stimme erheben und Recht fordern

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zu können. Diese Situation kann jeden Mut nehmen. Was da im wahrsten Sinne des Wortes notwendig ist, weil es zumindest die innere Not der Resignation wendet, ist eine Ermutigung. Das Buch Esther ist eine solche Ermutigung; berichtet es doch von einem Fall, in dem den jüdischen Gemeinden schlimmstes Unheil drohte. In der Esther-Erzählung geht es ja um nicht weniger als um die Ausrottung aller Jüdinnen und Juden im gesamten persischen Reich. Und dann wendete sich das Blatt: Das Schicksal, das den Juden drohte, erlitten nun die, von denen diese Bedrohung ausging. Dies wird im sechsten Kapitel des Esther-Buches exemplarisch anhand der Ehrung entfaltet, die Haman für sich erhofft hatte, nun jedoch dem Juden Mordechai zukommen lassen muss. Ich lese die ersten elf Verse dieses Kapitels, in denen dies dargestellt wird: „In derselben Nacht konnte der König nicht schlafen und ließ sich das Buch mit den täglichen Meldungen bringen. Als diese dem König vorgelesen wurden, fand sich's geschrieben, dass Mordechai angezeigt hatte, wie die zwei Kämmerer des Königs, Bigtan und Teresch, die an der Schwelle die Wache hielten, danach getrachtet hatten, Hand an den König Ahasveros zu legen. Und der König sprach: Welche Ehre und Würde hat Mordechai dafür bekommen? Da sprachen die Diener des Königs, die um ihn waren: Er hat nichts bekommen. Und der König sprach: Wer ist im Vorhof? Haman aber war in den Vorhof gekommen draußen vor des Königs Palast, um dem König zu sagen, dass man Mordechai an den Galgen hängen sollte, den er für ihn aufgerichtet hatte. Und des Königs Diener sprachen zu ihm: Siehe, Haman steht im Vorhof. Der König sprach: Lasst ihn herein treten. Und als Haman hereinkam, sprach der König zu ihm: Was soll man dem Mann tun, den der König gern ehren will? Haman aber dachte in seinem Herzen: Wen anders sollte der König gern ehren wollen als mich? Und Haman sprach zum König: Dem Mann, den der König gern ehren will, soll man königliche Kleider bringen, die der König zu tragen pflegt, und ein Ross, darauf der König reitet und dessen Kopf königlichen Schmuck trägt, und

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man soll Kleid und Ross einem Fürsten des Königs geben, dass er den Mann bekleide, den der König gern ehren will, und ihn auf dem Ross über den Platz der Stadt führen und vor ihm her ausrufen lassen: So tut man dem Mann, den der König gern ehren will. Der König sprach zu Haman: Eile und nimm Kleid und Ross, wie du gesagt hast, und tu so mit Mordechai, dem Juden, der im Tor des Königs sitzt, und lass nichts fehlen an allem, was du gesagt hast. Da nahm Haman Kleid und Ross und zog Mordechai an und führte ihn über den Platz der Stadt und rief aus vor ihm her: So geschieht dem Mann, den der König gern ehren will.“ Dass Haman schließlich an den Galgen gehängt wird, den er für Mordechai hatte errichten lassen, entspricht dem, dass das Unheil, das Feinde der Juden diesen zugedacht hatten, sie selbst trifft. Vor diesem Hintergrund sind auch die eingangs zitierten auf den ersten Blick so anstößig wirkenden Aussagen zu verstehen, dass die Juden andere in großer Zahl umbringen. Es geht hier keineswegs darum, dass die Juden wahllos andere ums Leben bringen, sondern vielmehr darum, dass sie die Erlaubnis bekommen, sich gegen die zur Wehr zu setzen, die ihnen nach dem Leben trachten, und dies so erfolgreich tun, dass ihre Gegner bei dem Versuch, die Juden zu töten, selbst das Leben verlieren. Das, was exemplarisch anhand der Gestalt des Haman bereits im sechsten Kapitel entfaltet worden war, dass nämlich das Unheil, das Feinde der Juden diesen zugedacht hatten, diese selbst trifft, geschieht nun in ungleich größerem Umfang. Stellen wir uns vor, wie diese Erzählung auf Jüdinnen und Juden in der Diaspora gewirkt hat, so wird schnell deutlich, dass dies als eine zutiefst ermutigende Geschichte verstanden worden sein wird; wird in dieser Geschichte doch gezeigt, dass dem Unrecht gegenüber den jüdischen Diasporagemeinden Einhalt geboten wird, dass es nicht das letzte Wort behält.

