Geist und Handlung: Wilfrid Sellars' Theorie des Handelns im manifesten und wissenschaftlichen Weltbild [Epistemata ed.] 9783826043277

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Geist und Handlung: Wilfrid Sellars' Theorie des Handelns im manifesten und wissenschaftlichen Weltbild [Epistemata ed.]
 9783826043277

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Franz -

Geist und Handlung

EPISTEMATA WÜRZBURGER WISSENSCHAFTLICHE SCHRIFTEN

Reihe Philosophie Band 485

2010

Jürgen H. Franz

Geist und Handlung Wilfried Sellars' Theorie des Handeins im manifesten und wissenschaftlichen Weltbild

Königshausen & Neumann

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

D 708 (zugl.: Diss. 2009 der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen)

©Verlag Königshausen & Neumann GmbH, Würzburg 2010 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier Umschlag: skh-softics I coverart Umschlagabbildung: Magdalena Pranz, 56850 Enkirch Bindung: Verlagsbuchbinderei Keller GmbH, Kleinlüder Alle Rechte vorbehalten Dieses Werk, einschließlieb aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des UrheberrechtSgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Printed in Germany ISBN 978-3-8260-4327-7 www.koenigshausen-neumann.de www.buchhandel.de www.buchkatalog.de

Meiner Familie Doris, Magdalena und Oliver

VORWORT Handeln gehört zum Dasein des Menschen. Doch was ist eine Handlung? Worin unterscheidet sie sich vom bloßen Verhalten und von Reflexen? Wie kann man eine Handlung angemessen und plausibel erklären? Stellen Sie sich vor, Sie beobachten, wie eine Person - nennen wir sie Peter - ihren rechten Arm hebt. Sie fragen sich: "Warum hebt Peter seinen Arm"? Sie suchen nach einer plausiblen und nachvollziehbaren Antwort und somit nach einer adäquaten Erklärung seiner Handlung. Vielleicht ist Ihnen der Vorgang völlig klar: Der rechte Arm von Peter hat sich gehoben, weil sich irgendetwas in seinem Kopf ereignete, das über seine Nerven an seine Armmuskeln geleitet wurde, die sich sodann anspannten und sein Armheben bewirkten. Denn sein Armheben ist ein rein physikalisches Ereignis und als solches von anderen physikalischen Ereignissen in unserer kausal geschlossenen Welt nicht zu unterscheiden, zumindest nicht auf den ersten Blick. Vielleicht erklären Sie sein Armheben aber auch wie folgt: Peterhob seinen rechten Arm, weil er einen Grund dafür hatte, z.B. um jemanden zu grüßen, sich in einer Ratssitzung oder einem Seminar zu Wort zu melden, in einem Lokal einen Kellner oder auf der Straße ein Taxi herbeizuwinken oder um einem Fährmann am anderen Flussufer seinen Wunsch des Übersetzens zu signalisieren. Vielleicht ist sein Armheben aber auch nur Teil seiner Morgengymnastik. Vernachlässigen wir einmal, dass sein Armheben nur ein unabsichtlicher Reflex war, z.B. aus Nervosität, dann sieht es wiederum auf den ersten Blick so aus, dass wir seine Handlung nämlich sein absichtliches und gewolltes Armheben - aus zwei ganz unterschiedlichen Perspektiven heraus erklären können: einerseits wissenschaftlich unter Verwendung einer Kausalerklärung und andererseits alltagssprachlich mittels einer Gründeerklärung. Weichen Status haben also Handlungserklärungen? Können wir Handlungen, im Gegensatz zu rein physikalischen Ereignissen, mit Rekurs auf Gründe und mit Rekurs auf Ursachen erklären? Können wir also Handlungserklärungen als Gründe- und als Kausalerklärung konzipieren? Und falls ja, in welchem Verhältnis stehen diese beiden konträren Erklärungsarten? Es scheint ein Problem der Handlungserklärung zu geben, das in seiner Formulierung als problematisches Verhältnis von Gründe- und Kausalerklärung sowohl die Kontroverse zwischen Intentionalisten und Kausalisten, die Erklären-Verstehen-Debatte als auch, aus angelsächsischer Sicht, den GrundUrsache-Streit widerspiegelt. Das vorliegende Buch verfolgt das Ziel, dieses Problemfeld philosophisch zu beleuchten und Antworten auf die genannten Fragen zu entwickeln. Um dieses Ziel zu erreichen, wird ein Umweg eingeschlagen, der sich als besonders lohnenswert erweist, nämlich den über die philosophische Handlungstheorie von Wilfrid Sellars, die untrennbar mit seiner Philosophie des Geistes verbunden und von bemerkenswerter Aktualität ist. Allerdings wird man auf diesem Umweg keine fertige Lösung des Problems der Handlungserklärung finden. Diese Erwartung wird sich nicht erfüllen. Man wird vielmehr über Seilars hinausgehen müssen. Warum also dieser Umweg? Sein besonderer Reiz liegt darin -wie bei jeder alltäglichen Wanderung auch Neuland zu betreten, in diesem Fall philosophisches Neuland. Sellars' Handlungstheorie, die besonders voraussetzungsreich ist und nie in geschlossener Form,

Vorwort

sondern verteilt über fünfundzwanzig Jahre in losen Einzeltexten publiziert wurde, ist ein solches Neuland. Obgleich gegenwärtig das Interesse an seiner Philosophie wächst, wurde seine philosophische Handlungstheorie bislang noch nicht in geschlossener Form, systematisch und kritisch rekonstruiert. Diese Aufgabe zu leisten, und zwar orientiert am Problem der Handlungserklärung, ist die Motivation den Umweg über Seilars einzuschlagen. Ein weiteres, gleichrangiges Ziel dieses Buches ist die Entwicklung und Begründung einer eigenen handlungstheoretischen Position sowie ihre Verteidigung gegen mögliche und denkbare Einwände. Es ist Position, die zwar gedanklich an Seilars anknüpft, dann aber einen Weg verfolgt, der über Seilars weit hinausreicht und eine neue Richtung einschlägt. Dieser Weg eröffnet alternative Lösungen des Problems der Handlungserklärung, die sich besonders dadurch auszeichnen, dass sie die bekannten Unzulänglichkeiten traditioneller Gründe- und Kausalerklärungen von Handlungen überwinden. Der in diesem Buch publizierte Text gründet auf meiner in der Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften der FernUniversität in Hagen erstellten Dissertation im Fach Philosophie, die zum Zwecke der Publikation modifiziert und überarbeitet wurde. Die Disputation erfolgte im Juli 2009. Mein besonderer Dank gilt Herrn Prof. Dr. Thomas Keutner von der FernUniversität in Hagen. Er weckte in mir die Begeisterung für handlungstheoretische Problem- und Fragestellungen aus philosophischer und psychologischer Sicht und begleitete als Erstgutachter die Bearbeitung der Dissertation stetig und kritisch. Gerne erinnere ich mich an unsere fruchtbaren "Bonner Gespräche", an ergiebige Diskussionen im Umfeld philosophischer Seminare in Hagen, Erfurt und Leverkusen sowie an handlungstheoretische und geistesphilosophische Reflexionen während einer Wanderung auf dem Moselhöhenweg. Mein Dank gilt auch Prof. Dr. Hubertus Busche für seine kritische Begutachtung. Von ganzem Herzen danke ich meiner Ehefrau Doris, die mir während meiner theoretischen Studien über das menschliche Handeln viele alltagspraktische Handlungen abgenommen hat. Ohne ihre Unterstützung wäre dieses Buch zweifelsfrei nicht entstanden. Jürgen Hugo Franz

Vlll

Januar 2010

INHALT VORWORT .............................................. vii INHALT ................................................. ix BILDER UNDTABELLEN ................................... xiii KAPITEL I 1 1.1 1.2 2 3 4 5 6

EINLEITUNG ............................................ 1 Das philosophische Problem der Handlungserklärung ............. 2 Das Problem der Handlung: Was ist eine Handlung? .............. 6 Das Problem der Erklärung: Was ist eine Erklärung? ............... 6 Warum Wilfrid Seilars? ....................................... 8 Zielsetzung, Problem- und Fragestellung ........................ 16 Fünf handlungstheoretische Thesen ............................ 18 Aufbau des Buches .......................................... 22 Editorische Hinweise ........................................ 27

KAPITEL II 1 2 3 4 5 6 7 8

HISTORISCHER KONTEXT ................................. 29

Sokrates und Platon: Erkenntnisgeleitetes Handeln ............... 32 Aristoteles: Praktischer Syllogismus, Form und Stoff, Akteurskausalität ............................................ 33 Hempel contra Dray: Disposition contra Intention ............... 46 Churchland: Deduktiv-nomologische Handlungserklärung ......... 51 Anscombe: Das Sprachspiel "Absicht" .......................... 56 Von Wright: Das logische Verknüpfungsargument ................ 66 Davidson: Der primäre Grund als Ursache ...................... 89 Fazit .................................................... 111

KAPITEL 111 AKTUELLE DEBATTEN DER PHILOSOPHISCHEN HANDLUNGSTHEORIE ................................... 117

2 3 3.1 3.2 4 5 6 7 8 9

Die Probleme der Standardtheorie Davidsons ................... 118 Mittelbare und unmittelbare Absichten ........................ 127 Absichten als Elemente der Planung, Lenkung und Korrektur ...... 129 Intentionale Handlungslenkung .............................. 131 Intentionale Handlungsplanung .............................. 134 Gedanken als Elemente bedeutungsorientierter Handlungslenkung . 143 Die Relevanz mentaler Inhalte bei Handlungserklärungen ......... 147 Wie kausal sind kausale Handlungserklärungen? ................. 157 Das Problem der Intentionalität .............................. 160 Das Problem des vernachlässigten Handlungskontextes ........... 163 Das Problem der Ontologie menschlicher Handlungen ........... 171

Inhalt

10

11

Das Problem des Erklärungsbegriffs ........................... 179 Fazit .................................................... 182

KAPITEL IV ABSICHT, WILLE UND HANDLUNG ........................ 189 1

1.1 1.2

1.3 1.4

1.5 1.6 1.7 2 3

4

Absicht .................................................. 190 Die Egozentrizität der Absicht ............................... 195 Der Absichtsoperator ...................................... 199 Handlungsabsichten und Faktabsichten ........................ 201 Die Logik der Absicht ...................................... 202 Die Chronologie der Absicht ................................ 208 Hier-und-jetzt-Absichten ................................... 209 Wünsche und Absichten .................................... 210 Wille .................................................... 211 Handlung ................................................ 214 Fazit .................................................... 215

KAPITEL V

1 2

3 4

5 6

7 8

PRAKTISCHER SCHLUSS UND HANDLUNGSERKLÄRUNG ....... 217

Merkmale praktischer Schlüsse ............................... 217 Die Logik praktischer Schlüsse ............................... 220 Die Bedeutung faktischer Propositionen ....................... 223 Fundamentalprinzipien ..................................... 225 Die Ceteris-paribus-Klausel .................................. 228 Logische Kritik ........................................... 231 Handlungserklärung- eine erste Annäherung ................... 233 Fazit .................................................... 237

