Chor und tragische Handlung im "Agamemnon" des Aischylos 3519074842, 9783519074847

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Chor und tragische Handlung im "Agamemnon" des Aischylos
 3519074842, 9783519074847

Table of contents :
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Parodos des ‚Agamemnon‘
2.1. Text und Übersetzung der Parodos (40–257)
2.2. Bemerkungen zur Fragestellung
2.3. Agamemnon und Zeus in der Parodos: die Eingangsanapäste des Chors
2.4. Zeus und Artemis in der Parodos: das Adlerzeichen
2.5. Der Zeus-Hymnus in der Parodos des ‚Agamemnon‘
2.6. Agamemnons Entscheidung und Iphigenies Opferung
3. Das erste Stasimon
4. Das zweite Stasimon
Exkurs: Positionsbildende Liquiden im Auslaut bei Aischylos?
5. Agamemnon in Argos: das dritte Epeisodion
6. Agamemnon – Charakter und tragische Handlung
7. Das dritte Stasimon
8. Die Kassandra-Szene im ‚Agamemnon‘ – die Ermordung Agamemnons und Kassandras
8.1. Einleitung und Amoibaion
8.2. Der gesprochene Teil der Kassandra-Szene
9. Das „vierte Stasimon“ – die Anapäste 1331–1342
10. Agamemnons Tod – die Unschlüssigkeit des Chors
11. Schuld und Mordmotive in den Szenen nach Agamemnons Tod – die Gründe für den Tod Agamemnons
11.1. Die Auseinandersetzung des Chors mit Klytaimestra
11.2. Die Auseinandersetzung des Chors mit Aigisth
12. Zusammenfassung
12.1. Agamemnon – Charakter und Schicksal
12.2. Der Chor als dramatische Person
Anhänge
Index der besprochenen Stellen
Abweichungen im Text des ‚Agamemnon‘

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Rainer Thiel Chor und tragische Handlung im .Agamemnon' des Aischylos

Beiträge zur Altertumskunde Herausgegeben von Ernst Heitsch, Ludwig Koenen, Reinhold Merkelbach, Clemens Zintzen Band 35

m Β. G. Teubner Stuttgart

Chor und tragische Handlung im »Agamemnon' des Aischylos

Von Rainer Thiel

m Β. G. Teubner Stuttgart 1993

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Thiel, Rainer: Chor und tragische Handlung im .Agamemnon' des Aischylos / von Rainer Thiel. - Stuttgart: Teubner, 1993 (Beiträge zur Altertumskunde; Bd. 35) Zugl.: Mainz, Univ., Diss., 1991 ISBN 3-519-07484-2 NE: GT Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt besonders fur Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. © B. G. Teubner Stuttgart 1993 Printed in Germany Druck und Bindung: Röck, Weinsberg

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 15, Philologie III der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1991 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Sie wurde für den Druck Uberarbeitet. An erster Stelle danke ich meinem Lehrer, Herrn Professor Dr. Arbogast Schmitt. Er hat die Arbeit angeregt und während der Jahre ihrer Entstehung in jeder nur erdenklichen Weise durch seinen Rat, durch stetige Ermutigung und Belehrung, schließlich auch durch tätige Hilfe weit mehr gefördert, als ich erwarten durfte. Seine folgenreichen Thesen zum Verhältnis zwischen antik-mittelalterlichem und neuzeitlichem Selbstverständnis und zu den Folgen, die sich daraus für die Deutung der antiken Literatur, besonders auch der Tragödie ergeben, durfte ich seit dem Beginn meines Studiums in seinen Lehrveranstaltungen und darüber hinaus in vielen, stets bereitwillig gewährten Gesprächen kennenlernen. Diese Thesen liegen den folgenden Ausführungen in weit höherem Maße zugrunde, als ich im einzelnen dokumentieren konnte; diesem Mangel habe ich in meinem Kapitel 6. »Agamemnon - Charakter und tragische Handlung« wenigstens zum Teil abzuhelfen gesucht. - Mein besonderer Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Andreas Spira, der bereitwillig das Korreferat übernommen und mich durch zahllose Hinweise und Anregungen vor einer Reihe von Versehen bewahrt und zum genaueren Durchdenken vieler Fragen hingeführt hat. Besonders die stetige Hilfe und Begleitung, die er mir während der Überarbeitung dieser Arbeit zum Druck hat angedeihen lassen, waren mir von unschätzbarem Wert. Ferner danke ich für manche Anregung und immer wohlwollende und förderliche Kritik Herrn Professor Dr. Jürgen Blänsdorf und Herrn Professor Dr. Walter Nicolai. Herrn Professor Dr. Heitsch und den anderen Herausgebern danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die „Beiträge zur Alter-

tumskunde". Ferner bin ich der Studienstiftung des deutschen Volkes für ihre langjährige Förderung zu Dank verpflichtet. Für die Mitwirkung an den Korrekturen danke ich Herrn Priv.Doz. Dr. Wolfgang Bernard und Herrn Thomas Kaiser. Außerdem danke ich Frau Andrea Kasprzycki, die beträchtliche Teile der Arbeit auf dem Computer geschrieben hat. Marburg, im Dezember 1992

Rainer Thiel

Inhaltsverzeichnis Literaturverzeichnis XI 1. Einleitung 1 2. Die Parodos des .Agamemnon' 11 2.1. Text und Übersetzung der Parodos (40-257) 11 2.2. Bemerkungen zur Fragestellung 30 2.3. Agamemnon und Zeus in der Parodos: die Eingangsanapäste des Chors 33 2.4. Zeus und Artemis in der Parodos: das Adlerzeichen ; 46 2.5. Der Zeus-Hymnus in der Parodos des Agamemnon' ... 87 2.6. Agamemnons Entscheidung und Iphigenies Opferung 111 3. Das erste Stasimon 145 4. Das zweite Stasimon 165 Exkurs: Positionsbildende Liquiden im Auslaut bei Aischylos? 181 5. Agamemnon in Argos: das dritte Epeisodion 199 6. Agamemnon - Charakter und tragische Handlung 247 7. Das dritte Stasimon 263 8. Die Kassandra-Szene im Agamemnon' die Ermordung Agamemnons und Kassandras 289 8.1. Einleitung und Amoibaion 289 8.2. Der gesprochene Teil der Kassandra-Szene 319 9. Das „vierte Stasimon" - die Anapäste 1331-1342 349 10. Agamemnons Tod - die Unschlüssigkeit des Chors 359 11. Schuld und Mordmotive in den Szenen nach Agamemnons Tod - die Gründe für den Tod Agamemnons 363 11.1. Die Auseinandersetzung des Chors mit Klytaimestra 363 11.2. Die Auseinandersetzung des Chors mit Aigisth 412 12. Zusammenfassung 421 12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal 421

12.2. Der Chor als dramatische Person Anhänge Index der besprochenen Stellen Abweichungen im Text des .Agamemnon*

441 457 459 463

Literaturverzeichnis Aufgenommen sind - von den unter [2.] und [3.] aufgeführten abgesehen - nur die in der Arbeit zitierten Titel und die benutzten Textausgaben. 1. Allgemeine Standardwerke und Hilfsmittel CHANTRAINE, P.:

DENNISTON

GENTILI (1952)

Index Aeschyleus, composuit G. Italie, 2 curavit S. L. Radt, Leiden 1964 KORZENIEWSKY D. Korzeniewsky: Griechische Metrik, Darmstadt 1968 KÜHNER-GERTH R. Kühner; Β. Gerth: Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, zweiter Teil: Satzlehre, HannoverLeipzig 31898-1904 (Ndr. Darmstadt 1966) LSJ J. D. Liddell; R. Scott; H. S. Jones: A Greek-English lexicon. With a supplement, Oxford 91940 (Suppl.: 1968) Thesaurus Graecae Linguae ab H. Stephano constructus, ed. Β. Hase et all. o. O. 3o. J. (Ndr. Graz 1954) ITALIE,

Index

Grammaire Homérique, I. II., Paris 2 1948. 11953 J. D. Denniston: The Greek particles, 2 rev. by Κ. J. Dover, Oxford 1952 1 ( 1934) B. Gentili: La metrica dei greci, Messina-Firenze 1952

XII WILAMOWITZ

Literaturverzeichnis

(1921)

U. v. Wilamowitz-Moellendorff: Griechische Verskunst, Berlin 1921 (Ndr. Darmstadt 1984)

2. Textgeschichte und Textherstellung (Aischylos) DAWE, R. D.: Repertory of conjectures 11965

on Aeschylus, Leiden

— : The collation and investigation of the manuscripts of Aeschylus, Cambridge 1964 3. Bibliographie Wartelle, Α.: Bibliographie historique et critique d'Eschyle et de la tragédie grecque 1518-1974, Paris 1978 4. Aischylos: Textausgaben, Kommentare, Ubersetzungen, Scholien Schneidewin

Aeschylos, Agamemnon, erkl. v. F. W. Schneidewin, Berlin 11856. 2(bes. v. Otto Hense) 1883

WILAMOWITZ

Aeschyü tragoediae, ed. U. de Wilamowitz-Moellendorff, Berlin 1914

GROENEBOOM

Aeschylus' Agamemnon, m. ini., crit. noten en comm. uitg. door 1/ P. Groeneboom, Groningen 1944

MAZON

Eschyle, I: Les Suppliantes - Les Perses - Les Sept contre Thèbes - Prométhée Enchaîné; II: Agamemnon Les Choéphores - Les Eumenides, texte établi et trad, par P. Mazon, Paris 5,41949

Literaturverzeichnis

FRAENKEL

DENNISTON-PAGE

ROSE

THOMSON

LLOYD-JONES

PAGE

Μ σχ , Tr°x, Schol. u. ä.

XIII Aeschylus, Agamemnon, ed. with a comm. by Ed. Fraenkel, Oxford 1950 (korr. Ndr. 1962 u. Ö.) Aeschylus, Agamemnon, ed. by the late J. D. Denniston and D. Page, Oxford 1957 A commentary on the surviving plays of Aeschylus, by H. J. Rose (Verhandlingen der Koninklijke Nederlandse Akademie van Wetenschappen, afd. Letterkunde, η. r. 64/1-2), Amsterdam 1957/58 The Oresteia of Aeschylus, ed. with an introd. and comm., in which is included the work of the late W. Headlam, by G. Thomson, AmsterdamPrague 21966 Agamemnon, by Aeschylus, a translation with commentary by H. LloydJones, with a series introduction by E. A. Havelock (Prentice-Hall Greek drama series), London u. a. 11970 Aeschyli septem quae supersunt tragoedias ed. D. Page, Oxford 1972 Scholia Graeca in Aeschylum quae exstant omnia, I: Scholia in Agamemnonem Choephoros Eumenides Supplices, ed. O.L. Smith, Leipzig 1976

BOLLACK-JUDET DE LA COMBE I. II. J. Bollack; P. Judet de La Combe: L'Agamemnon d'Eschyle. Le texte et ses interprétations (Cahiers de Philologie, pubi, par le Centre de Recherche Philologique de l'Univ. de Lille III.), Lille: Agamemnon 1 (Ca-

XIV

WEST

[Aeschylus, frgg.]

Literaturverzeichnis

hiers 6.7.), 1981; Agamemnon 2 (Cahier 8.), 1982 Aeschyli tragoediae cum incerti poetae Prometheo, ed. M. L. West, Stuttgart 1990 TrGF 3

5. Textausgaben anderer antiker Autoren Antiphon

Orationes et fragmenta, post F. Blass ed. Th. Thalheim, Leipzig 1914

[Archilochus]

Iambi et elegi Graeci ante Alexandrum cantati, ed. M. L. WestT Oxford 1971-1972

Aristophanes

Comoediae, recc. F. W. Hall et W. M. Geldart, Oxford 21906-1907 PCG III 2 Aristote: Histoire des animaux, III: livres VIII-X, texte établi et trad, par P. Louis, Paris 1969 De Arte Poetica Uber, ree. R. Kassel, Oxford 1965 Ars rhetorica, ed. R. Kassel, BerlinNew York 1976 De generatione animatium, ree. H. J. Drossaart Lulolfs, Oxford 1965

[Aristophanes, frgg.] Aristoteles

Aristoteles Aristoteles Aristoteles Aristoteles CGF

Etìlica Nicomachea, ree. I. Bywater, Oxford 1894 Comicorum Graecorum fragmenta, ed. G. Kaibel, I 1: Doñensium Comoedia Mimi Phlyaces, Berlin 1899 (Ndr. 1958)

Literaturverzeichnis

CGFP

[Chaeremo] [Crates Comicus] [Cratinus] [Diocles] [Epicharmus] Etymologicum magnum

[Eupolis] Euripides Euripides FPCA

Herodotus Hesiodus

Hesychius Alex.

Homerus

XV Comicorum Graecorum fragmenta in papyris reperta, ed. C. Austin, BerlinNew York 1973 TrGF 1 PCG rV[; FPCA II i] CGFP PCG V CGF Etymologicum magnum seu verius lexicon saepissime vocabulorum origines indagans ex pluribus lexicis scolasticis et grammaticis anonymi cuiusdam opera concinnatum, ree. T. Gaisford S. T. P., Oxford 1848 (Ndr. Amsterdam 1962) PCG V Fabulae, I. III. ree. G. Murray, Oxford 1902.21913 Fabulae, II ed. J. Diggle, Oxford 1981 Fragmenta poetarum comoediae antiquae, coll. et disp. A. Meineke, II i, Berlin 1839 Historiae, ree. C. Hude, Oxford 31927 Theogonia Opera et dies Scutum, ed. F. Sotasen, Fragmenta selecta edd. R. Merkelbach et M. L. West, Oxford 3 1990 Lexicon, A-O: ree. et emend. Κ. Latte, Kopenhagen 1953-1966; Π-Ω: ree. M. Schmidt, Jena 1858-1868 Opera I—II: Bias, recc. D. B. Monro et T. W. Allen, Oxford 31920

XVI Homerus Homerus

Scholia in Horn. II.

[Ibycus] I. G. i2

Literaturverzeichnis

Odyssea, ree. P. Von der Muehll, Stuttgart 31962 Opera, V: Hymni Cyclus Fragmenta Margites Batrachomyomachia Vitae, ree. T. W. Alien, Oxford 1946 (H912) Scholia Graeca in Homeri Iìiadem, ex codd. aucta et emend, ed. G. Dindorf, Oxford 1875-1877 PMGF Inscriptiones Graecae, voluminis I ed. minor: Inscriptiones Atticae Euclidis anno anteriores, ed. F. Hiller de Gaertringen, Berlin 1924

[Inscriptiones]

M. N. Tod: A selection of Greek historical inscriptions to the end of the fifth century B. C„ Oxford 21946

LGS

Lyrica Graeca selecta, ed. D. L. Page, Oxford 1968 Poetae comici Graeci, edd. R. Kassel et C. Austin, Berlin-New York, III 2: Aristophanes, 1984; IV: Aristophon-Crobylus, 1983

PCG

Photius Patriarche Pindarus

Pindarus

Pindarus

Lexicon, ree. S. Α. Naber, Leiden 1864-1865 (Ndr. Amsterdam 1965) Carmina cum fragmentis, ed. B. SnellT Leipzig a1953 (korr. Ndr. d. Ausg. 1949) Carmina cum fragmentis, ed. B. Snell, I: Epinicio, II: Fragmenta. Indices, Leipzig 4,21964 Carmina cum fragmentis, Leipzig, I: Epinicio, post Β. Snell ed. H. Maehler,

XVII

Literaturverzeichnis Q

Plato

1987; II: Fragmenta. Indices, ed. H. Maehler, 11989 Opera, ree. I. Burnet, Oxford 19001907

PMG

Poetae Melici Graeci, ed. D. L. Eage, Oxford 1962

PMGF

Poetarum Melicorum Graecorum fragmenta, post D. L. Page ed. M. Davies, I: Alemán Stesichorus Ibycus, Oxford 1991

SLG

Supplementum lyricis Graecis, ed. D. L. Page, Oxford 1974

Sophocles

Fabulae, recc. H. Lloyd-Jones et N. G. Wilson, Oxford 1990

[Sophocles, frgg.]

TrGF 4

Stesichorus

PMFG

Theophrastus Eresius

Opera quae supersunt omnia, ree. F. Wimmer, Leipzig 1854 -1862; De igne, ed. with introd., transi, and comm. by V. Coûtant, Assen 1971

Thucydides

Historiae, ree. H. S. Jones, Oxford 1 1900. 2 1902, app. crit. corr. et auxit J. E. Powell, 1942

Scholia in Thuc.

Scholia in Thucydidem, ad optimos codd. collecta ed. C. Hude, Leipzig 1927

TrGF

Tragicorum Graecorum fragmenta, Göttingen, 1: Didascaliae tragicae, catalogi tragicorum et tragoediarum Testimonia et fragmenta tragicorum minorum, ed. Β. Snell, 1971; 2: Fragmenta adespota Testimonia volumini 1 addenda Indices ad volumina 1 et 2,

XVIII

Literaturverzeichnis

Vorsokratiker

[Xenophanes] Xenophon

edd. R. Kannicht et B. Snell, 1981; 3: Aeschylus, ed. S. ßadt, 1985; 4: Sophocles, ed. S. ßadt (frg. 730 a-g ed. R. Kannicht), 1977 Die Fragmente der Vorsokratiker, gr. u. dt. v. H. Diels, hrsg. v. W. Kranz, Berlin 61951-1952 Vorsokratiker Opera omnia, ree. E. C. Merchant, V: Opuscula, Oxford 1920

6. Zitierte Forschungsliteratur ADRADOS ( 1 9 6 4 )

ADRADOS ( 1 9 6 5 )

AHRENS ( 1 8 6 0 )

ARNOTT ( 1 9 7 9 )

BARTOLINI ( 1 9 6 6 )

BERGSON

(1967)

F. R. Adrados: „El tema del águila, de la épica Acadia a Esquilo", Emerita 32 (1964) 267-282 — : „El tema del león en el Agamenón de Esquilo (717-49)", Emerita 33 (1965) 1-5 H. L. Ahrens: „Studien zum Agamemnon des Aeschylus", Phttologus Suppl. 1 (1860) 213-304.477-534.535-640 W. G. Arnott: „The eagle portent in the Agamemnon: An ornithological footnote", CQ η. s. 29 (1979) 7 f. G. Bartolini: „II terzo stasimo dell'Agamennone" in: Tetraonyma. Miscellanea Graeco-Romana (Pubi, dell'Ist. di Filologia Class. dell'Univ. degli Studi di Genova, 25), Genova 1966, 61-74 L. Bergson: „Der Zeushymnos im >Agamemnon< des Aischylos", Wege zu

Literaturverzeichnis

XIX Aischylos II 186-199 (è „The hymn to Zeus in Aeschylus' Agamemnon", Eranos 65 [1967] 12-24)

BERGSON ( 1 9 8 2 )

Björck, G:

— : „Nochmals Artemis und Agamemnon", Hermes 110 (1982) 137-145 „Öde och Orakel", in: Ord och tanke i hellensk dikt, Uppsala 1956 [, 40 f.]

BOLLACK ( 1 9 8 1 )

J. Bollack: „Le thrène de Cassandre (Agamemnon, 1322-1330)", REG 94 (1981) 1-13

BOLLACK ( 1 9 8 2 )

— : „Un désir de dieu. Les effets d'une interversion de vers (Agamemnon, 1202-1206)", RPh 56 (1982) 191-197

BOLLACK ( 1 9 8 3 )

— : „Le masque de l'amitié et le miroir du prince (AGAMEMNON, 832844)", Hermes 111 (1983) 180-190 Ν. Β. Booth: „Zeus Hypsistos Megistos: An argument for enclitic που in Aeschylus, Agamemnon 182", CQ n. s. 26 (1976) 220-228

BOOTH ( 1 9 7 6 )

BOOTH ( 1 9 7 9 )

— : „Two passages in Aeschylus Agamemnon", Eranos 77 (1979) 85-95

BOOTH ( 1 9 8 7 )

— : ,Λ further note on κρόκου βαφάς in Aeschylus Ag. 239", Eranos 85 (1987) 64-68

BURIAN ( 1 9 8 6 )

P. Burian: „Zeus σωτήρ τρίτος and some triads in Aeschylus' Oresteia", AJPh 107 (1986) 332-342

CESSI ( 1 9 8 7 )

V. Cessi: Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles (Diss. Mainz 1986), Frankfurt

XX

Literaturverzeichnis

a. M. (Beiträge zur Klassischen Philologie, 180) 1987 CLAY ( 1 9 6 6 )

D. Clay: „The daggers at Agamemnon 714-715", Philologus 110 (1966) 128-132

DAUBE ( 1 9 3 9 )

B. Daube: Zu den Rechtsproblemen in Aischylos' Agamemnon (Diss. Basel), Zürich-Leipzig 1939

DAWE ( 1 9 6 3 )

R. D. Dawe: „Widersprüche zwischen Handlungsführung und Charakterzeichnung bei Aischylos", Wege zu Aischylos I 175-250 (- „Inconsistency of plot and character in Aeschylus", PCPhS n. s. 9 [1963] 21-62)

DAWE ( 1 9 6 6 )

— : „The place of the hymn to Zeus in Aeschylus' Agamemnon", Eranos 64 (1966) 1-21

DEBRUNNER ( 1 9 4 4 )

A. Debrunner: „Verschobener Partizipialgebrauch im Griechischen (Der Typus «café chantant» im Griechischen)", MH 1 (1944) 31-46 V. Di Benedetto: L'ideologia del potere eia tragedia greca. Ricerche su Eschilo, Torino 1978

DI BENEDETTO ( 1 9 7 8 )

DODDS ( 1 9 6 0 )

E. R. Dodds: „Die Rolle des Ethischen und des Politischen in der >Orestie noch einmal so lang [machend, rieben die Blüte der Argiver durch langes Warten auf; als aber gegen den, wiewohl bitteren, Sturm ein weiteres Mittel, noch schlimmer für die Anführer, 200 der Seher verkündete unter Berufung auf Artemis, so daß die Atriden mit den Stöcken auf den Boden schlugen und die Tränen nicht zurückhalten konnten, der ältere Herrscher aber sprach so und sagte: Ant. 4 „Ein schlimmes Los zwar ist Gehorsamsverweigerung, 206 ein schlimmes aber , wenn ich mein Kind schlachte, Schmuckstück der Hallen,

9

Oden „selbst im Schlaf"; Text und Deutung sind unsicher.

26

μιαίνων παρθενοσφάγοισιν ρείθροις πατρώους χέρας πέλας βωμου- τί τώνδ' ανευ κακών; πώς λιπόναυς γένωμαι ξυμμαχίας άμαρτών; παυσανέμου γαρ θυσίας παρθενίου θ' αϊματος όργα περιόργως έπιθυμεΐν θέμις, ευ γαρ εϊη." έπεί δ' άνάγκας εδυ λέπαδνον φρενός πνέων δυσσεβή τροπαίαν αναγνον άνίερον, τόθεν τό παντότολμον φρσνεΐν μετέγνω. βροτούς θρασύνει γαρ αίσχρόμητις τάλαινα παρακοπά πρωτοπήμων ετλα δ' ούν θυτηρ γενέσθαι θυγατρός, γυναικοποίνων πολέμων άρωγάν και προτέλεια ναών. λιτός δε και κλήδονας πατρώους παρ' ουδέν αίώ τε παρθένειον έ'θεντο ψιλόμαχοι βραβής· φράσεν δ' άόζοις πατήρ μετ' εύχάν δίκαν χίμαιρας υπερθε βωμοΰ πέπλοισι περιπετη παντί θυμώ προνωπη λαβείν άέρδην, στόματος τε καλλιπρώ-

2. Die Parados des Agamemnon'

210

215

στρ. ε 220

225

άντ. ε 230

235

209 παρθενοσφάγοισιν Μ : -οισι VTr : -οις F 210 φείθροις Tr : ¿εέθροις M VF ποαιρώας V 211 βωμοΰ πέλας codd. : transp. Blomf. 212 πως λιπόναυς Tr : τί· πώς λιπόναυς (λειπ-F) τε M VF 215 όργδι M (-ccv fort. Mac), όργδ VF : αύδάι TrM v e 217 θέμις γαρ εδ FTr 218 λέδαπνον V 219 δυσεβή F 222 βροτούς (Μ°* av.) Spanheim : βροτοίς- codd. 227 προτέλεια Μ (o ex ω facta in F)FTr : προτέλειαν V 229 αίώ τε Ο. Müller : αιώνα codd. παρθένειον FTr :-νιον MV 230 βραβεΐς VF Tr 231 φράσε VF δ' έν δσσοις Tr εΰχδν M ac 232 χειμαίρασ Μ υπερθεν F 234 βαλεΐν Tr άέρδειν F

2.1. Text und Übersetzung

27

und mit den Blutströmen der Jungfernschlachtung die Vaterhände beflecke nahe dem Al210 tar: Was davon ist ohne Unheil? Wie kann ich schiffsflüchtig (Deserteur) werden, indem ich das Bündnis verletze? Denn das windstillende Opfer und das Blut der Jungfrau mit Leiden215 schaft überaus leidenschaftlich zu begehren, ist Recht. Denn möge es gut ausgehen." Als er aber unter den Jochriemen der Notwendigkeit Str. 5 [geraten war, indem er einen unfrommen Wechselwind des Sinnes blies, einen unreinen, unheiligen, da 220 änderte er seine Haltung zu skrupellosem Sinnen. Die Sterblichen erdreistet ja der auf Schändliches sinnende unselige Wahnsinn, Anfang des Leides: Und so wagte er es denn, Opferschlächter seiner Tochter zu werden, als Hilfe für Kämpfe 225 zur Rächung eines Frauenraubes und Eröffnungsopfer vor der Flottenfahrt. Bitten aber und ihre „Vater"-Rufe, Ant 5 dazu ihr jungfräuliches Alter achteten für nichts die kampflustigen Anführer; 230 es wies vielmehr ihr Vater die Diener nach einem Gebet an, sie, die seine Gewänder umfaßte, - wie eine Ziege - entschlossenen Muts bei ihrer Verneigung zu packen empor auf den Altarstein , und durch das Binden ihres 235

28

2. Die Parados des Agamemnon'

ρου φύλακα καταοχεΐν φθόγγον άραΐον οϊκοις, βίο; χαλινών τ' άναύδω μένει. κρόκου βαφάς δ' ές πέδον χέουσα εβαλλ' εκαστον θυτήρων άπ' όμματος βέλει φιλοίκτω, πρέπουσα θ' ώς έν γραφαΐς, προοεννέπειν θέλουσ', έπεί πολλάκις πατρός κατ' άνδρωνας εύτραπέζους έ'μελψεν, άγνα δ' άταύρωτος αύδα πατρός φίλου τριτόσπονδον ευποτμον αιώνα φίλως έτίμα. τα δ' ενθεν ουτ' ειδον οΰτ' έννέπω· τέχναι δε Κάλχαντος ούκ άχραντοι. Δίκα δέ τοις μέν παθουοιν μαθεΐν έπιρρέπει· το μέλλον APIAC > άριας. Dies wäre dann im Minuskel-Archetyp zu άρΎίας korrigiert worden, γ wäre dann vor ι in den Text gestellt worden, anstatt es zu ersetzen. Dies überzeugt, da γ in M anscheinend nachträglich eingefügt ist. BOLLACK-JUDET DE L A COMBE wollen αργίας halten, offenbar (ihr Kommentar gibt keinen Aufschluß) im Anschluß an Verrall, der darin eine Analogiebildung zu έρυθρίας u. ä. sah; dazu s. WEST, Studies 176. - 120 βλαβέντα sollte nicht geändert, sondern unter die wenigen Beispiele dafür gezählt werden, daß eine maskuline Partizipialform mit einem femininen Substantiv zusammengehen kann.53 DENNISTON-PAGES Konjektur βλάψαντε hat den Nachteil, daß sie 1. trotz des Dual facilior gegenüber βλαβέντα ist und 2. die responsio pura βλαβέντα (120) ~ στυγεΐ δέ (137) zerstört. Keines der beiden Argumente ist für sich zwingend; insbesondere kann im iambischen Dimeter leicht — υ - , υ - υ - auch mit respondieren. Hinzu kommt jedoch, daß ein Dual hier nicht am Platze ist: Da in 116 der Plural φανέντες 'ίκταρ κτλ. durch die erforderliche Hiatvermeidung gesichert ist, muß in 118 nach den Handschriften βοσκόμενοι geschrieben werden. Es wird also οιωνών βασιλεύς (114) erklärt durch ό κελαινός δ τ έξόπιν αργός (115), wodurch in natürlicher Weise der Plural φανέντες, der durch das Metrum gesi52

WEST, Studies

176 f.

53

Dazu R KÜHNER; B. GERTH: Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache, zweiter Teil: Satzlehre, Hannover-Leipzig 3 1 8 9 8 - 1 9 0 4 [KUHNERGERTH], I 8 3 ANM. 1

54

2. Die Parados des Agamemnon'

chert ist, eingeführt wird. Dieser wird durch βοοκόμενοι weitergeführt, und ein Dual βλάψαντε hat dann 120 keinen Platz mehr, während der Plural βλάψαντες metrisch unmöglich ist. Daher wird man die Lesart der Handschriften βλαβέντα, verbunden mit γένναν, die difficilior, aber verständlich und nicht ganz ohne Parallelen ist (Α. A. 562, Pi. O. 6,15; s. FRAENKEL I 283-285), im Text belassen.54 Im Bericht des Chors treten bereits einige Züge des Vogelzeichens hervor, die dann für Kalchas' Deutung wichtig werden. Zum einen erscheinen die Adler χερός έκ δορυπάλτου (116).55 Damit erscheint das Vogelzeichen als δεξιός όρνις (FRAENKEL a.Z.), also trotz der bald zutage tretenden ungünstigen Aspekte als grundsätzlich günstiges Zeichen - schließlich stellt es dem Heer einen günstigen Ausgang des Feldzuges in Aussicht. Der ungünstige Teil des Zeichens tritt jedoch ab 131 in den Vordergrund, und der gesamte Rest der Parodos ist davon überschattet. Zum anderen werden die beiden Adler als deutlich voneinander unterschieden eingeführt: Einer der Adler ist schwarz, der andere .hinten weiß' (115), hat also wohl eine weiße Federzeichnung am Schwanz. Diesen sichtbaren Unterschied zwischen den Adlern deutet Kalchas auf einen Unterschied in der inneren Einstellung der beiden Atriden (123 f. δύο λήμασι δισσούς Άτρειδας). Bei dem Versuch, den hier angedeuteten Unterschied näher zu bestimmen, hat man von Unterschieden zwischen verschiedenen ornithologisch unterscheidbaren Adlerarten ausgehen wollen. FRAENKEL (II 69) hat dagegen auf die auch heute bestehenden Schwierigkeiten verwiesen, die verschiedenen Varietäten des Adlers zoologisch überzeugend zu gliedern, und W. G. ARNOTT 56 gibt zu bedenken, daß antike und moderne Einteilungen sich nicht im geringsten zu decken scheinen. Deshalb hat man versucht, durch Heranziehung anderer Stellen in der antiken Literaähnlich schon MARCOVICH (1974) 123 f. Gegen Tumebus' Konjektur δοριπάλτου überzeugend W E S T (1979) 2 Anm. 4 und, ihm folgend, BOLLACK-JUDET DE LA COMBE A. I. εΘ „The eagle portent in the Agamemnon. An ornithological footnote", CQ n.s. 29 (1979) 7 f . ss

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeiçhen

(104-159)

55

tur der Unterscheidung der beiden Adler an unserer Stelle eine kqnkrete Bedeutung zu geben. Hier kommen einerseits ein Testimonium zu Sophokles (frg. 1085 R. = EM 695,48), andererseits die Behandlung des Adlers durch Aristoteles (HA 9,32 [618 b 18-31]) in Frage. Das .Etymologicum Magnum' teilt mit, bei Sophokles stehe der πύγαργος (den man in dem έξόπιν αργός in Α. Α. 115 erkennen kann) „für den feigen", der μελάμπυγος (= ό κελαινός?) „für den starken" Adler.57 Anders stellt sich die Unterscheidung bei Aristoteles dar: Dort wird der μελανάετος (= μελάμπυγος?, = ό κελαινός an unserer Stelle?) als κράτιστος unter den Adlern bezeichnet und gilt auch als λαγωφόνος, μάχιμος und als der eigentliche Vogel für günstige Vorzeichen (εύφημος). Dagegen zeichnet sich der πύγαργος dort durch θάρσος aus, ist also nicht δειλός, wie gemäß der Angabe des ,Etymologicum Magnum' bei Sophokles. Diese Zeugnisse fordern zwar zu einer genaueren Besprechung heraus, da der Unterschied zwischen den Adlern von Kalchas auf den unterschiedlichen Charakter58 der Atriden gedeutet wird (123 δύο λήμασι δισσούς). Aufgrund der Widersprüchlichkeit unserer Zeugnisse scheint mir eine Präzisierung der Art des Charakterunterschiedes zwischen den Atriden jedoch unmöglich. Für mich nicht überzeugend ist etwa die Einschätzung BOLLACK-JuDET DE LA COMBES (I 138), die aus Aristoteles' knapper Bemerkung, der μελανάετος gelte als λαγακρόνος, der πύγαργος als νεβροφόνος, den Schluß ziehen: 57

EM s. ν. πύγαργος: Είδος άετοΰ . . . Σοφοκλής έπί του δειλού, από λευκής πυγης, ΰσπερ έναντίως μελάμπυγος έπί τοϋ ισχυροί), άπό της μέλαινας πυγής.

58

Anders BOLLACK-JUDET DE LA COMBE I 136: »II est sûr qu'avec λήμασι la subjectivité des frères trouve sa place dans l'identification du présage, m£iis non comme un charactère, comme une nature initiale décidant de leur actions à venir. Λήμα ne désigne pas une qualité, comme l'ardeur, mais une détermination à agir en vue d'un but, généralement guerrier [...]: l'un combat pour récupérer un bien, l'autre en raison d'un impératif héroïque.« Aber auch dies wäre mindestens eine Folge ihrer verschiedenen Veranlagung, ihres Charakters im weiteren Sinne.

2. Die Parados des Agamemnon'

56

La monstruosité du sacrifice de la hase est donc peut-être double, d'abord par sa violence - si on y voit le symbole d'une action humaine - et pour l'assimilation à la férocité de l'aigle noir d'une autre violence, au départ différente, celle du second aigle, qui se trouve détourné de sa chasse habituelle. Die Annahme nämlich, der Hase sei eine für einen πύγαργος geradezu ungewöhnliche Beute, scheint mir nicht berechtigt. Zwar läßt der von Aristoteles erwähnte Name νεβροφόνος für diese Varietät des Adlers den Schluß zu, daß das Hirschkalb eine besonders bezeichnende Beute des πύγαργος ist. Das bedeutet aber keinesfalls, daß es seine vorwiegende, .gewöhnliche' Nahrung darstelle, so daß eine Jagd auf ein anderes Beutetier ungewöhnlich oder gar eine Verkehrung natürlicher Abläufe wäre. Vielmehr wird er diesen Namen erhalten haben, weil er als der einzige Adler gilt, der gelegentlich auch Hirschkälber schlägt. Man muß also keinesfalls annehmen, daß ein πύγαργος, der eine Häsin schlägt, »se trouve détourné de sa chasse habituelle.« Problematisch auch BOLLACK-JUDET DE L A COMBEs ( I 1 3 7 ) Annahme, an unserer Stelle sei schon die gemeinsame Jagd zweier Adler verschiedener Art ungewöhnlich, ist es doch keineswegs sicher, ob es sich bei μελανάετος und πύγαργος im modernen Sinne um zwei verschiedene Arten handelt;59 die Deutung auf die Atriden wäre sogar näherliegend, wenn es sich um verschiedene Varietäten innerhalb desselben γένος handeln sollte. Doch ist aufgrund unserer geringen Kenntnis der antiken Einteilung der Adler in Gattungen in dieser Hinsicht schwerlich Sicherheit zu erreichen.60 Da wir nicht wissen können, welcher Tradition Aischylos hier folgt, wird es auch hypothetisch bleiben, aufgrund der Stelle im ,Etymologicum Magnum' den πύγαργος mit Menelaos, P. GROENEBOOM: Aeschylus' Agamemnon, m. ini., crit. noten en comm. uitg. door D r P. Groeneboom, Groningen 1944, 141 Anm. 3 [GROENEBOOM] zitiert etwa Platt, der einen erwachsenen und einen jungen Adler vermutet; all dies ist aber reine Spekulation. 60 Für weitere Überlegungen s. FRAENKEL II 6 7 - 1 1 5 und BOLLACK-JUDET DE 5 9

L A COMBE 1 1 3 5 - 1 3 8 .

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

57

dem μαλθακός αίχμητής (Ρ 588) zu identifizieren. Ebensogut könnte man in ihm Agamemnon sehen und sich darauf berufen, daß Aristoteles dieser Adler„art" θάρσος zuschreibt (vgl. Α. A. 222). Auch dies wäre natürlich reine Spekulation. Vermutlich könnte man Sichereres aussagen, wenn man wüßte, welche Varietäten von Adlern in der Vogelschau unterschieden wurden und welche Bedeutung man den verschiedenen Adlern im einzelnen zuschrieb. In Ermangelung solcher Kenntnisse wird man sich damit begnügen müssen, festzustellen, daß Kalchas die beiden Adler mit den beiden Atriden in Zusammenhang bringt und den Unterschied im Federkleid der Adler auf einen Unterschied in ihrem Charakter deutet. Über die Abgrenzung der Rede des Kalchas kann kaum ein Zweifel bestehen; Anfang und Ende sind durch Hinweise des Chors deutlich genug markiert (125 ουτω δ' είπε τεράζων, 156 τοιάδε Κάλχας ... άπέκλαγξεν). WHALLONS61 Analyse dessen, was in Antistrophos und Epodos gesagt wird, wird gegen diese sehr deutliche Abgrenzung des Chors kaum Stich halten können. Wenn er sagt: »For the truth about who has been speaking [sc. Chor oder Kalchas] is that we are not fully certain«, 62 so ist doch klar, daß das, was von 126 bis 155 (nur 139 möchte ich als eingeschobenen Kommentar des Chors auffassen, s.u.) gesagt wird, Kalchas' Rede wiedergibt. Die vier Punkte, an denen WHALLON Anstoß nimmt, können nicht überzeugen. Im einzelnen beanstandet er, 1. daß die Götter die Armee heimsuchen wollen, weil Artemis die Adler haßt, die die trächtige Häsin getötet haben (»the reader of bird signs would judge them as symbolic only, not as natural events«) - aber man sieht schwer ein, was ungewöhnlich daran sein sollte, daß Kalchas bei seiner Darstellung des Grundes für Artemis' αγα in der orakelhaft-„symbolischen" Sprache verbleibt und seinen Hörern die (nunmehr offensichtliche) Deutung überläßt; 2. daß Artemis um die Erfüllung des Zeichens bittet (144), obwohl es für die Griechen auch günstig ist (»in speaking so, the seer would be expressing doubt about whether the omen was certain to be fulfilled«) - aber daß τούτων sich auf das Zeichen bezieht, ist (um andere naheliegen61 62

(1980) 24-28. Ibid. 27.

58

2. Die Parados des .Agamemnon'

de Einwände zu übergehen) gar nicht ausgemacht (s.u. S. 72-78); 3. daß Kalchas Apollon bittet, zu verhindern, daß Artemis widrige Winde schickt und ein furchtbares Opfer für deren Aufhören verlangt (»to announce what Artemis would do in reprisal would be presumptuous«) - aber warum sollte ein erfahrener Seher nicht wissen, was eine Gottheit tun wird? - Daß andererseits der Chor darum bitten sollte, daß nicht eintritt, was vor zehn Jahren bereits geschehen ist, wäre absurd; 4. daß im Zusammenhang mit der έτερα θυσία von einer φοβερά παλίνορτος οικονόμος δολία, μνάμων Μήνις τεκνόποινος die Rede ist (»this recurring treacherous housekeeping Wrath is a second agent of calamity, one in addition to the goddess, or else is a second cause of her anger, a past or future horror supplementing the omen; the mind of whoever speaks these words has left the harbour for the palace«) - Kalchas redet hier aber, sehr passend, in orakelhaft-dunkler Sprache von den möglichen Konsequenzen eines solchen Opfers für Agamemnons Haus, was man dem Chor kaum zutrauen wird, deutet also auf eine Beziehung zwischen Hafen und Palast hin. Angesichts der eindeutigen Angabe des Chors, daß Kalchas dergleichen gesagt habe (156), kann es daher nicht zweifelhaft sein, daß es Kalchas' Rede ist, nicht seine eigenen Gedanken, die der Chor hier wiedergibt. Der Zuschauer wird diese Passage als zwar nicht wörtliche, inhaltlich aber getreue 63 Wiedergabe von Kalchas' Deutung auffassen. Die Deutung des Adlerzeichens durch Kalchas bereitet, von einigen Schwierigkeiten im einzelnen abgesehen, keine ernsten Probleme. Eine Ausnahme bilden die Verse 127-130, die zunächst dadurch überraschen, daß dort von der Hinschlachtung der Viehherden vor Troja die Rede zu sein scheint. Davon abgesehen, ist der Gedankengang klar: Kalchas „sah's [sc. das Zeichen] und erkannte die zwei in ihrer Denkart verschiedenen Atriden in den kämpferischen Hasenfressern, die begleitenden Oberherren". Dies ist der Ausgangspunkt seiner Deutung. Diese be63

Ähnlich wie bei den Historikern die Reden nicht den Anspruch erheben, in der niedergelegten Form gehalten worden zu sein, sondern nur, die wesentlichen Motive einer Person wiederzugeben. Wie Thukydides (z.B. 1,34,4; 1,44,1; 1,67,5; 4,58; 4,84,2; s. das sog. „Methodenkapitel" 1,22) seine Reden mit ελεγε τοιάδε o.ä einleitet, wird denn auch Kalchas' Rede mit 156 τοιάδε Κάλχας ... άπέκλαγξεν beschlossen.

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

59

steht dann in einem günstigen Teil (126-130), in dem von der Einnahme und der völligen Zerstörung Trojas die Rede ist, und einem ungünstigen Teil, in dem die Befürchtung geäußert wird, daß ein göttlicher Groll (131 αγα ist die allgemein akzeptierte Korrektur Hermanns für die metrisch unmögliche Lesart ατα der Handschriften, s. FRAENKEL a. I.) „das mächtige Gebiß Trojas zuvor schlage und überschatte im Heerlager" (131-134). Diesen negativen Aspekt des Zeichens führt Kalchas dann näher aus bis zum Ende seiner Rede (155): „Denn aus Mitleid ist die reine6"4 Artemis mißgünstig den geflügelten Hunden ihres Vaters, die die elende, scheue vor dem Wurf samt ihren Jungen zum Opfer schlachten" (134-136). Der Refrain im letzten Vers der Antistrophos (139) ist wohl dem Chor zu geben, da er noch zweimal außerhalb der Rede des Sehers erscheint (121, 159). In der Epodos entwickelt dann Kalchas, nunmehr offensichtlich nicht mehr in erster Linie als eine direkte Deutung des Vogelzeichens, sondern vor allem aus seiner Kenntnis von Artemis' Wesen, die ihm als erfahrenem Seher zukommt, den negativen, furchterregenden Aspekt des Zeichens weiter und äußert, was von der Göttin zu erwarten steht: Artemis ist wohlgesinnt den Löwenjungen und den säugenden Jungen der feldbeweidenden Tiere und verlangt, daß man (wer hier gemeint ist, dazu s.u. S. 77 f.) „Zeichen dafür" (144 τούτων ξύμβολα), dem Entsprechendes beschließe und vollende. Daraus zieht Kalchas den Schluß, daß das Zeichen (145 φάσματα) günstig (δεξιά), aber auch ungünstig (κατάμομφα, vgl. 553 έπίμομφα) sei. Was aufgrund des ungünstigen Teils des Zeichens zu erwarten steht, erfährt man aus Kalchas' Bitte an Apollon (146 ίήιον δέ καλέω Παιάνα), bei Artemis zu erwirken, daß nicht eintrete, was nach dem Zeichen und dem Wesen der Artemis zu befürchten ist: daß sie den Griechen widrige Winde schickt, die die Ausfahrt verhindern, indem sie 64

In άγνά hat man wohl die alte Bedeutung .ehrfurchterregend', .furchtbar1 mitzuhören, die in der archaischen Lyrik vorherrscht; s. B. GENTILI: Poesia e pubblico nella Grecia antica. Da Omero al V secolo, Roma-Bari 2 1989, 285-294, bes. 286 f.

60

2. Die Parados des Agamemnon'

θυσίαν έτέραν ανομον τιν' αδαιτον ,für sich betreibt' (σπευδομένα), ein Opfer, das, wenn es geleistet wird, schlimme Konsequenzen für den Frieden in Agamemnons Haus hätte (151—155).65 Antistrophos und Epodos sind von grundlegender Bedeutung für das Verständnis von Agamemnons Handeln in Aulis. Hier wird die Situation beschrieben, in der Agamemnon steht und von der jede Beurteilung seines Handelns in Aulis, besonders der Opferung Iphigenies, auszugehen hat. Von besonderer Wichtigkeit ist hierbei 1. das Verhältnis zwischen Zeus und Artemis und 2. die Frage nach dem Grund für Artemis' αγα. Das erste Problem war in der Forschung bis vor kurzem weitgehend von der Auffassung bestimmt, daß einerseits Zeus Agamemnon zu dem Feldzug verpflichte, so daß eine Aufgabe des Feldzuges einem Ungehorsam gegenüber dem höchsten Gott gleichkäme, andererseits aber Artemis - aus welchem Grunde auch immer - die Opferung Iphigenies fordere. Demnach hätte Agamemnon in Aulis keine wirkliche Wahl oder, was beinahe auf dasselbe hinausläuft, nur die Wahl zwischen zwei Verbrechen, der Aufgabe des Feldzuges und der Opferung seiner Tochter. In diesem Dilemma sah man die grundlegende tragische Situation des Agamemnon'. Die Sicht, daß Agamemnon in der einen oder anderen Weise schuldig werden müsse, so sehr sie der allgemeinen Auffassung vom Tragischen entsprach, führt aber zu schwierigen, ja unlösbaren theolo65

W. D. FURLEY: „Motivation in the parados of Aeschylus' Agamemnon", CPh 81 (1986) 109-121, hier 112 f., sieht in 151-155 eine Anspielung auf eine Erbschuld Agamemnons aus der Cena Thyestea. Dazu bezieht er δεισηνορα auf θυσίαν statt, wie üblich, auf τέκτονα, was er als »more natural« empfindet Doch weist νεικέων τέκτονα (in Apposition zu θυσίαν, wie auch FURLEY versteht) klar auf ein auf das Opfer folgendes Geschehen; daher wird man auch die Begründung 154 f. μίμνει γάρ ... Μήνις τεκνόποινος auf Ereignisse beziehen, die auf das Opfer folgen. FURLEYs zweiter Einwand gegen die traditionelle Deutung setzt voraus, daß Kalchas das Opfer empfiehlt (dagegen s.u. S. 117). Zudem trifft 155 δολία nicht zu, wenn die Μήνις τεκνόποινος Artemis' Groll aufgrund der Erbschuld Agamemnons aus der Cena Thyestea wäre, wie FURLEY annimmt Denn in Artemis' Verhalten liegt nichts Listiges, wohl aber in Klytaimestras Mordanschlag.

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

61

gischen Problemen. So fragt sich etwa, wie die Götter Agamemnon in eine Situation stellen können, in der er ohne Ausweg schuldig werden muß, und wie er dann von ebendenselben Göttern am Ende für etwas bestraft werden kann, was sie selbst von ihm verlangt haben. Die unlösbaren Schwierigkeiten, in die diese Sicht der Dinge führt, hat GANTZ66 treffend wie folgt zusammengefaßt: Zeus demands that he [sc. Agamemnon] go to Troy, and Artemis demands that he sacrifice his daughter before he can go. The dramatic potential of such a conflict is obvious; in theological terms, however, it supposes either that the Olympians are indifferent to human justice, or that Agamemnon is the victim of an inherited curse. Diese Schwierigkeiten sind in einer Vielzahl von Arbeiten immer wieder aufs neue behandelt worden. Eine besondere Rolle spielte dabei zunächst die Frage nach dem Grund für Artemis' αγα. Diesen hatte man traditionell durch Rückgriff auf der Tragödie vorausliegende Versionen des Mythos 67 zu bestimmen gesucht. Dagegen hat FRAENKEL (II 97) aber mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß es nicht angeht, sich auf Traditionen oder Züge des Mythos zu berufen, von denen in der betreffenden Tragödie jede Spur fehlt: It must be regarded as an established and indeed a guiding principle for any interpretation of Aeschylus that the poet does not want us to take into account any feature of a tradition which he does not mention. That is the more important when the issue is of such magnitude as in the case of a punishment inflicted upon Agamemnon by a deity, with gravest consequences for himself and his house.

66 67

(1983) 71.

Etwa in den .Kypria' (s. Homert Opera, V, ree. T.W. Allen, Oxford 1946 104,12—20), wo sich eine Hybris Agamemnons als Grund für Artemis' Zorn ausmachen läßt; vgl. Sophokles' .Elektra' (566-569), die der Version der .Kypria' folgt.

62

2. Die Parados des Agamemnon'

Dieser methodische Grundsatz ist denn in der Folgezeit auch weitgehend beachtet worden. Damit stellte sich aber die Theodizeefrage noch schärfer: Wie kann man verstehen, daß Artemis und Zeus Agamemnon in eine solche Lage bringen, wenn keinerlei erkennbare Schuld von seiner Seite vorliegt? Diese Frage ist von vielen Seiten sehr ausführlich diskutiert und ganz unterschiedlich beantwortet worden. Es ist daher unmöglich, an dieser Stelle einen Forschungsüberblick über die vertretenen Auffassungen zu geben; beispielhaft seien nur wenige genannt: Für FRAENKEL68 widerfuhr Agamemnon, »was immer in der Welt dem tätigen und verantwortlichen Manne widerfährt, dem sein Geschick es auferlegt, dass er sich entscheiden muss, nicht zwischen Gut und Übel, [...] sondern zwischen zwei Übeln.« DENNISTON-PAGE und dann vor allem H. LLOYD-JONES 69 betrachten die Götter als unerbittlich und grausam; demnach vollziehen sie den Fluch über dem Atridenhause, indem sie Agamemnon, ohne daß er eine Wahl hätte, zwingen, schuldig zu werden und dann seine Strafe auf sich zu nehmen. LESKY70 glaubt, Agamemnon habe zwar keine Wahl gehabt, anders zu handeln, als er es tat, mache sich aber dadurch schuldig, daß er den Feldzug und Iphigenies Opferung nicht nur als unabwendbar akzeptiere, sondern auch wünsche und damit zu seiner eigenen (Un-) Tat mache. Solange man aber an der Auffassung festhält, daß Zeus den Feldzug verlange, Artemis aber - ohne eine Schuld auf Seiten Agamemnons - die Opferung Iphigenies fordere, ergibt sich die theologisch beunruhigende Konsequenz, die LLOYD-JONES mit so rücksichtsloser Stringenz gezogen hatte: daß nämlich die Götter Agamemnon ohne eine Schuld von seiner Seite gnadenlos in eine ausweglose Situation (αμηχανία) stellen, ihn zwingen, schuldig zu werden, und dann gerade dafür bestrafen. 68

(1957) 12. (1962). 70 „Entscheidung und Verantwortung in der Tragödie des Aischylos", Wege zu Aischylos I 330-346 (= „Decision and responsibility in the tragedy of Aeschylus", JHS 86 Γ19661 78-85), zum Agamemnon' 335-341. 69

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

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63

Die Grundauffassung, aus der sich diese Aporien ergeben, ist jedoch nicht unangreifbar. Ich habe oben zu zeigen versucht, daß die Auffassung, Zeus habe Agamemnon zur Zerstörung Trojas verpflichtet, eine Interpretation der Choraussagen ist, die zu bezweifeln der Text selbst uns gewichtige Gründe an die Hand gibt. Ebenso hat man bemerkt, daß es mit Artemis' Wesen nur schwer vereinbar wäre, wenn sie die Opferung Iphigenies im strengen Sinne verlangte oder gar wünschte.71 Doch die Auffassung, Artemis fordere das Opfer nicht, konnte nicht überzeugen, solange man nicht zeigen konnte, wie sonst 144 und 150 zu verstehen seien. PERADOTTO ( 1 9 6 9 ) und NEITZEL ( 1 9 7 8 , 1 9 7 9 ) haben daher konsequent, wenn auch mit nicht völlig übereinstimmenden Folgerungen, zu zeigen versucht, daß Artemis etwas anderes im Sinn hat, wenn sie die Durchführung des Feldzuges an die vorherige Opferung Iphigenies bindet. Artemis' Rolle kann nur aus einer genauen Betrachtung der Deutung des Adlerzeichens durch Kalchas verstanden werden, der wir uns daher jetzt zuwenden; betrachten wir zunächst den positiven Teil von Kalchas' Deutung (126-130): ,,χράνω μεν άγρεΐ Πριάμου πόλιν αδε κέλευθος, πάντα δέ πύργων κτήνη, πρόσθε τα δημιοπληθη, ΜοΤρ' άλαπάξει προς το βίαιον . . . "

130

129 προσθετά Μ

Die Textprobleme in diesem Passus sind äußerst geringfügig und beschränken sich auf Fälle, in denen die Handschriften eine Autorität bestenfalls für den alexandrinischen Text abgeben können. Ob man 129 πρόσθετα oder πρόσθε τα lesen will (προσθετά M ist unmöglich), ist eine Frage der Interpretation, wenn auch προσθετά (M) sehr nach falscher Worttrennung aussieht und dadurch die Lesart πρόσθε τα (VFTr) empfiehlt. - Ein Unterschied zwischen Μοΐρ' άλαπάξει und Μοίρα λαπάξει ist an dieser Stelle weder semantisch noch prosodisch auszumachen. Da die heute übliche Worttrennung zu einer Entscheidung zwingt, scheint es 71

U. v. 166. -

Aischylos. Interpretationen, Berlin 1914, (1951) 72. Siehe a S. 71 f.

WILAMOWTTZ-MOELLENDORFF: KAUFMANN-BÜHLER

64

2. Die Parados des Agamemnon'

mir am besten, den Handschriften zu folgen. Elmsleys Lesung Μοίρα λαπάξει geht wohl auf die Überlegung zurück, daß an den beiden anderen Stellen, wo das Wort bei Aischylos erscheint, die Form λαπάσσειν vorauszusetzen ist (Th. 47 θέντες λαπάξειν, ibid. 531 ή μην λαπάξειν). Dies sind jedoch Stellen in iambischen Trimetern; in einer lyrischen Partie ist Aischylos ebensowohl der Homerismus άλαπάζειν zuzutrauen. - Ebenso möchte ich in 129 δημιοπληθη halten, wofür Otfried Müller, wohl metri gratia, δημιοπληθέα herstellen wollte. Hier kann man allerdings zweifeln 72 (WEST schreibt δημιοπληθέα); die Responsion eines Spondeus mit einem Daktylus (129 -πληθη - 111 πράκτορι) ist jedenfalls nicht zu beanstanden. Ernsthafte Schwierigkeiten hat dagegen das Verständnis der Verse 127-130 gemacht". 129 ist von κτήνη die Rede, was (trotz der Angabe von Μ σχ κτήνη: κτήματα und Hsch. s. ν. κτήνεα· χρήματα) in der überlieferten griechischen Literatur gewöhnlich .Herden' bedeutet, πάντα ... πύργων κτήνη πρόσθε τα δημιοπληθη wären dann, in DENNISTON-PAGES (a. l.) Übersetzung, »all the herds, the numerous public ones, in front of the towers«. FRAENKEL (II 79) versucht dieses Verständnis dadurch zu rechtfertigen, daß »good store of cattle represents an important, and to the besieging army a particularly welcome, part of the enemy's wealth«. Dies leuchtet noch ein, doch ist der Sinn einer Erwähnung von Viehherden in diesem Zusammenhang nicht ersichtlich. Insbesondere versteht man nicht, warum vom Viehbestand Trojas im Zusammenhang mit der Einnahme der Stadt die Rede sein soll; die Tötung der Viehherden vor den Toren der Stadt bei deren Einnahme scheint widersinnig.73 Zudem bleibt bei FRAENKELS Interpretation offen, wie der Passus sich in die Deutung des

72

Als Indiz zugunsten von δημιοπληθη kann man die »klangliche Beziehung auf κτήνη« ansehen (NEITZEL [1979] 11 Anm. 7).

73

LLOYD-JONES, H.: „Three notes on Aeschylus' Agamemnon", RhM 103 (1960) 76-80, hier 77: »Eveiyone who has read the Iliad knows that the Trojans did not do anything so foolish as to keep their cattle in such a place; they kept them on the slopes of Ida, and when the Greeks managed to cany off any, they did not indiscriminately slaughter them.«

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

65

Adlerzeichens einfügt. Die Schwierigkeiten in dieser Hinsicht haben DENNISTON-PAGE (α. I.) wie folgt zusammengefaßt: (1) in the portent, the eagles devour the hare with the (unborn) young inside it; how could this portend the destruction of cattle outside Troy? And what is the point of referring to the destruction of cattle outside Troy, when the destruction of humans inside Troy is a much more serious matter? Who can believe that Aeschylus wrote anything so disappointing as this, 'Troy will fall - and all the cattle outside its walls will be destroyed'? (2) The article τά with the adj. δημιοπληθη is not wanted, indeed hardly intelligible. (3) The interruption of πύργων πρόσθε by the object of the sentence, κτήνη is veiy harsh. Diese Schwierigkeiten hat, wie mir scheint, NEITZEL 74 überzeugend gelöst. Schon LLOYD-JONES75 hatte vorgeschlagen, κτήνη als orakelhafte Bezeichnung für Menschen zu verstehen, dachte dabei aber an die Krieger, die vor den Toren Trojas (πύργων πρόσθε) zu Tode kommen. Dies beseitigt die Merkwürdigkeit, daß hier von Viehherden die Rede sein sollte, löst aber noch nicht den ersten Teil von DENNISTON-PAGES Schwierigkeit (1) und paßt nicht dazu, daß πάντα ... βίαιον als Folge von Trojas Einnahme erscheint. Dabei finden bekanntlich vor den Toren keine Kämpfe statt; vielmehr werden die Trojaner in der Stadt im Schlaf überrascht. NEITZEL zieht die Konsequenz aus DENNISTON-PAGES Schwierigkeit (3) und versteht πρόσθε zeitlich, δημιοπληθη schließlich versteht er als .volkreich', indem er es von το δήμιον ,das Volk' ableitet (wofür er sich auf A. Supp. 370 berufen kann), und übersetzt: „Nach langer Zeit ergreift des Priamos Stadt dieser Zug, und alles Vieh der Türme (Mauern), vormals das volkreiche, wird die Todesmoira verheeren mit Gewalt." Diese Deutung beseitigt alle aufgeworfenen Schwierigkeiten: πάντα δέ πύργων κτήνη ist eine natürliche Fügung, wenn es „alles Vieh der Türme" bedeuten soll. Dies kann ohne weiteres „al74 75

(1979) 11-14. (I960) 77 f. und (1962) 188 f.

66

2. Die Parados des Agamemnon'

les Vieh innerhalb der Mauern, in der Stadt" heißen. Daß einzelne Menschen mit Tiermetaphern bezeichnet werden können, hatte schon LLOYD-JONES 76 mit Verweis auf A. A. 1125 f., 1223 f. und 1258 f. gezeigt, ebenso, daß eine Gruppe von Menschen als αγέλη oder εσμός bezeichnet werden kann (vgl. auch etwa Pi. fr g. 112 Μ. παρθένων άγέλα). NEITZEL 77 verweist weiter auf A. A. 795 προβατογνώμων und ποιμην λαών (ζ. Β. Κ 406 und Χ 277 auch von Hektor). δημιοπληθη, mit dem Artikel τα, versteht man dann als »qualifizierende (epexegetische) attributive Bestimmung« zu κτήνη. Dazu könnte man auch auf 132-134 στόμιον μέγα Τροίας στρατωθέν verweisen, wo ebenfalls durch einen Zusatz (στρατωθέν), hier allerdings ohne Artikel, verdeutlicht wird, daß es sich bei dem „mächtigen Gebiß Trojas" um das Heer handelt. Ähnlich wird hier durch δημιοπληθη klar, daß man unter dem ,Vieh' Menschen zu verstehen hat. Auch für πρόσθεν ,zuvor' beim Futur führt NEITZEL 78 überzeugende Parallelen an. Die von NEITZEL gewonnene Deutung erlaubt es nun auch, einzelne Züge des Adlerzeichens den künftigen Ereignissen in Troja zuzuordnen. Ich gebe hier sein Schema wieder, das zeigt, daß sich in chiastischer Ordnung entsprechen: 1. 2. 3. 4. 5.

χρόνω άγρεΐ (= 'Ιλίου αλωσις) Πριάμου πόλιν πύργων κτήνη (πάντα) ... (πρόσθε) τα δήμιο - π λη θ ή 6. : μοίρα λαπάξει προς τό βίαιον (= Ιλίου πέρσις)79 Damit ist zunächst eine genaue Entsprechung zwischen dem Adlerzeichen und dem künftigen Geschehen in Troja hergestellt: Die Adler sind die Atriden, die trächtige Häsin ist die Stadt Tro76

λοίσθιων δρόμων βλαβέντα λαγινάν ... γένναν φέρματι έρι-κυμονα (= πολυκύμονα) βοσκόμενοι

(I960) 77.

77

(1979) 12.

78

(1979) 13 Anm. 18.

79

NEITZEL (1979) 14.

: : : : :

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen (104-159)

67

ja mit ihren zahlreichen Bewohnern im Innern. Dadurch, daß die Adler die Häsin „gehindert am letzten Teil ihres Laufs" schlagen, also wohl nach einer längeren Verfolgung, wird den Atriden verheißen, daß sie Troja „im Laufe der Zeit", also nach längerer Belagerung, einnehmen können. Daß die Adler eine trächtige Häsin samt ihrer Leibesfrucht schlagen und verzehren, deutet auf die völlige Vernichtung Trojas und (fast) aller seiner Bewohner, was an Agamemnons wilden Kampfesmut in der Ilias (Z 55-60) denken läßt, wo der Tod selbst der ungeborenen Kinder im Mutterleib herbeigewünscht wird. Doch verläßt eine solche Reminiszenz, falls man sie mithören soll, die Ebene der Deutung des Adlerzeichens, in dem die Jungen der Häsin ja nicht für die ungeborenen Kinder in Troja, sondern nur überhaupt für Trojas Bewohner stehen können. Darauf spricht Kalchas in Form einer Befürchtung von einer möglichen αγα der Artemis, die den „geflügelten Hunden des Vaters" έπίφθονος ist und „das Mahl der Adler verabscheut" (στυγεΐ). NEITZEL80 hat darauf hingewiesen, daß hier nicht eigentlich von einem Zorn der Artemis die Rede ist, der etwa durch eine vorausgegangene Verletzung der Gottheit durch Agamemnon veranlaßt wäre, sondern von αγα und φθόνος, ,Groll' und .Mißgunst'. Dessen Ursache kann man nicht allein in dem Umstand erkennen, daß Artemis (wie aus der Ilias bekannt) auf Seiten Trojas steht. 8 1 Dies gilt ebenso für eine Reihe anderer Götter, insbesondere auch für Apollon,82 den Kalchas gerade um Hilfe gegen den Groll seiner Schwester ersucht (146-153). Zudem erklärt der Hinweis auf die „Fronten" in der Ilias für den Agamemnon' wenig, solange man nicht versteht, wie es zu der Feindschaft zwischen Artemis und den Atriden gekommen ist. In der Ilias ist (1979) 15; ihm folge ich weitgehend für die Rolle der Artemis. So LLOYD-JONES (1962) 190: »This supplies a motive for her hostility to the Atreidae that is fully sufficient to explain her action.« und »Artemis must be seen not as a judge punishing a sin, but as a powerful enemy striking an enemy.« 8 2 Dies bemeikt LLOYD-JONES selbst (ibid.). EO 81

68

2. Die Parados des Agamemnon'

dies von vergleichsweise geringem Gewicht; hier aber ist die Frage nach dem Grund für Artemis' Verhalten von so zentraler Bedeutung etwa für die Beurteilung von Agamemnons Handeln, daß eine überzeugende Erklärung gefordert ist. - Während ein unmittelbarer Anlaß für einen Zorn der Artemis (etwa wie in den ,Kypria') im Agamemnon' nicht auszumachen ist, ist der Grund für ihre Mißgunst, ihren Groll explizit angegeben: οίκτος (134 ο'ίκτω83 γαρ), Mitleid ist der Grund für ihren φθόνος gegenüber den Adlern, deren Mahl sie verabscheut. Da aber die Adler für die Atriden und die trächtige Häsin für Troja und seine Bewohner stehen, richtet ihr Mitleid sich in Wahrheit auf Troja und die dort zu befürchtenden unschuldigen Opfer, ihre αγα (,Verargung', NEITZEL) und ihr φθόνος (,Mißgunst') gegen die Atriden und deren Heer. Dies ist - wie 134 γάρ zeigt - der Grund, warum Kalchas von ihr ein τύμμα gegen das Heer, das die Sache der Atriden betreibt (132-134 ποοτυπεν στόμιον μέγα Τροίας στρατωθέν), befürchtet. Mit ihrem .Verargen' und ihrer ,Mißgunst' wendet sich Artemis also gegen das Mahl, das „Opfer" (137) der Adler, und damit gegen die Zerstörung Trojas durch die Atriden. Kalchas unterstreicht (140 περ 84 ) diese Voraussage mit einer Betrachtung über das Wesen der Artemis: Da sie so sehr wohlgesinnt , die Schöne, den hilflosen Jungen der wilden Löwen und den saugenden Jungen aller feldbeweidenden Tiere gnädig, verlangt sie, Zeichen dafür zu beschließen und auszuführen. Die Textprobleme in dieser Passage können hier nur kurz berührt werden: In 140 zweifelt WEST 8 ® jetzt α καλά an. Dies ist die Lesart von F und Tr, während M und V den Artikel nicht haben, was sprachlich unmöglich ist. Daß ά eine Konjektur des Triklini83

Scaligere Konjektur für οίκω; daß diese Lesart der Handschriften nicht zu halten ist, zeigen jetzt mit guten Gründen auch BOLLACK-JUDET DE L A COMBE (A. 1 ) .

84

περ hat hier nicht konzessiven Sinn; es dient der Verstärkung und nimmt dabei eine beinahe begründende Funktion an; vgl. A 131, ρ 47. 85 Studies 177 f.

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

69

os ist, ist nicht unwahrscheinlich, disqualifiziert die Lesart aber noch nicht. 86 Ernst ist der Einwand gegen die Metrik, denn — i s t auch im Dimeter ungewöhnlich. L. P. E. PARKERs Untersuchung87 zeigt, daß vergleichbare Fälle, wie immer „entschuldbar", immerhin vorkommen. Auch wenn WEST die bei Aischylos vorkommenden, meist auch textkritisch bedenklichen Fälle nicht ohne Grund verdächtig macht, kann ich die Crux hier daher nicht für nötig erachten. Badhams Konjektur Έκάτα, die WEST in den Text setzt, ist jedenfalls gewagt: Artemis kann mit Hekate identifiziert werden; doch anders als in Supp. 676 steht hier nicht die Geburt im Zentrum des Gedankens, sondern der Schutz der (Jungen in der) wilden Natur, so daß die unvermittelte Einführung Hekates ohne explizite Identifikation (wie an der Stelle in den .Hiketiden') hart wäre. - 141 ist αεπτοις die Lesart, auf die die recensio führen muß; sie wird von Μ σχ als τοις επεσθαι τοις γονεΰσι δυναμένοις erklärt. Diese Erklärung bereitet sachlich keine Schwierigkeiten. DENNISTON-PAGES (a. I.) Bedenken sind nicht zwingend; denn bei Rudeltieren ist es ebenso natürlich, zu sagen, daß die Jungen nicht folgen, wie daß sie nicht gehen können. Allerdings ist die Bildung des Wortes nicht leicht zu durchschauen: So ist es nicht sicher, daß das Wort von επεσθαι abgeleitet werden kann; an der einzigen Stelle, wo es sonst bezeugt ist (A. Supp. 908), hat es eine andere Bedeutung. Unmöglich scheint die Ableitung von επεσθαι aber nicht zu sein, 88 und sie paßt in diesem Kontext ausgezeichnet. Selbst wenn αεπτος nach sprachwissenschaftlichen Kriterien nicht von επεσθαι ableitbar wäre, würde dasselbe gelten, was NEITZEL 89 für seine Konjektur ααπτος in Anspruch nimmt: Das Wort könnte, wenn es eine Neubildung des Aischylos ist, als Ableitung von επεσθαι gebildet und empfunden worden sein; eine gewisse Unsicherheit muß bleiben. - 141 λεόντων ist aus EM 377,37 mit hinreichender Wahrscheinlichkeit herzustellen (όντων MV : om. FTr). Während λεόντων ausgezeichnet paßt, ist όντων in dieser 86

of

87

„Porson's law extended", CQ n.s. 16 (1966) 1-26, hier 14 f.; auf ihn beruft

So O.L. SMITH: Studies in the scholia on Aeschylus, I: The recensions Demetrius Triclinius, Leiden 1975, 236. s i c h WEST.

8 8

FRAENKEL II 8 4 , BOLLACK-JUDET DE LA COMBE (a. h); d a g e g e n H. NEITZEL:

„αεπτος oder ααπτος? Zur Interpretation von Aischylos, 'Agamemnon' 1 4 0 - 1 4 5 " , Glotta 8 9

(1978") 215.

56 (1978") 2 1 2 - 2 2 1 .

70

2. Die Parados des Agamemnon'

Umgebung schon metrisch so gut wie unmöglich; die Auslassung läßt μαλερών ohne Beziehungswort. Artemis ist also wohlgesinnt gegenüber den Jungen der feldbeweidenden Tiere, wozu gewiß auch der Hase gehört, aber auch gegenüber den Löwenjungen, die hier an erster Stelle genannt werden. Angesichts der Bedeutung der Stelle muß man fragen, was Kalchas mit seiner Charakterisierung der Artemis andeuten will. Der Löwe steht im Agamemnon' und in der ,Orestie' überhaupt bekanntlich für Agamemnon und die Atriden. Agamemnon selbst bezeichnet sich (mit seinem Heer) als Löwen, der die Mauern Trojas überspringt und sich am Blute der Königsfamilie weidet (827f.), und wird von Kassandra (1259) als Löwe gegenüber dem feigen Wolf Aigisth bezeichnet. Es liegt daher nahe, in den Löwenjungen bereits einen Hinweis auf Iphigenie zu erblikken. Doch ist es fraglich, ob eine solche Anspielung dem Hörer schon zum gegenwärtigen Zeitpunkt verständlich sein konnte, zumal dies die erste Stelle im .Agamemnon' wäre, an der von Angehörigen des Atridenhauses als Löwen die Rede wäre. Daß dagegen Aussagen über Tiere auf Menschen zu deuten sind, ist durch das Adlerzeichen und seine Deutung durch Kalchas hinreichend vorbereitet. Da nun Kalchas hier zu bestimmen und zu erläutern sucht, was für das Heer und die Atriden zu erwarten steht, wird man die Passage nicht als eine allgemeine Beschreibung des Wesens der Artemis und ihres Bereichs verstehen wollen, sondern einen Bezug zur Lage des Heeres und zu Agamemnons Feldzug suchen. Die Deutung des Adlerzeichens hatte die Adler auf die Atriden, die trächtige Häsin auf Troja bezogen. Wenn nun die „feldbeweidenden Tiere", was den Hasen, von dem wir gerade gehört haben, einschließt, den „Jungen der wilden Löwen", gegenübergestellt werden, so liegt der Schluß nahe, daß mit den „wilden Löwen" das Heer und insbesondere die Atriden gemeint sind. Es empfiehlt sich deshalb, die Worte δρόσοις άέπτοις μαλερών λεόντων πάντων τ' αγρονόμων φιλομάστοις θηρών όβρικάλοισι nicht einfach als polaren Ausdruck zur Bezeichnung aller Tiere zu verstehen, sondern konkret als Bezeichnung der

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

71

beiden Seiten in dem bevorstehenden Krieg. Damit kommt man zu einem präziseren Verständnis der Passage, das die Annahme überflüssig macht, Artemis richte sich nur deshalb gegen die Atriden, weil sie von vornherein auf Seiten Trojas stehe. Artemis steht nicht von vornherein auf einer Seite im Streit zwischen den Atriden und Alexandras, sondern sie schützt das junge, unschuldige Leben auf beiden Seiten, bei Jägern (μαλεροί λέοντες ~ Griechen, Atriden) und Gejagten (αγρονόμοι θήρες ~ Trojaner, Priamiden). Sie ist daher nicht von vornherein den Griechen feind, sondern auch ihren „Jungen" gegenüber ευφρων. Nicht weil die Griechen es sind, die Troja ,jagen", ist von ihr Schlimmes für den Feldzug zu befürchten, sondern weil es in ihrem Wesen liegt, das unschuldige Leben zu schützen. Es wäre also allenfalls umgekehrt zu erwägen, ob Aischylos nebenbei eine Erklärung dafür geben will, warum Artemis später vor Troja - wie aus der Ilias bekannt - auf der Gegenseite steht. Daß unter δρόσοι μαλερών λεόντων schon an dieser Stelle Iphigenie verstanden werden kann, wie NEITZEL90 voraussetzt, scheint mir nicht ganz sicher; daß aber mit 140-143 unter Anspielung auf die Kriegsparteien ein wichtiger Aspekt von Artemis' Wesen angesprochen wird, der kurz darauf auch für die Frage bedeutend wird, ob Artemis Iphigenies Opferung wünschen kann, ist wahrscheinlich. Daß es mit Artemis' Wesen, wie es hier geschildert wird, nicht vereinbar ist, daß sie Iphigenies Opferung wünschen sollte, hat schon U. v. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF91 gesehen: Denn der Chor läßt keine Zweifel darüber, daß die Opferung der Iphigeneia trotz Artemis eine Sünde ist; oder vielmehr die καλά, die selbst an den Löwenjungen ihre Freude hat, kann das gar nicht gewollt haben; damit bestreitet der Dichter die Geschichten von Göttern, die Menschenopfer heischen; er denkt wie Goethes Iphigenie »der mißversteht die Himmlischen, 90

(1979) 16. (1914) 166; ähnlich betont OLIVEIRA PULQUÉRIO (1969) 374, Artemis schütze die Trojaner, weil sie unschuldig seien: »Justifica-se, pois, a ira de Artemis, visto que os Traíanos nâo sao culpados«.

91

72

2. Die Parados des Agamemnon'

der sie blutgierig wähnt« [v. 523f.]. Er hält sich nur von der offenen Anklage fern, wie sie die Iphigeneia des Euripides erhebt. Diese Auffassung hatte WILAMOWITZ aus seinem Eindruck von den Versen 140-143 gewonnen. Doch konnte er sich mit seiner Meinung nicht durchsetzen, da dem Gedanken, Artemis müsse, wie Tierjungen, so erst recht Menschen,jungen" wie Iphigenie gegenüber ευφρων und τερπνά sein, die Angabe im Text gegenüberzustehen schien, daß Artemis das Opfer „fordere". Außer auf 150 (σπευδομένα θυοίαν ...) konnte man sich dabei auf 144 (τούτων αιτεί ξύμβολα κράναι) berufen. Dieser letztere Vers hat große Schwierigkeiten bereitet. In der älteren Forschung hat vor allem die Paraphrase von Μ σχ τα σύμβολα αιτεί με φάναι τούτων ... irregeführt. FRAENKEL (II 85f.; vgl. ad 369) und KAUFMANN-BÜHLER92 haben gezeigt, daß die Annahme einer Bedeutung ,verkünden' für κράναι nicht zu rechtfertigen ist. κραίνειν heißt ,beschließen und vollenden', wie schon FRAENKEL (ad 369) hervorhebt, an unserer Stelle allerdings als nicht passend ansieht. Davon abgesehen ist τούτων ξύμβολα aber auch in sich selbst schwierig, jedenfalls wenn man αιτεί hält (FRAENKEL beseitigt das Problem durch die Aufnahme von Lachmanns Änderung αινεί). Es ist dann nämlich unmöglich, τούτων auf das Adlerzeichen zu beziehen und in κράναι einen Hinweis auf Iphigenies Opferung zu erblicken; darauf haben DENNISTON-PAGE (α. I, [8]) hingewiesen: τούτων ξύμβολα is much more condensed and cryptic: χειμωνος σύμβολον, for example, would normally mean 'that which portends a storm', not 'that which a storm portends'; here, however, the genitive must be of the latter type, 'things portended by these events' [...]. Es ist aber sehr fraglich, ob sich für eine solche Verwendungsweise überhaupt Belege finden lassen. Wer den überlieferten

93

(1951) 68.

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

73

Text zu halten versucht, 93 sieht sich daher vor allem drei Problemen gegenüber: 1. Worauf bezieht sich 144 τούτων? 2. An wen ist die (dringende) Bitte gerichtet, deren Subjekt offenbar Artemis ist (αιτεί) ? 3. Was ist mit ξύμβολα gemeint? - Diese Fragen hat NEITZEL 94 für mich überzeugend mit der These beantwortet, 1. τούτων müsse in Ermangelung eines ersichtlichen Bezugswortes auf die in den Versen 140-143 beschriebene Haltung der Artemis bezogen werden; 2. die dringende Bitte der Artemis richte sich, da kein Objekt angegeben sei, an die Atriden als die allein verantwortlichen Führer des Heerzuges, an die ja auch das Adlerzeichen gerichtet sei und die allein die Macht hätten, eine Entscheidung zu treffen und in die Tat umzusetzen (κράναι); 3. mit ξύμβολα τούτων sei ein „Zeichen dafür", d.h. für die wohlwollende Haltung der Artemis gegenüber den Jungen gemeint. Er schließt daher: Artemis bittet also die Atriden dringend darum, etwas zu beschließen und zu vollenden, woran man ihr (der Artemis) Wohlwollen gegenüber den Jungen und ihre Freude an ihnen erkennen kann. [...] Nun ist die Frage: Was paßt wie ein συμβολον zu der in den Versen 134-143 beschriebenen, mit τούτων bezeichneten Haltung der Artemis? Woran kann man erkennen, ob die Atriden (die Adler) Mitleid (οίκτος) mit Troja (der trächtigen Häsin) und Abscheu (στύγος) vor der Vernichtung der Stadt haben, ob ihre Gesinnung den Trojanern (den Jungen der Häsin als αγρονόμος θηρ κατ' εξοχήν) gegenüber freundlich ist. Offenbar nur daran, daß sie die Häsin, d. h. Troja, nicht zerfleischen. Artemis fordert (im Sinne einer dringenden Bitte) also nichts anderes als die Aufgabe des Feldzugs (vgl. 212 πώς λιπόναυς γένωμαι;). 95

93

Über die verschiedenen Möglichkeiten, den Text durch Konjekturen zu

glätten, s. jetzt die Darstellung bei BOLLACK-JUDET DE LA COMBE I 167-181,

die die älteren Erklärungen ausführlich besprechen. (1979) 16-19. 9 S

NEITZEL ( 1 9 7 9 ) 1 7 f .

74

2. Die Parados des Agamemnon'

Gegen

haben sich sehr entschieden BOLLACK-JUDET DE LA COMBE (I 181-184) gewandt. Es soll daher versucht werden, aus ihrer ausführlichen Auseinandersetzung mit NEITZEL die Einwände herauszulösen, die sie gegen ihn vorbringen können: NEITZELS

Deutung von

144

1. Es ist falsch, den friedfertigen Charakter der Artemis in den Vordergrund zu rücken. Die Göttin ist Herrscherin über die wilde Natur, in der es oft sehr grausam zugeht (I 182).96 2. Es ist grammatisch wenig wahrscheinlich, daß τούτων als Neutrum pl. betrachtet und somit auf die kurz vorher beschriebene Einstellung der Göttin bezogen werden kann (I 183). 3. Die Atriden als Objekt zu αιτεί anzusehen, legt der Kontext der Ausdeutung des Adlerzeichens nicht nahe. Denn einerseits erfordert er es, daß man auf der göttlichen Ebene bleibt, andererseits paßt κραναι nur auf eine vom göttlichen Willen abhängige Handlung (I 182).97 BOLLACK-JUDET DE LA COMBE selbst verstehen ihrerseits τούτων αιτεί ξύμβολα κράναι (»[Si fort est l'amour de la Belle pour les petits ...] qu'elle demande d'accomplir un signe qui soit le 96

Ähnlich FURLEY (1986) 111 und jetzt W. PöTSCHER: „Die Schuldproblematik in der Danais und in der Orestie", Originalbeitrag in: Hellas und Rom, Hildesheim u. a. 1988, 613-656, hier 625. FURLEYS weiterer Einwand, Artemis' .Betreiben' des Opfers sei unmöglich als Versuch zu werten, Agamemnon von der Durchführung des Zuges abzuhalten, da die Dichter Grundgegebenheiten des Mythos nicht verändern konnten, beruht auf der unzulässigen Vermischung zweier Ebenen: Aischylos konnte zwar kein Stück inszenieren, in dem der Trojanische Krieg nicht stattfindet, wohl aber eines, in dem die Durchführung des Feldzuges als folgenreicher Fehler erscheint

97

Weitere Einwände beruhen darauf, daß NEITZEL irrtümlich die Auffassung zugeschrieben wird, Agamemnon müsse sich zwischen Artemis, die den Zug ablehne, und Zeus, der ihn fordere, entscheiden. Dies ist jedoch die Position BERGSONS (1982). Nach NEITZEL ([1978] 416-424 und [1979] 26) besteht zwischen beiden Gottheiten kein Gegensatz, sondern „olympische Harmonie"; Agamemnon hat sich zwischen Achtung und Mißachtung der Artemis und, zugleich damit (mit Blick auf Zeus) zwischen σωφρωσύνη und ύβρις zu entscheiden.