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Die Jüdinnen und Juden in dieser Geschichte erleben Bewahrung und Errettung. Es steht vollkommen außer Frage, dass diese Rettung auf Gott selbst zurückzuführen ist. Umso erstaunlicher ist jedoch, dass Gott in der Erzählung kein einziges Mal genannt wird. Wie ist dies zu erklären? Es gibt einen Hinweis in der Geschichte: den Anlass zu dem Hass des Haman gegen Mordechai. Im dritten Kapitel wird dieser Anlass geschildert. Ich lese diesen Textabschnitt: „Nach diesen Geschichten erhob der König Ahasveros den Haman, den Sohn Hammedatas, den Agagiter, und machte ihn groß und setzte seinen Stuhl über alle Fürsten, die bei ihm waren. Und alle Großen des Königs, die im Tor des Königs waren, beugten die Knie und fielen vor Haman nieder; denn der König hatte es so geboten. Aber Mordechai beugte die Knie nicht und fiel nicht nieder. Da sprachen die Großen des Königs, die im Tor des Königs waren, zu Mordechai: Warum übertrittst du des Königs Gebot? Und als sie das täglich zu ihm sagten und er nicht auf sie hörte, sagten sie es Haman, damit sie sähen, ob solch ein Tun Mordechais bestehen würde; denn er hatte ihnen gesagt, dass er ein Jude sei. Und als Haman sah, dass Mordechai nicht die Knie beugte noch vor ihm niederfiel, wurde er voll Grimm.“ Alle hatten Haman die höchste Ehrerbietung zu zollen; dies hatte der König selbst so angeordnet. Mordechai kam dieser Anordnung nicht nach und wurde daraufhin von anderen zunächst mehrfach aufgefordert, dies zu tun, und als dies nichts fruchtete, bei Haman denunziert. Es ist offensichtlich, warum Mordechai an dieser Stelle konsequent bleiben musste. Als Jude konnte er Haman nicht eine Ehre erweisen, die nach jüdischem Glauben Gott allein zusteht. Im Ersten Gebot wird unmissverständlich gefordert, keine anderen Götter neben Gott zu haben. Das beinhaltet, niemanden so zu ehren, als ob derjenige Gott selbst wäre. Und so blieb der Jude Mordechai seinem Glauben treu und ließ ihm in seinem Handeln konkret Gestalt annehmen, indem er vor Haman nicht

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die Knie beugte und nicht vor ihm niederfiel. Denn hätte er dies getan, dann hätte er Haman auf eine Weise geehrt, die nur Gott zusteht und damit gleichsam Haman an die Stelle Gottes gesetzt. Haman hat offensichtlich verstanden, wo die Ursache des Konfliktes lag. Dementsprechend richtete sich sein Hass wegen der verweigerten Ehrung nicht gegen Mordechai allein, sondern gegen alle Juden, wie in dem Vers zu lesen ist, der unmittelbar auf den soeben vorgelesenen Textabschnitt folgt. Dort heißt es: „Aber es war ihm zu wenig, dass er nur an Mordechai die Hand legen sollte, denn sie hatten ihm gesagt, von welchem Volk Mordechai sei; sondern er trachtete danach, das Volk Mordechais, alle Juden, die im ganzen Königreich des Ahasveros waren, zu vertilgen.“ Dies wirft sogleich die nächste Frage auf: Warum wird der Grund für Mordechais Verhalten in der Esther-Erzählung nicht eindeutig benannt? Warum wird nicht gesagt, dass es darum geht, Gott die Ehre zu erweisen? Somit ist die Ausgangsfrage auch weiterhin offen, die Frage, warum Gott in der Erzählung kein einziges Mal genannt wird. Ein Hinweis auf das Zweite Gebot kann hier weiterführen. Wenn es in diesem Gebot heißt, dass man den Namen Gottes nicht unnützlich führen darf, dann wird dies durchaus auch so verstanden, dass der Name Gottes nicht genannt werden darf, wenn dies nicht unverzichtbar ist. In der Esther-Geschichte war es nicht notwendig, Gott direkt mit Namen zu nennen; die jüdischen Adressatinnen und Adressaten verstanden auch so, dass es in dieser Geschichte darum geht, dass Gott sein Volk aus höchster Not errettet. Dabei findet sich ein Hinweis auf Gottes Wirken in der Erzählung. Im vierten Kapitel wird geschildert, dass Mordechai Esther auffordert, sich für die Juden bei dem König, ihrem Ehemann, einzusetzen. Als Esther zunächst reserviert reagiert, lässt er ihr ausrichten: „Denke nicht, dass du dein Leben errettest, weil du im Palast des Königs bist, du allein von

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allen Juden. Denn wenn du zu dieser Zeit schweigen wirst, so wird eine Hilfe und Errettung von einem andern Ort her den Juden erstehen, du aber und deines Vaters Haus, ihr werdet umkommen. Und wer weiß, ob du nicht gerade um dieser Zeit willen zur königlichen Würde gekommen bist?“ (Verse 13f.). Der andere Ort, von dem aus den Juden Errettung erstehen wird, kann durchaus als indirekter Hinweis auf Gott gedeutet werden, wird Gott in der rabbinischen Tradition doch oft als „Ort“ umschrieben. An dieser Stelle wird noch ein anderer Gedanke angedeutet: der, dass der Aufstieg Esthers zur Königin des persischen Reiches seinen Sinn hat, nämlich den, dass sie dadurch in die Lage versetzt worden ist, dank ihrer Position das drohende Unheil von ihrem jüdischen Volk abzuwenden. Trifft diese Interpretation die Aussage dieses Textabschnittes, dann haben wir auch hier einen – wieder indirekten – Hinweis auf eine Führung Gottes vor uns. Die Esther-Geschichte lässt sich somit lesen und verstehen als eine Ermutigung, Gott auch in bedrängenden und schwierigen Lebenssituationen die Ehre zu geben und darauf zu vertrauen, dass Er auch in solchen Situationen Bewahrung und Rettung gewährt. Diese Ermutigung richtet sich zunächst an Jüdinnen und Juden, die in der Diaspora leben. Aber eine solche Ermutigung können auch wir Christinnen und Christen uns sagen und zusagen lassen. Auch uns gilt die Zusage Gottes, dass wir in bedrängenden und schwierigen Lebenssituationen darauf vertrauen dürfen, dass Gott uns nicht allein lässt, sondern für uns da ist, wenn wir Ihn brauchen. Amen.