KAPITEL VI HANDLUNGSTHEORIE UND PHILOSOPHIE DES GEISTES ....... 2 41

1.1 1.2

2 3 4

4.1

4.2 5

6 6.1

X

Absichten als Gedanken innerer Rede ......................... 245 Das Gedankenmodell des Verbalen Behaviorismus ............... 245 Laut-heraus-Denken und Laut-heraus-Beabsichtigen ............. 250 Absichten als Dispositionen ................................. 253 Absichten als postulierte Episoden ............................ 259 Absichten als Akt und Inhalt ................................ 262 Absichten im Raum der Gründe und im Raum der Ursachen ....... 268 Episoden, Akte, Zustände und Ereignisse ...................... 273 Die Theorie des W ollens .................................... 276 Mentale Symmetrien ....................................... 281 Absichten und Überzeugungen ............................... 281

Inhalt

6.2 7 8 9

Wille und Wahrnehmung .................................... 282 Der Funktionalismus ....................................... 284 Rationale und irrationale Handlungsüberlegungen ............... 289 Fazit .................................................... 295

KAPITEL VII KÖNNEN GRÜNDE URSACHEN SEIN? ...................... 299

1 2 3 4 5 6 7 8

Das problematische Verhältnis von Absicht und Handlung ........ 300 Logische, begriffliche, grammatische und kausale Relation ......... 302 Minimale Handlungen ...................................... 318 Gründe als Ursachen: Eine erste Annäherung ................... 322 Sellars' Kritik an Davidson ................................... 333 Raum der Gründe und Raum der Ursachen ..................... 335 Können Gründe Ursachen sein? .............................. 339 Fazit .................................................... 342

KAPITEL VIII

1

2 3 3.1 3.2 3.3 4 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 6

HANDLUNGSTHEORIEALS SYNOPTISCHES GESAMTBILD .... 345

Der Trialismus der Erklärungsperspektiven ..................... 345 Die Ordnung des Seins und die Ordnung des Wissens ........... 351 Klassische und aktuelle Einwände ............................. 353 Probleme des Funktionalismus ............................... 353 Vorwurf des Epiphänomenalismus ............................ 355 Probleme dispositioneHer Erklärungen ......................... 357 Internalismus und Externalismus ............................. 358 Ist Sellars' Handlungstheorie transzendental? ................... 359 Die Oberflächen- und Tiefenstruktur der Handlungstheorie Sellars' 360 Praktischer Schluss und Handlungserklärung ................... 360 Handlungstheorie und Handlungserklärung .................... 361 Die Transzendentalität der Handlungstheorie Sellars' ............. 362 Rekonstruktion einer Handlungserklärung im Sinne Sellars' ....... 363 Fazit .................................................... 365

KAPITEL IX HANDLUNGEN IM MANIFESTEN UND SZIENTISTISCHEN WELTBILD ............................................ 369

1 2 3 3.1 3.2

Der Begriff des Weltbildes ................................... 370 'Weltbild und Philosophie ................................... 372 Das manifeste Weltbild ..................................... 373 Charakteristika des manifesten Weltbildes ...................... 373 Handlungen im manifesten Weltbild .......................... 378

XI

Inhalt

3.3 4 4.1 4.2 4.3 5 6 6.1 6.2 7 7.1 7.2 8 8.1 8.2 9

Die Theorie-Theorie ....................................... 379 Das szientistische Weltbild .................................. 380 Charakteristika des szientistischen Weltbildes .................. 381 Die Ontologie mentaler Episoden ............................ 382 Handlungen im szientistischen Weltbild ....................... 384 Das Stufenmodell der Handlungsbeschreibung .................. 386 Reduktionismus und Eliminativismus ......................... 393 Reduktionismus ........................................... 395 Eliminativismus ........................................... 408 Ist Seilars ein Reduktionist? ................................. 412 Contra einer reduktionistischen Position Sellars' ................ 413 Pro einer reduktionistischen Position Sellars' ................... 417 Was zeichnet Sellars' Handlungstheorie aus? .................... 420 Besonderheiten und herausragende Merkmale ................... 420 Probleme und Defizite ..................................... 422 Fazit .................................................... 423

KAPITELX

2 3 4 5 5.1 5.2 6

ALTERNATIVEWEGEDER HANDLUNGSERKLÄRUNG .......... 427

Vier Thesen, ihre Bedeutung und Konsequenzen ................ 428 Noch einmal: Der Erklärungsbegriff .......................... 432 Der kausale Irrtum ......................................... 436 Gründe und Hintergründe: Ein Beispiel ........................ 447 Narrative und holistische Handlungserklärungen ................ 450 Narrative Handlungserklärungen ............................. 451 Holistische Handlungserklärungen ........................... 454 Fazit .................................................... 460

KAPITEL XI BIBLIOGRAPHIE ........................................ 463

2 2.1 2.2 2.3

Quellen .................................................. 463 Werke von Wilfrid Seilars ................................... 476 Handlungstheoretisch unmittelbar relevante Werke .............. 476 Handlungstheoretisch mittelbar relevante Werke ................ 478 Gesamtwerk .............................................. 478

KAPITELXII PERSONENREGISTER .................................... 491 KAPITELXIII SACHWORTREGISTER ................................... 497

Xll

BILDER UNDTABELLEN Bild 6.1

Die drei Bereiche des Mentalen und ihre Relevanz für das menschliche Handeln .............................. 249

Bild 6.2

Beschreibungsoptionen eines einfachen technischen Gerätes mit den beiden Zuständen eingeschaltet und ausgeschaltet ........................................ 285

Bild 6.3

Funktion und Disposition ............................. 287

Bild 7.1

Sellars' Irrtum und eine mögliche, plausible Lösung ........ 315

Bild 8.1

Der Trialismus der Erklärungsperspektiven ............... 347

Tabelle 8.1

Der Trialismus der Erklärung als zweifacher Dualismus ..... 349

Tabelle 9.1

Reduktionen im manifesten und wissenschaftlichen Weltbild ........................................... 405

KAPITELl EINLEITUNG [T]he evolution of philosophy is as much the evolution of philosophical questions as it is of answers to pre-existing questions. Wilfrid Seilars 1975

Abgesehen von Menschen, die wie Robinson Crusoe auf eine unbewohnte Insel verschlagen werden oder Eremiten, die bewusst das isolierte Leben in der Einsamkeit suchen, leben Menschen zumeist in sozialen Gemeinschaften, die durch vielfältige Konventionen, Normen und Regeln geprägt sind. Alle ihre Handlungen sind somit in diesen sozialen Kontext eingebettet. Darum bereitet es uns normalerweise keine Schwierigkeiten zu erkennen, was der Andere tut und warum er es tut. Wenn wir den Anderen gut kennen, dann sind wir bis zu einem gewissen Grade sogar fähig, seine Handlungen situationsabhängig vorauszusagen. Doch dies ist nicht immer der Fall. Häufig sehen wir andere Menschen etwas tun, ohne aber zu wissen, warum sie es tun. Am einfachsten ist es dann, wenn wir in diesen Fällen unseren Mitmenschen fragen. Setzen wir voraus, dass er uns nicht belügt, so wird er sowohl darüber Auskunft geben, was er tut, als auch seinen Grund benennen, warum er es im gegebenen Handlungskontext tut, vorausgesetzt, er ist sich seines Tuns und seiner Gründe bewusst. Indem er uns seinen Handlungsgrund nennt, wird sein Handeln verständlich und nachvollziehbar. Wir wissen nun, dass sein Tun absichtlich und ihm nicht nur zugestoßen oder widerfahren ist. Sein Tun erweist sich damit als intentionales Handeln und nicht als bloßes Verhalten. Wir sind nun in der Lage uns selbst und anderen seine Handlung im Lichte ihres Grundes und Kontextes zu erklären. Nachdem der Grund ermittelt ist, können wir folglich eine Handlungserklärung geben. Dies ist, abgesehen von Robinson und den Eremiten, die sich ihre Handlungen nicht selbst erklären, ein gewohnter alltäglicher Vorgang in menschlichen Gemeinschaften, in denen das soziale Leben auf Handlungen beruht und Menschen untereinander agieren und handeln. Denn Mensch sein heißt handeln müssen. In diesem alltäglichen Weltverständnis oder, wie Seilars sagt, manifesten Weltbild, scheint es also kein besonderes Problem der Handlungserklärung zu geben, das zur Lösung nach einer philosophischen Reflexion verlangt. Doch das manifeste Weltbild ist nicht das einzige Weltverständnis unserer Zeit, die auch durch ein wissenschaftliches Weltbild geprägt ist. In den Wissenschaften werden Handlungen als beobachtbare Fakten, Tatsachen oder Ereignisse identifiziert, die mit wissenschaftlichen Verfahren und Methoden untersucht und mittels Gesetzen erklärt werden. In diesem wissenschaftlichen Weltbild unterscheiden sich Handlungen folglich nicht von physikalischen, chemischen, biologischen, neurophysiologischen oder andersartigen Ereignissen. Individuelle Handlungen werden im wissenschaftlichen Weh bild vergegenständlicht. Sie werden damit vom Handelnden als Person isoliert, wodurch sie ihre Individualität und Einzigartigkeit verlieren. Aus wissenschaftlicher Perspektive hat eine

Kapitel I Einleitung

Handlung, die nur noch als unspezifischer Untersuchungsgegenstand in Erscheinung tritt, den Vorteil, dass sie ins Raster wissenschaftlicher Erklärungsmuster eingebunden werden kann. In den Wissenschaften werden aber nicht nur Handlungen vergegenständlicht, sondern auch ihre konstituierenden mentalen Einstellungen wie Absichten, Wünsche, Überzeugungen und Gründe. Diese werden von ihren Inhalten isoliert und somit von dem, was jemand beabsichtigt, wünscht oder denkt. Sie werden folglich gleichfalls auf unspezifische Ereignisse reduziert um sie dem Raster wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden und Erklärungsarten anzupassen. Handlungskonstituierende mentale Einstellungen werden so zu Ursachen und Handlungen zu Wirkungen, die nun dadurch erklärt werden, dass man sie mit ihren mentalen Ursachen kausalgesetzlich verknüpft. Der Gründeerklärung des Alltagsverständnisses tritt somit im wissenschaftlichen Weltbild die Kausalerklärung gegenüber. Aus rein wissenschaftlicher Perspektive scheint es folglich gleichfalls kein besonderes Problem der Handlungserklärung zu geben, das nicht mittels wissenschaftlicher Methoden allein gelöst werden könnte und deshalb eine philosophische Reflexion erfordern würde. Damit hat es den Anschein, dass es weder im manifesten noch im wissenschaftlichen Weltbild ein Problem der Handlungserklärung gibt, zumindest kein philosophisches. Wo ist also das philosophische Problem der Handlungserklärung, das im Titel dieser Arbeit genannt wird und dieser Arbeit seine Orientierung gibt? Der folgende Abschnitt wird dieser Frage nachgehen. Er wird zudem allgemeine Anmerkungen zum Begriff der Handlungserklärung geben und einige Vorüberlegungen zum philosophischen Problem der Handlungserklärung führen.