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

75

leur.«, in ihrer Übersetzung) in folgender Weise: τούτων nimmt δρόσοις (141) und όβρικάλοισι (143) auf. Da Artemis sich dem von Zeus verhängten Feldzuge, der in ihre Domäne eingreift, nicht wirksam widersetzen kann, tut sie das einzige, was sie in Übereinstimmung mit dem von Zeus gesandten Adlerzeichen tun kann: Sie bittet Zeus, nicht daß etwas durch ein Zeichen Angezeigtes vollendet werde, sondern, »qu'un signe correspondant à son domaine soit produit« (I 185 Anm. 2). Dieses Zeichen, das Artemis fordere, sei die Opferung Iphigenies. Artemis fordert also als Zeichen der (künftigen) Verletzung ihrer Domäne eine Verletzung ihrer Domäne, da sie die Verletzung ihrer Domäne nicht verhindern kann. Dies ist natürlich ein Paradox, das BOLLACK-JUDET DE LA COMBE aber nicht auflösen, sondern zum Ausgangspunkt ihrer weiteren Interpretation und ihres Verständnisses des Tragischen machen. Doch kehren wir zu ihren Einwänden gegen NEITZELs Position zurück; hier ist zu den einzelnen Punkten folgendes zu bemerken: 1. Artemis' Gunst gegenüber dem unschuldigen Leben (ihr „friedfertiger Charakter") ist im Text selbst sehr stark betont und nicht von außen an ihn herangetragen. Artemis verabscheut das Mahl der Adler gerade deswegen, weil die Adler (die Atriden) die trächtige Häsin (Troja auch mit seinen unschuldigen Bewohnern) gewaltsam vernichten. BOLLACK-JUDET DE LA COMBE sind selbst der Auffassung, daß Artemis nur deshalb den Feldzug nicht verhindert, weil sie es nicht vermag. Artemis ist hier als friedfertige Macht gezeichnet. Daß es in der belebten Natur oft sehr grausam zugeht, ist unbestreitbar; nur ist davon in den Versen 140-143 nicht die Rede. 2. Ich sehe nicht, was an dieser Stelle sprachlich gegen τούτων als gen. pl. von ταύτα sprechen könnte. Eine solche Verwendung ist so üblich,98 daß mir der Einwand schwer nachvollziehbar er98

Ich verweise nur auf KUHNER-GERTH I 67 Anm. Vgl. bes. Θ 362 ιών (gen. pl. η.) und Α. Α. 211 tí τώνδ' ανευ κακών sowie 1488 τί τώνδ' οΰ θεόκραντόν έστιν;

76

2. Die Parados des Agamemnon'

scheint. Der entscheidende Unterschied zwischen der Auffassung BOLLACK-JUDET DE LA COMBEs und NElTZELs scheint mir vielmehr in ihrem Verständnis des Wortes ξύμβολον zu liegen: BOLLACK-JUDET DE LA COMBE gehen von der Bedeutung .Vorzeichen' aus (vgl. LSJ s. ν. σύμβολον III 2) und meinen, Artemis verlange Iphigenies Opferung als .Vorzeichen' für die Verletzung ihrer Sphäre bei der Vernichtung Trojas; τούτων ξύμβολα, »un signe qui soit le leur«, wäre dann ein Vorzeichen der Jungen (gen. subj.), ein Vorzeichen, das der Domäne der Artemis angehört. NEITZEL dagegen geht von der Bedeutung .Zeichen' aus (vgl. LSJ 5. ν. σύμβολον III 1); wie das Feuerzeichen (vgl. 8 λαμπάδος το σύμβολον) ein Zeichen für den Fall Trojas ist, wäre τούτων ξύμβολα κτλ. hier ein .Zeichen dafür', ein Zeichen für die in den Versen 140-143 beschriebene Haltung der Artemis. Diese Deutung ist sprachlich ohne weiteres möglich. 3. Daß κραίνειν im Sinne von .beschließen, bestimmen, vollenden' nur Handlungen zum Objekt habe könne, die vom göttlichen Willen abhängen, ist ein Eindruck, den die Behandlung des Wortes durch LSJ nahelegt. FRAENKEL (II 144) behauptet dasselbe, allerdings nur, um Kalchas als Subjekt zu κρδναι auszuschließen. Denn seine Wortuntersuchung zu κραίνειν (ad 369) zeigt unter anderem, daß das Wort auch in dieser Bedeutung sowohl von Menschen als auch von Göttern ausgesagt werden kann: »The object of κραίνειν so used is, in the case of human beings, a resolution (e.g. of the assembly), a sentence, and the like; in the case of gods, a decree of fate, an assurance of a future event« (FRAENKEL II 193; dort auch geeignete Belege). Auch der Chor des Agamemnon' kann ebenso von einer δημόκραντος α ρ ά " (458) reden wie von einem θεόκραντον (1488). Schon in Β 137 ff. (αμμι δε έργον | αυτως άκράαντον, ού εϊνεκα δεϋρ' ίκόμεσθα) erscheint eine Ableitung von κραίνειν für die (mangelnde) Vollendung einer menschlichen Tat, der Einnahme Trojas durch die Danaer. Auch das Verb selbst kann für Menschen wie für Götter 99

δημόκραντος ist die allseits akzeptierte Konjektur Porsons für das unsinnige δημοκράτου.

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

77

gebraucht werden. In den ,Hiketiden' informiert Dañaos seine Töchter mit folgenden Worten über den Beschluß des Volkes von Argos, sie aufzunehmen (605-609): εδοξεν 'Αργείοισιν, ού διχορρόπιος, | αλλ' ώστ άνηβήσαί με γηραιά φρενί - | πανδημία γαρ χερσί δεξιωνύμοις | εφριξεν αίθηρ τόνδε κραινόντων λόγον - | ημάς μετοικεΐν τησδε γης έλευθέρους κτλ., vgl. auch 621 ff. τοιαυτ άκούων χερσίν 'Αργεΐος λεώς | εκράν' ανευ κλητηρος ως είναι τάδε, κραίνειν kann also durchaus von Menschen gesagt werden, allerdings nur von solchen Menschen, die das Recht bzw. die Macht besitzen, einen Beschluß zu fassen bzw. in die Tat umzusetzen. Ein Seher kommt daher nicht in Betracht, wohl aber ein Rat, eine (Volks-) Versammlung oder ein König. An unserer Stelle sind die Atriden demnach durchaus ein mögliches Subjekt zu κράναι: Sie haben als Oberfeldherren Befugnis und Macht zur Fassung und Durchführung von Beschlüssen. 100 Die Frage nach dem logischen Subjekt von κράναι läuft auf dasselbe hinaus wie die nach dem Objekt von αιτεί, da beide identisch sind. Da der Seher (wegen der Bedeutung von κραίνειν, das nicht .verkünden' heißen kann) hier ausscheidet, kommen nur zwei Möglichkeiten in Betracht: die Atriden (bzw. das Heer in seiner Gesamtheit) oder Zeus. ergänzen - wie schon DENNISTON-PAGE (α. I, [8]) - τον Δία als Objekt zu αιτεί. Dies liegt aber - um andere problematische Punkte in BOLLACK-JUDET DE LA COMBEs Deutung 101 zu übergehen - weniger nahe; denn in BOLLACK-JUDET DE LA COMBE

100

101

NEITZEL (1979) 17 Anm. 34

So übersetzen sie 144 mit »eile demande d'accomplir un signe qui soit le leur« und verstehen: »Artémis demande (à Zeus) qu'un signe correspondant à son domaine soit produit« (I 185 Anm. 2), nämlich Iphigenies Opferung; diese stünde dann (als Zeichen) für Artemis' Verletzung durch die Ereignisse in Troja, τούτων ist als Gen. subj. aber hart und anscheinend ohne Parallele, σύμβολόν τίνος heißt gewöhnlich .Zeichen für etwas' (LSJ s. v.), oder - wie 8 λαμπάδος το σύμβολον - Zeichen, dessen signifiant in etwas (hier Licht) besteht Kaum aber kann τούτων ξύμβολα heißen ,ein Vorzeichen, das den Tieijungen gehört', gar im Sinne von ,ihnen entspricht (oder ihnen, ihrem Bereich, und damit der Domäne der Artemis angehört)'.

78

2. Die Parados des .Agamemnon'

diesem Falle würde man erwarten, daß Kalchas - zumal in einer Frage von solcher Bedeutung - Zeus als Adressaten von Artemis' Bitte nennt; nichts im Kontext oder in der Situation des Sprechers (Kalchas) erlaubt es, Zeus einfach zu supplieren. Denn Kalchas, der κεδνός στρατόμαντις (122) wendet sich mit seiner Deutung an das Heer und insbesondere an die Atriden als dessen verantwortliche Befehlshaber. Wenn er deshalb davon spricht, Artemis bitte nachdrücklich (αιτεί), etwas „zu bestimmen und zu vollenden" (κράναι), ohne anzugeben, an wen sich diese Forderung richtet, so ist der einzige natürliche Adressat einer solchen Bitte das Heer bzw. die Atriden als dessen verantwortliche Befehlshaber. Deutung von 144 überzeugt dadurch, daß sie sprachlich einfach ist und doch einen passenden und prägnanten Sinn ergibt. Sie beläßt σύμβολον + gen. obj. die geläufige Bedeutung,102 die DENNISTON-PAGE nicht ohne Bedenken aufgrund einer Vorentscheidung über den hier zu erwartenden Sinn aufgaben, und bezieht τούτων auf das im Kontext unmittelbar Vorausgehende, die wohlwollende Haltung der Göttin gegenüber dem jungen, unschuldigen Leben. Als Zeichen für diese Haltung erkennt NEITZEL konsequent die Aufgabe des Feldzuges, das Unterlassen der Opferung Iphigenies. NEITZELS

Demnach stellt sich der Gedankengang von Kalchas' Rede bis zu diesem Punkt wie folgt dar: Die Zerfleischung der trächtigen Häsin durch die zwei Adler steht dafür, daß dem Feldzug - wenn auch erst nach langer Zeit - Erfolg durch die völlige Zerstörung Trojas beschieden ist. Diese völlige Vernichtung auch Unschuldiger (der ungeborenen Jungen der Häsin ~ der unschuldigen Bewohner Trojas) wird, so steht zu befürchten, eine ungünstige Reaktion der Artemis hervorrufen, die die grausame Vernichtung unschuldigen Lebens verabscheut. Denn sie schützt die Sphäre des jungen und unschuldigen Lebens, an dem sie Freude hat und

103

Siehe die Belege bei

NEITZEL

(1979) 17.

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

79

dem sie wohlgesinnt ist, und fordert einen Entschluß, der dieser Haltung entspricht. Dieser Entschluß kann, entsprechend Artemis' Wesen, wie es hier dargestellt ist, nur in der Aufgabe des Feldzugs bestehen. Dazu paßt auch, was gemäß dem Bericht des Chors in der Parodos später tatsächlich eintritt: Artemis schickt widrige Winde, die die Ausfahrt verhindern (192-198), und der Ausweg, den Agamemnon in seiner Rede ablehnend erwähnt, ist - wie er es nennt - λιπόναυς γενέσθαι und ξυμμαχίας άμαρτεϊν, also die Aufgabe des Feldzugs. Die Reaktion der Göttin überschattet also den Feldzug, zwar nicht so, daß er mißlingen könnte, wenn er durchgeführt wird (hier ist das Zeichen eindeutig), aber doch in der Weise, daß Artemis' αγα (131) das Heer „verdunkeln" und es „vorher schlagen" könnte (132), bevor nämlich der Feldzug beginnen kann. Kalchas kann daher sagen: δεξιά μεν, κατάμομφα δέ φάσματα t στρουθών·}·.103 Das Zeichen ist günstig, insofern es den Erfolg des Feldzuges zusichert; es ist zugleich ungünstig, insofern Artemis Abscheu vor dem Mahl der Adler (~ vor Trojas Vernichtung) empfindet: Zwar kann sie den Erfolg des Feldzuges nicht vereiteln, wohl aber ihn „überschatten" (131 f. κνεφάση) und das Heer vorher, vor Beginn des Feldzuges (132 προτυπεν) schlagen. 103

Inhaltlich ist στρουθών schwierig: ,oiseaux' im allgemeinen (so BOLin ihrer Übersetzung) kann es nicht bezeichnen (FRAENKEL II 89). Die Tilgung des Wortes mit Porson scheint mir erwägenswert; offenbar handelt es sich um eine Glosse, die vom Sperlingszeichen der Ilias ausgeht Ohne οτρουθών hätten wir einen Alcmanius, der auf zwei Kürzen endet (für Parallelen s. B. GENTILI: La metrica dei Greci, Messina-Firenze 1952, 181 f.). Der dann entstehende Hiat unterstreicht den auch inhaltlich sinnvollen Einschnitt. Natürlich kann die Glosse auch ein anderes Wort verdrängt haben. M.L. WEST: „Tragica VII", BICS 31 [1984] 171-192, hier 181 f. (vgl. Studies 178) spricht sich für Kecks (φάσματα) νοσσών „Zeichen der Jungen" aus. Dies ist verlockend, insofern es die Seite des Zeichens betont, auf die es Artemis ankommt. Dennoch würde mein hier eher eine Bezeichnung erwarten, die beiden Seiten des Zeichens (δε; £ΐά μεν χατάμομφα δε) gerecht wird. LACK-JUDET DE LA COMBE

80

2. Die Parados des Agamemnon'

In welcher Gestalt ein solches κνέφας von Artemis zu befürchten steht, gibt Kalchas in Form eines apotropäischen Gebets an Apollon in seiner Funktion als Heiler (147 Παιάνα, ίήιον?) zu erkennen. Zugleich ist Apollon natürlich der Gott, mit dem er als Seher am nächsten verbunden ist. Die Passage lautet: Ich rufe aber den Heiler Paian an, daß sie den Danaern nicht durch widrige Winde irgendwelche lang andauernden, die Schiffe festhaltenden Hindernisse für die Ausfahrt bereite indem sie ein weiteres Opfer betreibt, eines gegen den Brauch und von dem man nicht essen darf, des Zwistes Handwerker, mit entstehend, ohne Scheu vor dem Ehemann; denn es harrt eine furchtbare listige Hausverwalterin, die sich einmal wieder erhebt, nachtragender, kindrächender ZORN. 150 σπευδομένα θυσίαν wird gewöhnlich so verstanden, daß Artemis das Opfer fordere. Dabei handelt es sich um eine interpretierende Übersetzung, die auf der Annahme beruht, in 144 (αιτεί) sei bereits davon die Rede gewesen, Artemis verlange die Opferung Iphigenies. NElTZELs Analyse und die oben vorgeführten Überlegungen haben aber, wie ich hoffe, gezeigt, daß dort von einer ganz anderen Forderung der Artemis die Rede ist. σπεύδειν selbst bedeutet zunächst nur .beschleunigen', .betreiben', nicht eigentlich .fordern'. Im Text ist also gesagt, daß Artemis das Opfer „in ihrem Interesse betreibt". Es fragt sich, wo Artemis' Interesse bei diesem ,Betreiben' liegen kann. Offenbar kann es nicht im Vollzug des Opfers liegen, denn dieser verletzt - so wie die Göttin hier dargestellt ist - ihre eigene Sphäre, das junge und unschuldige Leben, vor dessen Vernichtung sie Abscheu empfindet (138). WILAMOWITZ (1914) und KAUFMANN-BÜHLER (s.o. S. 71 f.) haben erkannt, daß Artemis ein solches Opfer unmöglich gutheißen kann. Darüber hinaus macht Iphigenies Opferung, als einziges wirksames Mittel, die Gegenwinde aufhören zu machen, die Eroberung und völlige Vernichtung Trojas, vor der Artemis Abscheu empfindet, erst möglich. Der Vollzug des Opfers muß

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104-159)

81

also in doppelter Hinsicht Artemis' Absichten zuwiderlaufen: 1. wird ein Wesen aus der Sphäre, die sie schützt, vernichtet; 2. wird dadurch eine weitere Verletzung ihrer Sphäre (die Eroberung und völlige Vernichtung Trojas) ermöglicht. Wurde Artemis die Opferung Iphigenies fordern, also den Vollzug des Opfers beabsichtigen, so verlangte sie damit eine doppelte Verletzung ihrer Sphäre, d.h.: abgesehen davon, daß sie sich nach menschlichen Maßstäben grausam verhielte, würde sie auch ganz und gar gegen ihre eigenen Interessen handeln. Solche Götter wären aber nicht nur grausam, sondern auch willkürlich und unberechenbar. Dies ist aber unmöglich, und deshalb leuchtet mir NElTZELs Deutung ein, daß das ,Betreiben' des Opfers als von Artemis eingesetztes Mittel zu betrachten ist, den Feldzug zu verhindern. Denn als Artemis den Griechen in Aulis tatsächlich widrige Winde schickt, ist das einzige Mittel (199 μήχαρ), diese zur Ruhe zu bringen, Iphigenies Opferung. Artemis handelt damit keineswegs tatsächlich gegen ihr eigenes Interesse: Indem sie ein solches Opfer als Bedingung für die Ausfahrt setzt, hofft sie, Agamemnon von diesem Feldzug, vor dessen Ausgang sie Abscheu empfindet, abzuhalten: Wenn er sich schon nicht durch die Schrecklichkeit und Unverhältnismäßigkeit der vollständigen Vernichtung einer Stadt um einer untreuen Frau willen von dem Unternehmen abbringen läßt, so doch sicher, wenn er zu diesem Zweck seine eigene Tochter schlachten muß! Um Troja vernichten zu können, muß er eine (für ihn) noch schrecklichere und (für ihn) viel offensichtlichere Verletzung der Artemis begehen. Dies sollte ihn doch von seinem Vorhaben abbringen, jedenfalls wenn er sich einen Rest von Achtung gegenüber Artemis' Sphäre bewahrt hat. Die Verursachung von Gegenwinden und das Betreiben der Opferung Iphigeniens sind demgemäß nur die beiden diesem Zweck untergeordneten Mittel der Artemis, um die Atriden zu dem ihrer Gesinnung ent-

82

2. Die Parados des Agamemnon'

sprechenden Beschluß zu zwingen (144 τούτων αιτεί ξύμβολα κράναι)· 104 Vorerst wird diese Reaktion der Artemis nur als eine (wohlfundierte) Befürchtung des Kalchas ausgesprochen. Schon hier aber bewertet der Seher das Opfer als άνομος, 105 »one without precedent and law« ( F R A E N K E L in seiner Übersetzung), als widergesetzlich, worin man einen impliziten Hinweis darauf sehen darf, wie man sich zu verhalten hat, wenn eine Entscheidung über die Durchführung dieses Opfers ansteht. Es ist also nicht nur der Chor, der später das Opfer scharf mißbilligt (218-223), der Seher urteilt ebenfalls, daß das Opfer .widergesetzlich, wider den Brauch' ist, und fügt hinzu, daß als Folge des Opfers dem Atridenhaus Unheil droht (152-155). Ich halte es daher nicht für berechtigt, den Kommentar des Chors als Einschätzung eines Menschen zu entwerten, der »sich bescheiden in den Niederungen hält« und »nie zu wahrem Handeln berufen wird«.10® Der Seher urteilt ebenso, soweit er, der eigentlich nur als Sachverständiger Auskunft zu geben hat, urteilen darf: άνομος wäre dieses Opfer, und Agamemnon müßte es Unheil bringen. Wenn die hier vorgetragende Deutung des Adlerzeichens richtig ist, so ergibt sich für das Verhältnis zwischen Zeus und Artemis zusammenfassend etwa folgendes Bild: Die „Sendung" der Atri1 0 4

NEITZEL (1978) 4 0 6 f .

los

WlLAMOWrrz tilgte 152 ανομον mit der Bemerkung: »non est alterum sacrificium quod contra morem sit et quo vesci non liceat, sed altera θυσία αδαιτος, sicut άδαίτους epulas aquilae sibi parabant« Doch KRANZ (1919) 268 Anm. 12 hat darauf hingewiesen, daß durch τιν(α) klar wird, daß άνομος und αδαιτος nur auf θυσίαν έτέραν zu beziehen sind. Es ist daher auch unnötig, άνομος die schwächere Bedeutung ,ohne Melodie' zu geben,

w i e H. LLOYD-JONES: . A e s c h y l u s , Agamemnon

1 4 6 f f " , CQ n . s . 3 (1953) 9 6

(dort ist im Titel irrtümlich »416 ff. statt »146 ff.« abgedruckt) vorgeschlagen hat. LLOYD-JONES »can find in Aeschylus no case of two adjectives formed with privative alpha and agreeing with the same noun in which the two concepts negated are not concepts of the same order«; dies ist aber kaum ein zwingender Einwand. 1 0 6

FRAENKEL (1957) 334.

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen

(104—159)

83

den gegen Troja durch Zeus Xenios darf nicht als bindende Verpflichtung aufgefaßt werden, sondern nur als Zusage, dem von den Atriden initiierten Feldzug, der aufgrund der von Paris erlittenen Gastrechtsverletzung im Grundsatz berechtigt ist, schließlich Erfolg zu verleihen. Andererseits fordert Artemis Iphigenies Opferung nicht, sondern setzt sie gerade deshalb als Bedingung für seine Durchführung, um die von ihr wegen ihrer Unverhältnismäßigkeit verabscheute völlige Zerstörung Trojas zu verhindern, indem sie Agamemnon zum Abbruch des Zuges veranlaßt. Es besteht demnach kein unauflösbarer Gegensatz zwischen unvereinbaren göttlichen Forderungen an Agamemnon, und mithin auch kein unentrinnbares Dilemma, wie man es in 205-217 oft ausgesprochen sieht. Dennoch scheint mir unbestreitbar, daß zwischen Zeus und Artemis, wiewohl kein Widerspruch, doch eine gewisse Spannung besteht: Denn einerseits sagt Zeus dem Feldzug günstiges Gelingen zu (wenn er ihn auch nicht fordert), andererseits widersetzt sich Artemis dem Feldzug und tut alles in ihrer Macht Stehende, um Agamemnon womöglich von der Unternehmung abzuhalten. Und wie sonst könnte Zeus einem Feldzug Erfolg verheißen, gegen den sich Artemis auflehnt? 107 hat sich aufgrund seiner Analyse des Zeus-Hymnus dafür ausgesprochen, daß die Zustimmung des Zeus zu diesem Krieg Bestandteil eines σωφρονισμός sei, in dem Zeus und Artemis in vollkommener Übereinstimmung bei dem Versuch zusamNEITZEL

10T

Daß Artemis πτανοΐσιν κύσι πατρός grollt, wird man dagegen nicht überbewerten dürfen. Dieses γρίφος bezeichnet die αίετοί, die ihrerseits für die Atriden stehen. Dies bedeutet aber keineswegs, daß die Atriden die ,Hunde [= treuen Diener] des Zeus' wären. Artemis grollt den Atriden, für die die Adler stehen, wegen der von ihnen angestrebten vollständigen Zerstörung Trojas, nicht so sehr den Adlern wegen der Zerfleischung der trächtigen Häsin. Dies zeigt auch ihre Reaktion: Sie schlägt das Heer der Atriden (132). Daher ist auch X. Cyn. 5,14 (wie FRAENKEL [II 84 Anm. 1] betont) für unser Verständnis des Adlerzeichens wertlos. Die Stelle trägt nichts zum Verständnis der Bedeutung des Adlerzeichens bei, auf die es hier allein ankommt.

2. Die Parados des .Agamemnon'

84

menwirken, Agamemnon von diesem Krieg abzubringen. Darin stünde Zeus - entsprechend dem Zeus-Hymnus (s. 174 f.) - für die Vernunft, Artemis dagegen für das »spontane, unreflektierte Mitgefühl«: 108 Aus diesen Prinzipien ergibt sich mit aller Deutlichkeit, inwiefern man von Zeus, der doch die Vernichtung Trojas ablehnt, sagen kann, er 'sende' die Atriden gegen Troja. Er tut es eben deswegen, weil dies für sein Ziel, den σωφρονισμός Agamemnons, notwendig ist. Denn da die Vernichtung Trojas mit der Opferung Iphigeniens unlösbar verknüpft ist, wird auch Zeus (die Vernunft) sich ihr nicht widersetzen. Er wird also die Vernichtung Trojas 'betreiben' (σπεύδειν), wie Artemis die Opferung Iphigeniens 'betreibt' (σπευδομένα), - nicht weil er sie will, sondern weil hier ein Frevel (die Vernichtung einer ganzen Stadt um einer Frau willen) mit einem anderen Frevel (der Opferung Iphigeniens) schon erkauft ist. Er muß also das, was Agamemnon mit Leidenschaft betreibt (den Krieg), nolens volens 'mit betreiben' (συσπευδειν, vgl. A. fr. 673 M.), oder - wie es in den Persern heißt (742) - αλλ' όταν σπευδη τις αυτός, χώ θεός συνάπτεται. 109 NEITZEL kommt dann im folgenden zu seiner These der völligen Übereinstimmung von Zeus und Artemis in dem Sinne, daß Zeus' Bereich zwar umfassender ist als der der Artemis, ihn aber ganz in sich schließt. 110 Dafür beruft er sich auf E. El. 294 f. ενεστι δ' οίκτος άμαθία μεν ούδαμοΰ, | σοφοΐσι δ' άνδρων (Orest), was er dann auf die Ebene der Götter überträgt. Abgesehen von dem naheliegenden Bedenken, ob man einen bei Euripides ausgesprochenen Gedanken ohne weiteres für die Aischyleische Theologie beanspruchen darf, scheint mir NEITZEL mit seiner theologischen Deutung des Verses weit über das von Orest Gemeinte hinauszugehen. 1 0 8

NEITZEL ( 1 9 7 9 ) 1 5 .

1 0 9

NEITZEL ( 1 9 7 8 ) 4 2 1 .

110

Ibid. 424.

2.4. Zeus und Artemis: Das Adlerzeichen (104-159)

85

Zudem ist im einzelnen schwer zu sehen, was Zeus dazu zwingen konnte, für Agamemnon einen σωφρονισμός zu entwerfen, der »die Vernichtung Trojas mit Iphigenies Opferung unlösbar verknüpft«. Es ist ja keineswegs so, daß Zeus den Krieg, sozusagen im nachhinein, nolens volens mitbetreibt, nachdem ihn Artemis schon unlösbar mit Iphigenies Opferung verknüpft hätte. Vielmehr sagt Zeus durch sein Adlerzeichen dem Feldzug günstiges Gelingen zu, und erst daraufhin setzt Artemis' Reaktion ein, die sich diesem Feldzug widersetzt. Auch heißt es nicht (wie im Falle der Artemis), daß Zeus den Feldzug ,betreibe* (σπεύδει), sondern der Chor sagt, daß Zeus Xenios die Atriden gegen Troja schickt. Die Abschwächung von 61 πέμπει zu derselben Bedeutung wie der von σπεύδει, die NEITZEL vornimmt, ist aber unnötig, da der Ausdruck aus dem Charakter und der Situation des Chors erklärt werden kann, ohne daß man annehmen müßte, damit sei eine bindende Verpflichtung Agamemnons gemeint. 111 Zugleich hat es eine gewisse Berechtigung, daß die Atriden sich auf Zeus Xenios berufen, ξένιος ist freilich nur einer der Aspekte des Zeus, der viele Namen hat (160f.). Dieser Zeus verlangt den Feldzug durchaus nicht; in seiner Funktion als ξένιος jedoch unterstützt er diejenigen, die sich mit Recht auf ihn berufen, und verheißt dem Feldzug Erfolg, weil er sich gegen eine Verletzung des Gastrechts wendet. Hier setzt dann die Tätigkeit der Artemis ein, die die Ausfahrt an Iphigenies Opferung bindet. Denn sie, ihr Bereich ist es, der durch die unverhältnismäßige vollständige Zerstörung Trojas selbst aus im Grundsatz gerechtem Anlaß verletzt wird. Es besteht demnach durchaus ein wichtiger Unterschied zwischen Artemis und Zeus (jedenfalls in seiner Funktion als Xenios) in der Parados, der sich nicht einfach in der verschiedenen Ausdehnung des Bereichs ihrer Wirksamkeit erschöpft. Es handelt sich jedoch ebenfalls nicht um einen unüberbrückbaren Ge-

111

Siehe o. S. 42 f. mit Anm. 37.

86

2. Die Parados des Agamemnon'

gensatz, der zu einem ausweglosen Dilemma Agamemnons führen könnte. Agamemnon steht damit vor einer Entscheidung, der sich jeder gegenüber sieht, der mit dem Gedanken spielt, in einen Krieg einzutreten: vor der Frage nach der „Verhältnismäßigkeit der Mittel". Agamemnon steht vor der Frage, ob der Kriegszweck (62 πολυάνορος άμφί γυναικός), für den er sich mit einem gewissen Recht auf Zeus Xenios berufen kann, die schweren Schattenseiten des Krieges für beide Parteien (63-67), nicht zuletzt aber auch für ihn selbst (153-155), rechtfertigen kann. In die Waagschale des Nein bei dieser Entscheidung muß nicht nur die Tatsache geworfen werden, daß der Gewinn eine Frau von sehr zweifelhaftem Wert wäre, die Götter selbst haben den schweren Stimmstein hineingeworfen, daß Agamemnon zunächst seine Tochter opfern muß, wenn er den Feldzug beginnen will, womit in auch für Agamemnon eindringlicher Weise die Verletzung des artemisischen Bereichs, auf die sein Feldzug hinausläuft, augenfällig wird. In der Situation, in der Agamemnon stehen wird, sobald die Gegenwinde einsetzen und Kalchas das einzige Mittel dagegen preisgegeben hat, stehen also zwei Ansprüche gegeneinander: einerseits der Wille der Atriden (Agamemnons), die von Alexandras erlittene Rechtsverletzung zu ahnden, und andererseits Artemis' Forderung, den Feldzug als unverhältnismäßig aufzugeben, eine Forderung, die sie dadurch unterstreicht, daß sie die Opferung der Tochter des Oberfeldherren zur Bedingung für die Durchführung des Feldzuges macht. Dies sind zwar unvereinbare, keineswegs aber unbedingte Forderungen; vielmehr geht es darum, den möglichen Nutzen und den zu zahlenden Preis bei diesem Kriege sorgfältig gegeneinander abzuwägen. Selbstverständlich soll Aischylos nicht der Gedanke unterstellt werden, jeder Krieg sei abzulehnen. Aischylos war kein Pazifist.

2.5. Der Zeus-Hymnus (160-183)

87

Wohl auch um solchen Irrtümern vorzubeugen, schrieb FRAENK E L 1 1 2 zu Agamemnons Rede 206-217: Der hier spricht, ist der König, der oberste Heerführer, verantwortlich für Leben und Tod vieler Tausende. Nicht Ehrgeiz bestimmt ihn, sondern einfache, unerbittliche Pflicht. Aeschylus, der mit seinem Volke bei Marathon gefochten hatte, durfte erwarten, daß jeder seiner Hörer das verstand. Aber Troja ist nicht Marathon und mit Marathon nicht vergleichbar: Agamemnon kämpft nicht zur Rettung der griechischen Freiheit, sondern für einen privaten Zweck, πολυάνορος άμφί γυναικός (67), 'Ελένης ενεκ(α) (800), γυναικός ουνεκα (823), einen Zweck, der zudem noch in der Tragödie selbst verdächtig gemacht wird. Und er nimmt dafür nicht nur große Opfer bei den Griechen insgesamt in Kauf, sondern auch den Tod seiner eigenen Tochter durch seine eigene Hand.

2.5. Der Zeus-Hymnus in der Parados des Agamemnon' Während der Zuschauer aus Kalchas' Andeutungen und der Chor aus seiner Kenntnis dessen, was vor zehn Jahren geschah, bereits wissen, was mit diesem „widergesetzlichen Opfer ohne Mahl" gemeint ist, was also dem Heer von Artemis droht, werden das Heer und Agamemnon zu dem Zeitpunkt, von dem hier die Rede ist, Kalchas' dunkle Hinweise noch nicht konkret haben deuten können. Sie erfahren deren Bedeutung erst dann, wenn die Gegenwinde tatsächlich gekommen sind und Kalchas schließlich das einzige Mittel verkündet, das gegen die Winde hilft, nachdem andere Mittel nichts gefruchtet haben (199 άλλο μηχαρ). Doch haben sie erfahren, daß Artemis sich gegen den Feldzug wendet und daß sie dessen Durchführung an eine harte Bedingung knüpft, deren Erfüllung Unheil heraufbeschwören muß (146-155). An diesem Punkt unterbricht der Chor seinen Bericht über die Ereignisse vor zehn Jahren, die er erst mit 184 και τόθ' ήγεμών 112

(1957) 334.

88

2. Die Parados des Agamemnon'

ό πρέσβυς κτλ. wiederaufnimmt. Es folgt in der Überlieferung eine Passage, die gewöhnlich als „Zeus-Hymnus" bezeichnet wird (160-183). Die eineinhalb Strophenpaare, die dieser „Hymnus" umfaßt, bereiten größte Schwierigkeiten. Dies gilt nicht nur, und vielleicht nicht einmal in erster Linie, für den Sinn dessen, was dort gesagt wird, sondern vor allem auch für die Bedeutung der Passage in ihrem unmittelbaren Kontext und in der gesamten Tragödie. In der ersten Strophe des Hymnus folgt auf eine Art Anruf des Zeus eine Überlegung zu dessen einzigartiger Bedeutung. Doch wird Zeus hier nicht schlechthin gepriesen, sondern als einziger Bezugspunkt in einer bestimmten Hinsicht eingeführt: εί τό μάταν άπό φροντίδος άχθος | χρή βαλείν ετητύμως (165f.). - Die Antistrophos spricht von Uranos und Kronos, aber nur, um deren Wert für das Abschütteln des erwähnten άχθος zu leugnen: Nur wer sich an Zeus hält, wird ganz und gar φρένες - maßvolles, richtiges und vernünftiges Denken - erlangen (175, vgl. 1052 εσω φρενών). Die zweite Strophe führt diesen letzten Gedanken weiter: Zeus setzt die Menschen auf den Weg des φρονεΐν, τω (so die Überlieferung) πάθει μάθος θέντα κυρίως εχειν (177 f.). Der Rest des Hymnus gehört zu den schwierigsten Passagen der Parodos: Es träuft, heißt es da, eine Mühe, die an Leid erinnert, statt Schlafs (oder im Schlaf) vor dem Herzen: auch zu Unwilligen kommt σωφρονεΐν. Schließlich ist von einer χάρις βίαιος die Rede, die von den Göttern kommt, die auf der erhabenen Bank des Steuermanns sitzen. Diese kurze Paraphrase des Zeus-Hymnus, die natürlich alle wichtigen Probleme zunächst offenläßt, wirft immerhin bereits die Frage auf, wie die Passage sich in den Zusammenhang der Parodos einfügen mag. Vielfach wurde nach der Bedeutung des Zeus-Hymnus für seinen unmittelbaren Kontext gar nicht oder nur am Rande gefragt. Dies gilt namentlich für diejenigen Interpreten, die den Zeus-Hymnus in erster Linie als Zeugnis für Aischylos' Theologie auswer-

2.5. Der Zeus-Hymnus (160-183)

89

ten. 1 1 3 Ähnliches gilt aber auch für diejenigen, die zwar davon überzeugt waren, daß diese Passage für die Geschehnisse in der ,Orestie', und insbesondere für das Schicksal Agamemnons von Bedeutung sei, aber gerade deshalb mit einer nur losen Anbindung an den unmittelbaren Kontext der Stelle glaubten zufrieden sein zu dürfen. 114 Da in der vorliegenden Arbeit versucht werden soll, den Choräußerungen gerade auch vom Charakter und der Situation des Chors her einen Sinn zu geben, ist es unerläßlich, auf die Frage nach der Einbindung der Passage in ihren unmittelbaren Kontext eine Antwort zu suchen. Eine solche Einbindung des Zeus-Hymnus hat sich, wo sie versucht wurde, stets als sehr schwierig erwiesen. DENNISTON-PAGE (83) sahen in dem μάταν άχθος des Chors »the danger which impends over Agamemnon on his return« und berufen sich dafür auf 153-155. Dies kann mich aber nicht überzeugen. Abgesehen davon, daß die alten Argiver noch nicht einmal vom Fall Trojas und daher auch nicht von der bevorstehenden Rückkehr des Königs wissen, 115 ist der Chor noch viel später im Gespräch mit Kassandra (s. z.B. 1130f., 1242-1245) so blind gegenüber der Möglichkeit, Agamemnon könne in Argos Gefahr drohen, daß es schwer zu glauben ist, daß der Chor schon hier an eine Gefahr bei seiner Rückkehr denken könnte.

Etwa: H. LLOYD-JONES: „Zeus bei Aischylos", Wege zu Aischylos I 265-300 (= „Zeus in Aeschylus", JHS 76 [1256] 55-67). - G.M.A. GRUBE: „Zeus bei Aischylus", Wege zu Aischylos I 301-311 (= „Zeus in Aeschylus", AJPh 91 Γ19791 43-51). 114 So etwa FRAENKEL (1931) 369: »Aber der Zusammenhang mit der umgebenden Tragödie scheint allerdings gelockert zu sein« und FRAENKEL II 112-114. »It would be quite wrong to assume that the hymn does not form an organic part of the surrounding narrative [...]. But it is true that the eulogy of Zeus is intended to be valid beyond the limits of any particular situation* und »The hymn is a corner-stone not only of this play but of the whole trilogy« (II114). Ähnlich FERRARI (1938) 379. So auch RD. DAWE: „The place of the hymn to Zeus in Aeschylus' Agamemnon", Eremos 64 (1966) 1-21, hier 3 Anm. 2. 113

90

2. Die Parados des Agamemnon'

R. D. DAWE 116 hat aus der Schwierigkeit, einen konkreten Anlaß für das άχθος des Chors zu finden, die Konsequenz gezogen, den Zeus-Hymnus direkt hinter 217 zu stellen, so daß sich die Reihenfolge (104^159) - (192-217) - (160-191) - (21&-257) für den lyrischen Teil der Parodos ergäbe. L. BERGSON117 hat aber gezeigt, daß seine Argumente nicht zwingend sind und daher die Überlieferung gegen eine Umstellung den Ausschlag geben muß. Der erste Hauptgrund DAWES ist der, daß in 159 der Punkt einer αμηχανία Agamemnons noch nicht erreicht sei, wohl dagegen in 217. BERGSON118 hat dagegen darauf hingewiesen, daß in 217 der Zustand der αμηχανία Agamemnons bereits überwunden sei: Agamemnon hat sich bereits entschieden, seine Tochter zu opfern. Der Hymnus käme daher dort zu spät, um die Wahl Agamemnons zu rechtfertigen. Im Rahmen der hier vorgetragenen Deutung ist es natürlich sinnlos, nach dem Punkt zu suchen, wo Agamemnons αμηχανία erreicht wäre, da eine solche m. E. objektiv nirgendwo besteht. Agamemnon steht vor einer Entscheidung, die ihm nicht leichtfallen kann, aber bei vernünftiger Betrachtung ist klar, daß er sich gegen den Feldzug hätte entscheiden müssen. Ähnliches gilt für DAWEs zweites Hauptargument »that what the king called θέμις in 217 is called δυσσεβή, αναγνον and άνίερον by the Chorus two lines later, without anything intervening to facilitate the transition.« 119 Der Zeus-Hymnus soll dann von θέμις seinen Ausgangspunkt nehmen und diese Aufgabe übernehmen; er soll nach DAWE erklären »that the deed was θέμις and αναγνον etc.«. Wie später (s.u. S. 123-141) gezeigt werden soll, ist die Tat jedoch nicht θέμις, sondern αναγνος etc. Damit aber ergibt sich ein wirksamer Kontrast zwischen dem, was Agamemnon sagt, und der Weise, wie der Chor Agamemnons Tat beurteilt. 116

Ibid. „Der Zeushymnos im >Agamemnon< des Aischylos", Wege zu Aischylos II 186-199 (= „The hymn to Zeus in Aeschylus' Agamemnon", Eranos 65 il9671 12-24).

117

118 ΙΑ9

(1967) 189 f. DAWE (1966) 5; von hier auch das folgende Zitat

2.5. Der Zeus-Hymnus

(160-183)

91

Das übergangslose Aufeinanderprallen von θέμις und αναγνον etc. ist daher nicht nur kein Stein des Anstoßes, sondern vielmehr höchst wirksam, sehr passend und auch aus der Sicht des Chors gut zu verstehen, insofern dieser der Meinung Agamemnons seine eigene Auffassung entgegensetzt. Doch kehren wir zum Zeus-Hymnus selbst zurück. Vielleicht wird eine genauere Untersuchung der einzelnen Strophen zu einer Bestimmung seiner Einbindung in den Kontext führen. Der Sinn des ersten Strophenpaars macht wenig Schwierigkeiten: Zeus, wer auch immer er ist, wenn ihm diese Anrede lieb ist, rede ich ihn damit an; ich kann es auf nichts zurückführen, wenn ich auch alles in Betracht ziehe, außer auf Zeus, wenn es diese nichtige Sorgenlast wirklich abzuschütteln gilt; auch nicht, der vormals groß war, vor unbezwingbarem Kampfesmut strotzend, nicht einmal sprechen wird man von ihm, da er früher war. Der aber danach entstand, ist fort, da er seinen Bezwinger gefunden hat. Wer aber in seinem Siegeslied freudig „Zeus" ruft, wird ganz und gar das Maß der Vernunft treffen; ... Auf die wenigen Schwierigkeiten im einzelnen, die dieses Strophenpaar mit sich bringt, muß hier nicht genauer eingegangen werden. 120 Zu Beginn des Zeus-Hymnus benutzt der Chor eine traditionelle Formel für Gebetsannife (vgl. PI. Cra. 400 e . . . ωσπερ έν ταΐς εύχαΐς νόμος έστίν ήμιν ευχεσθαι, οϊτινές τε και οπόθεν χαίρουσιν ονομαζόμενοι, ταΰτα και ημάς αυτούς όνομάζειν, ώς άλλο μηδέν είδότας) ; inwieweit diese Formel hier eine 120

Zu προσεικάζειν, das ich hier mit .zurückführen' übersetze, s. P.M. On the hymn to Zeus in Aeschylus' Agamemnon, Chico 1980, 8-12. Siehe jetzt BOLLACK-JUDET DE LA COMBE I 216: »Quant à l'acte désigné par προσεικάζειν, il semble qu'il ne désigne pas une simple comparaison, mais une mise en rapport devant aboutir à une identification«. - Ob 165 dotò mit φροντίδος oder mit βαλείν (.Tmesis') zu verbinden ist, ist für den Sinn fast ohne Bedeutung (s. die Kommentare). - 170 ουδέ λεξεται ist Ahrens ' allseits akzeptierte Konjektur für ουδέν (+ τι Tr) λεξαι codd. SMITH:

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2. Die Parados des Agamemnon'

weitergehende Bedeutung - etwa im Sinne einer Wesensbestimmung 121 des Gottes - annimmt, möchte ich nicht näher untersuchen. Nach dem Anruf folgt jedoch weder ein eigentliches Gebet noch eine bloße Lobpreisung; vielmehr stellt der Chor Betrachtungen an. - 165 bieten die Handschriften (außer Tr, der hier wohl metri gratia - γε konjiziert hat) τόδε μάταν ... άχθος; dies ist zwar metrisch unmöglich, was Pauws Emendation tò für τόδε sehr wahrscheinlich macht, doch kann sich in τόδε sehr wohl eine korrekte Glosse zu το verbergen, das - zumal in einer lyrischen Partie - den Wert eines Demonstrativpronomens haben kann. 122 Was mit το άχθος gemeint ist, läßt sich nur aus dem Kontext entscheiden (s.u.). Die Antistrophos führt uns die „Genealogie" des Zeus vor und spricht zunächst von Uranos (168), dann von Kronos 123 (171). Die Genealogie ist aber nicht um ihrer selbst willen eingeführt, sondern eng sowohl mit der vorangehenden Strophe als auch mit der nachfolgenden Aussage über Zeus (174 f.) verbunden, die dann ihrerseits zur Strophe γ überleitet: Wenn man το μάταν άχθος (was auch immer dies sein mag, s.u. S. 103-107) abschütteln will, muß man sich an Zeus halten, nicht an Uranos oder Kronos, deren Macht vergangen ist: Zeus allein hält die Geschicke jetzt in der Hand: Vernünftiges, nicht durch μάταν άχθος sinnlos belastetes Denken erreicht nur der, der sich an Zeus hält (174f.). Die Schwierigkeiten häufen sich in der zweiten Strophe des Zeus-Hymnus (στρ. γ). Hier hängt viel vom Verständnis von 177 f. τω (τον Schütz) πάθει μάθος θέντα κυρίως έχειν ab und nicht weniger davon, wie man 182 f. δαιμόνων δέ που (FTr : δέ που MV) χάρις βίαιος (Turnebus : βιαίως MVFTr) σέλμα σεμvòv ήμένων versteht. In 182 f. haben die Handschriften an den beiden Stellen, wo man über die richtige Lesung zweifelt (182 δέ που FTr vs. δέ που MV - βίαιος Turnebus vs. βιαίως codd.), keinerlei Autorität für 121

So etwa FRAENKEL II 100 u.a. Darauf weist P.M. SMITH (1980) 15f. hin. 123 ·ρ Γ °* (od 168: κρόνος, ad 171: ίσως τον Τυφώνα λέγει und η τους Τιτάνας λέγει) und Μ°* (ad 171: ò Τυφώς) unterliegen hier einem Irrtum. 122

2.5. Der Zeus-Hymnus (160-183)

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die von Aischylos beabsichtigte Prosodie und damit Bedeutung. Um von Akzentzeichen zu schweigen, muß damit gerechnet werden, daß Aischylos in altattischem Alphabet geschrieben haben könnte, 124 in dem βίαιος und βιαίως ununterschieden in ΒΙΑΙΟΣ zusammenfielen. Daß - wie POPE1^5 gegen Turnebus' Konjektur anführt - Fälle von ω statt o dort selten sind, wo eine Verschiebung des (für die späteren Schreiber exspiratorischen) Akzentes die Folge wäre, scheint zwar eine statistische Grundlage zu haben, darf aber im Einzelfall nur dort als Argument gelten, wo der vermutete Fehler mit Wahrscheinlichkeit der nachalexandrinischen Zeit zuzuschreiben ist. Denn sollte Aischylos in altattischem Alphabet geschrieben haben, so ist die Beobachtung für all diejenigen Stellen ohne Belang, wo man schon den Alexandrinern keine sichere Entscheidung zwischen ω und o aufgrund der Syntax zutrauen kann. Aber auch in syntaktisch eindeutigen Fällen kommt falsches ω vor: So ist etwa 477 das klar falsche έτητύμως überliefert, obwohl hier sowohl die Alexandriner hätten ΕΤΗΤΥΜΟΣ herstellen als auch die späteren Schreiber durch die Akzentverschiebung vor einem Fehler bewahrt werden können (έτήτυμος vs. έτητύμως). Daß ferner mit δαίμονες nicht die olympischen Götter im Gegensatz zu den früheren Göttern gemeint sein könnten, da das Wort nicht hinreichend bestimmt sei, 120 leuchtet mir nicht ein; es ist klar genug, wer jetzt, nach Zeus' Sieg (171-175), die δαίμονες 124

Anders, doch ohne überzeugende Gründe, P. MAZON: Eschyle, texte établi et trad, par P. Mazon, Paris 5,4 1949 [MAZON], I p. IX: »L'alphabet employé était l'alphabet ionien« (s. auch A . LESKY: Die tragische Dichtung der Hellenen, Göttingen 31972, 71); seine Anm. 1 (ibid.) zeigt vielmehr, daß sichere Rückschlüsse unmöglich sind. Die Verwendung des offiziellen (altattischen) Alphabets in dem vom Dichter einzureichenden Exemplar eines für den Staatskult bestimmten Texts ist m.E. keineswegs auszuschließen, auch wenn das ionische Alphabet schon vor seiner offiziellen Einführung teilweise in Gebrauch war. Sicherheit ist in diesem Punkt nicht zu erreichen. 1 2 5 M . POPE: „Merciful heavens? A question in Aeschylus' Agamemnon", JHS 94 (1974) 100-113, hier 103 f. 120 So POPE (1974) 105.

94

2. Die Parados des Agamemnon'

σέλμα οεμνον ημενοι sind. Zu POPEs Verständnis von 182 f. als (rhetorischer) Frage (mit der Akzentsetzung von MV) und seiner daraus folgenden „pessimistischen" Interpretation des Zeus-Hymnus möchte ich nicht ausführlicher werden: 127 Die argivischen Greise reden sonst von Zeus nicht als einem Willkürgott, sondern sehen in ihm den Garanten des Rechts (s. etwa 362-380), und es ist nicht leicht einzusehen, wie eine „pessimistische" Theologie, ein solcher Zeus, den Alten helfen könnte, sich von ihrem μάταν άχθος zu befreien. Der erste Teil der Strophe enthält die berühmte Formulierung πάθει μάθος, die LESKY zum »Leitwort der aischyleischen Tragödie« 128 erklärt hat: »Auf die Tat folgt das Leid, auf das Leid aber die Einsicht: πάθει μάθος (Durch Leiden lernen).«12® Der Äußerung liegt die Überzeugung zugrunde, daß der Chor im Sinne des Dichters gültige und wahre Ansichten verkündet, die man daher als Schlüssel für die Bedeutung der gesamten Tragödie und der Trilogie nehmen dürfe. Versteht man aber „Durch Leiden lernen" als „Leitwort" und wendet es auf die Hauptgestalten der ,Orestie' an, so ergeben sich ernsthafte Probleme, worauf LLOYDJONES hingewiesen hat: »Aber die faktischen Opfer dieses Gesetzes in der ,Orestie', Agamemnon, Klytaimestra und Aigisth, können diese Behauptung kaum stützen. Sie werden nicht geläutert oder veredelt; sie werden einfach getötet; und das jenseitige Leben, das sie erwartet, gibt ihnen nicht die Möglichkeit zu einer moralischen Weiterentwicklung.«130 127

Überzeugende Einwände gegen POPES Textherstellung (der jetzt auch folgt) und Deutung bei N . B . BOOTH: „Zeus Hypsistos Megistos: An argument for enclitic που in Aeschylus, Agamemnon 182", CQ n.s. 26 (1976) 220-228.

WEST

1 2 8

129

LESKY ( 1 9 7 2 )

163.

Ibid. 164.

( 1 9 5 6 ) 2 8 5 f. Ähnlich DENNISTON-PAGE 8 5 f.: »It would be difficult to find in his [sc. Aischylos'] plays any clear evidence of any such doctrine, and quite impossible to apply it to the case of Agamemnon. Agamemnon's sufferings are indeed clear enough. [...] His μάθος, on the other hand, what he learns from all this, is hard to see.«

1 3 0

LLOYD-JONES

2.5. Der Zern-Hymnus

(160-183)

95

Solange man unter dem πάθος Agamemnons in erster Linie seinen Tod in Argos versteht, ist in der Tat kaum zu sehen, was er daraus gelernt haben könnte. V. Dl BENEDETTO 1 3 1 hat daher vorgeschlagen, das πάθος Agamemnons nicht in seinem Tode zu sehen, sondern in dem μνησιπημων πόνος (180), der sich seiner Auffassung nach für Agamemnon aus der Opferung seiner Tochter ergibt. Ausgehend von seiner fast uneingeschränkt positiven („fraenkel'schen") Beurteilung Agamemnons, die er aus der Analyse seines Auftritts auf der Bühne gewinnt, sieht er Agamemnons μάθος in einer trasformazione von παρακοπά (follia) zu σωφροσύνη (saggezza), die er zwischen seiner Tat in Aulis und seinem Erscheinen auf der Bühne in der sogenannten „Teppichszene" erlitten habe. In der Behandlung dieser Szene (s. u. S. 199-246) hoffe ich dagegen zeigen zu können, daß Agamemnons Verhalten in Aulis und in Argos aus einer einheitlichen charakterlichen Disposition verstanden werden muß und Agamemnon in verschiedenen Situationen zwar verschieden reagiert, dabei aber keine Umformung seiner Persönlichkeit erleidet. Dl BENEDETTOS Deutung des Sinns von πάθει μάθος und der gesamten Strophe überzeugt mich aber vor allem auch deshalb nicht, weil Agamemnon später nirgendwo zu erkennen gibt, daß er aus seiner Tat in Aulis irgendwelche Lehren gezogen hätte. Das Verhältnis zwischen παθεΐν und μαθεΐν in der griechischen Literatur wurde ausführlich von H . D Ö R R I E 1 3 2 untersucht. Schon Μ σ χ hatte die Formulierung πάθει μάθος mit der „Parallelstelle" Hes. Op. 218 παθών δέ τε νήπιος εγνω versehen. D Ö R R I E hat diejenigen Stellen in der erhaltenen griechischen Literatur bis

1 3 1

V. DI BENEDETTO: L'ideologia del potere e la tragedia greca. Ricerche su Eschilo, Torino 1978,154-165; s. bes. 154-156 und 164 f. 1 3 3 Η. DÖRRIE: „Leid und Erfahrung. Die Wort- und Sinnverbindung παθεϊν-μαθεΐν im griechischen Denken", AAWM (1956/5) 303-344 (hier zitiert nach den Seitenzahlen der Abhandlung 1-42).

96

2. Die Parados des Agamemnon'

zum vierten Jahrhundert v. Chr. 1 3 3 gesammelt und besprochen, an denen Gedanken über den Zusammenhang zwischen Leid und Erfahrung geäußert werden. Das Material aus der frühgriechischen Literatur 13,4 erscheint in folgender Weise geordnet: A. Das alte Sprichwort: Durch Schaden wird man klug; B. Leid ist die eindringlichste Belehrung; C. Strafe und Einsicht bei Aischylos. Im Rahmen dieser Anordnung sucht DÖRRIE zu erweisen, daß die Verbindung von Leid und Erfahrung im Laufe der geistesgeschichtlichen Entwicklung sehr verschieden aufgefaßt wurde: Zunächst (Kapitel A.) habe eine „utilitaristische Fragestellung" vorgeherrscht: »Wer seinen Vorteil nicht rechtzeitig sieht, dem geschieht recht, wenn er draufzahlt; Dummheit muß bestraft werden.« 1 3 5 D. h. wer nicht vorher Einsicht hat, wird erst aus Schaden klug - was man vermeiden sollte. Solche Gedanken finden sich in der Ilias (P 32 = Y 198 ρεχθέν δέ τε νηπιος εγνω), bei Hesiod {Op. 218, s.o.), etwas abgewandelt bei Pindar (O. 8,60 αγνωμον δε το μη προμαθεϊν); in Piatons .Symposion' (222 b 4-7), wo der Gedanke ins Ironische gewendet ist, wird die Hesiod-Stelle als sprichwörtlich bezeichnet. - Die wichtigsten Stellen, die DÖRRIE in seinem Kapitel B. »Leid ist die eindringlichste Belehrung« anführt, sind Hdt. 1,207, E. Ale. 145 und S. Tr. 141-143. DÖRRIE sieht u. a. darin, daß hier nunmehr auch von seelischem Leid explizit die Rede ist, eine Fortentwicklung und Vertiefung des Verständnisses vom Zusammenhang von Leid und Erfahrung: Es hängt mit der Entdeckung der Persönlichkeit zusammen, wenn man jetzt dessen inne wird, daß die tief wirkenden πάθη persönliches Erleben des Betrof133

Auch den späteren Zeugnissen konnte er eine Beilage widmen, die das verfügbare Material nennt und einige wichtige Zeugnisse exemplarisch bespricht {ibid.. 38-41). 134 Sein Kapitel D »Das 4. Jahrhundert: πάθος als vernunftwidriger Aspekt der Seele« kann für den hier verfolgten Zweck außer Betracht bleiben. 135 DÖRRIE (1956) 36.

2.5. Der Zeus-Hymnus

(160-183)

97

fenen sind: Was ihm widerfährt, kann er nicht weitergeben und nicht lehren. 136 Bei Aischylos (Kapitel C. »Strafe und Einsicht bei Aischylos«) ist nach DÖRRIE dann die letzte und höchste Stufe dieser Entwicklung erreicht: Nur die Tragödie, genau genommen nur Aischylos, hat darüber hinaus den Gedanken gefaßt, daß eine höchste Macht den Menschen durch Leiden etwas lehren will. 137 Diese Auffassung gewinnt DÖRRIE vor allem am Zeus-Hymnus des Agamemnon' und an den Worten des Chors gegen Ende der Parodos (248-250): Das Ziel ist: der Mensch kommt zum σωφρονεΐν die lehrende Wirkung des Leides ist so nachhaltig, daß es die Haltung des Menschen zu ändern vermag. 1 3 8 Da die Hybris sonst unbelehrbar ist, weil sie auf einer „Lähmung der Verstandeskräfte" beruht, ist Leid (Strafe) sogar die einzige Möglichkeit, den υβριστής zur Einsicht zu bringen: Ist nun diese Kraft des Erkennens gelähmt, wirkt kein Rat, keine Mahnung mehr, so hat Zeus das letzte Mittel in der Hand, den υβριστής nun gegen seinen Willen erkennen zu lassen, was σωφροσύνη ist. So kommt dem παρ' ακοντας 180/1 eine wichtige Funktion zu, wenn es gilt, diese Zusammenhänge klarzulegen: Das Leid belehrt selbst den, der sich gegen die Belehrung sträubt. 139 Dies soll, wie DÖRRIE ausdrücklich sagt, 1 4 0 sowohl für Agamemnon als auch für Klytaimestra gelten. Auf die Schwierigkeiten, die mit dem Konzept einer Belehrung als moralischer Besserung verbunden sind, wurde oben (S. 94) bereits hingewiesen. 136 137

Ibid. Ibid.

138

Ibid. 23.

139

Ibid. 24.

140

Ibid. 25.

98

2. Die Parados des Agamemnon'

Bei DÖRRIE stellt sich also die Geschichte der gedanklichen Verbindung von Leid und Erfahrung als eine fortschreitende Vertiefung, angefangen von der „utilitaristischen" Auffassung „Durch Schaden wird man klug" bis hin zur Einsicht „Eine höhere Macht lehrt den Menschen durch Leid σωφροσύνη" dar, eine Entwicklung, die bei Aischylos ihren Gipfel und (vorläufigen) Abschluß finde. Schon dies paßt nicht ganz in die DÖRREEs Auffassung zugrundeliegende geistesgeschichtliche Konzeption: Die nachaischyleische Tragödie ist offenbar wieder in einen weniger tiefen Gedanken zurückgefallen. DÖRRIEs Formulierung »Nur die Tragödie, genau genommen nur Aischylos [...]« macht auf die Verlegenheit in diesem Punkt aufmerksam: Von Aischylos zu Sophokles und Euripides hat offenbar keine Vertiefung, sondern eine gewisse Verflachung des Gedankens stattgefunden! In mancher Hinsicht beweist DÖRRIEs wertvolle Sammlung das Gegenteil dessen, was sie beweisen soll. Sehen wir uns die Zeugnisse an, die er in seinem Kapitel B. anführt: Hier ist zunächst zuzugeben, daß es sich in der Tat um seelisches, nicht um körperliches Leid handelt (namentlich in E. Ale. 145 und S. Tr. 141-143); dabei ist auch zu bedenken, daß die hier betroffenen Personen ihr Leid überlebt haben. Sonst aber ist der Gedankengang dem bei Hes. Op. 218 f. ausgedrückten sehr ähnlich, und der Kernpunkt der Aussage scheint in allen drei Fällen nicht der zu sein, daß die Belehrung durch Leid besonders eindringlich wäre. In Hdt. 1,207 erhält Kroisos' Ratschlag gewiß auch deshalb Gewicht, weil er die Erfahrung am eigenen Leibe gemacht hat und es daher wissen muß. Er hat sein Leid überlebt und ist daher selbst durch eigenen Schaden klug geworden. Der entscheidende Punkt ist aber eher der, daß Kyros eben nicht wie er selbst, Kroisos - erst durch παθήματα lernen, sondern vorher, nicht erst durch Schaden, klug werden soll. Dies ist nicht explizit gesagt - Kroisos kann dem Großkönig kaum ins Gesicht sagen, er sei νήπιος, wenn er seinem Ratschlag nicht folge - , aber der Tenor der ganzen Passage ist der, daß Kyros durch Kroisos' Beispiel eines Menschen, der erst durch Schaden klug

2.5. Der Zeus-Hymnus (160-183)

99

wurde, vor diesem Fehler bewahrt werden soll. Damit hat das Leid, wenn man will, eine positive Funktion gewonnen - aber nicht für den, der gelitten hat, sondern fiir die anderen, die sein Beispiel sehen und es sich als Warnung dienen lassen. Diese Funktion hatte aber schon Hesiods Dike-Paränese. Der Unterschied liegt darin, daß Kroisos nun selbst klug geworden ist und anderen etwas raten kann; für ihn ist diese Klugheit aber ohne Belang, er hat nichts mehr zu entscheiden, wobei ihm diese Klugheit etwas nützen könnte. Deutlicher noch ist die Stelle in der Euripideischen ,Alkestis'. Hier geht es gar nicht um besonders eindringliche Belehrung, sondern um die (zu späte) Einsicht, daß man etwas falsch gemacht hat. Als eine Dienerin dem Chor berichtet, daß Alkestis für ihren Mann im Sterben liegt, sagt der Chorführer über Admet: ώ τλημον, οίας οίος ών άμαρτάνεις. Und darauf die Dienerin: οΰπω τόδ' οΐδε δεσπότης, πριν αν πάθη. Admet weiß also noch gar nicht, welchen Verlust er erleidet, sondern erst wenn er ihn erlitten hat, wird ihm aufgehen, was er da zugelassen hat. Zu spät merkt er, daß der Verlust seiner Frau ihm jede Freude am Leben genommen hat - παθών εγνω (vgl. Ale. 940 αρτι μανθάνω): Die Art des Leidens ist wohl eine andere, das Verhältnis zwischen Leiden und Einsicht aber ist dasselbe wie bei Hesiod. Nicht hierher gehört die genannte Stelle aus den .Trachinierinnen'. Deianeira wünscht dem Chor, niemals leidvoll erfahren zu müssen, wie sehr sie von seelischem Leid geplagt wird (142 ώς εγώ θυμοφθορώ). Hier ist zwar vorausgesetzt, daß sich die Stärke seelischen Leides nur durch eigene Erfahrung wirklich lernen lasse. Sonst wird hier durch Leid aber nichts gelernt - nur das Leid selbst. Es geht also nicht darum, daß man durch Leid irgendetwas anderes besonders eindringlich lernt. Diese Art von „Lernen" liegt auf einer ganz anderen Ebene. In den von DÖRRIE angeführten Stellen geht es nahme der letzten - stets um den Gedanken, durch die leidvolle Erfahrung der Konsequenzen zu der Einsicht gelangt, etwas falsch gemacht

also - mit Ausdaß ein Mensch seines Handelns zu haben. Diese

100

2. Die Parados des Agamemnon'

Einsicht kommt für ihn zu spät, da er nicht zur rechten Zeit klug war. Dies ist im Kern der Hesiodeische Gedanke. Zwar macht es einen Unterschied, ob der Leidende sein Leiden überlebt und eventuell die unliebsame Erfahrung später noch nutzen kann, oder aber das Leiden, mit dem die Einsicht kommt, zum Tode führt. In den von DÖRRIE angeführten Stellen jedoch nützt den Leidenden das Leid trotz ihres Überlebens nichts, ihre Einsicht kommt für sie selbst zu spät. Eine Aischyleische Lehre, daß »die lehrende Wirkung des Leides [...] so nachhaltig [sei], daß es die Haltung des Menschen zu ändern vermag«, 141 und daß auf diese, ja nur auf diese Weise der ύβριστής im Sinne einer moralischen Besserung zur Einsicht zu bringen sei, läßt sich daher m. E. weder in eine Entwicklung wie die von D Ö R R I E skizzierte einordnen, noch wäre sie auf die zentralen Gestalten der .Orestie' anwendbar, deren moralische Besserung im Augenblick der Einsicht durch ihren Tod verhindert wird. Es scheint mir daher aussichtsreicher, die Formulierung πάθει μάθος unmittelbar auf der Grundlage des verbreiteten Gedankens der „zu späten Einsicht" zu verstehen zu suchen, der bei Homer und Hesiod prägnanten Ausdruck gefunden hat.1"43 Dabei scheint mir für den Zeus-Hymnus besonders wichtig, daß 1. Zeus es ist, der dem Zusammenhang zwischen Leid und Lernen Gültigkeit verleiht und 2. dieser Gedanke dem Chor irgendwie Beruhigung und Erleichterung, Befreiung von seinem μάταν άχθος verschaffen muß.

(1956) 23. Den Zusammenhang zwischen dem Sprichwort „Accepto malo stultus sapit" und dem tragischen Fehlveihalten beleuchtet A. SPIRA: „Angst und Hoffnung in der Antike", ΑΙΝΙΓΜΑ. Festschrift für Helmut Rahn, hrsg. v. F. R. Varwig, Heidelberg 1987, 129-181; s. bes. 146-159 (zur Tragödie, besonders zu den ,Trachinierinnen' und zu den .Persern').

1 4 1

142

DÖRRIE

2.5. Der Zeus-Hymnus

(160-183)

101

Für den Zeus-Hymnus hatte, wie erwähnt, schon Μ σ χ Hes. Op. 218 zum Vergleich herangezogen. 143 DENNISTON-PAGE (ad 184 ff.) wandten sich dagegen, in 176-178 mehr zu sehen als eine Zurechtweisung durch Strafe. NEITZEL144 hat gezeigt, daß die Verbindung zur Hesiodeischen Dike-Paränese hier viel enger ist als bisher angenommen. Zeus setzt die Menschen auf den Weg des vernünftigen Denkens, den Weg des Rechts, des θνητά φρονεΐν oder (σω)φρονεΐν. Schlagen sie aber diesen Weg nicht freiwillig ein, so kommt das σωφρονεΐν in Gestalt der Strafe und der mit ihr verbundenen zu späten Einsicht zu ihnen. Leid ist also hier nicht etwa die einzige oder auch nur beste Möglichkeit, zum σωφρονεΐν zu kommen, sondern nur die einzige, die übrigbleibt, wenn der Mensch sich von sich aus dem σωφρονεΐν verschließt. NEITZEL kann mit dieser Deutung die Lesart der Handschriften in 177 (ιφ πάθει) verteidigen, indem er vorschlägt, τω πάθει instrumental zu verstehen; das Gesetz des Zeus würde dann nicht „πάθει μάθος", sondern „μάθος" lauten, „du sollst lernen": Von dem Übertreter kann man nämlich sagen: τον Διός θεσμόν ά-κυροΐ, er setzt das Gesetz des Zeus („du sollst lernen bzw. denken, φρονεΐν, σωφρονεΐν") außer Kraft, denn er „denkt" (bzw. „lernt") ja nicht. Zeus aber setzt sein Gesetz wieder in Kraft (εθηκε τον θεσμόν, d.h. το μάθος, κυρίως εχειν) durch das Leid, d.h. den Tod des Frevlers. Durch den Tod erfährt (lernt) dieser also mit Gewalt, gegen seinen Willen seine Sterblichkeit, seine Grenzen als Mensch. Dieses Lernen (μάθος) kann, wie man leicht sieht, nicht von der Art sein, daß der Sterbliche eine Einsicht gewinnt, die es ihm gestattet, sein künftiges Leben ohne Schaden zu verbringen, denn eben diese Einsicht hat er gerade verschmäht: er wollte ja nicht „lernen". Folglich wird die „Einsicht", die nun zu ihm

143

Stellen verwandten Inhalts wie Ρ 32 oder auch Hes. Op. 96 a a werden auch sonst von den Scholiasten an geeigneten Stellen angeführt, s. z.B. αχ. Th. 3,45,1 (p. 193 H.); Näheres bei SPIRA (1987) 143 Anm. 14. 144 (1980).

102

2. Die Parados des Agamemnon'

kommt, identisch sein mit seinem Leid, seinem ungewollten gewaltsamen Tod. 1-45 Damit wäre das Leid nicht der einzige oder eindringlichste Weg, der dem Menschen offensteht, sondern nur der Weg, den er nach dem Gesetz des Zeus notwendigerweise einschlägt, falls er sich dem anderen Weg, dem des φρσνεΐν und der Δίκη, verschließt (vgl. Hes. Op. 217 f.). Diese syntaktische Trennung von πάθει und μάθος ist zweifellos ungewohnt.1"46 N E I T Z E L S Deutung hat aber den Vorteil, daß sie weder zu Schütz' Konjektur IQÜ πάθει κτλ. noch zu FRAENKELS (α. I.) schwieriger Erklärung »through (or by the means of) the πάθος appropriate to any given μάθος« greifen muß.1-4-7 Zudem ergibt sich so eine klare, in ähnlicher Form auch sonst belegte Gedankenführung: Zeus bringt die Menschen (als Garant der Dike) auf den Weg zu maßvollem, vernünftigem Denken, indem er dem von den Menschen verlangten μάθος durch πάθος Geltung verleiht. bezieht 1 7 9 f. auf den Chor und läßt die ganze Passage auf Agamemnon gemünzt sein, der Iphigenie geopfert und damit den Weg der σωφροσύνη verlassen habe. Danach sorgen und ängstigen sich die Alten über den Frevel, den Agamemnon damit begangen hat, weil sie wissen, daß και παρ' ακοντας ήλθε σωφρονεΐν und damit für Agamemnon der Tod als Strafe zu befürchten steht. Der Auffassung, daß es in diesem Kontext nur NEITZEL

NEITZEL (1980) 287. Ähnlich Ε. Hipp. 730 f.: Phaidra hat gerade ihren Freitod angekündigt und gedroht, sie werde „einen anderen" in ihr Unglück mitreißen. Dann schließt sie mit den Worten: της νόσου δέ τησδέ μοι | κοινή μετάσχων σωφρονεΐν μαθήσεται. Hippolytos soll also, so meint es Phaidra, im Tode σωφρονεΐν „lernen". 140 So hat sie auch BOLLACK-JUDET DE L A COMBE I 226 befremdet Es gibt aber keinen Grund, die übliche, auch bei NEITZEL vorausgesetzte Bedeutung von κυρίως εχειν zu bestreiten; s. FRAENKEL A. I. 147 Die Beispiele bei KÜHNER-GERTH I 593,2 - auf die FRAENKEL verweist führen für diesen Gebrauch des Artikels ausschließlich vollständige Sätze an, in denen die Bedeutung entweder durch eine Form von έκαστος o.ä. gestützt wird, oder aber aus dem Kontext leicht zu erschließen ist. In einer so gedrängten Formel aber wäre er wohl kaum verständlich. 1 4 5

2.5. Der Zeus-Hymnus

(160-183)

103

Agamemnon sein kann, der durch diese χάρις βίαιος (182) zur Vernunft gebracht werden soll, sind fast alle Interpreten. Tatsächlich paßt der Fall, der im Zeus-Hymnus beschrieben ist, objektiv sehr gut auf Agamemnon, von dessen Tat dann unmittelbar darauf die Rede ist; dies soll hier nicht geleugnet werden. NEITZEL (1978) hat den Bezug des Hymnus auf Agamemnon dadurch erhärtet, daß er in der Beurteilung der Opferung Iphigenies durch den Chor (219-223) sehr exakte Entsprechungen in Gegenbegriffen zu den Kategorien der στρ. γ des Zeus-Hymnus (176-183) nachwies. Insbesondere kontrastieren 221 το παντότολμον φρονεΐν μετέγνω und 222 f. αίοχρόμητις τάλαινα παρακοπά πρωτοπήμων mit 176 f. τον φρονεΐν βροτούς όδώσαντα, 180 f. και παρ' ακοντας ήλθε σωφρσνεΐν und μνησιπήμων πόνος. NEITZEL schließt daraus: Der Hymnus vermittelt dem Zuhörer also die Kriterien, mit deren Hilfe er Agamemnons Entscheidung, auf die ja der Chor sofort nach dem Hymnus zusteuert, beurteilen kann. Dies geht daraus hervor, daß sämtliche Begriffe, mit denen die Alten Agamemnons Entscheidung in 218-227 kritisieren, aus dem ZeusHymnus stammen [.. J. 1 " 48 . Es scheint also klar, daß die Kategorien, die der Chor im ZeusHymnus entwickelt, auf Agamemnon sehr gut zutreffen. Diese Übereinstimmungen können kaum zufällig sein. Daraus folgt aber nicht, daß auch der Chor selbst bei seinen Betrachtungen an Agamemnon denkt. Vielmehr gibt es gewichtige Gründe, die dagegen stehen: So widerspricht eine solche Auffassung der Ankündigung des Chors, seine Betrachtung über Zeus - und sie allein könne ihn dazu führen, το μάταν άχθος von sich abzuschütteln. Sollte jetzt der Chor diese Sorgenlast stattdessen noch verschärfen, indem er sie durch eine theologische Betrachtung sorgfältig begründet und untermauert? Dies wäre nicht nur das Gegenteil dessen, was der Chor angekündigt hatte, es wäre für diesen Chor auch wenig typisch. Gewiß, der Chor wird im Zusammenhang mit 1 4 8

NEITZEL ( 1 9 7 8 ) 4 1 5 .

104

2. Die Parodos des .Agamemnon'

Iphigenies Opferung mit Kritik an Agamemnon nicht sparen; er ist der Meinung, daß Agamemnon falsch gehandelt hat und nicht bei Sinnen gewesen sein kann, als er seine Tochter opferte. Doch spricht er niemals so offen und sicher die Auffassung aus, Agamemnon könne zu Tode kommen, gar noch als Strafe für einen Frevel. Wo der Chor überhaupt davon spricht, Agamemnon könnte zu Schaden kommen, hält er sich in zurückhaltenden Umschreibungen (461 f., 468-470, 995-1000, 1018-1021). Das geht so weit, daß er in der Kassandra-Szene nicht einmal versteht (oder verstehen will), daß die Seherin von Agamemnons Tod spricht; als er verstehen muß (1246 f.), will er Kassandra zum Schweigen bringen. Noch kurz vor Agamemnons Todesschreien wehrt der Chor halb unwillig, halb ungläubig den Gedanken ab, Agamemnon könne zu Tode kommen: Die Götter haben ihm gegeben, Troja zu zerstören, von den Göttern geehrt kommt er zurück; wenn er jetzt sterben muß, wer kann sich dann noch rühmen, mit einem glücklichen Geschick geboren zu sein (s.u. S. 349-358)? - Daß derselbe Chor in der Parodos Agamemnon als Frevler sehen soll, zu dem das σωφρονεΐν in Gestalt einer gerechten Strafe kommen wird, daß derselbe Chor sich von einer solchen Betrachtung Befreiung von seiner Sorgenlast versprechen soll, kann ich nicht glauben. In der schwierigen Frage nach dem konkreten Bezug der zweiten Strophe des Zeus-Hymnus (στρ. γ) gelingt es mir nicht, Sicherheit zu erlangen. Doch scheint mir aus den erwähnten Gründen, daß seine Einordnung in den Kontext besser verständlich ist, wenn man ihn nicht auf Agamemnon bezieht. Ich neige daher GAGARINS und P. M. SMITHS 1 4 9 Auffassung zu, daß der Passus jedenfalls im Sinne des Chors - nicht auf Agamemnon, sondern auf Paris und die Trojaner zu beziehen sei. Die Argumente, die dafür sprechen, sollen kurz zusammengefaßt werden:

M. GAGARIN: Aeschylean drama, Berkeley - Los Angeles - London 1976, 139f. - P.M. SMITH (1980), 27.

1 4 9

2.5. Der Zeus-Hymnus

(160-183)

105

Der gesamte erste Teil der Tragödie bis zum zweiten Stasimon einschließlich ist, was den Chor betrifft, von der Frage nach dem Ausgang des Feldzuges und dem Fall Trojas bestimmt. Die Parodos macht hier keine Ausnahme. So sehr sie (wie immer) dazu dient, dem Zuschauer das nötige Wissen zum Verständnis der Bühnenhandlung zu vermitteln, ist doch das, was der Chor hier sagt, auch von seiner Maske her ausreichend motiviert. Gegen Ende der Eingangsanapäste des Chors (83-103) fällt diesem auf, daß auf allen Altären - offenbar auf Befehl Klytaimestras - Opferfeuer brennen. Dies löst in ihm Unruhe und Ratlosigkeit aus (85-87 τί χρέος; τί νέον; τί δ' έπαισθομένη ... θυοσκεΐς;). Der Chor rechnet mit einer Nachricht (86 αγγελίας), die Klytaimestra erhalten haben muß und die sie zu den Opfern veranlaßt. Es liegt nahe, an eine Nachricht über den Stand der Dinge in Troja zu denken. Der Zuschauer weiß bereits aus dem Prolog von der Art der Nachricht und ihrer Bedeutung. Der Chor dagegen ist darüber noch im unklaren. Er bittet daher Klytaimestra um Aufklärung und damit Stillung seiner Unruhe (90: „Heilerin dieser Sorge" zu werden), die .jetzt" (= „so wie die Dinge stehen", also beim gegenwärtigen Informationsstand des Chors) bald κακόφρων ist (»proves laden with thoughts of ill«, in FRAENKELS Übersetzung), bald (Anakoluth) „wehrt eine Hoffnung aufgrund der Opfer ... die unersättliche Sorge (102 φροντίδ' άπληστον) ab". Auf den schwierigen und wohl verderbten Vers 103 soll hier nicht näher eingegangen werden; soviel scheint aber klar, daß hier von einem starken seelischen Leid des Chores die Rede ist, das wohl in Apposition zu 102 φροντίδ(α) steht. Da der Chor von Klytaimestra keine Antwort auf seine Fragen erhält, 150 wird diese Sorge zum Ausgangspunkt für die folgende Betrachtung über die Ausfahrt des Heeres. Dies scheint mir darauf hinzudeuten, daß die Sorge, von der der Chor spricht, als er die Opfer sieht, sich auf den Feldzug und seinen Ausgang belso

Zur Frage nach der Präsenz Klytaimestras auf der Bühne s. FRAENKEL II 51 f. und TAPLIN (1977) 280-288.

106

2. Die Parados des Agamemnon'

zieht. Durch die Erinnerung an die Geschehnisse bei der Ausfahrt versichert er sich des glücklichen Ausgangs des Feldzuges. Der einzige Anhaltspunkt, den der Chor nach der Lage der Dinge hat, ist das beim Auszug erschienene und von Kalchas gedeutete Adlerzeichen, von dem der Chor nun ausführlich berichtet. Dieses Zeichen aber hat zwei Seiten (s. 145 u. 156f.); seine ungünstige Seite ist in der Epodos (140-159) in den Vordergrund getreten. Der Chor singt daher - τοΐς ... όμόφωνον (158) - αιλινον αίλινον είπέ, τό δ' ευ νικάτω (159). Die Bedeutung dieses Refrains, der zuvor schon zweimal zu hören war (121 und 139), wird erst hier in vollem Umfang klar: Der Chor bezieht ihn ausdrücklich auf die teils günstige, teils ungünstige Deutung des Zeichens durch Kalchas: „Sag5 ,Weh, weh' (wegen des ungünstigen Teils der Voraussage), doch das Gute (der günstige Teil der Deutung, die Eroberung Trojas) soll siegen!" Dadurch, daß der ungünstige Teil der Voraussage in dem letzten Teil der Deutung, die der Chor uns von Kalchas berichtet, ganz in den Vordergrund getreten ist, ist im Chor aber ein άχθος entstanden, das er wohl deshalb als μάταν bezeichnet, 151 weil er es im Vorgriff auf seine theologische Betrachtung für unfundiert erkennt: Der Chor versichert sich - wenn es richtig ist, 176-183 auf Paris und die Trojaner zu beziehen - durch seine Gedanken über Zeus, daß seine Besorgnis bezüglich des Ausgangs des Feldzuges (s.o.) unbegründet ist: Zeus sorgt dafür, daß der Frevler Paris „zur Vernunft gebracht" wird. Die einzige Möglichkeit, dieFRAENKELS (II 103) Auffassung, μάταν beziehe sich auf eine Leugnung der Macht des Zeus, Uberzeugt mich nicht; denn μάταν, μάταιον α ä. allein kann, wie FRAENKELS eigene Beispiele illustrieren, diese Bedeutung nicht tragen. Ein λόγος μάταιος ist einer mit unzureichender oder falscher Grundlage, ob er nun von der angeblichen Ohnmacht der Griechen oder der Götter oder von etwas anderem handelt Hier aber leugnet niemand die Macht der Götter, und nichts deutet darauf hin, daß μάταν hier auf etwas Ähnliches verweist Am wenigsten aber denkt der Chor daran, die Macht der Götter oder des Zeus zu leugnen; auf ihn muß sich aber εί . . . έτητύμως nach ούκ εχω προσεικάσαι beziehen. Siehe auch DENNISTON-PAGE a.Z.

1 5 1

2.5. Der Zeus-Hymnus (160-183)

107

ses μάταν άχθος von sich zu wälzen, ist also die Bezugnahme auf Zeus, der jetzt die Geschicke lenkt und das Recht garantiert. Nimmt man an, daß die zweite Strophe des Zeus-Hymnus vom Chor als auf Alexandres und die Trojaner bezogen gedacht ist, so wird verständlich, warum es für den Chor eine Befreiung von der Sorgenlast bedeutet, wenn Zeus, der die Menschen auf den Weg des (σω)φρονεϊν setzt, dem μάθος durch πάθος Geltung und Nachdruck verleiht. Das mit μάθος, zu später Einsicht, verbundene πάθος in Form der Zerstörung Trojas, Ergebnis der Tatsache, daß Alexandras nicht freiwillig dem Weg des φρονεΐν gefolgt ist und das Gastrecht geachtet hat, ist dem Chor eine Beruhigung, weil es ihn des günstigen Ausgangs des Feldzuges versichert und so seinem Wunsch το δ' ευ νικάτω sichere Erfüllung verheißt. Daß Troja erobert würde, hatte Kalchas vorausgesagt. Die theologische' Betrachtung versichert den bangen Chor, der durch den ungünstigen Teil des Zeichens in Angst und Zweifel geraten ist, des Erfolgs des Feldzuges: Daß Zeus denjenigen, der nicht freiwillig (σω) φρονεί, auch gegen seinen Willen durch πάθος „zur Vernunft bringt", ist dem Chor eine Erleichterung, befreit ihn von seinem άχθος. Einen ähnlichen Gedanken wie in 177 f. spricht der Chor des .Agamemnon' in den Versen 248-251 aus. Er hat zuvor von Agamemnons Entschluß zur Opferung seiner Tochter und den Vorbereitungen dazu gesprochen. Darauf sagt er: „Was aber danach kam, habe ich nicht gesehen und davon spreche ich nicht; doch Kalchas' Künste bleiben nicht ohne Vollendung. Dike aber wägt im Leiden Einsicht zu" (248-251). Dies kann nur die zu späte Einsicht, einen furchtbaren Fehler begangen zu haben, bedeuten. Wie FRAENKEL (ad 247) gesehen hat, bezieht sich τα δ' ενθεν nicht nur auf die Opferung Iphigenies, sondern vor allem auf den weiteren Verlauf des Feldzuges und der Kämpfe vor Troja. Mir scheint es geradezu unmöglich, τα δ' ενθεν überhaupt auf Iphigenies Opferung zu beziehen: Nicht nur ist es - wie GAGARIN152 152

(1976) 147.

108

2. Die Parados des Agamemnon'

ausführt - unwahrscheinlich, daß die Alten uns andeuten wollen, sie hätten ihre Augen bedeckt, um das Opfer nicht sehen zu müssen (τά δ' ενθεν wäre dann das Opfer); die Bekräftigung τέχναι Μ Κάλχαντος ουκ άχραντοι wäre in diesem Falle auch unverständlich: Ob der Chor nun bei Iphigenies Opferung zugesehen hat oder nicht, er weiß jedenfalls, daß sie geschehen ist; daher wäre es ganz unnatürlich, wenn er seine Sicherheit in diesem Punkt durch den Hinweis darauf ausdrückte, daß Kalchas' Sprüche sich stets erfüllen. 153 τά δ' ενθεν kann sich daher m. E. nur auf den weiteren Verlauf und den Ausgang des Feldzuges beziehen, von dem der Chor keine Kenntnis hat. Nur aufgrund des Adlerzeichens und dessen Deutung durch Kalchas ist er sich sicher, daß der Feldzug mit der Einnahme Trojas enden wird; denn „die Künste (Sprüche) des Kalchas bleiben nicht ohne Vollendung". Wenn sich nun 248 τά δ' ενθεν auf den weiteren Verlauf und den Ausgang des Feldzuges beziehen muß, so wird man auch 250 f. Δίκα δε τοις μεν παθοΰσιν μαθεΐν έπιρρέπει als (vom Chor) in erster Linie mit Blick auf die Trojaner gesagt verstehen. Die zweite Strophe des Zeus-Hymnus wäre demnach wie folgt zu übersetzen: der die Sterblichen auf den Weg zum maßvollen Sinnen setzt, indem er durch Leid der Einsicht Geltung verleiht. Statt Schlafs 15-4 aber träuft vor dem Herzen an Leid gemahnende Mühsal: Auch zu denen, die sich sträuben, kommt Besonnenheit: Das ist aber wohl eine gewaltsame Gunst der Götter, die auf der erhabenen Bank des Steuermanns sitzen. 153

Zudem hat Kalchas die Opferung Iphigenies gar nicht vorausgesagt, sondern in der schwierigen Situation der απλοια als μηχαρ preisgegeben, um die widrigen Winde doch noch zur Ruhe zu bringen und so die Ausfahrt zu ermöglichen. Nach Emperius' Konjektur άνθ' ίίπνου für das überlieferte έν θ' ίίπνω; die Frage nach der richtigen Lesart ist im gegenwärtigen Zusammenhang von geringer Bedeutung.