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Predigt über Qohälät 3, 1-15 Liebe Gemeinde, der heutige Sonntag ist ein besonderer Tag. Denn für diesen Gottesdienst ist in der Perikopenordnung als Predigttext ein Abschnitt aus dem Buch Qohälät, dem so genannten Prediger Salomo, vorgeschrieben. Das ist in der Tat bemerkenswert. Denn im Rahmen unserer Perikopenordnung ist Qohälät nur alle zwölf Jahre als Predigttext vorgesehen. Falls darüber hinaus ein Qohälät-Text einmal Grundlage einer Predigt ist, so handelt es sich zumeist um eine Beerdigungsansprache. Und als in der alljährlichen Bibelwoche vor zwei Jahren das Buch Qohälät ausgewählt wurde, wurde dies von vielen mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Qohälät führt im Leben unserer Kirche ein Schattendasein. Die oft zu vernehmende Aussage, dass die Bibel zu den am meisten gekauften, jedoch am wenigsten gelesenen Büchern gehört, scheint auf Qohälät somit in besonderer Weise zuzutreffen. Wie ist diese Randexistenz des Buches Qohälät zu erklären; worauf ist es zurückzuführen, dass es zu den unbekannteren Büchern der Bibel gehört? Nehmen wir den Inhalt dieses Buches in den Blick, so wird dies ein wenig verständlicher. Es enthält Aussagen, die man eher in Schriften hellenistischer Philosophen erwarten würde als in der Bibel. Der Titel des Buches, „Prediger“, ist irreführend. Qohälät predigt nicht, er philosophiert. Qohälät erweist sich dabei als Skeptiker. Seine Skepsis wurde im Verlauf der Rezeptionsgeschichte der Bibel ihrerseits mit großer Skepsis beäugt. Und oft genug wurde Qohälät unter Häresieverdacht gestellt. Als etwa Voltaire dieses Buch im Jahr 1759 ins Französische übersetzte, wurde es umgehend als Ketzerschrift verdammt und öffentlich in Paris verbrannt. Dass es sich bei diesem Buch um einen Text aus der Bibel handelte, war den geistlichen Herren offensichtlich entgangen. Somit ist es fast erstaunlich, dass überhaupt ein Text Qohäläts in unsere Perikopenordnung Eingang gefunden hat.

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Auch im Judentum war dieses Buch umstritten. Hillel hielt es für heilig, Schammai jedoch nicht. Erst das rabbinische Synhedrium traf um das Jahr 100 n.Chr. die endgültige Entscheidung, es in den biblischen Kanon aufzunehmen. Dass dieses Buch letztlich dann doch noch in den Kanon aufgenommen wurde, verdankt es der Tatsache, dass es auf König Salomo zurückgeführt wird. Anders als in unserer christlichen Tradition bekam es in der jüdischen Tradition allerdings seinen festen Ort. Denn es gehört zu den fünf Megillot und wird am Laubhüttenfest verlesen. Dass Qohälät aufgrund seiner skeptischen, teilweise pessimistisch anmutenden Einstellung zu den umstrittensten Büchern der Bibel gehört, hat dazu geführt, dass es im kirchlichen Leben kaum vorkommt und dementsprechend nicht sehr bekannt ist. Aber es gibt bei Qohälät einen Text, genauer gesagt: ein Gedicht, das zu den bekanntesten Texten der Bibel überhaupt gehört. Auch wer sich in der Bibel nicht sonderlich gut auskennt, hat dieses Gedicht sicher schon einmal gehört. Und dieses Gedicht ist der erste Teil des Predigttextes für den heutigen Sonntag. Ich lese es vor: Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde: geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit; pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; abbrechen hat seine Zeit, bauen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine sammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit;

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lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit. Qohälät 3, 1-8 Bevor ich den Predigttext weiter vorlese, nehme ich zunächst einmal dieses Gedicht näher in den Blick: Es hat etwas Entlastendes: Alles hat seine Zeit, für alles gibt es Zeit, wir brauchen uns also keine Sorgen zu machen, dass wir nicht genügend Zeit haben für das, was dran ist. Das Gedicht kann neben dieser Zusage auch noch eine andere Botschaft vermitteln: So ist das Leben eben, ’mal weint man, ’mal lacht man; ’mal gibt es Streit und ’mal verträgt man sich auch wieder. Es gehört eben beides zum Leben dazu. Aber genau diese Aussage ist es, die mir das Gedicht auch schwer macht. Hat der Hass genauso seinen Platz in unserem Leben wie die Liebe, das Töten genauso wie das Heilen? Ist gar beides durch dieses biblische Gedicht gleichermaßen legitimiert? Könnten sich also – um diese Frage einmal ganz konkret werden zu lassen - Regierungen auf diesen Text berufen, um Kriege zu legitimieren? Könnten sie darauf verweisen, dass ja bereits in der Bibel steht, dass es schließlich auch eine Zeit für den Krieg gibt? Nehmen wir das Gedicht noch einmal genau in den Blick: Weist es allem seinen Ort zu? Sagt es, dass alles seine Berechtigung hat? So wird sein Text ja oft verstanden. Aber lesen wir ihn unter dieser Fragestellung, dann merken wir schnell, dass es darum gar nicht geht. Es wird nicht gesagt, dass der Hass und das Töten genauso ihre Berechtigung haben wie die Liebe und das Heilen. Über die Legitimation wird nichts gesagt. Und somit kann sich auch niemand auf dieses Gedicht berufen, um einen Krieg zu rechtfertigen. Das Gedicht stellt lediglich fest: Es gibt beides im Leben. Es benennt die Tatsache, dass es beides gibt – das für uns Gute und das für uns Schlechte. Dies wird nüchtern, ja nahezu emotionslos konstatiert. Auch wenn wir uns unsere Welt anders wünschen