1 DAS PHILOSOPHISCHE PROBLEM DER HANDLUNGSERKLÄRUNG Das philosophische Problem der Handlungserklärung tritt auf, wenn das wissenschaftliche und alltägliche Weltverständnis aufeinanderstoßen oder in der Zusammenschau betrachtet werden. Denn dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis beider Weltbilder und somit insbesondere die Frage nach dem Verhältnis von Grund und Ursache einerseits und von Gründeerklärung und Kausalerklärung von Handlungen andererseits. Hieran schließen sich unmittelbar Fragen an wie: Sind Gründe auf Ursachen und folglich Gründeerklärungen auf Kausalerklärungen reduzibel? Oder sind sie irreduzibel und damit Gründeerklärungen und Kausalerklärungen zwei autonome Weisen Handlungen zu erklären? Falls sie irreduzibel sind, dann ist die Frage zu beantworten, welche der beiden Erklärungsarten Handlungen adäquater zu erklären vermögen, wobei der Begriff der Adäquatheit selbst wiederum ein problematischer und daher noch näher zu explizierender Begriff ist.

2

1 Das philosophische Problem der Handlungserklärung

In der philosophischen Handlungstheorie Sellars', deren kritische Rekonstruktion, neben dem Problem der Handlungserklärung, den zweiten Schwerpunkt dieser Arbeit bildet, stehen die genannten Verhältnisse in einer engen Beziehung zu einer weiteren Relation, nämlich der mentaler Inhalte und mentaler Akte. Insgesamt kommt daher das philosophische Problem der Handlungserklärung in vier problematischen Verhältnissen zum Ausdruck, die selbst wieder untereinander in einer Wechselbeziehung stehen. Diese vier Verhältnisse sind: 0 das Verhältnis von mentalen Inhalten und mentalen Akten, 0 das Verhältnis von Handlungsgründen und Handlungsursachen, 0 das Verhältnis von Gründeerklärungen und Kausalerklärungen von Handlungen, 0 das Verhältnis von manifestem und wissenschaftlichem Weltbild. Der Versuch, das philosophische Problem der Handlungserklärung zu lösen, setzt folglich eine kritische Auseinandersetzung mit diesen vier Verhältnissen voraus, wobei das problematische Verhältnis von Gründe- und Kausalerklärung auch die Frage nach der Vereinbarkeit beider Erklärungsarten einschließt. Von besonderer Brisanz ist dabei die Frage, ob Handlungserklärungen überhaupt als Kausalerklärung konzipiert werden können. Das Problem der Handlungserklärung konzentrierte sich in der traditionellen philosophischen Handlungstheorie auf die Auseinandersetzung mit der Gegensätzlichkeit und/ oder Vereinbarkeit von Gründe- und Kausalerklärungen menschlicher Handlungen. Anstatt vom Gegensatzpaar Gründe- und Kausalerklärung wird häufig auch von den Gegensatzpaaren intentionaler und mechanistischer sowie nichtkausaler und kausaler Handlungserklärungen gesprochen. Alle diese Verhältnisse sind aber gleichermaßen problematisch. Es sind dabei vor allem die folgenden Fragen, die das Problem zum Ausdruck bringen: Sind nicht-kausale Handlungserklärungen, wie beispielsweise Gründeerklärungen, autonome und gleichberechtigte Erklärungsweisen menschlichen Handelns? Sind nicht-kausale und kausale Handlungserklärungen miteinander vereinbar, schließen beide einander aus, können beide aufeinander reduziert werden, kann eine zugunsten der anderen eliminiert werden oder sind sie unabhängig voneinander? Diese Fragen sind eng mit einer weiteren Frage verknüpft, die gerade im aktuellen handlungstheoretischen Diskurs kontrovers diskutiert wird. Es geht um die Frage der Willensfreiheit und Handlungsverantwortung in einer Welt, die angeblich vollständig kausal determiniert ist. Diese Fragestellung kann aber trotz ihrer Brisanz im Rahmen der Zielsetzung dieser Arbeit nicht untersucht werden. Denn ihr Schwerpunkt ist allein das Problem der

3

Kapitel I Einleitung

Erklärung menschlichen Handelns. In den aktuellen Debatten ist dieses Problem facettenreicher und diffiziler geworden. Im Brennpunkt steht nun u.a. auch die Frage, welche mentalen Einstellungen eine Handlung de facto konstituieren, welchen Status diese Einstellungen haben und welchen Beitrag sie zur Handlungserklärung zu leisten vermögen. Das Reduktionsproblem besteht damit nicht mehr nur bezüglich Gründen, sondern auch für alle anderen möglicherweise handlungskonstitutiven mentalen Einstellungen wie Absichten, Überzeugungen, Wünsche, Motive, Willensakte und andere mehr. Versucht man das philosophische Problem der Handlungserklärung statt in Verhältnissen in einer prägnanten Frage zu formulieren, so trifft wohl die folgende Frage am ehesten den Kern dieses Problems und somit der vorliegenden Arbeit: Was ist eine Handlungserklärung? Oder: Was ist eine adäquate Handlungserklärung? Um diese Fragen zu beantworten, müssen eine Reihe von Fragen zunächst vorab beantwortet werden: Auf welche Frage soll die Handlungserklärung antworten? Welche Forderungen und Kriterien sind an eine Handlungserklärung zu stellen? Woher kommen die Forderungen und Kriterien? Wie sind diese Forderungen und Kriterien zu rechtfertigen? Und viele andere Fragen mehr. Das philosophische Problem der Handlungserklärung erweist sich somit als außerordentlich komplex. Denn es schließt eine Vielzahl gleichermaßen schwierige Fragen ein. Dabei wurden zwei entscheidende Fragen bislang noch gar nicht genannt, die mit dem philosophischen Problem der Handlungserklärung in einer direkten Beziehung stehen und von besonderer Brisanz sind. Denn eine Lösung dieses Problems ist allererst davon abhängig, was man unter dem Begriff der Handlung und unter dem Begriff der Erklärung versteht. Beide Begriffe zeichnen sich gleichermaßen durch eine problematische Ambiguität aus. Eine Handlungserklärung, die Handlungen als immer wiederkehrende, gleichartige Ereignisse interpretiert und eine Erklärung mit der Subsumption des zu erklärenden Phänomens unter ein Kausalgesetz identifiziert, wird von völlig anderer Art sein, als eine Handlungserklärung, die Handlungen als individuelle und einzigartige Sinngebilde und eine Erklärung als Wissensstandserweiterung mittels Narration auffasst. Während aber die Frage "was ist eine Handlung?" Gegenstand der philosophischen Handlungstheorie ist, gehört die Frage "was ist eine Erklärung?" primär in den Bereich der Wissenschaftstheorie. Je breiter das Spektrum möglicher Antworten auf diese beiden Fragen ist, umso breiter wird auch das Spektrum der Antworten auf unsere Kernfrage nach dem Status von Handlungserklärungen ausfallen. Bei der systematischen Analyse dieser Frage ist also Vorsicht geboten um einerseits keine Antwort von vomherein auszuschließen und andererseits keine voreiligen, unreflektierten Festlegungenaufeine bestimmte Antwort zu treffen. Bislang wurde das Problem der Handlungserklärung in einer eher allgemeinen Weise in Form von problematischen Verhältnissen formuliert. Als eine Präzisierung oder spezielle Ausdrucksform kann dieses Problem auch als Problem der

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1 Das philosophische Problem der Handlungserklärung

Konzipierung und Rechtfertigung von Gründeerklärungen sowie ihrer Verteidigung gegenüber Kausalerklärungen identifiziert werden. Diesem Problem liegt, wie noch näher zu begründen ist, der Gedanke zugrunde, dass es zwei unbefriedigende handlungstheoretische Eckpunkte gibt. Der eine wird durch Kausalerklärungen repräsentiert, die zwar den Status einer Erklärung haben, aber nicht das Vermögen, Handlungen im Lichte ihrer Gründe als plausibel, verständlich und nachvollziehbar auszuweisen. Was sie erklären, ist allein die handlungsbegleitende Körperbewegung, nicht aber die Bedeutung dieser Bewegung, die diese Bewegung allererst als eine Handlung konstituiert. So kann ein und dasselbe Heben eines Armes ein freundliches Grüßen, ein Herbeiwinken eines Kellners oder Teil einer gymnastischen Übung sein. Der andere Eckpunkt wird durch die egozentrische Rekonstruktion der Überlegungen des Handelnden im Vorfeld seiner Handlung repräsentiert. Eine solche Rekonstruktion hat zwar die Kraft die Handlungsgründe auszuweisen, aber sie ist im strengen Sinne keine Erklärung, sofern man sinnvollerweise voraussetzt, dass Erklärungen in der dritten und nicht in der ersten Person formuliert sind. Beide Eckpunkte sind also durch einen Makel ausgezeichnet. Damit stellt sich die Frage, ob es einen dritten Weg gibt, der zwischen diesen beiden Eckpunkten liegt. Gibt es etwas, das erstens den Status einer Erklärung hat, zweitens die Gründe der Handlung ausweist und somit drittens frei von den Mängeln der beiden Eckpunkte ist? Oder anders formuliert: Gibt es Gründeerklärungen? Da der eine Eckpunkt von Anscombe und der andere von Davidson verteidigt wird, kann das Problem der Konzipierung, Rechtfertigung und Verteidigung von Grundeerklärungen metaphorisch auch als Lücke zwischen Anscombe und Davidson paraphrasiert werden. In den beiden folgenden Abschnitten werden einige einleitende und auf die Zielsetzung dieser Arbeit begrenzte Anmerkungen zum Handlungs- und Erklärungsbegriff gegeben. Dies ist notwendig, da, wie oben bereits begründet, die handlungstheoretische Kernfrage nach dem, was eine Handlungserklärung ist, bereits auf zwei inhärenten und kontrovers diskutierten Subfragen gründet, deren Beantwortung den Rahmen möglicher Lösungen des Problems der Handlungserklärung allererst festlegt. Erstens: Was ist eine Handlung? Zweitens: Was ist eine Erklärung? Im weiteren Fortgang der Arbeit werden diese beiden Schlüsselbegriffe noch näher und über die nachfolgenden einleitenden Überlegungen hinausgehend expliziert.