2.5. Der Zeus-Hymnus

(160-183)

109

Ist an der vorgetragenen Deutung etwas Richtiges, so läßt sich der Sinn dieser Strophe etwa wie folgt zusammenfassen: Zeus setzt die Menschen (durch die Satzungen der Dike) auf den Weg des σωφρονεΐν, des rechten, den menschlichen Grenzen Rechnung tragenden Denkens und damit Handelns. Dem verleiht er Gültigkeit dadurch, daß er diesem μάθος, der Einsicht und dem Sich-Fügen in das φρονεΐν, Nachdruck verschafft durch das πάθος: Wer nicht freiwillig (σω)φρονεΐ, muß leiden („Wer nicht hören will, muß fühlen"). Dann ängstigt die Erinnerung, das Denken an das Leid, das dem Frevler bereitet wird, den, der sich gegen Zeus5 Satzungen vergangen hat, selbst in der Nacht, wenn andere Schlaf finden. i s s Auch zu denen, die sich nicht dem σωφρονεΐν beugen und die Grenzen des Rechts, das Zeus gesetzt hat, nicht respektieren, kommt das σωφρονεΐν - in Gestalt eines μάθος, das zugleich πάθος ist. Dies ist eine gewaltsame, mit Gewalt verbundene Gunst der Götter. - Das Wort βίαιος (wie ich mit Turnebus lese) erhält, wenn man die Strophe auf die Trojaner bezieht, dadurch eine konkretere Bedeutung, daß Kalchas bereits angekündigt hat, daß die Griechen die Stadt gewaltsam nehmen und völlig vernichten werden (130 ... Μοΐρ' άλαπάξει προς το βίαιον). Der Chor würde dann hier die gewaltsame Vernichtung der Stadt Troja, wie sie Kalchas verheißen hat, als eine „gewaltsame Gunst der Götter" deuten, die dazu dient, die Troer, die die Satzungen des Zeus (das Gastrecht) nicht gehalten haben, „zur Vernunft zu bringen". Mit diesem Verständnis der Passage entfällt eine Reihe von Problemen: Die Anbindung des Zeus-Hymnus an den Kontext ist nun verständlich. Zwar liegt eine (auch durch das Metrum gekennzeichnete) Unterbrechung des Chorberichts vor, die aber dadurch erklärlich ist, daß sich für den Chor durch den ungünstigen Teil 1SS

Man kann fragen, warum der Frevler, der Zeus' Satzungen mißachtet, Angst vor göttlicher Strafe haben sollte. Gerade wenn man die Passage auf die Trojaner bezieht, erhält die Bemerkung aber dadurch einen Sinn, daß die Strafe sich im zehnjährigen häufigen Wechsel des Kriegsglückes immer wieder ankündigt

110

2. Die Parados des Agamemnon'

der Deutung des Adlerzeichens das Bedürfnis ergibt, sich des günstigen Ausgangs des Feldzuges, an dem er zu zweifeln beginnt, erneut zu versichern und sich glauben zu machen, daß „das Gute siegt", daß die günstigen Seiten des Feldzuges dessen Schattenseiten überwiegen. Es ist dabei bezeichnend, daß der Chor ein solches Bedürfnis auch nach seinem langen Bericht über Iphigenies Opferung, die er nicht billigen kann, aufs neue verspürt und nahezu auf dieselbe Weise befriedigt (248-250). Auch die Funktion der Zeus-Genealogie wird nun noch deutlicher: Einerseits ist es nun Zeus, an den man sich halten muß, da die Macht der Früheren, Uranos und Kronos, vergangen ist; zum anderen hat unter Zeus die Gewalt und das damit verbundene Leiden eine Funktion bekommen, während unter den Früheren nur blinde Gewalt herrschte (169 παμμάχω θράσει βρύων):156 Die Gewalt ist nunmehr das letzte Mittel, den Frevler zur (freilich zu späten) Einsicht zu bringen, daß es falsch war, zu handeln, wie er gehandelt hat. Mit 184 wird dann der Bericht des Chors über die Geschehnisse vor der Ausfahrt wiederaufgenommen, και τόθ' bezieht sich mithin nicht auf den Zeus-Hymnus (so daß etwa Agamemnon als Beispiel für dessen allgemeine Aussagen eingeführt würde), sondern stellt die Verbindung zur Deutung des Adlerzeichens durch Kalchas her. Nun wird gezeigt, wie sich die Voraussagen des Kalchas erfüllen und welche Konsequenzen Agamemnon aus den dort angedeuteten Tatsachen zieht, als die Gegenwinde tatsächlich einsetzen. Freilich zeigt sich dabei zugleich, daß Agamemnon ebenfalls die Bahn des σωφρονεΐν verläßt: Zwar werden die Trojaner tatsächlich bestraft, zwar hat der Feldzug tatsächlich Erfolg, aber auch Agamemnon macht sich einer Verletzung der σωφροσύνη schuldig, die für ihn schlimmste Folgen haben wird.

156

Darin folge ich

NEITZEL ( 1 9 7 8 ) 4 0 9

f.

2.6. AgamemnoTts Entscheidung und Iphigenies Opferung (184-257)

111

2.6. Agamemnons Entscheidung und Iphigenies Opferung Nach dem Zeus-Hymnus, mit dem der Chor, ausgehend von Kalchas' Deutung des Adlerzeichens, seinen Bericht von den Geschehnissen bei der Ausfahrt des Heeres unterbrochen hatte, knüpft der Chor wieder ausdrücklich an die damaligen Ereignisse an (184 και τόθ' . . . ) und kommt nun zunächst auf Agamemnons Reaktion zu sprechen, als die Befürchtungen des Sehers, eine Gottheit (Artemis) könnte durch Gegenwinde die Ausfahrt verhindern wollen, eingetreten sind. Das erste, was wir über Agamemnon nach der Deutung des Adlerzeichens durch Kalchas erfahren, ist, daß er μάντιν' ουτινα 1 5 7 ψέγων I έμπαίοις τύχαισι συμπνέων (186 f.) ist. Agamemnon „tadelt keinen Seher". Darin ist wohl keine Kritik an Agamemnon zu sehen, wie etwa THOMSON l s s meint: »Agamemnon acted hastily, yielding without critical enquiry. He should have reflected that prophets are mortal and fallible«. Nichts im weiteren Verlauf der Ereignisse deutet jedoch darauf hin, daß Agamemnon besser gefahren wäre, wenn er dem Seher mißtraut hätte oder ihm mit größerer Vorsicht begegnet wäre: Kalchas ist κεδνός στρατόμαντις, wie der Chor selbst betont (122), und seine Vorhersagen erweisen sich ausnahmslos als richtig. Zudem ist in 186 nicht einfach von einer kritischen Distanz die Rede, an der Agamemnon es fehlen ließe, sondern davon, daß er keinen Tadel (ψόγος) ausspricht, den Seher und seine Voraussagen nicht mißbilligt, ψόγος kann eine harte und verletzende Mißbilligung sein, es bezeichnet nicht eine kritische, sondern eine ablehnende Haltung, die in die Nähe der Beschimpfung kommen kann (s. die Lexika). Agamemnon verhält sich hier ganz anders als in der Ilias (A 106-108), wo er Kalchas hart anfährt, als dieser die Herausgabe 157

Zum Gebrauch von ουτις (= ουδείς) an unserer Stelle ist jetzt (neben u.a.) auch zu vergleichen S.L. RADT: „ZU Aischylos' Agamemnon", Mnemosyne 26 (1973) 113-126, hier 116.

FRAENKEL a . Z . 158

The Oresteia of Aeschylus, ed. with an introd. and comm. by G. SON, Amsterdam-Prague 2 1966 [THOMSON], II 21.

THOM-

112

2. Die Parados des Agamemnon'

der Chiyseis als Voraussetzung fur das Aufhören der Pest angibt. Zwar hat Agamemnon hier objektiv keinen Grund, Kalchas zu tadeln, 159 was freilich auch für die Ilias gilt. Der Chor hält es aber für wichtig, zu betonen, daß Agamemnon sich nicht gegen den Seher wendet. Offenbar wäre ψόγος eine Reaktion, die man von einem Feldherrn wie Agamemnon hätte erwarten können. Dabei geht es auch an der Ilias-Steile nicht darum, daß Agamemnon Kalchas' Spruch etwa bezweifelte; Agamemnon stellt dort keineswegs in Frage, daß der Spruch des Sehers wahr ist. Vielmehr wirft er ihm vor, daß er immer nur Böses verkündet: Nicht Zweifel spricht dort aus Agamemnons Worten, sondern Ärger. Dieser Ärger ist zwar völlig unbegründet (Agamemnon selbst, nicht Kalchas ist dafür verantwortlich, daß Apollon die Pest geschickt hat, s. A 10-32), aber menschlich verständlich: Er richtet sich gegen den, der einem eine unangenehme Nachricht bringt. - Der Agamemnon, den Aischylos uns hier vorstellt, ist von anderer Art. Er achtet den Seher und wird trotz des Unheils, das er ihm voraussagt, ihm gegenüber nicht ausfällig. Damit wird uns ein positiver Charakterzug dieses Agamemnon vorgeführt: Anders als andere hochgestellte Persönlichkeiten (Agamemnon in der Ilias, ödipus im ,König Ödipus', Kreon in der .Antigone') wird dieser Agamemnon nicht durch unliebsame Voraussagen eines Sehers von der Achtung ihm gegenüber abgebracht. Dies fügt sich gut in das Bild, das wir von Agamemnon bei seinem Auftritt auf der Bühne erhalten werden: Er ist ein gottesfürchtiger Mensch, der nicht ohne weiteres zur Überhebung gegenüber Göttern und Göttlichem neigt (s.u. S. 205-209). Als Kalchas' Voraussage, Gegenwinde könnten die Ausfahrt behindern, eintritt, gerät also Agamemnon ebensowenig wie nach der Voraussage selbst in Zorn gegen den Seher, sondern bewahrt seine Achtung vor ihm, ohne ihn zu „tadeln" und zu beschimpfen.

1 5 9

S o NEITZEL ( 1 9 7 9 ) 3 1 .

2.6. Agamemnons Entscheidung und Iphigenies Opferung (184-257)

113

Dazu fügt sich auch 187 έμπαίοις τύχαισι συμπνέων, das NEITZEL 1 6 0 überzeugend wie folgt erklärt: Seine [sc. Agamemnons] Entscheidung [sc. seine Tochter zu opfern] bedeutet eine Änderung (= μετέγνω 221) gegenüber seiner Haltung (γνώμη) zu der Zeit, als Kalchas die schreckliche Bedingung für die Ausfahrt noch nicht verkündet hatte (dies folgt aus 198 έπεί δε και ...) und das Heer sich in ganz hoffnungsloser Lage befindet (187 ff.): Da »bläst er zusammen mit den auf ihn einhauenden Schicksalsschlägen« (187), da hält auch er die Aufgabe des Feldzuges also für richtig, denn die Winde der Artemis blasen ja gegen das Unternehmen (147 ff.). Nur durch diese Deutung erklärt sich in der Tat 221 μετέγνω. das einen Sinneswandel bezeichnet. Agamemnon hatte ja vor der Verkündung des μηχαρ durch Kalchas keine Wahl. Die Gegenwinde mit ihren unangenehmen Begleiterscheinungen (vor allem Hunger), die eine ernste Bedrohung des Heeres darstellen (192-198), zwingen Agamemnon dazu, über einen Abbruch der Unternehmung nachzudenken. Nach Lage der Dinge ist dies das einzige, das »der König, der oberste Heerführer, verantwortlich für Leben und Tod vieler Tausende« 161 vernünftigerweise tun kann: Da die Gegenwinde nicht aufhören wollen, kann er nur entweder sein Heer auflösen und auf Trojas Eroberung freiwillig verzichten oder aber sein Heer vor Hunger sterben lassen, ohne Troja erobern zu können. Da fällt die Wahl nicht schwer. Die Lage ändert sich aber grundlegend, als Kalchas endlich das einzige noch verbleibende Mittel (199 άλλο μηχαρ),1®2 das einzig wirksame Mittel preisgibt, die Winde zum Aufhören zu bringen 1 6 0

(1979) 31.

1 0 1

FRAENKEL ( 1 9 5 7 ) 3 3 4 .

163

Anders als RADT ( 1 9 7 3 ) 1 1 7 f. halte ich also an FRAENKELS Auffassung fest, daß an dieser Stelle kein „pleonastischer" Gebrauch von άλλος vorliegt Es scheint mir natürlich, daß selbst ein Seher bei allem begründeten Zweifel darauf hofft, die Windstille auf andere Weise abwenden zu können, und das furchtbare Opfer erst als letztes Mittel preisgibt.

114

2. Die Parados des .Agamemnon'

und damit die Eroberung Trojas doch noch zu ermöglichen: die Opferung Iphigenies. Die Art des Opfers wird an dieser Stelle vom Chor noch nicht explizit angegeben, erst aus Agamemnons Rede erfahren wir direkt davon (207 f. εί τεκνον δαΐξω). Zunächst hören wir nur von der Reaktion der beiden Atriden: Sie schlagen mit den Stäben auf die Erde und können die Tränen nicht zurückhalten (202-204). Kalchas beruft sich, 1 6 3 als er das Mittel, die Winde zum Aufhören zu bringen, preisgibt, auf Artemis (201 f. προφέρων "Αρτεμιν) und verweist damit auf seine Deutung des Adlerzeichens, in der er befürchtet hatte, Artemis werde sich dem Feldzug widersetzen und widrige Winde schikken. Hier ist nun der Punkt erreicht, wo Agamemnon sich entscheiden muß, was er will. In der Besprechung des Adlerzeichens haben wir im Anschluß an NEITZEL Z U zeigen versucht, daß Artemis Iphigenies Opferung nicht schlechthin fordern kann, sondern als Bedingung für die von ihr verabscheute Eroberung Trojas setzt, um Agamemnon von dieser Unternehmung abzuhalten. Dabei hat sich gezeigt, daß Agamemnon die Wahl nicht zwischen zwei Verbrechen (Mißachtung eines Auftrags des Zeus und Tötung der Tochter), sondern zwischen der unbedingten, rücksichtslosen Durchsetzung eines Rechts, das Zeus Xenios schützt, ohne ihn zu dessen Durchsetzung zu verpflichten, und der Wahrung der „Verhältnismäßigkeit der Mittel" hat, der Berücksichtigung der großen Zahl unschuldiger Opfer auf beiden Seiten, die einen Verzicht auf den Feldzug nahelegt - hierfür tritt Artemis ein, die als Vorbedingung für den Feldzug Iphigenies Opferung setzt. Der Augenblick der Entscheidung ist für Agamemnon jetzt gekommen. Nachdem Kalchas in der aussichtslosen Lage, in der sich das Heer befindet, das Mittel, die Winde zum Stillstand zu bringen, verkündet hat, hören wir vom Chor eine Wiedergabe der Rede Agamemnons, in der dieser seine Entscheidung vorträgt. Die Entscheidung fällt, wie die Rede deutlich machen wird, Agamemnon nicht leicht, ist eine schwere Entscheidung. Wenn wir 163

Ich folge

RADTS

NISTON-PAGE A. I ) .

(1973) 118 f. Deutung von προφέρων (ähnlich schon

DEN-

2.6. Agamemnons Entscheidung und Iphigenies Opferung (184-257)

115

aber die Voraussetzungen dieser Entscheidung richtig bestimmt haben, handelt es sich nicht um eine Lage völliger αμηχανία, wie zumeist angenommen wird. Agamemnon entscheidet sich bekanntlich für den Feldzug und damit für Iphigenies Opferung. Die Entscheidung für dieses Mittel, die Winde zum Stillstand zu bringen, fällt den Atriden selbst, wie uns der Chor mitteilt, schwer (198-204). Zugleich aber enthält der Bericht des Chors schon eine Beurteilung dieses von Kalchas angegebenen Mittels, was in der Forschung zumeist wenig beachtet wird, obwohl die Kommentare häufig auf den zugrundeliegenden Gedanken hinweisen und die einschlägigen Stellen dazu anführen.16"4 Hier wird, urteilt der Chor, ein „weiteres Mittel gegen den, wiewohl bitteren, Sturm" vorgebracht, ein Mittel, das allein wirksam ist, zugleich aber ein Mittel, das „schwerer als der, wiewohl (schon) bittere, Sturm" ist. Hier wird also, wenn man das Mittel anwendet, im Urteil des Chors nicht nur der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben, sondern etwas Schlimmes (ein πικρόν) mit einem noch Schlimmeren (einem βριθύτερον) „geheilt". Das Mittel ist aber nicht nur schlechthin schlimmer als der Sturm, gegen den es helfen soll, sondern gerade auch für die Atriden (βριθύτερον

104

Kein Hinweis allerdings bei FRAENKEL. Schon F . W . SCHNEIDEWIN: Aeschylos, Agamemnon, Berlin 1856, 30 und ^(besorgt von 0. Hense) 1883 [SCHNEIDEWIN], 26 f. (ad 185ff. nach seiner Verseinteilung) und dann DENNISTON-PAGE (a.l.) und GROENEBOOM 159 verweisen auf das Sprichwort μή κακόν κακω Ιασθαι. Eine reiche Sammlung relevanter Stellen findet sich bei THOMSON II 21 f. Seine Paraphrase erklärt: »Here the sense is έπεί δέ και πικροί) δντος του χειμωνος άλλο τι του κακοϋ κάκιον ό μάνας εκλαγξεν. και ist hier nicht verstäikend (SCHNEIDEWIN: „gar schlimmen"; dagegen FRAENKEL a.Z.) sondern wohl konzessiv (= καίπερ πικρού οντος „als der, wiewohl schon schlimme, ", s. LSJ s. ν. καί Β 9), falls man eine solche Bedeutung für καί in Abwesenheit eines Partizips annehmen darf. Sonst wird man και mit FRAENKEL auf den ganzen Satz beziehen müssen. Die Prägnanz des Ausdrucks müßte dadurch verlieren, der Bezug auf das Sprichwort bliebe indes bestehen.

116

2. Die Parados des Agamemnon'

πρόμοισιν); deren Reaktion ist daher auch von größtem Schrekken bestimmt. 165 In der folgenden Antistrophos gibt der Chor Agamemnons Entscheidungsrede wieder. Auch wenn Agamemnon nicht notwendig erst während dieser Rede zu seiner Entscheidung gelangt, so ist die Rede doch deren Ausdruck und gibt über ihr Zustandekommen Aufschluß. Der Aufbau der Rede scheint im ganzen klar, doch ergeben sich im einzelnen einige Schwierigkeiten, von denen viel abhängt. Die erste ist 206 πιθέσθαι. Es ist klar, daß es Agamemnon sein muß, der hier gehorcht bzw. nicht gehorcht. Doch wem gehorcht er (nicht)? Solange man davon ausging, Artemis fordere das Opfer, war der Bezug auf die Göttin klar. Da aber Artemis das Opfer nicht fordert, sondern „betreibt", damit es nicht geleistet wird und der Feldzug nicht stattfindet, kommt diese Möglichkeit nicht mehr in derselben Weise in Betracht. 166 Möglich wäre immerhin, daß Agamemnon nur glaubt, Artemis fordere das Opfer. Dies ist 165

Zu homerischen Parallelen s. THOMSON (a. I); FRAENKELS Ca. I ) Beobachtung zu der Szene (»It is precisely the passion here described which makes it possible to see the moderation of Agamemnon's behaviour towards Calchas in the true light: he is shown as a great and noble man, a μεγαλόψυχος«) bleibt gültig, obwohl sich μάντιν ουτινα ψέγων nicht unmittelbar auf diese neue Weissagung des Sehers beziehen kann, sondern (wegen 187 έμπαίοις τυχαίοι συμπνέων vs. 221 μετέγνω und 198 έπεί δε ...) noch auf Kalchas' Deutung des Adlerzeichens oder den Zeitpunkt des Einsetzens der Gegenwinde gehen muß: Denn auch hier macht Agamemnon nicht Kalchas für seine Lage verantwortlich, sondern gibt nur seinem Entsetzen Ausdruck. 16Orestie έπικεύσω, „denn ich will es dir nicht verhehlen", zeigt m. E. an, daß gerade auch die Kritik, die der Chor an Agamemnon äußert, verdeutlichen soll, daß er sich jetzt aufrichtig freut: Dadurch, daß der Chor offen seine Kritik an Agamemnon ausspricht, belegt er, daß er auch seine jetzige Freude ganz ehrlich meint. Der Chor nutzt hier die Tatsache, daß ein vernünftiger und rechtschaffener (vielleicht in Wahrheit jeder) Mensch sich am meisten über die Anerkennung derer freut, von denen er auch Kritik erfahren hat, weil er sich der Aufrichtigkeit solcher Anerkennung sicher sein kann. So verhehlt hier der Chor seine (einstige) Kritik nicht, damit seine (jetzige) aufrichtige Freude um so echter wirkt.

8 9

Ibid. 21. Ibid.

Die Begrüßung Agamemnons durch den Chor (783-809)

203

Am Schluß seiner Rede drückt der Chor seine Zuversicht aus, der König werde schon mit der Zeit erkennen, wer in Argos sich rechtlich beträgt und wer nicht. 10 In diesen Worten eine „Warnung" des Chors an Agamemnon (so z.B. DENNISTON-PAGE ad 783-809), etwa noch speziell vor Aigisth oder Klytaimestra (so FRAENKEL II 369 f.) zu sehen, scheint mir nicht begründet zu sein. 11 Zwar wird der Zuschauer, der den Mythos kennt, durch 807-809 auf die von Klytaimestra und Aigisth drohende Gefahr hingewiesen, aber nichts deutet darauf hin, daß der Chor auch nur im geringsten mit einer solchen Gefahr rechnet. Dies wird ganz deutlich durch die Kassandra-Szene, in welcher der Chor deutliche Hinweise auf die Mörderin, die jedem Ahnenden deutlich machen müßten, was da vorgeht, zunächst nicht versteht (1242-1245), dann ungläubig abwehrt (1247, 1249). Auch aus dem dritten Stasimon (bes. 975-1000) wird deutlich, daß er keine klare Vorstellung hat, wie die Befürchtungen, die ihm kommen, sich konkret erfüllen könnten (s.u. S. 268-273). Der Chor kann daher auch nicht (wie DENNISTON-PAGE ad 783-809 mit Wecklein glauben) im dritten Stasimon (1025-1029) bedauern, sich bei der Ankunft seines Königs nicht klarer ausgedrückt zu haben. - Auch von einer Angst des Chors, die KlTTO 1 2 aus unserer Stelle liest, kann ich nichts erkennen. Folgen wir dem Text, so wird deutlich, daß der Chor vielmehr seine Zuversicht ausdrückt, der König werde durch Nachforschungen erkennen (γνώση . . . διαπευθόμενος), wer im Staate sich korrekt verhält und wer nicht. Möglich ist, daß diese Bemerkung auf Klytaimestras und Aigisths Ehebruch gemünzt ist. Jedenfalls bezieht sich der Chor auf üble Zustände, wie er sie auch in der Botenszene (s. 540-550) erwähnt hat. Vielleicht ist damit aber auch nur das Murren mancher Argiver gegen die Atriden gemeint, von dem im ersten Stasimon (449-460) die Rede war. Ähnlich wie der Wächter im Prolog sich 10

Zu ο'ικουρεΐν .wohnen' s. FRAENKEL II 639. Siehe auch H.D.F. KlTTO: Form and meaning in drama. A study of six Greek plays and of Hamlet, London-New York 31960, 20 f. 12 Ibid. 21: »It [sc. der Chor] is afraid - but not of Clytemnestra.« 11

204

S. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

über die baldige Heimkehr Agamemnons freut, die den üblen Zustand im Hause, von dem nur dunkel gesprochen wird, beenden wird (hier ist offenbar der Ehebruch gemeint: 37 f, οίκος δ' αύτός, εί φθογγήν λάβοι, | σαφέστατ' αν λέξειεν), spricht hier der Chor zuversichtlich aus, Agamemnon werde die herrschenden Mißstände erkennen (und folglich beenden). An Gefahr für Agamemnon denkt der Chor dabei nicht. Die folgende Rede Agamemnons, seine erste auf der Bühne, zeigt, daß er die Worte des Chors so verstanden hat. Zwar muß man grundsätzlich auch immer mit Mißverständnissen Agamemnons rechnen, doch was Agamemnon gegen Ende seiner Rede (844-850) sagt, scheint völlig auf die Schlußworte des Chors ( 8 0 7 - 8 0 9 ) zu passen: Agamemnon will κοινούς αγώνας einrichten und in der Versammlung Rat halten (845f.), um auf diese Weise dem καλώς εχον Dauer zu verleihen, Mißständen aber mit der nötigen Härte Abhilfe zu schaffen (848-850). Diese Vorgehensweise, die der König mit seinen Worten ankündigt, paßt gar nicht zu dem Bild des arroganten Despoten, das DENNISTONPAGE gezeichnet haben. Vielleicht geht FRAENKEL (ad 8 4 5 ) etwas zu weit, wenn er mit Wilamowitz von einem »constitutional king« spricht. Sicher ist aber, daß Agamemnon sich nicht auf seine Machtvollkommenheit als Souverän beruft, wenn er von dem spricht, was er tun will, sondern sich bemüht zeigt, den Auffassungen und Interessen seiner Untergebenen Rechnung zu tragen. V. Di BENEDETTO führt zum Kontrast die Stelle im ersten Stasimon an, wo sich Stimmen gegen die Atriden erheben (456 f.), und kommentiert: »Quando invece Agamennone compare sulla scena egli ha cura di presentarsi come rispettoso della volontà 'popolare' in modo che venga eliminato ogni possibilità di contrasto.«13 Auch die Art, in welcher Agamemnon auf die Worte des Chors antwortet, ist nicht despotisch, sondern maßvoll: Hatte der Chor (ganz natürlich in der Anrede an seinen König) sich zuversichtlich an ihn allein gewandt (807 γνώοΐρ δέ χρόνω διαπευθόμενύς),

1 3

DI BENEDETTO ( 1 9 7 8 ) 1 4 4 .

Agamemnon: maßvoller König oder gottloser Hybristes

(810-854)?

205

so spricht Agamemnon in diesem Punkt nicht von seiner Tätigkeit, sondern von einer Beratung mit den Bürgern (845 f. κοινούς αγώνας θέντες èv πανηγύρει | βουλευοόμεοθα). Hier wird uns offensichtlich kein arroganter, überheblicher und selbstsüchtiger Herrscher vorgeführt, sondern ein guter, auf das Gemeinwohl und den politischen Ausgleich bedachter, maßvoller König. Doch Agamemnons Rede beginnt nicht mit Überlegungen politischer Natur, sondern mit einer langen Anrede an die Götter, die den Charakter einer Danksagung hat (810-829). Wie dieses φροίμιον an die Götter zu bewerten sei, ist nach wie vor umstritten. FRAENKEL (II 371-374) verwendet eine ausführliche Anmerkung darauf, zu erweisen, daß es unbegründet sei, in 810-813, wo Agamemnon die Götter als μεταίτιοι für seine Rückkehr und die Zerstörung Trojas bezeichnet, eine Hybris entdecken zu wollen, eine vor FRAENKEL (s. dort) verbreitete Auffassung. FRAENKELs Parallelen sind (trotz D E N N I S T O N - P A G E a. I.) völlig überzeugend: Es ist eine im 5. Jhd. verbreitete Überzeugung, daß die Götter beim Handeln eines Menschen, das vor allem diesem zuzurechnen ist, helfend mitwirken können, und es gibt keine Grundlage dafür, aus Agamemnons Dank für diese Mitwirkung der Götter ein Argument für seinen mangelnden Respekt gegenüber den Göttern ziehen zu wollen. Ich unterlasse es, F R A E N K E L S Belege im einzelnen zu besprechen. Es ist Agamemnon, der Troja zerstört hat, und wenn er die Götter als μεταίτιοι bei seinem Erfolg und seiner Heimkehr bezeichnet, so ist das keine Überhebung, sondern aus seiner Sicht eine angemessene Beschreibung der Sachlage: Die Götter haben ihn, wie er meint, bei dem Vorhaben, das er begonnen und das er durchgeführt hat, unterstützt. Belege haben aber nicht die gesamte Forschung überzeugt. Vielmehr konnte man darauf hinweisen, daß Teile der Rede Agamemnons, vor allem dort, wo er von der Zerstörung Trojas spricht (813-828), ihn in ein weniger günstiges Licht rücken. Zu 819 f. hatte FRAENKEL geschrieben: »There is no sentimental lamentation in this fine sentence but a true note of profound sympathy«. LLOYD-JONES hat dem, wie ich meine nicht ohne FRAENKELs

206

5. Agamemnon in Algos: Das dritte Epeisodion (783-974)

Grund, widersprochen: »A few lines later Agamemnon says, "The ravening lion leaped over the wall, and lapped his fill of the blood of kings' (827-8). I find no sympathy, profound or otherwise, in that sentence or in anything that Agamemnon says about the Trojans; and I find it difficult to deny that the complaisance with which he views the extermination of his enemies must bode ill for him.«1"4 In der Tat äußert Agamemnon hier nicht nur keine Sympathie mit den Trojanern, er gibt sich auch zutiefst befriedigt über die erfolgreiche Zerstörung Trojas und ist davon überzeugt, mit unzweideutiger Zustimmung aller Götter (815 ού διχορρόπως) δίκαια (vgl. 812) getan zu haben. »Hier liegt ein furchtbarer Irrtum vor«, kommentiert TSAGARAKIS,15 »Die Götter stimmten ihm sicherlich in der Zerstörung von Tempeln und Altären nicht zu [...]« (vgl. 527). »Agamemnon setzt göttliche Strafe mit seiner Rachsucht gleich, weil er den Götterglauben von Beginn an nach seinen eigenen Maßstäben zurechtgerückt hat.« Tatsächlich muß, wie in der Behandlung der Parodos gesehen, wenigstens Artemis überhaupt gegen den Feldzug gewesen sein. TSAGARAKIS nimmt aber auf dieser Grundlage die alte Auffassung wieder auf, Agamemnon schreibe sich selbst den ganzen Sieg zu und mindere den Anteil der Götter: Dazu ist ferner zu bemerken: erstens, Agamemnon ernennt sich sozusagen zu der eigentlich treibenden Kraft des Geschehens. Dies wird besonders durch die Ich-Verbform (έπραξάμην) deutlich, während z.B. ein έπράξαντο (sc. οί θεοί) oder wenigstens έπραξάμεθα (sc. ich und die Götter) sehr treffend einen wirklichen θεοσεβής charakterisieren würde, der er besonders mit seinem Gruß an die Götter zu sein vorgibt. Bei einem Menschen mit echtem Götterglauben würde man einem Ausdruck wie συν θεοΐς begegnen, aber nichts davon hören wir hier. Im Gegenteil: die Welt sollte wissen, daß Agamemnon allein Troja vernichtet 1 4 1 5

(1962) 1 9 4 f. 0. TSAGARAKIS: „Zum tragischen Geschick Agamemnons bei Aischylos", Gymnasium 86 (1979) 16-38, hier 32 f. LLOYD-JONES

Agamemnon: maßvoller König oder gottloser Hybristes (810-854)?

207

hat, ganz und gar beansprucht er den Sieg als seinen (854). 16 Zum zweiten wirft TSAGARAKIS Agamemnon vor, man höre kein Wort von Zeus, »von Dankbarkeitsgefiihlen ganz zu schweigen«, 17 und vergleicht dagegen - offenbar als Beispiel rechter Götterverehrung - die Worte des Boten 508 f. und 524-526. So wird Agamemnon für TSAGARAKIS aufgrund seines Irrtums über den Götterwillen zum undankbaren, überheblichen Frevler. Dieser Schluß liegt jedoch nicht nahe: Zwar irrt Agamemnon tatsächlich, wenn er meint, alle Götter hätten der Zerstörung Trojas zugestimmt. Doch wird er dadurch nicht zum undankbaren Frevler. Zunächst war Agamemnon tatsächlich die »eigentlich treibende Kraft des Geschehens«. Er war es, der den Feldzug gewollt und ihn trotz allem durchgeführt hat. TSAGARAKIS' Argumentation mit der Verbform έπραξάμην18 aber ist schwerlich ganz korrekt. Im Zusammenhang sagt Agamemnon, daß die Götter μεταίτιοι seien νόστου δικαίων θ' ών έπραξάμην πόλιν Πριάμου. Er hat es getan - mit Unterstützung der Götter. In μεταιτίους ist dabei durchaus der Gedanke vorhanden, der sonst auch durch συν θεοΐς ausgedrückt werden kann (FRAENKEL hat dazu das Nötige gesagt). Aus 854 schließen zu wollen, daß Agamemnon den Sieg ganz und gar als den seinen beansprucht, ist schließlich völlig unbegründet: Unmittelbar zuvor hat er noch einmal seine Verpflichtung gegenüber den Göttern zum Ausdruck gebracht (851-853). Daß Agamemnon Zeus nicht gesondert erwähnt, ist ihm nicht vorzuwerfen. Er glaubt ja (fälschlich) alle Götter auf seiner Seite und betont dies ausdrücklich (815); es ist daher ganz natürlich, daß er sich an „die Götter" wendet. Auch schweigt Agamemnon keineswegs von seiner Dankbarkeit, die er vielmehr 821 f. klar ausspricht: τούτων θεοΐσι χρή πολύμνηστον χάριν I τίνειν, ... - Darin, daß Agamemnon nicht wie der Bote 1 6

1-7

TSAGARAKIS

(1979) 33 f.

Ibid. 34. In 823 findet sich übrigens έπραξάμεσθα, was man aber wohl besser auf Agamemnon und das Heer als auf Agamemnon und die Götter bezieht

18

208

5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

(508 f.) einzelne Götter anruft, sehe ich keinen Mangel an ευσέβεια, und TSAGARAKIS gibt nicht an, worin er liegen soll. Was aber die Darstellung der Zerstörung Trojas angeht, so ist es auch für den Boten, den TSAGARAKIS als offenbar positives Gegenbild Agamemnon gegenüberstellt, Agamemnon, der die Stadt zerstört (524f. viv ... Τροίαν κατασκάψαντα); er tut es für den Boten του δικηφόρου | Διός μακέλλη, aber dies ist nur eine drastischere Form auszudrücken, daß Zeus μεταίτιος ist. Daß aber die Heiligtümer Trojas Διός μακέλλη zerstört sein sollen (527), verrät, daß sich der Bote in keinem geringeren Irrtum befindet als Agamemnon. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß Aischylos seinen Agamemnon als wenig gottesfürchtig oder gar als einen die Götter mißachtenden υβριστής verstanden wissen wollte. Was Agamemnon sagt, muß vielmehr zur gegenteiligen Auffassung führen, für die hier stellvertretend Di BENEDETTO19 angeführt sein soll: Colpisce anzitutto la sottolineatura con cui Eschilo mette in evidenza l'atteggiamento profondamente religioso di Agamennone. Tutta la prima parte del discorso (si tratta dei w . 810-29) è dedicata ad esprimere il ringraziamento dovuto agli dei. La cosa è messa in rilievo dall'espressione introduttiva («per prima cosa ...») con cui si apre il discorso e dalla 'formula' conclusiva («agli dei dunque io ho dedicato questo lungo proemio») che chiude questa sezione del discorso. Dieser Analyse stimme ich völlig zu. Agamemnon ist sich durchaus über die Bedeutung seiner eigenen Leistung klar, aber er äußert auch seine Dankbarkeit gegenüber den Göttern für ihre Hilfe beim Trojazug in angemessenem Umfang. Er ist nicht einfach ein eigensüchtiger Frevler, und TSAGARAKIS' Beurteilung: »Agamemnon setzt die Rolle des Gottes herab und erhöht seine eigene«20 ist ohne Grundlage im Text. Auch geht es wohl zu weit, wenn 19

(1978) 141 f.

20

(1979) 34.

Agamemnon: maßvoller König oder gottloser Hybristes (810-854)?

209

man ihm - wie NEITZEL21 es tut - ebenden Dank, den er den Göttern ausspricht, als Frevel auslegt. Sein Dank ist immerhin Ausdruck echten Respekts vor den Göttern. Dies bedeutet freilich nicht, daß er den Willen der Götter richtig verstanden hätte. Wie aus meiner Behandlung der Parodos deutlich geworden ist, bin ich zwar (mit NEITZEL) der Auffassung, daß Agamemnons Entscheidung, den Feldzug durchzuführen, ein folgenschwerer Fehler war und (mit NEITZEL und TSAGARAKIS), daß Agamemnon sich täuscht, wenn er glaubt, alle Götter hätten einmütig der Zerstörung Trojas zugestimmt (mindestens Artemis war dagegen). Daraus folgt aber nicht, daß der aufrichtige Dank, den er den Göttern zollt, als solcher ein Frevel ist, und noch weniger, daß man ihn deshalb für einen gottlosen Menschen halten soll. Dennoch scheint mir, daß Agamemnon in seiner Dankesrede an die Götter in einer Weise von der Zerstörung Trojas spricht, die eine uneingeschränkt positive Sicht Agamemnons, wie sie von FRAENKEL und Dl BENEDETTO verfochten wird, unmöglich macht. Dl BENEDETTO22 vertritt die Auffassung, daß »i w . 810-829 contengono una presentazione della spedizione contro Troia fatta con un taglio che tende a mettere in rilievo la sua assoluta leggitimità e la piena partecipazione degli dei in questa impresa.« Er beruft sich dabei auf die Stelle im ersten Stasimon, wo Kritik an den Atriden laut wird, und schlägt vor, Agamemnons Rede als (implizite) Rechtfertigung gegenüber derartiger Kritik zu betrachten. Agamemnon führt danach gegen solche Kritik die Unterstützung durch die Götter an, die durch den Sieg offensichtlich geworden sei. Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, daß ein solcher Wille zur Rechtfertigung sich in der Rede zeigt. Dl BENEDETTO kann auf diese Weise auch erklären, warum Aga21

(1979) 22: »Er [sc. Agamemnon] wird den >Göttern< nun sogar noch Dank sagen für das erfolgreiche Morden [...], d.h. ihnen dafür danken, daß er sie so vollkommen hat mißachten dürfen«; ibid. 26: »Auch der fürchterliche Sturm auf der Heimfahrt wird ihn [sc. Agamemnon] nicht daran hindern, den .Göttern' für seine Freveltaten Dank zu sagen«. 22 (1978) 142; von dort auch die beiden folgenden Zitate.

210

5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

memnon mit γυναικός ουνεκα (823) einen Sachverhalt anspricht, der im ersten Stasimon (448) Gegenstand der Kritik gewesen war: Ma mentre nei w . 445 sgg. il riferimento a Elena è fatto nel contesto di un discorso esplicitamente critico nei confronti di Agamennone, nel discorso dello stesso Agamennone il riferimento a Elena è fatto nel contesto di un ringraziamento agli dei per aver partecipato alla guerra e alla distruzione di Ilio: in altri termini, non è stato certo un errore o una colpa muoversi a causa di Elena, ma il ratto di Elena è stato il movente di una guerra alla quale gli dei hanno dato il loro consenso e alla quale hanno direttamente partecipato.23 Ich stimme mit Di BENEDETTO überein, daß Agamemnon sich hier zu entlasten versucht und durch Hinweis auf die Götter, die den Feldzug unterstützt hätten, als gerechtfertigt hinzustellen sucht. Mir ist nicht ganz klar geworden, ob Dl BENEDETTO Agamemnons Einschätzung teilt, wie es - trotz seines Hinweises, daß die Unternehmung »va certo al di là della misura«24 - den Anschein hat. Mir jedenfalls scheint, daß der auf Rechtfertigung bedachte Teil der Rede Agamemnons im Sinne des Dichters nicht akzeptiert werden soll. Denn die Begriffe, in denen Agamemnon von der Zerstörung Trojas spricht, lassen ihn - insoweit möchte ich DAWE2S zustimmen - nicht in einem günstigen Lichte erscheinen. Sie verraten eine Form von Maßlosigkeit, indem er etwa von der völlig vernichteten Stadt spricht, die nur noch durch den Rauch der Brandschatzung erkennbar ist (818), und von 23

D i e s e Äußerung Dl BENEDETTOS ist vor dem Hinteigrund von DAWE (1963)

224 zu sehen, der 823 f. zum Beleg für seine These der Widersprüche in der Charakterzeichnung heranzog und zu bedenken gab: »Niemand würde seine Kriegstaten zu glorifizieren suchen, indem er unterstreicht, daß der ganze Feldzug nur um einer Frau willen unternommen wurde.« Der Dichter habe Agamemnon diese Aussage in den Mund gelegt, um ihn zu belasten, ohne auf eine konsistente Zeichnung zu achten. 2 4

DI BENEDETTO ( 1 9 7 8 ) 1 4 3 .

25

Siehe o. Anm. 23.

Agamemnon: maßvoller König oder gottloser Hybristes (810-854)?

211

dem gierigen Löwen, der sich am Blut der Priamiden satt geleckt habe (827f.)· Hier soll sich der Zuschauer gewiß an das Adlerzeichen zurückerinnern und eine Vorstellung davon bekommen, warum Artemis dem Feldzug οϊκτω (134) feindlich gesinnt war. Agamemnon aber spricht mit sichtlicher Befriedigung und versteht das als einen Teil der δίκαια, die er Priamos' Stadt mit göttlicher Hilfe angetan habe. Es ist angesichts der Implikationen des Adlerzeichens undenkbar, daß die Götter damit ganz einverstanden waren und das „blutgierige" Verhalten des griechischen „Löwen" billigten. Der ungünstige Eindruck, den man aus dieser Rede von Agamemnon erhalten hat, beruht auf ebendieser Maßlosigkeit, die er bei der Ausführung seiner militärischen Unternehmung an den Tag gelegt hat und die ihm nicht im geringsten bedenklich vorkommt; er beruht hingegen keineswegs auf einem mangelnden Respekt gegenüber den Göttern: Agamemnon ehrt die Götter ehrlich und aufrichtig. Nur täuscht er sich über die Frage, inwieweit sie sein Handeln billigen können. Daß aber Agamemnon hier, in seiner Rede über den erfolgreichen Abschluß des Feldzuges, in ungünstigem Licht erscheint und maßlos wirkt, widerspricht keineswegs der Annahme einer konsistenten Charakterzeichnung. Vielmehr ist es gerade seine Eingenommenheit für den Feldzug, die ihn wie in der Parodos, so auch hier zu einer Verkennung des rechten Maßes führt. Wenden wir uns nun zunächst dem Teil der Rede Agamemnons zu, den wir noch nicht besprochen haben. Es handelt sich um die Verse 830-844 (bzw. -850): Agamemnon wendet sich hier, nach seinem Dank an die Götter, den Worten des Chores bei der Begrüßung zu, und zwar zunächst dessen Versicherung seiner aufrichtigen Ergebenheit und seines Wohlwollens ihm gegenüber (830-844, vgl. 788-806), dann, im letzten Teil seiner Rede, dessen Hinweis auf schlechte Zustände im Staate (844-850, vgl. 807-809). Das Thema beider Teile ist ausdrücklich benannt (830 τα δ' ές το oòv φρόνημα . . . ; 844 τα δ' αλλα προς πόλιν . . . ) . Er antwortet also - unter Übergehung der Kritik des Chors an seinem einstigen Verhalten - auf die Worte des Chors in dersel-

212

5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

ben Reihenfolge, in der dieser sie vorgebracht hatte. Damit muß Odysseus' Erwähnung (vor 844 τα £ άλλα) noch in den Teil der Rede gehören, der auf die Beteuerung echter Aufrichtigkeit durch den Chor antwortet. Dies scheint mir THOMSON zu übersehen, wenn er (ad 841-2) schreibt: The mention of Odysseus shows that Agamemnon has not after all understood the Elders' warning; it shows that he is thinking, not of the present danger from his wife, but of his past quarrels with Achilles and Ajax and the recent dispute with Menelaos, in which Nestor and Diomedes took his brother's side against him (Od. iii. 141-68). Denn eine Warnung könnte man allenfalls in 807-809 erkennen; selbst wenn der Chor in 787-794 auf konkrete Personen sollte Bezug nehmen wollen, ist sein Ziel, wie Agamemnon richtig versteht, einzig, den König seiner ehrlichen Zuneigung zu versichern. 26 Doch nicht auf 807-809 nimmt Agamemnon in 830-844 Bezug, sondern auf des Chores Rede über aufrichtige Anteilnahme in (Unglück und) Glück (787-798). Der König versteht sehr gut, was der Chor meint: Er führt Beispiele aus dem hinter ihm liegenden Feldzug an, und - wie BOLLACK 27 formuliert - um zu zeigen, »que le 'sujet' lui est familier, il l'illustre à la lumière de son expérience personelle de roi et de chef d'armée.« Damit will er sagen, daß er auch jetzt und in Zukunft wird Menschen einzuschätzen wissen. Im ganzen ist der Gedankengang dieses Teils der AgamemnonRede klar: Der König bescheinigt dem Chor, daß dieser zu den wenigen Menschen gehört, die einem Menschen, dem es gut geht [τον εύτυχοΰντ(α)], ohne Neid [ανευ φθόνου (oder φθόνων)] Ehre erweisen können (832f.). Auf die (die Vergangenheit betref26

Anders sehen DENNISTON-PAGE ad 783-809 schon vortier »a warning against insincere persons who conceal malevolence behind a mask of friendship«; aber in 787-794 ist nicht von malevolence, sondern nur von unaufrichtiger compassio die Rede.

27

J. BOLLACK: „Le masque de l'amitié et le miroir du prince (AGAMEMNON,

832-844)", Hermes

111 (1983) 1 8 0 - 1 9 0 , hier 180.

Agamemnon: maßvoller König oder gottloser Hybristes (810-854)?

213

fende) Kritik des Chors (799-804) geht er mit keinem Wort ein, weil er sie als erledigt betrachtet; dies macht aber zugleich deutlich, daß Agamemnon dem Chor dessen Kritik nicht nachträgt, sondern eine freundlich und wohlwollend vorgebrachte Kritik vertragen kann - freilich im Augenblick des größten Erfolgs. Dann beschreibt er Einstellung und Verhalten der Neider (834-837); hier ist im einzelnen manches unklar. Schließlich versichert er, er spreche wohl wissend aus eigener Erfahrung (838 f.), und illustriert dies mit seinen Erlebnissen beim Feldzug, bei dem Odysseus allein sich als wahrhaft bereitwillig erwiesen habe (840-844). Die Problematik der Verse 834 f. und 839 f. soll hier nicht ausführlicher erörtert werden (s. dazu FRAENKEL a. I). Zu 834 f. folge ich der Auffassung BOLLACKs 2 8 daß 835 νόσον eine vom Neid unabhängige mißliche Lage bezeichnet. 834-837 wären dann zu übersetzen: „Denn das Gift der Mißgunst, das sich am Herzen festgesetzt hat, verdoppelt die Last für den, der im Unheil steht: er wird von seinen eigenen Leiden bedrückt und stöhnt zugleich, wenn er auf anderer Leute Wohlstand blickt." Agamemnon würde dann hier das Beispiel eines Menschen wählen, der sich schon in bedrückten Lebensverhältnissen (νόσος) 29 befindet und sich dennoch durch seinen Neid eine zusätzliche Last schafft, die er eigentlich nicht gebrauchen kann. Denn Neid ist so tief in der menschlichen Natur verwurzelt, daß er sehr schwer zu bekämpfen ist und selbst der, der zusätzliches Leid nicht mehr ertragen kann, davon bedrückt wird. Dieser Gedankengang kann auch, wie 834 γαρ erfordert, erklären, warum es in der Natur nur weniger Menschen liegt, den, dem es gut geht, neidlos zu ehren (833). Wenig hängt davon ab, ob in der Deutung 28

29

(1983) 182.

BOLLACK (1983) 183 spricht einseitig von maladie und douleur physique. Der Zusammenhang und besonders die Gegenbegriffe 833 ευτυχών und 837 δλβος legen dagegen nahe, daß allgemeiner .bedrückende Lage' gemeint ist und man eher an .wirtschaftliche Not' o.a. denken soll. Vgl. auch die στρ. β des dritten Stasimons, bes. 1017 νηστιν ώλεσεν νόσον.

214

5. Agamemnon in Algos: Das dritte Epeisodion (783-974)

von 838-840 FRAENKEL (»With knowledge - for I am well acquainted with that mirror, intercourse - I may pronounce image of a shadow those who seem most devoted to me.«) oder BOLLACK 30 recht hat, der δοκοΰντας είναι ... έμοί insgesamt zum Subjekt, εϊδωλον zum Prädikat eines Infinitivsatzes macht und εϊδωλον σκιάς nicht (wie hingegen in Pi. P. 8,96 σκιάς οναρ) als zwei in einem einheitlichen Ausdruck sich gegenseitig verstärkende Begriffe, sondern konkret als ,sich aus der Spiegelung ergebendes, getreues Bild eines Schattens (= von etwas Nichtigem)' auffaßt. Dafür könnte sprechen, daß δοκοΰντας ohne Artikel steht und es daher schwierig ist, es allein zum Subjekt eines A. c. I. zu machen. Hätte BOLLACK recht (ich neige seiner Auffassung zu), so wäre zu übersetzen: „Ich kann mit Wissen sagen - denn ich kenne sehr wohl den Spiegel, der der menschliche Umgang ist - , daß die Tatsache, daß mir sehr verbunden scheinen, einen Schatten (= etwas Nichtiges) spiegelt (= Bild, Wiedergabe von etwas Nichtigem ist)." BOLLACKs Konstruktion ist aber so kompliziert, daß man Bedenken haben und trotz des Fehlens eines Artikels vor δοκοΰντας FRAENKELS Lösung vorziehen mag. Wie auch immer, dem König ist klar, daß der Eindruck, man sei ihm eng verbunden, zumeist täuscht. Dies hat sich auch beim Trojazug erwiesen: Nur Odysseus war ihm wirklich treu ergeben, obwohl er gegen seinen Willen (841 ούχ έκών) zu dem Zug gezwungen werden mußte. Daß gerade Odysseus, zumal als einziger (841 μόνος), genannt wird, hat die Interpreten gewundert. Am überzeugendsten scheint mir THOMSONS (a. I.) Verweis auf Β 166-332, weil nur hier davon die Rede sein kann, daß Odysseus allein Agamemnon bereitwillig unterstützt habe, und weil hier der Kontrast besonders wirksam wäre, daß einerseits die anderen Griechen, die freiwillig ihrer Bündnispflicht gefolgt sind, zur Abfahrt rüsten, Odysseus aber, οσπερ ούχ έκών επλει (841), sie zu-

30

(1983) 194 f.

Agamemnon: maßvoller König oder gottloser Hybristes (810-854)?

215

rückhält. Die umfangreichste Sammlung der Stellen, die hierher gehören könnten, findet sich bei THOMSON (Α. I ) . Die erste Rede einer dramatischen Person auf der Bühne ist immer besonders wichtig für den Eindruck, den die Zuschauer von ihr haben werden. Dies ist im Falle Agamemnons nicht grundsätzlich anders, obschon der Zuschauer aus der Parodos schon viel von Agamemnon weiß und auch bereits eine Art „Rede" wenn auch aus dem Munde des Chors (206-217) - von ihm gehört hat. Die Rede, die Agamemnon hier auf der Bühne hält, ist sehr aufschlußreich: Insgesamt ist es, wie gesehen, nicht berechtigt, in Agamemnon einen arroganten Despoten zu sehen. Denn gerade das politische Vorgehen, das er ankündigt, kann nur als maßvoll und umsichtig bezeichnet werden: Er will gemeinsam mit den Bürgern in der Versammlung Rat halten (845f.), und obwohl er, wo nötig (848 δτω δέ και δει ...), auch harte Maßnahmen ergreifen will (849), betont er gleich zu Beginn, daß er auch für die Fortdauer der guten Zustände sorgen (847), sich also bemühen will, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten. Ebenso passen die Worte, mit denen Agamemnon dem Chor auf dessen Beteuerung seiner Aufrichtigkeit antwortet (830-844), zu einem guten und maßvollen König. Trotz der Kritik, die der Chor an der einstigen Rüstung des Feldzuges übt (Agamemnon übergeht diesen Teil der Chorrede aus verständlichen Gründen), nimmt er dessen aufrichtige Ehrung seinerseits mit Verständnis und Wohlwollen entgegen und zeigt, daß er weiß, wovon der Chor spricht, wenn er sich von unaufrichtigen Menschen abgrenzt. Nur aus dem ersten Teil der Rede (810-828) kann man von Agamemnon einen ungünstigen Eindruck haben. Wenngleich es m. E. nicht berechtigt ist, Agamemnon aufgrund dieser Passage zu einem überheblichen oder gottlosen Frevler zu machen (so DENNISTON-PAGE, NEITZEL U. a.), sind andererseits die unseligen Töne, die in seinem Sprechen von Trojas Zerstörung anklingen, nicht zu leugnen (wie etwa FRAENKEL und DL BENEDETTO versuchten). Von Agamemnon wird hier ein durchaus differenziertes, nicht aber widersprüchliches Bild gezeichnet: Einerseits achtet er in

216

5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

untadliger Weise die Götter, andererseits ist sein Sprechen über die Zerstörung Trojas von einer Befriedigung über die völlige Auslöschung der Stadt und die gewaltsame Vernichtung all ihrer Bewohner gekennzeichnet, die - nach dem Adlerzeichen - gewiß nicht nur dem modernen Leser als unverhältnismäßig und maßlos erscheinen muß. Seine Deutung des Feldzuges und seines Ausgangs in 813-816 (δίκας γαρ ουκ άπό γλώσσης θεοί | κλυόντες, άνδροθνητας, 'Ιλίου φθοράς | εις αίματηρόν τεύχος ού διχορρόπως | ψήφους εθεντο)31 mit ihrer starken Betonung der vorgeblich einmütigen Zustimmung der Götter zu dem grausamen Geschehen in seiner Gesamtheit, an die abschließend durch 829 θεοΐς μέν έξέτεινα φροίμιον τόδε noch einmal erinnert wird, vor allem aber Formulierungen wie 818 καπνω δ' άλοΰσα νυν ετ' ευσημος πόλις, 819 f. συνθνήσκουσα δέ | σποδός προπέμπει πίονας πλούτου πνοάς oder 827 f. ώμηστης λέων | αδην ελειξεν αίματος τυραννικού und manch anderes in dem Abschnitt 818-828 sprechen für sich selbst. Daß aus solchen Worten nicht »profound sympathy« (FRAENKEL II 378 ad 819f.), sondern »complaisance« (LLOYD-JONES) 32 und ein gutes Maß Stolz auf die eigene Leistimg spricht, scheint mir offensichtlich. Daß Trojas Zerstörung ferner - nach Agamemnons eigenen Worten - γυναικός ουνεκα (823) geschehen ist, verstärkt den Eindruck der UnVerhältnismäßigkeit und Maßlosigkeit, den der ganze Abschnitt erweckt und den viele von Agamemnon gewonnen haben. Dies lag sicherlich auch in der Absicht des Dichters.33 Was an diesem Punkt kein gutes Licht auf Agamemnon wirft, ist aber nicht nur die Tatsache selbst, daß die völlige Zerstörung Trojas um einer (untreuen) Frau willen maßlos und unverhältnismäßig ist, sondern ebenso der Umstand, daß Aga-

31

Den überlieferten Text verteidigt in dieser Form - F Tr schreiben κλύοντες und φθοράς - WEST, Studies 204 f., q. v.; für mich ebenfalls überzeugend sein Bezug von άνδροθνητας auf δίκας. 32 1962 (194 f.) und o. S. 205 f.. 3 3 DAWE (1963) 224.

Agamemnon: maßvoller König oder gottloser Hybristes (810-854)?

217

memnon diese Tatsache offenbar trotz all der Opfer34 noch immer nicht bemerkt hat. Daß Agamemnon so maßlos über die Einnahme und Zerstörung Trojas spricht, ist gewiß kein Zufall, sondern unterstreicht den Eindruck, den wir von ihm in der Parodos gewonnen haben, wo er in seiner Eingenommenheit für den Feldzug aufgrund seiner mangelnden Fähigkeit, eine sachgemäße Güterabwägung vorzunehmen, sogar bereit war, seine Tochter zu opfern (s.o. S. 137-140). Daher widerspricht 823 aber auch keineswegs der Annahme einer konsistenten Charakterzeichnung Agamemnons, wie DAWE35 angenommen hatte; vielmehr läßt die Stelle einen durchgängigen Charakterzug Agamemnons erkennen. Agamemnon ist, wie ich im folgenden Kapitel in einem Vergleich der Darstellung Agamemnons in der Parodos und im dritten Epeisodion noch näher zu zeigen hoffe (s.u. S. 247-261), nicht durchweg maßlos, hat aber eine Charakterschwäche, die ihn daran hindert, seine richtigen Grundsätze auch dann in die Tat umzusetzen, wenn eine Leidenschaft oder Verführung bestimmter Art auf ihn wirkt. Schon hier scheint mir deutlich, daß Agamemnon offenbar in bestimmter Hinsicht (etwa in seinem Sprechen von Trojas Zerstörung) als maßlos, in anderer dagegen (so in seinem politischen Führungsstil) als ausgesprochen maßvoll gezeichnet werden soll. Die unterschiedliche Zeichnung Agamemnons in verschiedenen Hinsichten (in der- natürlich kein Widerspruch liegt), darf nicht im Interesse einer eindeutigen, dadurch aber leicht auch einseitigen Beurteilung Agamemnons geglättet werden, indem man, wie in der Forschung verbreitet, jeweils einen dieser Aspekte verabsolutiert oder wenigstens zu Lasten des anderen überbewertet. Achtet man darauf, in welchen Fällen und aus welchen Gründen Agamemnon das rechte Maß verfehlt, so kann, wie ich glaube, die Gegensätzlichkeit der Positionen FRAENKELs und DENNISTON34

Zu diesen gehört auch seine Tochter, die er nicht mit einer Silbe erwähnt. 35 (1963) 224.

218

5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

und ihrer jeweiligen Nachfolger in der Beurteilung Agamemnons überwunden werden. Nach dem Ende von Agamemnons erster Rede auf der Bühne tritt Klytaimestra auf. 36 Sie wendet sich zunächst nicht direkt an ihren Mann, sondern an den Chor (855) und hält eine lange Rede über ihre angeblichen Leiden (858-873) und verzweifelten Selbstmordversuche (874-876) während der Abwesenheit Agamemnons. Diesem wendet sie sich ausdrücklich erst danach zu (877-879), doch auch, was sie zuvor gesagt hat, ist offensichtlich in erster Linie für die Ohren ihres Gatten bestimmt. Sie erklärt Orests Abwesenheit aus der Furcht vor inneren Unruhen3-7 und hält es für nötig, zu betonen, daß „eine solche Entschuldigung gewiß keine List in sich birgt" (886), ein unüberhörbares Lügensignal. Im Gegensatz zum Chor38 steht Klytaimestra die Freude über die Rückkunft Agamemnons nicht ins Gesicht geschrieben; sie „erklärt" daher die Abwesenheit von Freudentränen, die man bei ihr, einer Frau, der Frau des glücklichen Siegers, am ehesten erwarten könnte, mit einer Austrocknung durch ständiges Weinen während der Zeit, da sich Agamemnon vor Troja in Gefahren aller Art befand (887-894). Der Kontrast zum Auftreten des Chors beschränkt sich nicht auf das Vorhandensein oder die Abwesenheit von Freudentränen: Anstelle der maßvollen, von augenscheinlichem Wohlwollen getragenen Ehrung, die der Chor angestrebt (786 μήθ' ύπεράρας μήθ' ύποκάμψας) und vorgebracht hatte, trägt Klytaimestra einen überspannten, orientalisch anmutenden Σωτηρ-Hymnus vor (895-903), für den Wilamowitz und F R A E N K E L ( S . FRAENKEL II 410) keine passendere Parallele finden konnten als einen Hymnus auf Pharao Sesostris III. Daß eine solche Parallele hierhergehört, zeigt Agamemnons Reaktion μηδέ βαρβάρου φωτός δίκην | χαμααιετές βόαμα προοτχάνης έμοί PAGES

3 6

TAPLIN ( 1 9 7 7 ) 3 0 6 - 3 0 8 ; anders DENNISTON-PAGE 1 1 7 und ad 8 5 4 - 5 .

37

Soviel scheint sicher; zur Bedeutung von βουλή an dieser Stelle vgl.

FRAENKEL II 3 9 8 - 4 0 1 m i t DENNISTON-PAGE 146. Ich h a l t e DENNISTON-PAGES

Argumente für überzeugend. Siehe o. S. 200 f.

38

219

Klytaimestra-Agamemnon: Die Ehrung (855-930)

(919 f.): Agamemnon erkennt, daß Klytaimestras Verhalten (das wahrscheinlich eine Proskynese einschließt, s. u. S. 224 mit Anm. 46) für die Ehrung allenfalls eines Barbaren, nicht aber für die eines griechischen Königs passend ist, und selbst Klytaimestra hält es nach ihrer „Ehrung" für nötig, ein φθόνος δ' άπέστω (904) 39 anzuschließen. Man hat bemerkt, daß hier mit φθόνος das Stichwort eingeführt wird, das dann in der Stichomythie bedeutsam wird. Schließlich fordert Klytaimestra ihren Mann auf, vom Wagen zu steigen, seinen Fuß aber, Ιλίου πορθήτορα (907) - auch dies ein orientalischer und ägyptischer Gedanke - , nicht auf den Boden, sondern auf purpurgefärbte πετάσματα zu setzen, die sie zugleich den Dienerinnen auszubreiten befiehlt (908-911). Wie ist diese Handlung, zu der Klytaimestra Agamemnon (schließlich erfolgreich) zu überreden versucht, zu bewerten? In der älteren Forschung galt unbestritten die Auffassung, daß das Betreten der Purpurtücher einen klaren Akt der Hybris darstelle. Dies ist aber durchaus nicht sicher. D A W E hat die Bedenken gegen eine solche Sicht zusammengefaßt: Niemand, weder Kassandra noch der Chor, macht Agamemnon einen Vorwurf aus seinem Betreten der Purpurgewirke. Vom Chor kann zwar keine Verurteilung Agamemnons erwartet werden; doch gegenüber Agamemnons Tat in Aulis äußert er ganz deutliche Mißbilligung. Seine Bemerkungen im dritten Stasimon verraten dagegen keinerlei Anzeichen von Kritik: 4 0

Der allgemeine Tenor der Bemerkungen des Chors ist nur der: Obwohl alles in Ordnung zu sein scheint, kann er sich nicht von dem bedrückenden Gefühl freimachen, daß die Dinge nicht ganz so sind, wie sie scheinen. Solch eine Äußerung wäre lächerlich, wenn Agamemnon einen Akt dreister Gottlosigkeit begangen hätte.

39

Dazu

FRAENKEL

ad

904;

Parallelen im Griechischen dort und bei

a. I. DAWE

(1963) 224 ff. Anm. 37; von dort auch das folgende Zitat.

THOMSON

220

5. Agamemnon in Algos: Das dritte Epeisodion (783-974)

Andererseits kann man mit dem Umstand, daß die Royal Family jeden Tag über rote Teppiche läuft, nicht erweisen, daß Agamemnons Handlung überhaupt nichts mit orientalischer Prunksucht zu tun habe. 41 Der Kontext macht klar, daß eine solche Ehrung - wenigstens in Griechenland - nicht üblich, sondern im Gegenteil zumindest ganz außergewöhnlich ist. Zudem handelt es sich nicht um Fußteppiche, sondern um »fabrics which are, or resemble, clothing [...]. They are woven (949) and dyed (946, 957) and variegated (923, 926, 936)« (DENNISTON-PAGE ad 909). Daß der athenische Zuschauer beim Auslegen eines Weges mit kostbaren Stoffen an orientalische Gebräuche denken sollte, die in Griechenland durch den Osthandel und spätestens durch die Perserkriege bekannt genug waren, scheint mir unleugbar; FRAENKEL (II 412 f., 416 f.) gibt überzeugende Belege dafür. Schwieriger ist es aber, den Rang zu bestimmen, den diese Stoffe einnehmen. Zweifellos sind sie sehr kostbar. Daß aber niemand Agamemnons Betreten der Tücher kritisiert (ein argumentum e silentio), spricht dafür, daß es sich dabei nicht geradezu um ein Sakrileg handelt. Es handelt sich wohl bei diesen Stoffen nicht um ausschließlich für den sakralen Gebrauch gefertigte Erzeugnisse. Diese Annahme macht an sich keine Schwierigkeiten. Agamemnons Bemerkung 922 θεούς τοι τοΐσδε τιμαλφεΐν χρεών besagt zunächst nur, daß man mit solch kostbaren Stoffen passenderweise nur Götter (nicht Menschen) ehren sollte.42 946 θεών kann ebensowohl von φθόνος wie von άλουργέοιν abhängen. Zwar ist, wie FRAENKEL (ad 946) schreibt, 947 wegen πρόσωθεν in jedem Fall klar genug, aber in einer Sprechpartie scheint mir τις ohne Gen. Part., wenn nicht Menschen gemeint sind, doch hart. Daß »there would not be sufficient justification for the exceptionally heavy emphasis which would arise from its position as first word of the clause« (DENNISTON-PAGE ad 946), ist kein zwingendes Argument: Vielleicht will Agamemnon durch 41

So DAWE (1963) 225 Anm. Man kann an die rituelle Bekleidung der Götterstatuen mit kostbaren Kleidern an Festtagen denken.

42

Klytaimestra-Agamemnon: Die Ehrung (855-930)

221

die Anfangsstellung von θεών betonen, daß er den φθόνος θεών mildern wolle - nicht den menschlichen, auf den Klytaimestra ihn abgedrängt hatte. Aber selbst wenn θεών von άλουργέσιν abhängen sollte, muß Agamemnon damit nicht mehr meinen als zuvor (922): daß er solche Stoffe lieber als Ehrengabe für die Götter sähe. Man darf wohl annehmen, daß Aischylos' Publikum recht genau wußte, wie - und ggf. unter Berücksichtigung welcher kultischer Implikationen - das Betreten solcher Tücher zu bewerten ist; wir können dagegen in den Einzelheiten kein klares Bild mehr gewinnen. Wichtige Grundtatsachen scheinen indessen klar: 1. Das Betreten der Tücher ist kein »Akt dreister Gottlosigkeit«. 2. Es weckt Assoziationen zu orientalischem Prunk (was auch sehr gut zu Klytaimestras Lobeshymnus auf Agamemnon paßt). 3. Das Betreten der Tücher bedeutet ihre Zerstörung (s. 948 f.). Auf diesen letzten Punkt hat besonders eindringlich DOVER43 hingewiesen:

Non sono tappeti, e calpestarli significa rovinarli. Dobbiamo pensare - e non parlo del teatro, bensì dello spazio prospiciente alla reggia evocata dalla rappresentazione teatrale - a tessuti di squisita fattura posati su un terreno coperto di pietruzzi taglienti e inquinato da escrementi di cani, di maiali e di bambini, da orina, da sputi e immondizie di ogni genere. Togliendosi i sandali Agamennone diminuisce il rischio che si rompa il filo, ma nulla può fare per impedire che resti macchiata la parte inferiore dei tessuti. Agamemnon begründet seine αιδώς, die Tücher zu betreten, ausdrücklich mit der Tatsache, daß er damit den Reichtum seines Hauses in Gestalt der für teures Geld erworbenen Gewebe zerstört (948f.). Die Scheu, Teile des eigenen Reichtums verschwenderisch zu vernichten, beruht wohl darauf, daß man als Mensch nicht wissen kann, ob dieser Wohlstand andauert. Ent43

K.J. DOVER: „I tessuti rossi dell 'Agamennone", Dioniso 48 (1977) 55-69 (-72), hier 58.

222

5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

schließt man sich zu einer solchen Vernichtung, so setzt man die Fortdauer dieses Wohlstandes voraus; dies kann als eine Form von Hybris aufgefaßt werden, die den göttlichen φθόνος herabbeschwören könnte. Eine solche Haltung, voll von Vertrauen auf die Fortdauer des eigenen Reichtums, hat Klytaimestra: ο'ίκοις4* δ' ύπάρχει τώνδε σύν θεοΐς, αναξ, | εχειν, πένεσθαι δ' ουκ έπίοταται δόμος (961 f.). Nur oberflächlich kaschiert Klytaimestra diese hybride Auffassung durch den Ausdruck συν θεοΐς, mit dem sie in Wahrheit voraussetzt, daß die Götter ihrem Haus auch weiterhin seinen Reichtum belassen werden. Es ist von Bedeutung, daß Agamemnon sich bis zuletzt zu solchen Aussagen nicht versteigt, sondern nach (948 πολλή γαρ αιδώς κτλ.) wie vor (924 ούδαμως ανευ φόβου) beim Betreten der Tücher Furcht vor (göttlichem und menschlichem) φθόνος empfindet. Ob diese αιδώς, diese Furcht vor göttlichem und menschlichem φθόνος, auch schon in Agamemnons erster Antwort auf Klytaimestras Aufforderung, die Tücher zu betreten, bestimmend ist oder dort weitergehende kultische Implikationen eine Rolle spielen, weiß ich nicht mit Sicherheit zu sagen. Wichtiger scheinen mir zwei Umstände zu sein, die immerhin klar sind und die es wie ich meine - erlauben, die Szene trotz einiger offener Fragen zu verstehen: Zum einen ist gewiß, daß Agamemnons Handlungsweise in dieser Szene ursächlich nichts mit seinem Tode zu tun hat. Klytaimestra und Aigisth haben ganz andere Gründe, Agamemnon zu töten: Neben ihrem Ehebruch ist für Aigisth Atreus' Verbrechen an seinem Vater, dessen Bruder Thyest (cena Thyestea) bestimmend (1581 f., 1590-1593), für Klytaimestra vor allem Iphigenies Opferung in Aulis (1431-1433). Auch im Sinne einer Porsons Korrektur (οίκος FTr); W E S T möchte stattdessen jetzt &κος schreiben (Studies 206 f., doch vgl. FRAENKEL ad 961), wovon er τώνδε abhängig macht Dadurch erhielte zwar 961 einen guten und prägnanten Sinn, aber 962 εχειν wäre, wenn ich recht sehe, dann noch schlechter in den Satz eingebunden, als wenn man τωνδε . . . εχειν 'to have of them' versteht, zumal das Präsens wohl nur .besitzen' (im Gegensatz zu πένεσθαι), nicht .(wieder) erwerben' heißen kann.

Klytaimestra-Agamemnon: Die Ehrung (855-930)

223

poetischen Gerechtigkeit dürfte die Opferung der eigenen Tochter ein weitaus gravierenderes Delikt darstellen als das Betreten purpurgewirkter Tücher. Agamemnons Tod ist in erster Linie eine Folge seines Verhaltens in Aulis. Ob seine Furcht vor einem φθόνος θεών in diesem Falle berechtigt ist, muß hingegen offen bleiben. Ein solcher φθόνος hätte keine Zeit mehr, wirksam zu werden; es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, Agamemnons Tod mit einem göttlichen φθόνος wegen des Betretens der Purpurtücher in Verbindung zu bringen. - Zum anderen - und dies scheint mir wichtig - tut Agamemnon mit dem Betreten dieser Tücher etwas, von dem er selbst meint, er sollte es besser nicht tun. Unabhängig davon, ob hier tatsächlich ein Akt von Hybris vorliegt, steht jedenfalls fest, daß Agamemnon selbst ihn für einen Akt des κακώς φρονεΐν (vgl. 927) hält. Dennoch läßt er sich dazu bewegen, die εϊματα zu betreten. Warum? Betrachten wir zunächst Agamemnons Antwortrede auf Klytaimestras Huldigung. Wie in dem Teil seiner Auftrittsrede, in dem er auf die Worte des Chors geantwortet hatte (830-850), nimmt er Punkt für Punkt auf Klytaimestras Rede und Gebaren Bezug, in derselben Reihenfolge, in der diese sie geäußert hatte (855894 - 914-916, 895-905 ~ 916-920, 905-911 ~ 921 ff.). Zunächst (914-916) nimmt Agamemnon mit feiner Ironie, aber wohl ohne Spitze (FRAENKEL ad 915) auf Klytaimestras überschwengliche Beschreibung ihrer angeblichen Leiden während Agamemnons Abwesenheit Bezug; genauer gesagt, er geht nur auf die Länge ihrer Rede ein, kümmert sich nicht um deren Inhalt und enthält sich in dieser Weise vorsichtig jeder Beurteilung dessen, was Klytaimestra gesagt hat. Als er auf ihre überschwenglichen Ehrungen zu sprechen kommt, ist seine Ablehnung deutlich: „Aber im rechten Maße zu loben - diese Ehrung muß von anderen kommen" (916 f.) Damit setzt er nicht etwa voraus, daß Klytaimestras Lob έναίσιμος gewesen sei - wie das Folgende zeigt, ist das Gegenteil der Fall - , er verbittet sich vielmehr überhaupt eine, sei es auch maßvolle, Ehrung durch Klytaimestra, da sie zu

224

5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

seinem Hause gehört. 45 Im übrigen hat Agamemnon an Klytaimestras Ehrungen dreierlei auszusetzen: 1. μή γυναικός έν τρόποις έμε | αβρυνε (918 f.) - dies bezieht sich offenbar auf Klytaimestras übertriebene Lobsprüche - , 2. μηδέ βαρβάρου φωτός δίκην I χαμαιπετές βόαμα προσχάνης έμοί (919 f.) - dies bezieht sich offenbar auf eine Geste Klytaimestras auf der Bühne, vermutlich eine Proskynese, die noch andauert, während Agamemnon davon spricht, 46 3. μηδ' εϊμασι στρώσασ' έπίφθονον πόρον | τίθει (921 f.) - hier erst geht es um die purpurnen Tücher, auf denen Agamemnon in den Palast schreiten soll, und dies ist dann bis zum Ende der Szene das bestimmende Thema. Agamemnon fürchtet, daß eine solche Ehrung φθόνος hervorrufen könnte (921 έπίφθονον πόρον). Dabei ist in erster Linie an den φθόνος θεών gedacht; im folgenden wird deutlich, daß Agamemnon eine solche Ehrung als übermenschlich empfindet: Götter sollte man mit solchen Tüchern ehren; er aber könne als Sterblicher (923 θνητόν οντα) nicht ohne Furcht auf so teuren und kostbar gewirkten Tüchern gehen: λέγω κατ ανδρα, μή θεόν, σέβειν έμέ (925). Sein Ruhm ist auch ohne solche gefährlichen Extravaganzen groß ge-

45

Siehe Tr 0 * zur Stelle: άλλα χρή τοϋτο το γέρας ερχεοθαι παρ' άλλων, τό αίνεΐσθαι δηλονότι, και μή παρά των οικείων η παρ' εαυτών. 46 Anders FRAENKEL II 416 f., demzufolge Agamemnon hier schon von den Puipurtüchem spricht; doch legt 921 μηδ(ε) nahe, daß mit den εΐματα ein neuer Kritikpunkt eingeführt wird. Siehe auch G. ROUX: „Clytemnestre et le chemin de pourpre. Sur un jeu de scène incompris de 1 'Agamemnon (v. 908 sq.)", in: Hommage à Marie Delcourt, Bruxelles 1970, 70-78; er legt außerdem dar, daß die hier vorliegende Form der Proskynese in Griechenland der Totenverehrung vorbehalten sei.

Klytaimestra-Agamemnon: Die Ehrung (855-930)

225

nug (926f.). 47 Nun folgen zwei traditionelle Wahrheiten, die außerdem noch gegen das Betreten der Tücher sprechen sollen: σωφροσύνη (= το μή κακώς φρονεΐν) ist das größte Geschenk des Gottes (daraus folgt, daß Agamemnon das Betreten der Tücher als Akt mangelnder σωφροσύνη, des κακώς φρονεΐν ansieht), und glücklich preisen soll man erst den, der sein Leben glücklich beendet hat. „Wenn ich in allem - wie mein Entschluß ist - so handle, bin ich zuversichtlich" (930). So schließt Agamemnon seine Rede. Mit ώς bezieht sich Agamemnon auf seine gerade geäußerten Grundsätze, εί + Opt. mit αν in der Protasis drückt

47

Blass' Deutung »aliud sonat nomen ποδοψήστρων, id est pannorum quibus pedes abstergentur, aliud purpurarum; non igitur oportet has pro illis habere«, der FRAENKEL ad 926 f. folgt, leuchtet mir nicht ein (gute Gründe bei DENNISTON-PAGE a.Z.). Das wichtigste Argument ergibt sich daraus, daß κληδών nicht die Bedeutung ,Name', ^Bezeichnung' haben kann, deren Möglichkeit selbst Gegner von Blass' Deutung in Α. A. 926 f. aufgrund der scheinbaren Parallele A. Eu. 418 glaubten einräumen zu müssen. Dort sagt aber Athene nach der Selbstdarstellung der Erinyen als 'Αραί: γένος μεν οίδα κλήδονας τ' έπωνυμους. Auch dort heißt κληδών Anruf', Anrede'; nur durch den Zusatz έπωνύμους ,Namen gebend' rückt die Bedeutung des Ausdrucks in die Nähe von ,Namen'. - Zu ποδοψήστρων (926) s. F"*, Tr°* und FRAENKEL II 4 1 8 f.; »the clearly contemptuous ring of the word« (FRAENKEL) erhält seine Bedeutung dadurch, daß Agamemnon seiner Gattin implizit vorwirft, beides gleichgesetzt zu haben: „Ohne Fußlappen und vielfältig gewirkte Tücher klingt Ruhm."

226

5. Agamemnon in Aigos: Das dritte Epeisodion (783-974)

aus, daß er fest damit rechnet, so handeln zu werden."48 Agamemnon will also sagen: Wenn ich - und ich bin fest entschlossen, es zu tun - mich in meinem Handeln stets nach den dargelegten Grundsätzen richte, daß man nämlich das menschliche Maß nicht überschreiten (923-925) und sich an σωφροσύνη halten (927 f.), sowie daß man niemanden glücklich preisen soll, bevor er in glücklichen Umständen gestorben ist, dann bin ich voll guten Muts. Für Agamemnon verletzt das ihm von Klytaimestra angetragene Betreten der Purpurtücher diese Grundsätze. Denn seiner Meinung nach sollte man Götter mit solch kostbaren Stoffen ehren, und folglich handelt es sich um eine Ehrung κατά θεόν, ού κατ' άνδρα (vgl. 925). Sein Ruhm ist ohnedies groß genug, und darauf ist Agamemnon stolz; eine übermäßige Ehrung zu akzeptieren wäre aber ein Akt des κακώς φρονεϊν. Zudem würde er damit ein όλβίσαι, eine Glücklichpreisung seiner selbst zulassen, da eine Ehrung, die mit sinnloser Verschwendung des eigenen Reichtums verbunden ist, in Überheblichkeit voraussetzte, daß dieser Wohlstand (ολβος) auch in Zukunft andauert (s. 948 f. und 48

So H. NEITZEL: „Die Stichomythie zwischen Klytaimestra und Agamemnon

(Aischylos, Agamemnon' 931-943)", RhM N.F. 120 (1977) 193-208, hier

194 f., nach dem überlieferten Text; dieser wurde aus zwei Gründen oft in Zweifel gezogen: 1. ως = ούτως ist bei Aischylos sonst nicht belegt; reichlich dagegen sonst in der Tragödie (vgl. DENNISTON-PAGE 150 f. gegen FRAENKEL II 420), so daß ich keinen Grund sehe, deshalb hier den Text zu ändern. 2. Opt. + ¿ív ist in der Protasis des hypothetischen Gefiiges erst wieder in der Prosa des 4. Jhd. belegt Eine interessante Erklärung dieser Tatsache gibt im Anschluß an DENNISTON-PAGE 150 (»a positive assertion i n a p o t e n t i a l f o r m « , v g l . KÜHNER-GERTH II 482,2 a) NEITZEL (1977) 1 9 4 f.;

man kann daher vielleicht übeihaupt von einem Eingriff in den Text absehen [WEST hält in seiner Ausgabe in 930 ebenfalls die Überlieferung, übersetzt aber im Apparat etwas anders: »si semper tali fortuna uti potero quali nunc, tum demum sine metu (924) agam«]. Zu erwägen immerhin die Änderung Dindorfs und Hermanns πράσσοιμεν, die die Schwierigkeit beseitigen würde. Wie W. KRAUS: „Die Begegnung der Gatten in Aischylos' Agamemnon", WS 91 (1978*) 43-66, hier 49 f. gezeigt hat, wäre der Plural »nicht rein phraseologisch aufzufassen, sondern würde Klytaimestra einbeziehen« (KRAUS schließt sich dann allerdings wie FRAENKEL Weils Konjektur ειπον τάδ' ώς an).

Warum gibt Agamemnon nach (Stichomythie 931-943, 944-974)?

227

o. S. 221 f.)· Dies alles erklärt, warum Agamemnon keineswegs ανευ φόβου diese an sich verlockende Ehrung annehmen kann. Zuversichtlich (930 ευθαρσής) ist er hingegen, wenn er die Tücher nicht betritt, keine Ehrung κατά θεόν annimmt, nicht κακώς φρονεί, kein όλβίσαι seiner selbst zu Lebzeiten zuläßt. Er ist daher fest entschlossen, dementsprechend zu handeln. Die nun folgende Stichomythie ist der Höhepunkt des dritten Epeisodion. Leitfrage bei der Besprechung der Stichomythie soll zunächst sein, ob wir aus ihr und aus dem, was wir bereits von Agamemnon wissen, verstehen können, warum Agamemnon trotz seiner anfänglich entschiedenen Ablehnung (921-930) und obwohl seine Bedenken bis zuletzt (948 f.) nicht ganz ausgeräumt werden, sich schließlich doch zum Betreten der Purpurtücher bewegen läßt. Bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, sind jedoch einige Probleme im einzelnen zu behandeln. Umstritten ist vor allem der Sinn der Verse 931-934. Grundlegend für mein Verständnis ist die Deutung von 930 als Versicherung Agamemnons, er werde zuversichtlich sein, wenn er - wie er es vorhabe - in allem „so", d. h. σωφρόνως, handeln werde (s. o. S. 225f. mit Anm. 48). Das heute weithin akzeptierte Verständnis von 931-934 beruht auf der Deutung FRAENKELs (II 420-425). Danach bezieht sich 931 τόδ(ε) auf das Folgende, d. h. auf die Frage, die Klytaimestra kurz darauf (933) stellen wird. Klytaimestra würde also ihren Gatten auffordern, auf die folgende Frage ganz ehrlich (μη παρά γνώμην) zu antworten. Agamemnon würde daraufhin (932) zusichern, er werde seine Meinung (γνώμη) gewiß nicht verfälscht zum Ausdruck bringen (μη διαφθεροΰντ' έμέ). Klytaimestra würde dann (933) fragen, ob Agamemnon wohl in einem Augenblicke der Gefahr (δείσας) den Göttern gelobt hätte, „so zu handeln" (d.h. Purpurtücher zu betreten). Die ehrliche Antwort Agamemnons (934) wäre, er hätte dies durchaus getan, wenn ein kundiger Seher (είδώς ευ) ihm diesen Ritus (τέλος) aufgetragen hätte. Zum leichteren Verständnis sei FRAENKELs Übersetzung der Verse 931-934 im Wortlaut angeführt:

228

5. Agamemnon in Algos: Das dritte Epeisodion (783-974)

Clyt. Aye, and tell me this too, of thine honest mind, Ag. My mind, be assured, I shall not allow to be falsified. Clyt. Wouldst thou, in an hour of terror, have vowed to the gods to do this as I request thee now? Ag. Yes, if any man with full knowledge had prescribed the performance of this ritual. Diese Deutung bereitet einige Schwierigkeiten. 49 Zum einen muß es verwundern, daß Klytaimestra nach dieser Deutung auf Agamemnons Rede mit keinem Wort eingeht. Zum zweiten ist es zumindest ungewöhnlich, daß Agamemnon Klytaimestras Bitte (931) ohne Rückfrage, worum es sich handle, zu erfüllen verspricht ( 9 3 2 ) , anders als etwa an der von FRAENKEL (II 4 2 4 ) zitierten Parallelstelle Pr. 617. Schließlich hat viele Interpreten, die dieser Deutung folgen, überrascht, daß Agamemnon die Möglichkeit auch nur in Betracht ziehen konnte, ein Seher könnte eine solche Handlungsweise nahelegen. so Wohl kann ein Seher, so konnte man sagen, eine Opferung oder eine Weihgabe nahelegen, kaum aber einen Akt des κακώς φρονεΐν. Denn selbst wenn es sich nicht wirklich um einen Akt der Hybris handeln sollte, ist es doch sehr verwirrend, daß Agamemnon einem Seher zutraut, zu etwas zu raten, was er selbst offensichtlich für einen Akt der Hybris hält (927f.). Die Auffassung, hier sei von einem Seher die Rede, der Agamemnon dazu raten könnte, über die Purpurtücher zu gehen, wurde aber erst durch Aurats Eingriff in den Text (έξέίπεν : έξεΐπον F Tr) möglich. Dabei konnte man sich freilich auf Ich folge hier weitgehend NEITZEL (1977). So DENNISTON-PAGE 152. - H . GUNDERT: „Die Stichomythie zwischen Agamemnon und Klytaimestra (>Agam.< 931-943)", Wege zu Aischylos II 219-231, hier 227 (= Θεωρία Festgabe für W.H. Schuchhardt, hrsg. v. F. Eckstein, Baden-Baden I960, 69-78). - LLOYD-JONES (1962) 196. DOVER (1977) 58 spricht von »due aspetti interamente diversi« am Betreten der Tücher, »l'uno offensivo agli dèi, l'altro, in talune circostanze, gradito«, und sucht so den Widerspruch zu eliminieren. Di BENEDETTO (1978) 149 Anm. 17 erklärt das Problem für »del tutto secondario di fronte al fatto che l'esecuzione di questo atto venga subordinato all'ordine di un indovino o un sacerdote.«

so

Warum gibt Agamemnon nach (Stichomythie 931-943, 944-974)?