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und von einer Welt träumen, die frei ist von Hass, Töten und all den anderen negativen Aspekten, die das Gedicht zur Sprache bringt – wir werden ihm nicht widersprechen können. So ist die Welt. Es gibt Hass, es wird getötet, gestorben etc. Aber es gibt auch die schönen, die zutiefst beglückenden Seiten des Lebens, und die benennt das Gedicht ebenso klar: Es gibt Zeit, geboren zu werden, zu pflanzen, zu bauen, zu lachen, zu tanzen, sich zu umarmen und zu lieben. Es gibt Zeit für den Frieden – den Frieden in Familien und den zwischen Völkern. Beides wird in unserem Gedicht gesehen und beides wird zur Sprache gebracht. Werfen wir einen Blick auf die Welt, in der das Gedicht entstanden ist. Denn das kann uns helfen, es besser zu verstehen. Die Welt war zur Zeit Qohäläts sicher nicht besser oder schlechter als unsere Welt heute. Auch damals hat es Liebe und Hass, Krieg und Frieden und all das gegeben, was in unserem Gedicht beschrieben wird. Aber die Menschen werden ihre Welt dennoch anders erlebt und empfunden haben als wir die unsere. In der Wahrnehmung der Welt zur Zeit Qohäläts gab es nicht das Gefühl, dass fast alles zu fast jeder Zeit möglich ist. Die Zeit war vorgegeben – und zwar für alles im Leben, auch für das, was wir heutzutage zu planen gewohnt sind. Dies möchte ich anhand von einigen Beispielen entfalten: So war der Zeitpunkt der Geburt nach antikem Verständnis nichts, was die werdende Mutter planen oder gar bestimmen konnte. Ganz im Gegenteil: Der Beginn der Wehen ist im Alten Testament oft Sinnbild für Plötzlichkeit und Unabwendbarkeit. Auch die Zeit sexueller Liebe war durch die Festlegung, wann eine Frau als rein und wann als unrein galt, genau vorgegeben. Selbst der Zeitpunkt des Krieges war vorgegeben. Denn den größten Erfolg hatte ein Feldzug, wenn er in der Zeit vor der ersten Ernte im Frühjahr durchgeführt wurde. In dieser Zeit konnten Städte durch eine Belagerung leicht ausgehungert werden, weil sich die eingelagerten Vorräte ihrem Ende zuneigten, während sich die Soldaten des belagernden Heeres mit dem Getreide der umliegenden Felder versorgen konnten. Die Wahrnehmung der Welt war zur Zeit Qohäläts maßgeblich davon bestimmt, dass die Zeit als unverfügbar galt.

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In unserem Gedicht findet diese Wahrnehmung ihren Ausdruck: „Alles hat seine Stunde, und ein jegliches Ding unter dem Himmel seine Zeit.“ Stunde und Zeit sind nicht vom Menschen festzulegen, sondern von ihm als festgelegt zu akzeptieren. Das Thema des Gedichtes ist also die Unverfügbarkeit der jeweiligen Zeit für den Menschen und somit ein anderes Thema als das, worauf das Gedicht uns heutige Hörerinnen und Hörer bzw. Leserinnen und Leser verweist. Um die Grenzen, die uns Menschen gesteckt sind und die wir zu akzeptieren haben, geht es auch im zweiten Teil unseres Predigttextes. Ich lese ihn vor: Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn davon. Ich sah die Arbeit, die Gott den Menschen gegeben hat, dass sie sich damit plagen. Er hat alles schön gemacht zu seiner Zeit, auch hat er die Ewigkeit in ihr Herz gelegt; nur dass der Mensch nicht ergründen kann das Werk, das Gott tut, weder Anfang noch Ende. Da merkte ich, dass es nichts Besseres dabei gibt als fröhlich sein und Gutes tun in seinem Leben. Denn ein Mensch, der da isst und trinkt und hat guten Mut bei all seinem Mühen, das ist eine Gabe Gottes. Ich merkte, dass alles, was Gott tut, das besteht für ewig; man kann nichts dazutun noch wegtun. Das alles tut Gott, dass man sich vor ihm fürchten soll. Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist. Qohälät 3, 9-15 Wir Menschen können das Werk, das Gott tut, nicht ergründen, weder seinen Anfang noch sein Ende. Wir können lediglich die Grenzen unserer Erkenntnis wahrnehmen und sie akzeptieren. Dies sieht Qohälät glasklar und er benennt es ebenso unmissverständlich. Aber er tut dies keineswegs resignativ. Denn er sieht ebenso deutlich, dass wir Men-