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Kapitel I Einleitung

1.1 DAS PROBLEM DER HANDLUNG: WAS IST EINE HANDLUNG? Fiir die Lösung des Problems der Handlungserklärung ist die ontologische Frage nach dem, was eine Handlung ist, prima facie von entscheidender Bedeutung. Denn schließlich ist es eine Handlung, die erklärt werden soll. Sie ist das Erklärungsobjekt. Eine Antwort auf diese Frage wird daher die Frage nach der adäquaten Handlungserklärung wesentlich beeinflussen. Kaum eine andere Frage der philosophischen Handlungstheorie wurde jedoch so umfangreich, detailliert und kontrovers diskutiert wie die Frage nach dem, was eine Handlung ist. Einigkeit herrscht lediglich darin, dass Handlungen keine Widerfahrnisse und keine Geschehnisse sind, die einem bloß zustoßen. Eine einheitliche positive Antwort gibt es dagegen nicht. Es gibt kein allgemeines W esensmerkmal, das allen Handlung~n gemeinsam ist. Hinsichtlich des Problems der Handlungserklärung ist vor allem die Frage von Belang, ob Handlungen Ereignisse, beispielsweise Körperbewegungen, sind. Wird diese Frage bejaht, so können sie folglich als Ursache oder Wirkung auftreten und sind somit grundsätzlich kausalen Erklärungen zugänglich. Oder sind Handlungen die Bedeutungen dieser Ereignisse? Beispielsweise kann das Heben eines Armes, das im physikalischen Raum zweifelsfrei ein Ereignis darstellt, ein Griißen, ein Herbeiwinken eines Kellners oder Teil einer Gymnastikübung sein. In diesem Fall ist die Handlung anders zu erklären, beispielsweise mittels einer Griindeerklärung, die den Grund der Handlung benennt, wie das genannte Griißen, Herbeiwinken oder sportliche Üben. Oder spielt der Begriff der Handlung eine Doppelrolle, der beiden Erklärungsperspektiven zugänglich ist? Durch diese Überlegungen wird ersichtlich, dass die Antwort auf die Frage nach dem Wesen von Handlungen einen deutlichen Einfluss auf die möglichen Arten der Erklärung einer Handlung hat. Diese Frage, ihre Antworten und die Konsequenzen ihrer Antworten für das Problem der Handlungserklärung werden also näher zu untersuchen sein. Insbesondere wird die Frage zu beantworten sein, ob Handlungserklärungen überhaupt als Grunde- und als Kausalerklärung konzipiert werden können.

1.2 DAS PROBLEM DER ERKLÄRUNG: WAS IST EINE ERKLÄRUNG? Es ist offensichtlich, dass in dieser Arbeit keine umfassende und zugleich detaillierte Auseinandersetzung mit dem Begriff der Erklärung geführt werden kann. Denn dies würde nicht nur den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sondern auch die angestrebte handlungstheoretische Debatte in eine wissenschaftstheoretische überführen. Dieser Abschnitt ist daher auf wenige einleitende Aspekte fokussiert, die das

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1 Das philosophische Problem der Handlungserklärung

Problem der Handlungserklärung direkt betreffen. Im Fortgang dieser Arbeit werden dann die Konsequenzen des problematischen Erklärungsbegriffs für das Problem der Handlungserklärung noch tiefgründiger zu untersuchen sein. Es stellt sich zunächst die einfach erscheinende Frage, warum wir etwas erklären. Erklären wir ein Phänomen primär, um zu neuen Erkenntnissen über ein Phänomen, beispielsweise über eine Handlung, zu gelangen? Oder erklären wir es primär, um es später gezielt zu kontrollieren, zu beeinflussen oder zu steuern? Sicherlich kann man beides nicht scharf voneinander trennen. So erwartet man von einer deduktiv-nomologischen Erklärung zumeist nicht nur, dass sie ein Phänomen, beispielsweise wieder eine Handlung, zu erklären vermag, sondern auch, dass sie bei entsprechender Umkehrung eine Vorhersage der Handlung ermöglicht. Mit der Vorhersage ist dann zugleich auch die Möglichkeit der Kontrolle und Steuerung geschaffen. Damit werden Handlungen mit physikalischen Phänomenen gleichgesetzt. Denn auch hier dienen die im deduktiv-nomologischen Erklärungsschema enthaltenen Gesetze nicht nur dazu, beobachtete Phänomene zu erklären, sondern sie vor allem effektiv zu kontrollieren und damit zu beherrschen. Dennoch stellen die beiden Anforderungen der Erklärung und Vorhersage unterschiedliche Bedingungen an den Erklärungsbegriff. Wenn die primäre Anforderung die der Vorhersage zum Zwecke der Kontrolle und Steuerung des Phänomens ist, dann ist die Existenz eines deterministischen oder statistischen Gesetzes oder zumindest einer induktiv gewonnenen empirischen Verallgemeinerung eine notwendige Bedingung. Wenn es dagegen "nur" darum geht, einen Erkenntnisgewinn über das in Frage stehende Phänomen zu erzielen oder eine Erkenntnislücke diesbezüglich zu schließen, dann sind solche Gesetze oder Verallgemeinerungen keine per se notwendigen Bedingungen. Der Erklärungsbegriff kann dann extensiver gefasst werden und neben der deduktiv-nomologischen Erklärung auch weitere Erklärungsspielarten einschließen, wie Gründeerklärungen, verstehende Erklärungen bis hin zu holistischen und narrativen Erklärungen. Alle diese Erklärungsvarianten vermögen eine ggf. bestehende Erklärungslücke hinsichtlich einer in Frage stehenden Handlung zu schließen. Die Erweiterung des Erklärungsbegriffs um die genannten Erklärungsarten erfordert allerdings erstens die Widerlegung der positivistischen Einheitsthese, dass allen Wissenschaften ein einheitliches Erklärungsmodell zugrunde liegt, und zweitens der These, dass eine Erklärung überhaupt nur dann gegeben ist, wenn ein Gesetz ausgewiesen wird, unter welches das zu erklärende Phänomen subsumiert werden kann. Inwieweit dies für zu erklärende menschliche Handlungen möglich, plausibel und sinnvoll ist, wird gleichfalls noch nachzuweisen sein. Die nächsten Fragen, die sich hinsichtlich des Erklärungsbegriffs stellen, werden im Fortgang der Arbeit ebenfalls noch eingehender diskutiert. Sie sollen daher an dieser Stelle nur kurz vorgestellt werden. Erstens, auf welche Frage soll die Handlungserklärung eine Antwort geben? Denn an eine Handlung können viele Fragen gerichtet werden. Zweitens, welche Forderungen oder Kriterien sind an

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Handlungserklärungen zu richten? Bei der Beantwortung dieser Frage ist vor allem zu berücksichtigen, dass nicht nur die Wahl der Forderungen und Kriterien auf Konventionen gründet, sondern auch die Forderungen und Kriterien selbst. So ist die am weitesten verbreitete Forderung nach Gültigkeit selbst wieder kriterial. Denn der Begriff der Gültigkeit ist keine nicht weiter hinterfragbare Wahrheit, sondern ein Begriff, der auf Stipulation und Konvention gründet und somit selbst wieder der Kritik ausgesetzt ist. Aus den bisherigen Überlegungen folgt, dass der Erklärungsbegriff de facto ein problematischer Begriff ist. Ebenso wie beim Begriff der Handlung kann kein allgemeines Wesensmerkmal ausgewiesen werden, das allen Erklärungsarten gemeinsam ist (Kap. III und X). Insgesamt zeichnen sich also der Handlungsbegriff und Erklärungsbegriff durch eine gewisse Bandbreite aus. Es gibt nicht die Handlung und nicht die Erklärung. Da beide Termini den Begriff der Handlungserklärung bilden, kann es auch nicht die Handlungserklärung geben. Dies wird allerdings im weiteren Fortgang der Arbeit noch näher kritisch zu untersuchen, zu begründen und zu prüfen sein. Letztendlich wird durch die Extension des Erklärungs- und Handlungsbegriffs ein Quadrat der Handlungserklärungen aufgespannt. Dadurch ergeben sich verschiedene Modelle von Handlungserklärungen, die aber nicht alle gleichermaßen sinnvoll sind und auch nicht gleichermaßen das Vermögen oder die Kraft haben, Handlungen adäquat zu erklären. Für welche Erklärungsarten dies zutrifft und welche durch Seilars begründet und verteidigt werden, wird gleichfalls in dieser Arbeit untersucht.

2 WARUM WILFRID SELLARS? Es mag vielleicht überraschen, dass neben dem Sachproblem der Handlungserklärung die philosophische Handlungstheorie Wilfrid Sellars' (1912-1989) als zweiter Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit gewählt wurde. Denn betrachtet man die bereits außerordentlich umfangreiche Literatur zur philosophischen Handlungstheorie, so wird man nur äußerst selten auf den Namen Seilars stoßen. Woran liegt das? Das philosophische Gesamtwerk von Seilars erstreckt sich über nahezu alle großen Teilbereiche der Philosophie. In seinen etwa 120 Veröffentlichungen, die sich in Bücher, Essays und Vorlesungspublikationen aufteilen, untersucht Seilars Probleme der Philosophiegeschichte, Sprachphilosophie, Bedeutungstheorie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Metaphysik, Philosophie des Geistes, Handlungstheorie und Ethik. Doch keines seinerWerke kann eindeutig der Handlungstheorie zugeordnet werden, denn in Sellars' Philosophie ist Alles mit Allem verflochten. Während einige der aufgeführten philosophischen Teilhereiche in der

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2 W arurn Wilfrid Sellars?