229

Klytaimestras Worte gegen Ende der Szene (963-965) berufen, wo eine ähnliche Auffassung ausgesprochen zu sein scheint. NEITZEL (1977) ist, soweit ich sehe, der erste gewesen, der angesichts dieser Probleme wieder auf die Diskussion vor FRAENKEL zurückgegriffen, den überlieferten Text verteidigt und eine andere Deutung der Verse vorgeschlagen hat. 5 1 Dabei konnte er auf weitere Probleme der bis dahin üblichen Auffassung hinweisen, die FRAENKELS Autorität, zum Teil mit unzureichenden Gründen, hatte in Vergessenheit geraten lassen. Ein wichtiger Punkt ist die Bedeutung von 932 γνώμην ... διαφθεροΰντ. FRAENKEL (II 424 zu διαφθεροΰντ') hatte dazu geschrieben: »This seems to me an instance of 'the Greek idiom, by which a person is said himself to produce the changes of physical and mental state which take place in him' (Rutherford on Babrius 22. 1).« FRAENKEL (II 425) folgt dann aber keineswegs dieser Deutung und lehnt (mit Kennedy) ausdrücklich das Verständnis »I am not the man to change my will, I can tell you« ab, das doch mit jenem Greek idiom in völliger Übereinstimmung steht; er entscheidet sich vielmehr für die Deutung »be sure I will say what I really think«, durch die sich gerade kein Fall jenes idiom ergäbe. Denn ,seine Meinung zerstören' bedeutet nicht ,sie weiterhin insgeheim besitzen, aber eine andere Meinung vorgeben', sondern .seine Meinung aufgeben (und eine andere annehmen)'. Diesen Gebrauch von γνώμην (u.ä.) διαφθείρειν illustriert NEITZEL52 an E. Hipp. 388-390. Dort sagt Phaidra zum Chor: ταΰτ' ούν επειδή τυγχάνω φρονοΰσ' έγώ, ουκ εσθ' όποίω φαρμάκω διαφθερεϊν εμελλον, ώστε τουμπαλιν πεσείν φρενών.

51

Jetzt druckt auch tion.

52

(1977) 198.

WEST

den überlieferten Text mit

390

NEITZELS

Interpunk-

230

5. Agamemnon in Algos: Das dritte Epeisodion (783-974)

Hier ist deutlich, daß mit διαφθερεΐν vom Aufgeben einer Gesinnung die Rede ist, 53 und folglich vom Zurückfallen aus dieser Gesinnung in eine andere mit ώστε τοΰμπαλιν πεσείν φρενών. Agamemnon scheint daher in 932 zu meinen: „Wisse, daß ich meine Auffassung nicht aufgeben (.zerstören') werde"; damit bezieht er sich augenscheinlich auf seine Auffassung, man müsse sich stets auf das Maß der σωφροσύνη beschränken, und daraus folge, daß er nicht über die Purpurtücher schreiten dürfe. Dann aber ist klar, daß 931 nicht als Vorbereitung von Klytaimestras Frage in 933 verstanden werden kann; die Gedankenfolge wäre in diesem Fall ganz sinnlos (etwa: „Antworte mir auf folgende Frage ganz ehrlich." - „Ich werde meine Meinung nicht ändern!" „Hättest du ...?"). Der Gedankengang ist dagegen sehr einfach, wenn 931 τόδ' sich auf die vorherige Rede Agamemnons bezieht, was auch die Seltsamkeit beseitigt, daß Klytaimestra darauf mit keinem Wort eingehen soll:54 „Aber sage mir das ja nicht gegen deine wahre Auffassung." Klytaimestra würde damit ihrem Gatten unterstellen, daß die Grundsätze des Maßhaltens und der σωφροσύνη, auf die er sich in seiner Rede berufen hat und die ihn dazu führen, die Purpurtücher nicht betreten zu wollen, nicht seiner wahren Auffassung entsprechen, sondern daß er in Wahrheit wünscht, die Tücher zu betreten. Beides schließt sich natürlich nicht völlig aus; es ist durchaus möglich, daß Agamemnon in gewissem Maße wünscht, die Ehrung anzunehmen, aber meint, er dürfe das nicht tun, um nicht das Maß der σωφροσύνη zu verletzen. Klytaimestra aber unterstellt ihm, daß dieses Reden von Maßhalten gar nicht seiner wahren Einstellung entspricht. Agamemnon seinerseits unterstellt Klytaimestra (völlig zu Recht), daß sie ihn von seiner maßvollen Haltung abzubringen wünscht, und antwortet: „Meine Einstellung, das sollst du wissen, werde ich nicht aufgeben."

53

Unmöglich scheint mir die Auffassung GROENEBOOMS (268 mit Anm. 6), der auch im .Hippolytos' die Bedeutung .verleugnen' ansetzt.

54

Ähnlich NErrZEL (1977) 196 f.

Warum gibt Agamemnon nach (Stichomythie 931-943, 944-974)?

231

Das Verständnis der beiden folgenden Verse (933 f.) ist besonders schwierig. Gemeinhin wird, wie erwähnt, angenommen, daß es sich in 933 um einen Irrealis (ηΰξω αν) handle („Hättest du aus Furcht den Göttern gelobt, ..."), und Agamemnon dann (934) diese Frage unter der Bedingung bejaht, daß ein Seher ihm dies nahegelegt hätte, τάδε wäre dann das Betreten der Tücher. Dieses Verständnis hat, obwohl er ihm folgte, bereits FRAENKEL selbst (II 422 f.) suspekt gemacht, indem er darauf hinwies, daß αν in sehr außergewöhnlicher Position steht; er zeigt, daß αν in der Apodosis hypothetischer Sätze stets entweder in der Nähe des Verbum steht, zu dem es gehört (wie es etwa in 963 der Fall ist), oder aber an zweiter Stelle im Kolon oder Satz, es sei denn, es wird durch δ' o. ä. auf die dritte Stelle verdrängt: On the other hand, in Ag. 933, as the line stands, viz. ηΰξω θεοΐς δείσας αν κτλ., the αν is neither next to the verb the conditional force of which it marks, in this case ηΰξω, nor does it come second in the sentence or a κώλον. Whether such a position for αν, as it has here, is permissible, must at least remain open to question. I have not found time to read through again a great number of texts with a view to settling this particular point and would not like to rely upon my memory, but I may at least say that I cannot recall having come across αν in so abnormal a position. (FRAENKEL II 423) FRAENKEL hat dankenswerterweise diesen Sachverhalt, der ja

sein eigenes Verständnis in Frage stellt, nicht vorenthalten. Denn er zieht aus dieser Überlegung keineswegs den Schluß, daß αν von ηΰξω getrennt werden muß, sondern erwägt stattdessen Hermanns Umstellung δείσας αν ηΰξω θεοΐσ, die er allerdings verwirft. NEITZEL ist meines Wissens der erste, der nach FRAENKEL die Konsequenz gezogen hat, αν vielmehr auf ερδειν zu beziehen. ss αν ώδ' ερδειν τάδε würde dann 930 ως πράσσοιμ' civ entsprechen, nur daß jenes in einer hypothetischen Periode, dieses in der Abhängigkeit (von ηΰξω θεοΐς) steht. Dadurch erklärt 5 5

NEITZEL (1977) 200 f. mit Anm. 25.

232

5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

sich auch der überlieferte Inf. Präs. statt des üblichen Inf. Fut.: »Da [...] der Inf. + αν infolge der Abhängigkeit von ηΰξω statt des Opt. mit αν gesetzt ist (vgl. K.-G. I 240) und der Potentialis, wie wir zu 930 gesehen haben, die Aussagekraft des Futurs besitzt, kann dieser durchaus das gewöhnliche Futurum vertreten.« 56 933 wäre also etwa zu übersetzen: „Hast du den Göttern aus Furcht gelobt, darin so handeln zu wollen?" versucht auf diese Weise, der einst verbreiteten (s. II 421 f.) Auffassung von 933 wieder Geltung zu verschaffen, die FRAENKEL bekämpft hatte, indem er mit Weil und Kennedy darauf verwies, man könne nicht geloben, etwas nicht zu tun, sondern nur, etwas zu tun (etwa Opfer darzubringen, Weihgeschenke dazubringen usw.). Sollte dies zutreffen,5*7 so muß man mit NEITZEL 58 darauf verweisen, daß αν ώδ' ερδειν τάδε ein positiver Ausdruck mit positivem Inhalt ist, insofern mit ώδ(ε) (wie 930 mit ως) eine maßvoll-bescheidene Haltung (σωφροσύνη) gemeint ist, die Klytaimestra als Zeichen von Furcht auslegt. Daß Agamemnon nicht über die Tücher gehen will, ist damit nur Folge und Ausdruck einer positiven Haltung, die man durchaus geloben könnte. Es bleibt eine gewisse Verlegenheit in der Hinsicht, daß, wie FRAENKEL (II 421 f.) gemeint hatte, die Auffassung von 933 als Irrealis gestützt zu werden scheint durch Klytaimestras Bemerkung (963-965), sie hätte πολλών πατησμόν είμάτων gelobt, wenn ein Orakel unter dieser Bedingung die sichere Rückkehr Agamemnons in Aussicht gestellt hätte. Dadurch soll zugleich die Auffassung von 934 είδώς γ' ευ ,ein Seher' geNEITZEL

FRAENKEL

5 0

(1977) 200; für die hier verfolgte Argumentation ist es aber ohne Belang, wenn man es vorzieht, mit Headlam ερξειν zu lesen.

57

NEITZEL

Zweifel daran hat NEITZEL (1977) 200 Anm. 25; er meint, »daß man zum Potentialis, der einen festen Vorsatz (bzw. wie hier ein Gelübde) ausdrückt (und jeder feste Vorsatz, den man im Angesicht der Götter ausspricht, ist ein Gelübde an die Götter), durchaus die Negation ού setzen kann.« Daß es sich hier tatsächlich um eine Gelübde handle, möchte ich allerdings bezweifeln; s.u. S. 233f. 58 (1977) 200 Anm. 25.

Warum gibt Agamemnon nach (Stichomyihie 931-943, 944-974)?

233

stützt werden. Dies ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Diese .Parallele' könnte aber auf einem Vorurteil beruhen, und die beiden Fälle sind nicht ganz vergleichbar: Denn zum einen ist αν ηύξάμην (963) eindeutig ein Irrealis, während für 933 - wie F R A E N K E L (S. O.) selbst gezeigt hat - wegen der Stellung von αν erhebliche Vorbehalte bleiben, zum anderen sind, wie N E I T Z E L 5 9 zu bedenken gibt, beide Situationen nicht wirklich vergleichbar: Denn während es für Klytaimestra durchaus möglich ist, nach Befragen eines Orakels für den Fall von Agamemnons Rettung zu geloben, sie wolle den Weg des heil Zurückgekehrten mit Göttergewändern60 auslegen (obwohl dies natürlich nur Fiktion ist und kein Orakel das jemals befehlen würde), um anzudeuten, daß sie für ihn alles tun würde, wäre ein derartiges Gelübde für Agamemnon undenkbar [...]. ist nun allerdings der Auffassung, der von Agamemnon (930) ausgesprochene feste Vorsatz stelle tatsächlich eine Art εύχή dar und Klytaimestras Frage beziehe sich daher ausschließlich auf δείσας („ aus Furcht?"). Entsprechend übersetzt er: „Du hast den Göttern aus Furcht gelobt (nämlich mit Vers 930), hierin (jetzt) so handeln zu wollen?" 61 Dies kann mich aber nicht überzeugen; denn 930 stellt offenbar kein förmliches Gelübde dar, sondern einen Entschluß, den Agamemnon für sich gefaßt hat. Dabei denkt er sicherlich an die Gefahr, die von den Göttern her demjenigen droht, der sich nicht σώφρων verhält. „Im Angesicht der Götter" 62 aber hat Agamemnon diesen Entschluß nicht ausgesprochen, sondern nur, wenn man will, mit Rücksicht auf die Götter. Es ist daher unwahrscheinlich, daß Klytaimestra mit ηυξω, was ja eine förmliche ευχή meinen muß, auf 930 Bezug nehmen kann. Nur der Inhalt der vermeintlichen NEITZEL

59

Ibid. 201 ANM. 29. NEITZEL geht offenbar davon aus, daß es sich um ausschließlich für den sakralen Gebrauch bestimmte Stoffe handelt, was aber m.E. nicht sicher ist (s.o. S. 220f.).

ÖO

6 1

NEITZEL (1977) 201.

62

Siehe o. S. 232 Anm. 57.

234

5. Agamemnon in Algos: Das dritte Epeisodion (783-974)

ευχή (ώδ' έρδειν τάδε, d.h. sich der σωφροσύνη gemäß zu verhalten, woraus folgen muß, die εϊματα nicht zu betreten) ist derselbe wie der des von Agamemnon (930) ausgesprochenen Vorsatzes, aber beim Aussprechen dieses Vorsatzes handelt es sich nicht um eine ευχή. Agamemnon sagt ja nur, daß er (in Hinsicht auf seinen künftigen ολβος) zuversichtlich ist, wenn er sich an seinen Vorsatz hält, gelobt aber nicht dessen Einhaltung. Die betonte Stellung von ηΰξω am Anfang von 9 3 3 E 3 legt zudem nahe, daß der Hauptton der Frage auf ηυξω liegt, und δείσας eine Unterstellung Klytaimestras am Rande ist. Sie unterstellt, Agamemnon habe früher einmal in einem Augenblick der Gefahr aus Angst das Gelübde getan, sich bei späteren Ehrungen bescheiden zu verhalten, und sei so zu dem am Ende seiner Rede nur geäußerten Vorsatz gekommen. Damit nimmt sie Agamemnons ουδαμώς ανευ φόβου (924) auf. Agamemnon hatte damit natürlich die Furcht vor göttlichem und menschlichem φθόνος gemeint (vgl. 921), doch Klytaimestra insinuiert zugleich den ehrenrührigen Vorwurf der Angst. Jedenfalls ist aber ein Gelübde gemeint, das Agamemnon irgendwann (etwa bei dem Sturm auf der Heimfahrt) getan haben könnte, nicht seine Worte am Ende seiner Rede (930), die einer εύχή nicht ähnlich sehen. 933 ist also etwa zu übersetzen: „Hast du aus Furcht den Göttern ein Gelübde getan, hierin so (d. h. wie in 930 ausgesprochen) handeln zu wollen?" Da sich die Einführung eines Sehers (είδώς ευ) und die damit verknüpfte Konjektur έξεΐπεν (Aurat : έξεΐπον FTr) in 934 im wesentlichen als Konsequenz des Verständnisses von 933 als Irrealis ergab (s. FRAENKEL II 422), läßt sich nun 934 ohne Eingriffe in den Text verstehen: εϊπέρ τις, είδώς y ευ τόδ' έξεΐπον τέλος „Wenn jemand, so habe ich jedenfalls mit vollem Wissen diesen Beschluß verkündet." Diese Deutung hatte schon GROENEBOOM (α. I.) trotz seiner Deutung von 933 als Irrealis akzeptiert, und NEITZEL (1977) ist ihm in diesem Punkt gefolgt. Sie ist sprachlich ohne Anstoß: Zu εϊπέρ τις (u. ä.) ,si quis alius' in der 63

Siehe

KÜHNEF-GERTH

II 596 f , 1 und 3.

Warum gibt Agamemnon nach (Stichomythie 931-943, 944-974)?

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Tragödie s. S. OT 1118, Aj. 488, OC 734; E. Ph. 1596. Zu τέλος .Beschluß' s. A. Suppl. 603. 624, Eu. 243. 434 (vgl. auch LSJ s. v. τέλος II 4). Der oft für korrupt gehaltene letzte Vers der Stichomythie (943) ist schwierig, doch ist hier eine Entscheidung nicht von so grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Passage, wie es bei 931-934 der Fall war. μέντοι, das einen Gegensatz ausdrücken muß, hat zu Eingriffen in den Text Anlaß gegeben, da πιθοΰ und κράτος πάρες offenbar auf dasselbe verweisen, so daß ein Gegensatz nicht erkennbar wird. Dies hat sogar FRAENKEL dazu veranlaßt, gleich zwei (wenn man will drei) Eingriffe in den Text des Verses zuzulassen: Er liest κρατείς (κράτος FTr) mit Weil und παρείς (πάρες FTr) mit Bothe64 und tilgt außerdem γ' mit Wecklein. Dies ergäbe einen befriedigenden Sinn (»Clyt. Yield; truly thou art the superior if of thine own will thou hast left it [sc. νίκην] to me«, in FRAENKELs Übertragung) und hätte in S. Aj. 1353 (παϋσαι· κρατείς τοι των φίλων νικώμενος) eine schöne Parallele. Doch ist der Eingriff in den Text zu schwerwiegend, um überzeugen zu können. NEITZEL 65 hat dagegen vorgeschlagen, den durch μέντοι bezeichneten Gegensatz zwischen πιθοϋ und εκών zu sehen. Dann wäre zu übersetzen: „Folge mir; doch überlasse mir freiwillig den Sieg (κράτος)." γ(ε) bleibt schwierig, und FRAENKELS Deutung wäre klar vorzuziehen, wenn sie paläographisch einige Wahrscheinlichkeit besäße. Hier müssen Unsicherheiten bleiben. Betrachten wir nun die Stichomythie insgesamt (930-943): (Ag. Wenn ich aber - wie mein Entschluß ist - in allem so handeln werde, dann bin ich zuversichtlich.) KL. Aber sage mir das ja nicht gegen deine Einstellung! Ag. Meine Einstellung, das sollst du wissen, werde ich nicht aufgeben! 64

Soweit folgt ihm jetzt WEST in seiner Ausgabe. (1977) 207; seine Deutung von γ(ε) [„Ja (γε), folge mir"] ist allerdings unmöglich; γε müßte dafür nach πιθοΰ stehen.

65

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5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

Kl. Hast du den Göttern aus Angst ein Gelübde getan, so handeln zu wollen? Ag. Wenn jemand, so habe ich jedenfalls mit vollem Wissen diesen Beschluß ausgesprochen. KZ. Was aber, meinst du, hätte Priamos , wenn er das vollbracht hätte? Ag. Bestimmt wäre er, denke ich, auf vielfach gewirkten geschritten. KZ. Habe denn keine Scheu vor dem Tadel der Menschen. Ag. Gerade (γε) das vom Volk gesprochene Wort hat jedoch große Macht. Kl. Wer aber keine Mißgunst erregt, ist auch nicht beneidenswert. Ag. Einer Frau gebührt es wahrlich nicht, nach Kampf zu streben. Kl. Doch gerade den Glücklichen steht es an, sich auch besiegen zu lassen. Ag. Liegt dir etwa an diesem Sieg in Streit? KZ. Folge mir; doch überlasse mir freiwillig den Sieg! [?] Ausgangspunkt für die folgende Deutung der Stichomythie ist die Annahme, daß Agamemnon, unbeschadet der tatsächlichen Implikationen eines solchen Aktes, das Betreten der Purpurtücher nicht etwa deshalb ablehnt, weil ihm die Ehrung selbst (eine hohe, außergewöhnliche und angenehme Ehrung) nicht gefiele, sondern weil er sie für gefährlich hält. Seiner Ansicht nach ist eine solche Ehrung übermenschlich (922-925), und daher will er sich mit dem großen Ruhm, den er ohnedies besitzt (926 f.), zufriedengeben, ohne sich auf Ehrungen einzulassen, die das Maß der σωφροσύνη überschreiten könnten. Klytaimestra unterstellt ihrem Mann zunächst einmal, er spreche damit παρά γνώμην, d.h., sie unterstellt ihm genau das, was DENNISTON-PAGE (151) angenommen haben: daß Agamemnon insgeheim wünsche, die Purpurtücher zu betreten, und die Haltung, mit der er ausführlich begründet, warum er dies nicht tun will, gegen seine wahre Einstellung verstoße. Klytaimestra appelliert damit an die unmittelbare Freude, die Agamemnon zweifellos bei einer solchen Ehrung empfinden muß, setzt aber zugleich seine

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gewichtigen Gegengründe, die aus einer maßvollen Grundhaltung folgen, als unehrlich herab. Agamemnon erfaßt diesen Versuch, seine Gründe abzuwerten, und antwortet nicht direkt auf das, was Klytaimestra gesagt hat (etwa: „Keineswegs, ich spreche ganz ehrlich."), sondern entgegnet genaugenommen der hinter Klytaimestras Worten liegenden Absicht: „Wisse, daß ich meine Einstellung" - d.h. die Absicht, stets der σωφροσύνη zu folgen, die ihn vom Betreten der Tücher abhält - „nicht aufgeben werde." Was Klytaimestra und Agamemnon mit γνώμη meinen, ist demnach nicht ganz dasselbe: Klytaimestra meint damit die auf Agamemnon zweifellos wirkende Verlockung, die Purpurgewirke zu betreten, die er - wie sie ihm unterstellt - mit seinem Gerede von κατ ανδρα σέβειν und το μη κακώς φρονεΐν nur bemäntelt, Agamemnon dagegen die seiner Ablehnung zugrundeliegende Haltung der σωφροσύνη selbst, mit der es ihm ganz ernst ist und die aufzugeben er keinesfalls gewillt ist. Da Agamemnon sich nicht so leicht von seiner Haltung abbringen läßt, muß sich Klytaimestra darauf verlegen, seine Bedenken im einzelnen zu entkräften. Dazu wendet sie sich zunächst Agamemnons Furcht vor den Göttern zu und fragt ihn: „Hast du den Göttern gelobt, dich hierin so verhalten zu wollen?", d. h., hast du - aus Angst (δείσας) - in einem Augenblick der Gefahr ein Gelübde getan, dich im Falle deiner Rückkehr in Hinsicht auf Ehrungen sehr maßvoll und zurückhaltend zu zeigen? - Nun folgt Agamemnons Ablehnung, auf die Tücher zu treten, nicht aus einem Gelübde, das er getan hätte, sondern aus seiner Überzeugung, daß dies als eine Verletzung der σωφροσύνη gefährlich und daher zu meiden sei. Agamemnons Antwort kommt daher auch einem Nein gleich, geht aber wesentlich darüber hinaus: „Jedenfalls (γε) habe ich mit vollem Wissen diesen Entschluß ausgesprochen." Damit hat Klytaimestra ihren Gatten zunächst zu dem Eingeständnis bewogen, daß er gegenüber den Göttern keine Selbstverpflichtung eingegangen ist. Dies ist aus Klytaimestras Sicht natürlich nur dann sinnvoll, wenn trotz aller Bedenken, die man bei einem solchen Akt haben kann - das Betreten der Purpurgewirke keinen offensichtlichen und

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extremen Akt der Hybris darstellt. Da dies anscheinend nicht der Fall ist (s. o. S. 219-221), bedeutet dieses Eingeständnis in Klytaimestras Sinne deshalb einen Fortschritt, weil sie dadurch insinuieren kann, Agamemnon sei auf keine Weise gebunden und völlig frei, die Ehrung anzunehmen. Nicht beseitigt hat sie dagegen den eigentlichen Grund seiner Bedenken, eine solche Ehrung sei nicht κατ' άνδρα und daher abzulehnen. Denn Agamemnon gibt ja nach wie vor an, er habe seinen Entschluß (930) ευ είδως (934) gefaßt und ausgesprochen. Daher wendet sich Klytaimestra nun ebendiesem Argument zu, die von ihr vorgeschlagene Ehrung sei nicht κατ' άνδρα und fragt Agamemnon, was wohl Priamos an seiner Stelle (935 εί τάδ' ηνυσεν) getan hätte. Dabei ist sie, wie besonders DOVER6® herausgestellt hat, bemüht, Priamos nicht als orientalischen Herrscher (vgl. 919), sondern als möglichen Sieger in den Vordergrund zu stellen: Clitemnestra non vuol rischiare di irrigidire il rifiuto di Agamennone ricordando Priamo quale sovrano asiatico; ma provoca la risposta da lei desiderata mediante il fantasma di Priamo vincitore (εί τάδ' ηνυσεν). Agamennone soggiace alla tentazione di non volere, a nessun patto, essere inferiore all'avversario defunto.6"7 Dadurch erreicht sie, daß Agamemnon sich nicht über die Tatsache Rechenschaft gibt, daß diese Analogie mit Priamos inakzeptabel ist: Er ist nur als Rivale und potentieller Sieger, also als das, worin er vergleichbar ist, genannt. Dadurch wird zweierlei erreicht: Erstens ist damit gezeigt, daß es für einen Menschen nicht unvorstellbar ist, eine solche Ehrung anzunehmen (gegen 922-925). Zum zweiten wird an Agamemnons Stolz als Sieger appelliert und ihm insinuiert, daß er seine militärischen Erfolge nicht voll nutzt, wenn er (anders als es zweifellos Priamos getan hätte) diese Ehrung nicht annimmt. Klytaimestra malt dabei, wie DOVER (S. o.) formuliert, »il fantasma di Priamo vincitore« an die 66 67

(1977) 61-63. Ibid. 63.

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Wand. Dieser Appell ist nicht ganz ohne Erfolg, denn Agamemnon weist in seiner Antwort nicht mehr darauf hin, daß eine Analogie zwischen dem orientalischen Herrscher Priamos (vgl. 828) und ihm, einem griechischen König, illegitim sei (wie hingegen noch 919 f.), sondern beschränkt sich auf die Feststellung, Priamos hätte zweifellos die Purpurtücher betreten, ohne irgendwelche Folgerungen daraus zu ziehen. Damit geht er auf die Insinuation Klytaimestras ein, Priamos als Menschen und Gegner zu sehen und die wesentlichen Unterschiede zwischen einem orientalischen Despoten und einem griechischen König zu vernachlässigen. Zugleich tritt gerade dadurch die Vorstellung, eine solche Ehrung sei übermenschlich, in den Hintergrund. Die folgende Bemerkung Klytaimestras zeigt, daß sie das Thema „Furcht vor den Göttern" als erledigt betrachtet (937 νυν); sie kommt daher nun auf den ανθρώπειος ψόγος zu sprechen, den Agamemnon nicht fürchten solle. Agamemnons Antwort hat die Interpreten überrascht: »Agamemnon could have answered that the reproach of men did not worry him, but that what he dreaded was the anger of the gods«, schreibt etwa L L O Y D - J O N E S . 6 8 Stattdessen antwortet Agamemnon, die Stimme des Volkes habe große Macht. Agamemnon dies zum Vorwurf zu machen, heißt jedoch, das Gewicht des ανθρώπειος ψόγος zu verkennen. Zwar ist die Königin darauf bedacht, die Furcht vor einem eventuellen φθόνος θεών vergessen zu machen. Die Situation ist aber komplexer: Einerseits hatte Klytaimestra die Vorstellung, es handle sich bei ihrer Ehrung um eine Ehrung μή κατ' ανδρα, bereits durch Verweis auf Priamos etwas entkräftet; zum anderen aber ist der Tadel der Menschen keineswegs irrelevant, sondern, wie wir auch vom Chor wissen (s. 456f.), eine für Agamemnon bedeutsame Gefahr, mit der Klytaimestra sich daher ernsthaft auseinandersetzen muß. 937 dient daher nicht allein der Ablenkung, sondern behandelt einen Einwand, den Klytaimestra wirklich entkräften 6 8

(1962) 196. Ähnlich: GUNDERT (1960) 2 2 7 f . - P.E. EASTERLING: „Presenta-

tion of character in Aeschylus", G&R 20 (1973) 3-19, hier 13. - NEITZEL (1977) 204.

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muß, will sie Agamemnon dazu bringen, zu tun, was sie will. Agamemnon wiederum konnte nicht einfach antworten, »that the reproach of men did not worry him«. Dies wäre eine Arroganz gegenüber seinen Bürgern, die Agamemnon in ein noch sehr viel ungünstigeres Licht setzen müßte und die ihm auch völlig fremd ist: Die Stimme des Volkes beunruhigt ihn, und das zu Recht! Er weiß, wie der Chor, daß βαρεία ... αστών φάτις συν κότω (456), und seit seiner Auftrittsrede ist er bemüht, seinem Respekt vor der Meinung der Bürger Ausdruck zu verleihen (844-850). Agamemnon ist nicht der König, der sich einfach über die Meinung der Bürger hinwegsetzt, und ihre Mitwirkung an politischen Entscheidungen ist ihm wichtig; umgekehrt kann ihm ein Vorwurf von deren Seite nicht gleichgültig sein. Agamemnon macht daher bei seiner Antwort keineswegs eine so üble Figur, wie man gemeinhin glaubt. 69 - Daß er allerdings nicht zugleich auch wieder auf die Bedenken wegen der Götter zu sprechen kommt, ist ein Zeichen dafür, daß es Klytaimestra durch ihren Verweis auf Priamos gelungen ist, seine Bedenken in diesem Punkt vorläufig zu überspielen (nicht auszuräumen, s. 946-949) und ihnen mit Hinweis darauf, daß Agamemnon den Göttern gegenüber keinerlei Verpflichtungen eingegangen sei (933 f.) und durch ihren Appell an die Rivalität mit Priamos (935 f.) ihre Kraft zu nehmen. Agamemnon läßt sich daher darauf ein, nur noch vom Tadel der Menschen zu sprechen, und verweist auf die Macht der Stimme der Bürger. Dies ist kein übles Argument, sondern drückt tatsächliche Bedenken aus. Klytaimestra versucht, nunmehr diese zu überspielen, indem sie einen Unterschied zwischen φθόνος und ζήλος macht. Während ζήλος einen positiven Klang haben kann und nicht viel mehr als ,Ehre', .Bewunderung*, auch ,Glück' 69

Ähnlich, aber uneingeschränkt positiv, D I BENEDETTO (1978) 150: »Non è affatto cecità morale, ma invece il risultato della ricezione di valori fondamentali della cultura ateniese della prima metà del secolo V aC., se, cosi come nel discorso rivolto al Coro, anche qui, nel corso della sticomitia con Clitemestra, al rispetto degli dei si associa il rispetto per il 'popolo'.«

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heißen muß (so daß έπίζηλος im Deutschen gut mit .beneidenswert' widerzugeben ist), ist φθόνος gefährliche, mit Haß verbundene Mißgunst.70 Klytaimestra behauptet nun, daß man das eine nicht ohne das andere haben kann. Darin ist vorausgesetzt, daß ζήλος etwas für einen Mann wie Agamemnon Erstrebenswertes ist. Dies ist gewiß richtig. Agamemnon ist sichtlich stolz auf seine Leistungen und glaubt, einen Anspruch auf ζήλος zu haben (vgl. 810-829 mit 520-532, bes. 531 f. τίεοθαι δ' άξιώτατος βροτών I των νυν). Daß große, ζήλος-würdige Taten gewöhnlich auch φθόνος erregen, trifft vermutlich ebenfalls zu, und jedenfalls ist Agamemnon dieser Meinung (s. 832 f. παύροις γαρ ανδρών έστι συγγενές τόδε, | φίλον τον εύτυχοΟντ' ανευ φθόνου σέβειν, wo ανευ φθόνου σέβειν etwa ζηλοϋν entspricht). Dies bedeutet allerdings nicht, daß man (z. B. durch das Betreten von Purpurtüchern) den φθόνος ανθρώπων über das nötige Maß hinaus herausfordern sollte. Aber Klytaimestra hat hier einen Punkt gefunden, an dem sie bei Agamemnon ansetzen kann: Agamemnon wünscht sich ζήλος; Klytaimestra sagt ihm, und er selbst weiß aus Erfahrung, daß dieser ohne φθόνος nicht zu haben ist. Folglich muß man φθόνος in Kauf nehmen. Dadurch, daß Agamemnon ζήλος als etwas Wünschenswertes betrachtet und weiß, daß ζήλος ohne φθόνος nicht erreichbar ist, verkennt er angesichts dieser allgemeinen Betrachtung, zu der ihn Klytaimestra führt, daß in dieser konkreten Situation der Zugewinn an ζήλος, der ihn lockt, in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem Zuwachs an φθόνος steht, der ihm droht, wenn er diesen unpopulären Akt begeht, sich wie ein orientalischer Herrscher durch den verschwenderischen Umgang mit kostbaren Stoffen ehren zu lassen - von eventuellen Sorgen um die Reaktion der Götter ganz abgesehen. Agamemnon hat daher sachlich nichts mehr entgegenzu-

7 0

WINNINGTON-INGRAM, Studies 92: »There is phthonos, which is hostile and dangerous; there is zelos, which can connote envy, but often means little more than admiration (or emulation).« - M . L . W E S T : Hesiod, Theogony, ed. with proleg. and comm. by M.L. W, Oxford 1966, ad Hes. Th. 384. Ζήλον: »'Gloiy", not envying but being envied«, mit interessanten Parallelen.

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setzen; seine Antwort ist ein reines argumentum ad hominem: „Einer Frau gebührt es wahrlich nicht, nach Kampf zu streben." Vielleicht ist es nützlich, einen Augenblick innezuhalten und zu fragen, auf welcher Ebene jeweils die Antworten liegen, die Agamemnon seiner Frau entgegensetzt: Seine erste Antwort (932) richtet sich, wie gesehen, gar nicht auf die Oberfläche dessen, was Klytaimestra gesagt hat, sondern auf ihre dahinterstehende Absicht. Seine zweite Antwort (934) geht zwar auf Klytaimestras Frage ein („Hast du ein Gelübde getan, ...?"), so daß sie einem Nein gleichkommt, stellt aber keine direkte Antwort auf ihre Frage dar, sondern rückt deren Kategorien zurecht: „(Zwar habe ich nicht gerade etwas gelobt, aber) jedenfalls habe ich mit vollem Wissen diesen Beschluß ausgesprochen." Seine dritte Antwort (936) antwortet direkt, ohne Umschweife oder Zusätze, die man vielleicht hätte erwarten dürfen, auf Klytaimestras Frage, läßt sich damit auf deren Kategorien ein und überläßt nun Klytaimestra die Initiative. Seine vierte Antwort (938) ist ein sachlich begründeter Einwand, der aber ganz auf der Ebene von Klytaimestras Aufforderung verbleibt. Klytaimestra bestimmt an diesem Punkt bereits völlig, worüber gesprochen und auf welcher Ebene und in welchem Umfang die Betrachtungen angestellt werden. Dadurch kommt Agamemnon nicht mehr dazu, über das von Klytaimestra eingeengte Gesichtsfeld hinauszublicken. Ich denke, man wird Agamemnon nirgends vorwerfen können, er habe etwas Falsches gesagt; er versäumt es nur ab 936, über den engen Horizont von Klytaimestras Äußerungen hinauszublicken. In gewisser Weise gilt dies schon für seine Antwort auf Klytaimestras erste Frage (933). Hier hätte Agamemnon klarmachen können, daß Gelübde nicht die einzigen Faktoren sind, aufgrund deren man sich den Göttern gegenüber verpflichtet fühlen kann, sondern daß auch allgemeine Werte (wie σωφροσύνη) zu bestimmten Verhaltensweisen raten und ihre Nichtbeachtung zu göttlichem Groll führen kann. Den Verweis auf Priamos hätte er, wie man oft gesehen hat, mit dem Hinweis beantworten können, daß ein orientalischer Despot und ein griechischer Herrscher

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nicht vergleichbar sind und daß offensichtlich nicht alles für Menschen passend ist, was manche Menschen tun. Daß ζήλος nicht ohne φθόνος zu haben ist, hätte er damit beantworten können, daß man dennoch nicht ohne Not und Zweck φθόνος in Kauf nehmen sollte, nur um etwas mehr ζήλος zu erreichen. Er tut dies nicht, sondern verlegt sich auf die persönliche Ebene, die nun den Rest der Stichomythie bestimmt. Dieses Argumentieren auf der persönlichen Ebene kommt Klytaimestra sehr zustatten: Sie hat nun Gelegenheit, direkt mit Appellen an Agamemnons eigenes Selbstverständnis zu kontern. Während Agamemnon mit 940 μάχης wohl eine Auseinandersetzung mit den Bürgern gemeint hatte (FRAENKEL ad 939 f.), sieht nun Klytaimestra in diesem „Kampf ihren gegenwärtigen Wortstreit mit dem Gatten; so verschafft sie sich die Gelegenheit, ihrerseits auf der persönlichen Ebene zu argumentieren, indem sie an Agamemnons Großmut appelliert (941). Seine Abneigung, in innenpolitische Auseinandersetzungen (oder persönliche Feindschaften mit innenpolitischen Folgen) einzutreten, die φθόνος heraufbeschwören und daher gefährlich sind, wendet sie dabei zu ihrem Vorteil: Auf Agamemnons Einwand, einer Frau gebühre es nicht, nach Kampf zu streben, antwortet sie, den Glücklichen (τοις όλβίοις!) stehe es gut an, sich auch einmal besiegen zu lassen. Dieser Vers hat eine Reihe von Implikationen: Zum einen setzt Klytaimestra voraus, Agamemnon sei ein όλβιος, ohne daß dieser sich gegen diese Bezeichnung wehrt, obwohl er doch zuvor (928 f.) eine Glücklichpreisung abgelehnt hatte; er selbst sah sich nur als ευτυχών (833). Zum zweiten lenkt sie davon ab, daß sich Agamemnon hier zu einem Akt verstehen soll, der den φθόνος der Bürger erwecken könnte, nachdem es ihr nicht gelungen war, Agamemnon zu dem Hochmut zu verleiten, er sei so groß, daß die Meinung der Bürger für ihn gleichgültig sei (937, 939). Sie appelliert damit gerade an den Charakterzug, der Agamemnon mit davon abhält, die Tücher zu betreten, um ihn ebendazu anzuhalten: seinen Respekt vor der Meinung anderer und seinen maßvollen Grundsatz, nicht um jeden Preis seine eigene Auffassung

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5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

durchsetzen zu wollen, sondern auch auf andere zu hören, den er schon in seiner Auftrittsrede hatte erkennen lassen (844-846). Damit gerät völlig aus dem Blick, worin Agamemnon hier eigentlich nachgeben soll. 71 Daß er sich ehren läßt, wird zu einem Akt des Respekts vor anderen und der Großmut! Noch einmal versucht Agamemnon, das Gespräch auf die sachliche Ebene zurückzulenken und klarzustellen, worum es hier eigentlich geht: Und ein letztes Mal berichtigt Agamemnon, bezeichnenderweise in einer erschrockenen Frage, Klytaimestras persönliches Argument, indem er auf die Sache deutet, um die es hier geht: η xaì σύ νίκην τήνδε δήριος τίεις; »ehrst du selbst diesen Sieg hier im Streit?« D. h.: Schätzt du auch einen Sieg wie diesen hier, einen Sieg, der bedeutet, daß ich mich als Sterblicher gegen die Götter vergehe? Einen Sieg, der mich zu einem Akt der Hybris zwingt? 72 Agamemnon spricht aber derartige Implikationen von τήνδε nicht aus; es ist zu bezweifeln, daß er sich klarmacht, was genau dieser Sieg für ihn nach seinen eigenen Anschauungen bedeuten müßte (vgl. 922-925, 927-929). Agamemnon bemerkt zwar, daß an Klytaimestras Appell an seine Großmut etwas nicht stimmt, und dieser Sieg, den er einräumen soll, nicht geeignet ist, ihn als großmütigen König darzustellen, sondern ihm gerade gefährlich werden kann. Dieser Punkt ist jedoch nur ganz oberflächlich berührt, und Agamemnon macht sich keineswegs klar, was der φθόνος, vor dem er sich fürchtet, tatsächlich bedeuten müßte, wenn er eintreten sollte: Tod, vielleicht Umsturz, schwerwiegende Folgen jedenfalls, die man nicht um einer einzelnen Ehrung willen in Kauf nimmt. Daß aber Agamemnon gar nicht konkret an solche Folgen denkt, ergibt sich schon dadurch, daß er sich damit begnügt, den φθόνος, vor dem er sich fürchtet, durch das Lösen der Sandalen zu mildern (944f.). Obwohl er daher überrascht ist, daß Klytaimestra auf einem solchen Sieg insistiert, den er als für sich gefährlich ansieht, sieht er keineswegs konkret, worin eine 71 72

Vgl. NEITZEL (1977) 205 f. Ibid. 206.

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derartige Gefahr liegen könnte. Klytaimestra ihrerseits besteht auf dem, was sie bereits (941) gesagt hat: „Folge mir (d.h., sei nicht so eigensinnig), doch überlasse mir freiwillig den Sieg." Damit betont sie nur noch einmal, daß es für Agamemnon nicht ehrenrührig ist, nachzugeben, sondern vielmehr etwas, das ihn ehrt, da er ja freiwillig (έκών), nicht gegen seinen Willen, nachgeben soll. Ohne Agamemnons Einwand (942) irgendetwas entgegenzusetzen, appelliert sie nur aufs neue an seine Großmut und hat damit Erfolg, da Agamemnon sich selbst nicht hinreichend darüber klar ist, was er eigentlich für diesen Fall befürchtet. Klytaimestra mobilisiert damit alles, was einen Mann wie Agamemnon dazu bringen könnte, nachzugeben: Zunächst die Verlokkung, die eine solche Ehrung zweifellos darstellt (931), dann durch eine Unterstellung seinen Stolz (933 δείσας), wodurch ihm zugleich insinuiert wird, zu nichts verpflichtet zu sein (er habe ja kein Gelübde abgelegt), seine militärische Rivalität mit Priamos (935), seinen Wunsch nach Bewunderung (939) und schließlich sogar seine Großmut (941, 943). Es gelingt ihr, nicht nur seine Bedenken gegen das Betreten der Tücher zu überspielen, sondern auch diese Ehrung als etwas in jeder Hinsicht Wünschenswertes darzustellen. Daß insbesondere der Appell an Agamemnons Großmut seine Wirkung getan hat, erhellt aus Agamemnons Einleitung seiner folgenden Rede mit αλλ' εί δοκεΐ οοι ταϋθ' (944). Durch all dies erreicht Klytaimestra, daß Agamemnon nicht zu einer konkreten Vorstellung dessen, was ihm drohen könnte, gelangt: Das Betreten der εϊματα ist nun für ihn nicht mehr so sehr eine übermenschliche und gefährliche Ehrung, als Sache eines großen und großmütigen Feldherrn und Königs. Wie die folgende Rede Agamemnons zeigt, ist der König freilich keineswegs davon überzeugt, daß das Betreten der Tücher gefahrlos ist. Der Akzent hat sich jedoch verschoben. Agamemnon betont zwar nach wie vor, er fürchte göttlichen φθόνος, doch beruht diese Angst nicht mehr in erster Linie darauf, daß hier eine übermenschliche Ehrung stattfinde, die ihn bei Göttern und Bürgern in ungünstiges Licht setzen müßte - diesen Gedanken hat Klytaimestra (933,

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5. Agamemnon in Argos: Das dritte Epeisodion (783-974)

935) überspielt - , sondern (wie 948 γαρ zeigt) darauf, daß er durch seinen Akt den Reichtum des Hauses verschwendet (948 δωματοφθορεΐν, 949 φθείροντα πλοϋτον), und damit (überheblicherweise) voraussetzen könnte, dieser werde andauern. Um diesen Schaden und damit die daraus resultierende Verletzung der Götter zu mindern,73 läßt er sich die Sandalen lösen (944f.). Außerdem empfiehlt er Kassandra einer wohlwollenden Behandlung, um sich die Götter günstig zu stimmen (950-952). In dieser Geste der „Schadensbegrenzung" zeigt sich, daß Agamemnon noch immer der Auffassung ist, daß das, was er da tut, nicht richtig sei; allerdings ist es ihm offenbar nicht klar genug, um ihn davon abzuhalten, die Tücher zu betreten: Klytaimestra hat mit Erfolg insbesondere an seine Ehrliebe und vor allem Großmut appelliert, und ihn so dazu bewogen, seinen Widerstand aufzugeben und seine Bedenken so weit in den Hintergrund zu drängen, daß er sie mit einem formalen Akt beruhigen kann; dies könnte ihr nicht gelingen, wenn Agamemnon eine genaue Vorstellung davon hätte, was im einzelnen er als Folge seiner Handlung fürchte. Diese beiden Gesten Agamemnons zeigen zwar seinen Respekt vor dem Göttlichen, können aber natürlich das Betreten der Purpurtücher - falls es denn den Göttern tatsächlich mißfällt und einen Akt der Hybris darstellt, wie Agamemnon selbst ja meint nicht ungeschehen machen: Hat das Lösen der Sandalen immerhin noch einen direkten Bezug zu diesem Akt, insofern es die Gefahr mindert, die Tücher zu zerstören, so ist die Aufforderung, Kassandra gut zu behandeln, eine Geste, die Agamemnon unter anderen Umständen ehren würde, im Zusammenhang mit dem Betreten der Tücher aber eine nutzlose, formale Handlung ist, um die Götter zu besänftigen. Agamemnon tut hier etwas Gottgefälliges, um einen anderen Akt, den er als falsch empfindet, aufzuwiegen, statt von vornherein den falschen Akt zu unterlassen.

73

Dazu W I N N I N G T O N - I N G R A M , Studies

93

Anm.

38.

6.

Agamemnon - Charakter und tragische Handlung

A. SCHMITT hat im Rahmen seiner Studien über antikes und modernes Selbstverständnis1 immer wieder auch die Unterschiedlichkeit antiker und neuzeitlicher Auffassung vom menschlichen Handeln betont und die Bedeutung der wohl differenziertesten antiken Wahrnehmungs- und Handlungstheorie, der des Aristoteles, für ein adäquates Verständnis des Aristotelischen Tragikkonzeptes in der .Poetik' und der tragischen Texte selbst hervorgehoben. Diese Studien haben sich bislang u. a. in zwei Arbeiten zu Sophokles2 niedergeschlagen. Die Bedeutung von Aristoteles' Handlungstheorie für das Verständnis seiner Theorie des Tragischen wird am detailliertesten untersucht in einer von A. 3 SCHMITT angeregten Mainzer Dissertation, auf die ich später noch genauer zurückkommen werde. - Der folgende Versuch, von den bis hierher erzielten Ergebnissen ausgehend Agamemnons Handlungsweise sowohl in der Parodos als auch im dritten Epeisodion aus denselben handlungsrelevanten Charakterzügen der tragischen Hauptperson zu erklären, beruht ganz auf den Ergebniss e n A. SCHMITTS.

An zwei Stellen der Tragödie handelt Agamemnon in zumindest problematischer Weise: In der Parodos schlachtet er seine eigene Tochter, im dritten Epeisodion betritt er purpurgewirkte Tücher. In beiden Fällen handelt er nicht aus eigenem Antrieb; besondere Umstände legen ihm jeweils nahe, in einer Weise zu handeln, in der er unter anderen Umständen niemals gehandelt hätte: In der 1

2

3

A . SCHMITT: Subjektivität und Innerlichkeit. Deutung der Antike und neuzeitliches Selbstverständnis, Baden-Baden, erscheint voraussichtlich 1994. A. SCHMITT: „Menschliches Fehlen und tragisches Scheitern. Zur Handlungsmotivation im Sophokleischen .König Ödipus'", RhM 131 (1988) 8-30. - Ders.: „Bemerkungen zu Charakter und Schicksed der tragischen Hauptpersonen in der «Antigone»", A&A 34 (1988") 1-16. - Vgl. daneben ders.: „Zur Charakterdarstellung des Hippolytos im 'Hippolytos' von Euripides", WJA N.F. 3 (1977) 17-42

Erkennen und Handeln in der Theorie des Tragischen bei Aristoteles, Frankfurt a.M. 1987.

V . CESSI:

248

6. Agamemnon - Charakter und tragische Handlung

Parodos ist die Opferung der eigenen Tochter das einzige Mittel, die Durchführung des gefährdeten Feldzuges doch noch zu ermöglichen, im dritten Epeisodion läßt er sich erst von Klytaimestra schließlich dazu bestimmen, die purpurfarbenen Tücher zu betreten, obwohl er dies für einen Akt des κακώς φρονεΐν hält. Beide Handlungsweisen haben eine Reihe auffälliger Gemeinsamkeiten, die den Schluß nahelegen, daß der Zuschauer den Grund dafür, daß Agamemnon jeweils so handelt, wie er handelt, in je denselben Charakterzügen der Hauptperson erkennen soll, die in beiden Szenen in unterschiedlicher Weise relevant werden. Neben den bereits genannten Umständen scheint es mir wichtig, zu sehen, daß Agamemnon selbst sich in beiden Fällen darüber im klaren ist, daß er nicht richtig, oder jedenfalls in problematischer und für ihn eventuell gefährlicher Weise handelt. Wie ich in der Besprechung der Entscheidung Agamemnons (s. o. S. 111-143, bes. 135-140) gezeigt zu haben hoffe, weiß Agamemnon zwar, daß die Schlachtung der eigenen Tochter ein μίασμα für ihn darstellt, läßt dieses Wissen aber nicht handlungsbestimmend werden, sondern drängt es aufgrund seiner Eingenommenheit für den Feldzug zurück, so daß ihn schließlich nur mehr die ihm vor Augen stehende Möglichkeit, die Gegenwinde doch noch zum Stillstand zu bringen und so die Ausfahrt zu ermöglichen, bestimmt. Eine alles andere als unvoreingenommene Wertung und Beurteilung der Alternative, vor der er steht, läßt ihn schließlich zu dem Ergebnis kommen, die Opferung der eigenen Tochter sei - als μηχαρ zur Besänftigung der Gegenwinde (παυσάνεμος θυσία) - Recht, θέμις. - Im dritten Epeisodion dagegen läßt er sich, wie gesehen (s.o. S. 227-246), von Klytaimestra durch eine geschickt vom Wesentlichen ablenkende Argumentation, die zugleich an seinen Stolz und seine Großmut appelliert, dazu veranlassen, die ihm angetragene Ehrung anzunehmen. Dies tut er, obwohl er zuvor seine Überzeugung bekräftigt hat, diese Ehre gebühre einem Menschen, zumal einem griechischen König nicht (918-925) und sei als Seligpreisung eines Men-

Agamemnon als tragische Person im Sinne der Aristotelischen Poetik

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sehen, der sein Leben noch nicht glücklich beschlossen habe, voreilig und übermäßig (927-929). In beiden Fällen schließlich wird aus Agamemnons Worten und Taten deutlich, daß auch nach seiner Entscheidung für die problematische Handlungsweise die Bedenken dagegen keineswegs ausgeräumt sind: In der Parodos beschließt er die Rede, in der er das Zustandekommen seiner Entscheidung nachzeichnet (206— 217), mit den Worten ευ γαρ ε'ίη, was erkennen läßt, daß er mit der Möglichkeit rechnet, daß das Ergebnis seiner Handlung gegenteiligen Charakter haben könnte; im dritten Epeisodion formuliert Agamemnon ausdrücklich, daß seine Bedenken nicht gänzlich gewichen sind: Nach wie vor ist πολλή αιδώς (948) in ihm, „Reichtum des Hauses" dadurch zu vernichten, daß er über die kostbaren Tücher schreitet und sie so zerstört. Er läßt sich daher vor dem Absteigen von seinem Wagen die Sandalen lösen, um die zu erwartende Beschädigung der Tücher möglichst in Grenzen zu halten. Zudem empfiehlt er Kassandra, die an dieser Stelle erstmals erwähnt wird, einer wohlwollenden Behandlung durch Klytaimestra (950-952), um Schaden durch einen φθόνος θεών, der sich aus der Annahme dieser außergewöhnlichen Ehrung ergeben könnte, von sich und seinem Hause fernzuhalten. So versucht Agamemnon, die Folgen, die er aufgrund des Betretens der Tücher befürchtet, durch einen den Göttern wohlgefälligen Akt aufzuheben oder zu lindern. Dieses Verhalten hat eine Parallele in der Parodos: Um seine Tochter am Aussprechen eines Fluches zu hindern, läßt er sie vor ihrer Opferung knebeln (235-238). Auch dies macht hinreichend deutlich, daß Agamemnon im Grunde Zweifel daran hat, daß dieses Opfer θέμις ist. Iphigenies Knebelung ist ein unnützer Versuch, den Schaden, den Agamemnons Handlungsweise über ihn selbst bringt, abzuwenden. Es ist also deutlich, daß Agamemnon in beiden Fällen etwas tut, was er für im Grunde falsch hält. In beiden Fällen tut er es deshalb dennoch, weil ihm, wie ich in der Besprechung der einzelnen Szenen vertreten habe, die gefürchteten Folgen seines Handelns

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6. Agamemnon - Charakter und tragische Handlung

weniger klar vor Augen stehen als der unmittelbare Gewinn, der ihm sein Handeln verschafft: im einen Falle die Möglichkeit, den Kriegszug doch noch durchführen zu können, im zweiten Falle eine besonders verlockende, außergewöhnliche Ehrung. Die beiden Szenen erläutern sich also wechselseitig. Vor allem scheint mir wichtig, daß Agamemnon im dritten Stasimon besonders deutlich als ein Mann gezeichnet wird, der dazu neigt, einer Versuchung zu erliegen, obwohl er meint, daß sie gewichtige Folgen nach sich zieht oder nach sich ziehen kann. Für diese Sicht ist es nicht von Bedeutung, ob das Betreten der Purpurtücher tatsächlich einen Akt der Hybris darstellt. Entscheidend ist vielmehr, daß Agamemnon selbst es für einen Akt des κακώς φρονεΐν hält. Wie in anderen Tragödien-4 kann auch im Falle des Agamemnon' ein Rückgriff auf die Aristotelische Tragödientheorie in Verbindung mit seiner Theorie des Handelns helfen, Agamemnons Handeln und Fehlhandeln präziser zu fassen. Obwohl bei Aischylos natürlich keine Handlungskonzeption von vergleichbarem theoretischem Niveau vorausgesetzt werden kann, ist die Aischyleische Darstellung sehr weitgehend und mit Gewinn aus dem theoretischen Rahmen verständlich, den später Aristoteles entworfen hat. 5 Im 13. Kapitel seiner .Poetik' beschäftigt sich Aristoteles mit der Frage, welche Art von Menschen sich für eine Behandlung als tragische Personen eignen. Dabei nimmt er Bezug auf seine Tragödiendefinition im 6. Kapitel der Schrift, wo davon die Rede war, die Tragödie müsse durch φόβος und ελεος eine κάθαρσις των τοιούτων παθημάτων (1449 b27 f.) bewirken. Im Blick auf 4 5

Siehe o. S. 247 mit Anm. 2. Diesen für meine Arbeit zentralen Gedanken verdanke ich A. SCHMITT; daß die Darstellung von Handlungsmotivationen in der griechischen Literatur der Platonisch-Aristotelischen Handlungstheorie weit näher steht als neuzeitlichen Grundauffassungen Uber menschliches Handeln und auf ihrer Basis viel besser verständlich ist, legt für Homer ausführlich dar A. SCHMITT ( 1 9 9 0 ) .

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diese gewünschte Wirkung beim Zuschauer scheidet Aristoteles für die Tragödie die Möglichkeit aus, daß sittlich tadellose Menschen (επιεικείς) vom Glück ins Unglück geraten: ού γαρ φοβερσν ουδέ έλεεινόν αλλά μιαρόν έστιν (1452 b35f.). Ebenso sei es völlig untragisch, daß ein böser Mensch (μοχθηρός) vom Unglück ins Glück gerate. Aber auch daß ein durchaus böser Mensch (ό σφόδρα πονηρός) vom Glück ins Unglück gerate, sei der Tragödie nicht gemäß, da eine solche Handlungsführung zwar das menschliche Rechtsgefühl (φιλάνθρωπον) befriedige, nicht aber zu Mitleid oder Furcht veranlasse. Denn Mitleid bringe man nur dem entgegen, der unangemessen viel leide (τον άνάξιον), Furcht dagegen entstehe nur, wenn ein sittlich (sc. dem Zuschauer) ähnlicher Mensch leide: ό μεταξύ άρα τούτων λοιπός, έστι δέ τοιούτος ó μήτε αρετή διαφέρων και δικαιοσύνη μήτε δια κακίαν και μοχθηρίαν μεταβάλλων είς την δυστυχίαν άλλα δι' άμαρτίαν τινά, των έν μεγάλη δόξη όντων και εύτυχία ... (Arist. Po. 1453 a 7-10)' Kurz gesagt soll nach Aristoteles in der Tragödie eine in Ansehen und Glück stehende Person, die auf sittlich mittlerem Niveau steht - also sittlich weder vollkommen noch verworfen ist - vom Glück ins Unglück geraten, und zwar nicht durch Bosheit oder Niedertracht (κακία, μοχθηρία), sondern durch eine άμαρτία. Was Aristoteles genau unter άμαρτία versteht, ist sehr umstritten; es ist daher unmöglich, hier in die kontroverse Diskussion zum Thema einzutreten. Ich folge in allen wesentlichen Punkten der Darstellung V. CESSls.6 Hier muß es genügen, zur Illustration dessen, was Aristoteles unter άμαρτία versteht, einige wenige Hinweise zu geben und nur drei ausgewählte Zeugnisse in Erinnerung zu rufen. Die kürzeste und konziseste Abgrenzung der άμαρτία gegen andere Formen von Fehlverhalten findet sich in der Aristotelischen ,Rhetorik' (1374 b 6-9): e

Siehe o. S. 247 mit Anm. 3.

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6. Agamemnon - Charakter und tragische Handlung

εστί δ' ατυχήματα μέν όσα παράλογα και μη cbiò μοχθηρίας, αμαρτήματα δέ όσα μη παράλογα και μη από πονηρίας, αδικήματα δέ δσα μήτε παράλογα από πονηρίας τέ έστιν. Diese Abgrenzung macht schon die Zwischenstellung der αμαρτία zwischen einem unvorhersehbaren Unglücksfall (ατύχημα), bei dem gar kein Fehlverhalten im eigentlichen Sinne vorliegt, und dem voll zurechenbaren αδίκημα deutlich, das aus Schlechtigkeit entspringt (από πονηρίας). Demgegenüber ist ein άμάρτημα offenbar eine Fehlhandlung, die zwar nicht aus Schlechtigkeit entspringt, aber, da ihre schlimmen Folgen nicht unvorhersehbar sind, in gewissem Maße zugerechnet werden muß. Differenzierter legt Aristoteles diese Unterscheidung in der ,Nikomachischen Ethik' (1135 b 11-27) dar, wo darüber hinaus noch eine wichtige Unterscheidung zwischen zwei Formen von αμαρτία getroffen wird: τριών δη ούσών βλαβών τών έν τάϊς κοινωνίαις, τα μέν μετ' αγνοίας άμαρτήματά έστιν, οταν μήτε δν μήτε δ μήτε ω μήτε ού ενεκα ύπέλαβε πράξη· η γαρ ού βάλλειν ή ού τούτω ή ού τούτον ή ού τούτου ενεκα φήθη, άλλα συνέβη ούχ ού ενεκα φήθη, οιον ούχ ϊνα τρώση αλλ' ϊνα κεντήση, η ούχ δν, η ούχ ω. οταν μέν ούν παραλόγως ή βλάβη γένηται, ατύχημα· οταν δέ μη παραλόγως, άνευ δέ κακίας, άμάρτημα (άμαρτάνει μέν γαρ οταν ή άρχη έν αύτώ η της αιτίας, άτυχεϊ δ' οταν εξωθεν) · οταν δέ είδώς μέν μη προβουλεύσας δέ, αδίκημα, οίον δσα τε δια θυμόν καί άλλα πάθη, δσα αναγκαία η φυσικά συμβαίνει τοις άνθρώποις· ταΰτα γαρ βλάπτοντες και άμαρτάνοντες άδικοϋσι μέν, καί αδικήματα έστιν, ού μέντοι πω άδικοι δια ταϋτα ούδέ πονηροί· ού γαρ δια μοχθηρίαν ή βλάβη· οταν δ' έκ προαιρέσεως, άδικος καί μοχθηρός, διό καλώς τά έκ θυμοΰ ούκ έκ προνοίας κρίνεται· ού γαρ άρχει ό θυμώ ποιών, άλλ' ό όργίσας. Hier findet sich zunächst wieder dieselbe Abgrenzung des άμάρτημα gegenüber dem ατύχημα wie an der oben angeführten Stelle der .Rhetorik': Von den Handlungen, die άνευ κακίας getan

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werden, ist ατύχημα, was selbst bei sorgfältiger Überlegung nicht vorherzusehen war (παραλόγους geschah), αμάρτημα hingegen eine Tat, die der Handelnde in ihrer Art und ihren Folgen nicht richtig eingeschätzt hat (so daß er die schlimmen Folgen, die daraus entstehen, nicht gewußt und nicht gewollt hat), wohl aber bei sorgfältiger Überlegung hätte richtig einschätzen (und daher die schlimmen Folgen hätte vorhersehen und vermeiden) können und müssen, da der Schaden μη παραλόγως eintrat. Ein αμάρτημα ist daher bis zu einem gewissen Grade zurechenbar. - Die folgende Behandlung des αδίκημα ist für unseren Zusammenhang besonders interessant: Hier wird der Fall behandelt, daß der Handelnde die Folgen seines Handelns zwar grundsätzlich kennt (eiδώς μεν), aber im Augenblick der Tat nicht bedenkt und plant (μη προβουλεύσας δέ) und daher auch nicht im eigentlichen Sinne will. Dies kann dadurch geschehen, daß sich der Handelnde, etwa durch eine Leidenschaft, am klaren Denken hindern läßt. Die Unterscheidung, die Aristoteles daraufhin trifft, ist von besonderem Interesse: „Denn indem man auf diese Weise schadet und eine αμαρτία begeht, tut man zwar Unrecht (άδικοΰσι), und es handelt sich um ungerechte Taten (αδικήματα), aber man ist deshalb keineswegs schon ein ungerechter oder böser Mensch (άδικοι, πονηροί); denn der Schaden kommt nicht aus böser Absicht (δια μοχθηρίαν) zustande." Ein αδίκημα, das den Handelnden άδικος macht, liegt hingegen dann vor, wenn der Handelnde einem falschen, verwerflichen sittlichen Prinzip folgt, eine falsche προαίρεσις getroffen hat. Wenn sich der Mensch aber durch eine Leidenschaft daran hindern läßt, die Folgen einer Handlung, die er zwar kennt, korrekt einzuschätzen und sich zu vergegenwärtigen, so handelt es sich zwar um einen besonders schweren Fall von άμαρτεΐν, und die Tat ist dann ungerecht (ein αδίκημα), doch dies berechtigt nicht dazu, den Täter als άδικος anzusehen. Wie es dazu kommen kann, daß ein Mensch ein für das Handeln relevantes Wissen, das er besitzt, im Einzelfall nicht handlungsrelevant werden läßt, etwa weil er durch eine Leidenschaft daran gehindert wird, erörtert Aristoteles im siebenten Buch der ,Niko-

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machischen Ethik' im Zusammenhang seiner Behandlung der άκρασία vs. ακολασία. In unserem Zusammenhang können nur die wichtigsten Punkte der Aristotelischen Gedankenführung berührt werden, für eine ausführlichere Erörterung sei auf CESSI7 verwiesen. Um das Problem zu lösen, wie es geschehen kann, daß ein Mensch trotz besseren Wissens etwas tut, was er - auch seiner eigenen (nachträglichen) Einschätzung nach - bei vernünftiger Überlegung nicht tun sollte und nicht tun würde, unterscheidet Aristoteles zwei Arten von Wissen, den bloßen Besitz eines Wissens und den mit Gebrauch des Wissens verbundenen Besitz. Wie Schlafende, Wahnsinnige oder Betrunkene gewisse Dinge wohl wissen mögen, dieses Wissen aber in ihrem Zustand nicht aktualisieren, also sich vergegenwärtigen und gebrauchen können, so macht auch-der unbeherrschte Mensch (άκρατης) von einem Wissen, das er besitzt, keinen Gebrauch (EN 1147 a 10-18). Im Unterschied zum zügellosen Menschen (ακόλαστος) folgt der Unbeherrschte zwar nicht einem falschen sittlichen Prinzip, neigt jedoch dazu, dem unmittelbaren Einfluß des je vor ihm liegenden Angenehmen zu erliegen (EN 1146 b 22-24) und darüber allgemeine sittliche Prinzipien, die der Wahl des unmittelbar gegenwärtigen Angenehmen entgegenstehen, außer Acht zu lassen. Wie dies zustandekommt, veranschaulicht Aristoteles am sogenannten Praktischen Syllogismus. Dies ist ein Syllogismus, dessen Konklusion unmittelbar eine Handlung ist. Die Prämissen sind, wie im theoretischen Syllogismus, ein Obersatz (καθόλου), ein allgemeines sittliches Prinzip, und ein Untersatz (καθ' εκαστσν), der sich auf den einzelnen Fall bezieht. Als Konklusion kommt aber die sittlich richtige Handlung nur dann zustande, wenn der richtige Obersatz auch tatsächlich mit dem jeweiligen Untersatz zusammengebracht wird. Diese Verbindung kann - etwa durch Leidenschaften - verhindert werden:

(1987) 234-237.

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οίον, εί παντός γλυκέος γεύεσθαι δει, τουτί δε γλυκύ ώς εν τι των καθ' εκαστον, ανάγκη τον δυνάμενσν καί μη κωλυόμενον άμα τούτο και πράττειν. όταν ούν ή μέν καθόλου ένη κωλύουσα γεύεσθαι, η δε, οτι πάν γλυκύ ηδύ, τουτί δε γλυκύ (αυτη δε ενεργεί), τύχη δ' επιθυμία ένοϋσα, η μέν ούν λέγει φεύγειν τοΰτο, ή δ' επιθυμία αγει· κινείν γαρ εκαστον δύναται των μορίων. (ΕΝ 1147 a 29-35) Hier kommt es also nicht zu einer Verbindung der allgemeinen Prämisse („Vom Süßen soll man nicht kosten") mit der partikulären Prämisse („Dies ist ein Süßes"), weil eine Lust dazu führt, daß eine andere allgemeine Prämisse („Jedes Süße ist angenehm") mit dem Untersatz verbunden wird und die Handlung erzeugt, von dem Süßen zu kosten. Dieses Fehlverhalten ist zurückzuführen auf die Gebundenheit des menschlichen Vergegenwärtigungsvermögens (φαντασία) an die gegenwärtige Wahrnehmung des Angenehmen, weshalb es nicht dazu in der Lage ist, sich die späteren unliebsamen Folgen des Genusses von Süßem (gesundheitliche Schädigung) voll zu vergegenwärtigen, obwohl sie dem Handelnden natürlich bekannt sind.8 Da auf diese Weise die Verbindung des Untersatzes („Dies ist ein Süßes") mit der allgemeinen Prämisse „Süßes soll man nicht kosten, da es schädlich ist" durch die mangelnde Vergegenwärtigung der schädlichen Wirkung eines Genusses von Süßem nicht zustande kommt, führt die Verbindung mit der anderen allgemeinen Prämisse (.Alles Süße ist angenehm") unmittelbar zu der επιθυμία, das Süße zu kosten, und damit zu der entsprechenden Handlung. Wichtig ist auch hier der Unterschied, daß es sich nicht um einen Menschen handelt, der meint, man müsse dem unmittelbar Angenehmen stets folgen (dies wäre ein ακόλαστος), sondern um einen Menschen, der trotz der richtigen sittlichen Einstellung, trotz des richtigen allgemeinen Wissens, dazu neigt, dieses Wissen nicht zu aktualisieren (ακρατής). Aufgrund der Gebundenheit seiner φαντασία an das unmittelbar Gegenwärtige 8

Dazu CESSI (1987) 238-241 und ihr Kapitel über φαντασία, bes. 121-126 zum Zusammenhang zwischen φαντασία und δρεξις.

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6. Agamemnon - Charakter und tragische Handlung

neigt er dazu, das φαινόμενον αγαθόν mit dem wahrhaft Guten zu verwechseln. CESSI hat den Charakter eines tragischen άμαρτάνων zusammenfassend folgendermaßen charakterisiert: Der άμαρτάνων ist daher ein Mensch mit leichten, verzeihlichen, nichtsdestoweniger aber zu verantwortenden und für ihn verhängnisvollen Charakterfehlern. Er ist meistens ein Individuum wie wir, manchmal sogar eher besser als wir, hat gute Absichten und bemüht sich, diese zu verwirklichen. Dabei verfehlt dieser Mensch bisweilen das sittlich gute Ziel, das er sich gesetzt hat. Anders als beim επιεικής oder beim φρόνιμος wird bei ihm das Auge der Seele (όμμα της ψυχής) getrübt, das in jeder bevorstehenden praktischen Entscheidung und Handlung das wahrhaft Gute unmittelbar erblicken und dem nur scheinbar Guten vorziehen sollte. Das seelische Auge kann sich gleichsam nicht unbehindert umschauen, sondern bleibt allein auf einen Aspekt der ihm vorliegenden Situation beschränkt. In dieser Verzerrung der Zukunftsdimension des αγαθόν öv neigt der άμαρτάνων dazu, das scheinbar Gute mit dem wahrhaft Guten zu verwechseln. Er übersieht und überhört all die Hinweise, die ihm den handlungsrelevanten Sachverhalt wieder im richtigen Lichte erscheinen lassen könnten. Bisweilen proklamiert er sogar zu wissen, wozu seine Handlung fìihren kann, betrachtet ihre vorhersehbaren Folgen aber nicht mit jenem aktualen Wissen, mit dem er das erfaßt, was ihm gegenwärtig als das erstrebenswerte Gute oder das zu meidende Schlechte erscheint.9 Diese Charakterisierung trifft auch auf Agamemnons Handeln im dritten Epeisodion sehr gut zu: Agamemnon weiß sehr wohl (oder ist jedenfalls der festen Überzeugung), daß die Annahme einer solch außergewöhnlichen Ehrung gefährlich ist und göttlichen sowohl als menschlichen φθόνος hervorrufen kann - eine Mißgunst gegenüber demjenigen, der das rechte Maß nicht zu wahren weiß. 9

CESSI

(1987) 260 f.

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Klytaimestra aber versteht es, wie gesehen, dieses Wissen sehr geschickt zu verdunkeln, indem sie einerseits konkrete Bedenken Agamemnons zertreut, die er etwa haben mag, andererseits aber das Betreten der Purpurtücher als Höhepunkt seines Erfolgs ausgibt, ohne den Agamemnon seinen Sieg nicht voll auskoste (vgl. etwa den Verweis auf Priamos in 935). Für diese Verführung ist Agamemnon empfänglich. Klytaimestras Unterstellung am Beginn der Stichomythie (931) ist, wenngleich ungerecht, nicht ganz ohne Fundament: Zwar weiß Agamemnon um die Gefährlichkeit einer solchen Ehrung und will sie deshalb zunächst tatsächlich nicht annehmen, doch ist er nicht so gefestigt, daß ihn deshalb der Reiz der Ehrung nicht locken könnte. Zudem hat er durchaus keine konkrete Vorstellung von der Art der Gefahr, die dieser Akt heraufbeschwören könnte. Daher kann der unmittelbar vor Augen stehende Reiz, den die Ehrung zweifellos darstellt, leichter handlungswirksam werden. Agamemnon scheint daher in dieser Szene als άκρατης gekennzeichnet, der trotz einer im Grundsatz richtigen ethischen Einstellung nicht dazu in der Lage ist, sein Handeln im Einzelfalle auch dann danach auszurichten, wenn ihm eine damit kollidierende Verlockiang unmittelbar vor Augen steht. Agamemnon kann sich die Gefahr, die aufgrund des Betretens der Tücher seiner Auffassung nach zu befürchten steht, nicht so konkret vergegenwärtigen, daß sie gegenüber der verlockenden Ehrung, die er vor sich sieht, handlungswirksam werden könnte. Dazu stimmt, daß er nur in sehr allgemeiner Form von dieser Gefahr spricht. Seine Einwände erschöpfen sich in traditionellen Maximen, die Agamemnon nicht auf seine eigene Situation anwendet. Es fällt daher Klytaimestra leicht, seine Bedenken teils mit entgegenstehenden Allgemeinplätzen (z.B. 939, 941), teils dadurch zu konterkarieren, daß sie an seinen Stolz als Feldherrn und seine Großmut appelliert (935, auch 941, 943) und so die verführende Kraft der Ehrung steigert. Agamemnon ist also nicht als arroganter Despot orientalischer Prägung gezeichnet, der sich bedenkenlos übermäßig ehren läßt, sondern als im Grunde maßvoller Herr-

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6. Agamemnon - Charakter und tragische Handlung

scher, der allerdings an seinen Grundsätzen im entscheidenden Augenblick nicht festhält, sondern sie aufgrund einer charakterlichen Schwäche nicht handlungswirksam werden läßt. Damit scheint mir das dritte Epeisodion Agamemnons Handeln in Aulis, wie es in der Parados vorgeführt wird, von einer wichtigen Seite zu beleuchten. Wenn die in Kapitel 2 dieser Arbeit entwikkelte Deutung von Agamemnons Situation in der Parados richtig ist, hat der Oberfeldherr durchaus die Möglichkeit, den Feldzug abzubrechen. Daß er es selbst um den Preis der Opferung seiner eigenen Tochter nicht tut, ist eine schwere Verfehlung. Wie in der Besprechung der Entscheidungsrede Agamemnons (s.o. S. 133-140) bereits ausgeführt, weiß Agamemnon zwar darum, daß die Schlachtung seines Kindes ein μίασμα ist, das nicht ohne Folgen bleiben dürfte, hält jedoch diesen Aspekt nicht fest, sondern läßt ihn im folgenden ganz unberücksichtigt. Er blickt nur noch auf die Möglichkeit der Durchführung des Feldzuges, die sich durch die Preisgabe des einzigen Mittels dafür durch Kalchas (199) darbietet, und drängt die Furchtbarkeit des Opfers in den Hintergrund, während er durch eine schiefe Beurteilung einen Abbruch des Feldzuges geradezu als Verbrechen ansieht. Das ihm unmittelbar vor Augen stehende Mittel, den Feldzug doch noch zu ermöglichen, läßt sein Wissen, daß das Opfer ein μίασμα mit furchtbaren Folgen ist, nicht handlungswirksam werden. Die Schlachtung der eigenen Tochter wird zum bloßen Mittel der Ermöglichung der Expedition. Unter diesen Umständen ist zu erwarten, daß die auf Agamemnon wirkende Versuchung besonders stark, das ihm vor Augen stehende scheinbare Gute besonders verlockend ist. Zudem scheint die Erwartung berechtigt, daß seine Bereitschaft, die eigene Tochter um der Durchführung des Feldzuges willen zu opfern, vorbereitet und in seinem Charakter motiviert ist. Dies scheint mir in der Tat der Fall zu sein. Wie im Verlaufe der Besprechung der Parados wiederholt aufgefallen ist, ist Agamemnon (bzw. die Atriden) an mehreren Stellen als für den Krieg, oder jedenfalls für diesen Feldzug, eingenommen gezeichnet. Gleich

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am Anfang der Parodos erscheinen sie als diejenigen, die μέγαν έκ θυμοΰ κλάζοντες αρη (48) sind, in der Deutung des Adlerzeichens erscheinen sie als μάχιμοι (124). Kaum zufällig wird diese Charakterisierung im Zusammenhang mit Iphigenies Opferung wiederholt: Als der Chor berichtet, daß die Atriden sich weder um die „Vater"-Rufe noch um das jugendliche Alter Iphigenies im geringsten kümmern, heißen sie φιλόμαχοι βραβής. Dies bestätigt die Analyse seiner Entscheidungsrede: Es ist gerade diese Leidenschaft, die Agamemnon daran hindert, sich die wahre Bedeutung der Opferung gegenwärtig zu halten und so die berechtigte Furcht vor einem μίασμα handlungswirksam werden zu lassen. Dabei scheint es, daß Agamemnon als ein Mann gezeichnet werden soll, der in diesem Bereich dazu neigt, das rechte Maß zu verkennen und dadurch die richtige abwägende Beurteilung, was wahrhaft, was aber nur scheinbar gut sei, zu verfehlen; dies legt auch sein Sprechen über Trojas Zerstörung im dritten Epeisodion nahe. Als der Feldzug, den er von Anfang an betreibt, zunächst durch die von Artemis gesandten Winde unmöglich scheint, sich dann aber ein Mittel bietet, ihn dennoch durchzuführen, ist er daher nicht mehr in der Lage, die beiden Möglichkeiten, die ihm offenstehen, unvoreingenommen zu betrachten. Die von ihm gewünschte Durchführung des Feldzuges erscheint ihm als Gut, dessen Aufgabe gar als Verbrechen. Erklärt man diesen Vorgang aus aristotelischer Sicht, so wird man - ausgehend von Agamemnons Entscheidungsrede - sagen können, daß dem Feldherrn die Möglichkeit, den Feldzug durchzuführen, gänzlich präsent ist, während es ihm nicht gelingt, die Folgen einer Blutschuld aus der Opferung seiner Tochter wirklich klar zu sehen. Da Agamemnon auf diesen einen Aspekt des Opfers nunmehr ganz fixiert ist, »übersieht und überhört [er] all die Hinweise, die ihm den handlungsrelevanten Sachverhalt wieder im richtigen Lichte erscheinen lassen könnten.« Dazu gehört in unserem Falle Kalchas' Deutung des Adlerzeichens, die die schlimmen Folgen einer solchen Opferung bereits angedeutet hatte (152-155), aber

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6. Agamemnon - Charakter und tragische Handlung

auch etwa die Furchtbarkeit des Opfers selbst und Iphigenies Rufen nach ihrem Vater. Im Sinne von EN 1135 b 11-27 wäre demnach die Tat Agamemnons als jene schwere Form des αμάρτημα zu betrachten, die zugleich ein αδίκημα ist. Denn Agamemnon befindet sich in keinem Punkt in Unwissenheit über das, was er tut (είδώς). Aber er macht sich aus den genannten Gründen nicht in vollem Umfange klar, bedenkt nicht (μη προβουλεύσας 6έ), welche Bedeutung und welche Folgen seine Tat wirklich hat, da er in seinem Denken ganz auf den Feldzug ausgerichtet ist und die Ausfahrt nach Troja, also ein unter diesen Bedingungen nur scheinbar Gutes, mit dem schlechthin Guten verwechselt. Was Agamemnon tut, ist daher wohl ein αδίκημα, doch ist er selbst deshalb nicht άδικος, πονηρός, μοχθηρός, da er nicht έκ προαιρέσεως, nicht aus einem falschen sittlichen Prinzip heraus (etwa: „Die Opferschlachtung von Menschen ist ethisch unbedenklich") handelt, sondern aus einer verzerrten Beurteilung dessen, was er zu tun gedenkt, im Einzelfall. 10 Die Sichtweise der Tat Agamemnons als αμάρτημα im aristotelischen Sinne hat den Vorteil, daß sie es erlaubt, Agamemnons Opferschlachtung seiner Tochter zugleich als von ihm zu verantwortende Fehlhandlung zu betrachten und von ihm den Vorwurf fernzuhalten, er sei ein gottloser Verbrecher. Beides steht in Übereinstimmung mit dem Text: Denn zum einen verurteilt der Chor die der Tat zugrundeliegende Sichtweise Agamemnons (nicht ihn selbst!) als unfromm etc.; daß damit nicht nur die objektive Abscheulichkeit des Opfers gemeint ist, beweist nicht nur die Tatsache, daß hier von φρενός ... τροπαίαν (219) die Rede ist, sondern auch die Worte des Chors bei der Ankunft des Königs (799-804) machen, wie wir gesehen haben (s.o. S. 127-129), deutlich, daß der Chor meint, Agamemnon hätte anders handeln können und sollen, als er es tat. Zum anderen trägt diese Sicht der Tatsache Rechnung, daß Agamemnon von den Personen des 10

Arist. EN 1 1 1 0 b 3 0 - l l l l a2.

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Stücks - nicht nur vom Chor - auch in seiner Abwesenheit (34 f., 524 ff., 1259) im wesentlichen positiv beurteilt wird und daß man von ihm bei seinem Auftritt auf der Bühne ebenfalls nicht den Eindruck eines gottlosen υβριστής gewinnt (810 f., 916-922). Agamemnon ist also weder schuldlos noch ein gottloser Frevler. Mit der Opferung seiner Tochter handelt er zwar tatsächlich falsch und gegen die von den Göttern garantierte Ordnung, aber nicht deswegen, weil er die Götter verachtete (dagegen spricht deutlich seine erste Rede auf der Bühne), sondern weil er, gehindert durch eine Leidenschaft, nicht mehr dazu in der Lage ist, dem wahrhaft Guten, dem wirklich von den Göttern Geforderten in seinem Handeln zu folgen.

7.