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schen innerhalb der uns gesteckten Grenzen fröhlich sein und Gutes bewirken können. Mit dem Erkennen und Anerkennen unserer Grenzen tun wir uns in unserer heutigen Zeit oft schwer. Eigene Grenzen zu akzeptieren ist ganz offensichtlich nicht das, was in unserer heutigen Gesellschaft allzu hoch im Kurs steht. Einer der bekanntesten und somit erfolgreichsten Werbeslogans unserer Zeit lautet: „Nichts ist unmöglich.“ Demgegenüber wirkt die Erkenntnis Qohäläts sperrig und unbequem – auch in unserer Kirche. Die Versuchung zu betonen, dass Qohälät ja nur am äußersten Rande der biblischen Botschaft stehe, und ihn somit wieder in die Nähe von Häretikern zu rücken, ist auch heutzutage durchaus gegeben. Damit teilt Qohälät das Schicksal so manches später Geborenen, der ebenfalls verketzert wurde, weil er sperrige und unbequeme Auffassungen vertrat. Der Pietist Gottfried Arnold entfaltete in seinem in den Jahren 1699/ 1700 erschienenen vierteiligen Werk „Unparteiische Kirchen- und Ketzer-Historie von Anfang des Neuen Testaments bis auf das Jahr Jesu Christi 1688“ die These, dass die Kirchengeschichte nicht aus der Perspektive der großen Kirchen zu betrachten und zu verstehen sei, sondern vielmehr aus der Perspektive derjenigen, die von der jeweils herrschenden Mehrheit als Ketzer ausgegrenzt und dementsprechend auch verfolgt wurden. Diese radikal anmutende These hat viel für sich; eröffnet sie doch neue Perspektiven. Nehmen wir eine solch neue Perspektive hinsichtlich der Aussage ein, die Qohälät uns in unserem heutigen Predigttext mit auf den Weg gibt, so können wir erkennen, dass diese Aussage durchaus dem entspricht, was für uns Christinnen und Christen relevant ist. Ist im Kanzelsegen von dem „Frieden Gottes, welcher höher ist als alle menschliche Vernunft“ die Rede, so entspricht dies genau dem, was Qohälät als Grenzen menschlicher Erkenntnis sieht und zur Sprache bringt. Dies nur negativ als Einschränkung zu verstehen, würde zu kurz greifen. Denn es hat auch etwas zutiefst Entlastendes: Wir Menschen können das Werk, das Gott tut, nicht ergründen, aber wir müssen es auch nicht. Versuche, Gott

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gleich zu werden, führen nicht dazu, dass Menschen glücklicher werden. Die Erzählung vom Turmbau zu Babel im ersten Buch der Bibel gibt davon ein beredtes Zeugnis. Der Text zeigt uns den Rahmen auf, den Gott uns gibt. Innerhalb dieses Rahmens dürfen wir unser von Gott geschenktes Leben genießen, fröhlich sein und Gutes tun. Dass es hierbei keineswegs um ein oberflächliches Genießen geht, das die Nächste bzw. den Nächsten aus dem Blick verliert, kommt bei Qohälät klar zum Ausdruck. Denn in unserem Predigttext wird das Fröhlichsein mit dem Tun des Guten verknüpft. Es geht also keineswegs um ein gedankenloses In-den-Tag-hinein-leben. Indem der uns von Gott gegebene Rahmen benannt wird, knüpft dieser Teil unseres Predigttextes unmittelbar an das Gedicht an, das ihm vorausgeht. Denn dieses Gedicht betont die Unverfügbarkeit der Zeit und erinnert uns somit daran, dass unsere Zeit – um es mit Worten des 31. Psalms zu sagen - in Gottes Händen steht und nicht in unseren eigenen. Uns ist die Zusage gegeben, dass Gott unsere Zeit in seinen Händen hält. Die Welt, in der wir leben, hat positive und negative, lebensbejahende und lebensbedrohende Seiten. Aber in eben dieser Welt überlässt Gott uns nicht unserem Schicksal, sondern ist bei uns. Er ist für uns da. Er begleitet uns auf unseren Wegen in dieser Welt und durch diese Welt, die zutiefst davon geprägt ist, dass es eben beides gibt: das Lebensbejahende und das Lebensbedrohende. Wir dürfen uns darauf verlassen: In dieser unserer Welt ist Gott für uns da. Denn unsere Zeit steht in seinen Händen. Amen.