Nachfolge Sellars' -vor allem in jüngster Zeit - umfangreich und eingehend rezipiert wurden, gilt dies für seine Handlungstheorie nicht. Ihre Rezeption erfolgte bislang nur auszugsweise und bruchstückhaft. Zumeist wird sie zugunsten der Rezeption der bekannteren Arbeiten Sellars' vollständig übergangen. Es ist ein Ziel dieser Arbeit, einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke zu leisten. Doch dieses Ziel ist nicht auf einem direktenWeg zu erreichen, denn Sellars' Handlungstheorie kann nicht isoliert von seinen anderen Arbeiten verstanden werden, da in seinem Gesamtwerk alles in einem systematischen Zusammenhang steht. Aufgrund dessen können seine Teile nur aus der Perspektive des Ganzen und das Ganze nur aus der Perspektive seiner Teile verstanden werden. Dies gilt uneingeschränkt auch für seine handlungstheoretischen Überlegungen, die sich auf etwa dreizehn Werke seines Gesamtwerks verteilen. Aber auch hier wäre es ein Trugschluss zu glauben, dass seine Handlungstheorie nach einem gründlichen Studium dieser dreizehn Werke offen vorliege. Denn ohne den Einbezug seiner Überlegungen zu anderen Bereichen der Philosophie, insbesondere seiner Philosophie des Geistes, bleibt seine Handlungstheorie lückenhaft und unverständlich. DerWeg zum Verständnis seiner philosophischen Handlungstheorie kann somit nur über eine adäquate Erörterung seines Gesamtwerks führen. Die kritische Explikation des Seilarssehen Werkes wird in dieser Arbeit auf seine Handlungstheorie begrenzt und arn Problern der Handlungserklärung orientiert. Sellars' Sprachphilosophie, Bedeutungstheorie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und Metaphysik werden deshalb in dieser Arbeit nur insoweit expliziert, wi~ es für eine kritische Auseinandersetzung mit seiner Handlungstheorie und für den Versuch einer Lösung des Problems der Handlungserklärung erforderlich ist. Eine gleichgewichtige Untersuchungall dieser Bereiche würde nicht nur den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sondern wäre auch hinsichtlich ihrer problernorientierten Zielsetzung unangemessen. Es ist vielmehr das Ziel der kritischen Explikation, die Seilarssehen Antworten auf ausgewählte Fragen und Probleme, die im folgenden Abschnitt vorgestellt werden, zu ergründen und bezüglich ihrer Besonderheiten und Konsequenzen zu prüfen. Die Schwierigkeit bei der Entfaltung und Rekonstruktion der Seilarssehen philosophischen Handlungstheorie ist, dass Seilars trotz seiner synoptischen Zielsetzung keine in sich zusammenhängende und abgeschlossene Handlungstheorie entwickelte. Seine handlungstheoretischen Überlegungen, die er über einen Zeitraum von etwa fünfundzwanzig Jahren publizierte, sind auf viele Essays verteilt und finden sich auch in Aufsätzen, die nicht explizit der Handlungstheorie gewidmet sind. Dadurch ergeben sich zwangsläufig begriffliche Verschiebungen, Ungereimtheiten und Inkonsistenzen, die Seilars sicherlich ausgeräumt hätte, wenn er seine Handlungstheorie als geschlossenes Ganzes dargestellt hätte. Ein Teil der vorliegenden Arbeit kann daher als der anspruchsvolle Versuch gedeutet werden, diese Lücke der fehlenden Gesamtdarstellung der Handlungstheorie Sellars' zu schließen. Dabei

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soll auch der V ersuch unternommen werden, seine Antworten auf solche Fragen zum Problembereich der Handlungserklärung zu rekonstruieren, auf die er selbst keine direkten Antworten gibt. Die Explikation seiner Handlungstheorie ähnelt daher der diffizilen Arbeit an einem Puzzle oder Mosaik mit vielen fehlenden Teilen. Zunächst müssen die vorhandenen Einzelteile aufgefunden und zu einem ersten, noch lückenhaften Bild zusammengefügt werden. In einem zweiten Schritt sind dann die noch fehlenden Puzzleteile zu konstruieren, um ein Gesamtbild seiner philosophischen Handlungstheorie zu erhalten. Erst dann kann dieses Bild verortet und einer kritischen Auseinandersetzung unterzogen werden. Der Begriff "kritisch" wird dabei sowohl kantisch im Sinne einer systematischen und detaillierten Auseinandersetzung verstanden, als auch im alltäglichen Sinne von "kritisieren" oder "Kritik üben" durch den Ausweis begründeter Antithesen und Gegenargumente. Der Zugang zu Sellars' Handlungstheorie ist ebenso schwierig wie der zu anderen Bereichen seines Gesamtwerks. Dies liegt aber nicht nur an seiner Verschmelzung aller Bereiche zu einem systematischen Ganzen und an seiner fehlenden Gesamtdarstellung. Der schwierige Zugang ist auch durch seinen Schreibstil begründet, der, hierin sind sich alle seine Rezipienten einig, viele seiner Leser resignieren lässt. So erkennt DeVries eine "strukturelle Opazität: viele Sätze und Paragraphen erscheinen undurchsichtig, weil man nicht versteht, was sie an dieser Stelle sollen" (DeVries 2005, vii). Um dies zu erfassen "muss man sie im vollständigen Kontext seiner Philosophie sehen" (a.a.O., viii). Ähnlich auch Scharp und Brandom: "Rather than each paper functioning as an Independent puzzle piece, one typically finds all of Sellars's work reflected in some way in each paper. Although each one focusses on a particular topic, Sellars's points invariably depend on claims and arguments presented elsewhere. In any given piece, arguments and doctrines that appear in detail in other papers often appear compressed almost to the point of unintelligibility. Thus, in a very real sense, one must read a great deal of Sellars's work to understand any one text" (Scharp/Brandom 2007, viii). Koch sieht das Verständnisproblem vor allem in der .,sehr verwickelten und voraussetzungsreichen Darstellungsweise, mit der S. [Sellars; jhf] dennoch nicht verhindern kann, dass jede einzelne Problemlösung, die er vorschlägt, erst im Licht seiner metaphysischen Gesamtkonzeption zur Gänze verständlich wird" (Koch 2007, 617). Sellars' Werk offenbart sich somit als "Mosaik eines systematischen Ansatzes" (Seibt 1995, 22), das vom Leser allererst in mühevoller Arbeit aus einer Vielzahl von Mosaikteilchen zusammengesetzt werden muss. Lässt man sich aber auf das Abenteuer Seilars ein, beispielsweise auf seine Handlungstheorie, so offenbart sich eine facettenreiche und tiefgründige Theorie, die besondere Einblicke in die komplexen Zusammenhänge menschlichen Handeins freigibt. Sellars' Handlungs-

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theorie erschließt sich am ehesten, wenn man seinem frei nach Kant formulierten Motto folgt: "Analysis without synopsis is blind, synopsis without analysis is empty" (SC 5). Gemäß diesem Motto erfordert der Zugang zu seiner Handlungstheorie zunächst eine analytische Detailarbeit, die in der gründlichen Analyse seiner Werke und seiner Grundbegriffe besteht. Anschließend sind die Detailergebnisse zu einem Gesamtbild zu vereinen, das seine Handlungstheorie als ein systematisches Ganzes erkennen lässt. Es ist ein Bild mit herausragenden Merkmalen, die in der vorliegenden Arbeit entfaltet werden. Sellars' handlungstheoretische Werke sind zumeist auch ethisch orientierte Werke. Hierauf verweisen vielfach bereits die Titel seiner Essays. 1 Handlungstheorie und Ethik gehen bei Seilars also Hand in Hand. Ein Schlüsselbegriff seiner Handlungstheorie ist "shall". Es ist ein technischer Ausdruck, mit dem Absichten ausgedrückt werden, z.B. "I shall raise my hand". Der entsprechende Schlüsselbegriff seiner Ethik ist "ought". Mit diesem ebenfalls technischen Ausdruck werden Sollensforderungen ausgedrückt, z.B. "I ought to promote general wellfare". Ist erst einmal nachgewiesen, dass "ought" auf "shall" reduzibel ist, und dies ist ein gewichtiges Ziel Sellars', dann gibt es zwischen Handlungstheorie und Ethik keine Grenze mehr. Sie gehen fließend ineinander über, was Seilars in seinen handlungstheoretisch-ethischen Werken immer wieder zu begründen versucht. In der vorliegenden Arbeit geht es jedoch ausschließlich um rein handlungstheoretische Problem- und Fragestellungen. Die ethischen Aspekte der Seilarssehen Position werden daher ausgespart. Sellars' handlungstheoretischeWerke erscheinen im Vergleich zu anderen klassischen Werken der Handlungstheorie, z.B. Davidsons Actions, Reasons, and Causes, auf den ersten Blick nicht sonderlich tiefgründig, sondern begrenzt auf eine Logik der Absicht und eine des praktischen Schließens. Hierzu trägt auch Sellars' ausgeprägter formalistischer Stil bei, der mit seinen vielfältigen Operatoren, technischen Termini und logischen Schlussregeln eher einem Lehrbuch der Logik gleicht, als einem Werk der philosophischen Handlungstheorie. "What is at issue is the logical structure of practical reasoning" (CPCI §44). Auch seine äußerst detaillierte und vorwiegend logische Analyse des Absichtsbegriffes scheint an den wesentlichen philosophischen Problemstellungen der Handlungstheorie vorbeizugehen, beispielsweise am Problem der Handlungserklärung. Doch dieser Schein der Oberflächlichkeit und Nebensächlichkeit trügt. Bereits in seinem ersten handlungstheoretischen Werk IIO (1956), das Seilars 1963 in einer stark modifizierten und erweiterten Version ein zweites Mal publiziert, wird deutlich, wenn auch wieder nicht auf den ersten Blick, dass seine Handlungstheorie nicht nur in begrifflichen und logischen Analysen besteht, sondern ein tiefgründiges Fundament hat, das in Z.B.: Imperatives, Intentions, and the Logic of Ought. {1956 und 1963) und Objectivity, lntersubjectivity and the Moral Point ofView (1967).

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seiner Philosophie des Geistes wurzelt. Während aber diese Wurzeln in IIO und IIOR nur angedeutet werden, spiegelt sich im darauf folgenden Werk Thought and Action (TA 1966) die enge und untrennbare Verbindung seiner Handlungstheorie mit der Philosophie des Geistes bereits im Titel wider. Um Sellars' Handlungstheorie zu rekonstruieren, ist es also notwendig, ihre geistesphilosophischen Wurzeln offen zu legen. Seilars ist Mitbegründer und einer der bekanntesten Mitstreiter der amerikanischen analytischen Philosophie. Seine Bedeutung entspricht etwa derjenigen Wittgensteins in der europäischen analytischen Philosophie. Für Rosenberg ist Seilars eine der wichtigsten Figuren der Philosophie der Nachkriegszeit (Rosenberg 1990, 1) und für Scharp und Brandom "der bedeutendste amerikanische Philosoph seit Charles Sanders Peirce" (Scharp/Brandom 2007, vii). In der Nachfolge Sellars' setzen sich vor allem seine Schüler (Rosenberg, DeVries, das Ehepaar Churchland u.a.) sowie Rorty, McDowell und Brandom mit seiner Philosophie auseinander. Sicherlich sind die oben genannten Schwierigkeiten mit ein Grund dafür, dass Sellars' Werk im Vergleich zu anderen Werken der analytischen Philosophie, wie beispielsweise dasjenige von Davidson, bis heute so wenig beachtet wurde, auch wenn das Interesse an seinen Werken in jüngster Zeit eine bescheidene Renaissance erfährt. Die Rezeption seines Werkes erfolgte bislang überwiegend in Amerika. In Europa ist erst seit jüngster Zeit ein wachsendes Interesse an Seilars zu erkennen. Seilars ist nicht nur analytischer Philosoph. Denn seine philosophischen Arbeiten sind keineswegs auf die bloße Analyse philosophischer Detailprobleme und Detailfragen begrenzt. Was sein Werk gegenüber den meisten anderen Werken der analytischen Philosophie auszeichnet ist, dass es die zu analysierenden Fragen und Probleme stets auch in einen größeren systematischen Zusammenhang stellt. 2 Damit ermöglicht Seilars eine Zusammenschau (Synopsis) der Dinge und ein einheitliches Bild des Menschen in der Welt. Sein Ziel ist eine "unified vision of man-in-theworld which is the aim of philosophy" (PSIM 19). Damit ist Seilars ein analysierender und zugleich systematisierender und integrierender Philosoph. Analyse und Synopsis sind für ihn in dialektischer Weise miteinander verbunden. Diese Verbindung von Analysis und Synopsis, die er auch in seiner Handlungstheorie anstrebt aber leider nicht vollendet, machen eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Werk im Allgemeinen und seiner Handlungstheorie im Besonderen, zu einem lohnenswerten philosophischen Unternehmen. Sellars' philosophisches Hauptprojekt spiegelt sich in den beiden Begriffen des manifesten und wissenschaftlichen Weltbildes wider. Seine Ziele sind erstens, beide Weltbilder und ihre Beziehung zueinander zu beschreiben, zweitens, die geschiehtZu Sellars' Besonderheiten, die ihn gleichfalls gegenüber vielen anderen Philosophen der analytischen Philosophie auszeichnet, gehön auch seine Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition. Für die angestrebte kritische Rekonstruktion seiner Handlungstheorie spielen diese Arbeiten allerdings nur eine marginale Rolle.