Das dritte Stasimon

Das Lied, das der Chor nach Agamemnons Eintritt in den Palast singt, unterscheidet sich thematisch fundamental von allen vorangegangenen Choräußerungen. In der Parodos und im ersten Stasimon hatte die Sorge des Chors um das Gelingen der Expedition gegen Troja im Vordergrund gestanden. Dabei hatten die Gastrechtsverletzung des Paris, aber auch Agamemnons offensichtliche Rechtsverstöße eine entscheidende Rolle gespielt. Bei aller Furcht, in die ihn letzteres versetzt hatte, konnte sich der Chor immer wieder durch Reflexion auf das von Zeus und den Göttern garantierte Recht, aber auch durch Erinnerung an das Adlerzeichen und die aus ihm ersichtliche göttliche Unterstützung des Zuges versichern, daß der Übeltäter Paris bestraft werden würde und damit die Unternehmung der Atriden zu einem erfolgreichen Ende kommen werde. Mit dem zweiten Stasimon, unmittelbar nach dem Botenbericht, war die Untersuchung dieser Thematik nun aber zu einem gewissen Abschluß gekommen: Troja ist gefallen, die Gastrechtsverletzung ist für Troja zum Unheil, zur völligen Vernichtung ausgeschlagen. Die beunruhigenden Züge des Adlerzeichens waren dort, wie der Situation angemessen, ganz in den Hintergrund getreten. Im zweiten Stasimon konnte der Chor angesichts der glücklichen Rückkehr Agamemnons den Zusammenhang von Unrecht und Strafe ganz ruhig und ohne Angst, ganz in Anwendung auf Paris und Troja, betrachten. Ja so sehr hatte der Bote ihn davon überzeugt, daß der Tag der Heimkehr Agamemnons, trotz des einen oder anderen Schattens, im ganzen ein Glückstag sei, daß er in der anapästischen Partie vor dem dritten Epeisodion sogar von seiner in der Parodos geübten Kritik an Agamemnons Verhaltensweise beim Auszug jetzt glaubte absehen zu können (799-806). Diese Beruhigung des Chores ist von kurzer Dauer; seine Zweifel und Sorgen brechen nun, im dritten Stasimon, wieder auf. Der Zeitpunkt dafür ist natürlich nicht zufällig. Schon an sich kann es nicht überraschen, daß der Chor sich nun, nachdem das, was

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7. Das dritte Stasimon (975-1034)

am Adlerzeichen δεξιόν war, sich mit der Einnahme Trojas und der sicheren Heimkehr Agamemnons augenscheinlich erfüllt hat, den vermutlich noch zu erwartenden κατάμομφα zuwendet (vgl. 145). Doch kann man, wie WHAMOWITZ1 erkannt hat, sehr genau angeben, was der unmittelbare Anlaß für die Furcht ist, die den Chor im dritten Stasimon befällt: Klytaimestras Worte am Ende des dritten Epeisodion (973 f.) geben mehr noch durch ihren Tonfall als durch ihren Inhalt Anlaß zur Beunruhigung. Dies wird dadurch klar, daß später Kassandra diese Worte Klytaimestras als όλολυγμός bezeichnet (1236 έπωλολύξατο). Doch auch der Inhalt der beiden Verse läßt stutzen: „Zeus, Zeus Teleios, gib meinen Gebeten Vollendung, und mögest du Sorge tragen für das, was du zu vollenden im Begriffe bist." Dem Publikum dürfte ebenso wie dem modernen Leser klar gewesen sein, welche εύχαί Klytaimestra hier andeutet. Der Chor aber ahnt, wie in der weiteren Folge des Stücks noch deutlicher werden wird, nichts von Klytaimestras Plänen - was kann es denn auch sein, was nach der Heimkehr Agamemnons für Klytaimestra noch zu vollenden bleibt? Für den Chor ist die entscheidende Aktion, der Feldzug gegen Troja und die Bestrafung des Paris, vollendet. Daß Klytaimestra sich - nach der glücklichen Heimkehr ihres Gatten - zumal in diesem Ton „Vollendung ihrer Gebete" wünscht, kann nichts Gutes bedeuten.2 Dem Chor gelingt es jedoch nicht, sich über diese Ursache seiner Angst klar Rechenschaft zu geben. Im dritten Stasimon selbst ist das Verständnis durch ernste Korruptelen an entscheidenden Stellen schwer gestört. Da der Text dort nicht mehr sicher herzustellen ist, ist es gelegentlich nötig, die Interpretation auf einem „allgemeinen Sinn" aufzubauen, der 1

2

Siehe WlLAMOWlTZ (1914) 173 und Fraenkel ad 1236 έπωλολύξατο; vgl. u. S. 337 mit Anm. 76. Vgl. W. C. Scott: „The confused chorus (Agamemnon 975-1034)", Phoenix 23 (1969) 336-346, hier 336 f.

Gegenstand und Art der Furcht des Chors

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mehr erraten werden muß als ermittelt werden kann. Es kann daher nicht verwundern, daß das Verständnis oftmals umstritten geblieben ist, da die Interpreten, soweit sie sich überhaupt mit der Stellung und dem Sinn des Chorlieds im Rahmen der Tragödie insgesamt zu befassen wagten, gezwungen waren, viel mehr den Sinn des Chorlieds aus dem Sinn des Ganzen zu erschließen als umgekehrt; noch weniger als andernorts im Agamemnon' will sich hier ein θάρσος εύπειθές in Hinsicht auf die Ergebnisse einstellen. Der schwierigste Teil des Chorlieds ist zweifellos die zweite und letzte Antistrophos, und dort besonders die Passage 1025-1029, von der für das Verständnis des gesamten Chorlieds einiges abhängt. In der ersten Strophe scheint der Sinn bis einschließlich 983 vergleichsweise klar. Ernste Störungen im Text gibt es nicht. Vier kleinere Probleme berühren das Verständnis nicht oder kaum: 1. 977 ποτδται \J— muß mit 990 ύμνωδεΐ respondieren. Wenn man ύμν- nicht kurz messen und auch die Responsion υ— nicht akzeptieren will, kann man ohne Änderung des Sinns mit Meineke πωτδται schreiben; dies halte ich indessen nicht für erforderlich.3 2. Den durch τίπτε ,warum eigentlich' eingeleiteten Fragesatz kann man, wie DENNISTON-PAGE und 3

\j— ~

ist bei Aischylos nicht sicher zu belegen; die von DENNISTON-PAGE ad 991 und THOMSON ad 975-83 angeführten Stellen sind als Beleg von nicht positionsbildendem -μν- bei Aischylos nicht geeignet: Eu. 383 τε μνήμονες ist ein Iambus, der mit 391 έμοϋ κλυών respondiert. Doch könnte dort auch — υ - mit u—υ— respondieren, und selbst wenn man τε kurz mißt, ist der Fall wegen der Wortgrenze nicht ganz veigleichbar. Pers. 287 - 281 eignet sich wegen der Korruptelen in 280-283 als Beleg nicht: Alles hängt dort von einigen Umstellungen ab. Sichere Belege für nicht positionsbildendes μν gibt es zwei bei Euripides (ΙΑ 68. 847: Wortanfang), einen bei Epicharm (frg. 91Kai.: Wortinneres), zitiert von D E N N I STON-PAGE ad 991. Es ist daher nicht unmöglich, dasselbe auch für Aischylos zuzulassen (so W E S T in seiner Ausgabe). - Andererseits gibt es einige sichere Belege für die Responsion υ bei Sophokles, von denen sich nicht alle durch Konjektur beseitigen lassen (gesammelt bei KORZENIEWSKI 107); eine gleichartige Responsion im Agamemnon' scheint daher möglich. Wie immer man also ποτάται eiklärt: Die Konjektur πωτάται in 977 ist nicht erforderlich.

266

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mit 977 ποτδται oder aber, wie die meisten anderen Herausgeber (WILAMOWITZ, Headlam, GROENEBOOM, MAZON, THOMSON, WEST; LLOYD-JONES4), erst mit 983 θρόνον enden lassen. Einen Unterschied im Sinn macht das - wenn überhaupt - nur in einer unbedeutenden Nuance aus. Immerhin hat es etwas für sich, die Sinneinheit auch als syntaktische Einheit aufzufassen. Denn während der Abschnitt 9 7 5 - 9 8 3 sozusagen eine „Diagnose" der Vorgänge enthält, die sich im Inneren des Chors abspielen, wendet sich der Chor von 984 an den Tatsachen zu, die seine Furcht (976 δεΐμα) überraschend erscheinen lassen; diese Passage erstreckt sich über die Strophe hinweg bis 989 in die erste Antistrophos hinein: Erst mit 990 kehrt dann der Chor zu den Vorgängen in seinem Innern zurück. Es kann daher vernünftig erscheinen, sich den ersten Abschnitt gänzlich als Frage formuliert zu denken. Denkbar ist aber auch, daß der Chor schon nach einer kurzen Frage ( 9 7 5 - 9 7 8 ) mit 979 δ' zu einem Aussagesatz übergeht. 3. 980 άποπτύσας ist vermutlich heil und ad sensum konstruiert; s. FRAENKEL a. I. 4. 982 ϊξει (ϊξει F) ist wohl zu Recht zu ϊζει geändert worden (Scaliger, von den meisten Herausgebern übernommen, s. aber BOLLACK-JUDET DE LA COMBE II 215, a. I); mag das ϊξει zugrundeliegende Bild auch verständlich sein, das Futur ist in dieser Beschreibung gegenwärtiger seelischer Vorgänge merkwürdig (die Form selbst wäre als Dorismus vielleicht akzeptabel, vgl. Ar. Ach. 742 ίξεΐτ und Pi. Pae. 6,116 Μ. ίξέμεν). PAGE,

Λ

Agamemnon, by Aeschylus, a translation with commentary by H. JONES, London u.a. 1 1 9 7 0 .

LLOYD-

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Am Anfang des dritten Stasimon also spricht der Chor von einer Furcht, die sich der Kontrolle über die καρδία 5 bemächtigt hat (zu 976 προστατηριον s. FRAENKEL a. L), so daß ein Lied unaufgefordert in ihm wahrsagt und Unheil verkündet. Es ist eine Furcht, die er nicht abschütteln kann wie Träume, die keine sichere Deutung erlauben, und in der φρήν will sich kein εύπειθές θράσος, keine „Zuversicht, die leicht überzeugt" (vgl. FRAENKEL ad 274), einstellen. Die Frage (975 τίπτε), die der Chor stellt, bleibt unbeantwortet; er weiß den unmittelbaren Grund für die Furcht, die er empfindet, nicht zu erkennen. Dagegen wird, trotz vieler Schwierigkeiten im einzelnen, im Rest der Strophe und am Anfang der folgenden Antistrophos, deutlich werden, in welche Richtung die Befürchtungen des Chors gehen: Er fürchtet Unglück für Agamemnon. 5

Zur Bedeutung der verschiedenen Seelenvermögen bei Aischylos s. jetzt W.G. THALMANN: „Aeschylus's physiology of the emotions", AJPh 107 (1986) 489-511. Die Arbeit behält auch dann ihren Wert, wenn man T H A L MANNs Deutung der beiden Moirai in 1025 ff. nicht folgen will („Speech and silence in the Oresteia 1: Agamemnon 1025-1029", Phoenix 39 [1985] 99-118). Sein Aufweis, daß die Seelenvermögen bei Aischylos sehr konsistent und durchgängig unterschieden sind, überzeugt: Danach ist bei Aischylos, vereinfacht dargestellt, φρήν oder φρένες das überlegende, geistig erkennende („rationale") Denken, θυμός das unmittelbar reagierende, zur sofortigen Tätigkeit drängende Vermögen, und damit α a auch Sitz sofort und unmittelbar sich einstellender Gefühle, während καρδία/κέαρ Sitz verfestigter und daueriiafter, darum nicht weniger intensiver, aber „komplexerer" Empfindungen ist THALMANNS radikale Scheidung von „irrationalen" Vermögen (θυμός, καρδία/κέαρ, für ihn zusammengefaßt unter dem Begriff σπλάγχνα) einerseits und der „rationalen" (φρήν bzw. φρένες) andererseits kann aber nicht überzeugen, zumal er selbst (1986) 491 zugeben muß, daß, wenn auch in je verschiedener Weise, θυμός und καρδία Sitz von »intellectual operations«, andererseits aber φρήν/φρένες Sitz von »emotions« sein kann. Deshalb muß der Unterschied zwischen den verschiedenen Vermögen sich jedoch nicht verwischen, noch auch die Anbindung der Vermögen an bestimmte Organe geleugnet werden (dagegen THALMANN [1986]). Wie problematisch eine radikale Scheidung rein passiver („irrationaler") und aktiver („rationaler") Vermögen für das Verständnis der antiken Literatur ist, zeigt, insbesondere für Homer, A. SCHMITT (1990) bes. 199-206.

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Das Folgende macht zugleich klar, warum es dem Chor schwerfällt, ja unmöglich ist, einen überzeugenden Grund für seine Befürchtungen anzugeben:6 Seit der Abfahrt nach Troja - soviel läßt der Text trotz der Korruptelen erkennen - ist eine lange Zeit verstrichen (984-987). Aber mehr noch, mit eigenen Augen hat der Chor die Rückkunft seines Königs gesehen (988 f.) und vom erfolgreichen Abschluß des Feldzuges erfahren. Alle Befürchtungen, die man vernünftigerweise hegen konnte, müßten damit zur Ruhe gekommen sein. Dies war tatsächlich der Gemütszustand des Chors im zweiten Stasimon - nach dem ganz das Positive der Rückkehr und des Erfolges betonenden Botenbericht - und in der darauf folgenden anapästischen Partie (s. bes. 799-804): Weder die Opferung Iphigenies noch die Tötung zahlreicher Menschen und die Zerstörung einer ganzen Stadt (456-474, vgl. 345-347) haben Agamemnon geschadet. Nicht einmal der Seesturm bei der Rückfahrt, ganz offensichtlich die Antwort der Götter auf Frevel bei der Einnahme Trojas, haben den Oberfeldherrn betroffen, sondern durch direkte Einwirkung einer Gottheit wurde er gerettet (646-666, vgl. 341-344). - Mit der Heimkehr Agamemnons also scheint alle Gefahr gebannt, scheint die gefahrvolle und auch ethisch bedenkliche Aktion Agamemnons glücklich abgeschlossen zu sein. Doch der Chor ist nicht mehr in derselben Lage wie bei der Begrüßung Agamemnons. Die Worte Klytaimestras versetzen ihn in ö

Ich diskutiere hier nicht die korrupte Passage 984-986. Der Text ist nicht herzustellen, wenn ich auch den von WILAMOWITZ (nach partiellem Vorgang Weckleins) angenommenen Wortlaut, der von FEAENKEL abgedruckt und erklärt wird, für sehr attraktiv halte. Ein anderer neuerer und recht interessanter Textvorschlag bei MARCOVICH (1974) 134 f.; nur scheint es mir unmöglich, 986 f. εδθ' ύπ' "Ιλιον ώρτο ... auf die Landung in Troja statt auf die Abfahrt aus Aulis zu beziehen, wie MARCOVICH und auch LLOYD-JONES (1970), offenbar in der Folge THOMSONS (ad 983-7), in ihren Übersetzungen tun. THOMSONS Parallelen sind dafür nicht beweiskräftig; denn auch wenn die Formulierung ύπ' "Ιλιον auf die von ihm zitierten Stellen im Epos zurückgeht, δρνυσθαι heißt nicht ερχεσθαι und schon gar nicht αφικνεΐσθαι, sondern ,sich erheben' und verweist damit auf den Aufbruch.

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größte Unruhe, da sie suggerieren, daß das τέλος der Handlung noch nicht erreicht ist. Diese Verbindung zieht der Chor selbst freilich nicht; ihm ist der Anlaß seiner Furcht unerklärlich. Im Gegenteil fallen ihm nur Gründe gegen die Fundiertheit seiner Furcht ein. Seine Angst erscheint folglich als etwas, das sich „trotzdem" (990 δμως, Casaubons Korrektur für δπως FTr) einstellt. Die folgende Beschreibung der innerseelischen Vorgänge des Chors, die glücklicherweise von ernsten Textverderbnissen verschont geblieben ist, wird besonders prägnant, wenn THALMANNs7 Analyse des Zusammenwirkens von θυμός, καρδία und φρην, die er zu einem guten Teil aus dieser Passage gewinnt, richtig ist: Die bösen Vorahnungen des Chors nehmen ihren Ausgang im θυμός, der αυτοδίδακτος, also ohne in einem höheren Erkenntnisvermögen (etwa der φρήν) dafür Gründe zu finden, den „Klagegesang der Erinys anstimmt" und dem jede Zuversicht, wie sie eigentlich zu erwarten wäre (s.o.), abgeht (990-994). Dies geht sehr gut mit der ersten Strophe zusammen, wo der Chor schon von einem δεΐμα προστατηριον καρδίας (976 f.) spricht, das ihn bedrängt, einer Angst also, die zwar die καρδία bestimmt, aber außerhalb ihrer angesiedelt ist - vermutlich eben im θυμός. 995-997 sind vom Text her zwar unumstritten, die Deutung ist aber nicht einfach. Klar ist, daß hier beschrieben wird, wie das κέαρ und schließlich die φρένες von dem θρήνος Έρινύος betroffen werden. Die ganze Beschreibung aber ist eingeleitet durch den Hinweis, daß σπλάγχνα οΰτοι ματάζει (995). Dadurch wird ein neuer Aspekt eingeführt, der über die bloße Feststellung und Beschreibung der Angst hinausgeht: Obschon sich der Chor den Anlaß für seine Furcht nicht erklären kann, ist er sich sicher, daß sie nicht ohne Grundlage ist. Der Chor weiß, wie erwähnt, keinen konkreten Anlaß für seine Furcht. Dies wird auch daraus deutlich, daß er noch in der Kassandra-Szene die Hinweise der Seherin auf Agamemnons Tod verkennt, ihrer dann klaren Aussage aber keinen Glauben 7

(1986) bes. 500-502 zu unserer Stelle.

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schenkt. Auch nennt der Chor nirgends im dritten Stasimon eine mögliche Ursache für das von ihm befürchtete Unglück Agamemnons. Doch scheint mir nicht der Schluß gerechtfertigt, daß der Chor keine solche Ursache im Sinn hat. Auf das Gegenteil weisen die Worte ένδίκοις und τελεσφόροις (996 f.) in dem hier untersuchten Abschnitt: F R A E N K E L (II 448 f.) hat für Aischylos gezeigt, daß ένδικος prägnant verstanden werden muß (»that in which there is δίκη«) und übersetzt den Ausdruck ένδίκοις φρέσιν mit »the mind which is conscious of just retribution«. Diese Interpretation überzeugt mich, wenn es mir auch bezeichnend scheint, daß die Sprache des Chors hier - anders als an vielen Stellen, die sich auf Paris und Troja beziehen - nur andeutet, nicht aber klar ausspricht, worauf sich seine έλπίς (Erwartung) gründet. Die Andeutungen sind jedoch, wie mir scheint, klar genug, um F R A E N K E L S Interpretation zu stützen. B O L L A C K - J U D E T D E L A C O M B E (II 213) weisen darauf hin, daß der explizite Bezug auf die Parodos in der ersten Strophe des dritten Stasimons (984-987) relevant ist. 8 Dies zeigt bereits der unmittelbare Kontext: Wenn (anscheinend) die Tatsache, daß viel Zeit verstrichen ist, seitdem die Flotte nach Troja aufgebrochen ist (falls man dies dem verderbten Text entnehmen darf), als einer der Gründe angeführt wird, die dagegen sprechen, daß die Angst des Chors fundiert ist, so sind offenbar die Ereignisse in Aulis (vor allem wohl Iphigenies Opferung, die der Chor so scharf kritisiert hatte) ein Grund für ebendiese Furcht. Der Bezug auf die Parodos scheint mir aber weiter zu gehen: Wenn der Chor sagt (995-997), daß seine9 σπλάγχνα οΰτοι ματάζει κτλ., so liegt es nahe, an die Stelle im sogenannten Zeus-Hymnus in der Parodos 8

9

Ihrer vorsichtig vorgetragenen Anregung, 988 ποταται könnte auf das Adlerzeichen verweisen, stehe ich allerdings skeptisch gegenüber. Es kann mir nicht einleuchten, daß FRAENKEL (II 450) in 995-997 eine allgemeine Aussage sehen will, die nur »applies to the speaker among the rest«. Im Kontext muß sie sich mindestens in erster Linie auf die Vorgänge im Chor selbst beziehen, und man kann zweifeln, ob überhaupt eine allgemeine Aussage beabsichtigt ist

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zu denken, wo der Chor versucht, durch Rückgriff auf Zeus, der Unrecht bestraft und damit das Recht durchsetzt, το μάταν άπό φροντίδος άχθος ... βαλεΐν ετητύμως (165f.). Zu dieser Passage hatte ich die Auffassung vertreten (o. S. 102-107), daß, obwohl 176-183 auffällig gut und sicherlich nicht ohne die Absicht des Dichters auf Agamemnon passen, der Chor selbst hier vor allem Paris und die Trojaner im Auge haben muß, da sonst kaum verständlich wäre, wie diese Betrachtung ihn von seinem μάταν άχθος befreien könnte: Die Betrachtung nimmt ihm deswegen seine Sorgenlast, weil sie ihn darin versichert, daß Paris und Troja ihre Strafe erhalten werden und damit Agamemnon - trotz seines Verhaltens in Aulis - mit seiner Unternehmung Erfolg haben wird. Diese Deutung bestätigt sich hier, im dritten Stasimon, e contrario: Sobald sich der Chor gezwungen sieht, das Verhältnis von Übertretung und Unglück, Schuld und Strafe, auf Agamemnon anzuwenden, stellt sich in ihm Angst gerade ein und, schlimmer noch, sie stellt sich als eine wohlbegründete Angst dar, die keineswegs mehr ματαία ist (vg¿L 995f.). Konnte sich der Chor bislang damit trösten, daß das Gesetz des Zeus auf Troja Anwendung finden müsse bzw. gefunden habe, so beunruhigt ihn nun die Aussicht, daß es auch auf Agamemnon angewandt werden könnte. Dies alles wird vom Chor nur angedeutet: „Mein Inneres aber geht nicht ins Leere, da das Herz auf φρένες, xo in denen δίκη liegt, in Strudeln, die in Erfüllung gehen, sich im Kreise bewegt." An dieser Übersetzung ist im einzelnen manches unsicher. So kann man zum Beispiel zweifeln, ob προς ένδίκοις φρεσίν eher mit ματάζει zu verbinden ist (so DENNISTON-PAGE) oder mit dem Folgenden. Die letztere Möglichkeit macht das Verhältnis zwischen den verschiedenen Organen und Vermögen klarer und ist daher m. E. vorzuziehen. Auch τελεσφόροις δίναις ist nicht ganz so unproblematisch, wie es aus FRAENKEL (II 449 f.) erscheint. Er übersetzt τελεσφόροις mit »that bring fulfillment«, 10

Dies scheint mir unübersetzbar Wie THALMANN (1986) herausgestellt hat, steht das Wort - wie auch καρδία/κέαρ - hier zwar für ein Seelenvermögen, ohne daß jedoch der Bezug auf ein Oigan geleugnet werden kann.

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erklärt aber in seinem Kommentar: »In the present passage the use of the adjective with δίναις presents the idea that the eddies will not cease until the goal of the movement, i. e. the conclusion of the divinely willed trial, has been reached and the wrong expiated.« Viele sind ihm gefolgt. Doch ist die von Agamemnon zu leistende Buße ja keineswegs »the goal of the movement«; vielmehr drückt sich in der Unruhe des Chors die Befürchtung aus, daß Agamemnons Unglück das τέλος der Handlung sein könnte. Es scheint mir schwer zu verstehen, warum die Unruhe des Chors, die dieser differenziert als Zusammenspiel verschiedener Seelenvermögen mit physischen Begleiterscheinungen beschreibt, „Vollendung bringen" soll. Da es bei Aischylos Anzeichen für einen weniger strikten Gebrauch von τελεσφόρος gibt etwa Ch. 212 von Elektras Gebeten und Ch. 541 von Orests Traum, wird man auch hier die schwächere Bedeutung (,in Erfüllung gehend') voraussetzen dürfen. Doch erinnert wohl - wie FRAENKEL meint - das Wort gerade im Zusammenhang mit ένδικος durchaus an δίκη, die πάν επί τέρμα νωμα (782). Seine Furcht, deren Anlaß der Chor nicht zu erkennen vermag, geht also zwar vom θυμός aus, findet aber in den φρένες eine tiefere Begründung (nicht jedoch konkrete Gründe, s. o. S. 269). Nach dem Gesagten scheint es also, daß der Chor sich gezwungen sieht, den Zusammenhang von Unrecht und Strafe, den er besonders nachdrücklich im zweiten Stasimon - in Anwendung auf Paris und Troja - dargestellt hatte, auch auf Agamemnon anzuwenden. Denn Agamemnons großer Erfolg, der mit seiner glücklichen Rückkunft nach Argos zum Höhepunkt, und scheinbar zugleich zum Abschluß gekommen ist, hatte ein großes Unrecht zur Voraussetzung: die Opferung Iphigenies; und anders als in der Parodos hat der Chor jetzt, nach der Bestrafung Trojas, keine „theologische" Handhabe mehr, sich von seiner Furcht, wenigstens vorläufig, zu befreien. Nur der Stand der Dinge erlaubt ihm, am Schluß der ersten Antistrophos den Wunsch auszusprechen, daß das notwendige Ergebnis der theologischen Betrachtung, die sich ihm offenbar aufgedrängt hat, nicht in Erfüllung

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gehen möge (998-1000). Denn unter den gegenwärtigen Umständen muß es dem Chor, wie noch in und nach der Kassandra-Szene (s.u. S. 349-358), unglaublich erscheinen, daß Agamemnon jetzt, in seinem eigenen Hause, nach erfolgreichem Abschluß eines gefahrvollen Unternehmens, das vielfach Gelegenheit für die „Bestrafung" Agamemnons geboten hätte, 11 noch Gefahr drohen kann (s. 984-989). Die auf ethisch-religiösen Überzeugungen beruhende Furcht des Chors will sich aber dennoch (990 ομως) nicht legen. - Daß, anders als im zweiten Stasimon, auf solche Betrachtungen nur vorsichtig hingewiesen wird, ohne daß ihre Darstellung Raum gewinnt, kann nicht verwundern. Die Scheu des Chors, die Anwendung der im zweiten Stasimon entfalteten Prinzipien auf den von ihm geschätzten König in klare Worte zu fassen, ist zu verständlich, als daß sie der Begründung bedürfte. Dieselbe Scheu werden wir beim Chor in der Kassandra-Szene wiederfinden. Dort (1246-1249) verweist er Kassandra nicht nur, offen von Agamemnons Tode zu reden, nachdem sie sich endlich dazu verstanden hat, in klaren und auch für den Chor verständlichen Worten zu sprechen, er hält es auch für nötig, abwehrende Wünsche hinzuzufügen, die von den konkreten Umständen keinerlei Notiz nehmen (1248 f.: ΚΑ. αλλ' οϋτι παιών τωδ' έπιστατεΐ λόγω. - ΧΟ. ουκ, εύτερ εσται γ'· άλλα μή γένοιτο πως). Dies ist eine gewisse Parallele zu seinen Worten im dritten Stasimon (998-1000). Hier drückt er ebenfalls seinen Wunsch aus, daß das Erwartete nicht eintreten möge, obwohl er selbst zuvor bekräftigt hat, daß sein Fühlen nicht ohne Fundament (995 f. ματάζει), die Unruhe in seinem κέαρ aber τελεσφόρος (997 τελεσφόροις)

11

Auch und gerade noch nach der Bestrafung Trojas, man denke an den Seesturm.

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sei. 1 2 Allerdings hat er es hier wohl tatsächlich nicht leicht, eine konkrete Bedrohung Agamemnons zu erkennen. Der Beginn der zweiten Strophe ist korrupt.13 Außerdem ist vor oder nach 1005 ein Hemiepes ausgefallen (die Antistrophos, 1022f., bietet deren zwei). 14 In 1001 läßt sich die Responsion zu den zwei Kretikern in 1018 nicht herstellen. Ob man 1002 f. τέρμα νόσος γαρ für heil halten darf, hängt davon ab, ob man 1020 f. μέλαν ... έπαείδων als drei anapästische Metra bzw. als zwei anapästische Metra + Paroemiacus (was dasselbe ist) betrachtet. Je nach metrischer Interpretation kann man dann auch, unmittelbar davor, άκόρεστον mit πρόπαρ ανδρός respondieren lassen (das Wort macht allerdings auch inhaltlich Schwierigkeiten). Auf dieser Basis ließe sich die Korruptel also auf 1001 beschränken.15 Es bleibt die Feststellung, daß dort der Text nicht mehr herzustellen ist. 12

G. BARTOLINI: „ I I terzo stasimo dell 'Agamennone", in: Tetraonyma. Miscellanea Graeco-Romana, Genova 1966, 61-74, hier 70, hat darauf hingewiesen, daß damit ein Thema fortgeführt wird, das ebenfalls in der Parados schon angedeutet war (121 = 139 = 159 und 255). Entsprechend der veränderten Situation, d.h. nachdem sich der günstige Teil des Zeichens erfüllt hat, »il coro non s'affida più a speranze d'un bene futuro ma si limita ad augurarsi che il male temuto non si avveri.«

THOMSON (ad 1001-4) möchte eine Responsion der drei Ioniker (1001 μόλα γάρ toi . . . ύγιείας) mit den drei Kretikern bzw. Päonen in 1018 f. (το δ' έπί γάν . . . θανάσιμον) zulassen. In seiner metrischen Appendix (II 247) erklärt er eine solche Responsion für »rare«, stützt aber nicht seine Behauptung im Kommentar, daß »the discrepancy is not without parallel« (aus der Kritik an THOMSON bei FRAENKEL II 452 Anm. 2 geht hervor, daß er in der mir nicht zugänglichen Erstausgabe 1938 noch 714 f. und 707 [wo er έπέρρεπεν statt έπέρρεπε liest] anführte). Da es sich bei Päonen und Ionikern um Metra sehr verschiedenen Charakters handelt, glaube ich nicht, ihm folgen zu dürfen. 14 Die Möglichkeit, daß inmitten von Vers 1005 oder 1006 etwas ausgefallen ist, ist zwar auch nicht auszuschließen, aber doch weit weniger wahrscheinlich. Denn die Ursache des Verlusts ist wohl Zeilensprung. 15 Zu weiteren Einzelheiten s. FRAENKEL a. I. und jetzt W E S T , Studies 207-209. 1 3

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schlagen vor, dennoch vom überlieferten Text auszugehen, da dieser »peut garder la trace d'une époque où les lecteurs ont peu ou mal tenu compte de la métrique, sans que le sens que livrent les mots transmis doive être ipso facto rejeté«. Dies ist zwar eine bedenkenswerte Überlegung, zumal die Alternative, in dem korrupten Text Gedanken erkennen zu wollen, die an anderer Stelle klarer formuliert sind, schwerlich sicherere Ergebnisse liefern wird. Andererseits macht man sich mit der von BOLLACK-JUDET DE LA COMBE vorgeschlagenen Verfahrensweise vom Verständnis unbekannter Kopisten abhängig. Wer bedenkt, wieviele offensichtliche Verständnisfehler - gerade in der Deutung des Kontexts - neben manch Nützlichem sich selbst in den Scholien finden, wird die Möglichkeit, auf diese Weise richtige Ergebnisse zu erzielen, nicht zu optimistisch einschätzen. BOLLACK-JUDET DE LA COMBE ( I I 2 4 0 )

Selbst wenn der Beginn der Strophe im ganzen den Inhalt des Aischyleischen Textes bewahrt, verschwinden die Schwierigkeiten nicht. Es scheint noch erkennbar zu sein, daß von einer Grenze zwischen „großer (übersteigerter?) Gesundheit" (πολλή ύγίεια) und „Krankheit" (νόσος) die Rede ist. Problematisch ist, daß diese Grenze (τέρμα) als άκόρεστον bezeichnet wird, ein überraschendes Wort an dieser Stelle. 16 BOLLACK-JUDET DE LA COMBE (II 2 4 4 ) haben dafür eine sehr interessante Deutung vorgelegt und nehmen ein dialektisches Verhältnis zwischen „Gesundheit" (Wohlstand) und „Krankheit" (Mangel, vgl. auch 1017) an. Die Grenze (τέρμα) zwischen beiden „Nachbarn" heiße άκόρεστον, weil der Mensch angesichts der ständigen Bedrohung durch den Mangel geneigt sei, sie ständig zu verschieben. »Dans ce processus dynamique, la définition mutuelle (τέρμα) des contraires est indéfinie (άκόρεστον).« Doch scheint mir dadurch dem Wort selbst und dem unsicheren Kontext zu viel aufgebürdet zu werden. Denn zwar kann τό ευ πράσσειν ( 1 3 3 1 ) άκόρεστον .unersättlich' sein, da Wohlstand oft, mit nichts zufrieden, immer



Siehe die Kommentare und WEST, Studies 208.

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mehr will und keine Grenze kennt; aber auch die Grenze zwischen Wohlstand und Armut? Von ihr könnte man wohl sagen, daß sie indéfini sei, wie BOLLACK-JUDET DE LA COMBE tun, aber dies ist nicht die Bedeutung von ακόρεστος. Das Folgende legt indessen nicht die Auffassung nahe, es könne sich hier um eine dynamische, ständig verschobene Grenze handeln; das άφαντον ερμα in 1006 jedenfalls ist zwar unsichtbar, also nicht oder schwer erkennbar, aber keineswegs indéfini. Andererseits ist es sehr zweifelhaft, ob man in άκόρεστον τέρμα einen Hinweis auf die Unersättlichkeit des Reichtums (πολλή ύγίεια oder was sonst Aischylos geschrieben hat) erblicken darf (zu den Schwierigkeiten s. die Übersicht bei BOLLACK-JUDET DE LA COMBE II 242f.). Die Probleme mit άκόρεστον könnten ein Hinweis darauf sein, daß die Syntax zu Beginn der Strophe unter den Korruptelen doch stärker gelitten hat, als BOLLACK-JUDET DE LA COMBE annehmen. Vielleicht ist auch άκόρεστον verderbt. Dagegen ist es möglich, daß der folgende Satz (1003 f. νόσος . . . έρείδει) heil ist. Casaubon 17 hat darin eine Anspielung auf einen Gedanken erkannt, der in einem Hippokratischen Aphorismus wiederkehrt: Die zur äußersten Spitze getriebene Gesundheit schlägt leicht ins Gegenteil, in Krankheit um. 1 8 Dieser Gedanke ist sachlich parallel zu dem, was folgt (FRAENKEL ad 1004): „Menschliches Geschick, das geradewegs immer weiter vorankommt (also Wohlstand), stößt o f t 1 9 an eine unsichtbare Klippe" (1005f.). Der Satz ist verständlich, doch ist es keineswegs sicher, daß der überlieferte Text den ursprünglichen Gedanken wiedergibt. Wie die Metrik der Antistrophos zeigt, ist vor oder 17

Siehe FRAENKEL ad 1004 und U. v. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF: Der Glaube der Hellenen, Berlin 1931-1932, II 137. 18 Reflexe davon sind in der griechischen Literatur nicht selten; relevante Belege hat in großer Zahl THOMSON ad 1001-4 gesammelt 1S>

Dabei handelt es sich, wie aus dem zweiten Stasimon bekannt und wie auch der gnomische Aorist anzeigt, nach der Auffassung des Chors nicht um ein moralisches Gesetz, sondern um eine Tendenz, die die Erfahrung lehrt.

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nach 1005 etwas ausgefallen; denn zwischen dem Paroemiacus und dem alkäischen Zehnsilbler stehen in der Antistrophos zwei Hemiepe (1022 f.), in der Strophe nur eines (1005). Ob der Verlust vor oder nach 1005 anzusetzen ist, ist nicht zu ermitteln. WLLAMOWITZ vermißt im Gefolge von Schoemann (zit. von FRAENKEL ad 1005) »nimii notionem in cursu directo«. Es ist möglich, daß ein Hinweis auf das Übermaß an Wohlstand oder die Ungerechtigkeit seines Erwerbs in der verlorenen Zeile stand. Als sicher freilich kann das nicht gelten. FRAENKEL (ad 1005) zitiert zustimmend die Auffassung von AHRENS, 20 daß der Gedanke als solcher vollständig ist und nichts Unerwartetes enthält. In dem Satz 1005-1007 πότμος εύθυπορων ανδρός επαιοεν αφαντον ερμα kann man mit hinreichender Klarheit den Gedanken ausgedrückt sehen, daß Wohlstand, der auf sein stetiges Fortkommen bedacht ist, also eben kein bestimmtes Maß kennt (πότμος εύθυπορων), schließlich an einer bestehenden Grenze, die aber nicht (leicht) erkennbar ist, zerbricht. Dieser Gedanke ist im zweiten Stasimon insofern vorbereitet, als dort beständiges Glück tendenziell dem bescheidenen und maßvollen Wohlstand, Scheitern dem großen, und damit gern exzessiven und ungerechten, Reichtum verheißen wird. 21 Dort freilich war die Anbindung an δίκη besonders eng und explizit, insofern ολβος als Ursache für Scheitern geleugnet wurde. Ähnlich, wenn auch weniger klar, hatte der Chor schon in einem Abschnitt des ersten Stasimon (456-474) formuliert: των πολυκτόνων ούκ άσκοποι θεοί (461 f.). Der „Blick" der Götter bedeutet nun keineswegs immer Verderben (s. z.B. Pi. P. 71 f.), wenngleich er im Kontext des ersten Stasimon ohne Zweifel eine sinistre Bedeutung hat. Aber wer über das gewöhnliche Maß hinaus aufsehener20

AHRENS (1860) 603 paraphrasiert: »blühende gesundheit schlägt oft in krankheit um« und »das vollste glück leidet oft plötzlich schiffbruch«.

21

Dieser Aspekt wird besonders von Dl BENEDETTO ([1978] 180-192: »L'elogio della povertà«) hervorgehoben (zum dritten Stasimon besonders 187 und 191 f.). Für das zweite Stasimon ist jedoch die Bedeutung der δίκη unterbewertet, s. o. S. 197.

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regende Taten vollbringt, so wird man verallgemeinern dürfen, der erregt die Aufmerksamkeit der Götter, der wird nicht ohne Verderben davonkommen, wenn er sich gegen das Recht vergeht. Denn die Anbindung an das Recht folgt auch im ersten Stasimon auf dem Fuße: Wer τυχηρός ανευ δίκας ist (vgl. 464), der hat mit göttlicher Strafe zu rechnen. Der Chor zieht daher für sich selbst eine bescheidenere, mittlere Stellung zwischen den Extremen vor, die schon an sich ein schweres Vergehen gegen δίκη unwahrscheinlich macht (471-474). Ich halte es für sehr wohl möglich, daß hier, im dritten Stasimon, ein expliziter Hinweis auf δίκη oder das Übermaß zunächst fehlt. 22 Eine Entscheidung ist natürlich wegen der Lücke unmöglich; wichtig aber scheint mir, daß allem Anschein nach mit πότμος εύθυπορων eine Steigerung des Wohlstandes gemeint ist, die sich kein bestimmtes, von Anfang an definiertes Maß gesetzt hat, sondern auf ständiges Fortschreiten angelegt ist. 23 Ähnlich wie bei dem übersteigerten und nicht auf die richtige Mitte sehenden Streben nach ύγίεια gibt es, scheint mir der Chor sagen zu wollen, auch im Falle des geradlinig voranschreitenden (günstigen) Geschicks eine Grenze, an der das Gute in sein Gegenteil umschlägt. Diese Betrachtung, wenn sie so in ihren wichtigsten Zügen richtig gedeutet ist, müßte den Chor in ihrer Anwendung auf Agamemnon aufs höchste verunsichern. Denn Agamemnon scheint an der höchsten denkbaren Spitze des Glücks angekommen zu sein. Doch die Seefahrtsmetapher gibt dem Chor Gelegenheit, für einen Augenblick etwas hoffnungsvollere Töne anzuschlagen: Die Metapher wird fortgeführt durch das bekannte Motiv, daß der 22

In der Fortführung des Bildes würde dieser Mangel ohnehin mit 1012 αγαν beseitigt, wenn man in der Deutung des Verses nicht, was ich allerdings für möglich halte (s.u. S. 280f.), BOLLACK-JUDET DE L A COMBE folgt. 23 Diese Wertung schließt nicht aus, daß der Textverlust nach 1005 anzusetzen ist, wenn der verlorene Text - wie so oft bei Aischylos - einen erläuternden oder ergänzenden Zusatz enthielt. Sie kann aber hinfällig sein, wenn die Syntax ganz anders war, als sie jetzt erscheint

Gegenstand und Art der Furcht des Chors

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Untergang des Schiffes in schwerer See dadurch abgewandt werden kann, daß ein Teil der Ladung, und damit des Besitzes, über Bord geworfen wird (εκβολή). 24 Wie nicht selten bei Aischylos (s. FRAENKEL ad 1 0 1 1 δόμος), mischen sich hier Bild- und Sachebene: Nachdem der Gedanke der έκβολή zunächst das Bild der Seereise weiterführt, das mit πότμος εύθυπορών . . . ερμα angeklungen war, ist zunächst von der Rettung des Hauses die Rede, die durch freiwilligen Verzicht erreicht werden kann (1011 f.), und erst danach erfährt man, daß auch das Schiff nicht auf Grund gesetzt ist. Es fällt mir besonders an dieser Stelle schwer, die gedankliche Abfolge und die Syntax (in der dem Hörer auch noch ein Anakoluth zugemutet wird) nicht als ungeschickt und ungeordnet zu empfinden. Man kann sich fragen, ob Aischylos damit nicht die Verwirrung und Verunsicherung des Chors kennzeichnen will. Doch das soll hier nicht näher verfolgt werden - den Text wird deshalb niemand mehr in Zweifel ziehen wollen. Dagegen müssen noch zwei kleinere, aber wichtige Probleme angerissen werden. Zum einen ist die Bedeutung von σφενδόνη ( 1 0 1 0 σφενδόνας) umstritten (s. die Kommentare): FRAENKEL {ad 1008 ff.) verteidigt die traditionelle Interpretation ,throw*, ein leicht übertragener Gebrauch, der sicher vertretbar wäre. Wyse (zit. von FRAENKEL) und in seinem Gefolge DENNISTON-PAGE sehen darin an unserer Stelle den Teil eines Krans auf dem Schiff; das Wort ist in solcher Bedeutung inschriftlich belegt, wobei es sich allerdings um einen Kran im Hafen handelt. FRAENKELS Einwände gegen diese Sicht scheinen mir überzeugend: Selbst angenommen, solche Einrichtungen hätte es an Bord griechischer Schiffe (und nicht nur in Häfen) gegeben, ist es schwer vorstellbar, daß sie bei schwerer See in höchster Gefahr zum Einsatz kommen konnten oder nach Art der Fracht mußten. THOMSON {ad 1009) nimmt dagegen an »that this σφενδόνη is not, as Fraenkel imagines, a real engine at all; it is ευμετρος σφενδόνη, the 'derrick of due measure', which Captain Caution, wise before the event, uses to unload some of the cargo before leaving port.« Dies kann mich aber nicht überzeugen, vor allem, weil dies - anders als die έκβολή - kein so vertrautes Motiv ist, daß Aischylos hätte hoffen können, ohne weitere Erklärung verständlich zu 2Λ

Zu den Einzelheiten des Textes und der Deutung s. FRAENKEL II 4 5 4 - 4 5 7 .

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7. Das dritte Stasimon (975-1034)

sein. Ferner verweist 1009 βαλών unmißverständlich auf eine εκβολή. Außerdem wäre es ein merkwürdiges Bild, „Captain Caution" das Zuviel an Fracht zunächst ins Schiff bringen und dann, vor der Abfahrt, wieder ausladen zu lassen. Völlig unverständlich ist mir schließlich, wie T H O M S O N trotz seiner Deutung annehmen kann, daß »the idea behind this passage is that in heavy water it is better to throw a portion of the surplus cargo overboard than to risk the loss of ship and all«. - In 1012 schreiben jetzt die meisten Herausgeber πλησμονδς (Schütz). Überliefert ist πημονάς, was in jüngerer Zeit (in der Form πημονάς) m. W. nur THOMSON und B O L L A C K - J U D E T D E L A C O M B E verteidigen.25 T H O M S O N (ad 1 0 0 9 ) sieht in dem Wort πημονάς die Pointe wiederaufgenommen, daß durch das Übermaß sich die Ladung (der Wohlstand) in ,Leid' verwandelt, so daß das Schiff (das Haus) eben aufgrund der übermäßigen Ladung (des übermäßigen Wohlstandes) von Leid übervoll und vom Untergang bedroht ist. Akzeptiert man dies, so muß man dem Chor eine besonders harte Vermischung der gedanklichen Ebenen zutrauen, insofern dann γέμων άγαν nicht eigentlich πημονάς zum Objekt haben kann, sondern vielmehr die Ladung bzw. den Wohlstand, die sich durch ihr Übermaß erst in Leid für das Schiff bzw. das Haus verwandelt haben. Dies ist vielleicht nicht völlig auszuschließen, aber doch so hart und selbst für diesen Chor so ungewöhnlich, daß mir Schütz' Konjektur dagegen vorzuziehen zu sein scheint. - BOLL A C K - J U D E T D E LA C O M B E (II 2 4 8 ) sehen in πημονάς γέμων άγαν nicht die Ursache für den Untergang des Hauses, sondern vielmehr die Beschreibung des Untergangs »en termes propres au désastre domestique«. Nach ihrer Auffassung löst sich also der Chor von der Seefahrtmetapher und wendet sie direkt auf die konkreten Geschehnisse in einem Hausstand an. Der Einwand Housmans (»the phrase πημονάς γέμων άγαν is ridiculous: as if there were such a thing as πημονάς γέμειν μετρίως!«, zit. von F R A E N K E L ad 1 0 1 2 ) trifft dann nicht, da B O L L A C K - J U D E T D E L A C O M B E offenbar annehmen, daß αγαν gemeint ist als Exzeß der Leiden beim Untergang einer Familie im Gegensatz zu einem maßvollen Leiden, das die Familie nicht in ihrer Existenz bedroht. Dies wäre an sich möglich, wenn auch die Beschreibung merkwürdig und allgemein bleibt, was man aber vielleicht nicht beanstanden darf. Ich halte es daher für möglich, mit B O L L A C K J U D E T D E LA C O M B E πημονάς zu halten. Dann wäre der Gedan25

Zu παμονας (Housman) s. die Kritik von

DENNISTON-PAGE

ad 1012.

Gegenstand und Art der Furcht des Chors

281

kengang folgender: „(Wenn vorsichtiges Bedenken sich eines Teils der Güter entledigt,) dann geht das Haus nicht ganz unter, übervoll von Leiden, und (der Seemann) versenkt nicht das Schiff." 1012 könnte also ein Einschub sein, der sich nur auf die Sachebene bezieht und εδυ δόμος erklärt, während 1013 wieder die Bildebene zurückruft und die Metapher, parallel zu 1011, abrundet. - Andererseits würde Schütz' Konjektur es ermöglichen, πλησμονή als Ursache des Scheiterns sowohl im Falle des Schiffes als auch des Hauses in den Versen ausgedrückt zu sehen, was im Rahmen einer Seefahrtmetapher, in der es um έκβολή geht, besonders passend wäre. Ich akzeptiere daher (ähnlich wie DENNISTON-PAGE), nicht ohne alle Bedenken, πλησμονάς. Im Mittelteil der Strophe (1005-1013) scheint also der Gedanke ausgedrückt, daß es zwar ein unsichtbares Riff, eine nicht genau absteckbare Grenze gibt, an der sich Wohlstand, der stets, ohne festes Maß und Ziel, bloß auf seine Erweiterung schaut, stößt, und damit (wie mutmaßlich in 1001-1003 ausgedrückt) in sein Gegenteil umschlägt, daß es aber - ähnlich wie bei der Seefahrt durch die έκβολή - die Möglichkeit gibt, sich auch in höchster Gefahr, kurz vor dem kritischen Augenblick, noch durch freiwilligen Verzicht vor der Katastrophe zu retten. Die Strophe schließt mit dem Hinweis, daß Verluste an Wohlstand nicht unwiederbringlich sind. Auch wenn ein solcher Verlust Mangel mit sich bringen mag, die nächste Ernte kann, wenn sie üppig ausfällt, die „Krankheit" der Hungersnot auslöschen.2® Zu diesem Gedanken steht der Anfang der folgenden Antistrophos in scharfem Gegensatz: Während der Verlust an Gütern behoben werden kann, ist das menschliche Leben unwiederbringlich: „Das

26

Es ist natürlich kein Zufall, daß Gefahr und Verlust in Seefahrtmetaphern beschrieben werden, der Ausgleich des Verlustes dagegen - als Geschenk des Zeus - in Termini des Ackerbaus. Das Mißtrauen der archaischen Dichtung gegenüber Gelderwerb durch Handel und damit Seefahrt, ist bek a n n t (Di BENEDETTO [ 1 9 7 8 ] 1 8 7 u n d 1 9 1 f.).

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Blut aber, das einmal vor einem Mann27 zu Boden gefallen ist bei seinem Tode, wer könnte es durch Beschwörung wieder heraufrufen?" Dies ist eine Tatsache, der Zeus - derselbe Zeus, der eingebüßtes Gut aufs neue schenkt (1014-1016) - dadurch Endgültigkeit verliehen hat, daß er „nicht einmal dem, der das richtige Mittel wußte, von den Toten aufzuerwecken, in schadloser Weise (ohne ihm zu schaden) Einhalt gebot." 28 Auch wenn diese Übersetzung in Einzelheiten unsicher ist, ist klar, daß hier auf Asklepios angespielt ist. Er ist es, den Zeus - auf welche Weise auch immer - davon abgebracht hat, Tote aufzuerwecken: Der Tod ist nach der von Zeus selbst garantierten Ordnung endgültig. Der Chor hat damit den Zielpunkt seiner Betrachtung erreicht und zum erstenmal klar ausgesprochen, was er für Agamemnon fürchtet. Es ist nicht die stete Bedrohung des Menschen durch Armut und Mangel, der auch und gerade der Reiche unterworfen ist, wenn er in seinem Streben nach Wohlstand kein Ziel kennt; vielmehr fürchtet der Chor Agamemnons Tod, der endgültig und durch nichts wiedergutzumachen wäre: Der Tod des Königs Agamemnon bedeutet für ihn zugleich die Katastrophe, den Untergang des Hauses (s. 1532).

FRAENKEL a. I. gibt in der Folge von Headlam πρόπαρ einen temporalen Sinn und sieht darin einen Hinweis auf die Blutschuld Agamemnons, wohl an Iphigenie oder den vor Troja Gefallenen: »It is an important point here that, in the case of lesser fault and damage, it is not the whole race which perishes, whereas, when blood-guilt has been incurred (1018), it is visited upon children and children's children« (ad 1011). Wie der Kontext zeigt, geht es aber nicht um Mord, sondern um Tod (s. BOLLACK-JUDET DE LA COMBE II 253): Während Verlust an Gut wettzumachen ist, ist der Verlust des Lebens endgültig.

27

Ich lese wie DENNISTON-PAGE (ad 1022-4) in 1024 mit Härtung άπέπαυσεν statt t αυτ' επαυσ' + und betrachte den Ausdruck έπ' αβλαβείς; (nicht das Prädikat) als durch ούδέ negiert. Diese Lösung ist jedoch wie die anderen bisher vorgeschlagenen nicht völlig befriedigend. Siehe dazu FRAENKEL ad 1022-4 und WEST, Studies, 209. WESTS Lösung κατένευσεν stellt einen klaren, glatten Text her, der genau den erwarteten Sinn ergibt; eben das läßt zweifeln.

28

Gegenstand und Art der Furcht des Chors

283

Der zweite Teil der letzten Antistrophos ist wiederum äußerst schwierig und in sehr verschiedener Weise gedeutet worden. Grund dafür sind diesmal nicht Schwierigkeiten bei der Textherstellung. Abgesehen davon, daß Triklinios in 1031 θυμαλγής τε και ουδέν έπ - vermutlich absichtlich metri gratia (s. FRAENKEL I 13 f.) - wegläßt, ist der Text überall gut überliefert und wird jetzt auch nicht mehr angefochten. Daß er so schwierig ist, liegt daran, daß der Chor, wie auch sonst gelegentlich, in so allgemein gehaltenen Worten spricht, daß man nur erraten kann, worauf er sich bezieht. Entsprechend vielfältig sind die Deutungen des Textes, vor allem der besonders schwierigen Verse 1025-1029. Die Deutungen sollen hier nicht noch einmal im einzelnen vorgeführt werden; dafür sei auf BOLLACK-JUDET DE LA COMBE II 257-264 verwiesen. Neben der von ihnen selbst vertretenen Position ist besonders die interessante Deutung THALMANNS zu berücksichtigen. Zunächst stimme ich SCOTT und THALMANN 29 zu, daß man kaum annehmen kann, der Chor bedaure in diesen Versen oder erläutere den Grund dafür, daß er Agamemnon bei seiner Ankunft nicht oder nicht klar genug vor der ihm drohenden Gefahr gewarnt habe. 3 0 Abgesehen davon, daß man in diesem Fall in 1029 statt des Imperfekts εξέχει einen Aorist erwarten müßte, stößt sich eine solche Auffassung daran, daß der Chor, wie ich gezeigt zu haben hoffe, weder den Anlaß seiner Furcht noch die Art, wie sich das von ihm Gefürchtete erfüllen könnte, in concreto erfaßt hat; εξέχει muß sich daher auf die gegenwärtige Situation beziehen. Weiterhin ist strittig, womit 1026 εκ θεών zu verbinden ist: Nimmt man an, daß der Ausdruck den Ausgangspunkt oder Urheber einer Handlung angibt, so fragt sich, welche Handlung dies sein mag. FRAENKEL {ad 1025-9) zeigt im Anschluß an AHRENS, daß es wegen der Wortstellung unmöglich ist, τεταγμένα (μοίρα)

2 9

30

SCOTT ( 1 9 6 9 ) 3 4 2 f . - THALMANN ( 1 9 8 5 ) 1 0 1 m i t Anm. 1 0 u. 11.

Etwa weil ihn seine im Vergleich zu der des Königs geringe soziale Stellung (μοίρα) daran gehindert habe (1027 είργε).

284

7. Das dritte Stasimon (975-1034)

mit έκ θεών zu verbinden, THALMANN 31 erhebt begründete Bedenken gegen die Verbindung von έκ + Gen. mit einem aktiven Verbum, das nicht einen Zustand beschreibt (hier ειργε). Sollte also έκ θεών den Ursprung angeben, so bleibt wohl nur, es mit μοίραν zu verbinden (eine „von den Göttern stammende" Moira); dann muß erklärt werden, warum in diesem Kontext die Unterscheidung zwischen einer „festgelegten Moira" und einer „von den Göttern stammenden Moira" von Bedeutung ist (s.u.). Oder aber man verbindet έκ θεών mit πλέον φέρειν und nimmt an, daß die eine Moira die andere daran hindert, „von den Göttern mehr (als das ihr Zustehende) zu erhalten" (so FRAENKEL). In beiden Fällen muß näher bestimmt werden, worauf im einzelnen der Chor sich hier bezieht. THALMANN, der έκ θεών wieder mit τεταγμένα verbinden möchte (dazu s.u.), macht den Vorschlag, in den beiden μοΐραι diejenigen der καρδία und der γλώσσα zu sehen. Eben weil es nicht in der μοίρα des Herzens liegt, sich sprachlich Ausdruck zu geben, sondern vielmehr in der der von der φρην gelenkten Zunge, ist es unmöglich, daß das Herz der Zunge zuvorkommt und „dies" ausschüttet. 1029 τάδ(ε) wäre demnach notwendigerweise unpräzis, weil die Furcht, von der der Chor eingenommen ist, von ihm selbst eben nicht klar erfaßt, sondern nur unpräzis erfühlt wird. Diese Deutung hat den Vorteil, daß sie in dem schwierigen Satz 1025-1029 eine klare sachliche Beziehung zwischen Protasis und Apodosis herstellt und zudem der in unserer Passage auffälligen klaren Unterscheidung zwischen verschiedenen Seelenvermögen eine präzise Bedeutung geben kann. - Darüber dürfen jedoch die Schwierigkeiten nicht übersehen werden. Daß zwar, wie THALMANN selbst schreibt, die Anwendung des Begriffs μοίρα auf innere Organe oder Seelenvermögen sonst nicht belegt scheint, wird man bei Aischylos' (und besonders dieses Chors) Vorliebe für außergewöhnliche Formulierungen nicht gegen die Deutung einwenden können. Doch daß der Chor in diesem Zusammenhang 31

(1985) 103 mit Anm. 18.

285

Gegenstand und Art der Furcht des Chors

einen Begriff wie μοίρα nicht auf die von ihm gesehenen oder befürchteten Ereignisse, sondern auf sein eigenes Innenleben beziehen sollte, muß zum mindesten überraschen. Entscheidend sind mir aber zwei Punkte: 1. τεταγμένος heißt festgesetzt', ,vorherbestimmt'; üblicherweise32 (s. LSJ 5. ν. τάσσω, III 5 und ITALIE, Index s.v.) bezeichnet τεταγμένος eine Ordnung oder Anordnung, die in Hinblick auf ein bestimmtes Ereignis oder auf immer wiederkehrende einzelne Ereignisse getroffen wird, nicht eine allgemein gültige natürliche Ordnung. 2. THALMANN favorisiert die von FRAENKEL im Gefolge von AHRENS bekämpfte Konstruktion,33 die εκ θεών mit τεταγμένα μοίρα verbindet; zugleich bezieht er τεταγμένα εκ θεών sachlich auf beide μοΐραι. Die Wortstellung sucht er durch die Annahme zu rechtfertigen, Aischylos habe das Aufeinandertreffen μοίρα μοΐραν gesucht. Letzteres ist zwar durchaus wahrscheinlich, doch scheint mir anders als THALMANN - dennoch AHRENS' Verweis auf die Wortstellung zwingend, die, zumal für einen Hörer, dann die Syntax geradezu verdunkeln würde, εκ θεών müßte zumindest vor τεταγμένα μοίρα μοΐραν stehen; dann könnte den Zuhörer sein Eindruck auch dazu führen, εχ θεών τεταγμένα sachlich auf beide μοΐραι zu beziehen. Wenn die Verbindung von εκ θεών mit τεταγμένα μοίρα auch m. E. ausscheidet, so ist zwar deshalb THALMANNS Deutung der beiden μοΐραι im Kern noch nicht hinfällig: Man kann stattdessen εκ θεών mit πλέον φέρειν verbinden, wie THALMANN selbst für den Fall, daß AHRENS und FRAENKEL hier recht behalten sollten, erwägt. 34 Dann aber erweist sich der Zusatz εκ θεών im Rahmen seiner Deutung als wenig prägnant, ja störend: Vielleicht wären die Götter tatsächlich »the agents who would naturally administer such a distribution if it were possible«3S. Indessen würde es nichts zum Gedanken bei32

Von dem militärischen Gebrauch, der hier nicht in Frage kommt, sehe ich ab.

3 3

THALMANN

(1985) 103 -

34

(1985) 103 f.

3 5

THALMANN ( 1 9 8 5 ) 1 0 4

FRAENKEL

II 463 f. -

AHRENS

(1860) 606 f.

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7. Das dritte Stasimon (975-1034)

tragen, sie an dieser Stelle einzuführen. Das allein schließt THALMANNs Lösung noch nicht aus. Es scheint aber sinnvoll, nach einer Lösung zu suchen, die dem Ausdruck έκ θεών einen präziseren Sinn geben kann. Ich möchte bei meinem Versuch, dem umstrittenen Satz einen Sinn zu geben, εκ θεών ausschließlich mit μοίρας verbinden 36 (was die Wortsellung nahelegt) und für die Deutung von dem unmittelbaren Kontext ausgehen. In 1030 ff. hören wir, daß, da der zuvor angesprochene Sachverhalt nicht zutrifft (1030 vöv δ'), das Herz „im Dunkeln braust voller Schmerz und gar nicht hoffend, einmal etwas Passendes zum Erfolg zu führen, da die φρήν in Flammen steht." Daraus darf man schließen, daß das Gegenteil der Fall wäre, wenn der in der Protasis des umstrittenen Satzes angedeutete Sachverhalt zuträfe. - Andererseits stehen vor dem Satz die Betrachtung des Chors über das Zuviel an Wohlstand, der in sein Gegenteil umschlägt, wenn nicht in letzter Minute kluger Verzicht die Katastrophe noch verhindert, und seine Ausführungen über die Endgültigkeit des Todes (im Gegensatz zum Verlust materieller Güter). Die Bedeutung dieser Betrachtungen für Agamemnons Schicksal, wie es der Chor augenblicklich sieht, und für unsere Passage sind noch nicht hinreichend deutlich geworden: Die zweite Antistrophos hatte aufgezeigt, wie auch in letzter Minute eine bedrohliche Gefahr durch Verzicht noch abgewandt werden kann. Der durch den Verzicht entstehende Mangel kann wieder ausgeglichen werden. Doch diese Betrachtung kann den Chor nicht beruhigen: Sie läßt sich auf Agamemnon nicht anwenden. Das, was für den König wirklich zu fürchten ist, ist endgültig, unumkehrbar: der Tod. Es scheint mir nahezuliegen, daß mit der μοίρα τεταγμένα der Tod gemeint ist, und zwar nicht der Tod als allen Menschen gesetzte Begrenzung, sondern Agamemnons Tod, der gewaltsame Tod dessen, der das Blut von 30

Diese Möglichkeit schiebt THALMANN (1985) 103 mit dem Hinweis beiseite, daß die dadurch eingeführte Unterscheidung zweier μοΐραι fragwürdig wäre. Eine solche hat zwar in seiner Deutung keinen Platz, scheint mir hier aber durchaus intendiert zu sein, s. das Folgende.

Gegenstand und Art der Furcht des Chors

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Verwandten vergossen hat, der Tod des parricida Agamemnon. Dies ist die μοίρα („established destiny"), die Agamemnon nach dem Gesetz des Zeus bevorsteht, seit er in Aulis Iphigenie geschlachtet hat, die der Chor aus den genannten Gründen (s. o. S. 270-273) aber erst jetzt klar ins Auge faßt. Dieser μοίρα steht nun eine andere entgegen, die die Götter (1026 έκ θεών) ganz offensichtlich Agamemnon beschieden haben: Er hat - trotz seiner Blutschuld in Aulis - nicht nur Troja zerstört, sondern ist auch sicher nach Hause zurückgekehrt, obwohl ein von den Göttern gesandter Seesturm (649) Agamemnons Flotte bedrohte und zerstreute, zum Teil sicher vernichtete. Agamemnon selbst aber ist, von den Göttern selbst errettet (so sieht es wenigstens der Bote, s. 661-663), glücklich nach Hause gelangt. Darauf hatte der Chor selbst im dritten Stasimon angespielt (988f.): Die glückliche Rückkehr des Königs erscheint als einer der Gründe, die den Chor dazu veranlassen könnten, seine Furcht abzulegen, wenngleich er in Wahrheit dennoch (990 δμως) nicht zur Ruhe kommt. Später noch (in der anapästischen Partie nach der KassandraSzene, 1331-1342) wird der Chor den Erfolg des Feldzuges und die glückliche Heimkehr als Grund dafür anführen, daß der von Kassandra vorausgesagte Tod des Königs ihm unglaublich ist (1335-1337: και τώδε πόλιν μεν έλεΐν εδοσαν | μάκαρες Πριάμου, I θεοτίμητος δ' ο'ίκαδ' ίκάνει). Es scheint mir daher denkbar, daß der Chor hier im dritten Stasimon mit μοΐραν έκ θεών die Agamemnon von den Göttern zugewiesene μοίρα meint, den Feldzug erfolgreich durchzuführen und heil nach Hause zu kommen: Wenn nicht die jedem parricida und damit auch Agamemnon bestimmte μοίρα, einen gewaltsamen, unnatürlichen Tod zu finden, die ihm von den Göttern beschiedene μοίρα daran hinderte, die Oberhand zu gewinnen, dann würde das Herz dies ausschütten, ohne auf die γλώσσα zu warten - so sehr würde den Chor dieser Gedanke freudig bewegen. Aber dies widerspricht allen Prinzipien des Chors, die er in seinen bisherigen Betrachtungen zugrundegelegt hat. Daher verzehrt sich das Herz in seinem Schmerz, ohne sich zu äußern (1030 υπό σκότω), ohne Hoffnung,

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7. Das dritte Stasimon (975-1034)

zu einem Ergebnis zu kommen, das καίριον ist, also zum gegenwärtigen Stand der Dinge, der keine Gefahr konkret ersichtlich werden läßt, paßt. Ist dies richtig, so weisen die Worte des Chors auf seinen mehrfachen Wunsch in der Parodos zurück, das Gute möge (bei allem Schlechten) siegen. Ein ähnlicher „Wunsch" scheint mir auch hinter dem schwierigen Satz 1025-1029 zu stehen; jetzt allerdings erscheint er als unerfüllbar, da die Voraussetzung für seine Erfüllung irreal ist. Nachdem der Chor noch einmal versucht hat, die Möglichkeit eines glücklichen Ausgangs festzuhalten (998-1000, 1001-1017), hat er erkennen müssen, daß das für Agamemnon zu erwartende Übel nicht von der Art ist, daß es im Nachhinein wieder zu beseitigen wäre (1018-1024), und daß es auch keine Grundlage für die Hoffnung gibt, es möge nicht eintreten (1025-1029). Der Chor ist damit am Ende des dritten Stasimons an einem Punkt angelangt, wo seine Betrachtungen zu keinem angemessenen Ergebnis mehr führen. Da er einerseits keine Handhabe hat, sich zu beruhigen, daß der Agamemnon drohende Tod nicht eintreten werde (998-1000), andererseits ihm aber auch nichts auf eine Agamemnon unmittelbar bevorstehende Gefahr deutet (984-989), bleibt ihm nur die schmerzliche Gewißheit, daß Agamemnons Tod unausweichlich ist; diese bleibt aber folgenlos, muß folgenlos bleiben, da der Chor sich keine konkreten Umstände denken kann, die jetzt noch zu seinem Tode führen sollten. Daran wird sich auch in der folgenden Kassandra-Szene nichts ändern.

8.

Die Kassandra-Szene im »Agamemnon' die Ermordung Agamemnons und Kassandras

8.1. Einleitung und Amoibaion Die Kassandra-Szene in Aischylos' Agamemnon' hat in der Forschung große Beachtung gefunden. Neben der sogenannten „Teppich-Szene ist sie einer der Höhepunkte des Agamemnon'. Hier erhält der Zuschauer wichtige Informationen, die über die Szene und über die Tragödie hinaus einerseits weit zurück in die Vergangenheit des Atridenhauses, andererseits aber auch in die Zukunft bis zur Rache Orests an Agamemnons Mördern reichen. Hier wird zum erstenmal das Thyestesmahl erwähnt,1 dem oft eine so große Bedeutung für das Schicksal Agamemnons beigemessen wird. Im Tode Agamemnons hat diese Szene ihren Höhepunkt. Mit ihm ist aber zugleich das Schicksal der Königstochter und jetzigen Sklavin Kassandra in kunstvoller Weise verwoben. Darüber hinaus gibt die Szene wichtige Aufschlüsse über die Charakterisierung des Chores, der hier in seiner ganzen aufrichtigen Menschlichkeit, aber auch seiner spezifischen persönlichen Begrenztheit erscheint. Wie auch andernorts deutet der Chor das Geschehen und versucht zu erkennen, was in der Zukunft zu erwarten steht. Im Unterschied zur Parodos und den Stasima hat er aber hier sozusagen einen Experten zur Hand, der ihn sofort oder doch wenig später korrigiert. Auch können wir hier als Zuschauer oder Leser die Gültigkeit dessen, was der Chor meint, vermutet oder zu erkennen glaubt, am gleich darauf folgenden Geschehen ebenso wie an den Worten der Seherin Kassandra überprüfen. Für eine angemessene Beurteilung insbesondere des Verhaltens des Chors ist es wichtig, die Bedeutung der Kassandra von Apol1

Wie o. S. 6 0 Anm. 5 5 dargelegt, überzeugt mich FURLEYS ( 1 9 8 6 ) These nicht, in 1 4 7 - 1 5 5 sei bereits (wenngleich dunkel) auf eine Erbschuld Agamemnons aus dem Thyestes-Mahl angespielt (weshalb sich 155 τεκνόποινος auf die Kinder des Thyest beziehen müsse).

290

8. Die Kassandra-Szene

Ion zugemessenen Strafe (seines „Fluchs" über sie), insbesondere die Art ihrer Wirksamkeit, richtig einzuschätzen. Schon im Jahre 1954 hat sich R . P . W I N N I N G T O N - I N G R A M 2 dagegen ausgesprochen, bei der Deutung des im Wortsinne sehr verständnislosen Betragens des Chors bei dem Fluch über Kassandra stehenzubleiben oder gar Erklärungen aus dem Charakter des Chors mit Verweis auf Kassandras Bestrafung durch Apoll schon a priori keinen Raum zu geben. In jüngerer Zeit haben P . E . E A S T E R L I N G 3 und mit Berufung auf sie T.N. G A N T Z (1983) erneut mit guten Gründen davor gewarnt, sich mit einem Fluch als „Ursache" für das Handeln bestimmter Charaktere zufriedenzugeben, und »the difference between causes and curses«4 schärfer als zuvor geschehen herausgestellt. So schreibt etwa E A S T E R L I N G : Of course a divine explanation of human behaviour came as natural to Aeschylus as to Homer or Herodotus. But what we must remember is that such an explanation is a diagnosis of something actually observed in human behaviour, and not a piece of mumbo-jumbo independent of observed phenomena. und To say 'he behaves in this extraordinary way because a daemon is at work in him' and assume that one has explained the oddity seems to me like saying Ί have broken my leg because I have fractured my femur', pretending that two ways of saying the same thing stand in a causal relation to one another. It has often been pointed out that in Aeschylus, as in Homer, the two levels of causation, the supernatural and the human, are co-existent and simultaneous, two ways of

2

(1954) 27: »As Professor Gilbert Murray has pointed out, we see 'the curse of disbelief working on the elders, without their knowledge. At first, they do not understand; when forced to understand they do not believe, and quickly forget.' This is well said; yet, in disbelieving things which are so unwelcome, they are merely acting in a character already established.«

3

(1973). Die Formulierung bei GANTZ (1983) 71 Anm. 19.

4

8.1. Einleitung und Amoibaion

(1035-1177)

291

describing the same event. I see no reason to depart from this principle here.5 Vielleicht kann man noch einen Schritt weiter gehen: Die beiden Ebenen der sogenannten „doppelten Motivation" bestehen - wenigstens bei Aischylos - nicht nur zugleich und nebeneinander, ohne sich zu stören oder gar gegenseitig auszuschließen, sondern sind vielmehr voneinander abhängig und werden auseinander verständlich. Gerade die Kassandra-Szene scheint mir dafür einen wichtigen Anhalt zu geben: Wenn WINNINGTON-INGRAM und EASTERLING mit ihrer Auffassung Recht haben (wovon ich überzeugt bin), daß das Unverständnis des Chors in der KassandraSzene - um nur ein Beispiel zu nennen - zwar mit allem Recht als Strafe Apolls gedeutet werden, zugleich aber als Folge bestimmter charakterlicher Dispositionen des Chors erwiesen werden kann, so liegt es nahe, daß Aischylos nicht etwa damit zufrieden war, in seinen Zuschauern den Schauder über die so offensichtlich im Chor wirkende Strafe Apolls an Kassandra zu erwecken, sondern darüber hinaus ihnen verdeutlichen wollte, auf welche Weise sich eine göttliche Bestrafung vollziehen kann. Die Strafe Kassandras besteht, wie mir scheint, nicht darin, daß Apollon in den Hörern seiner Prophetin mit göttlicher Vollmacht in für Menschen grundsätzlich unzugänglicher und undurchschaubarer Weise ein Unverständnis erzeugt, vor dem uns Sterblichen nur der Schauder vor der furchtbaren Gewalt der Gottheit bleibt, sondern darin, daß Apollon die trojanische Königstochter stets an solche Menschen geraten läßt, die in der jeweiligen Situation aus auch menschlich verständlichen Gründen nicht bereit oder in der Lage sind, sie zu verstehen oder ihr zu glauben. Nachdem der Chor das von Angst und Besorgnis getragene dritte Stasimon gesungen hat, fordert Klytaimestra Kassandra auf, nach dem König nun endlich6 auch selbst in den Palast einzutreten. S

EASTERLING ( 1 9 7 3 ) 5 f . b z w . 6 .

β

Dies ist wohl der Sinn von 1035 και; die in εΐσω κομίζου vermutlich liegende Barschheit (so FRAENKEL a. 1.: »perhaps not veiy polite«) scheint mir vor allem eine Folge der verständlichen Ungeduld Klytaimestras zu sein.

292

8. Die Kassandra-Szene

Auch wenn die leicht nachvollziehbare Ungeduld Klytaimestras eine vielleicht etwas unhöfliche Note in ihre Worte legt, wird man nicht sagen können, daß sie sich geradezu grob gegen Kassandr a verhält: Man darf nicht vergessen, daß diese keine Prinzessin mehr, sondern eine Sklavin ist; Klytaimestra behandelt sie hier - wenn man den Stand beider bedenkt - korrekt. Freilich läßt sie sie ihren Stand spüren: Kassandra ist, in einem reichen Hause, nur eine unter vielen, kann keine herausragende Stellung mehr beanspruchen. Dieser Aspekt ist in den ersten Versen der Rede Klytaimestras an Kassandra stark betont und ins Positive gewendet (1035-1038): Zeus habe sie, ohne besondere Härte (1036 άμηνίτως) einem Hause zugewiesen, in dem sie - als eine Sklavin unter vielen - an dem Geschehen des Hauses, am Kult teilnehmen werde (1037 f. πολλών μέτα | δούλων). Klytaimestra stellt Kassandra, wie seit langem bekannt, damit nicht etwa etwas Besonderes in Aussicht, sondern etwas, was in Griechenland allgemein üblich war: Die Sklaven nehmen, anders als am Kult der Staatsgötter, am Hauskult teil. 7 Es scheint mir, daß Klytaimestra der neuen Sklavin geradezu das Gefühl ihrer relativen Bedeutungslosigkeit geben will: Sie ist eine Sklavin wie die anderen auch, niemand, von dem man besonderes Aufheben machen müßte. Diese Implikationen der Rede Klytaimestras widersprechen nicht nur ihrer wahren Einschätzung der Sachlage - Klytaimestra

7

Ob hier spezifisch an Ζευς κτησιος gedacht ist oder nicht, ist für unsere Zwecke ohne Belang; klar ist jedenfalls, daß es sich um einen Hauskult handelt.

8.1. Einleitung und Amoibaion

(1035-1177)

293

glaubt, Kassandra sei Agamemnons Konkubine8 (1438 ff.), und dies ist der Grund, aus dem sie auch Kassandra zu töten sich entscheidet (1263 έμης αρωγής, 1446 f. έμοί δ' έ π ή γ α γ ε ν | t εύνης t παροψώνημα της εμης χλιδής) - , sondern sie widersprechen auch dem Augenschein: Kassandra zieht, ungewöhnlich fiir eine Beutefrau, auf einem Wagen nach Argos ein, wenn auch nicht ganz sicher ist, ob es derselbe ist, auf dem auch Agamemnon saß. Sie hat damit sichtbar eine Position, die aus der der übrigen Sklaven, die Agamemnon als siegreicher Oberfeldherr gewiß mit sich führt und die vielleicht sogar als Statisten auf der Bühne stehen, herausgehoben ist. Mehr noch: Agamemnon hat sie auch durch seine Worte gegenüber den übrigen Sklaven ausgezeichnet, indem er sie der guten Behandlung durch Klytaimestra besonders empfohlen hat. Indem Klytaimestra sie - trügerisch auf dieselbe Stufe wie alle anderen Sklaven des Hauses stellt, erkennt sie ihr eine Stellung ab, die Agamemnon ihr zugewiesen hat. Zugleich verbirgt sie damit, wie sehr Kassandra sie interessiert. 1039 illustriert sehr schön Klytaimestras Tendenz, Kassandra zu „degradieren" und stellt zugleich einen Anklang an und einen Kontrast zu 906 dar: In 1039 heißt es: εκβαιν' απήνης τησδε, μηδ' ύπερφρόνει. : in 906 f. dagegen: εκβαιν' απήνης τησδε, jjq χαμαί τίθείς I τον σον πόδ'. ωναξ. 'Ιλίου πορβήτορα. Während also die Königin Agamemnon bei seinem Eintritt in den Palast über das übliche Maß erhöhen (wie sie suggeriert) und (wie er selbst fürchtet) zum ύπερφρονεΤν verführen will, will sie Kassandra, die auf dem Wagen eine Ehrenstellung einnimmt, die ihr nicht gebührt, und, wie Klytaimestra jedenfalls glaubt, als Kon8

Ob dies richtig ist, ist schwer zu sagen. Während derlei sonst nur Teil des traurigen Schicksals eroberter Städte war, wäre es ein schwerer Verstoß, Kassandra als Apollo-Priesterin ihrer Jungfräulichkeit zu berauben. Da nun Kassandra überall voll Achtung und Ehrfurcht von Agamemnon spricht, darf man aber wohl mit H. NEITZEL: ,,Ίστοτριβής (Aischylos, 'Agamemnon' 1443)", Glotta 62 (1984) 157-161, hier 159 eher annehmen, daß Agamemnon die Seherin, die ja fast bis zum Ende der Szene ihre Insignien trägt (vgl. 1264-1270), nicht angetastet hat Klytaimestra jedenfalls glaubt aber an ein Liebesverhältnis ihrer beiden Opfer. Vgl. u. S. 371 f. mit Anm. 25.

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8. Die Kassandra-Szene

kubine Agamemnons besonders ausgezeichnet ist, auf das ihr gebührende Maß einer gewöhnlichen Sklavin zurückführen. Bei alledem aber ist sie nicht grob und vermeidet in ihrer falschen Rede alles, was sie als gegenüber der Sklavin grausam erscheinen lassen könnte. Für den, der weiß, was sie mit Kassandra vorhat, müssen ihre tröstenden Worte mit Verweis auf das mythische Beispiel des Herakles freilich wie bitterster Spott klingen. Dasselbe gilt für ihre Versuche, Kassandra ihren Sklavenstand durch den Hinweis schmackhaft zu machen, daß sie es unter den gegebenen Umständen gut getroffen habe. Doch an sich betrachtet liegt in ihren Worten nichts Unangemessenes oder Unmenschliches. Der überlieferte Text in 1042-1046 wird seit langem aus inhaltlichen wie sprachlichen Gründen als lückenhaft verdächtigt. Eine Lücke wird von WILAMOWLTZ vor, von Thiersch, FRAENKEL (q. v. a. I.) und DENNISTON-PAGE nach Vers 1045 angenommen. W E S T 9 setzt die Lücke dagegen zwischen δούλο ις und πάντα an. - Zur Bedeutung von παρά στάθμην an unserer Stelle (.übergenau', .akkurat1, .knauserig') s. FRAENKEL ad 1045. Daß der prädikative Gebrauch (d.h. hier als Prädikatsnomen) des Ausdrucks unmöglich sei, wurde zwar wiederholt behauptet, aber nie hinreichend begründet (THOMSON, FRAENKEL, DENNISTON-PAGE a. I). Vergleichbar S. El. 521 f. ώς θρασεΐα και πέρα δίκης (- άδικος) | άρχω. 10 Akzeptiert man einen prädikativen Gebrauch von παρά στάθμην, so gilt das von GROENEBOOM Ca. I.) Gesagte: »Onnoodig is het na vs. 1044 een hiaat aan te nemen; veeleer is vs. 1045 ώμοί τε - παρά στάθμην de nazin, wáarin gezegd wordt, dat die νεόπλουτοι „weed zijn voor hun slaven in alles en naar het richtsnoer", d. w. z. precies, kr enterig«.11 Ist das nicht akzeptabel, so ist Verralls Änderung παράσταθμοι die gegenüber der An9

Studies 209 f. Als von THOMSON (wohl in der mir unzugänglichen Erstausgabe 1 9 3 8 ) zitiert angeführt von DENNISTON-PAGE α. I., die die Parallele aber als »essentially different« verwerfen. 11 »Unnötig ist es, nach v. 1044 eine Lücke anzunehmen; vielmehr ist v. 1045 ώμοί τε - παρά στάθμην der Nachsatz, in dem gesagt wird, daß die νεόπλουτοι „zu ihren Sklaven in allem grausam sind und nach der Richtschnur", d. h. akkurat, knauserig.« 10

8.1. Einleitung und Amotbaion (1035-1177)

295

nähme einer Lücke bei weitem einfachere und daher wahrscheinlichere Lösung; außerdem ist die Variante in F παραστάθμων ein Hinweis darauf, daß in der Überlieferung an dieser Stelle etwas nicht in Ordnung sein könnte. - Inhaltlich ergeben sich (ohne Annahme einer Lücke) nur dann Probleme, wenn man in 1046 έχεις παρ' ημών οΤάπερ νομίζεται den Gedanken »From us, therefore, you are getting the best you can expect in your situation« 12 sucht. Dann vermißt man eine nähere Erklärung, was denn Kassandra in Argos zu erwarten habe, und außerdem tun sich weitere sprachliche Probleme auf: Der asyndetische Anschluß von 1046 ist dann hart (weswegen Enger zu παρ' ημών ergänzt), und statt έχεις muß man mit Auratus εξεις schreiben. All diese Probleme entstehen nicht, wenn man der naheliegenden und von FRAENKEL (II 473 f., ad 1045f.) so überzeugend begründeten Deutung Stanleys (nach Schütz' Vorgang; beide zit. bei FRAENKEL) folgt: »Habes a nobis (dicta sc.)«. 13 Das Präsens ist dann natürlich, und der asyndetische Anschluß entspricht ebenfalls dem Sprachgebrauch (s. FRAENKEL). - Ich möchte also 10421046 wie folgt verstehen: „Wenn die Notwendigkeit dieses Schicksals auf einen zukommt, so liegt große Gunst in Herren, die von alters reich sind; die aber, ohne je damit gerechnet zu haben, eine gute Ernte eingebracht haben, die sind in allem streng zu ihren Sklaven und übergenau. Du hast gehört, wie es sich üblicherweise verhält." Der gedankliche Ablauf ist damit klar und vollständig: Klytaimestra versucht Kassandra die Vorteile ihres Schicksals ex negativo schmackhaft zu machen, indem der χάρις eines Sklavendaseins bei άρχαιόπλουτοι (deren Haus - wie Klytaimestra sich einmal ausdrückt - πένεσθαι ούκ έπίσταται) die nouveaux riches gegenübergestellt werden (1044 δέ), die ihre Sklaven kurz halten, weil sie aus Gewohnheit einen Mangel verwalten, der gar nicht 13

WEST, Studies 210 o., der hier ältere Deutungen wiederaufnimmt; dagegen, für mich Uberzeugend, schon FRAENKEL ad 1045 f. 13 Allerdings möchte ich οΤάπερ νομίζεται nicht wie FKAENKEL auf Agamemnon Haus (oder die άρχαιόπλουτοι insgesamt) eingeschränkt sehen (er schreibt in seiner Übersetzung: »Thou hast heard from me what our custom is«), sondern allgemeiner verstehen: „wie es (allgemein) üblich ist". Zu νομίζεσθαι ,to be customary s. die Belege in LSJ s.v. νομίζω II »freq. in Pass.« eqs.

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8. Die Kassandra-Szene

mehr besteht, und die sich selbst dadurch erhöhen, daß sie ihre Sklaven erniedrigen. Der Chor schließt sich den Ausführungen Klytaimestras ganz und gar an. Da Kassandra nun einmal Sklavin ist (1048), sollte sie besser gehorchen, obwohl sie nicht den Anschein erweckt, dies tun zu wollen. Da Kassandra, wie wir voraussetzen müssen, auch jetzt noch nicht auf die Aufforderung reagiert und vermutlich völlig regungslos, wie zuvor, auf dem Wagen verharrt, wendet sich Klytaimestra einigermaßen ratlos an den Chor und äußert die Vermutung, Kassandra verstehe vielleicht kein Griechisch. 1052 έσω φρενών λέγουσα hat, da die älteren Deutungen sich als unhaltbar erwiesen, den Interpreten Schwierigkeiten bereitet. Zum Problem s. FRAENKEL und DENNISTON-PAGE a.l.; letztere schreiben: »It is very doubtful whether even he [sc. Aischylos] could have said έσω φρενών λέγουσα 'speaking inside someone's mind', έσω φρενών must be taken with πείθω νιν (Π. 9. 587 τοΰ θυμόν ένί στήθεσσιν έπειθον), Ί persuade her within her mind.'« Dies ist jedoch wegen der Stellung des Ausdrucks (vor λέγουσα) nicht wahrscheinlich. Auch mutet die figura etymologica λέγουσα . . . λόγω hier merkwürdig an, wenngleich DENNISTON-PAGE mit S. Ph. 55 eine Parallele anbieten können. Diese von DENNISTON-PAGE vertretene Auffassung stammt von Hermann, der übersetzt: »Dicendo ei persuadeo intus in animo«. Aber schon FRAENKEL hat diese Auffassung auch deshalb in Zweifel gezogen, weil dort, wo ein solcher oder ähnlicher Ausdruck in analoger Weise verwendet ist, stets die φρένες des Sprechers gemeint sind. Er setzt folglich έσω φρενών inter cruces. Die von DENNISTON-PAGE angeführte Homer-Stelle ist zudem insofern gar nicht vergleichbar, als hier θυμόν als Objekt zu έπειθον vorhanden ist. - GROENEBOOM a. I. wendet sich wie DENNISTON-PAGE gegen das Verständnis „sprekend zóó, dat het doordringt in haar ziel", verbindet aber selbst den fraglichen Ausdruck mit κεκτημένη („wenn sie nicht in ihrem Sinn ... besitzt") - eine offensichtliche Notlösung, auch wenn er sich auf Β 213 (δς έπεα φρεσί ησιν άκοσμα τε πολλά τε ηδη) beruft.