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Predigt über Ezechiel 34, 1-16.31 Liebe Gemeinde, das Bild des Hirten spricht für sich. Es ist ein archetypisches Bild, das für Geborgenheit steht. Das Bild des Hirten begegnet in Märchen, Mythen und Träumen. Der Hirte ist ein Beschützer, jemand, dem man sich vorbehaltlos anvertrauen kann. Er steht für Geborgenheit. Dass uns in unserem alltäglichen Leben kaum noch Hirten begegnen, tut dem keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Es erleichtert es uns, das Bild des Hirten als Projektionsfläche für Wünsche zu nutzen, die nur vordergründig betrachtet nicht mehr in unsere Zeit zu passen scheinen. Denn auch wenn sich heute niemand mehr in dem Bild eines Schafes wieder finden möchte, das von einem Hirten geweidet wird, und stattdessen die Individualität und Autonomie des Menschen betont wird – den Wunsch nach Geborgenheit gibt es nach wie vor. Der Psalm 23, mit dessen Worten wir eben gemeinsam gebetet haben, tröstet nach wie vor, im Leben wie auch im Sterben. Gott sei es gedankt! Das Bild des Hirten lebt, weil in ihm Sehnsüchte ihren Ausdruck finden, die einfach zu unserem Menschsein dazugehören, weil sie unseren elementaren körperlichen und seelischen Bedürfnissen entsprechen. Zum Bild des Hirten gehört, dass ihm unbegrenztes Vertrauen entgegengebracht wird. Was aber ist, wenn dieses Vertrauen enttäuscht wird? Wenn das geschieht, ist es wirklich schlimm, weil dadurch das Urvertrauen erschüttert wird. Wer so etwas erlebt, kann die Fähigkeit verlieren, ein solches für uns so wichtiges Vertrauen wieder zu entwickeln. Dann kann an die Stelle von zwischenmenschlicher Beziehungsfähigkeit Zynismus treten. Dass das Vertrauen, das sich mit dem Bild des Hirten verbindet, derart enttäuscht wird, gilt es also auf jeden Fall zu verhindern. Nehmen wir jedoch unsere Welt in den Blick, dann werden wir unsere Augen nicht vor der Tatsache verschließen können, dass eben dies immer wieder geschieht.

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Nehmen wir den Bereich der Politik in den Blick: Da ist es schon lange keine Schlagzeile mehr wert, wenn gewählte Volksvertreterinnen und – vertreter sich von Mächtigen aus der Wirtschaft kaufen lassen. Und selbst in der Kirche sieht es nicht durchgängig besser aus: Wenn kirchliche Amtsträger junge Menschen, die ihnen anvertraut sind und die ihnen vertrauen, sexuell missbrauchen – wie dies in der jüngsten Vergangenheit geschehen ist -, dann sind die Folgen für das Vertrauen für die Betroffenen verheerend und damit letztlich auch für die Kirche als Leib Christi. Wie ist mit solchen Missbräuchen des Hirtenamtes umzugehen? Der Predigttext des heutigen Sonntags Miserikordias Domini gibt auf diese Frage eine Antwort, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt. Dieser Text steht im Buch des Propheten Ezechiel im 34. Kapitel und lautet: Des HERRN Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, weissage gegen die Hirten Israels, weissage und sprich zu ihnen: So spricht Gott der HERR: Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden! Sollen die Hirten nicht die Herde weiden? Aber ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück und das Verlorene sucht ihr nicht; das Starke aber tretet ihr nieder mit Gewalt. Und meine Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind allen wilden Tieren zum Fraß geworden und zerstreut. Sie irren umher auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln und sind über das ganze Land zerstreut und niemand ist da, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet. Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort! So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weide-

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ten, aber meine Schafe nicht weideten, darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort! So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden. Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen. Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist. Ja, ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR. Ezechiel 34, 1-16.31 Ezechiel war priesterlicher Abstammung. Er wurde im Jahr 597 mit der judäischen Oberschicht deportiert und erfuhr vier Jahre später, im Jahr 593, seine Berufung zum Propheten. Als solcher ist er geprägt von der Erfahrung des Wortes Gottes. Charakteristisch für sein Prophetenbuch ist, dass nicht weniger als 48 Redeabschnitte mit der einleitenden Formel beginnen: „Des HERRN Wort geschah zu mir“, so auch bei unserem heutigen Predigttext. Gott nimmt seinen Propheten in den Dienst, damit

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dieser sagt, was zu sagen ist, direkt und ohne Umschweife. Und das geschieht in unserem Text. Da wird nicht politisch korrekt dezent um den heißen Brei gleichsam herumgeredet, sondern die bestehenden Missstände werden in aller gebotenen Deutlichkeit zur Sprache gebracht. Aufgrund dieser Missstände steht am Anfang der drohende Ausruf „Wehe den Hirten Israels, die sich selbst weiden!“ Durch die unmittelbar darauf folgende rhetorische Frage „Sollen die Hirten nicht die Herde weiden?“ wird demgegenüber die Aufgabe der Hirten benannt, die sie eigentlich hätten erfüllen sollen: die Herde zu weiden. Und dann wird den Hirten, die so vollkommen versagt haben, vorgeworfen, was sie im Einzelnen getan haben: Sie haben das Fett gegessen und sich mit der Wolle gekleidet und das Gemästete geschlachtet, aber das, was ihre Aufgabe gewesen wäre – die Schafe zu weiden – wollten sie nicht tun. Sie haben das Schwache nicht gestärkt und das Kranke nicht geheilt, das Verwundete nicht verbunden, das Verirrte nicht zurückgeholt und das Verlorene nicht gesucht. Stattdessen haben sie ihr Hirtenamt auf das Schändlichste missbraucht, indem sie das Starke mit Gewalt niedertreten. Dieser Missbrauch hat Folgen und die werden auch in aller Klarheit zur Sprache gebracht: Die Schafe sind zerstreut, weil sie keinen Hirten haben, und sind deshalb von wilden Tieren gefressen oder zerstreut, so dass sie auf allen Bergen und auf allen hohen Hügeln umherirren und über das ganze Land zerstreut sind und niemand da ist, der nach ihnen fragt oder auf sie achtet. Angesichts dieses Missbrauchs ihres Hirtenamtes werden den Hirten jetzt die Konsequenzen angekündigt: „Darum hört, ihr Hirten, des HERRN Wort! So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Weil meine Schafe zum Raub geworden sind und meine Herde zum Fraß für alle wilden Tiere, weil sie keinen Hirten hatten und meine Hirten nach meiner Herde nicht fragten, sondern die Hirten sich selbst weideten, aber meine Schafe nicht weideten, darum, ihr Hirten, hört des HERRN Wort!“ Und dann wird das Urteil gesprochen: Die Hirten werden ihres Amtes enthoben, weil sie sich dieses Amtes als nicht würdig erwiesen haben: „So spricht Gott der HERR: Siehe, ich will an