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liehe Entwicklung beider W e!tbilder zu rekonstruieren und drittens, die brisante Frage zu beantworten, ob es "in the long run" ein einheitliches Weltbild geben wird. Sellars begründet, dass die Entwicklungsgeschichte des Menschen mit einem sukzessiven Wandel seiner Weltbilder verknüpft ist. Diese Übergänge sind aber nicht nur kultureller und sozialer Art. Der Weltbildwandel ist vor allem ein Wandel des begrifflichen Systems (conceptual framework) und kategorialen Gefüges (categorial framework) und damit in der ontologischen Fundierung. Neue Weltbilder ersetzen die vorangegangenen oder nehmen diese in sich auf. Auch gegenwärtig findet nach Sellars ein Weltbildübergang oder eine Weltbildvereinigung statt. Es ist der Übergang des manifesten oder alltäglichen Weltverständnisses (manifest image) zum wissenschaftlichen Weltbild (scientific image) bzw. die Vereinigung dieser beiden Bilder zu einer stereoscopic oder synoptic vision. Das wissenschaftliche Weltverständnis, worunter Sellars stets das naturwissenschaftliche versteht, hat nach Sellars Vorrang gegenüber dem manifesten Weltbild, denn "science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not" (EPM 173). DieserVorzug des wissenschaftlichen Weltverständnisses ist nach Sellars vor allem durch seine stärkere Erklärungskraft begründet, die im Sinne des Sellarsschen wissenschaftlichen Realismus zugleich mit einer größeren Wahrheitsnähe korreliert. Ob diese Vorrangstellung der Naturwissenschaften eines Tages, wenn die wissenschaftliche Entwicklung im Sinne Peirce' ihren Idealzustand erreicht hat, eine Elimination des alltäglichen Weltverständnisses ermöglicht, ist aber zweifelhaft. Mit den beiden ontologisch unterschiedlich fundierten Weltverständnissen sind zugleich divergierende Ansichten über den Status des menschlichen Geistes und den Status menschlicher Handlungen verknüpft. Eine Explikation von Sellars' philosophischer Handlungstheorie muss daher diese unterschiedlichen Bilder beachten, was aber häufig schwierig ist, da Sellars nicht immer klar zu erkennen gibt, in welchem Weltverständnis er sich gerade bewegt. Es wird nachzuweisen sein, welche Bedeutung dem menschlichen Handeln in diesen beiden Weltbildern zukommt und welchen Status Handlungserklärungen in diesen beiden Weltbildern einnehmen. In der Nachfolge Sellars' haben sich die Philosophie des Geistes und die Handlungstheorie dynamisch entwickelt. In der Philosophie des Geistes entstand ein wahrer Dschungel divergierender Positionen, Unterpositionen, Thesen und Antithesen: semantischer Physikalismus, logischer Behaviorismus, Identitätstheorie, Funktionalismus, anomaler Monismus, Supervenienztheorie, Eliminativismus, Epiphänomenalismus und andere mehr. Viele dieser Positionen finden in Sellars' Philosophie ihre gedankliche Vorbereitung. Dies gilt insbesondere für den Funktionalismus, als deren Begründer Sellars gilt. Sellars wird zudem häufig als ein Pionier des Eliminativismus betrachtet. Doch dies gründet auf einer Fehleinschätzung oder Fehlinterpretation seiner Philosophie. Sellars ist kein Eliminativist und, wenn es um menschliche Handlungen und Intentionen geht, vermutlich (was zu prüfen ist)

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auch kein Reduktionist. Das wohl strittigste Problem innerhalb seiner Handlungstheorie ist, inwieweit sie eine kausal-nomologische Handlungserklärung begründet und damit doch den Weg zu einem Reduktionismus öffnet. Oder anders formuliert: Ist Seilars nun ein Reduktionist oder nicht? Mit dieser Problematik ist untrennbar die Frage nach der Prävalenz des wissenschaftlichen Weltbildes gegenüber dem manifesten verknüpft. Kann das wissenschaftliche Weltbild das manifeste Weltbild vollständig ersetzen oder gibt es lebensweltliche Bereiche, die sich dem wissenschaftlichen Weltbild verschließen? Seilars spricht an mehreren Stellen seines Gesamtwerks die Vermutung aus, dass individuelles, intentionales Handeln und der Begriff der Person einen solchen, nicht weiter reduzierbaren Bereich bilden. Wenn diese Vermutung plausibel ist, was noch nachzuweisen ist, dann hat selbst im wissenschaftlichen Idealzustand, der nach Seilars und Peirce in ferner Zukunft, in the long run, zu erwarten ist, das manifeste Weltbild, in dem der Mensch, so Sellars, das primäre Objekt ist, seine Berechtigung. Denn das manifeste oder alltägliche Weltverständnis zeichnet sich durch pragmatische Merkmale der Normativität aus, die weder eliminiert noch auf eine rein wissenschaftliche Sprache reduziert werden können. Hierzu gehören bis zu einem gewissen Umfang, der zu klären und zu bestimmen ist, auch die menschlichen Handlungen und Absichten, die für Seilars einen besonderen Status haben. Das problematische Verhältnis des manifesten und wissenschaftlichen Weltbildes hat somit innerhalb der Handlungstheorie Sellars' einen entscheidenden Einfluss auf den Versuch, das Problem der Handlungserklärung zu lösen. Von herausragender Bedeutung für das Verständnis der philosophischen Handlungstheorie Sellars' ist seine geistesphilosophische Gegenüberstellung mentaler Akte und mentaler Inhalte sowie seine epistemologische Gegenüberstellung des Raums der Ursachen und des Raums der Gründe. 3 Alle drei Gegenüberstellungen, nämlich die der Weltbilder, der epistemologischen Räume und der mentalen Entitäten, sind einerseits untereinander eng miteinander verknüpft und andererseits untrennbar mit dem problematischen Verhältnis der beiden scheinbar einander ausschließenden Erklärungsarten kausale und nicht-kausale Handlungserklärungverbunden. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit ein besonderes Augenmerk auf diese für Seilars charakteristischen Gegenüberstellungen sowie auf ihren Beitrag zur Lösung des Problems der Handlungserklärung zu richten sein. Von gleichfalls besonderer Relevanz für den Versuch, das Problem der Handlungserklärung zu lösen und die Frage nach dem Verhältnis kausaler und nichtkausaler Handlungserklärungen zu beantworten, ist das problematische Verhältnis von Absicht und Handlung mit dem sich Seilars intensiv und detailliert auseinanDie Trennung mentaler Inhalte und Akte in der Philosophie des Geistes korrespondiert mit der Zweiteilung von Absichtsinhalten und-aktenund von Überzeugungsinhalten und -akten in der Handlungstheorie (Kap. VI).

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dersetzt. Sellars rehabilitiert den zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch den Positivismus und Behaviorismus verdrängten Begriff des Willensaktes (volition). Dadurch wird aus dem problematischen zweigliedrigen Verhältnis von Absicht und Handlung, das dreigliedrige Verhältnis von Intention, Willensakt und Handlung. Weiche Probleme damit im Hinblick auf das Problem der Handlungserklärung gelöst oder allererst generiert werden, ist gleichfalls ein wichtiger Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Über das Verhältnis von Absicht, Wille und Handlung ist die philosophische Handlungstheorie wiederum aufs Engste mit der Philosophie des Geistes und einem ihrer Kernprobleme verknüpft, nämlich mit dem philosophischen Problem der mentalen Verursachung - ein Erbe des cartesianischen Paradigmas. Diese enge Verbindung zwischen der Philosophie des Geistes und der Handlungstheorie ist bei Sellars essentiell. Ohne ein Verständnis seiner Philosophie des Geistes besteht daher kein Zugang zu seiner Handlungstheorie. Dies ist, wie bereits expliziert wurde, ein herausragendes Beispiel dafür, wie verschiedene philosophische Teilbereiche, hier insbesondere Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes und Handlungstheorie, wechselseitig ineinander greifen. Deshalb erfordert eine Untersuchung und Rekonstruktion der Handlungstheorie Sellars' eine nahezu ebenso gründliche Untersuchung seiner sprach-, bedeutungs- und erkenntnistheoretisch fundierten Philosophie des Geistes. 4 Seilars fokussiert einen großen Teil seiner philosophischen Handlungstheorie auf die Entwicklung einer Logik der Absicht und des praktischen Schließens. Aber es sind nicht diese Logiken, die den philosophischen Reiz einer Auseinandersetzung mit seiner Handlungstheorie ausmachen. Denn diese Logiken sind, wie noch nachzuweisen ist, erstens nicht sehr originell und zweitens nur bedingt geeignet, alltägliche individuelle Handlungen zu beschreiben und zu erklären. Das Besondere und Herausragende seiner philosophischen Handlungstheorie ist stattdessen die gerade genannte enge und untrennbare Verknüpfung mit der Philosophie des Geistes. Diese Verknüpfung ermöglicht, das philosophische Problem des Verhältnisses oder der Vereinbarkeit von Gründe- und Kausalerklärungen von Handlungen aus zwei Perspektiven zu erforschen, nämlich aus einer handlungstheoretischen und einer geistesphilosophischen. Zudem begründet Sellars in seiner Philosophie des Geistes eine enge Verknüpfung von Wahrnehmung, Denken und Handlung. Es ist das Ziel seiner Philosophie, diese drei Kernbereiche menschlicher Existenz und die Verhältnisse, in denen sie stehen, zu analysieren und zu einem Gesamtbild des Menschen als soziales und handelndes Wesen zu vereinen. Aus der für Sellars spezifischen Verknüpfung der Handlungstheorie mit der Philosophie des Geistes kann nicht impliziert werden, dass mit der Lösung der geistesphilosophischen Probleme zugleich die handlungstheoretischen Probleme im Allgemeinen und das Problem der Handlungserklärung im Besonderen gelöst werden könnten. Dieser Schluss wäre ein Imum. Die Philosophie des Geistes vermag zwar Einblicke in die inneren Vorgänge des Handelnden zu geben, aber nicht die Erklärung individueller Handlungen zu leisten.