8.1. Einleitung und Amoibaion

(1035-1177)

297

Die Lösung für diese Schwierigkeiten scheint mir MARCOVICH gefunden zu haben, dessen Vorschlag W. KRAUS 14 wieder in Erinnerung gerufen hat: Demnach heißt έσω φρενών ,im Bereich der Vernunft' = .vernünftig'. Die Syntax ist damit klar, der Sinn wie ich meine - sehr prägnant. Der Satz würde nämlich etwa heißen: nisi Graece nescit, cum sana mente loquar, ei verbo (non vi) persuadebo. Auch der Chor bestätigt ja gleich darauf, daß Klytaimestra .vernünftig' spricht, das unter den gegebenen Umständen Beste sagt (1053 τά λώστα των παρεστώτων λέγει), λόγω wäre dann, wie ich denke, als Gegenbegriff zu βία zu verstehen (verbo - vi), was sehr passend ist, da Klytaimestra zwar im Augenblick noch die πειθώ bemüht, gegenüber einer Sklavin aber sehr wohl auch Gewalt brauchen könnte. Dies kündigt sie wenig später auch selbst an: χαλινόν δ' ουκ έπίσταται φέρειν | πριν αίματηρόν έξαφρίζεσθαι μένος (1066 f., zur Sache s. FRAENKEL a.l.). Dies ist genau die Alternative, die in 1052 vorauszusetzen wäre: Vorläufig will Klytaimestra es mit dem λόγω πείθειν versuchen. Daß εσω φρενών die skizzierte Bedeutung tragen kann, geht aus den Belegen bei MARCOVICH und KRAUS hinreichend hervor, auch wenn sie sich nur aus dem Gegenteil belegen läßt. Die nächste Parallele ist wohl die von MARCOVICH zitierte Stelle E. Heracl. 709 f. (τί χρήμα μέλλεις σών φρενών ουκ ένδον ών | λιπεΐν μ' ερημον συν τέκνοις έμοΐς;). Der Unterschied zu der Stelle in den ,Herakliden' besteht hier lediglich darin, daß einerseits das Partizip von είναι wegfallen darf, da das Partizip λέγουσα den Ausdruck εσω φρενών bereits hinreichend stützt, und andererseits kein Possessivpronomen erforderlich ist, da es sich - anders als in der ,Herakliden'-Stelle - um die φρένες der Sprecherin handelt. - Ich füge E. Hipp. 935 (εξεδροι φρενών sc. λόγοι) und E. Hipp. 390 (πεσεΐν φρενών) hinzu, die mir deshalb noch aufschlußreich erscheinen, weil dort der Gedanke ,in den φρένες' .bei Sinnen', .vernünftig' vorausgesetzt ist. 1 5

„On the Agamemnon, 1052", AJPh 83 (1962) 292 f. - W. KRAUS: „Drei Bemerkungen zum Text von Aischylos' Agamemnon", RhM N.F. 121 (1978) 210-217, hier 211-213.

1 4

15

M.

MARCOVICH:

Daß εξω und εσω »without any sense of motion« gebraucht werden können, belegen die in LSJ s. w. sowie bei MARCOVICH ( 1 9 6 2 ) und KRAUS ( 1 9 7 8 ) zitierten Stellen.

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8. Die Kassandra-Szene

Klytaimestra sagt also in den Versen 1050-1052: „Aber wenn sie nicht gerade nach Art einer Schwalbe16 eine unverständliche fremde Sprache hat, dann überzeuge ich sie (zweifellos) mit Worten, da ich ja vernünftig spreche." Der Chor nimmt mit seinen folgenden Worten (1053 τα λωοτα των παρεστώτων λέγει) Klytaimestras Ausdruck εσω φρενών λέγουσα auf. „Ja", will er sagen, „folge doch! Wie die Dinge jetzt stehen, ist das, was sie rät, das Beste". Er schließt sich also der Königin darin an, der neuangekommenen Sklavin mit vernünftigen Worten gut zuzureden. Dies bleibt allerdings ohne Wirkung. Wie wir aus Klytaimestras Worten schließen dürfen (1060 f.), sagt Kassandra nicht nur kein Wort, sondern bleibt auch - wie die ganze Zeit über - regungslos auf dem Wagen sitzen. Sie nimmt von ihrer Umwelt keinerlei Notiz. Zu diesem Zeitpunkt verliert Klytaimestra den Rest an Geduld, der ihr noch geblieben ist. Im Hause gibt es für sie einiges zu tun, die „Schafe" stehen schon zum Opfer bereit, 17 sie kann nicht länger vor der Tür des Palastes verweilen. Eine letzte Aufforderung richtet sie an Kassandra, ihr entweder zu folgen, wenn sie sie versteht, oder wenigstens ihr Unverständnis durch eine Gebärde deutlich zu machen. 18 Der Chor deutet die völlige Reaktionslosigkeit Kassandras - wie zuvor Klytaimestra - als mangelnde Sprachkompetenz Kassandras. Aber er spürt, daß das seltsame Verhalten der Sklavin so noch nicht hinreichend erklärt ist. Daher beläßt er es nicht bei seiner Anregung, einen Dolmetscher zu bestellen, sondern spricht Kassandra zugleich Schüch10

Zu χελιδονίζειν und verwandten Begriffen für Sprecher fremder Sprachen

s . FRAENKEL A. I. 17

Zu den Schwierigkeiten im einzelnen, s. FRAENKEL A. I. Daß man dieser Art zu reden nicht den Vorwurf der Inkonsequenz machen darf, hat FRAENKEL a. I. hinreichend gezeigt; zudem ist sie der Situation gemäß: Redet man auf jemanden in einer Sprache ein, die er nicht versteht, so antwortet er entweder in der eigenen Sprache, oder aber er ,sagt' (φράζει) durch Gebärden, daß er nicht versteht Kassandra tut offenbar nichts dergleichen, und das ist es, was Klytaimestra so sehr irritiert.

8.1. Einleitung und Amoibaion

(1035-1177)

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ternheit zu: Ihr Verhalten (τρόπος) gleicht dem eines „gerade gefangenen Wildtiers", das sich noch nicht an den Menschen gewöhnt hat und ängstlich sich verkriecht, ohne vom Zureden seines neuen Herrn Notiz zu nehmen. Klytaimestra indessen ist weniger verständnisvoll: Sie nimmt das Wort νεαίρετος auf, das der Chor eben von Kassandra gebraucht hatte, und verwendet es nun für Troja. „Sie ist von Sinnen (η μαίνεται)", sagt sie, „und hört auf schlechte φρένες, ist sie doch gerade erst aus einer frisch eingenommenen Stadt gekommen (λιπουσα ... πόλιν νεαίρετον), und weiß das Gebiß nicht zu tragen, ehe sie blutigen Atem ausschäumt" (1064-1067). Anders als der Chor, der Kassandra voller Verständnis für ihre (vermeintliche) Hilflosigkeit behandelt, wendet sich Klytaimestra, zornig über diese Kassandra, die noch immer keinerlei Reaktion zeigt, ab, nimmt in ihren Worten aber insofern auf den Chor Bezug, als sie dessen Bild von einem schüchternen, gerade gefangenen Wildtier in das eines stolzen Pferdes verkehrt, das sich nicht an den Zügel gewöhnen will. Nach den folgenden Worten des Chors, der die Seherin noch einmal freundlich auffordert, sich in ihr Schicksal zu ergeben, bricht Kassandra in Schreie aus, die sie als von Gesichten Besessene, als μάντις μαίνουσα, zeigen. Die Szene ist oft behandelt worden, und ihr Aufbau und ihre kultischen Implikationen, an denen sie reich ist, sind in der Forschung weitgehend klargelegt worden. Dagegen ist nach wie vor umstritten, wie bestimmte wichtige Fragen - etwa die Bedeutung der Erbschuld bzw. des Fluchs über die Atriden, Kassandras Verfehlung gegenüber Apollon oder auch das Problem des Verhaltens des Chors in dieser Szene - mit Blick auf die gesamte Tragödie zu beurteilen sind. Wir wollen diesen Fragen in der folgenden Besprechung der Szene nachgehen und unser Augenmerk vor allem auf das Verhalten des Chors in dieser Szene richten.

300

8. Die Kassandra-Szene

Es ist oft bemerkt worden,19 welchen Eindruck es auf die Zuschauer gemacht haben muß, daß Kassandra geraume Zeit (es sind 300 Verse seitdem gesprochen worden, und ein Chorlied das dritte Stasimon - liegt dazwischen) auf der Bühne sichtbar war (und zwar in herausgehobener Position auf einem Wagen), ohne ein Wort zu sagen, ehe sie plötzlich in laute ekstatische Schreie ausbricht, die sie als Seherin ausweisen. Die dadurch erzeugte Spannung wird natürlich durch die vorausgehenden vergeblichen Bemühungen Klytaimestras und der Alten, sie zum Reden oder wenigstens zu irgendeiner Reaktion zu bewegen, noch gesteigert. Die lyrische Partie (1072-1177) beginnt mit Kassandras Anrufen an Apollo, die mit Klagerufen über ihr eigenes Schicksal verbunden sind. Der Chor wundert sich über die (an sich unpassende, s. 20 F R A E N K E L ad 1075) Verbindung des Namens ,Apollon" mit Klage- und Wehrufen. Denn er weiß zwar, daß Kassandra Seherin ist (1084 μένει το θείον δουλία περ έν φρενί, vgl. auch 1098f. 21 ), aber nicht, in welch spezifischer Weise die Seherin mit dem Gott verbunden ist. Daher muß ihm auch zunächst der Sinn des Wortspiels 'Απόλλων - άπ-όλλων (1080 f. = 1085 f.) verborgen bleiben. Er kann daraus nur schließen, daß Kassandra 19

Ich verweise hier nur auf B.M.W. KNOX: „Aeschylus and the third actor", AJPh 93 (1972) 104-124 (=Word and action 39-55). Er zeigt, einen wie ungewöhnlichen Gebrauch Aischylos hier von dem dritten sprechenden Schauspieler macht: Zwar reden in keiner Szene mehr als zwei Schauspieler, doch muß man drei sprechende Schauspieler annehmen, da Kassandra vermutlich seit 783, spätestens aber seit 950 f. auf der Bühne ist (wo Agamemnon sie mit 951 τηνδε gegenüber Klytaimestra als anwesend erwähnt), ohne daß sie zwischendurch hätte die Bühne verlassen und (nach dem Abgang Agamemnons und Klytaimestras) wieder betreten können. 20 Zum Gebrauch von 1079 προσηκοντ' s. A . DEBRUNNER: „Verschobener Partizipialgebrauch im Griechischen (Der Typus «café chantant» im Griechischen)", MH 1 (1944) 31-46, bes. 38 f. 21 In 1098 ist wohl και μην für das überlieferte η μην zu schreiben, s. W E S T , Studies 210. Vielleicht läßt sich der Text in der Form f\ μην aber auch halten, obwohl eine solche Einleitung sehr stark ist; s. DENNISTON-PAGE ad 1098 f.

8.1. Einleitung und Amoibaion (1035-1177)

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über ihr Unglück weissagen will, in die Sklaverei geraten zu sein. Kassandra beschränkt sich dann aber nicht darauf, über ihr eigenes Schicksal zu reden, sondern geht zu den schrecklichen Geschehnissen im Atridenhause über. Schon dieser Teil weist sie als kundige Seherin aus und ist dazu bestimmt, ihre Glaubwürdigkeit bei ihrem Gegenüber zu begründen. 22 Ihre Visionen über die Schrecken des Atridenhauses, die ihr offensichtlich bereits vor Augen stehen, leitet sie mit der Frage ά ποΐ ποτ' ηγαγές με; προς ποίαν στέγην; (1087) ein. Die Antwort des Chors darauf (1088 f.) ist zwar höchst einfältig, 2 3 zumal er Kassandra unmittelbar zuvor schon als Seherin angesprochen hat (1083 f.), doch von seiner Seite durchaus verständlich: Der Chor hat immer noch das arme, hilflose Geschöpf vor Augen, als das ihm Kassandra in

23

Was FRAENKEL ad 1185 über den ersten Teil der gesprochenen Rede Kassandras sagt, gilt - wenn auch in geringerem Maße - schon für den ersten Teil der lyrischen Partie: Obschon sie hier ganz von Visionen eingenommen ist, findet sie doch, solange diese die Vergangenheit betreffen, noch Zeit, sich dem Chor wenigstens in aller Kürze zuzuwenden, ihn zu korrigieren (1090 μεν οδν) und ihm kurze Erklärungen zu geben (1095 ff.). Siehe auch DENNISTON-PAGE 165 (unter [1] und [2]). Sie versieht damit, in demselben Augenblick, in dem sie von ihren Visionen singt, ihre Äußerungen mit Hinweisen, die dem Chor ihr Wissen deutlich machen (1090) und ihn auf die Quelle ihres Wissens verweisen (1095 ff.) sollen. Erst da, wo sie die unmittelbare Zukunft sieht (von 1100 an) nimmt sie von ihrer Umgebung keine Notiz mehr, bis sie den Chor 1146 wegen dessen Vergleichs ihrer selbst mit Aëdon zurechtweist - aber zu diesem Zeitpunkt ist sie schon nicht mehr in Visionen gefangen, sondern stellt Betrachtungen über ihr nahes Schicksal an und steht kurz davor, dem Chor in gesetzter Rede ihre Gesichte zu erläutern. 23 Es sei denn, man teilt die Ansicht A. SÜSSKANDS: „Die Rolle der Kassandra im Agamemnon des Aischylos", Wochenschrift für Klassische Philologie 35 (1918) 568-573. 594-598, hier 572, bei 1088 ff. προς την 'Ατρειδών κτλ. handle es sich um eine »spöttische Abfertigung«, durch die der Chor Kassandras Aufmerksamkeit auf sich lenken wolle. Diese Möglichkeit wäre an sich bedenkenswert, doch widerspricht ein derartiger ironischer Spott nicht nur dem ήθος des Chors überhaupt völlig, sondern auch der Einstellung, die er durchgängig gegenüber Kassandra an den Tag legt (1069, 1162 ff. et passim).

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8. Die Kassandra-Szene

der Einleitungsszene während Klytaimestras Gegenwart erschienen war. Zunächst ist der Chor durchaus in der Lage, Kassandra zu verstehen, wie gleich darauf die Verse 1090-1094 zeigen. Kassandra deutet dort nur mit wenigen Worten auf das Geschehen im Atridenhaus hin. Dies vermag der Chor ohne weiteres zu verstehen und bestätigt ausdrücklich, daß Kassandra auf der richtigen Fährte ist (1093f.). Ebenso gibt er eine indirekte Bestätigung ab, als die Seherin kurz darauf (1095-1097) konkretisiert, was sie mit ihren Worten gemeint hat, und zum erstenmal klar von der Cena Thyestea spricht. Allerdings mischt sich hier bereits ein deutliches Unbehagen in die Worte des Chors; er gibt Kassandra zu verstehen, daß Sehersprüche gegenwärtig keineswegs erwünscht sind (1098 f.). Als Kassandra darauf von der Vision spricht, die ihr vor Augen steht (1100-1104), weiß der Chor nichts damit anzufangen (1105). Dies ist auch nicht weiter verwunderlich; denn das, wovon Kassandra zuvor gesprochen hatte, war ihm nicht nur wie allen Argivern (1106 εκείνα δ' εγνων πάσα γαρ πόλις βοά) bekannt, sondern auch der Kontext und der Gegenstand dessen, wovon Kassandra sprach, war schon genannt. Nachdem durch Kassandras Korrektur (1090 μισόθεσν μέν οΰν, . . . ) klar geworden ist, daß sie nicht, wie der Chor zunächst vermutet hatte, nur über ihr eigenes Schicksal reden will, sondern über die Eigenart2"4 eben des Hauses, in das sie Apollon geführt hat, muß dem Chor klar sein, was mit den Bluttaten gemeint ist, deren das Haus Mitwisser und Zeuge (1090 συνίστορα) ist. Daß der Chor aber Kassandras Andeutungen in 1100-1104 zunächst nicht versteht, ist leicht nachzuvollziehen. Die Worte Kassandras in den lyrischen Partien dieser Szene sind sehr erregte Reaktionen der Seherin auf das, was sie unmittelbar vor Au24

ποίος (in 1087 προς ποίαν στέγην) hatte Klytaimestra natürlich von Anfang an in eigentlichem Sinne gemeint, nicht, wie der Chor versteht, in jenem umgangssprachlichen, der ποίος in die Nähe von τις rückt

8.1. Einleitung und Amoibaion

(1035-1177)

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gen hat. Kassandra ist weder ein Seher nach Art eines Kalchas oder Teiresias, der aufgrund seiner (μαντική) τέχνη Zeichen deuten kann, die jedermann sehen kann, noch ein bloß passives „Medium" (als das wir uns vielleicht die Pythia vorstellen dürfen), durch das ein Gott ohne ihr Zutun spräche. - Kassandra sieht vielmehr nach Ausweis des Textes aufgrund einer Form von Besessenheit (insofern ist sie ενθεος) Vergangenes und Zukünftiges, räumlich Nahes und Fernes, wie andere Menschen Gegenwärtiges sehen. So ist zu erklären, daß sie, wo sie von ihren Gesichten spricht, immer wieder Demonstrativa wie 1095 τοΐσδ', 1096 τάδε, 1101.1107.1110.1114 τόδε, 1217 τούσδε, 1258 αυτη verwendet, ebenso Verba, die nur sinnvoll sind, wenn ein tatsächlich Gesehenes vorausgesetzt wird (1222 πρέπουσ' = conspicui sunt [Blomfield)]), an mehreren Stellen sogar im Imperativ, so als vermöchte der Chor zu sehen, was sie selbst sieht (1125 'ιδού ιδού, 1217 όρατε). Diese Gesichte verhalten sich in vielem analog zu real sichtbaren, zu gegenwärtigen Dingen. Zwar sind sie durchaus nicht bloße Abbildungen eines realen Geschehens, sei es künftig oder gegenwärtig. So ist eine Szene, wie die der geschlachteten Kinder, die ihr eigenes Fleisch samt ihren Eingeweiden, ών πατήρ έγεύσατο, in Händen halten (1219-1222) in der Realität natürlich nicht denkbar, sondern vielmehr bildhaftprägnanter Ausdruck eines gesamten Ereigniskomplexes in der (in diesem Falle vergangenen) Realität. Kassandra vergleicht sie mit Traumbildern, doch sind sie ihr so gegenwärtig wie der Chor, dem sie sogar die Stelle zeigt, wo er die Bilder suchen soll (1217f. όρατε τούσδε τους δόμοις έφημένους | νέους κτλ.). Es kann also nicht zweifelhaft sein, daß die Gesichte für sie eine Art Wahrnehmung sind, mag ihr auch die Gottbesessenheit, die dafür Voraussetzung ist, als δεινός πόνος (1215) erscheinen. Was sie da wahrnimmt, nimmt sie stark in Anspruch, was nicht zuletzt am Inhalt der Bilder liegen mag, doch bleibt es κατά γένος eine Wahrnehmung, in der sie etwas finden, erkennen, wiedererkennen, in der sie etwas ahnen, vor der sie erschaudern und erschrecken kann. Ja so gegenwärtig, so sehr Wahrnehmung sind

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8. Die Kassandra-Szene

ihr diese Gesichte, daß sie άπεχε της βοάς | τον ταΟρον ausrufen kann (1125 f.). obwohl sie weiß, daß zum einen der Chor nicht sieht, was sie selbst erkennen kann, und zum anderen dies Gesicht etwas zukünftig Wirkliches bietet, das sich nicht mehr abwenden läßt (1248 άλλ' οΰτι παιών τφδ' έπιστατεΐ λόγω). Der Chor ist daher gegenüber den Reaktionen Kassandras auf das, was sie, nicht aber er selbst sieht, in einer ähnlichen Lage wie der, der ein Gespräch mithört, ohne die Situation vor Augen zu haben: Er versucht, aus den Worten Kassandras das zu erschließen, was sie sieht, oder besser, das, worauf ihre Gesichte deuten. Dies fällt ihm naturgemäß bei vergangenen Geschehnissen leicht, die ihm schon bekannt sind. Deshalb erkennt er die Kette des Unheils im Atridenhaus und dann besonders das Thyestesmahl an den leisesten Andeutungen wieder, tut sich bei Agamemnons bevorstehendem Tode dagegen sehr schwer. Dennoch scheint mir, daß man dem Text nicht ganz gerecht wird, wenn man meint, 25 der Chor glaube (bzw. verstehe) nur das Vergangene, das er kenne, nicht aber das unmittelbar Bevorstehende, das er noch nicht wisse. Nicht zu leugnen zwar ist, daß er sich (ich habe die Gründe genannt) mit dem Zukünftigen schwertut. Wie wir noch sehen werden, ist der Chor aber an sich durchaus in der Lage, Kassandra auch dort zu verstehen und ihr zu glauben, wo sie von der Zukunft spricht, allerdings nicht durchgängig, sondern nur dort, wo nicht besondere, in seinem Charakter und seiner Stellung begründete Hemmnisse ihn am Verständnis hindern. In 1100-1104, um zu unserem Ausgangspunkt zurückzukehren, spricht Kassandra nur ganz unbestimmt von jemandem, der etwas plant (1100 μηδεται), und einem neuen schlimmen Leid, das dadurch im Atridenhaus (1102 έν δόμοισι τοΐσδε) bevorsteht. Kassandra ist nun so eingenommen von dem, was sie sieht, daß sie vorläufig keinerlei Notiz vom Chor nimmt. - Der Chor konstatiert als Antwort darauf vorläufig nur, daß er von dem, was Kas25

Wie etwa

GAGAKIN ( 1 9 7 6 ) 8 2 .

8.1. Einleitung und Amoibaion (1035-1177)

305

Sandra nun sagt, nichts weiß, während er das Frühere (wieder)erkannt hat (1105f.)· Der Ubergang zwischen Vergangenheit und Zukunft also, der in Kassandras Ausruf deutlich markiert ist (1101 τί τόδε νέον αχός), ist vom Chor klar erkannt: Er weiß um das eine (wie die ganze Stadt) und kennt das andere nicht. Je deutlicher man jedoch aus Kassandras Worten erschließen könnte, worüber sie spricht, um so auffälliger wird das Unverständnis des Chors: In der nächsten Äußerung der Seherin hört der Chor nun endlich von einer Frau, die ihren Ehegemahl im Bade wartet (eine im ganzen homerische Szene): τον όμοδέμνιον πόσιν I λουτροΐοι φαιδρύνασα (1108f.), doch verschweigt sie noch das τέλος, auf das die Handlung hinauslaufen soll. Nicht ganz einfach ist es, zu entscheiden, was Kassandra hier nach der Absicht des Dichters und der mutmaßlichen Wirkung auf die Zuschauer tatsächlich sehen soll. FRAENKEL (ad 1109) kommt in seiner scharfsinnigen Analyse zu dem Ergebnis, daß Kassandra, die Stück für Stück das beschreibe, was sie in ihren Gesichten erkennen könne, »sees the woman moving about as she assists with the bath, but does not yet know what her further intentions are«. Demzufolge erklärt er τόδε als Wiederaufnahme von τέλος, und πώς φράσω τέλος; soll zum Ausdruck bringen, daß Kassandra selbst zu diesem Zeitpunkt das τέλος noch nicht kennt, das die Handlung haben wird. Diese Deutung des Textes stimmt vielleicht am besten zu den folgenden Visionen, über die Kassandra spricht. Man darf jedoch nicht ganz übersehen, daß sie auch einige Schwierigkeiten aufwirft. Insbesondere scheint mir nicht wahrscheinlich, daß Kassandra »does not yet know [in 1109!] what her [Klytaimestras] further intentions are«. Für die Strophe 1100-1104 könnte das vielleicht noch stimmen. Zwar macht es ein wenig stutzig, daß Kassandra nach ihren Fragen τί ποτε μήδεται; τί τόδε νέον αχός; (1100 f.) von einem μέγα κακόν, αφερτον φίλοισιν, δυσίατον spricht (1102-1104), so als wüßte sie schon, daß es um einen Gattenmord geht; doch könnte man hier noch annehmen, daß es die Reihe der Visionen aus der „Geschichte" des Pelopidenhauses ist, die Kassandra vermuten läßt,

306

8. Die Kassandra-Szene

es handle sich um ein Verbrechen dieser Art (waren dort nicht schließlich alle Verbrechen von dieser Art?). Wahrscheinlicher kommt es mir vor, daß Kassandra bereits vermutet, daß nach dem Brudermord der Pelopiden, dem Ehebruch Thyests und der grausamen Rache des Atreus im Atridenhause nun ein Gattenmord fällig ist, und sie nur noch nicht weiß, welche Art von Planung hinter Klytaimestras Aktivitäten im Bade steht, die sie schon jetzt vor Augen hat. Spätestens nach den Worten des Chors (1105 f.) aber muß Kassandras Blick auf etwas fallen, das ihr Gewißheit über die genaueren Absichten der Königin gibt (1107 τόδε γάς> τελείς;). Nicht ganz sicher ist, was genau sie sieht (vielleicht die Mordwaffe?); klar ist jedenfalls, daß Kassandra aus dem, was sie sieht, erschlossen hat, was nun folgen wird, nämlich die Ermordung Agamemnons. So unausweichlich für sie aber dieser Schluß ist, sie sieht noch nicht, wie sich dies Geschehen abspielen wird. Kassandra kehrt daher zu den Visionen zurück, die ihr vor Augen stehen. „Sie wäscht ihren Ehemann im Bade und - πώς φράσω τέλος;" (1108 f.). Die Seherin hat zwar schon eine konkrete Vermutung, was gleich kommen wird, setzt aber die Beschreibung aus, bis es tatsächlich vor ihrem Seherauge erscheint. So ist, scheint mir, auch der Satz τάχος γαρ τόδ' εοται (1110) zu deuten: τόδ(ε) verweist hier unmittelbar auf die (erwartete) Ermordung Agamemnons und nimmt damit ebensosehr 1107 τόδε wie 1109 τέλος auf, das sachlich damit identisch ist. Mit dem Hinweis „Wie soll ich das Ende/Ziel beschreiben? Denn bald wird es sein" verzichtet Kassandra darauf, ihre Schlüsse aus dem, worauf ihr Blick gefallen ist (1107 ίώ τάλαινα, τόδε γαρ τελείς;), weiterzuverfolgen, und nimmt stattdessen die Rede von dem, was sie tatsächlich im Augenblick sieht, wieder auf (1110 προτείνει M), da das Erschlossene ja in Kürze (τά-

8.1. Einleitung und Amoibaion (1035-1177)

307

χος) vor ihrem Seherauge tatsächlich erscheinen wird. 26 In Übereinstimmung damit beschreibt sie nun wieder, was sie sieht, interpretiert es aber wie zuvor als planmäßiges Hinarbeiten auf das Ziel, das sie schon erschlossen hat (1110 f. προτείνει δέ χειρ έκ χερός όρεγομένα 27 ). Wegen der Eigenart der Äußerungen Kassandras ist es dem Chor wohl wirklich unmöglich, im einzelnen das zu verstehen, was der Zuschauer (der ein größeres Vorwissen hat) aus diesen Worten entnehmen kann. Ein aufmerksamer, unvoreingenommen mitdenkender Zuhörer wäre aber sicherlich in der Lage, schon an dieser Stelle aus den bisherigen Äußerungen Kassandras (1100-1104 und 1107-1111) zu entnehmen, daß Agamemnon von Klytaimestra Gefahr droht, wenn er die verschiedenen Elemente (μέγα κακόν, έν δόμοισι τοίσδε, τον όμοδέμνιον πόσιν λουτροισι φαιδρύνασα κτλ.) miteinander verbindet. Der Chor aber weiß vorläufig nichts damit anzufangen (άμηχανώ 1113) und schreibt sein Unverständnis der Rätselhaftigkeit von Orakelsprüchen zu. Spätestens in der folgenden Strophe aber müßte jedem Zuhörer klar sein, worum es geht. Zwar ist in 1116 f. (uns) nicht ganz deutlich, ob mit ή ξύνευνος und damit auch mit dem parallelen ή

26

Ich verstehe εσται also als Hinweis nicht so sehr auf die bevorstehende Realität, sondern auf das bevorstehende Gesicht. Dies stimmt gut zu dem Charakter von Kassandras Visionen, die ihr, wie oben (S. 303 f.) ausgeführt, so gegenwärtig sind, wie anderen Menschen das, was sie sinnlich wahrnehmen.

27

Der Text von M in 1110 f., den ich mit W E S T abdrucke, ist nicht ganz sicher, da absoluter Gebrauch von προτείνειν sonst nur in geographischen Beschreibungen belegt ist Möglich ist es, mit MPC χειρ' statt χειρ oder mit Hermann όρέγματα zu schreiben, um προτείνει ein Objekt zu geben. Im ersten Falle würde Klytaimestra, im zweiten χειρ zum Subjekt. Siehe FRAENKEL und DENNISTON-PAGE a. I. Der Sinnunterschied ist gering.

308

8. Die Kassandra-Szene

ξυναιτία φόνου Klytaimestra gemeint ist oder die πέπλοι, 28 doch ist hier zum erstenmal von φόνος die Rede (1117), in der Folge sogar von einem θϋμα λεύσιμον, was in diesem Zusammenhang nur Gattenmord bedeuten kann. Der Chor aber überhört diesen Teil der Worte Kassandras völlig. Er ist offensichtlich nicht in der Lage, konkret zu verstehen, auf was für eine Art von unmittelbar bevorstehendem Ereignis sich Kassandras Worte beziehen. Vielmehr greift er einen unbestimmteren Ausdruck vom Ende der Worte Kassandras heraus, der ihn aber allein schon - was zunächst erstaunen mag - in höchste Angst zu versetzen imstande ist. Dabei handelt es sich um den Satz: Στάσις δ' άκόρετος γένει | κατολολυξάτω θύματος λευσίμου (1117f.). Der Chor nimmt davon nur Στάσις κατολολυξάτω auf, während er θύματος λευσίμου, also gerade den Ausdruck, der sich konkret auf das zu erwartende Geschehen bezieht und 1117 φόνου wiederaufnimmt, ganz unbeachtet läßt. Er sieht in dieser Στάσις, wohl zu Recht, eine Έρινύς und wendet sich voll Unwillen und Angst gegen deren Erwähnung durch Kassandra: „Was willst du mit der Erinys da, die dem Hause ihren Gesang anstimmen soll?" (Wecklein, s. FRAENKEL ad 1119 und ad 1 1 1 8 ) . Die Angst, die den Chor ob dieser Erwähnung überkommt, tut in ihm Diese Frage ist ausführlich erörtert bei FRAENKEL ad 1116. Schwierig ist hier 1116 ή ξύνευνος, was gewöhnlich .Bettgenossin' heißt; man denkt daher zunächst an Klytaimestra. Dies ist aber aus mehreren Gründen unwahrscheinlich (s. FRAENKEL). Der wichtigste ist: »It is inconceivable that Cassandra, at the moment when she is struggling to depict the vision that is before her, should tum aside from her description of the φαινόμενον and say: 'The wife is the (or 'a') net.'« Außerdem steht Klytaimestra der Seherin schon seit geraumer Zeit (1100) als Planende und Handelnde vor Augen, also schwerlich noch an diesem Punkt so undeutlich, daß sie sie mit einem ,Netz des Hades' verwechseln kann. Es muß etwas Neues sein, das hier - zunächst undeutlich - in Erscheinung tritt Nicht so abwegig wie FRAENKEL kommt mir die Vermutung vor, daß Kassandra das »ceremonial garment« mit der Decke des Ehebetts identifizieren könnte. Zu weitergehenden Assoziationen in dieser Richtung (ceremonial garment = Decke des Ehebetts [εύνη] = Decke der Totenbahre [εΰνη]) s. jetzt R. SEAFORD: „The last bath of Agamemnon", CQ n.s. 34 (1984) 247-254, hier 250 f.

28

8.1. Einleitung und Amoibaion

(1035-1177)

309

dieselbe Wirkung wie ein Speer, der den Körper eines Kriegers durchstößt (1121-1124). Offenbar erkennt der Chor in dieser Στάσις jene Erinys wieder, die das Geschlecht schon seit Pelops' Zeiten verfolgt 29 und deren Wirken Kassandra zuvor (1090 ff., 1095 ff.) dem Chor in Erinnerung gerufen hat. Es muß den Chor daher in höchste Furcht versetzen, wenn ein erneutes Aufjauchzen dieser Erinys angekündigt, ja heraufbeschworen 30 wird. Zugleich aber fühlt man sich an Klytaimestras Ausruf am Ende des 3. Epeisodion (973: Ζεΰ Ζεϋ τέλειε, τάς εμάς εύχάς τέλει) erinnert, den Kassandra später in unserer Szene noch ausdrücklich als όλολυγμός bewertet (1236 f. ώς δ' έπωλολύξατο | ή παντότολμος, ώσπερ έν μάχης τροπή) - ein Hinweis auf die Aufführungspraxis. 31 Den Zuschauern muß der Anklang nach der Vertragspraxis, die wir voraussetzen müssen, klar gewesen oder spätestens durch die Worte in 1237 klar geworden sein: Klytaimestra ist im Agamemnon' der Mensch, der zuvörderst die Erinys namens Stasis, oder auch den δαίμων άλάστωρ, zur Wirkung, zur Entfaltung bringt. Daß aber der Chor davon schon an dieser Stelle etwas bemerkt, ist unwahrscheinlich; jedenfalls gibt es keinerlei Hinweise darauf. Immerhin ist es möglich, daß er - ähnlich wie für den Beginn des dritten Stasimon anzunehmen ist (s. o. S. 264) - hier die Erwähnung wie dort das Vernehmen eines solchen όλολυγμός als zutiefst beunruhigend und beängstigend empfindet. Bei den folgenden Worten Kassandras ist für uns hier nur wichtig, daß die Seherin relativ detailliert den sich vor ihren Augen abspielenden Vorgang des Mordes beschreibt. Im einzelnen bleiben mancherlei Schwierigkeiten; vor allem in dem Satz έν πέπλοισιν . . . τύπτει (1126-1128) sind der Text und die syntakti-

29

Es kommt mir daher auch keineswegs so unnatürlich vor wie FRAENKEL (ad 1117 γένει, III 506), den Dativ γένει von άκόρετος abhängig zu denken. Die Frage ist indessen hier von geringer Bedeutung. 30 vgl. 1119 κέλη 31

Siehe FRAENKEL ad 1236 und u. S. 337 mit Anm. 76.

310

8. Die Kassandra-Szene

sehen Beziehungen an einzelnen Stellen nicht ganz eindeutig herzustellen. Muß es in 1127 μελάγκερων, μελάγκερω oder μελαγκέρφ heißen? FRAENKELS ausfuhrliche Diskussion ist jetzt fortgeführt durch S T I N T O N , SEAFORD und N E I T Z E L . 3 2 NEITZELS Versuch, das besser bezeugte μελάγκερων zu halten, hat sehr viel für sich, krankt aber trotz seiner Rechtfertigung daran, daß unsicher ist, ob μηχανήματι, selbst ,modal-abstrakt' verstanden („mit listigem Anschlag" = δόλω), ohne qualifizierendes Attribut stehen kann, was FRAENKEL bestreitet. NEITZELS Belegstellen können nicht ganz überzeugen, da an beiden μηχάνημα negiert ist (A. Pr. 989 ούκ εστίν ... μηχάνημ' δτω ..., Antiphon 5,22 ούδενί μηχανήματι). Gibt es kein μηχάνημα, so braucht dieses natürlich auch nicht näher qualifiziert werden: Die Negation vertritt hier die Qualifizierung. Doch darf wie so oft bei Aischylos auch hier das Fehlen einer „Parallelstelle" nicht das entscheidende Argument bleiben. Die Reaktion des Chors auf Kassandras vergleichsweise detaillierte Beschreibung ihrer Gesichte entspricht den Erwartungen: Da er noch immer nicht verstanden hat (und dies muß allerdings verwundern), worum es geht und was auf dem Spiele steht, beschränkt er sich auf einen sehr allgemeinen, von diffuser Angst statt konkreter Furcht vor etwas Bestimmten getragenen Kommentar. Seine Einleitung macht erneut sein Unverständnis deutlich: „Ich möchte mich nicht brüsten, ein scharfsinniger Interpret von Orakelsprüchen zu sein, doch beziehe33 ich das eben Gesagte auf etwas Schlimmes." Das ist es, was der Chor aus den bisherigen Äußerungen der Seherin verstanden hat, nicht mehr und nicht weniger. Dieser Teil der lyrischen Partie der KassandraSzene schließt mit einer allgemeinen Betrachtung des Chors über die Art, wie Sehersprüche dem Menschen gegenüberzutreten und sich Gehör zu verschaffen pflegen. 3 2

T . C . W . STINTON: Agamemnon

1127 and the l i m i t s o f hyperbaton",

PCPhS

n.s. 2 1 (1975) 8 2 - 9 3 . - SEAFORD (1984). - Η. NEITZEL: „Agamemnons Ermordung in Kassandras V i s i o n

(A. Ag.

1125-1129)",

Hermes

112

(1984")

271-281. 33

Zu προσεικάζω »mettre en rapport« s. die Behandlung des Zeus-Hymnus o. S. 91 Anm. 120.

8.1. Einleitung undAmoibaion

(1035-1177)

311

Die Reaktionen des Chores wandeln sich im zweiten Teil der lyrischen Partie völlig. Man wird kaum sagen können, daß der Chor Kassandra hier nicht versteht. Obwohl die Seherin sich hier nicht wesentlich klarer ausdrückt, hat der Chor stets ein klares Bild von dem, was Kassandra zum Ausdruck bringen will. Nur zum Teil kann man dies auf die etwas größere Ausführlichkeit der Kommentare Kassandras zurückführen. Kassandra schickt zunächst voraus, sie wolle nun als Zusatz (1137 έπεγχ- 34 ) von dem reden, was ihr selbst widerfahren werde, und wendet sich - wie schon zu Beginn der Szene (1087) - an Apollon: „Was (zu welchem Zweck35) hast du mich Elende denn hierher geführt? Aus keinem Grund als damit ich mitsterbe weshalb sonst?" Sie spricht damit hier zum erstenmal klar von ihrem Tode. Der Chor versteht sie insoweit, als er erkennt, daß sie nun über ihr eigenes Schicksal reden will. Unsicher scheint aber, ob er bereits erkannt hat, daß sie von ihrem eigenen Tod redet. Er spricht sie als φρενομανής .wahnsinnig' und θεοφόρητος .gottbegeistert' an: Du bist eine gottbegeisterte Wahnsinnige, und über dich selbst läßt du eine Melodie ertönen, die keine Melodie ist, wie eine Bräunlich-Gelbe, die unersättlich im (wehklagenden) Schrei, ach, mit Mitleid heischendem Sinn mit „Itys Itys" ihr auf beiden Seiten (?) vor Übel blühendes Leben bestöhnt, eine Nachtigall. Der unmittelbare Vergleichspunkt zwischen Kassandra und Aëdon ist für den Chor natürlich der νόμος, die Melodie oder der Gesang beider, ihr Klagegesang. Schwierig ist es, zu verstehen, was 34

Eine Ableitung von έπεγχέώ hat jedenfalls hier gestanden, wahrscheinlich έπεγχύδαν; s. FRAENKEL A. I. 35 Dies muß hier der Sinn sein; ob 1138 das überlieferte ποΐ die Bedeutung ,zu welchem Zweck' tragen kann, ist aber zweifelhaft, da das Wort sonst immer klar lokale Bedeutung hat (entsprechende Belege bei LSJ sind unzureichend); s. FRAENKEL a. I. Vermutlich ist daher mit Heimsoeth tí zu schreiben (ποΐ ist wohl aus der „Parallelstelle" 1087 eingedrungen).

312

8. Die Kassandra-Szene

mit 1144 f. αμφιθαλή κακοίς ... βίον gemeint sein mag, und hier sind wir auf reine Spekulation angewiesen, αμφιθαλής ist ein Kultwort, das ,puer patrimus et matrimus' (.dessen Vater und Mutter am Leben sind') bedeutet und nur hier mit Bezug auf Übles gebraucht ist (s. FRAENKEL ad 1144f. αμφιθαλή). Darf man, wie F R A E N K E L mit aller Vorsicht vorschlägt, für αμφιθαλή κακοίς mit der Bedeutung »ill-fated on two sides« rechnen, so kann man den Worten des Chors vielleicht einen noch präziseren Sinn abgewinnen. Aëdon bestöhnte dann mit „Itys Itys" ihr „auf beiden Seiten an Übeln reiches" Leben, nämlich vor und nach ihrer Verwandlung. Es wäre verlockend, dem Chor zu unterstellen, daß er in diesem Zusammenhang ebenfalls wieder den Vergleich mit Kassandra im Blick hat, deren Leben als (erfolglose) Seherin in Troja wie als Sklavin in Argos als „reich an Übeln" bezeichnet werden kann. Doch bin ich nicht sicher, ob man dem Chor einiges Verständnis für die Leiden der erfolglosen Seherin in Troja zutrauen darf, zumal Kassandra davon noch nicht gesungen hat. Beschränken wir uns aber auf dieses Verständnis von αμφιθαλή mit Blick auf Aëdon, so erhält Kassandras Protest gegen den Vergleich des Chors in der nächsten Strophe (1146-1149) einen prägnanteren Sinn: Ach ach, der Tod der helltönenden Nachtigall; denn ihr legten die Götter eine federtragende Gestalt und ein süßes Leben ohne Leiden 36 bei. - Mir aber bleibt Zerspaltung durch die zweischneidige Waffe. Ist das richtig, 37 so bezieht sich die Korrektur Kassandras vor allem auf das Wort αμφιθαλή: Aëdon hatte, meint Kassandra, anders als. sie selbst, keinen βίος αμφιθαλής κακοίς zu ertragen, vielmehr haben die Götter ihr durch die Verwandlung in einen Vogel ein „süßes Leben ohne Leid" geschenkt, so sehr sie auch

36

Zu κλαυμάτων, dessen Behandlung durch

FRAENKEL

nicht ganz befriedigt,

s . DENNISTON-PAGE 1 7 5 f . 37

Zu weiteren Schwierigkeiten des Textes, s. FRAENKEL III 522-527, ad 1144 ff. und besonders MARCOVICH (1974) 139-141.

STON-PAGE

DENNI-

8.1. Einleitung undAmoïbaion

(1035-1177)

313

noch auf dieser „Seite" ihrer Existenz über die Leiden des früheren Lebens, insbesondere den Tod des Itys, klagt. Diese Deutung setzt natürlich voraus, daß der Chor den genauen Sinn von ξυνθανουμένην (1139) nicht durchschaut hat. Sein Vergleich Kassandras mit Aëdon ist dann am prägnantesten, wenn er meint, daß der Seherin noch ein langes Leben als Sklavin in Argos bevorsteht. Daß der Chor nun ξυν-Θάνουμενην nicht korrekt verstehen kann, ist einleuchtend, da er nichts vom Tode Agamemnons verstanden hat. Daß er ξυν-θανουμένην nicht auf die nahe Zukunft bezieht, wahrscheinlich nicht einmal auf einen gewaltsamen Tod Kassandras, ist weniger leicht zu erklären, aber anscheinend der Fall. Kassandras Korrektur, in der sie Aëdons Schicksal als dem ihren gegenüber beneidenswert darstellt und nachdrücklich festhält, daß auf sie keine (längere) Lebenszeit (1148 αιώνα), sondern nur noch ein gewaltsamer Tod (1149 σχισμός άμφηκει δορί) wartet in gewisser Weise eine Präzisierung gegenüber 1139 ξυνθανουμένην, das der Chor nicht verstehen konnte - , führt den Chor zu einem deutlichen Verständnis dessen, was Kassandra meint, wie seine Antwort darauf zeigt (1150-1155): Woher hast du die heranstürmenden, gottbegeisterten, nichtigen Qualen, und prägst durch Gesang dies Furchtbehaftete aus in schwerverständlichem Geräusch zugleich und helltönenden Melodien. Woher hast du die Wegmarken deines Pfades der Weissagung, die von Übeln reden? Wie FRAENKEL (ad 1154, III 529 ff.) herausgestellt hat, zeigt diese Stelle, daß der Chor Kassandra verstanden haben muß, also weiß, daß sie von ihrem eigenen unmittelbar bevorstehenden gewaltsamen Tode redet. Dies ergibt sich aus 1154 ορούς:38 From ορούς we may take it that the Chorus is now conscious of the steadiness and consistency of Cassandra's prophecy of her own fate: her lament does 3S

Inschriftliche Belege für δρος όδοΰ .Wegmarke', ,Straßenbegrenzung' im Attischen führt FRAENKEL (III 529 f.), Beispiele für Wegmetaphem in der archaischen Dichtung DENNISTON-PAGE (ad 1154-5 θεσπεσίας όδοΰ) an.

314

8. Die Kassandra-Szene

not roam at large but follows a definite path and its direction is always the same. [FRAENKEL III 530] Allerdings bezeichnet der Chor die von Kassandra verspürte Seherqual ausdrücklich als „nichtig" (1151 ματαίους), hält also offenbar den Inhalt dessen, was sie sagt, für falsch. Nimmt man diesen Hinweis ernst, so muß man zu dem Schluß kommen, daß auch das zweimalige (1150, 1154) πόθεν, ähnlich wie 1119 ποίαν Έρινύν, mit einem Ton der Ablehnung oder des Zweifels gesagt ist. Der Chor versteht also wohl, glaubt aber nicht an die Sehersprüche, die Kassandra äußert, meint, sie sei auf der falschen Bahn, auf dem falschen Pfad, wenn auch dieser Pfad deutlich begrenzt und dem Chor kenntlich ist. Der Chor ist nicht überzeugt von dem bevorstehenden Tod Kassandras, von dem sie selbst singt, da es ihm entgehen muß, warum Agamemnon, von dessen Tod er nichts ahnt, die Sklavin Kassandra töten lassen sollte, die er doch kurz zuvor (950-952) einer freundlichen Behandlung durch seine Gattin empfohlen hatte. Ein gewaltsamer Tod der Seherin liegt daher auch gänzlich außerhalb seines Horizonts. In der nächsten Strophe (1156-1161) wird Kassandra noch deutlicher: Ach die Hochzeit, Hochzeit des Paris, verderblich für die Seinen! Ach, Skamander Vaterstrom! Einst wuchs ich (ήνυτόμαν = ηύξόμην, Μσ*), an deinen Ufern ernährt, ich Unselige, heran. Jetzt aber scheine ich bald am Kokytos und an den Ufern des Acheron weissagen zu sollen. Und der Chor antwortet (1162-1166): Was für eine Rede hast du da, nur allzu deutlich war sie, hervorgebracht? Ein Neugeborener39 dürfte sie verstehen, wenn er sie hörte. Ich bin getroffen wie von einem tödlichen Stich, wenn du ob deines schmerzlichen Schicksals Klagelieder ertönen läßt, zerschmetternd für mich zu hören.

39

Ich sehe keinen Grund, die Hyperbel in der Übersetzung abzumildern.

8.1. Einleitung und Amoibaion

(1035-1177)

315

Der Chor urteilt hier nun selbst, daß er Kassandra ganz verstanden hat und ihre Rede leicht verständlich war. In der Tat hat sie sich in ihrer Weise auch besonders klar ausgedrückt: Ganz deutlich sind in ihrer Rede nicht etwa mehr Troja und Argos gegenübergestellt (vgl. dagegen 1138 τί [Heimsoeth] δή με δευρο την τάλαιναν ηγαγες), sondern Skamander und Kokytos/Acheron, also Troja und der Hades. Argos bleibt dabei ungenannt, in scharfen Kontrast erscheinen Kassandras Jugend in Troja und ihr baldiges θεσπιωδεΐν in der Unterwelt. - So schwindet dem Chor die letzte Möglichkeit, das Unglück, von dem sie spricht, in ihrem Leben als Sklavin in Argos zu sehen. Scharf und deutlich tritt hervor, daß es um Kassandras baldigen Tod geht. Dem entspricht seine Reaktion, die nicht mehr billigen Trost, sondern nur noch Mitleid und fassungslose Erschütterung beinhaltet; denn darauf, daß Kassandra sterben sollte, kann sich der Chor bis zum Ende der Szene keinen Reim machen. Mit der Antistrophos endet die lyrische Partie der KassandraSzene; hier wieder zunächst die Übersetzung (1167-1177): Ka.: Ach Pein, Pein der Stadt, die ganz zugrunde ging! Ach Opfer des Vaters vor den (für die?) Mauern, vieltötend unter den Gras weidenden Rindern; Heilmittel aber brachten sie keines zustande, daß die Stadt nicht das Schicksal leide, in dem sie jetzt steht. Ich aber werde bald f θερμόνους t (»den heißen Strom meines Blutes"?) auf den Boden werfen. Ch.: Dies hast du ganz in Übereinstimmung mit dem Vorigen zum Ausdruck gebracht, und irgendein Daimon, übermäßig schwer auf dich einstürzend, macht dich töricht, 40 so daß du von bejammernswerten, todbringenden Leiden singst; doch worauf das hinausläuft, darüber bin ich im unklaren. Es ist deutlich, daß Kassandra in dieser letzten Äußerung vor dem Ende der lyrischen Partie der Szene noch einmal - wie in der vorausgehenden Strophe - nachdrücklich von ihrem bevorstehenden gewaltsamen Tod spricht. So versteht es der Chor, für 40

Zu κακοφρονεΐν s. u. S. 317 f. mit Anm. 44.

316

8. Die Kassandra-Szene

den die Wiederholung des Gleichen die entscheidende Rolle spielt. Doch ist das, was wir über Troja hören, durchaus nicht eine bloße Wiederholung dessen, was bereits gesagt wurde. Ganz auffallend entsprechen sich 1156 und 1167 in responsio pura und in der Stellung der Wortenden im Vers, ferner in Assonanzen und z. T. wörtlichen Entsprechungen: ίώ γάμοι γάμοι Πάριδος ολέθριοι φίλων υ - U-, υ - ν KJJ, ν KXJ - ν ίώ πόνοι πόνοι πόλεος όλομένας τό παν

2iaδ 41

1156 1167

Mit der vollkommenen metrischen und weitgehenden klanglichen Entsprechung geht eine inhaltliche einher, die wiederum eng an die metrische Entsprechung angebunden ist und pointiert ein Verhältnis von Grund und Folge zu Ausdruck bringt: „Ach die Hochzeit (ia), die Hochzeit des Paris (ia), verderblich für die φίλοι (δ)" - „Ach die Leiden (ia), die Leiden der Stadt (ia), die gänzlich verdarb (δ)." Die Hochzeit eines einzelnen (Paris) ist Ursache für das vollständige Verderben einer Stadt. Pointierter und doch klarer kann man es kaum ausdrücken. Zum Ausdruck des Verderbens der φίλοι, also der Familie und der Mitbürger, ist der Dochmius (ολέθριοι φίλων ~ όλομένας τό παν) durchaus passend, was ebenfalls für diese metrische Interpretation spricht. Das Unglück Trojas ist damit einmal von seinem Anfang (1156) und dann von seinem Ende her (1167) gesehen, einmal von der Ursache des Untergangs (Hochzeit des Paris ολέθριοι φίλων), dann vom Vollzug des Untergangs mit den Leiden der Bewohner einer Stadt, die „ganz zugrundegeht". Nach beiden Versen wird jeweils zurückgegriffen auf die Zeit davor, einmal auf das Heranwachsen Kassandras an den Ufern des Skamander, der nun mit 41

Diese metrische Interpretation, die von 0. ScHROEDER: Aeschyli cantica, Berlin 1 9 0 7 , 8 0 zu stammen scheint (übernommen von DENNISTON-PAGE und jetzt WEST in den metr. Anhängen), scheint mir deijenigen FRAENKELS (III 488, VII.: ίώ extra metrum, γάμοι . . . ολέθριοι φίλων 3ia, d.h. wohl iaiacr) vorzuziehen. SCHROEDER deutete 1 1 5 6 später ( 2 1 9 1 6 ) - ebenfalls mit Ιώ extra metrum - als ialecyth. Doch in SCHROEDERS erster (1907) Deutung entsprechen sich Metrum und Sinn besser, s. das Folgende.

8.1. Einleitung und Amoibaion

(1035-1177)

317

einem Wehruf bedacht werden muß (1157-1159), zu einer Zeit, als von der Bedrohung der Stadt noch keine Rede sein kann, dann zu den nutzlosen"42 Versuchen, die Götter durch Opfer gnädig zu stimmen und so den Untergang der Stadt doch noch zu verhindern (1168-1171). An beiden Stellen ist dem dann eine Bemerkung der Seherin über ihren baldigen Tod gegenübergestellt. In 1160 f. ist nur allgemein gesagt, daß Kassandra bald in der Unterwelt sein wird, in 1172 scheint, soviel man aus dem korrupten (oder schwerverständlichen) Text noch entnehmen kann, eine genauere Angabe, vielleicht ein Hinweis auf einen gewaltsamen Tod, gestanden zu haben. Wiederum versteht der Chor zwar, daß Kassandra von ihrem bevorstehenden Tode spricht, und deutet ihre Rede (1167-1172) als geradlinige Fortsetzung der vorigen (1156-1161), der sie formal und inhaltlich so auffällig entspricht: 1173 έπόμενα προτέροισ τάδ' έφημίσω. Allerdings versteht er Kassandra nur insoweit, als dies nicht ein Verständnis ihrer Worte in der ersten Hälfte der lyrischen Partie, und damit die Erkenntnis des bevorstehenden Todes seines Königs Agamemnon, hätte erfordern oder mit sich bringen müssen. Daß der Chor Kassandras Rede von ihrem eigenen Tod weitgehend verstanden hat, bedeutet nun allerdings keinesfalls, daß er auch davon überzeugt wäre. Vielmehr läuft seine Entgegnung auf eine klare Ablehnung ihres Redens vom eigenen Tode hinaus. 43 Dies wird besonders deutlich, wenn man in 1174, wie jetzt WEST tut, das überlieferte κακοφρονεΐν hält: Eine Gottheit bringt Kassandra dazu, „schlecht zu sinnen", d.h. törichten und unsinnigen

Vgl. auch 69 ff. FRAENKEL ad 1174 ff. paraphrasiert seine Antwort treffend: »This shows the same heaven-sent madness as your former speech.«

43

318

8. Die Kassandra-Szene

Gedanken zu folgen, 44 so daß sie von „bejammernswerten, todbringenden Leiden" singt, die nach Ansicht des Chors gegenwärtig in Wahrheit keinesfalls zu erwarten stehen. Zudem ist es bezeichnend, daß der Chor Kassandras Inspiration wie eine Krankheit4S - auf „irgendein göttliches Wesen" (1174 f. τις ... δαίμων) zurückführt, und nicht - als mantische Besessenheit - auf den Gott der όρθομαντεία (vgl. 1215) Apollon, den Kassandra selbst schon des öfteren angerufen hat. Darin drücken sich ebenfalls Ratlosigkeit und Zweifel des Chors aus, die er am Ende seiner Rede auch explizit mit 1177 τέρμα δ' άμηχανώ anspricht. Damit ist jedoch nicht dieselbe Form von Unverständnis wie im ersten Teil der lyrischen Partie der Kassandra-Szene gemeint, wo der Chor Kassandra nicht versteht. Denn was Kassandra sagt, versteht er hier, wie an mehreren Stellen ganz deutlich wird (1154, 1163, 1176 πάθη ... θανατηφόρα), sehr genau: Ihm ist klar, daß sie von ihrem baldigen, gewaltsamen Tode spricht. Unklar ist dem Chor dagegen, „worauf das hinausläuft", wie das denn zugehen soll, daß Kassandra bald sterben wird. Denn er hat keinerlei Grund, aus der derzeitigen Lage der Dinge etwas dergleichen anzunehmen; alles spricht dagegen, daß Kassandra, die doch Sklavin in Argos ist, sterben sollte. Eine konkrete Vorstellung, wie das denn zugehen sollte, muß dem Chor auch abgehen; denn der Tod der Seherin ist nur in Zusammenhang mit dem Agamemnons verständlich, er ist, wie Klytaimestra es in ihrer bitteren Rede ausdrückt, nur ein παροψώνημα της έμής χλιδής (1447), ein Zubrot bei dem schwelgerischen Fest, das für sie die Ermordung Agamemnons darstellt. Von Agamemnons bevorstehendem Tod aber hat der Chor, wie gesehen, noch nichts, nicht das geringste, verstanden.

44

WEST verweist κόφρων und auf tung erhellend). Herausgeber mit

45

zu κακοφρονεΐν im Apparat seiner Ausgabe auf 100 κα1064 κακών κλύει φρένων (letztere Stelle für die BedeuSiehe auch FRAENKEL a.Z., der allerdings wie fast alle Schütz κακοφρονών liest

F R A E N K E L ad 1174 ff.

8.2. Der gesprochene Teil (1178-1330)

319

Es zeigt sich demnach schon hier, daß es nicht durchaus richtig ist, daß der Chor die auf die Zukunft bezüglichen Weissagungen Kassandras nicht verstehe. Im Gegenteil ist er im ganzen ein recht aufmerksamer und verständiger Zuhörer Kassandras. Es ist, soweit bis hierher ersichtlich ist, ein Punkt, an dem er in seinem Verständnis behindert ist und über den er nicht springen kann, wenn es um andere Dinge geht, die damit zusammenhängen. Die-

ser Punkt ist das bevorstehende Unglück des Atridenhauses, für uns hier repräsentiert durch den Tod Agamemnons. Alles, was damit zusammenhängt oder dessen Verständnis von dem abhängig ist, was Kassandra darüber gesagt hat, versteht der Chor nicht. Alles andere, was davon unabhängig ist, versteht er.

8.2. Der gesprochene Teil der Kassandra-Szene Nachdem Kassandra im lyrischen Teil dieser Szene auf ihre seherischen Wahrnehmungen unmittelbar reagiert (1. Teil) und ihr Wissen auch bereits in prophetischer Sprache vorgebracht hat (2. Teil), geht sie jetzt dazu über, dem Chor in möglichst verständlichen Worten zu erläutern, was in Argos bevorsteht. Dieser Teil beginnt mit einer langen Rede Kassandras (1178-1197): Nun, so soll meine Weissagung nicht mehr eine sein, die aus Schleiern hervorblickt wie eine frischvermählte Braut, sondern klar scheint sie gen Sonnenaufgang wehend anzustürmen (έπάξειν WEST46), so daß wie eine Welle zum Licht sich erhebt (κλύζειν Auratus) ein Leid, das viel größer ist als dieses; doch will ich nicht mehr in Rätseln sprechen. Und bezeugt mir, daß ich, dicht auf der Fährte, die Spur der Übel erwittere, die schon längst getan sind. Denn niemals wird aus diesem Haus der Chor weiterziehen, der zusammenklingt und sich doch nicht gut anhört; denn er spricht nicht von Gutem. Ja, und er ist trunken, so daß er noch frecher wurde, von Menschenblut und bleibt im Hause als ein Komos, den man nicht wegschicken kann, von dem Geschlecht verhafteten Erinyen. Und sie singen ihr Lied, 46

Studies 210 f , wo auch frühere Versuche, έσηξειν FTr zu heilen, besprochen werden.

320

8. Die Kassandra-Szene

die Gemächer belagernd, von der Verblendung, die den ersten Anfang machte, und der Reihe nach machen sie ihrem Abscheu Luft vor dem Lager des Bruders, feind dem, der es entehrte. - Hab' ich gefehlt oder treffe ich (κυρω Ahrens) etwas wie ein Bogenschütze? Oder bin ich ein falscher Seher, einer, der an Türen pocht, ein Schwätzer? Bezeuge nur unter Eid, daß du nichts weißt (μη*7 είδέναι Botile, Dobree) noch gehört hast von den alten Verfehlungen dieses Hauses! 1178 καί μην sind unter dem Einfluß von 8 FRAENKELS (ad 1178) Behandlung der Stelle von DENNlSTONs* Einordnung der Partikeln an unserer Stelle unter die Kategorie inceptive-responsive (»response to an implied appeal for plainer speaking«) abgegangen und scheinen jetzt der allgemeineren Einordnung progressive den Vorzug zu geben. Ich bin nicht sicher, ob DENNISTON-PAGE an dieser Stelle recht hatten, FRAENKEL zu folgen. Dessen Ablehnung der ursprünglichen Einordnung von και μην an unserer Stelle beruhte auf seiner Deutung von 1177 τέρμα δ' άμηχανώ (ad 1178): »I do not know whether in these words or in the last reply of the Chorus as a whole any such appeal is implied: all I am able to perceive is the ring of complete resignation.« Wie oben (S. 318) gesagt, möchte ich die Worte des Chors nicht als Ausdruck des Nicht-Verstehens des Gesagten auffassen, sondern vielmehr der Unfähigkeit, sich eine Realisation von Kassandras Voraussagen als möglich vorzustellen, und damit ihr Glauben zu schenken. Aber auch wenn FRAENKELS Deutung zutrifft, ist sein Schluß in Hinsicht auf και μην so nicht berechtigt. Denn für die Bedeutung einer solchen Partikel ist nicht die Frage entscheidend, ob der Gesprächspartner einen solchen appeal zum Ausdruck bringen wollte, sondern ob der Sprecher (in diesem Falle Kassandra) ihn herausgehört hat. Daß Kassandra aber aufgrund der Worte des Chors, die Unverständnis der Zusammenhänge verraten, einen „appeal for plainer speaking", eine NotwendigDENNISTON-PAGE ad

47 48

Zu μή statt μ' FTr s.u. S. 323fJ . D . DENNISTON: The Greek particles, [DENNISTON],

355.

rev. by K.J. Dover, Oxford 3 1952

8.2. Der gesprochene Teil

(1178-1330)

321

keit, sich nunmehr noch klarer auszudrücken, empfindet, scheint mir einleuchtend. Jedenfalls geht aus dem Text hervor, welche Punkte ihrer Weissagung Kassandra dem Chor noch einmal verdeutlichen zu müssen glaubt: Ihre Weissagung, sagt Kassandra, wolle sie nicht mehr verhüllt vorbringen, sondern sie solle wie ein frischer Wind gen Morgen anstürmen, „so daß wie eine Welle zum Licht sich erhebt (κλύζειν Auratus) ein Leid, das viel größer ist als dieses". - Was ist mit dem „größeren Leid" gemeint, und worauf verweist τούδε πήματος? Hermanns Interpretation (s. FRAENKEL ad 1182 τούδε πήματος), die THOMSON Ca. I.) näher erläutert, scheint mir einleuchtend: »The μείζον πημα is the death of Agamemnon as compared with her own«. FRAENKELs Bedenken an diesem Punkt scheinen mir nicht berechtigt. Zwar ist in dieser Passage »the main topic throughout [...] the difference between the revelations now beginning and Cassandra's earlier utterances«. Diese Entgegensetzung bezieht sich nicht auf den Inhalt, sondern auf die Klarheit und Deutlichkeit ihrer respektiven Äußerungen. Folgerichtig versteht FRAENKEL τοΰδε πηματος πολύ μείζον als »the anguish she feels here and now, the anguish, that is, which has found expression in her words up to this point, in contrast to the more intense suffering that awaits her. When she now begins to speak undisguisedly and no longer softens down the force of her meaning by enigmatic words, the horror of her revelations will emerge in all its nakedness, and the anguish of speaker and audience will become more intense.« FRAENKEL versteht also unter den hier verglichenen πήματα nicht zwei bevorstehende Fälle von Unglück, sondern das von der Sprecherin und den Hörern subjektiv gefühlte und erlittene seelische Leid. Diese Deutung ist aber deshalb kaum möglich, weil für πημα bei Aischylos und in der gesamten archaischen Literatur diese Bedeutung, die sonst άλγος oder άχθος trägt, nirgends belegt scheint. 49 Weiterhin haben schon DENNISTON-PAGE 49

Der Thesaurus Graecae Linguae von Henricus Stephanus, der πημα (s. v.) mit .damnum', ,exitium' wiedergibt, kennt ebenso wie LSJ gar keinen Beleg für eine solche Bedeutung. Ebenso ITALIE, Index s.v. πημα (.calamitas1, .malum')·

322

8. Die Kassandra-Szene

Deutung entgegengehalten, daß das μείζον πημα angesichts der folgenden Weissagungen doch wohl kaum etwas anderes als der Tod Agamemnons sein kann, wenn sie ihm auch für τοΰδε πήματος insoweit entgegenkommen, daß damit »the present calamitous state of affairs« gemeint sein mag, »perhaps with special reference to her own δυσαλγής τύχα (1165).« (A. I.) FRAENKELS

Die Annahme, daß Kassandra hier ihr eigenes Schicksal mit dem Agamemnons vergleicht, führt zu einer guten Einbindung der Stelle in ihren Kontext: Kassandra würde damit dem Chor, der ihrem Reden von ihrem eigenen Tod keinen Glauben schenken konnte (1174-1177), ankündigen, daß er gleich, und zwar in aller Deutlichkeit, von einem weit größeren Übel, nämlich dem Tode Agamemnons, werde hören müssen. Eine Schwierigkeit besteht allerdings darin, wie Kassandra denn den Tod Agamemnons meinen kann, wenn sie ein τοΰδε πήματος πολύ μείζον als etwas ankündigt, das jetzt erst „ans Licht kommt", obwohl bereits zuvor (im ersten Teil der lyrischen Partie 1100-1135) ausführlich davon die Rede war. Dies scheint nur dann möglich, wenn man annimmt, daß Kassandra mit Rücksicht auf das spricht, was der Chor bis zu diesem Zeitpunkt verstanden hat; dann aber stimmt alles sehr gut zusammen: Wie gesehen, hat der Chor zwar nicht im geringsten verstanden, daß von Agamemnons Tod die Rede war, aber sehr wohl, daß Kassandra ihren eigenen Tod geweissagt hat (wenngleich er von der Richtigkeit dieser Weissagung durchaus nicht überzeugt ist); ganz am Ende der letzten Antistrophos der lyrischen Partie dieser Szene hat er, wenn meine Deutung richtig ist, sowohl seinem Verständnis (1176 μελίζειν πάθη γοερά θανατηφόρα) als auch seinem Unverständnis (1177 τέρμα δ' άμηχανώ) Ausdruck gegeben. Kassandra hat natürlich wie die Zuschauer - bemerkt, daß der Chor die Weissagungen über ihren eigenen Tod wenigstens verstanden hat, sich aber keinen Reim darauf machen kann, weil ihr Tod nur mit dem Agamemnons zusammen wirklich begreifbar ist. Da der Chor das τέρμα, auf das alles hinausläuft, nicht verstanden hat, will sie nun nicht mehr in Rätseln sprechen, sondern in

8.2. Der gesprochene Teil (1178-1330)

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aller Klarheit, so daß ein (oder das) πημα, das größer ist als dieses (d.h. das vom Chor verstandene und eben noch [1176] genannte) nun deutlich ans Licht kommt: Agamemnons Tod. Während Kassandra in der lyrischen Partie über Agamemnons Tod nur im Rahmen von Reaktionen auf ihr unmittelbar vor Augen stehende Visionen gesprochen hat, geht sie hier ganz systematisch vor: Zunächst versucht sie, ihre Glaubwürdigkeit durch Auseinanderlegung der vergangenen Untaten im Atridenhaus herzustellen und fordert zugleich den Chor auf, die Richtigkeit dessen, was sie über die Vergangenheit sagt, zu beglaubigen (1184f.). Sie beschwört das großartige Bild so von dem κώμος der Erinyen, der von Üblem redet (oder vielleicht: dessen Worte mali omints sind - ούκ ευ λέγει als Gegenbegriff zu εύ-φημεΐ?) und sich nicht wegschicken läßt, und kommt dann zu der πρώταρχος ατη, dem ersten Anfang allen Übels im Atridenhause, dem Ehebruch des Thyestes. 51 Ausdrücklich fordert sie den Chor dazu auf, eine Stellungnahme zu dem Gesagten abzugeben, d.h. ihre Worte zu bestätigen oder zu widerlegen. Sie fordert den Chor auf, einen Eid zu schwören, nichts davon gehört zu haben und zu wissen. Ich lese mit FRAENKEL U. a. in 1196 μη (Bothe, Dobree) statt μ' F Tr. Seine ausführliche Erörterung (III 548-550) scheint mir völlig überzeugend. WESTS2 will (ähnlich wie schon DENNISTONPAGE) μ halten, so daß Kassandra hier um Bezeugung ihres eigenen Wissens in der Zukunft nachsuchte: »She wants them to swear to other people, afterwards, that she showed true prophetic knowledge.« - Dagegen scheint mir jedoch zweierlei zu so

Ein Bild, das umso besser und beunruhigender wird, je konkreter man einen wirklichen attischen κώμος vor Augen hat: FRAENKEL ad 1186 ff. und ad 1190 δύσπεμπτος εξω hat das alles aufgeschlüsselt. 51 So wird heute allgemein verstanden, während noch Wilamowitz darin bereits die Schlachtung der Kinder des Thyestes sah (dagegen FRAENKEL a. I.). Zudem ist es kompositorisch befriedigender, anzunehmen, daß hier der Ehebruch gemeint ist, da dann die Reihe der alten Verbrechen mit 1217 unmittelbar und ohne Lücke fortgesetzt würde. " Studies 211, vgl. auch seine Ausgabe a. I.

324

8. Die Kassandra-Szene

sprechen: Zum einen wird λόγω, wenn man als Subjekt zu είδέναι Kassandra annimmt, unverständlich, da die Seherin ja schwerlich behaupten kann, ihr Wissen „vom Hörensagen" zu haben; bei WEST erscheint λόγω daher inter cruces. Zum anderen läßt der Aorist 1196 έκμαρτύρησον προύμόσας entsprechend seiner Bedeutung an eine Aufforderung denken, die sich »auf einen bestimmten eben vorliegenden Einzelfall« bezieht, S3 hier also auf die gegenwärtige Situation, in welcher Kassandra vom Chor die unverzügliche Bestätigung ihrer Weissagungen erwartet. Es ist bezeichnend, daß an den Stellen, die WEST für die Bedeutung .testare posthac' heranzieht, das Präsens steht (1317 μαρτυρείτε, Cho. 1041 μαρτυρεΐν). - Die leichte Änderung 1196 το jj£[ είδέναι scheint mir daher vorzuziehen: Kassandra fordert den Chor auf, unter Eid jedes Wissen von dem, was sie geweissagt hat, abzuleugnen. WESTs Beobachtung, daß »that would imply that she distrusted them in some way«, trifft zu, eignet sich aber nicht als Einwand; Kassandra mißtraut dem Chor insoweit mit Grund, als sie zweifeln muß, ob er ihr auch glaubt. Deshalb fordert sie ihn auf, unter Eid sein (durch Hörensagen erworbenes) Wissen zu verleugnen, eben um eine Bestätigung der Richtigkeit ihrer Weissagung zu erlangen. Siehe FRAENKEL III 548 f. Der Chor aber antwortet ausweichend - natürlich kann er einen solchen Eid nicht leisten - und bewundert stattdessen Kassandras Wissen um die Geschichte einer ihr fremden Stadt: „Wie könnte denn ein Eid, ein in aller Form gefügtes Unglück, ein Helfer werden? Ich wundere mich aber über dich, daß du, über dem Meer aufgewachsen, so das Rechte triffst, wenn du über eine anderssprachige Stadt sprichst (?), als wärest du zugegen gewesen." Dies scheint im ganzen der Sinn der Aussage zu sein, doch bleiben einige Schwierigkeiten im einzelnen: Umstritten ist vor allem der Wortlaut der Verse 1198 f., in denen ich nach GROENEBOOM α. l. 5 a και πώς αν δρκος, πημα γενναίως παγέν, | παιώνιος γένοιτο; lese, und damit in 1199 παιώνιος statt des überliefer5 3

54

KÜHNER-GERTH 1 1 8 9 ( § 3 8 9 , 6 C).

Er vesteht allerdings πημα γενναίως παγέν als »het object van παιώνιοσ γένοιτο = ίάσαιτο« (306 Anm. 2), was mir trotz seines Verweises auf S. Ant. 788 lyr. (!) nicht einleuchtet; vielmehr ist der Ausdruck als Apposition zu δρκος zu verstehen.

8.2. Der gesprochene Teil (1178-1330)

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ten παιώνιον annehme. Zumeist wird stattdessen in 1198 mit Auratus ορκου πημα gelesen. Diese Änderung ergibt einen ausgezeichneten Sinn und eine unanstößige Formulierung. Es handelt sich allerdings um einen weitaus schwereren Eingriff als GROENEBOOMs Änderung von παιώνιον in παιώνιος, da die Angleichung an vorausgehende Akkusative auch sonst häufig zu beobachten ist, während gleich zwei paläographisch weniger leicht zu rechtfertigende Eingriffe vornimmt, wer mit Auratus ορκου πήγμα liest. Mir scheint daher ορκος, πημα γενναίως παγέν, παιώνιος γένοιτο - mit dieser Interpunktion - bei weitem vorzuziehen. Auch FRAENKEL (α. I.) erwägt παιώνιος, entscheidet sich aber dagegen und schreibt: »If 1199 παιώνιος were the reading of the MSS, we might attempt to keep δρκος despite a certain harshness (with πήγμα γ. π. in apposition); but, as it is, ορκου is necessary.« Die Verteidigung von πημα hält er aber für aussichtslos. Diese Bedenken kann ich nicht teilen, zumal es sachlich zutreffend und im Kontext sinnvoll ist, von dem Eid als einem „rechtmäßig gefügten Übel" zu sprechen; denn ein Eid bekräftigt die Wahrheit ja gerade dadurch, daß er mit einer feststehenden Formel, ohne die er nicht gültig ist (1198 γενναίως), ein Unglück (πημα) auf den Schwörenden unter der Bedingung herabruft, daß dieser nicht die Wahrheit sagt. - Die hier vertretene Lösung wird zudem auch noch dadurch gestützt, daß δρκος an betonter Stelle unmittelbar vor der Hauptzäsur steht und, nach der Apposition, von παιώνιος am Versanfang (also ebenfalls betont) wieder aufgenommen würde, während ein zusammengehöriges ορκου πήγμα durch ebendiese Haupzäsur getrennt würde - das wäre sicherlich möglich, spricht aber nicht eben für den weitergehenden Eingriff in die Überlieferung. Ob 1200 πόλιν zu halten ist, muß zweifelhaft erscheinen. Wenn man es hält, ist es als Objekt zu λέγουσαν zu verstehen „wenn du von der Stadt sprichst", eine ungewöhnliche Formulierung, die sich aber vielleicht rechtfertigen läßt (THOMSON a.l., DENNISTON-PAGE a.l, q. v.). Ist dann aber άλλόθρουν auf Kassandra oder auf die Stadt zu beziehen? Beides ergäbe einen Sinn, sowohl, daß Kassandra Jenseits des Meeres anderssprachig aufgezogen, von der Stadt sprechend" als auch, daß sie .jenseits des Meeres aufgezogen, von einer anderssprachigen Stadt sprechend" den Nagel auf den Kopf trifft, als wäre sie dabei gewesen. Ich wage es nicht, hier eine Entscheidung zu treffen. - Schließlich hat vielleicht FRAENKEL Ca. I.) recht, der πόλιν für korrupt hält.

326

8. Die Kassandra-Szene

Kassandra beantwortet die Verwunderung des Chors mit einem Hinweis auf die ihr vom Sehergott Apollon verliehenen mantischen Fähigkeiten. Diese Äußerung der Seherin (1202 f.) und die darauffolgende Antwort des Chores (1204 f.) dienen zur Einleitung der folgenden Stichomythie, in der der Chor Kassandra die Geschichte des Erwerbs ihrer Seherkraft und ihres Betrugs an Apollon entlockt. Der überlieferten Stellung und dem Text der Verse 1202-1213 (daß der Abschnitt von 1202 an - wohl wie üblich mit παράγραάς. γενεί), erscheint in Kassandras Worten nicht der Tod Agamemnons als solcher, sondern nur der Anteil, den Aigisth daran hat, sein Planen (βουλευειν) als Folge des Thyestesmahls: έκ τώνδε ποινάς φημί βουλευειν τινά, κτλ. Dieser Unterschied ist durchaus relevant; denn Aigisths βουλευειν ist durchaus nicht der einzige Grund für den Tod des Königs - vielmehr hat Klytaimestra daran den entscheidenden Anteil, nicht nur insofern sie selbst den Mord ausführt. Sie aber gibt für ihr Handeln Gründe an, die mit den alten Greueltaten im Atridenhause nichts zu tun haben (1397f., 1417 [vgl. 1526. 1555ff.], 1439, 1440ff.). In Aigisths Planen erschöpft sich die Seite von Agamemnons Tod, die mit den Vergehen seines Vaters Atreus zu tun hat. Deshalb ist in Kassandras Weissagungen von nun an auch nicht mehr von den alten Greueltaten des Geschlechtes die Rede, sondern sie geht nun, da sie sich dem entscheidenden Höhepunkt ihrer Rede und zugleich des Geschehens in Argos zuwendet, dazu über, von Klytaimestra zu reden, die den Hauptanteil an dem Mord hat und ihn auch selbst ausführen wird. Die Schwierigkeiten der Verse 1227-1233 sollen hier nicht noch einmal im einzelnen besprochen werden. 74 Der Kern der Aussage scheint zu sein, daß Agamemnon Klytaimestras Falschheit nicht durchschaue, die sich zwar freundlich gebe, ihm in Wahrheit aber heimlich Unglück sinne: θήλυς άρσενος φονεύς | έστιν (1231 f.). Kassandra sucht vergeblich nach dem Namen eines Ungeheuers, das als Bezeichnung für Klytaimestra passen würde. 73

Dies betonen etwa FRAENKEL ad 1223 und NEITZEL (1985) 413.

74

Neben den einschlägigen Kommentaren s. jetzt: NEITZEL, HJ „Zur Interpre-

tation von Aischylos, 'Agamemnon' 1227-1232", Hermes

115 (1987) 119-124

und, ihn (mit sehr schweren und umfangreichen Texteingriffen) weiterführend, WEST, Studies

212-214.

8.2. Der gesprochene Teil

(1178-1330)

337

Noch einmal versucht Kassandra danach, dem Chor durch Anknüpfung an etwas, was auch er selbst gehört hat, ihre Weissagungen plausibel zu machen: „Und wie sie aufjauchzte, die AllesWagende, wie bei einer Wendung in der Schlacht; doch scheint sie sich über die glückliche Heimkehr 7S zu freuen" (1236-1238). Was mit dem όλολύζειν Klytaimestras gemeint ist, von dem Kassandra hier spricht, hat zuerst WILAMOWITZ 7 6 klar herausgestellt: Die Aussage Kassandras bezieht sich zurück auf Klytaimestras Worte am Ende des dritten Epeisodion (973): Ζεϋ Ζεϋ τέλειε, τάς εμάς εύχάς τέλει. FRAENKEL (a. I.) weist darauf hin, daß aus den Worten selbst nicht mit Notwendigkeit hervorgeht, daß es sich dabei um einen όλολυγμός, einen Jubelruf handelt; Kassandras Bewertung dieses Ausrufs läßt sich daher als Hinweis auf die Aufführungspraxis nutzen: Der Ton, in dem Klytaimestra diesen Ausruf tut, muß das sein, was Kassandra zu der Bemerkung an unserer Stelle veranlaßt, und was wohl auch den unmittelbaren Anlaß für die angstvollen Strophen des Chors im dritten Stasimon gegeben hat. 7 7 Nicht zufällig greift Kassandra hier auf diesen όλολυγμός Klytaimestras zurück: Daß der Chor selbst darauf in seinem dritten Stasimon mit größter Beängstigung reagiert hat, gibt ihr für einen Augenblick die Hoffnung, den Chor in diesem entscheidenden Punkt, der Ermordung Agamemnons, überzeugen zu können. Doch im Grunde weiß sie, daß gerade hier die ihrem Herrscher verbundenen Alten nicht in der Lage sind, ihr zu glauben, nicht leicht sie verstehen können, und fügt hinzu: 7S

Genauen „über die mit der Rückkehr verbundene Rettung". Es ist wohl kein Zufall, daß δοκεΐ und σωτηρία betont am Anfang bzw. dem Ende des Verses stehen. Worauf es ankommt ist, daß die Königin nur scheinbar sich über die Rettung freut, die mit der Rückkehr offenbar wird. Was sie allenfalls an der Rückkehr Agamemnons tatsächlich freuen mag, ist die nun sich bietende Gelegenheit, Rache zu nehmen. 70 An verschiedenen Stellen, s. FRAENKEL. Unter anderem schreibt er (1914) 173: »Dieser Jubelruf, denn das ist er mehr als ein Gebet, weckt in dem Chore die Gefühle der Angst und des Grauens, denen das letzte Lied des Dramas Ausdruck gibt« 77 Siehe o. S. 264.