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die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, dass sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden.“ Aber was geschieht nun mit den Opfern dieses Amtsmissbrauchs? Bleiben die sich selbst überlassen, weil die Schuldigen ja benannt und bestraft worden sind – so wie es in unserer Gesellschaft oft der Fall ist, so dass der ‚Weiße Ring’ sich der Aufgabe gewidmet hat, Opfer von Kriminalität zu betreuen und ihnen zur Seite zu stehen? Nein, hier ist es anders. Hier wird den Opfern Hilfe und Unterstützung zugesagt, und zwar von Gott selbst. Nachdem die menschlichen Hirten so völlig versagt haben, wird Er selbst deren Aufgabe übernehmen und so sicherstellen, dass die Opfer das bekommen, was sie benötigen: „Ich will meine Schafe erretten aus ihrem Rachen, dass sie sie nicht mehr fressen sollen.“ Und wie dies konkret Gestalt annehmen wird, wird im folgenden Text entfaltet. Da heißt es: „Denn so spricht Gott der HERR: Siehe, ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen. Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war. Ich will sie aus allen Völkern herausführen und aus allen Ländern sammeln und will sie in ihr Land bringen und will sie weiden auf den Bergen Israels, in den Tälern und an allen Plätzen des Landes. Ich will sie auf die beste Weide führen, und auf den hohen Bergen in Israel sollen ihre Auen sein; da werden sie auf guten Auen lagern und fette Weide haben auf den Bergen Israels. Ich selbst will meine Schafe weiden, und ich will sie lagern lassen, spricht Gott der HERR. Ich will das Verlorene wieder suchen und das Verirrte zurückbringen und das Verwundete verbinden und das Schwache stärken und, was fett und stark ist, behüten; ich will sie weiden, wie es recht ist.“ Es ist wirklich Heil im umfassenden Sinn des Wortes, das Gott den Opfern der falschen Hirten hier verheißt. Und so fasst Er Seine Heilsverheißung abschließend zusammen, indem Er zusagt: „Ja, ihr sollt

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meine Herde sein, die Herde meiner Weide, und ich will euer Gott sein, spricht Gott der HERR.“ Diese Zusage ist Evangelium pur. Gott selbst verheißt, für die Opfer des Missbrauchs einzustehen, indem Er selbst das Hirtenamt übernehmen wird. Darauf konnten sich die verlassen, denen zur Zeit des Propheten Ezechiel in diesem Text das Heil verheißen wurde, und darauf dürfen auch wir uns heute verlassen. Das können wir voller Dankbarkeit dem Predigttext des heutigen Sonntags entnehmen. Aber das ist nicht alles. Denn bei dem Gerichtsurteil, das hier über die falschen Hirten gesprochen wird, sind wir nicht in der Rolle der unbeteiligten Zuschauer im Gerichtssaal, die zur Kenntnis nehmen, was für ein Urteil über andere gesprochen wird, über Angeklagte, mit denen sie nichts zu tun haben. Denn das, was hier gesagt wird, betrifft auch uns, weil wir in der Kirche und in der Gesellschaft füreinander da zu sein haben - um es mit den Worten der Bibel zu sagen: Wir haben füreinander an je unserem Ort das Hirtenamt wahrzunehmen. Und so können wir dem heutigen Predigttext auch die Aufforderung entnehmen, dieses Hirtenamt ernst zu nehmen und es nicht zu missbrauchen. Missbrauchen wir dieses Amt, das uns übertragen ist, so haben auch wir dafür zu verantworten – ebenso wie die falschen Hirten, über die im Predigttext für den heutigen Sonntag das Urteil gesprochen wird. Natürlich können wir nicht Hirte sein, wie Gott es ist. Das können wir nicht und dass sollen wir auch gar nicht. Aber wenn wir darauf vertrauen, dass Gott unser Hirte ist, können wir als von Gott Behütete unsererseits unsere Nächsten behüten. Wir können unser jeweiliges Hirtenamt ausüben, wenn wir voller Vertrauen auf Gott in die Worte des 23. Psalms einstimmen und sagen: „Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln.“ Amen.

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Nachweis der Erstveröffentlichungen Die Bedeutung des Alten Testaments für die christliche Gemeinde In: Pastoralblätter 127, 1987, S. 596-598  – Anmerkungen zum Ort des Menschen bei Qohälät In: M. Albani; T. Arndt (Hgg.), Gottes Ehre erzählen. Festschrift für Hans Seidel zum 65. Geburtstag, Leipzig: Thomas-Verlag 1994, S. 221223 Metamorphosen eines Dämons. Ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte von Ex 4, 24-26 In: D.-A. Koch; H. Lichtenberger (Hgg.), Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter. Festschrift für Heinz Schreckenberg (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum, Bd. 1), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993, S. 123-132 Die Darstellung Noahs im Qur’an und ihr traditionsgeschichtlicher Kontext In: H.-Chr. Goßmann (Hg.), Begegnungen zwischen Christentum und Islam. Festschrift für Hans-Jürgen Brandt zum 65. Geburtstag (Perspektiven der Weltmission, Bd. 20), Ammersbek bei Hamburg: Verlag an der Lottbek 1994, S. 35-40 Der Beitrag alttestamentlicher Wissenschaft zur Konturierung eines biblisch-fundierten Missionsverständnisses Bisher unveröffentlicht