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"The ideal aim of philosophizing is to become reflectively at home in the full complexity of the multi-dimensional conceptual system in terms of which we suffer, think, and act" (SK 295). Im folgenden Abschnitt werden nun diejenigen am Problem der Handlungserklärung orientierten Fragen präzisiert, die in dieser Arbeit thesenartig beantwortet, begründet und gegen Einwände verteidigt werden.

3 ZIELSETZUNG, PROBLEM- UND FRAGESTELLUNG Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist zweigeteilt. Das erste Ziel ist die systematische und kritische Auseinandersetzung mit der Handlungstheorie Sellars' unter besonderer Berücksichtigung des Problems der Handlungserklärung und der handlungstheoretischen Kernfrage: Was ist eine Handlungserklärung? Das zweite Ziel besteht in dem Versuch, das Problem der Handlungserklärung sowie seine Präzisierung als Problem der Konzipierung, Rechtfertigung und Verteidigung von Grundeerklärungen zu lösen oder zumindest eine Lösungsskizze zu entwerfen. Die Arbeit teilt sich somit in zwei eng miteinander verwobene Komponenten, eine historische und eine problemorientierte. Das problemorientierte Moment ist selbst wieder zweigeteilt. Es beinhaltet erstens, als eine Art heuristische Vorleistung, die Untersuchung der bereits oben genannten vier problematischen Verhältnisse: (1) mentale Inhalte und mentale Akte, (2) Handlungsgründe und Handlungsursachen, (3) Gründeerklärungen und Kausalerklärungen und (4) manifestes und wissenschaftliches Weh bild. Diese vier Relationen spielen besonders in der Handlungstheorie Sellars' eine herausragende Rolle. Zweitens umfasst das problemorientierte Moment die kritische Auseinandersetzung mit dem bereits oben formulierten Kernproblem und den Versuch, dieses Problem zu lösen. Da dieses Problem der vorliegenden Arbeit als sachproblematischer Leitfaden dient, an dem sich alle nachfolgenden Kapitel orientieren, soll es an dieser Stelle nochmals explizit formuliert werden. Das Kernproblem der Arbeit ist die Konzipierung und Rechtfertigung von Gründeerklärungen sowie ihre Verteidigung gegenüber Kausalerklärungen. Zu diesem Zentralproblem gehört vor allem die Frage nach dem Status, der Autonomie und der Vollständigkeit von Gründeerklärungen, also nach denjenigen Merkmalen von Erklärungen, die von den Kausalisten hinsichtlich Gründeerklärungen bestritten werden.

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3 Zielsetzung, Problem- und Fragestellung

Das historische Moment umfasst die systematische und kritische Rekonstruktion der philosophischen Handlungstheorie Sellars' sowie die Entfaltung ihrer Argumentationskette. Dabei wird das Ziel verfolgt, die Besonderheiten und Eigentümlichkeiten seines Standpunktes aufzudecken, einer Kritik zu unterziehen und mit den historischen und aktuellen Standpunkten zu kontrastieren. Da Seilars seine Handlungstheorie nie als geschlossenes Ganzes publizierte, kann die vorliegende Arbeit auch als der Versuch gedeutet werden, diese Lücke der fehlenden Gesamtdarstellung zu schließen und damit einen bescheidenen Beitrag zur Sellars-Forschung zu leisten. 5 Es bleibt dabei allerdings eine offene Frage, inwieweit Sellars der in dieser Arbeit durchgeführten Konstruktion eines handlungstheoretischen Gebäudes, aufbauend auf seinen handlungstheoretischen Bausteinen, zustimmen würde. Diese Frage gilt erst recht für die in dieser Arbeit aus dem philosophischen Gesamtgebäude deduzierten handlungstheoretischen Implikationen. Hinsichtlich der sachproblematischen Orientierung dieser Arbeit am Problem der Handlungserklärung, sind es insbesondere vier an die Position Sellars' gerichtete Fragen, die in dieser Arbeit thesenartig beantwortet, begründet und verteidigt werden: 0 In welcher Weise formuliert Seilars das Problem der Handlungserklärung? 0 Welche Antworten gibt Sellars und worin bestehen ihre Besonderheiten? 0 Sind seine Antworten plausibel? 0 Weiche Bedeutung haben seine Antworten für die aktuelle Debatte der Handlungstheorie? Die Schwierigkeiten in der Beantwortung dieser Fragen wurden bereits genannt. Sie bestehen einerseits darin, dass Seilars keine geschlossene Handlungstheorie publizierte, sondern "nur" vielfältige handlungstheoretische Überlegungen zu ebenso vielfältigen handlungstheoretischen Aspekten. Andererseits gründen alle seine handlungstheoretischen Werke in seiner Philosophie des Geistes. Eine Antwort lässt sich daher nur dann ermitteln, wenn seine handlungstheoretischen Bausteine, unter Beachtung ihrer geistesphilosophischen Wurzeln, allererst zu einem aussagefähigen Gebäude vereinigt werden. Diese Wurzeln finden sich bei Sellars primär in seiner geistesphilosophischen Trennung mentaler Inhalte und Akte, die mit seiner In der Literatur finden sich bloß Untersuchungen ausgewählter handlungstheoretischer Aspekte, so zum Beispiel aus Sellars' Frühwerken in Aune 1975, Castaiieda 1975a, l975b und 1983, Donogan 1975, Gutting 1977 und Brand 1979 und aus seinen Spätwerken in Rosenberg 1990 und 2000, DeVries 2005 und O'Shea 2007.

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epistemologischen Gegenüberstellung des Raums der Gründe und des Raums der Ursachen korreliert und der Schlüssel zum Verständnis seiner Handlungstheorie ist. In dieser geistesphilosophischen Fundierung gründen einerseits der philosophische Reiz und die besondere Herausforderung einer kritischen Auseinandersetzung mit seiner Handlungstheorie und andererseits die Motivation, Seilars als einen von zwei Schwerpunkten in der vorliegenden handlungstheoretischen Arbeit zu setzen. Dass seine Handlungstheorie bislang kaum rezipiert wurde und somit philosophisches Neuland darstellt (insbesondere seine jüngsten Werke) ist gleichfalls eine Triebfeder sie neugierig und kritisch zu erforschen.

4 FÜNF HANDLUNGSTHEORETISCHE THESEN In dieser Arbeit werden fünf handlungstheoretische Thesen entwickelt, begründet und gegen mögliche oder denkbare Einwände verteidigt: eine problemorientierte Kern- oder Zentralthese und vier auf die Rekonstruktion der Handlungstheorie Sellars' bezogene Thesen. Die Kernthese ist auf das Sachproblem der Handlungserklärung fokussiert. Sie gibt eine Antwort auf das oben als Leitproblem der Arbeit vorgestellte Problem der Rechtfertigung von Gründeerklärungen sowie ihrer Verteidigung gegenüber Kausalerklärungen. Mit diesem Problem ist, wie bereits expliziert wurde, die Frage verknüpft, ob es zwischen Anscombes Rekonstruktion der in foro interno durchgeführten Handlungsüberlegungen und Davidsons Modell der Kausalerklärung von Handlungen einen dritten Weg der Gründeerklärung gibt. Oder anders formuliert: Gibt es Gründeerklärungen, die den Status von Erklärungen haben und zugleich frei von den Mängeln der soeben genannten handlungstheoretischen Eckpunkte sind? Wie können diese Gründeerklärungen konzipiert, gerechtfertigt und gegen Kausalerklärungen verteidigt werden? Worin zeichnen sie sich aus? Als Antwort auf diese Fragen bzw. als Antwort auf das oben formulierte Kern- oder Leitproblem dieser Arbeit wird in den nachfolgenden Kapiteln die folgende Kernthese begründet und verteidigt. Kemthese: Gründeerklärungen haben den Status einer Erklärung sowie das Vermögen, Handlungen autonom und vollständig zu erklären. Kausalerklärungen haben gleichfalls den Status einer Erklärung aber nicht das Vermögen, Handlungen zu erklären, sondern nur handlungsimmanente Körperbewegungen. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass Kausalerklärungen empirisch zu Handlungserklärungen vervollständigt werden können.

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4 Fünf handlungstheoretische Thesen

Diese Kernthese offenbart zugleich die Pointe dieser Arbeit. Denn mit dieser These wird nicht nur ein Dogma der kausalistischen Position als Irrtum erwiesen, sondern geradewegs auf den Kopf gestellt. Es ist das kausalistische Dogma, dass allein Kausalerklärungen das Vermögen haben, Handlungen autonom und vollständig zu erklären, wohingegen Gründeerklärungen dieses Vermögen nicht besitzen. Die Begründung der Kernthese erfolgt in vier Schritten. Erstens ist der Nachweis zu erbringen, dass Gründeerklärungen sehr wohl den Status einer Erklärung haben. Hierzu ist der Erklärungsbegriff als solcher zu untersuchen (Kap. III und X). Aber auch bei Sellars finden sich hierzu hilfreiche Ansätze. Zweitens ist zu beweisen, dass Gründeerklärungen vollständig sind. Dieser Beweis kann bei Sellars ansetzen, muss aber sodann über seine Position hinausgehen (Kap. X). Drittens ist nachzuweisen, dass Gründeerklärungen autonom sind. Dieser Nachweis kann zur Gänze aus der Handlungstheorie Sellars' deduziert werden (Kap. VIII und IX). Viertens ist der Beweis zu erbringen, dass Kausalerklärungen nicht Handlungen, sondern bloß die zur Handlung gehörenden Körperbewegungen zu erklären vermögen und folglich Handlungserklärungen nicht als Kausalerklärungen konzipiert werden können. Dieser Beweis kann zwar seinen Ausgangspunkt bei Sellars nehmen, muss aber sodann wieder über seine Handlungstheorie hinausgehen. Denn auch Sellars unterliegt dem Irrtum, dass Handlungen kausal erklärt werden können, da er Absichten und Handlungen nicht nur als eine im weitesten Sinne semantische Verknüpfung konzipiert, sondern auch als eine kausale. Obgleich also bei Sellars die kategoriale Differenzierung von Gründe- und Kausalerklärung bereits gedanklich vorbereitet ist, führt er diesen Gedanken nicht konsequent zu Ende. Wo genau dieser Bruch in seinem Gedankengang liegt und wie er behoben werden kann, wird in dieser Arbeit nachzuweisen sein. Die vier weiteren Thesen 51 bis 54 dieser Arbeit beziehen sich auf das historische Moment dieser Arbeit und damit auf die Handlungstheorie Sellars' sowie auf seine Sichtweise des Problems der Handlungserklärung. Diese vier Thesen geben eine Antwort auf die vier im vorigen Abschnitt an die Handlungstheorie Sellars' gerichteten Fragen. In den nachfolgenden Kapiteln wird somit die Aufgabe zu leisten sein, diese vier Thesen zur Handlungstheorie Sellars' sukzessive zu entwickeln, zu begründen und gegen mögliche und denkbare Einwände zu verteidigen. Bei allen vier Thesen ist Folgendes zu beachten: Sellars' Handlungstheorie ist keine Theorie der Handlungserklärung im Besonderen, sondern eine Theorie des menschlichen Handeins im Allgemeinen. Diese verfolgt das Ziel, die geistesphilosophische Fundierung sowie die innere Struktur der logischen und kausalen Bedingungen menschlichen Handeins modellartig offenzulegen. Sellars' Interesse gilt daher primär der in foro interno durchgeführten egozentrischen Handlungsüberlegung des Handelnden (Sellars' practical reasoning) und nicht der Handlungserklärung durch Dritte. Folglich können Thesen zu· seiner Sichtweise des Problems der Handlungs-