338

8. Die Kassandra-Szene

και τώνδ' όμοΐον εϊ τι μη πείθω, τί γάρ; κτλ. (1239-1241); damit gibt sie zu erkennen, daß sie weiß hat, was es für Dinge sind, die zu fassen und zu glauben dem Chor schwerfällt: Bald wird er dazu gezwungen sein, sie zu glauben und anzuerkennen, daß Kassandra nur allzu Wahres geweissagt hat. Die Reaktion des Chors (1242 ff.) birgt keinerlei Überraschungen: Vom Unglück des Atridenhauses versteht der Chor nur das, was er kennt, was vergangen ist. Wie überall in diesem Stück ist er nicht in der Lage, sich künftiges Unglück der Argiver und seines Herrscherhauses als tatsächlich bevorstehend vor Augen zu halten. Es bestätigt sich daher die Vermutung Kassandras, daß er τώνδ' όμοΐόν τι (1239) nicht versteht. Kassandra zwingt ihm dieses Verständnis durch Nennung von Agamemnons Namen auf (1246), was den Chor, für den die Nennung seines Königs in solch einem Zusammenhang mali ominis ist, aber nur dazu bringt, Kassandra Schweigen zu verordnen (1247). Die energischen Bestätigungen der Seherin führen den Chor dazu, die Behauptung erst einmal stehen zu lassen, und er stellt zwei Fragen, die zeigen, daß er aus der Weissagung Kassandras keinerlei konkretes Verständnis behalten hat. Er weiß nicht, „welcher Mann" denn unter den gegebenen Umständen Agamemnon töten könnte und kann sich nicht vorstellen, wie die Ermordung des Königs nach den Umständen vonstatten gehen könnte. 78

78

1250-1253; für 1252 κάρτ' αρ' αν (FTr) stellen MAZONs κάρτα λίαν (s. a. l., andere Versuche ergeben einen ähnlichen Sinn) oder FRAENKELS κάρτα μακράν (so jetzt W E S T ) wenigstens einen lesbaren Text her. 1253 του γάρ τελούντος ist, wie DENNISTON-PAGE (a.l.) zeigen, zu halten. Daß der Chor damit aber insbesondere an Aigisth denkt, kann ich nicht glauben. Der Chor versteht nicht, wie überhaupt jemand unter den gegebenen Umständen in der Lage sein sollte, Agamemnon zu ermorden: »They cannot see how Aegisthus or anyone else can get the better of Agamemnon in his own house surrounded by his own people« (DENNISTON-PAGE a.l.). Ist das aber richtig, so erwartet der Chor doch offenbar weder von Klytaimestra noch von Aigisth einen Anschlag. DENNISTON-PAGE

8.2. Der gesprochene Teil

(ÍÍ78-1330)

339

Bevor nun Kassandra dazu kommt, dem Chor, dem ihre Weissagungen so dunkel erscheinen wie delphische Orakel (1255), noch nähere Erläuterungen zu geben, setzen ihre Visionen wieder ein. Analog zu dem lyrischen Teil dieser Szene spricht Kassandra auch hier nun von ihrem eigenen Tod, den sie von Klytaimestra zu erwarten habe. Die Rede, die nur in Einzelheiten Schwierigkeiten bietet und für unser Verständnis der Chorrolle wenig Neues bietet, hat folgenden Aufbau (1256-1294): Kassandra wird neuerlich vom Feuer ihrer Visionen überwältigt, worin sie den Sehergott Apollon wirksam weiß, zu dem sie zu Beginn einen erneuten wehklagenden Anruf erhebt (1256 f.). Sie spricht davon, daß auch sie selbst in Zusammenhang mit und sozusagen als Zusatz zu dem Mord an Agamemnon von der Ehebrecherin ermordet werden wird (1258-1263). Sie entledigt sich ihrer Priesterinsignien, die ihr nichts anderes als Hohn und Spott, nichts Besseres als Unglück eingetragen haben (1264-1268), und schon erkennt sie, daß Apollon selbst es ist, der ihren Priesterstand aufgehoben hat, weil er ihn nicht durch Mord befleckt und verachtet sehen will - und das, obwohl er zugelassen hat, daß Kassandra auch als Priesterin verhöhnt und verspottet wurde. 79 Apollon hat sie jetzt „eingefordert" (έκπράξας), um sie in dieses Argos zu führen, wo nicht mehr der heimatliche Altar des Gottes seiner Priesterin, sondern der Hackblock des Küchenmeisters seines Opfers harrt (1269-1278). Es folgt ein Hinweis auf den künftigen Rächer Agamemnons an seiner eigenen Mutter, Orest, der nebenbei sozusagen - auch Kassandras Ermordung sühnen wird (1279-1284).80 Dieses Wissen um den künftigen Rächer, dessen Name nicht fällt, führt sie angesichts des grausamen Schicksals ihrer ganzen Stadt wie auch der Sieger (d. h. wohl in erster Linie Zu 1269-1274 s. jetzt H. NEITZEL: „Interpretationen zu Aischylos' 'Agamemnon'", Hermes 114 (1986") 271-305, hier 271-280. 80 Vgl. nicht nur 1280 mit Veig. Aeri. 4,625 (FRAENKEL), sondern auch 1281 mit Aen. 4,659 f.; vielleicht ist es der letztere Anklang, der Schütz („non tarnen inultae") α a dazu geführt hat, den Plural in 1279 auf Kassandra allein zu beziehen, was wenig wahrscheinlich ist.

340

8. Die Kassandra-Szene

Agamemnons) dazu (1285 δήτ'), sich mich ihrem Tode abzufinden, von der Klage abzulassen und sich angesichts der Türen des Hades, die sie in den Palasttoren sieht, nur noch einen leichten Tod zu wünschen (1285-1294). Der Chor hat diesmal wiederum keinerlei Schwierigkeiten zu verstehen, daß Kassandra von ihrem eigenen Tod gesprochen hat, und es ist offenbar, daß er beginnt, ihr in diesem Punkt zu glauben. Daß er sie als τάλαινα und σοφή (!) γύναι anredet (1295 f.), bezeugt, daß er an ihren Worten nicht mehr ensthaft zweifelt. Wie FRAENKEL (od 1196) empfindet, liegt in 1296 ff. εί δ' έτητύμως κτλ. eine letzte verzweifelte Hoffnung, nicht glauben zu müssen, was Kassandra gesagt hat. Ich möchte dies als die Unfähigkeit des Chors werten, sich auf den angeblichen Tod der Seherin einen Reim zu machen: Kassandra hat sich zur Genüge als Seherin ausgewiesen (1295 σοφή), und der Chor glaubt ihr jetzt, daß sie sterben wird. Das Gespräch, in das er Kassandra durch seine Frage noch einmal zieht, zeigt dann aber erneut deutlich, daß der Chor keinerlei konkrete Vorstellung davon hat, wie die Seherin zu Tode kommen sollte - von seinem König Agamemnon ganz zu schweigen. Im ersten Teil der folgenden Stichomythie (1299-1304) ist Kassandras bevorstehender Tod Voraussetzung für das, was in dem Gespräch erörtert wird. Der Chor, der sich darüber gewundert hat, wie ruhig und unerschrocken die Seherin in den Tod geht (1296-1298), versucht sie zu trösten, indem er ihr Tapferkeit (1298 εύτόλμως, 1302 απ εύτόλμου φρενός) und ruhige Standhaftigkeit (1302 τλήμων) im Angesicht des Todes zuspricht und schließlich zu verstehen gibt, mit ihrem Tode werde sie κλέος erlangen (1304 εύκλεώς . . . κατθανεΐν). Dies alles setzt voraus, daß der Chor an Kassandras Tode nicht mehr zweifelt. Im zweiten Teil der Stichomythie (1305-1312) wird aber ebenso deutlich, daß der Chor noch immer keinerlei Vorstellung davon hat, wie, warum und durch wen Kassandra denn sterben sollte: Als sie zum zweitenmal vom Palast zurückschreckt und vom Mord- und Blut-, schließlich dem Grabesgeruch spricht, der aus

8.2. Der gesprochene Teil (1178-1330)

341

diesen Hadestoren (1291) hervorströme (1309 φόνον . . . αίματοσταγη, 1311), da weist der Chor nur auf die Herdopfer hin (1310) und gibt durch seine belanglose Antwort (1312) auf Kassandras Bekräftigung (1311) zu erkennen, daß er mit ihren Äußerungen gar nichts anzufangen weiß, sobald sie konkret auf das bevorstehende Geschehen weisen. Dazu paßt, daß der Chor Kassandras Hinweise auf Agamemnons Tod gänzlich ignoriert. In ihrer auf die Stichomythie folgenden Rede ist noch zweimal deutlich vom Tode des Königs und - weniger deutlich - von den Mördern die Rede (1313 f . 8 1 und - im Zusammenhang mit der Rache an Klytaimestra und Aigisth 1318f.). Noch einmal stellt Kassandra damit eine enge Verbindung zwischen ihrem eigenen und dem Tod des Königs her, eine Verbindung, die über den gegenwärtigen Tag hinausgeht und sich auch noch in der Rache des Orest zeigen wird: Frau um Frau, Mann um Mann wird fallen, Klytaimestra für Kassandras, Aigisth für Agamemnons Ermordung - so sagt Kassandra. Der Chor aber nimmt dies nicht zur Kenntnis, sondern hält sich nur an das,

81

μοίρα heißt zwar - im Gegensatz zu μόρος - auch bei Aischylos nicht nur ,Tod', sondern auch .Schicksal', doch muß in diesem Kontext jedem Hörer klar sein, was gemeint ist.

342

8. Die Kassandra-Szene

worauf Kassandr as Rede hinausläuft: Nicht aus Angst 82 erhebt sie den Wehschrei ίώ, sondern um rechtlich einen Zeugen für das an ihr verübte Unrecht beanspruchen zu können - wenn auch erst nach ihrem Tod. 83 Als eine, deren Tod unmittelbar bevorsteht, richtet sie an den Chor eine letzte Bitte (oder wie 1320 έπιξενοϋμαι im einzelnen zu verstehen sein mag). Der Chor beklagt aus Mitleid nur Kassandras Tod, den er, wenn schon nicht fassen, so doch als bevorstehend hinnehmen kann. An das, was über Agamemnons Schicksal gesagt wurde, rührt er nicht, vielmehr verschließt er sich dem, so sehr Kassandra ihren Tod als mit dem Agamemnons zusammenhängend darzustellen und ihn so dem Chor verständlich zu machen sucht. Den Abschluß dieser Szene bildet eine letzte Rhesis Kassandras, die sie als ihre eigene Totenklage (θρήνος) empfindet; sie muß ahnen, daß ihr diesen Dienst nach ihrem Tode niemand mehr wird erweisen können. Die Rede beginnt mit einem Anruf an den (alles sehenden) "Ηλιος und birgt eine ernste Schwierigkeit im Text, die - wenn überhaupt - nur sehr schwer aufzulösen ist. 82

Der Vogel hat (begründete) Furcht vor der Leimrute, die im Busch verborgen sein kann (s. FRAENKEL III 611-617), und piepst, ängstlich die Lage ausmachend, bevor er sich entschließt, in den Busch zu springen. Kassandra dagegen ist sich über ihren bevorstehenden Tod völlig klar, ihr δυσοίζειν ist daher nicht Ausdruck von Angst oder Unsicheiheit, sondern will den Chor dazu bringen, nach ihrem Tod Zeugnis über das ihr angetane Unrecht abzulegen: 1317 άλλ' ώς θανούση μαρτυρήτέ (Orelli) μοι τόδε, s. FRAENKEL III 613-615. - Siehe auch Ed. FRAENKEL: „Die Kassandraszene der Orestie", Kl. Beitr. 375-387 (zuerst 1937), hier 386 f.: »Wenn Vers 1316 wirklich den Gedanken an das Fangen des Vogels enthält, so klingt hier, kurz vor dem Verschwinden Kassandras, wiederum die rührende Vorstellung an, die den ersten Eindruck ihrer Erscheinung begleitet hatte: τρόπος δέ θηρός ώς νεαιρέτου.« Kassandra würde sich dann gegen diesen Eindruck des Chors am Beginn der Szene wenden und dagegen noch einmal ihren Mut und ihre Standhaftigkeit angesichts des gewissen Todes gegenüber der ängstlichen Unsicherheit des Vogels ob der verborgenen Gefahr betonen. 83 Zu .Notruf' und gerächte im germanischen und griechischen Recht s. FRAENKEL III 6 1 4 .

8.2. Der gesprochene Teil

(1178-1330)

343

Die sehr schwierige Passage 1323-1326 ist in jüngerer Zeit mehrfach behandelt worden; neben den Kommentaren sind jetzt die Arbeiten HENRYS, BOLLACKS und NEITZELS ZU vergleichen. 84 Das schwierigste Problem für die Syntax der Passage ist die Häufung von Dativen in 1324 f., zu denen ggf. noch 1323 ήλίω hinzukommt. HENRY schreibt - ausgehend von τους F a c - τους έμούς τιμαόρους und versteht Je demande instamment [la venue de] mes vengeurs afin que mes meurtriers abhorrés [...]". 8 S Damit seien in 1323-1326 ¿le syntaktischen Möglichkeiten von έπεύχομαι ausgeschöpft: Das Verb regiere den Adressaten der Bitte (ήλίω), das Erbetene (τους έμούς τιμαόρους) und die Person, der etwas zugewünscht wird (έχθροΐς φονεΰσι τοις έμοΐς). 86 Die Konstruktion von τίνειν bleibt jedoch vage: Da es keinen Subjektsakkusativ hat und 1325 έχθροΐς κτλ. von έπεύχομαι abhängen soll, muß es parallel zu τιμαόρους als Objekt ein Erbetenes bezeichnen, was unwahrscheinlich ist. 8 7 Ebenfalls merkwürdig wäre hier das gleichzeitige Auftreten zweier Dativobjekte verschiedener Bedeutung (Dat. der Person „zu jmd." und Dat. der Person ,Jur jmd. bitten"), da dann έπι- (in έπεύχομαι) zugleich zwei verschiedene Funktionen übernehmen müßte. - Daß BOLLACKs Deutung (derzufolge Klytaimestra und Aigisth Kassandras Mißachtung durch Agamemnon bei der Einnahme Trojas rächen) aus sachlichen Gründen unhaltbar ist, zeigt NEITZEL. 88 - NEITZEL selbst liest zunächst mit Jakob ηλίου, was nicht nur einen der Dative beseitigt, sondern auch sachlich passender ist, 8 9 und geht für έπεύχομαι von der Bedeutung jmd. etwas anwiinschen' aus. τοις έμοΐς τιμαόροις wäre ironisch aus der Sicht der Mörder (besonders Klytaimestras, die Agamemnons vermeintliche Konku84

F.-E. HENRY: „Deux emplois controversés de l'infinitif chez Eschyle", in: J. Bingen α a (Hrsgg.): Le monde grec. Hommages à Claire Préaux, Brüssel 1975, 102-114, insbes. 108 ff. - J. BOLLACK: „Le thrène de Cassandre (Agamemnon, 1322-1330)", REG 94 (1981) 1-13 - NEITZEL (1986") 280-286. es HENRY (1975) 114. 86 87 88 89

Ibid. 112. So BOLLACK (1981) e

4.

(1986 ) 281-283. Ibid. 284: »Wer jemanden zum Zeugen nimmt, richtet kein Gebet an ihn.« W E S T , Studies 217 verweist Α A auf Weils Überlegung , »that the sun witnesses crimes but does not punish them.« Außerdem ist mit ήλίω die Einbindung von προς . . . φως in die Syntax sehr locker.

344

8. Die Kassandra-Szene

bine bestrafen will)90 gesprochen, und έμοΐς verträte einen Gen. obj. (οί έμοί τιμάοροι - οί τιμωρούμενοι με); mit έχθροΐς φονεΟσι τοις έμοΐς folgte (im Sinne einer correctio) eine epexegetische Apposition zu τοις έμοίς τιμαόροις. So ergibt sich: »Vor der Sonne letztem Licht wünsche (fluche) ich denen, die sich an mir rächen, meinen hassenden Mördern, zu: büßen sollen sie an derselben Stelle (beieinander) für eine Sklavin, die jetzt (aor.) stirbt, etwas leicht zu Bewältigendes«.91 Da NElTZELs Lösung mit einem minimalen Eingriff eine sprachlich und vom Sinn her akzeptable Deutung des Textes bietet, scheint sie mir vorläufig allen anderen Deutungen faute de mieux vorzuziehen.92 Freilich ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, daß in 1323-1325 eine tiefergehende Korruptel den ursprünglichen Text nicht mehr erkennen läßt. Demnach scheint es, daß Kassandra, wie sie zuvor vor dem Chor als Zeugen die Rechtmäßigkeit der künftigen Rache an ihren Mördern durch den rechtswirksamen „Notruf' sichert (1315-1320), nunmehr vor dem alles sehenden Sonnengott ihren Mördern an ihrem letzten Lebenstag anflucht, sie möchten dereinst Vergeltung abbüßen müssen für den Tod einer Sklavin. Der Rest dieser letzten Rede Kassandras (1327-1330) ist in den Einzelheiten von FRAENKEL und seinen Vorgängern zufriedenstellend geklärt. Doch haben DENNISTON-PAGE und PAGE der alten Konjektur πρέψειεν wieder zu großer Verbreitung verholfen. Vor dieser Konjektur hatte FRAENKEL (III 620 Anm. 1, fin.) gewarnt, allerdings ohne seine Gründe zu erläutern. Wer Boissonades Konjektur αν πρέψειεν für άντρέψειεν FTr akzeptiert, wird heute (wie DENNISTON-PAGE) mit Wieseler σκιά lesen. 93 1327 f. εύτυχοϋντα μέν | σκιά τις αν πρέψειεν wird dann verstanden als »while they [sc. man's dealings] prosper, one (τις) might compare them to a shadow« (DENNISTON-PAGE a. I.). Die Bedeu90

Siehe o. S. 292 f. mit Anm. 8 und α S. 371 f. mit Anm. 25. NEITZEL (1986") 286. 92 Insbesondere solchen, die einen zwar glatten und passenden Text nur durch eine Reihe schwerwiegender Eingriffe in den Text herstellen, wie WEST wieder tut. 93 Nicht so THOMSON (II 101), der wohl schon den von ihm vermuteten Anklang an σκιαγραφία im Sinn hat Dazu FRAENKEL III 620 Anm. 1. 91

8.2. Der gesprochene Teil

(1178-1330)

345

tung .etwas (τι) mit etwas (τινι) vergleichen' hat das durchaus nicht seltene Verb πρέπειν aber sonst nirgendwo in der griechischen Literatur. Nur in einem Lemma des Photios (447,14, II p. 103 Ν. = A. frg. 439 R.) findet sich: πρέψαι· τό όμοιώσαι· Αισχύλος. Selbst wenn das Lemma zu unserer Stelle gehören sollte (was ganz unsicher ist), wäre daher größte Vorsicht gegenüber πρέψαι und zumal seiner Gleichsetzung mit όμοιώσαι geboten. Auch inhaltliche Bedenken widerraten, wie NEITZEL betont, 94 dieser Deutung, denn »der Text handelt nicht von der Gebrechlichkeit alles Menschlichen ohne Beziehung zur konkreten Situation, sondern vom Allgemeinen des einzelnen Falles Kassandra.« Daher muß dem von FRAENKEL gut erklärten Text der Handschriften in der Form σκιά τις αν τρέψειεν gegenüber dieser und anderen Konjekturen (s. FRAENKEL III 620 Anm. 1 und 2) Vorrang eingeräumt werden:95 „Weh über das menschliche Schicksal: Steht es gut, so kann ein Schatten (d. h. ein Nichts) es wenden; steht es aber schlecht, so löscht in einem Zug ein nasser Schwamm das Bild.96 Und darüber klage ich weit mehr als über jenes," sagt Kassandra.97 Nimmt man Kassandras Ankündigung ernst, bei ihren letzten Worten werde es sich um eine Art Totenklage (θρήνος) für sie selbst handeln (1322f.), so wird man sich nicht damit begnügen, in Kassandras Worten eine allgemeine Charakterisierung der Zerbrechlichkeit menschlichen Glückes zu sehen, sondern dar9 4

NEITZEL

(1986") 288 Anm. 30; von dort das folgende Zitat

THOMSONS (II 1 0 2 ) Bedenken gegen die Bedeutung von τρέπειν kann ich nicht nachvollziehen: Ein Schatten wendet im täglichen Leben freilich nichts; eben darauf beruht das Bild: Das menschliche Glück ist so prekär, daß ein beliebiges Nichts (σκιά τις) es wenden kann - zum Schlechteren, versteht sich. - Warum hier τις »unhappy* und τρέψειεν »feeble« sein soll (DENNISTON-PAGE 1 9 1 ) , verstehe ich ohne nähere Erläuterung nicht.

9 5

96

Schwämme wurden beim Malen zur Korrektur verwendet (Belege bei fin.). NEITZEL ( 1 9 8 6 " ) 2 8 8 Anm. 3 1 denkt an Schrift, was auch möglich ist Aus dem Singular γραφην läßt sich die Frage aber nicht in diesem Sinne entscheiden, vgl. z.B. Hdt 3 , 2 4 , 2 . 2 , 7 3 , 1 .

THOMSON II 1 0 2

97

Zur in den Hss. vorliegenden Sprecherverteilung, die bezweifelt wurde, s.

FRAENKEL III 6 2 3 m i t A n m . 1 u n d NEITZEL ( 1 9 8 6 " ) 2 8 6 f .

346

8. Die Kassandra-Szene

über hinaus versuchen, ihre Aussage mit ihrem eigenen Schicksal in Verbindung zu bringen. Wie FRAENKEL (III 622) im Gefolge von Peile und Conington herausgestellt hat, liegt in den Versen 1327-1330 der Gedanke 1. vom allzu leichten Fall des Menschen vom Glück ins Unglück und 2. vom Übergang vom Unglück zur vollständigen Auslöschung vor. Die Rede schließt mit der Aussage, sie (Kassandra) klage über letzteres [ταυτ(α), (2)] viel mehr als über ersteres [έκεΐνα, (1)]. Dieser Deutung stimmt jetzt offenbar auch NEITZEL zu, der zunächst gemeint hatte, mit Blick auf Kassandra seien unter der „Wendung" vom Glück zum Unglück die Einnahme und Zerstörung ihrer Vaterstadt (1156-1159, 1167-1171) gemeint, die ihr die Sklaverei gebracht haben (daß mit der völligen Auslöschung ihr jetzt bevorstehender Tod gemeint ist, kann wohl nicht zweifelhaft sein). 98 Dagegen spricht aber, daß Kassandra schon vor Trojas Einnahme Spott und Mißachtung erdulden mußte (1273 f.), so daß sie ihr Geschick, ihre πράγματα, für jene Zeit schwerlich als εύτυχοΰντα bezeichnen kann: Schon damals lebte sie nicht im Glück, sondern im Elend." Außerdem ist die Einnahme und völlige Zerstörung ihrer Heimat nach zehn Jahren Belagerung durch das bis dahin größte Heer der Welt, durch die sie in die Slaverei gerät, nicht „ein Nichts". - Es liegt daher näher, Kassandras μετάπτωσις έξ εύτυχίας εις δυστυχίαν in ihrem Verhältnis zu Apollon begründet zu sehen: Apollon hat sie, wie sie selbst zu Beginn der Szene sagt, hier in Argos zum zweitenmal vernichtet (1082). Zum erstenmal aber vernichtete er sie dadurch, daß er der von ihm selbst geschenkten Sehergabe alle Glaubwürdigkeit bei den Trojanern nahm und Kassandra so in Spott und Elend stürzte. 100 Viel eher als die mächtige Kriegs9 8

NEITZEL ( 1 9 8 6 " ) 2 8 7 f .

99

So jetzt NEITZEL (1988) 72: »Zuerst führte er [sc. Apollon] sie ins Verderben, als er ihr die Sehergabe verlieh (vgl. 1202 und 1212), denn mit ihr gewann sie nur den Spott aller Trojaner (1264. 1270-1274; vgl. auch 1195 und 1241). Dann aber führte der Vernichtergott sie zum Palast in Argos (1087), in welchem sie eines jämmerlichen Todes sterben wird (1139. 1149. 1 1 6 0 f.)«.

100

Siehe die vorige Anm.

8.2. Der gesprochene Teil (1178-1330)

347

maschinerie des Argiverkönigs kann Kassandra diese Strafe des Gottes für ihren Wortbruch als „ein Nichts" empfinden, das ihr Glück ruiniert hat: Die stille Macht des Gottes läßt sie immer an Leute geraten, die ihr nicht glauben, nicht glauben können, und sie deshalb verspotten und verachten. Der Umschwung vom Glück ins Unglück ist der von der geachteten und begehrten Königstochter zur unbeachteten Priesterin Apolls und verachteten Seherin und Wahrsagerin (1273f.)· Viel mehr aber als diesen Umschwung vom Glück ins Unglück, den sie als Folge ihres eigenen Fehlens (1212 ημπλακον) erkennt, beklagt sie die völlige Auslöschung, die den Unglücklichen treffen kann, ohne daß sein Verschwinden, seine Vernichtung irgendeine Bedeutung hätte oder als solche irgendwelche Folgen zeitigte. So kann sich die Seherin zwar damit trösten, daß die Rache für Agamemnons Ermordung faktisch auch eine Rache für die ihre ist (1279 ff.), sie ist sich aber immer klar darüber, daß ihr eigener Tod nur eine im Grunde unbedeutende Zugabe zum Tode des großen Herrschers ist (1137 το γαρ έμόν θροω πάθος ¿πεγχ+έασα·}·, 1260 f. ώς δέ φάρμακον | τεύχουσα καμοΰ μισθόν ένθησει ποτω [Auratus : κότω FTr], 1263 έμης άρωγης, vgl. 1318 ff. 1447), der unmittelbar vom Glück in den Tod stürzt, ohne selbst im Tod seine Wichtigkeit, seine Gefährlichkeit für die Mörder einzubüßen.

9.

Das „vierte Stasimon" - die Anapäste 1331-1342

Während Kassandra nach ihrer letzten Rhesis über das menschliche und damit ihr eigenes Schicksal in den Palast eintritt, erhebt noch einmal der Chor seine Stimme zu einer Betrachtung über das zu erwartende Schicksal Agamemnons. Es handelt sich um die Anapäste, die ein viertes Stasimon vertreten (1331-1342). Diese Passage bereitet im einzelnen einige Schwierigkeiten, die von den Kommentatoren ausführlich erörtert wurden. Dagegen war, wie BOLLACK-JUDET DE LA COMBE (II 306) herausstellen, die Neigung gering, die Verse in ihren unmittelbaren Zusammenhang einzuordnen und von daher zu deuten. Die Behandlungen der Einzelprobleme in der kurzen Passage lassen zumeist erkennen, daß die Annahme zugrundeliegt, der Chor sei sich aufgrund der Weissagungen Kassandras Agamemnons unmittelbar bevorstehender Ermordung sicher. 1 Auf dieser Grundlage deutet man dann 1331-1334 als Betrachtung über die Nichtigkeit menschlichen Strebens nach Wohlstand. Selten wird dabei versucht, die Beziehung zwischen diesen ersten Versen und dem folgenden zu klären. Dennoch will man immer wieder aus dieser Grundannahme Argumente für die Herstellung des Textes im einzelnen gewinnen. So weist etwa F R A E N K E L III 631 die Auffassung, daß in 1339 f. mit άλλων ... θανάτων die Rache an Aigisth und Klytaimestra gemeint sein könnte, u. a. deshalb zurück, weil dies in den Augen des antiken Publikums einen Trost bedeuten könnte, während »in this connection the fate of the king must be painted as darkly as possible; there must be no redeeming feature in his fall from the 1

Dies gilt auch für W . PÖTSCHER: „Zwei wichtige Choipartien aus dem Agamemnon des Aischylos (1331-1342 und 1560-1566) und Solons MusenElegie", GB 14 (1987) 55-86, hier 70-73. PÖTSCHER schlägt aber ein neues Verständis der Passage vor Nach 1338 άποτείσει setzt er Komma, nach 1340 έπικρανεΐ Punkt; και τοΐσι . . . έπικρανεΐ faßt er als Apodosis auf. Diese an sich sehr interessante Möglichkeit setzt allerdings voraus, daß das Futurum έπικράνεϊ (mit langem α) heil ist. Dies ist aber aus prosodischen Gründen sehr unwahrscheinlich, s.u. S. 353 mit Anm. 6.

350

9. Das „vierte Stasimon" - die Anapäste 1331-1342

pinnacle of success.« DENNISTON-PAGE urteilen: »The Chorus now clearly recognize the likelihood that Agamemnon will fall« und halten bei der Wahl zwischen Optativ und Konjunktiv in der Korrektur von 1340 έπικρανεΐ (und folglich 1338 άποτείσει) ersteren für »practically ruled out by the context, which demands that the condition should be expressed as being as likely as possible.« KRAUS2 geht noch weiter, indem er selbst den Konjunktiv des Eventualis für unmöglich hält und meint, es bleibe »nur die rein logische Form der Hypothesis, die ihr Verhältnis zur Wirklichkeit offenläßt«, weswegen er sich für άποτείσει und ¿πικραίνει ausspricht. Die Voraussetzung, auf der diese Überlegungen ruhen, scheint mir nicht gesichert zu sein. Wie ich gezeigt zu haben hoffe (s. o. S. 304 f., 308-310, 341 f.), hatte sich der Chor durchaus nicht bereit gefunden, Kassandras Weissagung von der Ermordung Agamemnons, die auch nur zu verstehen er sich so lange gesträubt hatte, zu akzeptieren. Während er der Vorhersage von Kassandras eigenem Tode offenbar schließlich Glauben schenkt (1321), glaubt er keineswegs an die Ermordung Agamemnons; vielmehr ignoriert er, nachdem er Kassandra für deren Erwähnung gerügt hatte (1247), jeden weiteren Hinweis darauf. Wie anders hätte er Kassandra sein Mitleid über ihren Tod aussprechen können (1321), ohne Agamemnons Tod, den sie zuvor gleichermaßen unmißverständlich erwähnt (1313 f.), auch nur einer Silbe zu würdigen? Während der Chor also den Gedanken, Kassandra könne zu Tode kommen, bei allem Mitleid, das er für sie empfindet, ertragen kann, obschon ihm völlig die Fähigkeit abgeht, zu erkennen, wie das denn zugehen sollte, akzeptiert er die Botschaft von der bevorstehenden Ermordung seines Königs nicht: Während er schließlich hat verstehen müssen, was Kassandra gesagt hat, glaubt er ihr in diesem Punkt bis zuletzt nicht. Die Anapäste des Chors müssen daher, wie ich denke, unter der Voraussetzung gedeutet werden, daß der Chor keineswegs davon 3

(1978) 216 Anm. 7.

Hoffnung und Furcht des Chors

351

überzeugt ist, daß Agamemnons Tod bevorsteht, daß ihm aber Kassandras Voraussage präsent ist. Anders als im Gespräch mit Kassandra stellt er sich nun diesem Gedanken, und statt ihn wie zuvor einfach beiseitezuschieben, stellt er Betrachtungen darüber an. P.A.L. GREENHALGH3 ist auf dieser Grundlage zu folgendem

Schluß gekommen: The gods granted to him [sc. Agamemnon] to take Troy, and they brought him home with honour. If now he were to pay the penalty for former offences, then indeed would no man ever be able to say that he had been born with scathless good fortune. But of course the Chorus do not really believe that Agamemnon is going to die. All they are saying is that if Cassandra's fears were realized, then that indeed would be true. But they do not believe her; and they certainly do not understand the true source of the threat to their king's life. Immerhin nimmt der Chor hier zum erstenmal zu der eindeutigen und konkreten Voraussage Kassandras Stellung, daß der Tod des Königs unmittelbar bevorsteht (1338 vöv). Dies tut er in einer Weise, die an das dritte Stasimon erinnert. Dort hatte er sich, wenn ich den schwer verständlichen Text richtig auffasse, zum erstenmal gezwungen gesehen, seine ethisch-religiösen Überlegungen zu Schuld und Unheil auf Agamemnon anzuwenden (s.o. S. 286-288), ohne jedoch einen konkreten Anlaß dafür erkennen zu können, wie Agamemnon zu Tode kommen sollte. Trotz Kassandras Voraussage hat sich daran bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht viel geändert, da der Chor weder Kassandras Darstellung des Hergangs und ihren Hinweis auf die Urheber der Mordtat verstanden hat, noch (aus ebendiesem Grunde) daran glaubt. Anders als im dritten Stasimon spielen hier ethisch-theologische Überlegungen keine Rolle. Aber ebenso wie dort erscheint es dem Chor wenig plausibel, daß Agamemnon jetzt und 3

„Cassandra and the Chorus in Aeschylus' Agamemnon", RSC 17 (1969) 253-258, hier 257 f.

352

9. Das „vierte Stasimon" - die Anapäste 1331-1342

unter diesen Umständen zu Tode kommen sollte. Schon im dritten Stasimon (984-989) hatte der Chor die Überlegung, daß die Ereignisse in Aulis weit zurückliegen und er selbst Augenzeuge der glücklichen Heimkehr des Königs war, als Trostmittel gegen seine Furcht anwenden wollen, ohne sich freilich wirklich von ihr befreien zu können. In 1335-1342 nimmt seine Überlegung einen ähnlichen Lauf, mit dem Unterschied allerdings, daß Gedanken über den Zusammenhang zwischen Schuld und Unglück hier keine Rolle spielen: Die Götter selbst, meint der Chor, haben Agamemnon die Einnahme Trojas vergönnt, von den Göttern geehrt ist er nach Hause zurückgekehrt.4 Wenn nun Agamemnon, den die Götter so sehr ausgezeichnet haben, sterben muß, wer kann dann überhaupt noch für sich in Anspruch nehmen (ich lese mit SCHNEIDEWIN, FRAENKEL, W E S T u.a. εύξαιτο), unter einem glücklichen Stern geboren zu sein? Nach dieser Darstellung des Chors ist also die Vorstellung einer bevorstehenden Ermordung Agamemnons deshalb unplausibel, weil diese einen Mann treffen würde, den gerade die Götter selbst in besonderer Weise ausgezeichnet haben. Es handelt sich also, wie ich denke, nicht um einen Gedanken, der Agamemnons Tod voraussetzt und auf dieser Grundlage pessimistische Töne anschlägt, sondern vielmehr um ein letztes Aufbäumen des Chors, der den bevorstehenden Tod Agamemnons nicht wahrhaben will und die pessimistische Wendung am Ende gerade dazu verwendet, die Hypothese, unter der sie steht, in Frage zu stellen. Mit dieser Deutung ist keiner der für die Protasis (1338-1340) erwogenen Konditionalfälle unvereinbar. Sowohl der futurische Fall des Indefinitus (εί ... άποτείσει και ... έπικρανεΐ), der praktisch

4

Der Bezug auf Klytaimestras Worte im ersten Epeisodion (343-347) ist offensichtlich: Agamemnon hat nicht nur Troja eingenommen, sondern auch εκαμψε διαύλου θάτερον κώλο ν πάλιν.

Hoffnung und Furcht des Chors

353

als überliefert gelten kann,5 aber prosodisch zweifelhaft ist 6 und daher wohl ausscheiden muß, und der Eventualis (εί . . . άποτείση καί ... έπικράνη) als auch der Potentialis erscheinen von daher als denkbar. Am angemessensten wäre im Rahmen dieser Deutung sicher der Potentialis, weswegen ich geneigt bin, mit FRAENKEL Keck zu folgen; vielleicht ist aber um der paläographischen Wahrscheinlichkeit willen mit Headlam eher έπικράνειεν als έπικράναι zu schreiben, wodurch aus dem Paroemiacus ein gewöhnlicher Dimeter würde. Hier wie bei den anderen bisher vorgeschlagenen Konjekturen werden Bedenken bleiben, da man an zwei Stellen ändern muß. Ist diese Deutung richtig, so ist von untergeordneter Bedeutung, was nach Ansicht des Chors Agamemnon etwa abbüßen sollte. Wie so oft sind die Worte des Chors (1338-1340) dunkel und lassen verschiedene Deutungen zu (vgl. die Kommentare). 1338 προτέρων αίμα ist vom Chor ebenso unbestimmt gesagt wie von Klytaimestra 346 το πημα των όλωλότων. Daß man an Klytaimestras Worte hier denken soll, scheint mir aus dem Vorigen schon deutlich geworden zu sein (s. o. S. 352 Anm. 4). Aber während man mit einiger Wahrscheinlichkeit vermuten kann, daß Klytaimestra dort vor allem Iphigenie meint, ist es weit schwieriger, zu sehen, worauf der Chor sich hier bezieht. Kaum ebenfalls auf Iphigenie, denn er hält alles aus seinen Gedanken fern, was ihn an Agamemnons Schuld in Aulis erinnern könnte, wie er überhaupt in diesen Anapästen Agamemnon zu erhöhen und jeden Schatten von ihm fernzuhalten sucht, um seine eventuelle Ermordung als unplausibel erscheinen zu lassen. Wenn man dem Chor überhaupt eine klare Vorstellung darüber unterstellen will, welche Toten er jeweils meint, so sollte man vielleicht Bambergers (zit. von B O L L A C K - J U D E T DE L A COMBE II 301 Anm. 2) s

αποτίσει FTr.

6

Daß, wie hier nötig wäre, das Futur έπικρανεϊ υ υ — (statt υ ι / y - ) gemessen werden dürfe, ist kaum glaublich, s. FRAENKEL und DENNISTON-PAGE ad 1 3 3 8 - 4 0 (anders BOLLACK-JUDET DE L A COMBE II 3 0 4 ) . Hermann ( W I L A MOWITZ, GROENEBOOM, KRAUS [ 1 9 7 8 ] ) schrieb daher έπικραίνει (unwahrscheinlich wegen des Tempuswechsels); Keck (und FRAENKEL) άποτείσαι und έπικράναι; Sidgwick (und DENNISTON-PAGE) άποτείση und έπικράνη.

354

9. Das „vierte Stasimon" - die Anapäste 1331-1342

Übersetzung folgen: »si Agamemno ... ob maiorum sanguinem et alienas caedes mortem obiturus est [bzw. obeat]«. Denn 1338 προτέρων legt nahe, an Mordtaten der vergangenen Generation, an den Tod der Kinder des Thyestes also, zu denken (BOLLACKJUDET DE LA C O M B E II 302), den Kassandra als eine wichtige Ursache für Aigisths Anteil an Agamemnons Ermordung genannt hatte (1217-1225). Diesen Hinweis könnte der Chor im Rückblick auf Kassandras kurz darauf (1246) erfolgte klare Aussage verstanden haben, ohne freilich die Identität des τελών την μηχανήν (vgl. 1253) zu erfassen. Was aber mit άλλων θανάτων gemeint ist, ist ebenfalls nicht ganz klar. FRAENKEL (III 630 f.) wendet sich dagegen, den Ausdruck als genitivus explicativus7 aufzufassen, und begründet dies vor allem damit, daß von ποινή u. ä. abhängige Genitive sonst stets .Strafe für etwas' u. ä. bedeuten. Dies scheint überzeugend; KRAUS' Einwand, es sei zweifelhaft, »ob ποινάς έπικρδναι im Sinne von τεϊσαι oder δούναι gesagt sein kann, ob es nicht einen aktiveren Sinn haben muß«,8 wiegt nicht schwer, da nur für unser Sprachgefühl Ausdrücken wie δίκην δούναι (.bestraft werden') ein aktiver Sinn abgeht. Was ist aber mit den άλλοι θάνατοι gemeint, für die Agamemnon etwa durch seinen Tod sollte Buße leisten müssen? Ich neige dazu, mich weitgehend dem Urteil B O L L A C K - J U D E T DE L A C O M B E S (II 302) anzuschließen: Les «autres morts» embrassent la mort d'Iphigénie, et, comme elle, les morts de tous les Grecs et des Troyens qui ont succombé à la suite du sacrifice d'Aulis. Le deuxième membre délimite ainsi une 7

So DENNISTON-PAGE ad 1 3 3 8 - 4 0 und nach ihnen KRAUS (1978) 216. D i e s e s

Verständnis erlaubt es, in 1339f. τοΐσι θανοΰσι θανών . . . θανάτων die Abfolge der Mordtaten an den Kindern des Thyestes, an Agamemnon, an Klytaimestra/Aigisth zu erkennen. Doch abgesehen davon, daß der Chor von Klytaimestras und Aigisths Mordplänen nicht weiß und somit nur allgemein „die (eventuellen) Mörder" meinen könnte, führt dies einen Gedanken ein, der über das gegenwärtige Interesse des Chors („Wird Agamemnon sterben?") weit hinausgeht. 8

KRAUS (1978) 2 1 6 m i t Anm. 6.

Hoffnung und Furcht des Chors

355

sphère qui tombe entièrement sous la souveraineté directe d'Agamemnon, et se distingue de la damnation ancienne. Allerdings dürfte sich der Chor nicht ohne Grund so vage ausdrücken: Jede Anspielung auf Iphigenies Opferung und auf Agamemnons Verantwortung fehlt. Der Chor denkt hier wohl nicht so sehr an Iphigenie wie an die Opfer, die mit einem Kriege immer verbunden sind, und ich halte es für wahrscheinlich, daß er Klytaimestras mehrdeutige Worte (346 f. έγρηγορός το πημα των όλωλότων | γένοιτ' αν) so verstanden hat und sie hier, wo er sich zum erstenmal mit der Möglichkeit des unmittelbar bevorstehenden Todes seines Königs befaßt, in diesem Sinne wiederaufnimmt. Der Chor wehrt also angesichts der hohen Ehrung, die die Götter Agamemnon haben zukommen lassen, den Gedanken ab, Agamemnon könne für die Mordtaten der vergangenen Generation und für weiteres 9 Blutvergießen während seiner eigenen Herrschaftszeit (etwa vor Troja) büßen müssen. Die ersten vier Verse der Partie (1331-1334) sind zwar seit langem zufriedenstellend hergestellt, ihre Funktion im näheren Kontext indessen ist nicht leicht zu erkennen. Der Gedanke selbst ist aus dem dritten Stasimon vertraut: Wohlstand hat in sich kein Maß, sondern ist auf ständige Mehrung angelegt. In der zweiten Strophe des dritten Stasimon (1001-1017) war, soweit der Zustand des Textes eine Deutung zuläßt, beschrieben worden, wie der πότμος εύθυπορων, der Wohlstand, der kein Maß und keine Grenze kennt, in der Gefahr schwebt, an eine unsichtbare Grenze zu stoßen, an der er in sein Gegenteil, den Mangel, umschlägt. Als Gegensatz dazu war „das Geschenk des Zeus, reichlich und aus alljährlichen Furchen stammend" als sicherere und beständigere Quelle des Lebensunterhalts erschienen, die dem Mangel 9

FRAENKELS (III 631) Bedenken gegen άλλων halte ich nicht für gerechtfertigt Das Wort unterscheidet das Blutvergießen der vergangenen Generation innerhalb des Geschlechts von dem der jetzigen Generation im Rahmen des Krieges, das „noch hinzukommen" könnte.

356

9. Das „vierte Stasimon" - die Anapäste 1331-1342

abhelfen kann. Demgegenüber ist der Gedankengang an unserer Stelle in bemerkenswerter Weise verschoben. Zunächst fällt auf, daß in 1331-1334 jeder Hinweis auf die Gefährlichkeit eines ohne festes Maß anwachsenden Wohlstandes fehlt. Allenfalls kann man aus den unmittelbar voranstehenden Worten Kassandras (1327 f. εύτυχοΰντα μεν | σκιά τις αν τρέψειεν) den Gedanken der Unbeständigkeit eines solchen Wohlstandes supplieren. Der Chor scheint also in den ersten Versen seiner Anapäste gegenüber Kassandras Worten konstatieren zu wollen, daß, bei aller Vergänglichkeit menschlichen Reichtums, bei aller Gefährdung, der er durch die Wechselfälle des Schicksals ausgesetzt ist, Streben nach Wohlstand, nach immer mehr Wohlstand, eine Grundkonstante menschlichen Lebens ist: Niemand verwehrt, wenn er ein gewisses Maß an Wohlstand erreicht hat, weiterem Reichtum den Zugang in sein Haus. Was aber ist der Sinn dieser einleitenden Worte? FRAENKEL und DENNISTON-PAGE (ad 1335) nehmen an, mit 1335 καί τωδε würden diese allgemeinen Gedanken auf Agamemnon angewendet. Agamemnons Tod erschiene dann als ein Beispiel für die von Kassandra ausgesprochene Erfahrung, daß der Glückliche durch ein Nichts ins Unglück geraten kann. In den Worten des Chors dagegen ist der Gedanke der Unbeständigkeit menschlichen Glücks, den er selbst im dritten Stasimon mit dem Bild des gerade dahinsegelnden πότμος, der auf ein verborgenes Riff aufläuft, formuliert hatte, nicht mehr aufgenommen. Auch ist nicht leicht zu sehen, welche Bedeutung dieser Gedanke für Agamemnons Schicksal haben könnte. Denn wie immer man Agamemnons Handeln deuten will, kaum handelt er aus einem Streben nach Reichtum oder gar aus Habgier.10 Zudem fügt der Chor selbst in 1335 ff. καί τωδε einen Gedanken an, der die Anwendbarkeit des Gedankens von der Unbeständigkeit des von Menschen erstrebten und aus eigener Initiative erworbenen Reichtums auf Agamemnons Fall eher zweifelhaft macht, als daß sie das Schicksal des 10

So KRAUS (1978) 214.

Hoffnung und Furcht des Chors

357

Königs als »an illustration of the general rule« ( D E N N I S T O N - P A G E ad 1335) erscheinen ließe: Nicht Agamemnon hat nach der Darstellung des Chors an dieser Stelle nach Wohlstand gestrebt, vielmehr haben ihm die Götter selbst gegeben, „die Stadt des Priamos einzunehmen", und „von den Göttern geehrt ist er nach Hause gekommen". Der Blickwinkel hat sich verschoben: Hatte Kassandra allgemeiner von menschlichem εύτυχεΐν gesprochen und dessen Unbeständigkeit beklagt, so erkennt der Chor darin nur den Wohlstand eines Hauses, den er im dritten Stasimon thematisiert hatte, ohne freilich wie dort die diesem innewohnende Gefahr noch zu erwähnen. Stattdessen stellt er Agamemnons, wie er meint gottgegebenen, Erfolg heraus. Dies gibt ihm Gelegenheit, den Gedanken abzuwehren, Agamemnons Tod stehe bevor: Wenn Agamemnon, von den Göttern so hoch geehrt, von den Göttern selbst sicher nach Hause geleitet, jetzt frühere Bluttaten und „andere Tode" durch seinen Tod abbüßen müßte, welcher Mensch kann sich dann überhaupt noch rühmen, von einem schlimmen Schicksal verschont zu bleiben? - Ebendeshalb ist es nicht plausibel, daß ein Mann wie Agamemnon jetzt so sterben sollte. Dabei drängt der Chor Agamemnons persönliche Schuld völlig zurück, oder reißt sie allenfalls wenig konkret mit 1339 f. άλλων ... θανάτων an. 1 1 Dies paßt ganz zu der Darstellung, die er uns in dieser Passage von Agamemnon geben will. Sein Versuch, sich Agamemnons Tod, von dem Kassandra als von einer unvermeidlichen Tatsache der unmittelbaren Zukunft gesprochen hatte (1248), als unplausibel, ja geradezu der göttlichen Ordnung ent11

Wenn daher KRAUS (1978) 215 bemerkt: »Fraenkel verschiebt die Dinge ein wenig, wenn er ευ πράσσειν durch success ersetzt, und er unterdrückt das Motiv der Schuld«, so überzeugt zwar FRAENKELS Versuch, in 1331-1342 eine geradlinige Gedankenführung im Sinne einer auf Agamemnons Schicksal angewandten allgemeinen Maxime zu erkennen, auch mich nicht Andererseits liegt aber bereits in den Worten des Chors selbst die Verschiebung von ευ πράσσειν auf ,Erfolg' (Πριάμου πόλιν έλεΐν), und das »Motiv der Schuld« wird bereits vom Chor selbst geflissentlich ignoriert.

358

9. Das „vierte Stasimon" - die Anapäste 1331-1342

gegengesetzt erscheinen zu lassen, läßt keinen Raum für eine Reflexion über Agamemnons Taten. Der bloße Gedanke daran, müßte dem Chor seine Überzeugung vom Zusammenhang zwischen Schuld und Unglück zurückrufen, und ihn damit - ähnlich wie im dritten Stasimon - in tiefe Beunruhigung und Angst zurückversetzen.

10. Agamemnons Tod - die Unschlüssigkeit des Chors Kaum hat der Chor seine Anapäste beendet, werden seine Betrachtungen durch Agamemnons Todesschrei widerlegt. Der Ausruf σίγα, den wohl der Chorführer ausstößt,1 erlaubt die Vermutung, daß der Chor durch Agamemnons Schrei geradezu unterbrochen wird. Die folgende Szene, für deren Einzelheiten ich auf FRAENKEL verweise, zeigt den Chor in völliger Inaktivität: Seine Debatte führt zu keinerlei Ergebnis und hat keinerlei Folgen. Wie FRAENKEL (III 642-644) herausgestellt hat, genügt zur Erklärung dieses Umstandes nicht der Verweis auf eine dramatische Konvention, nach der von einem tragischen Chor keine Initiative erwartet werden dürfe.2 Auch sollte man nicht die Selbstcharakterisierung des Chors im anapästischen Teil der Parodos (72-82) als hinreichende Erklärung für das Verhalten des Chors an unserer Stelle betrachten,3 das auch dem athenischen Publikum unangemessen und bis zu einem gewissen Grade lächerlich erschienen sein muß. Gewiß war es unmöglich, die Greise, die schon vor zehn Jahren kampfuntauglich waren, mit Waffengewalt in die Handlung eingreifen zu lassen; doch nichts als die Absicht, einen Charakterzug dieses Chores besonders scharf herauszustellen, konnte Aischylos bewegen, eine Szene zu gestalten, in der sich der Chor in einer fruchtlosen Debatte erschöpft, die schließlich ohne jedes Ergebnis bleibt. Um dies zu sehen, genügt es, sich die Schlußszene des Agamemnon' (1577-1673) in Erinnerung zu rufen. Zwar ist es nicht glaublich, daß der Chor dort gegen Aigisth das Schwert zückt; dieser Chor trägt keine Schwerter.4 Doch ist es bemerkenswert, wie energisch und selbstsicher er dort wenigstens verbal gegen Aigisth vorgeht und in seiner Ent1

Zur Aufteilung der nun folgenden Szene unter die verschiedenen Sprecher s . FRAENKEL III 6 3 3 - 6 3 5 .

2

So noch

3

So

4

Sieheu. S. 418 mit Anm. 149.

GROENEBOOM

LLOYD-JONES

ad

1343-1345.

in seiner Übersetzung (1970) zu 1343.

360

10. Agamemnons Tod - die Unschlüssigkeit des Chors (1343-1371)

schlossenheit so weit geht, daß es zu einem Blutbad gekommen wäre, wenn nicht Klytaimestra ein bewaffnetes Vorgehen Aigisths schließlich verhindert hätte. Ganz anders hier: Nach dem zweiten Schrei Agamemnons (1345) äußert wahrscheinlich der Chorführer die Vermutung, die Untat (τουργον, sc. die Ermordung Agamemnons) sei geschehen, und regt eine gemeinsame Beratung an (1346 f.). Daraufhin äußern die zwölf Choreuten, deren letzter vielleicht wieder der Chorführer ist, ihre Meinung. Die ersten beiden sprechen sich für eine je verschiedene Form von Aktion aus: Während der erste (1348 f.) einen Notruf an die Bürger empfiehlt, schlägt der zweite (1350 f.) vor, sofort in den Palast zu stürmen, um den Mörder noch sozusagen auf frischer Tat zu ertappen.5 Die nächsten drei (13521357) zeigen schon deutliche Zeichen der Unentschlossenheit und Säumigkeit: Wer sich dafür ausspricht, „etwas zu tun" (1352f.), ist säumig gegenüber dem, der etwas Bestimmtes zu tun vorschlägt (1348 f., 1350 f.), ebenso derjenige, der die mißliche Situation im Augenblick der Krise nur analysiert (1354 f.) oder das eigene Säumen im Gegensatz zum Handeln des Gegners vielleicht beklagt, vielleicht nur konstatiert (1356f.). Der Umschwung in der Meinung des Chors kündigt sich ab 1358 f. an, wo der sechste und siebente Choreut - im Anschluß an den fünften zu Bedenken geben, Handeln setze kluge Beratung voraus - der siebte mit der Begründung, daß angesichts der Tatsache, daß der König tot ist, ohnehin keine unmittelbare Aussicht auf wirksames Handeln bestehe. Dies freilich erregt noch einmal Widerstand, da die ganze bisherige Debatte sich ja nicht darum drehte, ob und wie man gegebenenfalls noch Agamemnons Leben retten könnte, sondern ob und wie das Gelingen des offenbar in Angriff genommenen Umsturzes und die Errichtung einer Tyrannis zu verhüten sei. Der achte und der neunte Choreut lehnen es ab, sich einem Tyrannen zu beugen und ziehen diesem Schicksal selbst den Tod s

In beiden Fällen sicher nicht in der Hoffnung, Agamemnon so retten zu können, sondern um die Täter zu stellen und die Errichtung einer Tyrannis zu verhindern.

Die folgenlose Debatte des Chors angesichts der unklaren Situation

361

vor. Dies ist bekanntlich eine Haltung, die der Chor auch später in seinem Redeagon mit Aigisth beibehält (1633, 1649-1653). Von einer möglichen Verhinderung oder Beseitigung einer Tyrannis ist freilich nicht mehr die Rede, und so bleiben auch diese Einwürfe ohne jegliche Bedeutung für ein mögliches Eingreifen. Im letzten Abschnitt der Debatte schließlich (1366-1371) zweifeln Choreuten sogar noch einmal, zum endgültig letzten Male in dieser Tragödie, daran, daß Agamemnon überhaupt zu Tode gekommen ist: Man einigt sich offenbar6 in dem Empfinden, keine sichere Kenntnis von dem, was im Palast geschehen ist, und damit keine hinreichend fundierte Handlungsgrundlage zu haben. Man beschließt daher, abzuwarten, bis man Näheres darüber erfahren hat, wie es um Agamemnon steht (1371). Der anscheinende Widerspruch zwischen dem zögerlichen Verhalten des Chors in dieser Szene und seinem energischen Auftreten gegenüber Aigisth am Ende des Stückes scheint mir in der Unterschiedlichkeit der beiden Situationen zu liegen: Am Ende des Stückes sind die Situation und die Fronten völlig klar; allenfalls in der Bewertung des Geschehenen kann es Zweifel geben. Der Chor handelt daher, soweit Aktion seine Sache sein kann, geradlinig und konsequent, indem er Aigisth in offener Feindseligkeit Vorwürfe entgegenschleudert. Dasselbe gilt auch bereits für weite Teile der Auseinandersetzung mit Klytaimestra. Hier dagegen kann die Situation wenigstens einem Hoffenden unklar erscheinen. Gewiß, es waren Schreie aus dem Palast zu hören, die von Kassandra vorausgesagte Mordtat an Agamemnon schien begangen zu sein (1346). Doch Sicherheit über das Geschehen hat der Chor nicht, er kann wohl vermuten, nicht aber sicher wissen, was geschehen ist. Er weiß nicht, wer die Täter sind, wiewohl auch er inzwischen eine naheliegende Vermutung haben 6

Damit soll für die Bedeutung des schwierigen πληθύνομαι (1370) nichts präjudiziert werden (dazu FRAENKEL und DENNISTON-PAGE a . I ) . Doch ist es wahrscheinlich, daß die schließlich unwidersprochene Meinung, die sich in den Worten der letzten drei Choreuten ausspricht, als diejenige erscheinen soll, zu der der Chor insgesamt gekommen ist

362

10, Agamemnons Tod - die Unschlüssigkeit des Chors (1343-1371)

muß. Schließlich kann sich der Chor sogar einreden, es sei nicht sicher, ob Agamemnon tot sei, und der zehnte Choreut gibt ebendies in vorwurfsvollem Ton zu bedenken (1366 f.). Die Situation kann in dieser Weise unklar erscheinen, die Reaktion des Chors gegenüber dieser unklaren Situation ist entsprechend verworren. Mir drängt sich ein Vergleich zum ersten Stasimon auf: Dort hatte der Chor, von der Einnahme Trojas durch die suggestive Rede Klytaimestras völlig überzeugt, ein Danklied an Zeus und die (vergangene) NACHT angestimmt, das sich zu einer Betrachtung über die Ursachen sowie die Bedeutung des Krieges für Argiver und Trojaner ausgeweitet hatte. Bis gegen Ende des Liedes standen seine Betrachtungen unter der Voraussetzung der Einnahme Trojas. Dann aber wendet er sich auf die Grundlage der Nachricht von der Einnahme Trojas, auf das Feuerzeichen zurück, erkennt sie als unsicher und zieht die Nachricht von dem Geschehen wieder in Zweifel. In dieser einen Hinsicht ist das erste Stasimon analog zur Debatte des Chors nach den Schreien Agamemnons: Während zunächst die Worte der Choreuten, ihre Beratung über das, was zu tun sei, nur auf der Grundlage der Annahme des Todes Agamemnons bestehen können, sie aber wegen der für sie unklaren Situation im Palast zu keinem Ergebnis kommen, ziehen sie zuletzt wieder das „nur" aus Agamemnons Schreien erschlossene Geschehen selbst in Zweifel. Die alten Männer, gewohnt, in Abwägung aller wißbaren Sachverhalte eine Lage zu beurteilen und (das dürfen wir voraussetzen) dann ihren Rat denen zu geben, die handeln können (s. 104-106), sind mit der gegenwärtigen Situation überfordert. Sie handeln, soweit das ihre Sache ist, erst wieder, nachdem Klytaimestra ihnen das Geschehen erläutert hat. Von diesem Zeitpunkt an treten sie in energische Opposition zu den Tyrannen.

11.

Schuld und Mordmotive in den Szenen nach Agamemnons Tod - die Gründe für den Tod Agamemnons

11.1. Die Auseinandersetzung des Chors mit Klytaimestra Nachdem der Chor sich nach langer fruchtloser Beratung schließlich zu der Entscheidung „durchgerungen" hat, erst einmal Genaueres darüber in Erfahrung zu bringen, wie es um Agamemnon steht, wird ihm unmittelbar darauf eine genaue, in Einzelheiten gehende Aufklärung von Klytaimestra zuteil. In dieser Szene (und in der Schlußszene, in der Aigisth auftritt) werden Fragen aufgeworfen und Antworten gegeben, die für das Verständnis der Tragödie unerläßlich sind: Warum mußte Agamemnon sterben? Welche Motive hatten seine Mörder? Wie ist das frühere Unglück, die früheren Frevel des Pleistheneshauses mit seinem Schicksal verknüpft? Und welche Rolle spielt im Zusammenhang mit seinem Tode der Rachedaimon (δαίμων άλάστωρ) des Hauses, von dem so ausführlich die Rede ist? Klytaimestra tritt auf, oder vorsichtiger: wird sichtbar1 und zeigt nun ihr wahres Gesicht; triumphierend spricht sie von ihrem lange gehegten und nun endlich ausgeführten Mordplan. Den Mord stilisiert sie als Opfer an Ζεύς2 νεκρών (!) σωτηρ (1387), womit, wie mir scheint, implizit bereits ihr Hauptmotiv für den Mord, 1

Zu den bühnentechnischen Fragen s. neben den Kommentaren (bes. FRAENIII 644) TAPLIN (1977) 322-327. Nicht ganz klar ist die Lokalisierung der Szene (gespielt wird sie auf der Skene, nicht im Bühnenhaus, s. TAPLIN [1977] 325). Aus Klytaimestras Bemerkungen geht hervor, daß sie im Bad neben den Erschlagenen zu denken ist (s. 1379 εστηκα δ' ενθ' επαισ' und FRAENKEL III 644); andererseits ist der Chor offenbar nicht im Palast ( T A P LIN 323-325). Die Frage der Lokalisierung der Szene ist aber vielleicht müßig; es gibt Anzeichen dafür, daß eine Theatelkonvention es erlaubte, dies in der Schwebe zu belassen (TAPLIN 326 mit Anm. 2). Die Frage nach der technischen Durchführung ist dagegen zwar theatergeschichtlich höchst interessant, berührt aber die Deutung nicht. Zum Text FRAENKEL und DENNISTON-PAGE a. I. Engers Konjektur scheint mir nicht zweifelhaft. KEL

2

364

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

Iphigenies Opferung, anklingt.3 In dem daraufhin sich mit dem Chor entspinnenden Streit führt sie dies als Mordmotiv noch mehrere Male, zum Teil mit äußerster Bitterkeit, an: am Ende ihrer ersten Rede gleich darauf (1397 f. 4 ), dann 1417 ff., 1432ff. (μα την τέλειον της έμής παιδός Δίκην | "Ατην Έρινύν θ', αισι τόνδ' focpcff εγώΊ. 1521-1529 (Text unsicher) und 1555 ff. (ironisch-sarkastisch) . Daneben nennt Klytaimestra weitere Motive und Rechtfertigungsgründe: Agamemnons Ehebruch vor Troja (1438 f., mit Anspielung auf die Ilias) und (in einem Atemzug damit) vor allem den (vermeintlichen) Ehebruch mit Kassandra, der zugleich (und anscheinend als einziges Motiv) zur Rechtfertigung des Mordes an der Seherin herhalten muß (1440-1447). - Schließlich macht Klytaimestra auf Anstoß des Chores (1468), zugleich aber in Widerspruch zu ihm,5 den von Atreus herrührenden Rachedaimon mit ausdrücklichem Bezug auf die Cena Thyestea - für Agamem-

3

Der Anklang an Iphigenies Opferung in der Parados wird in der Literatur selbst da, wo 1 3 8 7 Διός νεκρών σωτηρος behandelt wird (FRAENKEL nennt 245 f. nur als Parallele) nicht nachdrücklich genug herausgestellt: Wie der Chor dort das Bild beschwört, wie Iphigenie, jetzt geknebelt, vormals den τριτόσπονδος (die dritte Spende galt Ζευς σωτηρ, s.o. S. 142 Anm. 213) εΰποτμος παιών beim Gastmahl ihres Vaters durch ihre Stimme ehrte, so spendet nun Klytaimestra dem Ζεύς σωτηρ der Unterwelt den dritten Streich, die dritte Blutspende. * Mit άραΐα (oder κακά άραΐα, zum Bezug von άραίων s. FRAENKEL ad 1 3 9 7 und DENNISTON-PAGE ad 1 3 9 5 - 8 ) kann hier m.E. nur Iphigenies Opferung gemeint sein. FRAENKEL meint zwar. »Agamemnon has in his house (and for his house) filled a mixing bowl of evil and woe because he slaughtered his daughter and ruined his wife's life«; doch das zweite (selbst wenn es aus Klytaimestras Sicht zutrifft) ist schwerlich άραΐον. Was immer aber Klytaimestra mit den (κακά) άραΐα meint, der Fluch des Thyestes oder eine andere άρά, die aus einer ,Erbschuld' resultiert, kann es nicht sein: Dies wird durch πλήσας ausgeschlossen, womit klar auf Agamemnons eigene Taten verwiesen ist. s Besonders deutlich wird der Widerspruch, wenn man 1495 mit Enger und FRAENKEL δαμείς lesen darf; s. FRAENKEL ad 1495 f.

11.1. Die Auseinandersetzung

Chor-Klytaimestra (1372-1576)

365

nons Tod verantwortlich, wodurch sie sich gänzlich zu entlasten hofft (1497-1504).6 Aigisth endlich führt als Motiv und zugleich Rechtfertigung ausschließlich Atreus' Greueltat an den Kindern seines Bruders, Aigisths Vaters, Thyest ins Feld (1577-1611). Anders als Klytaimestra spricht er aber nicht ausdrücklich von einem Rachedaimon, sondern vielmehr von einem Fluch seines Vaters Uber das Geschlecht des Pleisthenes,7 den er als unmittelbare Ursache für Agamemnons Tod (s. 1603) anzusehen scheint. Hier wie in Behandlungen der Entscheidung Agamemnons in der Parodos wird nicht selten die Auffassung vertreten, bei dem Zusammenwirken verschiedener Ursachen und Motivationen handle es sich um »die rational einander ausschließenden Alternativen 'gottverhängtes Schicksal - volle menschliche Verantwortung1«,8 in deren Unvereinbarkeit gerade die Tragik der Aischyleischen Dramen liege. Daher ist nun das fünfte Epeisodion und die Schlußpartie des Agamemnon' daraufhin zu untersuchen, wie die Gründe für Agamemnons Tod und die Verantwortlichkeiten der handelnden Personen von den verschiedenen Parteien (Chor, Klytaimestra, Aigisth) im Rückblick beurteilt werden und ob dies mit der von mir oben in der Behandlung der Parodos9 vetretenen Annahme vereinbar ist, die Entscheidung Agamemnons, seine Tochter zu opfern und nach Troja zu ziehen, sei nicht die einzig und nicht die bestmögliche gewesen. Wie auch sonst, können die Worte keiner der dramatis personae ohne Prüfung für bare Münze genommen werden; doch steht zu erwarten, daß der Chor sich nun, nach dem Tode seines Königs, weniger als zuvor (zumal in der Kassandra-Szene) den wahren Sachverhalten verschließen und damit zu einem richtigeren Urteil kommen wird. β

7 8

9

Es handelt sich daher auch nicht um ein Motiv Klytaimestras; s. u. S. 377397, bes. 384-387. Dazu FRAENKEL ad 1569. So H. HOMMEL: „Schicksal und Verantwortung. Aischylos' >Agamemnon< 1562", Wege zu Aischylos II 232-263, hier 233 (Originalbeitrag 1971). Siehe o. S. 133-140.

366

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

Nachdem sich Klytaimestra also in ihrer ersten Rede (1372-1398) in drastischer Weise des Mordes gerühmt und gegen Ende (1397 f.) die Gründe für ihre Mordtat angedeutet hat - von Agamemnon selbst begangene Untaten, in erster Linie wohl die Opferung Iphigenies10 - , reagiert der Chor zunächst mit einer scharfen Zurechtweisung auf Klytaimestras prahlerische Behauptung, sie selbst habe Agamemnon ermordet. Dieser Ton liegt in 1399 θαυμάζομεν und θρασύστομος: Die Alten empfinden es als Anmaßung, daß Klytaimestra so von einem Mann, ihrem Gatten (επ άνδρί) spricht. Zugleich aber liegt noch immer eine gewisse Ungläubigkeit in ihren Worten. Zwar hat der Chor die Leiche Agamemnons offenbar vor Augen (1404 ούτος), doch nach wie vor ist es für ihn unfaßlich, daß eine Frau (und gar die eigene Gattin) den großen Feldherrn ermordet haben soll. Seine scharfen Worte gegenüber Klytaimestra beziehen sich daher auch zunächst nicht etwa auf die Ungeheuerlichkeit der Tat, die der Chor Klytaimestra noch nicht recht zutraut, ja fast abspricht, sondern auf die Ungeheuerlichkeit und Frechheit dessen, was sie sagt (1399f. γλωοσαν, θοασόοτομος. τοιόνδ' ... κομπάζεις λόγον). was sie von sich behauptet (κομπάζεις). Klytaimestra empfindet dies als Herabsetzung: Wie auch an anderen Stellen des Stücks 11 wehrt sie sich scharf dagegen, als

10 11

Siehe o. S. 364 Anm. 4. 275, 277, 348, 587-593.

11.1. Die Auseinandersetzung

Chor-Klytaimestra

(1372-1576)

367

γυνή άφράσμων mißachtet zu werden. 12 Zugleich stellt sie noch einmal mit betonter Überlegenheit und Geringschätzung gegenüber dem Chor (1403 f.) ihre Tat in gesuchter Prägnanz und scharfer Pointierung mit besonderer Betonung ihrer eigenen „Leistung" heraus: „Dies ist Agamemnon, mein Gatte, tot ist er, ein Werk dieser rechten Hand, eines gerechten Handwerkers. So ist das." (1404-1406). Damit übernimmt sie die volle Verantwortung für die Tat (von Aigisth ist noch keine Rede), die sie als gerecht hinstellt (1406). Der Chor, für den das Geschehene so unfaßbar ist, daß er sich die Tat nur als im (durch φάρμακα verursachten) Wahnsinn 13 begangen denken kann, stellt Klytaimestra vor Augen - es handelt sich zunächst nicht so sehr um eine Drohung - , daß die Folge dieser Tat Verbannung sein muß (1407-1411). Dies gibt der Mörderin Gelegenheit, sich zum erstenmal ausführlich zu rechtfertigen (1412-1425): Sie antwortet auf die Vorstellungen des Chors mit dem Verweis auf Iphigenies Opferung durch Agamemnon und wirft dem Chor vor, mit zweierlei Maß in vergleichbaren Fällen zu messen: Hätte er nicht (auch, eher) seinen König aus dem Lande treiben müssen (1414-1421)? Diese naheliegende „Rechtfertigung" ist zwar allein noch kein hinreichender Beleg 12

Zum von Klytaimestra und ihrer Umgebung an vielen Stellen stark betonten „männlichen" Charakter der Königin s. RP. WINNINGTON-INGRAM: „Clytemnestra and the vote of Athena", Studies 101-131 [mit geringfügigen Veränderungen übernommen aus JHS 88 (1949) 130-147], zum fünften Epeisodion und der Schlußszene mit dem Auftritt Aigisths besonders 108-114. Wohl zu stark betont allerdings das Streben Klytaimestras nach persönlicher Freiheit als Motiv für den Mord an Agamemnon: »She hated Agamemnon, not simply because he had killed her child, not because she loved Aegisthus, but out of a jealosy that was not a jealosy of Chiyseis or Cassandra, but of Agamemnon himself and his status as a man. [...] Thus, when she kills her husband, it is not only an act of vengeance, but also a blow struck for her personal liberty« (Studies 105). WINNINGTON-INGRAM bestreitet deshalb aber nicht die Bedeutung der anderen genannten Motive (s. Studies 110).

13

Daß Wahnsinn gemeint sein muß, ergibt sich insbesondere auch aus der Erwähnung von φάρμακα; für das schwierige Wort θύος soll nichts präjudiziert werden; s. dazu die Kommentare.

368

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

dafür, daß Iphigenies Opferung wirklich ein Grund Klytaimestras war, ihren Gatten zu töten. Die Art freilich, wie sie von Iphigenie und ihrem Tode spricht, macht deutlich, wie sie die Tat Agamemnons nicht nur mißbilligt, sondern von ihr auch verbittert und in Haß gegen ihren Mann versetzt ist. Sie stellt dabei die Maßlosigkeit und Unangemessenheit dieses Opfers (1415-1417) und das Mißverhältnis zu dem dadurch erlangten Gut (1418), zugleich aber das Leid und die Verletzung, die ihr selbst dadurch zugefügt wurden (1417 f. φιλτάτην έμοί | ώδΐν[α]), scharf heraus: „[Agamemnon,] der ohne besondere Wertschätzung, als handle es sich um den Tod eines Stücks Vieh von den Schafen, die in schönwolligen Herden im Überfluß vorhanden sind, sein eignes Kind opferte, meine heißgeliebte Leibesfrucht, als Zauber gegen thrakische Winde." FRAENKEL (a. I.) hat die einleuchtende Vermutung geäußert, daß in 1418 έπωδόν »a slightly depreciatory flavour« liegen könnte. 14 In der ganzen Formulierung liegt der auch vom Chor mehrfach geäußerte Vorwurf, daß das Opfer in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem dadurch erreichten Ziel steht. Für den Chor war das Kriegsziel suspekt (s. z.B. 62 πολυάνορος άμφί γυναικός, 448 αλλότριας διαί γυναικός, 800 'Ελένης ενεκ' und bes. 223-227 έ'τλα δ' ούν θυτηρ γενέσθαι θυγατρός, γυναικοποίνων πολέμων αρωγαν και προτέλεια ναών). Klytaimestras Vorwurf klingt deutlich an die Stelle 223 ff. an (vgl. 1418 έπωδόν Θρηκίων άημάτων mit 227 προτέλεια ναών). Daß sie nicht von der πολυάνωρ γυνή spricht, ist verständlich; stattdessen minimiert sie, indem sie von dem Feldzug nicht spricht, den Anlaß für das Opfer. - Schließlich droht sie dem Chor und macht deutlich, daß sie sich einer Verurteilung durch das Volk (vgl. 1409 ff.) nicht stellen, sondern nur durch Gewalt bezwingen lassen will, und bereit ist, mit Gewalt dagegenzuhalten (1421-1425). Der Chor hält diese Worte für aus dem Wahnsinn der Bluttat geboren und stellt der Königin erneut Strafe für ihr Vergehen in 14

Daß auf Θρηκίων dasselbe zutrifft (»barbarian winds, which had to be soothed by the sacrifice of a Greek king's daughter«), kann ich allerdings nicht glauben.

11.1. Die Auseinandersetzung

Chor-Klytaimestra

(1372-1576)

369

Aussicht - diesmal nicht Exil, sondern gewaltsamen Tod, 1 5 den er ihr mit den Worten (ετι σε χρή) τύμμα τύμμα τεΐσαι (1430) eindringlich ankündigt. Klytaimestras folgende Rede (1431-1447) ist von zentraler Bedeutung für die Beurteilung der Gründe, die sie dazu veranlaßt haben, ihren Gatten zu töten. Klytaimestra stellt noch einmal im Zusammenhang die Rechtfertigung für ihre Tat dar und klärt uns - in Antwort auf die neuerliche Drohung des Chores - aus ihrer Sicht über die Rolle Aigisths auf. Dabei knüpft sie mit 1431 και τήνδ' άκούεις 16 . . . θέμιν ausdrücklich an ihre vorige Rede an. Zugleich aber antwortet sie wieder unmittelbar auf die vom Chor wiederholt ausgesprochene Drohung, indem sie auf den Schutz verweist, den Aigisth ihr bietet. Diese Bekräftigung ihrer durch Aigisth gesicherten Stellung leitet sie ein mit einem Anruf an die τέλειος Δίκη "Ατη Έρινύς τε ihres Kindes Iphigenie (1432f.). τέλειος scheint mir hier nicht accomplished zu heißen, wie FRAENKEL in seiner Übersetzung wiedergibt. Angesichts von αΐσι τόνδ' εσφαξ' έγώ scheint es nicht sehr angemessen, bereits von einer »Justice accomplished for my child« (so FRAENKELs Übersetzung) zu sprechen. Prägnanter wird die Formulierung, wenn man τέλειος als .bringing fulfillment' (= τελεσφόρος 17 ) versteht: Klytaimestra stellt den Mord an Agamemnon als Opfer an die Δίκη τέλειος (und die "Ατη und die Έρινύς) ihrer Tochter dar; τέλειος ist sie insofern, als sie die Rache an Agamemnon zugleich anstößt DAUBE (1939) 179 eiklärt die Tatsache, daß der Chor zunächst von Verbannung, dann aber von Tötung (τύμμα) spricht, recht einleuchtend damit, daß nach attischem Recht Blutbuße erfolgen muß, wenn der Mörder (wie Klytaimestra) nicht außer Landes geht.

1 5

16

Zu άκούεις und den damit verbundenen Problemen treffen die Meinungen FRAENKELS ad 1431 και τηνδε (in der Folge Hermanns) und THOMSONS ad 1431 (in der Folge Headlams) aufeinander. DENNISTON-PAGE α. I. halten einerseits einen Imperativ für »urgently required«, setzen aber dennoch (wie noch PAGE) άκούεις in den Text. Die Frage, ob der überlieferte Text zu halten ist, ist indessen für unsere Behandlung weniger wichtig.

17

Auf diese Bedeutung von τέλειος macht FRAENKEL ad 1432 τέλειον selbst aufmerksam (vgl. auch FRAENKEL ad 9 9 7 τελεσφόροις).

370

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

und zur Vollendung bringt - zumindest in den Augen Klytaimestras. Damit verweist die Mörderin auf ein wichtiges ihrer Tatmotive und auf eine Rechtfertigung, die sie für ihr Handeln vorbringen kann. Zugleich hebt sie mit 1433 εγώ (am betonten Versende) stark ihre eigene „Leistung" und damit Verantwortung hervor. Unmittelbar aber dient der Anruf zur Einleitung der Worte, mit denen sie dem Chor deutlich zu machen sucht, worauf sich ihre zuversichtliche Haltung gegenüber dem Chor und dem Volk gründet: 1 8 auf Aigisth, der ihr (ώς τό πρόσθεν, wie sie sagt) wohlgesonnen ist: „Die Έλπίς (Hoffnung/Erwartung), setzt mir keinen Fuß ins Haus der Furcht, 19 solange das Feuer auf meinem Herd Aigisth entfacht, der mir wie zuvor wohlgesonnen ist. Denn er ist uns ein nicht geringer Schild für unsere Zuversicht" (1434-1437). Mit diesen Worten weist Klytaimestra Aigisth eine Funktion zu, die ihren eigenen Zwecken ganz untergeordnet ist. Als Frau kann Klytaimestra nicht in eigener Regie, ohne von einem Mann gedeckt zu sein (wie etwa auch während der Abwesenheit des Königs), dem Hause vorstehen. Aigisth ist es, der nach dem Tode Agamemnons diese Stellung nun einnimmt. Er ist nach Klytaimestras Worten rechtlich der Hausherr, 20 was sie aber nicht daran hindert, ganz betont von ihrem Herd (1435 έφ' έοτίας έμης) zu sprechen, und er bietet ihr die notwendige Rückendeckung, da er 18 19

Damit führt sie ihre Worte 1421 (λέγω δέ σοι) - 1425 fort

Siehe FRAENKEL und DENNISTON-PAGE ad 1 4 3 4 (THOMSON ändert den Text). Daß Klytaimestra mit μέλαθρον ihr eigenes Haus meint, wie FRAENKEL für notwendig hält (III 676 f.: »treading my house, E. treads not the house of Fear«), scheint mir nicht sicher, obwohl ihm darin jetzt W E S T , Studies 219 f. folgt. Vielleicht will Klytaimestra nur sagen, daß ihre Έλπίς „nicht im Bereich (Haus) der Furcht wandelt" usw. Der Ausdruck wäre dann, wie so oft bei Aischylos, sehr ungewöhnlich (s. W E S T S ernste Bedenken). Doch φόβου von έλπίς abhängig zu denken, verbietet andererseits, wie F R A E N KEL zeigt, die Wortstellung, und damit der Sprachusus. 2 0 FRAENKEL ad 1435: »In ascribing to Aegisthus the αΐθειν πυρ έφ' έστίας έμής Clytemnestra assigns to him the position of the legitimate lord of the house.«

11.1. Die Auseinandersetzung

Chor-Klytaimestra

(1372-1576)

371

als Mann dazu in der Lage ist, militärische Macht auszuüben. Dabei bleibt er jedoch - zumindest nach Klytaimestras Worten ganz ihrem Planen untergeordnet; er ist für Klytaimestra ασπίς ού μικρά θράσους, „ein nicht geringer Schild (Schutz) für meine Zuversicht", ein Schutz und eine Deckung, ohne die der Königin die Ausführung ihres Mordplans unmöglich gewesen wäre. 2 1 Mit Aigisths Erwähnung liegt der Vorwurf des Ehebruchs in der Luft. Klytaimestra begegnet ihm im voraus, indem sie ihrerseits Agamemnon Untreue vorwirft (1438 ff.), wobei sie einen direkten Vergleich zwischen Aigisth und Agamemnon zieht: Während Aigisth ihr ein Schutz ist, liegt mit Agamemnon der Mann tot da, der sie mißhandelt und geringschätzig behandelt hat (1438 γυναικός τησδε λυμαντήριος22). Im Zusammenhang mit dem folgenden Vorwurf der Untreue fühlt man sich vor allem an A 113-115 erinnert, doch darf man darüber hinaus in λυμαντήριος wohl auch einen Hinweis auf das Leid sehen, das ihr Agamemnon durch Iphigenies Opferung angetan hat. 2 3 Der Vorwurf der Untreue ist indessen wohl durchaus ernst zu nehmen, wie auch das folgende zeigt: Klytaimestra weist auf die ebenfalls am Boden liegende, von ihr getötete Kassandra, die sie als κοινόλεκτρος 21

WINNINGTON-INGRAM, Studies 109: »As a person he is effeminate and she can dominate him; but as a male he can command force and so is a necessary tool for her masculine will.«

22

Vielleicht ist mit Kayser γυναικός τησδ' λυμαντήριος herzustellen;

s. FRAENKEL ad 1 4 3 8 κ ε ί τ α ι κ τ λ . u n d DENNISTON-PAGE ad 1 4 3 8 . H . J . ROSE: A

commentary ort the surviving plays of Aeschylus, Amsterdam 1957/58 [ROSE] a. I. dagegen hält den Text und betrachtet λυμαντήριος offenbar als Prädikativum statt als Subjekt: »A gesture supplies the subject.« Dies leuchtet mir aber nicht ein, da 1440 mit η ¿ αιχμάλωτος ήδε κτλ. der zweite Teil des Subjekts folgt, was nahelegt, daß parallel dazu 1438 (Ò) λυμαντήριος Subjekt ist. 23

FRAENKEL II 679 μείλιγμα: »The words γυναικός τησδε λυμαντήριος as spoken by her [sc. Klytaimestra] here appear to refer only to the wrong done her as a wife, but perhaps the audience is intended to think also of what she suffered as a mother.«

372

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

und πιστή ξύνευνος Agamemnons bezeichnet. Diese Vorwürfe ob sie nun zutreffen oder nicht 24 - darf man keineswegs als unaufrichtig abtun 25 (worin läge dann das wahre Motiv für die Tötung Kassandras?): Klytaimestra ist davon überzeugt, daß Agamemnon ihr - wie mit den vielen Χρυσηϊδες in Troja - auch mit Kassandra untreu gewesen ist; diese Überzeugung Klytaimestras spielt eine Rolle bei der Ermordung Agamemnons und ist offenbar der einzige Grund für diejenige Kassandras. Nur so scheint mir verständlich, warum die Seherin Klytaimestra (durch ihren Tod offenbar) ein παροψώνημα της έμής [sc. Klyt.] χλιδής verschafft hat: 2 6 Daß die Ermordung Kassandras gegenüber derjenigen Agamemnons zweitrangig ist, wird jedem einleuchten. Ein passendes Zubrot bei diesem „Fest", das die Ermordung des Gatten für Klytaimestra ist, wird Kassandras Tod aber erst dadurch, daß Klytaimestra fest daran glaubt, Kassandra sei Agamemnons κοινόλεκτρος und πιστή ξύνευνος. Die Formulierung legt nahe, daß die wirklichen oder vermeintlichen Fälle von Untreue von Seiten Agamemnons zwar für die Tat nicht ohne Bedeutung, aber für seine Ermordung doch gegenüber den 1432 f. als unmittelbarer Grund genannten Motiven zweitrangig sind. Von Kassandra spricht die Königin verständlicherweise mit Geringschätzung: Das Wort αιχμάλωτος wertet Kassandra und damit auch Agamemnon (jedenfalls für den, der an ihre Verbindung glaubt) ab, Wahrsager und Propheten stehen ohnehin stets in dem Geruch, mögliche Scharlatane zu sein, und die Fügung ή κοινόλεκτρος τοΰδε θεσφατηλόγος (1441) trägt nicht dazu bei, dem Hörer ihre Seriosität zu suggerieren. Deshalb wird sich wohl auch am 24

Dazu s.o. S. 293 mit Anm. 8. NEITZEL ( 1 9 8 4 ) 1 5 9 meint z.B. nach Ausbreitung seiner überzeugenden Argumente dafür, daß Agamemnon Kassandra nicht angetastet hat: »Klytaimestra sucht also nur einen Vorwand, um ihren Frevelmord an der Seherin zu rechtfertigen.« Was der wahre Grund für diesen Mord ist, sagt NEITZEL allerdings nicht. Man muß daher, wie mir scheint, mindestens annehmen, daß Klytaimestra selbst, wenn auch fälschlich, in diesem Punkt an ihre Version der Dinge glaubt. 26 Was immer sich hinter t εύνης + verbergen mag. 2 5

11.1. Die Auseinandersetzung

Chor-Klytaimestra

(1372-1576)

373

Schluß dieses Abschnittes von Klytaimestras Rede in dem schwierigen Ausdruck ναυτίλων δέ σελμάτων ίστοτρίβης (1442f.), 27 etwas wenig Freundliches verbergen. Schließlich stellt es Klytaimestra in ihrem Sarkasmus auch noch als besondere Auszeichnung28 dar, daß Agamemnon und Kassandra im Tode Seite an Seite liegen, die Liebhaberin neben dem Geliebten. 29 Klytaimestra hat also in dieser Rede alles aufgeboten, um ihre Tat und damit sich selbst zu rechtfertigen. Ausgegangen war sie von der Tat Agamemnons, die sie am schwersten getroffen hat und die sie als unmittelbaren Grund für den Mord genannt hatte: der Opferung Iphigenies. Im Verlaufe der Rede aber - nach Aigisths Erwähnung - rückt der Vorwurf der Untreue, den sie Agamemnon gegenüber erhebt, so stark in den Vordergrund, daß der Hauptvorwurf an ihren Gatten fast aus dem Blick gerät. 30 Durch die starke Betonung dieses Vorwurfs versucht Klytaimestra offenbar, gegen den Vorwurf gegen ihren eigenen Ehebruch, der nach antiker Auffassung ja viel schwerer wiegt als ein „Seitensprung" Agamemnons mit einer Sklavin, ein Gegengewicht zu schaffen, zugleich aber den König und seine angebliche Konkubine herabzusetzen, um die Ungeheuerlichkeit des von ihr began-

27

Die Bedeutung von ϊοτοτρίβης ist unsicher, s. die Kommentare, bes. a.l. Die neueren Vorschläge bei LLOYD-JONES ( 1 9 7 8 ) 5 8 f. und NEITZEL ( 1 9 8 4 ) behandelt W E S T , Studies 2 2 0 f. Nicht unwahrscheinlich seine Lösung: »She [sc. Klytaimestra] mockingly pictures Cassandra as the complete shipboard-wife: 'his faithful bedfellow, his loom-basher of the ships' benches'.« FRAENKEL

2 8

29

S o DENNISTON-PAGE ad

1443.