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Fordert, fördert oder behindert das Alte Testament den Dialog mit dem Islam? In: Christliche Identität in der Begegnung mit dem Islam. II. Konsultation zum interreligiösen Dialog. Vorträge und Diskussionsprotokolle einer Tagung der Evangelischen Akademie Nordelbien vom 13.-14. Februar 1995 in Bad Segeberg. In Zusammenarbeit mit dem Ökumeneausschuß der Kirchenleitung und dem Ausschuß der Kirchenleitung für Weltanschauungsfragen, hg. v. der Evangelischen Akademie Nordelbien, Bad Segeberg 1995, S. 24-31 Der Hebräischunterricht – eine Einführung in das Alte Testament? Zur Stellung des Hebräischunterrichtes innerhalb des Theologiestudiums In: H.-Chr. Goßmann; W. Schneider (Hgg.), Alles Qatal – oder was? Beiträge zur Didaktik des Hebräischunterrichts, Münster/New York: Waxmann 1994, S. 5-8 Theologische Dimensionen des Hebräischunterrichts In: Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hgg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag (Jerusalemer Texte. Schriften aus der Arbeit der JerusalemAkademie, Bd. 2), Nordhausen: Verlag Traugott Bautz 2010, S. 195-203 ‚Die Sündflut’. Die biblische Erzählung von Noah und das Drama von Ernst Barlach In: Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hgg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts (Jerusalemer Texte. Schriften aus der Arbeit der JerusalemAkademie, Bd. 6), Nordhausen: Verlag Traugott Bautz 2011, S. 33-68 ‚Rahel rechtet mit Gott’. Eine Legende von Stefan Zweig Bisher unveröffentlicht

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Biblische Betrachtungen zum brennenden Dornbusch In: Jerusalem-Brief 3/2011, S. 2-7 Gedanken zu Psalm 139 – aus der Sicht eines Pastors Bisher unveröffentlicht Predigt über Genesis 3, 1-19 Bisher unveröffentlicht Predigt über Genesis 13, 1-12 In: Jerusalem-Brief 2/2011, S. 2-5 Predigt über Exodus 16, 2-18 In: Jerusalem-Brief 4/2009, S. 2-5 Predigt über das Buch Esther In: Jerusalem-Brief 3/2009. S. 2-6 Predigt über Qohälät 3, 1-15 In: Jerusalem-Brief 1/2009, S. 6-9 Predigt über Ezechiel 34, 1-16.31 Bisher unveröffentlicht

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Der Autor Dr. Hans-Christoph Goßmann, geboren 1959 in Husum, ist Pastor, Pastoralpsychologe und Gestalttherapeut. Er studierte evangelische Theologie, Erziehungswissenschaft, Judaistik und Semitistik mit dem Schwerpunkt Hebraistik in München, Kiel, Jerusalem, Münster und Tunis und war von 1992 bis 2005 Beauftragter der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche für den christlich-islamischen Dialog und Lehrbeauftragter am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg (Missions-, Ökumene- und Religionswissenschaft). In den Jahren von 2006 bis 2008 war er Pastor der St. Martins-Kirchengemeinde zu Tellingstedt und Beauftragter der Kirchenkreise Dithmarschens für den christlich-islamischen Dialog. Seitdem ist er Pastor der Jerusalem-Kirche zu Hamburg und seit 2009 Direktor der JerusalemAkademie. Seit 2011 ist er zudem Lehrbeauftragter an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie in Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zur hebräischen Sprache und ihrer Didaktik sowie zum christlich-jüdischen und zum christlich-islamischen Dialog.

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Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann Band 1:

Peter Maser, Facetten des Judentums. Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, 2009, 667 S.

Band 2:

Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zum 65. Geburtstag, 2010, 233 S.

Band 3:

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Reformatio viva. Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag, 2010, 300 S.

Band 4:

Ephraim Meir, Identity Dialogically Constructed, 2011, 157 S.

Band 5:

Wilhelm Kaltenstadler, Antijudaismus, Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus – wie steht es um die Toleranz der Religionen und Kulturen?, 2011, 109 S.

Band 6:

Hans-Christoph Goßmann; Joachim Liß-Walther (Hrsg.), Gestalten und Geschichten der Hebräischen Bibel in der Literatur des 20. Jahrhunderts, 2011, 294 S.

Band 7:

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Geschichte des Christentums, 2011, 123 S.

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Band 8:

Jonathan Magonet, Schabbat Schalom. Jüdische Theologie – in Predigten entfaltet, 2011, 185 S.

Band 9:

Clemens Groth; Sophie Höffer; Laura Sophie Plath (Hrsg.), „... das habe ich nie vergessen, bis heute ...“. Jugendliche befragen Menschen, die die Zeit des Nationalsozialismus erlebt haben, 2011, 200 S.

Band 10:

Hans-Christoph Goßmann, Altes Testament und christliche Gemeinde. Christliche Zugänge zum ersten Testament der Bibel, 2012, 198 S.

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