Darin, daß Kassandra hier als φιλήτωρ (= εραστής) bezeichnet wird (wodurch Agamemnon zum έρώμενος wird), könnte eine weitere Herabsetzung des toten Königs liegen; s. FRAENKEL ad 1 4 4 6 . 30 Daß mein ihn dennoch als Hauptvorwurf bezeichnen muß, ergibt sich nicht nur daraus, daß er am Anfang ihrer Rede als unmittelbarer Grund für den Mord erscheint (1433 αισι τόνδ' εσφαξ' έγώ), sondern vor allem auch daraus, daß Klytaimestra noch zweimal mit großer Bitterkeit darauf zurückkommt (1521-1529,1551-1559).

374

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

genen Verbrechens (Gatten- und Königsmord) und damit die Größe ihrer Schuld herunterzuspielen. Ihre Einstellung gegenüber dem Chor hat sich im Verlauf der Auseinandersetzung langsam verändert: Nachdem sie die Beschuldigungen und Drohungen des Chors zunächst für belanglos erklärt (1403f.), macht sie dann ihrerseits dem Chor Vorhaltungen (1414, 1419-1421), in die sie bereits eine Rechtfertigung der eigenen Tat einflicht (1415-1418), um dann, nach der erneuten Drohung des Chors (1429 f.), ihre Rechtfertigung dadurch zu ergänzen, daß sie Agamemnon noch über das gerechte Maß hinaus herabwürdigt. Der Chor ist so erschüttert durch diese Herabsetzung Agamemnons, den er auch jetzt noch mit der Ehrfurcht und dem Wohlwollen, das wir schon von ihm kennen, als φύλαξ εύμενέστατος bezeichnet, daß er sich nun selbst den Tod herbeiwünscht (1448-1451), „nachdem [unser] überaus freundlicher Wächter bezwungen wurde und 31 viel erduldet hat durch [das Wirken] eine [r] Frau; durch eine Frau aber ist er umgekommen" (1451— 31

1452 και wurde von Franz getilgt; dann muß man mit Dindorf auch 1472 μοι streichen, das dort aber einen guten Sinn ergibt (s.u. S. 381 mit Anm. 48 und S. 384). και läßt sich vielleicht dadurch rechtfertigen, daß 1453 πολλά (Haupts Konjektur πολέα [metri gratia] ist nicht zwingend, obwohl die Responsion ^ w c r - er in der ,Orestie' nicht sicher belegt ist; s. DENNISTON-PAGE a. I. und o. S. 190 zu 766) τλάντος γυναικός διαί auf diese Weise eine hier vielleicht beabsichtigte Mehrdeutigkeit erhält Tilgt man nämlich και, so kann man nur verstehen »after enduring much through a woman's doing« (FRAENKEL in seiner Übersetzung), womit dann nur das gemeint sein kann, was Agamemnon vor seiner Ermordung erduldet hatte. Beläßt man και dagegen im Text („nachdem der ... Wächter bezwungen wurde und ... viel erlitten hat"), kann man den Satz zugleich auf das beziehen, was Agamemnon mit seiner Ermordung erduldete. Dies würde nicht nur den Gedanken vorbereiten, daß Agamemnons Tod die letzte und zugleich die Krönung der Bluttaten ist, die letztlich Helena auf dem Gewissen hat (vgl. 1459 f.), sondern auch dem Gegensatz γυναικός διαί - προς γυναικός δ' einen prägnanteren Sinn abgewinnen: Agamemnon hat - wie viele der Trojakämpfer - den Tod erduldet durch das Wirken einer Frau (Helenas), und wurde außerdem ermordet von einer Frau (Klytaimestra).

11.1. Die Auseinandersetzung

Chor-Klytaimestra

(1372-1576)

375

1454). Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang die Formulierung πολλά τλάντος γυναικός διαί, in der ein vom Dichter (kaum aber vom Chor) wohl beabsichtigter Anklang an andere Formulierungen des Chors vorliegt, die sich kritisch mit dem Kriegsziel auseinandersetzen. 32 Dies gilt vielleicht nicht nur für γυναικός διαί, sondern auch für τλάντος, das hier 224 ετλα in anderer, ja geradezu gegensätzlicher Bedeutung aufnimmt; in der Parodos sagt der Chor: „Und so wagte er [sc. Agamemnon] es denn (ετλα δ' ούν), Opferschlächter seiner Tochter zu werden, als Hilfe für Kämpfe zur Rächung eines Frauenraubes (γυναικοποίνων πολέμων άρωγάν) und Eröffnungsopfer vor der Flottenfahrt" (223-227); hier spricht er davon, daß er „viel erduldet hatte (τλάντος) durch [die Taten] eine[r] Frau (γυναικός διαί)·" Dieser Anklang könnte dazu dienen, dem Zuschauer jetzt den Zusammenhang zwischen dem, was Agamemnon einst wagte (ετλα) und dem, was er jetzt erdulden mußte (τλάντος), vor Augen zu führen. Dieser Zusammenhang, auf den Aischylos durch die Wahl der Worte, die er seinem Chor in den Mund legt, hinweist, ergänzt die Darstellung, die der Chor mit ebendiesen Worten gibt. Denn der Chor sagt gleich darauf ganz explizit, daß Agamemnons Schicksal von den verderblichen Handlungen zweier Frauen bestimmt ist: 1. von Helena, um deretwillen er den Feldzug unternahm und damit vieles erduldete (1453; aber eben auch Schlimmes „wagte", vgl. 223) und 2. von Klytaimestra, die ihn ermordete. Zuerst spricht er von Helena (1455-1461). Der Text des Ephymnium ist leider in 1458 f. gestört, und es ist nicht sicher, ob er korrekt hergestellt werden kann. Akzeptiert man wie FRAENKEL W I 33 LAMOWITZ' Änderungen und Wellauers Tilgung, so erhält man einen einigermaßen befriedigenden Sinn, der sich auch recht gut 32 3 3

Die wichtigsten Stellen sind o. S. 368 aufgeführt. ad 1458 ff. »Wilamowitz deletes δέ and regards τελείαν as an instance of the common misspelling for τελεαν.« Wellauer (s. FRAENKEL ad 1460) tilgte δι' als Dittographie (ΑΙΜΑΝΙΠΤΟΝ > ΔΙΑΙΜΑΝΠΤΤΟΝ). FRAENKEL

376

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

in den Kontext einfügt: Helena, die so vielen Männern den Tod gebracht hat (1455-1457),34 hat sich ,jetzt mit dem letzten (vollendeten) Kranz geschmückt, an den man viel denken wird, [mit] unabwaschbarem Blut." Auf der anderen Seite halten DENNISTON-PAGE (ad 145&-61) in 1458 t δε τελείαν + für unheilbar korrupt, 3S verteidigen 1459 δι' und verstehen ανιπτον als »not washed away« 36 gegenüber FRAENKELS »not to be washed away«. Dies beziehen sie dann auf Iphigenies Opferung. Diese Deutung von ανιπτον ist aber nicht sehr wahrscheinlich. Dagegen spricht zum einen - wie schon FRAENKEL ad 1460 anführt - daß man in diesem Kontext αίμ' ανιπτον am ehesten auf Agamemnons Tod beziehen wird, der gerade geschehen ist und um den es überall ging. Zum zweiten wäre es merkwürdig, wenn ausgerechnet der Chor an dieser Stelle, ohne damit auf Klytaimestra reagieren zu müssen, von sich aus auf das Vergehen Agamemnons einginge, während er zuvor selbst da, wo Klytaimestra dies gegen Agamemnon vorgebracht hatte, es nicht aufgenommen, sondern nur mit Gegenvorwürfen beantwortet hatte. Schließlich würde dann Klytaimestras Antwort (1462-1467) darauf gar nicht eingehen (was bei der Bedeutung, die Iphigenies Opfe34

Dies soll, wie auch die Reaktion Klytaimestras 1464-1467 zeigt, als vielfach angeführter Vorwurf erscheinen und ist in der Formulierung an Homer angelehnt, s. FRAENKEL ad 1453 f. und ad 1455 ff. 3 5 PAGE setzt sogar δέ τελείαν . . . έπηνθίσω inter cruces und vermerkt im Apparat: »1459 desperatus; fort, νυν τέλεον ... έπηνθίσω / τόδ' αίμ'«. Durch diese Änderung würde freilich das Bild gegenüber Wilamowitz' Deutung, wenn man sie denn akzeptiert (s. FRAENKEL ad 1458 ff.; dagegen DENNISTON-PAGE ad 1458-61; ebenfalls Ablehnung - doch ohne Begründung - bei THOMSON ad 1459-61), an Kraft verlieren. 36

Auch SEAFORD (1984) 249 versteht jetzt ανιπτον in dieser Weise, schließt sich aber sonst dem Text und der Deutung FRAENKELS an; „not washed away" bezieht er konkret auf die Totendecke Agamemnons, die mit Blut befleckt sei: »The unwashed blood on the robe (cf. Cho. 1012 f.) is an anomaly, expressing the anomalous relationship between husband and wife: normally blood would be washed away in the funeral bath.«

11.1. Die Auseinandersetzung

Chor-Klytaimestra

(1372-1576)

377

rung für sie hat, schon an sich unwahrscheinlich wäre). - Nach der von FRAENKEL vertretenen Deutung würde sie dagegen die beiden Teile dieser Choräußerung (1448-1454 und 1455-1461) nacheinander aufnehmen und darauf antworten (1462 f. und 1464-1467). 1460 τότ' erklärt sich dann zwanglos als Verweis auf die Zeit, als Helena sich „rauben" ließ, und die in dem Satz erwähnte Έρις (1461) findet sogar in einem früheren Chorlied ihre Entsprechung (698), in dem es ebenfalls um die furchtbaren Folgen von Helenas Vergehen geht. 1461 ανδρός οίζύς dürfte dagegen doppeldeutig sein: Die Έρις αίματόεσσα, die zum Raub Helenas und dem daraus folgenden Kriege riet, bedeutet Elend für ihren eigenen Mann (403-455), aber auch für Agamemnon, dem der Krieg um Helena viel Leid und schließlich den Tod eingetragen hat. So erscheint in diesem Ephymnium Helena als die, auf die alles Unglück, das geschehen ist, zurückgeht, die all das Leid letztlich verursacht hat. Ist dies richtig, so ist Klytaimestras Antwort (1462-1467) sehr passend: Zunächst verweist sie dem Chor, sich aus Kummer über die Ermordung Agamemnons37 selbst den Tod zu wünschen. Dann verwahrt sie ihre Schwester Helena vor den Vorwürfen, die der Chor wie viele andere ihr immer wieder 38 machen, daß nämlich sie allein der Grund für so viel Leid gewesen sei. Die folgenden Strophen stehen wieder ganz im Zeichen der Frage nach Schuld und Verantwortlichkeit im Zusammenhang mit dem Tode Agamemnons. Anders als bisher ist nun aber auch explizit von göttlichen und dämonischen Mächten die Rede, die bei dem Königsmord eine Rolle gespielt haben. Unter diesen ist auch der berühmte „Daimon des Geschlechtes" (δαίμων γέννης τησδε) oder „Rachedaimon" (άλάστωρ), wie ihn Klytaimestra benennt (1477, 1501). Durch ihn wird der Tod Agamemnons in einen Zusammenhang mit den Greueltaten des Atreus, Agamemnons und 37

Dies schließt wahrscheinlich den Gedanken ein, daß Agamemnons Tod nichts sei, worüber man besonders betrübt sein müßte. 38 Siehe o. S. 376 Anm. 34.

378

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

Menelaos' Vaters, gestellt. Zur Beurteilung der Frage, inwieweit Agamemnons Schicksal unausweichlich, etwa durch eine Art „Erbschuld" präjudiziell, oder aber vielmehr von seinem eigenen Verhalten etwa in Aulis notwendig bedingt war, ist es von größter Bedeutung, herauszustellen, welche Rolle bei Agamemnons Ermordung göttlichen oder doch jedenfalls übermenschlichen Mächten wie diesem Daimon des Geschlechts zugeschrieben werden muß. T.N. GANTZ 39 hat in einem Durchgang durch die relevanten Texte von Homer bis Aischylos die Frage untersucht, inwieweit die Vorstellung von einer Erbschuld, einer Schuld also, die erst die selbst an ihr unschuldigen Nachkommen abzubüßen haben, in der frühgriechischen Literatur Verbreitung gefunden habe. Ergebnis seiner Behandlung der vor- bzw. außeraischyleischen Texte (mit Argumenten, die hier nicht nachzuzeichnen sind) ist, »that inherited guilt as an aspect of divine justice in the Archaic period was far less widely credited than some scholars suppose«.40 Er schließt: Herodotos, then, was a believer in inherited guilt, and if Herodotos could believe in it, surely so could Aischylos. But I hope to have demonstrated that this view need not have been mandatory in Aischylos' time, as it was not in earlier periods. If we are to use the concept as a tool in our interpretation of the poet's thought, then the evidence must come from the plays, not preconceptions of ideas which all of Aischylos' world held to.-41 39

„Inherited guilt in Aischylos", CJ 78 (1982) 1-23. Ibid. 6; GANTZ denkt dabei vor allem an die anglophone Literatur, etwa; E.R DODDS: The Greeks and the irrational, Bericeley-Los Angeles s1966, 31-34. - DODDS (1960) 162 f. - H. LLOYD-JONES: The justice of Zeus, Beikeley-Los Angeles-London 1971, 87. - Ähnlich aber auch etwa DAUBE (1939) 176-178 [die Erbschuld werde erst abgebüßt, wenn das Opfer (im Sinne des Niobe-Papyrus) selbst schuldig geworden sei]. - In jüngerer Zeit: BERGSON (1982) 143-145. - FURLEY (1986) 112 ff. 41 Ibid. 7. 40

11.1. Die Auseinandersetzung

Chor-Klytaimestra

(1372-1576)

379

Seine darauf folgende Behandlung der erhaltenen Tragödien des Aischylos führt ihn bei jedem der Stücke zu großer Skepsis dagegen, dieser Vorstellung bei Aischylos entscheidende Bedeutung beizumessen. 42 In seiner sehr luziden Bewertung einiger Stellen aus der ,Orestie' unter diesem Gesichtspunkt fehlt eine Auseinandersetzung mit dem δαίμων γέννης, dem άλάοτωρ, der von Klytaimestra ausdrücklich mit Atreus und der Cena Thyestea in Verbindung gebracht und für Agamemnons Tod verantwortlich gemacht wird, womit die Königin die herausragende Bedeutung einer solchen (von dem Daimon verfolgten) Erbschuld ausdrücklich betont (der Chor freilich relativiert dies gleich im Anschluß, ohne den Gedanken ganz abzuweisen). Da mit dieser Frage die Beurteilung nicht nur Klytaimestras, sondern auch Agamemnons verbunden ist, wird es nützlich sein, in einem Durchgang durch die Passage (1468-1520) genauer zu bestimmen, welche Rolle wir im Sinne des Aischylos den hier genannten übermenschlichen Mächten zuzuweisen haben. Ich halte es dabei für sehr wichtig, darauf zu achten, welcher Anteil am Zustandekommen einer Tat dem Menschen und welcher Anteil den göttlichen Mächten zukommt. Wer sich trotz der Möglichkeit, eine Rangfolge oder Differenzierung (sei sie zeitlicher, sachlicher oder anderer Art) zu erkennen, darauf beschränkt, das Zusammen- oder Ineinanderwirken von Mensch und übermenschlicher Macht einfach zu konstatieren, ohne vorhandenen und in der Tragödie selbst formulierten Unterschieden Beachtung zu schenken, verzichtet schon von vornherein auf Möglichkeiten der Beurteilung, die sich etwa als für die Interpretation fruchtbar erweisen könnten. Ich kann daher auch H. HÜMMEL nicht zustimmen, der einerseits angesichts von A. Th. 686-719 beobachtet, daß die »Behauptung 42

Als anscheinende Ausnahme führt er (23 Anm. 90) den bekannten NiobePapyrus an. Hier muß jedoch - neben den von ihm selbst angeführten Gründen - bedacht werden, daß Kontext und auch Sprecher des Abschnittes unbekannt sind und daher unsicher bleiben muß, wie die Aussage zu werten ist.

380

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

der Prävalenz des göttlichen Anteils« einer Haltung entspringt, »die für den die Verantwortung von sich weisenden Helden typisch ist«, 43 andererseits aber ebendieselbe Stelle dafür anführt, »daß die Reihenfolge des Zugriffs - erst der Mensch, dann der Gott - für Aischvlos [!] umkehrbar ist, daß also das Ineinandergreifen beider Komponenten geradezu zeitlich zusammenfällt oder gleichsam in einer Überzeit aufgehoben ist«.4"4 Unmittelbar beweist die Stelle m. E. nur, daß die Frage der (zeitlichen oder sachlichen) Prävalenz von den von Aischylos auf die Bühne gebrachten Personen verschieden beantwortet werden kann; dies wirft gerade erst die Frage auf, ob jemand, und wenn ja wer von ihnen, im Sinne des Dichters recht hat. Die erwähnte Gemeinsamkeit der verschiedenen Teile der folgenden Passage (1468-1520), u.a. von übermenschlichen Mächten zu handeln, darf nun nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie sich eng an das Vorhergehende anschließt. Dies macht sogleich die erste Äußerung des Chors in dieser Passage (1468-1474) deutlich, die leider, wie so viele Passagen in diesem Amoibaion zwischen dem Chor und Klytaimestra, in Text und Deutung umstritten ist. Der Abschnitt bereitet im wesentlichen zwei Hauptprobleme: 1. Wie ist die Syntax in 1468-1471 aufzufassen, und welcher Art ist das Verhältnis zwischen dem δαίμων und dem κράτος, die in den Versen erwähnt sind? 2. Was ist Subjekt zu 1474 έπεύχεται, und wie ist folglich crtaOsic zu interpretieren (σταθείς oder σταθεΐσ')? Das erste Problem hängt, wie H. NEITZEL gezeigt hat, 4 5 eng mit der Frage zusammen, wie man in 1470 verfährt, um das Metrum wiederherzustellen (Responsion zu 1450 μόλοι), die Klärung des zweiten ist erschwert durch den Ausfall zweier Silben in 1474 (gesichert durch die Responsion mit 1454). Läßt man längst zur

4 3

44

HOMMEL ( 1 9 7 1 ) II 2 3 5 .

Ibid. Anm. 1 2 ; HOMMEL verweist in diesem Zusammenhang auch auf Klytaimestra an unserer Stelle im Agamemnon'.

45

„Zur Syntax in Aischylos, 'Agamemnon'

33-45.

1468-1474",

Glotta

63

(1985")

11.1. Die Auseinandersetzung

Chor-Klytaimestra

(1372-1576)

381

Zufriedenheit aller geheilte Korruptelen4® oder weniger bedeutende Probleme4*7 außer acht, so ergeben sich darüber hinaus noch folgende kleinere Fragen: Wie ist ίσόψυχον zu verstehen? Welchen Sinn kann 1472 μοι haben (wenn es denn korrekt ist) 4 8 ? Ist 1473 mit der Überlieferung έννόμως zu lesen, oder müssen wir Triklinios' Konjektur έκνόμως akzeptieren? Wie ist dann das Wort zu verstehen? ad 1. Seit Hermann fügt man in 1470 nach κράτος gemeinhin τε ein. Dies hat zur Folge, daß der sich an δαΐμον (1468) anschließende Relativsatz bis 1471 κρατύνεις reicht, während dem mit δαΐμον eingeleiteten Hauptsatz das Prädikat fehlt. NEITZEL 4 9 zeigt, daß dies unmöglich ist, und schlägt in 1470 κράτος γΐ vor, wodurch er dann κράτος ήψάμην Ουραίος ών< ist natürlich ein Widerspruch, mit dem Ai1ΛΟ

Das politische Moment wird im weiteren Verlauf der Szene wieder stark an Bedeutung gewinnen. Auch in der Debatte des Chors unmittelbar nach den Todesschreien des Königs (1346-1371) war dieses Thema bereits angeklungen (1354 f.). 141 Zu den Einzelheiten der Cena Thyestea in dieser Passage s. NEITZEL (1985) 403-416.

11.2. Die Auseinandersetzung

Chor-Aigisth

(1577-1673)

415

gisth sich selbst widerlegt und der Zweifel an der von ihm beanspruchten Rolle des „Koordinators" (συνάψας) aufkommen läßt. 1 4 2 Doch während er seinen eigenen Anspruch, den Mord zu planen, damit begründet, daß er selbst - wenn auch als Säugling - mit seinem Vater die Verbannung erleiden mußte (16041606), 143 erwähnt er Klytaimestra, die den Mord ausgeführt hat, mit keinem Wort (auch später wird er dies nur auf direkte Veranlassung des Chors tun). Auch daß er sich die gesamte Planung und Initiative zuschreibt (1609), ist allenfalls die halbe Wahrheit (vgl. 1377). Warum er so sehr seinen eigenen Anteil an der Tat hervorhebt und den Klytaimestras nicht einmal erwähnen will, erklärt sich leicht aus den naheliegenden Vorwürfen, die der Chor in der folgenden Auseinandersetzung auch tatsächlich gegen ihn vorbringen wird. Anders als in seiner Reaktion auf die erste Rede Klytaimestras nach Agamemnons Tod (1399 f.) nimmt der Chor Aigisths Rede nicht mit zunächst ungläubigem Erstaunen auf (1612-1616); vielmehr versichert er sich, fast die Pose eines leidenschaftslosen Richters einnehmend, zunächst des „Geständnisses" (1612-1614), dessen triumphierender Ton zwar von ihm abgelehnt wird, ihn aber keineswegs zu überraschen scheint. Dann droht er sogleich mit einer vom Volk verhängten und zu vollziehenden Steinigung (1615f.). Der Unterschied in der Gestaltung des Beginns beider Szenen scheint nicht zufällig: Während nämlich die Ermordung des großen Feldherrn durch seine eigene Gattin für den Chor etwas Ungeheuerliches, fast Unglaubliches ist, das jeder Wahrscheinlichkeit und Nachvollziehbarkeit entbehrt und das er sich daher zunächst nur als unter dem Einfluß von Drogen geschehen vorstellen kann (1407-1409), kann ihn Aigisths Rede nicht im ge142

Siehe T A P L I N (1977) 329. Aigisths Motiv wird dann besonders durchsichtig und sein Anspruch (1604) noch passender, wenn es Agamemnon gewesen sein sollte, der Thyestes samt seinem Sohn Aigisth zum zweitenmal in die Verbannung getrieben hat; dies vermutet H . NEITZEL: „Zum 'Agamemnon' des Aischylos (1603-1611. 1090-1092", Hermes 113 (1985b) 366-374, hier 370.

143

416

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

ringsten verwundern, da die Gründe für dessen Handeln auf der Hand liegen - er ist, wie er selbst noch sagen wird, als ύποπτος έχθρός παλαιγενής (1637) gewiß nicht nur Agamemnon selbst wohlbekannt. Des weiteren trägt auch die unterschiedliche Gestaltung der Auftrittsreden Klytaimestras und Aigisths zu der unterschiedlichen Reaktion des Chors bei: Während Aigisth die Gründe für seinen Mordplan in einer klar strukturierten Rede selbst ausdrücklich und unmißverständlich nennt, hatte Klytaimestra, die die Tat unmittelbar ausführte, zwar von dem Mord als άγων ούκ άφρόντιοτος πάλαι gesprochen (1377), den Chor aber über die Art dieses φροντίζειν zunächst im dunklen gelassen und ihm stattdessen in einer im höchsten Maße leidenschaftlichen Rede mit der Drastik schwarzer und pervertierter Bildlichkeit den Mordakt vor Augen gestellt. Dann aber - von der herabsetzenden Bemerkung des Chors (1399 f.) veranlaßt - hatte sie wenig mehr als eine Feststellung der bruta facta gegeben (14041406), 144 ohne dadurch den Eindruck des Wahnsinns, den sie zunächst hinterlassen hatte, im Chor auslöschen zu können. An unserer Stelle also liegen Aigisths Motive gleich nach dessen erster Rede klar. Der Chor faßt den Sachverhalt nach Aigisths Darstellung - soweit rechtlich relevant (1613 εκών κατακτανειν, 1614 μόνος . . . βουλευσαι) - daher nur kurz zusammen und stellt sogleich Steinigung als vom Volke zu vollziehende Strafe in Aussicht. Anders als Klytaimestra kommt Aigisth nach seiner ersten Rede nicht mehr auf seine Behauptung, gerechte Rache geübt zu haben, zurück, sondern setzt dem Chor im folgenden wenig mehr entgegen als die Androhung nackter Gewalt. Den Chor kränkt am Tode Agamemnons besonders, daß ein weibischer Daheimbleiber, der sich um den Krieg gedrückt hat (1625-1627, vgl. auch Kassandras Worte 1223-1225; zu οίκουρός s. FRAENKEL III 770), den gerade heimgekehrten großen Feldherrn, der Großes erreicht hat, zu töten vermochte: Dies muß dem Chor als besonders unwürdige 144

In einer Rede, in der sie sich ganz offensichtlich von der starken Emotionalität der Eingangsrede zurückzurufen und ihr άνδρόβουλον κέαρ wiederzugewinnen sucht.

11.2. Die Auseinandersetzung

Chor-Aigisth

(1577-1673)

417

Konstellation erscheinen. Auf der anderen Seite spricht er damit eine grobe Beleidigung des neuen Herrschers aus, der entsprechend scharf reagiert (1628-1632). Doch der Chor ist nicht bereit, einen solchen „Mann" als Herrscher zu akzeptieren (1633). Der Vorwurf der Feigheit wird vom Chor daher noch weitergeführt und auf Aigisths Verhalten bei der Planung und Durchführung des Mordes selbst bezogen: Er habe es nicht einmal gewagt, Agamemnon von eigener Hand zu töten (1634f.). Demgegenüber kann Aigisth - neben den üblichen Drohungen - nur mit einem für seine Wesensart sehr verräterischen Gedankengang antworten: Eine Überlistung des Feldherrn sei nur dessen Frau, nicht ihm (als altbekanntem Feind) möglich gewesen. 14S Gerade in der von Klytaimestra und Aigisth angewandten List liegt aber für den Chor das Unwürdige (άνελεύθερον) an Agamemnons Tod (vgl. 14891496) und zugleich das Schmähliche für Aigisth. Der Chor präzisiert daher noch einmal seinen Vorwurf gegen Aigisth und setzt dessen Feigheit 146 nunmehr als ausgemacht voraus 1 4 7 (1643-1646). Er fragt Aigisth, warum er - wenn er schon aufgrund dieser Feigheit zu einer unwürdigen List griff - nicht wenigstens den tödlichen Streich selbst geführt habe, um dem Land (das er ja nun selbst beherrschen will, s. 1638 f.) und seinen Schutzgöttern wenigstens das jetzt auf Klytaimestra lastende μίασμα des Gatten- und Königsmordes zu ersparen. Diese Deutung ergibt sich, wenn man mit FRAENKEL U. a. in 1644 vtv (Spanheim : σύν F Tr) liest. Dagegen setzt WEST (adverbielles) συν in den Text, das DENNISTON-PAGE a. I. verteidigt hatten: »Why must a woman, in partnership with you [...] do the killFRAENKEL (ad 1 6 3 6 ) scheint mir den entscheidenden Punkt nicht genau zu treffen, wenn er meint, Aigisth sei sich als Mann „zu gut" für ein δολώσαι gewesen. Aigisth sagt vielmehr, er sei (aus äußeren Gründen) ungeeignet für einen listigen Anschlag gewesen. Gerade die Tatsache jedoch, daß er gegenüber Agamemnon offenbar nie ein anderes Vorgehen als List erwogen hat, erweist ihn in den Augen des Chors als weibisch. 146 1643 από ψυχής κακής; s. FRAENKEL a. I. und III 697 ad 1470f. 147 Diesen Klang hat 1643 δή zusammen mit από ψυχής κακής, da es offenbar 1636 f. aufnimmt. 1 4 5

418

11. Schuld und Mordmotive - die Szenen nach Agamemnons Tod

ing?« - Gegen συν spricht aber an dieser Stelle nicht nur die Antithese αύτός - γυνή (vgl. 1635 αύτοκτόνως; so F R A E N K E L a. L), sondern auch der ganze Verlauf von 1625 bis 1646. Denn liest man συν, so ist 1643-1646 nur eine Wiederholung von 1634 f. Die Frage τί δή ... γυνή ... εκτειν' ist an dieser Stelle nicht mehr am Platze, da Aigisth in 1636 f. bereits klar und deutlich erläutert hatte, warum er auf Klytaimestras Beteiligung angewiesen war. - Dagegen gibt Spanheims viv in 1644 der Frage des Chors einen prägnanten Sinn, da dann von der unmittelbaren Ausführung des Mordes, vom Führen der Waffe mit eigener Hand, die Rede wäre. Daß es hier ebendarum geht, legt auch 1645 nahe: Die Befleckung trifft den unmittelbaren Täter; im Falle Klytaimestras (nicht aber, wenn Aigisth den Streich geführt hätte) bedeutet dies ein χώρας μίασμα και θεών εγχωρίων, da sie als Königin (in Vertretung des Königs, vgl. die Bedeutung des άρχων βασιλεύς für den attischen Staatskult) 148 im Kult die Stadt vertritt. Vielleicht darf man zur Stützung der Konjektur viv auch 1644 ήνάριζες anführen; das Wort scheint mir ebenfalls auf die unmittelbar tätige Ausführung des Todesstreichs zu weisen. Mit dieser vorwurfsvollen Frage, die Aigisths feigen Charakter erneut betont, soll insinuiert werden, Aigisth habe im Gegensatz zu der Frau, von der er dominiert wird und im Handeln abhängig ist, nicht einmal den Mut gehabt, der geglückten List diese letzte Krönung eigenhändig zu geben. Dadurch wird noch einmal auf die Verantwortung Klytaimestras, derjenigen, die den Anschlag auf Agamemnon eigentlich geplant und betrieben, schließlich auch vollendet hat, rekurriert, und der Chor schließt seine Rede mit dem Wunsch, Orest möge aus der Verbannung zurückkehren, um die Mörder zu morden. Auch die Reaktion Aigisths, der nun Waffengewalt gegen die Alten einsetzen will, 149 und das daraufhin sich entspinnende kurze Wortge* 4 δ Siehe auch 83-96: Der Chor spricht Klytaimestra, die dort die Staatsopfer ausrichten läßt, passenderweise in ihrer Funktion als βασίλεια an. 149 Für die Verteilung von 1649-1653 an den Chor und Aigsth folge ich (wie WEST) DENNISTON-PAGE. Für diese und gegen FRAENKELS (III 7 8 1 - 7 8 4 ) pro-

blematische Verteilung (welche die unglaubhafte Annahme nötig macht, der Chor trage Schwerter) gute Gründe bei DENNISTON-PAGE (ad 1650-3), NEITZEL (1986") 289 f f . und jetzt WEST, Studies

225 f.

li.2.

Die Auseinandersetzung

Chor-Aigisíh

(1577-1673)

419

fecht zwischen Chor und Aigisth dient neben der Charakterisierung der Kontrahenten wiederum dazu, Klytaimestras Bedeutung noch einmal in den Vordergrund zu rücken: Sie ist es, die Aigisth dazu bestimmt, von weiterem Blutvergießen vorläufig abzusehen. Das Stück endet mit einigen Drohungen und Unfreundlichkeiten zwischen Aigisth und dem Chor. Doch scheint symptomatisch, daß Klytaimestra das letzte Wort hat. Daß nicht wie sonst meist der Chor ein Fazit zieht, kann freilich nicht verwundern. Dazu ist es zu früh, und die in die Zukunft gerichteten Erwartungen des Chors bereiten das folgende Stück vor. Daß aber der letzte Vers Klytaimestra gehört, weist sie als dominante dramatis persona im Agamemnon' aus und kündigt sie als eine zentrale Person der folgenden ,Choephoren' an. Zugleich betont dieser Schluß noch einmal, wer in Argos herrscht und mit wem mithin Orest zu tun haben wird: an erster Stelle mit Klytaimestra und an zweiter mit Aigisth. 150

FRAENKEL übersetzt, dem heutigen Empfinden für Takt entgegenkommend, in 1672 „thou and I [...]". Klytaimestra aber sagt (wenn, wie wahrscheinlich, Aurats Wiederherstellung aus dem αχ. παλαιόν richtig ist) έγώ καί σύ ..., eine kaum zufällige Stellung.

LSO

12. Zusammenfassung Ziel der folgenden Skizze ist es, die in den vorstehenden Ausführungen gewonnenen Resultate thesenhaft nur in ihren wichtigsten Zügen nachzuzeichnen. Entsprechend der Zielsetzung einer Zusammenfassung muß hier auf ausführliche Begründungen und in der Regel auch auf die Kennzeichnung von Übernahmen der Ergebnisse anderer Interpreten verzichtet werden. Es erscheint mir sinnvoll, die Zusammenfassung in zwei Teile zu untergliedern: Im ersten Teil möchte ich aus meiner Sicht darlegen, wie das Zustandekommen von Agamemnons Schicksal und die Motive seiner Mörder im Agamemnon' dargestellt sind. Im zweiten Teil geht es um die Frage, wie die Choräußerungen gleichermaßen in den Dialogpartien wie in den Amoibaia - je auch aus dem einheitlichen Charakter des Chors in Verbindung mit seinem jeweiligen Wissen und dem Stand der Bühnenhandlung begriffen werden können. Zwar kann die Antwort auf die eine Frage auf keine Weise unabhängig von der auf die je andere ermittelt werden; deshalb wurden beide zentralen Anliegen im Haupttext der Arbeit stets nebeneinander, ausgehend vom jeweiligen Zusammenhang, verfolgt. Wegen der Unterschiedlichkeit ihrer Blickrichtung erscheint es aber nützlich, sie hier getrennt zu skizzieren.

12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal Parodos

Agamemnon wurde in der Forschung völlig gegensätzlich beurteilt. Als paradigmatisch für diese gegensätzliche Beurteilung, die sich bis in die neueste Forschung fortsetzt, dürfen FRAENKEL einerseits und DENNISTON-PAGE andererseits gelten. Während FRAENKEL Agamemnon von jedem Vorwurf freizuhalten sucht und sein Handeln gegenüber den Göttern und als König für vorbildlich hält, sehen DENNISTON-PAGE in ihm einen Tyrannen orientalischer Prägung und einen gottlosen Hybristes.

422

12. Zusammenfassung

Beide Wertungen ergeben sich vor allem aus der jeweiligen Deutung des Auftretens Agamemnons auf der Bühne im dritten Epeisodion. Dagegen wird Agamemnons Handeln in Aulis, wie es der Chor in der Parodos darstellt, von beiden in den Grundzügen einmütig beurteilt: Agamemnon stehe in einer Situation, in der einerseits Zeus die Bestrafung Trojas und damit den Feldzug, Artemis dagegen die Opferung Iphigenies fordere. Damit befinde sich Agamemnon in einer Zwangslage (ανάγκη), aus der er nicht entrinnen könne, ohne schuldig zu werden; entweder müsse er sich (durch den Abbruch des Feldzuges) Zeus widersetzen, oder aber durch die Opferung seiner Tochter schuldig werden. Agamemnons tatsächliches Handeln kann dann - je nach der Beurteilung seines Charakters - entweder als selbstlose Erfüllung seiner Pflicht als König und Feldherr (FRAENKEL), oder aber als Ergebung in die bittere Notwendigkeit (DENNISTON-PAGE) gedeutet werden. Diese Einschätzung von Agamemnons Lage in Aulis ist, wenngleich sie die bei weitem verbreitetste ist, nicht unwidersprochen geblieben. Neben anderen hat sich insbesondere H. NEITZEL entschieden gegen beide Grundkomponenten dieser Sicht gewandt, sowohl gegen die Vorstellung einer Strafpflicht Agamemnons aufgrund eines göttlichen Auftrags als auch gegen die einer schlechthinnigen Forderung von Iphigenies Opferung durch Artemis. Eine solche Forderung nach Iphigenies Opferung widerspricht m. E. der Art und Weise, wie Artemis in der Parodos gezeichnet ist (so schon WILAMOWITZ): Sie schützt das junge, unschuldige Leben und ist deshalb ο'ίκτω (134), aus Mitleid, den Adlern feind, die die trächtige Häsin schlagen. Nun stehen die Adler des Vogelzeichens für die Atriden, die trächtige Häsin für Troja mit seinen Bewohnern. Die Gegenwinde, die Artemis schickt, richten sich also gegen die Zerstörung einer ganzen Stadt (Troja) mit allen ihren, auch den unschuldigen, Bewohnern. Wenn dem so ist, so kann aber Artemis die Opferung Iphigenies, die sie als Bedingung für die Durchführung des Feldzuges setzt, nicht schlechthin fordern. Denn zum einen wünscht sie die

12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal

423

Durchführung des Feldzuges nicht, zum anderen bedeutet die Opferung Iphigenies schon als solche eine Verletzung der Sphäre des unschuldigen Lebens, das sie schützt. Artemis setzt also, wie NEITZEL zeigt, Iphigenies Opferung nicht deshalb als Bedingung für die Durchführung des Feldzuges, weil sie das Opfer will, sondern im Gegenteil deshalb, weil sie erreichen will, daß Agamemnon den Feldzug abbricht.1 Daß andererseits im Sinne des Dichters eine Verpflichtung Agamemnons bestehe, Paris, und damit Troja, durch den Feldzug zu bestrafen, halte ich aus mehreren Gründen für unwahrscheinlich: Zum einen wäre eine solche Strafverpflichtung völlig singulär. Sonst kennt man derlei - jedenfalls in Griechenland, doch m. W. auch sonst - nur im Falle des Mords an nahen Verwandten, also als Pflicht zur Blutrache. Aber auch aus dem Text der Tragödie ergibt sich m. E. eine solche Sicht nicht: Zunächst ist die Tatsache, daß Agamemnon selbst sich in seiner „Entscheidungsrede" (206-217) auf keine solche Verpflichtung beruft, schwer anders als dadurch erklärbar, daß es eine bindende Verpflichtung nicht gibt und er sich darauf nicht plausibel berufen kann. Weiterhin stellt der Chor zunächst die Atriden als diejenigen dar, die von sich aus die Initiative für diesen Feldzug ergriffen haben (48 μέγαν έκ θυμοϋ κλάζοντες αρη). Im Geiergleichnis kommt der Chor dann schließlich zu der Behauptung, daß Zeus Xenios die Atriden gegen Alexandras „schickt". Auch der Chor selbst dürfte damit kaum einen bindenden Auftrag des Zeus an Agamemnon und Menelaos meinen (wie wäre dann seine harsche Kritik an der Durchführung des Opfers zu erklären?). Jedenfalls scheint mir, daß die Behauptung einer göttlichen „Sendung" sich erst aus einer Verschiebung des Blickwinkels im Verlaufe des Geiergleichnisses ergibt. Dieses Gleichnis ist nur scheinbar analog zu Homerischen Gleichnissen komponiert. Denn nachdem es sich (ein1

Ich folge NEITZELS Deutung von ISO σπευδομένα ,in ihrem Interesse betreibend' (nicht = .fordernd') und von 144 τούτων ... ξύμβολα ,dazu (sc. zu Artemis' gerade beschriebener wohlwollender Haltung gegenüber dem unschuldigen Leben) Passendes'.

424

12. Zusammenfassung

geleitet durch 49 τρόπον αίγυπιών) von seinem Vergleichspunkt (dem „Schreien" - der Atriden nach Krieg, aber der Geier um den Verlust ihrer Jungen) entfernt hat, wird mit 60 οΰτω der Blick nicht etwa wieder auf den ursprünglichen Vergleichspunkt zurückgelenkt; vielmehr wird gar der Vergleich selbst um eines neuen willen aufgegeben: Die Atriden erscheinen nun analog zu der Erinys, die die Nesträuber bestraft, als gottgesandte Rächer an Paris. Damit ist in der Darstellung des Chors aus leidenschaftlich auf Krieg ausgerichteten Menschen (48) ein Organ göttlicher Rache (60 f.) geworden. Die Erklärung für diese merkwürdige Gedankenführung des Geiergleichnisses ist m. E. darin zu suchen, daß der Chor, der sich an mehreren Stellen (darunter 62) kritisch über das Kriegsziel äußert, sich durch die Einführung einer göttlichen „Sendung" der Berechtigung und damit des Erfolgs des Feldzuges versichern will. Er läßt daher seinen Ausgangspunkt, die leidenschaftliche Eingenommenheit der Atriden selbst für dieses problematische Unterfangen, in den Hintergrund treten. Auch aus dem Adlerzeichen läßt sich keine Strafverpflichtung der Atriden gegenüber Troja ableiten. Dafür, daß es sich dabei um ein vaticinium agens handle, in dem die »Vorstellung von der Identität zwischen Voraussage und Schicksalserfüllung«2 begriffen wäre, gibt es m. E. keinen Anhalt. Τ. N. GANTZ hat gezeigt, daß gerade das dem Adlerzeichen entsprechende von Odysseus in der Ilias in Erinnerung gerufene Sperlingszeichen nicht von dieser Art sein kann. Auch hier verheißt das Adlerzeichen nur den Erfolg des Feldzuges - falls die Atriden sich trotz der ebenfalls schon in dem Zeichen angedeuteten Bedingung der Artemis, die sich dem Zug widersetzt, entschließen, ihn durchzuführen. Gerade deshalb ist es mir aber nicht wahrscheinlich, daß Artemis sich mit Zeus im Zustande vollkommener, „olympischer" Harmonie befinde (so NEITZEL). Immerhin fördert (nicht fordert) Zeus ja, wenigstens in seiner Funktion als Xenios, ein Unternehmen, 2

So

BERGSON

(1982) 139.

12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal

425

dem sich Artemis entschieden widersetzt. Dazu stimmt, daß die Atriden grundsätzlich zweifellos das Recht (nicht die Pflicht) haben, gegen Paris, der das Gastrecht verletzt hat, vorzugehen. Die Atriden können sich daher durchaus für ihre Absicht, Paris zu bestrafen, auf den Hüter des Rechts Zeus berufen. Deshalb kann der Chor sich von seinem μάταν άχθος (165f.), seiner Sorge um den schließlichen Erfolg des Unternehmens und die glückliche Rückkehr Agamemnons, auch nur unter Rückgriff auf Zeus befreien; denn Zeus sorgt dafür, daß die Menschen - in diesem Falle Paris und die Trojaner - notfalls auch gegen ihren Willen zum σωφρονεΐν, zur Vernunft kommen: durch Leid und Tod. 3 Wenn also auch eine gewisse Spannung zwischen Artemis und Zeus besteht, so handelt es sich doch nicht um einen unüberbrückbaren Gegensatz in dem Sinne, daß Agamemnon sich in einem unlösbaren „Dilemma" befände. Nachdem er das einzige Mittel kennt, den gefährdeten Feldzug doch noch durchzuführen, ist sein Abbruch nicht mehr, wie zuvor,-4 die einzige Möglichkeit, die ihm bleibt. Vielmehr hat er jetzt die Wahl, entweder dies Mittel zu ergreifen und um einer Frau von zweifelhaftem Wert willen eine ganze Stadt zu zerstören, oder aber es - als noch schlimmer als das, wogegen es helfen soll (198-200) - abzulehnen und den Feldzug aufzugeben. Damit stellt sich ihm, wie jedem, der zu einem so schweren Mittel wie Krieg greift, die Frage nach der „Verhältnismäßigkeit der Mittel". Die Bedeutung einer Entscheidung für den Feldzug und damit für die Tötung auch vieler Unschuldiger, deren Leben Artemis schützt, stellt ihm die Göttin dadurch besonders eindringlich vor Augen, daß sie als Bedingung dafür die Vernichtung eines anderen unschuldigen (von 3

4

Ich meine also mit GAGARIN, P.M. SMITH u.a, daß der Chor mit 1 7 6 - 1 8 3 Paris und Troja im Blick hat; denn wie könnte es für diesen Chor eine Beruhigung sein, daß sein König Agamemnon als Frevler durch Leid „zur Raison gebracht" werden muß? Ich verstehe 187 έμπαίοις τύχαισι συμπνέων mit NEITZEL SO, daß Agamemnon angesichts der Lage zunächst den Abbruch des scheinbar undurchführbaren Feldzuges erwägt.

426

12. Zusammenfassung

Artemis ebenfalls geschützten) Lebens setzt, an dem ihm selbst im höchsten Maße gelegen sein muß., So hofft sie ihn zum Abbruch der Unternehmung zu bewegen. Agamemnon muß damit die Güterabwägung vornehmen, ob er an seinem Wunsch nach der Durchführung des Feldzuges, nach der im Grundsatz berechtigten Bestrafung des Paris und der Trojaner, auch um den Preis der Tötung seiner eigenen Tochter noch festhalten will. In seiner berühmten Entscheidungsrede, die der Chor wiedergibt (206-217), stellt Agamemnon seine Alternative allerdings anders dar. Er führt den Abbruch des Feldzuges gleich als „Gehorsamsverweigerung" ein (206 το μή πιθέσθαι),5 und das leidenschaftliche Verlangen nach der Opferung, die er zunächst als μίασμα erkennt (209), erscheint ihm schließlich gar als „Recht" (217 θέμις), offenbar weil sie aus seiner Sicht das einzige Mittel ist, das Verbrechen der Desertion zu vermeiden. Damit, daß dies Recht sei, begründet Agamemnon dem Wortlaut nach sogar (214 γαρ), daß Desertion ein für ihn undenkbares Verbrechen ist. Daß Agamemnons Beurteilung der Umstände kaum den wahren Sachverhalt treffen kann, zeigt sich schon an dem Umstand, daß etwas, was keiner Begründung bedarf (daß Desertion für einen Mann wie Agamemnon undenkbar ist) durch etwas begründet wird, das selbst durchaus fragwürdig ist (nämlich daß die Opferschlachtung seiner eigenen Tochter Recht sei). Auch kann es nicht zutreffen, daß die Auflösung des Heeres, der Abbruch des Feldzuges durch Agamemnon wirklich Desertion oder Bündnisbruch bedeutete. Agamemnon ist es, der den Feldzug im eigenen, dem Interesse der Atriden durchführt, und er als Oberbefehlshaber hätte allein die Befugnis zu seinem Abbruch. Nach allem, was wir aus der epischen Tradition und aus Stesichoros vom Trojakrieg wissen, mögen die anderen, die Unterfeldherren (falls man solche von Aischylos nicht erwähnten Züge des Mythos überhaupt zur Interpretation der Tragödie heranziehen darf) zur Waffenhilfe gegenüber den Initiatoren des Feldzuges verpflichtet 5

In der Deutung von 206 το μή πιθέσθαι folge ich NEITZEL.

12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal

427

sein; für Agamemnon dagegen kann dies nicht gelten: Weder ist er durch einen Eid der Freier Helenas (zu denen er nicht gehört) gebunden, noch schuldet er einem anderen bei dem Feldzug (der ja allein in seinem bzw. der Atriden Interesse unternommen wird) Treue oder gar - als Oberbefehlshaber - militärischen Gehorsam (πειθαρχία, vgl. 206). Auch kann ich mir nicht denken, daß - wie DENNISTON-PAGE meinen - die Unterfeldherren auch gegen Agamemnons Willen Iphigenie opfern und gegen Troja ziehen würden. Im .Agamemnon' selbst gibt es dafür keinen Anhalt,6 und in der Tradition hören wir nur, daß andere Feldherren sich dem Feldzug zu entziehen versuchten (etwa Odysseus, s. auch Α. Α. 841), nicht aber, daß sie auf seine Durchführung drängten (vgl. vielmehr die Reaktion auf Agamemnons διάπειρα im B). Wie Agamemnon grundsätzlich selbst weiß, folgt aus der Opferung Iphigenies durch ihren eigenen Vater ein μίασμα, eine Befleckung für diesen. Es handelt sich also um eine kultische Handlung, durch die der sie Vollziehende kultisch unrein wird. Daß eine solche Opferung nicht schlechthin „Recht" sein kann, liegt auf der Hand. - Falls also Agamemnons äußere Situation richtig skizziert ist, er also tatsächlich die Möglichkeit hat, den Feldzug auch abzubrechen, so ist offenbar seine Entscheidung, den Feldzug durchzuführen und um seinetwillen Iphigenie zu opfern, eine schwere Verfehlung. Daß Agamemnon sich dennoch für den Feldzug und damit für die Opferung entscheidet, läßt sich m. E. nur aus seiner leidenschaftlichen Eingenommenheit für den Krieg, oder jedenfalls für diesen Feldzug, erklären. Die Kriegslust Agamemnons bzw. „der Atriden", für die im Agamemnon' stets Agamemnon steht, wird nicht nur zu Beginn der Eingangsanapäste der Parodos (48, als Ausgangspunkt für das Geiergleichnis) erwähnt, sondern noch zweimal in der Parodos wiederholt, nämlich anläßlich des Adlerzei-

6

Wenngleich man einen solchen Anhalt durch konjekturalen Eingriff in 216 schaffen wollte.

428

12. Zusammenfassung

chens (123 μάχιμους7) und - noch bezeichnender - bei Iphigenies Opferung (230 φιλόμαχοι βραβής). Insbesondere aber macht sie sich in Agamemnons Entscheidungsrede bemerkbar. Dort führt Agamemnons Eingenommenheit dazu, daß er - in einer verzerrten Sicht seiner tatsächlichen Lage - sich offenbar nicht mehr klar vor Augen hält, was das μίασμα, das sich aus der Opferung seiner Tochter ergibt, für ihn wirklich bedeutet. Im ersten Teil seiner Rede (206-211) nennt er (so NEITZEL) die beiden Möglichkeiten, die er hat, führt dabei jedoch zwar die Opferschlachtung seiner Tochter noch in ihrer ganzen Furchtbarkeit als Handlung und in ihrer Gewichtigkeit als Befleckung ein, nennt aber den Abbruch des Feldzuges von vornherein nicht als solchen, sondern bewertet ihn sogleich als „Gehorsamsverweigerung" (206). Im zweiten Teil der Rede (212-217) hält er nur die Bewertung des Feldzuges als „Desertion" (212 f.) fest, während das Opfer nicht mehr als Befleckung, sondern nur noch als Mittel zur Durchführung des Feldzuges (παυσάνεμος θυσία), und damit zur Vermeidung des Verbrechens der Desertion erscheint. So kann ihm die Opferung aus dieser verzerrten, nur noch auf die jetzt wieder möglich erscheinende Durchführung des Feldzuges ausgerichteten Perspektive schließlich als „Recht" erscheinen, da ihm nur noch der von ihm gewünschte Feldzug klar vor Augen steht, nicht aber die Bedeutung, die der Opferung tatsächlich zukommt. Agamemnon erliegt also bei seiner Entscheidung für Iphigenies Opferung einer Leidenschaft, die ihn das nach den Umständen wirklich Richtige nicht mehr klar sehen läßt. Der Chor bewertet denn auch nicht ihn selbst, sondern seinen Sinneswandel (offenbar von der Bereitschaft, den Feldzug notgedrungen abzubrechen, zur Entschlossenheit, ihn trotz allem durchzuführen; so NEITZEL), aufgrund dessen 8 er ins „Joch der Notwendigkeit" gerät, das sein weiteres Handeln, die Opferung der eigenen Tochter und die völlige Vernichtung einer ganzen Stadt um einer Frau willen, dann 7

8

Vielleicht auf λαγοδαίτας zu beziehen, was aber keinen Unterschied macht, da die Adler für die Atriden stehen. 219 πνέων ist 218 εδυ syntaktisch untergeordnet.

12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal

429

zwingend vorzeichnet, als δυσσεβής αναγνος ανίερος. Daß die Ablehnung des Chors dabei nicht nur auf die objektive Furchtbarkeit des Opfers, sondern gerade auch auf Agamemnons ihm selbst zurechenbares Handeln zielt, ergibt sich nicht nur daraus, daß der Chor ja nicht das Opfer selbst, sondern Agamemnons Sinneswandel mit diesen harschen Worten belegt, sondern auch daraus, daß er bei der Begrüßung seines Königs klar zum Ausdruck bringt, daß er dessen Entscheidung für falsch, also offenbar die einzige andere Möglichkeit (Abbruch des Feldzuges) seinerzeit für besser gehalten hätte (802 ούδ' ευ πραπίδων οϊακα νέμων). Daß der Chor ein Mißverhältnis zwischen dem Kriegsziel und den für den Krieg erforderlichen Opfern sieht, geht aus mehreren Stellen hervor, an denen sich der Chor gegenüber dem Kriege kritisch äußert (gesammelt O.S. 368). Die klarsten sind 799-802 und (wegen 62 πολυάνορος άμφί γυναικός und der Aufnahme der Stelle in 800 'Ελένης ενεκ') auch 62-67; aber auch 223-227 gehört hierher. - Daß auch Agamemnon selbst nicht vollständig davon überzeugt sein kann, daß die Opferung um dieses Krieges willen „Recht" sei, zeigt sich daran, daß er von Iphigenie einen schädlichen Fluch über sein Haus erwartet, den er durch ihre Knebelung abzuwenden sucht. Drittes Epeisodion Sehr aufschlußreich für Agamemnons Charakter und damit (im Rückblick) für sein Verhalten in Aulis, das uns vom Chor in der Parodos berichtet wird, ist - wie nicht anders zu erwarten - sein Auftritt auf der Bühne im dritten Epeisodion. Die völlig gegensätzliche Beurteilung Agamemnons durch FRAENKEL und in jüngerer Zeit etwa durch Dl BENEDETTO einerseits und durch DENNISTON-PAGE und jetzt etwa TSAGARAKIS oder NEITZEL andererseits hat ihren Grund in der unterschiedlichen Deutung dieser Szene. Umstritten und für die Beurteilung Agamemnons bedeutend sind dabei vor allem drei Punkte: 1. Wie ist Agamemnons Auftrittsrede zu bewerten? Insbesondere: Erweist dort Agamemnon den

430

12. Zusammenfassung

Göttern in angemessenem Maße Respekt? 2. Wie ist das Schreiten über die Purpurtücher als solches zu bewerten? 3. Warum gibt Agamemnon schließlich Klytaimestra darin nach, die Ehrung anzunehmen, obwohl er sie als unangemessen und gefährlich zunächst ablehnt? ad 1. In der Auftrittsrede hat man u. a. eine angemessene Ehrung der Götter durch Agamemnon vermißt. Insbesondere warf man ihm vor, dadurch, daß er die Götter nur als μεταίτιοι an der Bestrafung Trojas bezeichnet (811), ihre Rolle dabei nicht angemessen zu würdigen und sich selbst zu viel zuzuschreiben; so TSAGARAKIS. Doch hat FRAENKEL überzeugend dargelegt, daß die

Vorstellung, daß die Götter an einem Unterfangen, das Menschen planen, durchführen und zum erfolgreichen Abschluß bringen, helfend mitwirken, im 5. Jhd. so geläufig ist, daß dadurch, daß Agamemnon sie zum Ausdruck bringt, kein Schatten auf ihn fällt. Zudem scheint mir eine solche Einschätzung gerade im Falle Agamemnons durchaus zuzutreffen: Wenn ich die Darstellung des Chors in der Parodos richtig verstehe, so war es Agamemnon (bzw. die Atriden), der die Initiative ergriffen hat. Die Götter, vor allem Zeus, haben ihm Erfolg verheißen (im Adlerzeichen) und schließlich gegeben. Doch er hat den Feldzug geplant, unternommen und zum Abschluß gebracht - mit Hilfe der Götter. Seinem Respekt und seiner Dankbarkeit den Göttern gegenüber gibt er angemessenen Ausdruck (810-813, 821 f., 851-853). - Auch darf ihm m. E. nicht - wie NEITZEL es tut - der Umstand als Frevel ausgelegt werden, daß er den Göttern für etwas dankt, worin er gegen ihren Willen (oder jedenfalls gegen den Willen eines Teils der Götter) zum Erfolg gekommen ist. Zwar scheint mir auch, daß Agamemnon sich mit seiner Einschätzung täuscht, daß die Götter ου διχορρόπως der Auslöschung Trojas zugestimmt hätten (814^817) - wenigstens Artemis war entschieden dagegen. Doch macht der ehrliche und respektvolle Dank, den Agamemnon ihnen dafür abstattet (821 f.), ihn nicht zum Frevler und erweist ihn auch nicht als gottlos. Denn nicht hierin liegt sein Fehlen, sondern im Begehen der Fehlhandlung selbst.

12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal

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Die „politischen" Äußerungen, die Agamemnon in seiner Auftrittsrede tut, verbieten es m. E. auch, in ihm wie DENNISTONPAGE wegen der Annahme der Ehrung durch purpurgewirkte Tücher einen Despoten orientalischer Prägung zu erkennen. Vielmehr ist er als König als ausgesprochen maßvoll und auf Ausgleich bedacht gezeichnet. So antwortet er auf des Chors Andeutung, er werde schon erkennen, wer in der Stadt sich rechtlich verhalte und wer nicht (807-809), nicht etwa mit einer selbstherrlichen Ankündigung, er als Souverän werde schon den richtigen Zustand wieder herzustellen wissen; vielmehr kündigt er eine gemeinsame Beratung mit den Bürgern in einer Generalversammlung (έν πανηγύρει) an, um zusammen mit ihnen9 dem gut Verfaßten Dauer zu verleihen, üblen Zuständen aber (gerade nur) mit der je nötigen Härte (εύφρόνως!) abzuhelfen (844-850). In diesem Programm vermag ich - wie FRAENKEL und Di BENEDETTO - nichts Despotisches zu erkennen. Wenn es vielleicht auch zu weit geht, von einem »constitutional king« zu sprechen (FRAENKEL), SO stellt sich doch Agamemnon hier mit einem Programm dar, wie es dem Bild des zeitgenössischen athenischen Publikums von einem guten und gerechten, maßvollen und auf Ausgleich bedachten Herrscher wohl kaum besser entsprechen könnte (Di BENEDETTO). Dennoch ist das uneingeschränkt positive Bild, das FRAENKEL und Dl BENEDETTO von Agamemnon aufgrund seiner Auftrittsrede zeichnen, m. E. nicht berechtigt. Denn es ist kaum zu übersehen, daß er in einer Hinsicht, in Bezug auf die Zerstörung Trojas, selbstgefällig und maßlos spricht. Die fast schon genüßliche Drastik, mit der er die Vernichtung der Stadt und die Tötung der Priamiden ausbreitet (818-828), spricht für sich selbst. Hier spricht aus ihm nicht »profound sympathy« (FRAENKEL), sondern »complaisance« (LLOYD-JONES) und ein gutes Maß an Stolz auf 9

Nach 845 κοινούς αγώνας θέντες können die Plurale βουλευσόμεσθα, κέαντες, τεμόντες, πειρασόμεσθα nur als den Chor und die Bürger insgesamt einschließend verstanden werden, nicht etwa im Sinne eines pluralis maiestatis.

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12. Zusammenfassung

die eigene Leistung. Die Opfer, die dieser Krieg gekostet hat, sind vergessen, selbst seine Tochter erwähnt er mit keinem Wort. Der ungünstige Eindruck, den DENNISTON-PAGE, NEITZEL u.a. von Agamemnon gewonnen haben, kann - wenigstens was seine Auftrittsrede betrifft - nur von diesen Versen herrühren. Daß sein maßloses Reden von Trojas Zerstörung das positive Bild trübt, das sich anderweitig aus der Auftrittsrede ergibt, scheint mir schwer zu leugnen. Andererseits darf man den Schatten, der hier auf Agamemnon fällt, aber auch nicht zum Anlaß nehmen, ein ganz und gar negatives Gesamtbild von seinem Auftritt zu zeichnen. Vielmehr gilt es m. E. zu unterscheiden, in welcher Hinsicht Agamemnon in der Auftrittsrede positiv, in welcher Hinsicht dagegen negativ gezeichnet ist. Diese Frage läßt sich recht klar in dem Sinne beantworten, daß Agamemnon zwar als König durchaus positiv dargestellt wird: Er begegnet dem Chor freundlich und zeigt sich als auf maßvollen Ausgleich und auf gemeinsame Beschlußfassung mit den Bürgern bedacht; sein „politisches Programm" muß geradezu als vorbildlich gelten. Andererseits wird er als Feldherr als maßlos, selbstgefällig und seinen eigenen Erfolg, die völlige Vernichtung einer anderen Stadt, ohne Bedenken genießend gezeichnet. Es scheint mir also hier in seiner Auftrittsrede wiederum seine Ausrichtung auf den Krieg zu sein, in welcher sein Charakter als problematisch erscheint - derselbe Punkt, der ihn nach der Darstellung des Chors in der Parodos in Aulis dazu geführt hatte, die wahre Bedeutung der Umstände zu verkennen und den Feldzug durchzuführen, obwohl er dafür seine Tochter opfern mußte. ad 2. In der älteren Forschung wurde fast allgemein angenommen, daß die Ehrung, zu der Klytaimestra ihren Gatten schließlich bewegen kann, einen »Akt dreister Gottlosigkeit« darstelle. DAWE hat aber überzeugende Gründe dafür vorgebracht, daß dem nicht so sein kann. Der wichtigste Grund ergibt sich m. E. aus der Reaktion des Chors in dem auf die „Teppich"-Szene folgenden dritten Stasimon. »Der allgemeine Tenor der Bemerkungen

12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal

433

des Chors ist nur der: Obwohl alles in Ordnung zu sein scheint, kann er sich nicht von dem bedrückenden Gefühl frei machen, daß die Dinge nicht ganz so sind, wie sie scheinen. Solch eine Äußerung wäre lächerlich, wenn Agamemnon einen Akt dreister Gottlosigkeit begangen hätte« (DAWE). Dennoch ist das Schreiten über purpurgewirkte Tücher offenbar nicht ganz so unproblematisch und gewöhnlich, wie das (von DAWE verglichene) Betreten roter Teppiche durch die Royal Family. Zumindest handelt es sich um eine (in Griechenland) ganz außergewöhnliche, hohe und seltene Ehrung; zudem erweckt sie offenbar Assoziationen an orientalischen Prunk. Agamemnon selbst schließlich lehnt sie (zunächst) als übermäßig und (wegen der Gefahr eines φθόνος von Seiten der Götter oder Menschen) gefährlich ab. Zum einen meint er, daß man mit solchen Tüchern besser die Götter ehren sollte (921 f.; vielleicht soll man an die rituelle Bekleidung von Götterbildern an hohen Festtagen denken), zum anderen ist ihm der Akt bedenklich, weil er die Zerstörung der Tücher bedeutet (DOVER, vgl. 948f.). Dies könnte insofern als eine Form von Hybris gewertet werden, als der Mensch durch Zerstörung ihm eigener Güter die Fortdauer seines Wohlstandes voraussetzt, wie es Klytaimestra ja auch tatsächlich tut (958-962). Wenngleich die Zuschauer wohl sehr genau wußten, wie das Betreten der Tücher zu werten ist, ist für uns vielleicht letzte Sicherheit in dieser Frage nicht mehr zu gewinnen. Klar scheint mir jedenfalls, daß es sich um eine allenfalls problematische Handlung, nicht um einen »Akt dreister Gottlosigkeit« handelt. ad 3. Wenn dem so ist, ist m. E. die Frage nach der tatsächlichen Bedeutung des Schreitens über die Tücher allerdings auch für die Deutung der Szene zweitrangig gegenüber dem Umstand, daß Agamemnon selbst diesen Akt für gefährlich hält und deshalb meint, daß er ihn besser nicht vollziehen sollte. Denn warum läßt er sich dann schließlich doch dazu bewegen? - Dies scheint mir u. a. deshalb die wichtigere Frage zu sein, weil Agamemnons Verhalten im dritten Epeisodion ja in keinerlei ursächlichem Zusammenhang mit seinem Schicksal, mit seiner Ermordung durch

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12. Zusammenfassung

Klytaimestra steht. Dagegen kann es sehr wohl Aufschluß über seinen Charakter geben und damit - wie ich meine - auch sein Verhalten in Aulis, das (wenigstens für Klytaimestra) ein unmittelbarer Grund für seine Ermordung ist, näher beleuchten. Nachdem Agamemnon in seiner zweiten Rede Klytaimestras übermäßigen Lobpreisungen und Ehrungen, die vermutlich eine Proskynese einschließen (919 f.), zunächst mit feiner Ironie (915f.), dann mit deutlicher Ablehnung (916-927) begegnet ist und schließlich noch einmal zum Ausdruck gebracht hat, daß er nur dann Zuversicht verspürt, wenn er seinem Vorsatz, σωφρόνως (927 τό μή κακώς φρονεΐν) zu handeln, treu bleibt (930), versucht Klytaimestra in der folgenden Stichomythie, Stück für Stück seine Bedenken zu zerstreuen. Zunächst (931) unterstellt sie ihm, daß die von ihm unmittelbar zuvor entwickelten Grundsätze nicht seiner wahren Einstellung entsprechen. Agamemnon läßt sich darauf zunächst nicht ein, sondern erkennt die hinter Klytaimestras Einwurf stehende Absicht und bekräftigt, an seiner Einstellung festhalten zu wollen (932). 10 Klytaimestra kontert mit der Frage, ob er etwa in einem Augenblick der Angst den Göttern gelobt habe, sich so (d. h. entsprechend seinem Vorsatz, dem σωφρονειν zu folgen) verhalten zu wollen (933). Agamemnon wiederum entgegnet, er habe mit vollem Wissen diesen Beschluß (dem σωφρονειν folgen zu wollen), ausgesprochen (934). 11 Diese Antwort kommt zwar einem Nein gleich, doch stellt Agamemnon noch einmal den wahren Grund seines Vorbehalts heraus, ohne allerdings explizit klarzulegen, daß es noch andere Quellen menschlicher Verpflichtung gegenüber den Göttern gibt

10

Ich folge für die Textherstellung und die Einzeldeutung in der Stichomythie weitgehend NEITZEL. Die Argumente für die Einzelentscheidungen können hier nicht nachgezeichnet werden. 11 Nach dem überlieferten Text mit NEITZELS Inteipunktion, wie jetzt auch W E S T druckt.

12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal

435

als förmliche Gelübde. 12 So insinuiert Klytaimestra, daß es Agamemnon freistehe, die Ehrung anzunehmen. Um seine Bedenken zu zerstreuen, die Ehrung könnte übermenschlich sein, fragt sie, wie sich wohl Priamos an seiner Stelle verhalten hätte (935). Dabei ist sie bemüht, Priamos nicht als orientalischen Herrscher, sondern als möglichen Sieger in den Blick zu stellen, und malt »il fantasma di Priamo vincitore« ( D O V E R ) an die Wand. Mit seiner Antwort (936) geht Agamemnon nun gänzlich auf die von Klytaimestra vorgegebene Linie ein. Da es nun also nicht mehr als unmöglich erscheint, daß ein Mensch eine solche Ehrung annimmt, betrachtet Klytaimestra das Thema „Furcht vor den Göttern" als erledigt (937 νυν) und verlegt sich darauf, Agamemnons Furcht vor dem Tadel der Menschen zu zerstreuen (937). Agamemnons Antwort, die Stimme des Volkes habe großes Gewicht (938), hat die Interpreten gewundert, da man meinte, Agamemnon hätte antworten können, was die Leute sagten, kümmere ihn nicht, er fürchte vielmehr den φθόνος der Götter. Mir scheint aber, daß eine solche Antwort Agamemnon in ein noch ungünstigeres Licht gesetzt hätte und er mit dem, was er sagt, keineswegs eine so schlechte Figur macht, wie oft angenommen wird: Gerade wegen seiner politisch maßvollen Einstellung, die der Meinung der Bürger durchaus Gewicht einräumt, kann er die Stimme des Volkes nicht einfach für irrelevant erklären. Der ανθρώπειος ψόγος ist daher etwas, das Agamemnon durchaus nicht zu Unrecht fürchtet (vgl. auch das erste Stasimon, 456) und womit Klytaimestra sich ernsthaft auseinandersetzen muß, will sie Agamemnon zum Betreten der Tücher bewegen. Sie kontert mit einem Apell an Agamemnons Ehrliebe: ζήλος, nacheifernde Bewunderung, sagt sie, sei (unter Menschen) ohne φθόνος, neidvolle und daher gefährliche Mißgunst, nicht zu haben (939). Daß dem tatsächlich so sei, meint auch Agamemnon und hat dies schon zum Ausdruck gebracht (832f.). Da es ihm aber nicht ge12

Daß es sich - wie NEITZEL meint - bei dem in 927-930 ausgesprochenen Vorsatz um ein solches handle und Agamemnon sich in 934 daher darauf als auf ein Gelübde beziehe, kann ich nicht glauben.

436

12. Zusammenfassung

lingt, den hier relevanten Gesichtspunkt (daß man nämlich φθόνος dennoch nicht Uber das nötige Maß hinaus herausfordern sollte) ins Auge zu fassen, hat er Klytaimestra nichts mehr entgegenzusetzen; seine Antwort ist ein argumentum ad hominem (940). Mit μάχη meint Agamemnon hier vermutlich eine Auseinandersetzung mit den Bürgern. Klytaimestra dagegen, der das Argumentieren auf persönlicher Ebene sehr zustatten kommt, wendet die Rede vom „Kampf auf den gegenwärtigen Wortstreit mit ihrem Gatten an: Glücklichen Menschen (τοις όλβίοις!) zieme es, sich auch einmal besiegen zu lassen (941). Erschrocken fragt Agamemnon Klytaimestra, ob sie auch diesen Sieg in ihrem Streit hochschätze (942); doch Klytaimestra wiederholt nur ihre Aufforderung, Agamemnon solle nachgeben, diesmal allerdings soweit sich das aus dem korrupten Text erkennen läßt - , indem sie ihm das Nachgeben mit dem Hinweis schmackhaft macht, er sei (und bleibe) Herrscher, wenn er freiwillig nachgebe. - So wird aus einer Ehrung, die Agamemnon für übermäßig und gefährlich hält, schließlich gar ein Akt der Großmut gegenüber seiner Frau. - Daß Agamemnon sich trotz seiner Bedenken, die ja bis zum Schluß nicht gänzlich ausgeräumt, sondern nur überspielt sind (s. 946-949), schließlich dazu bestimmen läßt, die Tücher zu betreten, scheint mir folgendermaßen erklärbar zu sein: Zum einen ist die Ehrung selbst, die Klytaimestra ihrem Mann anträgt, durchaus verlockend. Agamemnon lehnt sie zwar zunächst aus den genannten Gründen ab, doch steht ihm von Anfang an nicht wirklich konkret und klar vor Augen, was eigentlich er genau für den Fall ihrer Annahme für sich befürchtet. Dazu paßt, daß das, was er zunächst gegen Klytaimestras Einwürfe noch vorzubringen vermag, sehr im allgemeinen bleibt (934, mit Bezug auf 927-930; 938). Klytaimestra kann daher seine Bedenken teils mit nicht weniger allgemeinen Bemerkungen überspielen (939), teils die Verlockung, die die Ehrung schon für sich bedeutet, noch dadurch steigern, daß sie sie als den folgerichtigen Höhepunkt seines Erfolges in dem Krieg darstellt (935).

12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal

437

Obwohl Agamemnon bis zum Schluß nicht restlos überzeugt ist, daß er mit dem Beschreiten der Tücher das Richtige tut, läßt er daher nicht seine Bedenken gegen den Akt handlungswirksam werden, sondern sich von der ihm buchstäblich vor Augen stehenden Verlockung, die Klytaimestra noch geschickt gesteigert hat, bestimmen. Sein Verhalten im dritten Epeisodion ist damit in gewissem Sinne analog zu dem in der Parados. In beiden Fällen tut er etwas, das seiner eigenen Überzeugung nach problematisch ist und schlimme Folgen für ihn haben könnte. In der Parodos ist es die Durchführung des Feldzuges; sie erweist sich, nachdem die Sache schon verloren schien, durch die Verkündung des einzigen wirksamen Mittels gegen die Gegenwinde dann doch noch als möglich. Daher erkennt Agamemnon den Preis, der dafür zu zahlen ist, nicht mehr in seiner ganzen Bedeutung, was ihn dazu führt, selbst die Opferung der eigenen Tochter, als einziges Mittel zur Vermeidung des „Verbrechens", das er fälschlich im Abbruch des Feldzuges erkennt, als „Recht" anzusehen, obwohl er grundsätzlich durchaus weiß, daß sich aus ihr für ihn ein μίασμα, eine kultische Befleckung mit schlimmen Folgen, ergeben kann. Doch die konkreten Folgen dieser Befleckung stehen ihm weniger klar vor Augen als die von ihm ersehnte Möglichkeit, den Feldzug doch noch durchzuführen. Seine Eingenommenheit für den Feldzug, die an mehreren Stellen der Parodos deutlich wird, läßt ihn daher dort die Sachlage aus einer verzerrten Perspektive nicht mehr korrekt einschätzen. - Ähnlich ist Agamemnon im dritten Epeisodion zwar der Überzeugung, daß die ihm von Klytaimestra angetragene Ehrung übermäßig und gefährlich sei, doch da er keine wirklich konkrete Vorstellung von den möglichen negativen Folgen ihrer Annahme hat, kann es Klytaimestra gelingen, die Einwände, die er immerhin vorzubringen vermag, zu überspielen und ihm andererseits zu suggerieren, daß er den errungenen Erfolg nicht voll nutzt, wenn er auf ihre Annahme verzichtet. So scheint auch im dritten Epeisodion für Agamemnons Verhalten, das seinen eigenen Grundsätzen zuwiderläuft, der Charakterzug, der ihn in der

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12. Zusammenfassung

Parados zur Entscheidung für die Opferung seiner Tochter geführt hat, seine Eingenommenheit für den Feldzug, entscheidend mit dafür verantwortlich zu sein, daß er sich zu einer Tat bestimmen läßt, die er im Grunde für falsch, oder wenigstens problematisch, hält. Dieser Zug seines Charakters ist auch im dritten Epeisodion selbst, in seiner Auftrittsrede, dadurch besonders herausgestellt, daß er dort, obwohl als König als ausgesprochen maßvoll, gerecht und auf Ausgleich bedacht gezeichnet, in dieser einen Hinsicht (dort in seinem Reden von Trojas Zerstörung) als zum Übermaß neigend dargestellt ist. Ist dies richtig, so ist Agamemnon als ein Mann gezeichnet, der durchaus kein Frevler ist, der sich um die Götter nicht kümmerte, auch kein Despot orientalischer Prägung, der nur das von ihm selbst je verfolgte Ziel gelten ließe und von anderen vorgebrachte Bedenken in den Wind schlüge (vgl. seine Antwort auf die Begrüßung des Chors). Allerdings ist er auch nicht der Mann, der die Situation, in der er steht, stets unvoreingenommen betrachten und unter Berücksichtigung aller für sein Handeln bedeutsamer Aspekte die je beste Handlungsweise erkennen und dementsprechend handeln könnte. Vielmehr neigt er dazu, sich in bestimmter Hinsicht in seinem Blick einengen zu lassen und durch seine Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel andere Aspekte, die die von ihm verfolgte Handlung in einem anderen Lichte erscheinen lassen könnten, zu vernachlässigen. Diese „Hinsicht" ist im Falle Agamemnons, so wie er im Agamemnon' gezeichnet ist, der Krieg, oder jedenfalls der Feldzug, den er gegen Paris, gegen Troja, Priamos' Stadt, unternimmt. Agamemnon erscheint damit als ein άμαρτάνων im Sinne der Aristotelischen Poetik, der weder sittlich vollkommen (επιεικής), noch auch verworfen (πονηρός, μοχθηρός) ist, sondern in dem Sinne eine „mittlere" Persönlichkeit, daß er, nicht durch Bosheit oder Schlechtigkeit, sondern durch eine, freilich zurechenbare und zu verantwortende, Fehlhandlung, die er (bei unvoreingenom-

12.1. Agamemnon - Charakter und Schicksal

439

mener Berücksichtigung aller handlungsrelevanten Sachverhalte) hätte vermeiden können, ins Unglück gerät. 13 Die Szenen nach Agamemnons Tod Daß es tatsächlich in erster Linie Agamemnons eigenes Handeln ist, das ihm zum Verhängnis wird, und nicht etwa ein Fluch oder eine Erbschuld, deren verheerenden Auswirkungen er von vornherein nicht hätte entgehen können, zeigt m.E. ein Durchgang durch die Szenen nach Agamemnons Tod. Klytaimestra wurde, wie sie selbst mehrfach betont (1397 f., 1414-1420, 1432f.), vor allem durch Iphigenies Opferung dazu gebracht, ihren Gatten zu töten. Dabei mögen in zweiter Linie andere Motive wie Eifersucht und verletzter Stolz (1438-1447) eine Rolle spielen, die zugleich die einzigen erkennbaren Motive für die Ermordung auch Kassandras sind. Mit NEITZEL verstehe ich den Daimon, den der Chor in 1468 einführt, als die dämonische Macht der zwei Frauen (Helena und Klytaimestra), die zum Schaden, ja zum Verderben ihrer Männer wirken.1-4 Erst Klytaimestra identifiziert diesen Daimon, der έκ γυναικών (1470) wirkt, mit dem Daimon des Geschlechts (1476 f.), der sich in den vielen unnatürlichen Verbrechen unter Verwandten wirksam gezeigt hat. Dadurch versucht sie sich völlig zu entlasten, indem sie schließlich gar ihre Täterschaft leugnet (1497-1504). Der Chor erkennt die Wirksamkeit und Bedeutung dieses Daimon des Geschlechts zwar an (1481— 1484), weist aber Klytaimestras Entlastungsversuch zurück, indem er den Daimon des Geschlechts nur als „Mithelfer" (1507 συλληπτωρ) gelten läßt, womit er zugleich Klytaimestra weiterhin die Hauptverantwortung für Agamemnons Tod zuweist. Als Diese hier nur angedeutete Sicht der Aristotelischen Tragödientheorie, die von A. SCHMITT stammt und in einer von diesem angeregten Dissertation V. CESSIS ausführlich entwickelt wurde, ist oben S. 2 5 0 - 2 5 6 in meinem Kapitel 6. »Agamemnon - Charakter und tragische Handlung« nachgezeichnet.

13

Mit κράτος ίσόψυχον bzw. (falls dies metrisch nicht haltbar sein sollte) mit κράτος θυσιών θάρσος έκουσιον [202 f.] τελέσασιν lac. post

ευφρων [203 f.] έξειπεν έξεΐπον t κράτος .. κρατείς . . . πάρες γ' t παρείς γ' οίκος ακος ποτδται ποταται άποπτύσαι άποπτύσαι lac. post lac. post εύθυπορών άνδρός

1024 αν επαυσεν άπέπαυσεν

465

κατένευσεν [209]

θράσος μέλαινας . . . "Ατας, είδομέναν [191 f.] - [199 f/ 3 ] θράσος έκ θυσιών [2003] πόνον ευ τελέσασιν [2003] έξεΐπον [234 f.] κράτος . . . πάρες γ' dub. [235] οϊκοις [22244] ποτάται [265*3] άποπτύσας [266] lac. aut post εύθυπορών aut ante και πότμος [274*14, 276 f.] άπέπαυσεν [28228]

466

Anhang 2

1045 lac. post lac. post στάθμην f. στάθμην 1052 t εσω φρε- εσω φρενών νών λέγου- λέγουσα σα t 1098 ή μεν . . . ή μην . . . f. t ή μεν t ήμεν 1110 χειρ έκ χε- χειρ' έκ χει. ρός όρέγρός όρεγοματα μένα 1137 έπεγχυδαν έπεγχέαι ποΤ 1138 τί 1174 κακοφρονών κακοφρονών 1181 έσάιξειν 1196 το μη είf. δέναι I λόγωι 1198 ορκου f. πήγμα . . . παιώνιον 1200 t πόλιν t 1203 1204 ante f. 1203 1225 ο'ίμοι

lac. post δσυ-• - (vel παράσταθλοις [209 f.] μοι) [294 f.] ε'ίσω φρενών έσω φρενών λέγουσα λέγουσα [296-298] και μην . . . και μην . . . ήμεν [210] ήμεν [30021] χειρ έκ χε- χειρ έκ χερός όρεγορός όρεγομένα μένα [30727] έπεγχυδαν έπεγχυδαν [31134] ποΐ τί [31135] κακοφρονείν κακοφρονείν [317 f. ] έπάξειν [319+46] έφήξειν έπάιξειν τό μ' είδέ- τό μ' εΐδέναι τό μη είδέναι | λόγω [323 f.] ναι I λόγωι 11 λόγωι t

[211]

ορκου πήγμα . . . παιώνιον πόλιν 1204 ante 1203 οΐμοι (sed ώμον

όρκου όρκος, πημα πημα . . . παιώνιος παιώνιον [324 f. ] πόλιν dub. [325] πόλιν - [326 f.*57] 1204 ante 1203 οΐμοι οϊμοι [33571]

DENNISTONPAGE)

1226 delevit 1253 τους γαρ τελούντος 1317 άλλ' ώς . . . μαρτυρητέ 1323 Ήλίωι 1324 t τοις έμοΐς f. τιμαόροις | έχθροΐς φονεΰσι τοις έμοΐς τίνειν όμοΰ t

του γαρ τελούντος άλλ' ώς . . . μαρτυρητέ ήλιου t τοις έμοΐς τιμαόροις | έχθροΐς φονεΰσι τοις έμοΐς τίνειν όμοΰ t

delevit deleo [33571] του γαρ τε- του γαρ τελούντος λούντος [33878] άλλως- . . . άλλ' ώς . . . μαρτυρεΐτέ μαρτυρητέ [34282] ηλίου [217] ήλίου [343*89] δεσπότου τι- τοις έμοΐς τιμαόμαόροις | έχ- ροις, I έχθροΐς θρούς φόνευ- φονευσι τοις σιν την έμήν έμοΐς, τίνειν όμοΰ τίνειν όμοΰ [343 f.]

Conspectus der Abweichungen im Text des Agamemnon'

1328 σκιά τις αν τρέψειεν 1338 άποτείσαι 1340 έπικράναι 1339 t άλλων t 1438 τησδε λυμαντήριος 1495 δαμείς 1452 [καί] 1472 [μοι] 1458 [δέ] τελέαν f. ... έπηνθίσω, I [δι'] r s αιμ 1470 κράτος

\ e) >

μη δ επιέπιλεχθηις δίκαν προβαίνων I πάχνας κουροβόρου lac. post γενέσθαι [222 f.] et post Ίφιγένειαν 1521 οΰτ' ουτ ουτ 1526 πολύκλαυ- πολυκλαύ- πολύκλαυτον t Χ Ίφι- την Ίφιγέ- τόν t τ Ίφινειαν γένειαν t γένειαν t 1527 άξια δράσας ανάξια δρα- άξια δράσας σας 5

2

y

Doch im Apparat: »έπικράνεΐ vix sanum«.

467

σκια τις αν τρέψειεν [344 f.] άποτείσαι έπικράνειεν [352 f.+6] άλλων [3559] τησδ' ό λυμαντήριος dub. [371 ] δαμείς dub. [364tS] καί

[37431, 384] μοι [δέ] τελέαν ... έπηνθίσω, I [δι'] αιμ [375-377] κράτος [183, 380-382*50] σταθεΤσ' [383+54] έννόμως [383 f.*ss] μηδ' έπιλεχθης [390-392] δέ καί προβαίνοι, I πάχναν κουροβόρον dub. [395 f.] nullam lac. [397-399], cf. ad 1521, 1526, 1527, 1529 ούκ [398] πολυκλαυτόνγ' Ίφιγένειαν [398 f.] άν|άξια δράσας [399*90]

468

1529 ερξεν 1535 δίκην . . . f. θηγάνει βλάβης ... Μοίρα 1644 νιν

Anhang 2

ήρξεν Δίκα ... θηγεται βλάβας ... Μοίρας συν

ερξεν Δίκαι . . . θηγάνει βλάβας ... Μοίρα [223 f.] συν

ερξεν [398] δίκην ... θηγάνει βλάβης . . . Μοίρα [399 f / 9 2 ] νιν [417 f.]