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Kapitel I Einleitung

erklärung nur unter Einbezug adäquater Interpretationen, Konstruktionen und Implikationen entwickelt werden. Die erste These beantwortet die Frage, in welcher Weise Seilars das Problem der Handlungserklärung formuliert. These Sl: Seilars formuliert das Problem der Handlungserklärung primär als das geistesphilosophische Problem des Verhältnisses von mentalem Inhalt und mentalem Akt, das sich, unter bestimmten Bedingungen, zugleich als ein Problem des Verhältnisses von manifestem und wissenschaftlichem Weltbild erweist. Um diese These zu begründen wird zunächst die Verbindung zwischen dem Problem der Handlungserklärung (A) und der geistesphilosophischen Trennung mentaler Inhalte und mentaler Akte (B) nachzuweisen und näher zu bestimmen sein. Anschließend ist erstens zu zeigen, dass zwischen der geistesphilosophischen Gegenüberstellung mentaler Akte und mentaler Inhalte und der Gegenüberstellung des manifesten und wissenschaftlichen Weltbildes (C) gleichfalls eine Verbindung besteht, und zweitens zu prüfen, von welcher Art diese ist. Ist auch diese Verbindung nachgewiesen, so ist zugleich die Verknüpfung des Problems der Handlungserklärung mit dem problematischen Verhältnis beider Weltbilder bewiesen. Denn wenn A und B als auch B und C verknüpft sind, dann sind es auch A und C. Die zweite These beantwortet die Frage, wie Seilars das Problem der Handlungserklärung löst. These S2: Seilars behauptet ein irreduzibles Verhältnis mentaler Inhalte und mentaler Akte. Dies impliziert ein irreduzibles Verhältnis von Grund und Ursache und folglich ein irreduzibles Verhältnis von nicht-kausalen und kausalen Handlungserklärungen. Ergo: Nichtkausale Handlungserklärungen sind autonom. Zur Begründung dieser These ist in einem ersten Schritt der Nachweis zu erbringen, dass mentale Akte und mentale Inhalte in einem irreduziblen Verhältnis stehen. In einem zweiten Schritt ist dann unter Einbezug der These Sl zu zeigen, dass zwischen mentalen Inhalten und mentalen Akten die gleiche Relation besteht wie zwischen Grund und Ursache einerseits sowie zwischen nicht-kausalen und kausalen Handlungserklärungen andererseits. Ist dieser Nachweis erbracht, so ist zugleich bewiesen, dass nicht-kausale Handlungserklärungen irreduzibel und folglich autonom sind. Die dritte These gibt eine Antwort auf die Frage nach der Plausibilität der Position Sellars'.

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4 Fünf handlungstheoretische Thesen

These S3: Sellars' geistesphilosophische Begründung der Autonomie nicht-kausaler Handlungserklärungen ist plausibel. Er irrt allerdings in seiner Annahme, dass Handlungserklärungen logisch stringent und kausal konzipiert werden können. Um den ersten Satz dieser These zu begründen, ist der schwierige Nachweis zu erbringen, dass eine geistesphilosophische Fundierung der philosophischen Handlungstheorie plausibel ist. Ist dieser Nachweis erbracht, dann folgt die Plausibilität der geistesphilosophischen Begründung der Autonomie nicht-kausaler Handlungserklärungen unmittelbar aus den bereits begründeten Thesen S1 und 52. Zur Begründung des zweiten Satzes ist erstens nachzuweisen, dass menschliches Handeln per se keiner logischen Notwendigkeit folgt und zweitens, dass Handlungserklärungen grundsätzlich nicht als Kausalerklärung konzipiert werden können. Eine Antwort auf eine spannende Frage dieser Arbeit, nämlich die nach der aktuellen Bedeutung der philosophischen Handlungstheorie Sellars', gibt die folgende These: These S4: Sellars' handlungstheoretische Überlegungen, obgleich zur traditionellen Handlungstheorie gehörig, ermöglichen Implikationen, die nicht nur einige Ansätze der aktuellen Debatten der Handlungstheorie vorwegnehmen, sondern darüber hinaus bereits Wege zu einem neuen Verständnis von Handlungserklärungen öffnen. Die Begründung dieser These erfordert eine systematische Untersuchung der aktuellen Debatten der philosophischen Handlungstheorie. Dabei ist der Nachweis zu erbringen, dass Parallelen zwischen den aktuellen Debatten und der bereits als historisch einzustufenden Handlungstheorie Sellars' bestehen. Es ist also zu prüfen, ob und welche gegenwärtigen handlungstheoretischen Konzeptionen bereits durch Seilars gedanklich vorbereitet oder vorweggenommen werden. Die besondere Schwierigkeit dieses Nachweises besteht darin, dass Seilars in den aktuellen handlungstheoretischen Arbeiten nahezu ungenannt bleibt. Es wäre jedoch ein fataler Irrtum hieraus zu schließen, dass seine Handlungstheorie für die aktuelle Debatte keinerlei Bedeutung hat. Dieser Schluss käme einem argurnenturn ad hominem gleich. Der Grund, dass seine Handlungstheorie heute kaum eine Rolle spielt, ist zweifelsfrei kein handlungstheoretischer. Der Grund ist vermutlich allein der, dass es keinen direkten und schon gar keinen einfachen Zugang zu seiner Handlungstheorie gibt, sondern nur einen unmittelbaren und schwierigen über das Verständnis seines Gesamtwerks. Die Begründung, dass Seilars nicht nur Gedanken der aktuellen Debatten vorwegnimmt, sondern auch alternative Wege zur Lösung des Problems der Handlungserklärung eröffnet, erfordert eine radikalere Leseweise seiner handlungs- und

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Kapitel I Einleitung

geistesphilosophischen Werke. In dieser Leseweise wird berücksichtigt, dass Sellars, ebenso wie Davidson, einen Holismus des Mentalen verteidigt. Damit erhalten Absichten und Überzeugungen ihre Bedeutung allein aus ihrem Ort im holistischen Netz der Absichten und Überzeugungen. Wenn aber die handlungskonstitutiven Absichten und Überzeugungen holistisch sind, dann sind es auch die Handlungen. Es wird der Nachweis zu erbringen sein, dass dieser durch Sellars vorbereitete Ansatz alternative Konzepte der Handlungserklärung ermöglicht. Diese reichen von holistischen Erklärungen, über flexible Erklärungen, die in Abhängigkeit von den Forderungen, die an die Erklärung gerichtet werden, den Einbezug des inneren und äußeren Handlungskontextes ausdehnen oder einengen, bis hin zu narrativen Handlungserklärungen. Da mit dieser radikalen Leseweise die angestrebte Rekonstruktion der Handlungstheorie Sellars' bereits in eine genuine Konstruktion neuer Konzeptionen übergeht, werden die genannten alternativen Konzepte in der vorliegenden Arbeit nur skizziert. Obgleich das vorrangige Ziel dieser Arbeit die Begründung der Zentralthese sowie der Versuch ist, auf die im vorigen Abschnitt genannten vier Fragen eine plausible Antwort zu geben oder zumindest eine plausible Lösungsskizze zu entwerfen, so darf doch nicht vergessen werden, dass jeder philosophischen Arbeit ein weiteres Ziel inhärent ist. Es ist das Ziel, philosophische Probleme aufzudecken und philosophische Fragen zu formulieren, welche die noch zu leistenden philosophischen Aufgaben erkennen lassen. Dies gilt uneingeschränkt auch für die vorliegende Arbeit. In dieser Hinsicht steht sie im Einklang mit der von Sellars im Rahmen einer Vorlesung artikulierten Aussage: "It is some progress, however, to have a sense of what remains tobe clone. As I once pointed out, the evolution of philosophy is as much the evolution of philosophical questions as it is of answers to pre-existing questions" (SK 313).

5 AUFBAU DES BUCHES Die vorliegende Arbeit hat den Anspruch, die philosophische Handlungstheorie Sellars' und ihren Argumentationsverlauf möglichst geradlinig zu entfalten und zugleich einen kritischen Standpunkt einzunehmen. Sie geht den Fragen nach, was seine Handlungstheorie auszeichnet und was seine Position gegenüber anderen Positionen hervorhebt. Es geht also darum, das Besondere und Herausragende seiner Handlungstheorie auszuweisen und ihren Bezug zu den aktuellen Debatten der philosophischen Handlungstheorie herauszuarbeiten. Als orientierender Leitfaden dient dabei das Problem der Handlungserklärung.

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5 Aufbau des Buches

Die Arbeit ist in zehn Kapitel gegliedert. Dieser Umfang rechtfertigt sich durch zwei Aspekte. Der erste ist die Tatsache, dass die philosophische Handlungstheorie Sellars' komplex und außerordentlich voraussetzungsreich ist. Da ihreTeile nur aus seinem Gesamtwerk heraus verstanden werden können, ist es, um Fehlinterpretationen zu vermeiden, unabdingbar, seine Handlungstheorie als Ganzes zu rekonstruieren und innerhalb seines Gesamtwerks zu verorten. Diese Aufgabe wird in den Sellars-Kapiteln IV bis IX geleistet. Der zweite Aspekt folgt aus der Zielsetzung der Kapitel II und III, die der Auseinandersetzung mit dem historischen Umfeld und der aktuellen philosophischen Handlungstheorie gewidmet sind. Diese beiden Kapitel haben aber nicht nur eine einleitende und zum Thema hinführende Funktion, sondern verfolgen vor allem auch das Ziel, die historischen und aktuellen handlungstheoretischen Positionen mit derjenigen Sellars' kritisch zu kontrastieren. Sie sind daher umfangreicher als ein bloß einführender kurzer historischer und aktueller Überblick. Kapitel II untersucht den historischen Kontext der dieser Arbeit zugrundeliegenden handlungstheoretischen Problem- und Fragestellungen. Es beginnt mit einem Rekurs, der zunächst verdeutlicht, dass menschliches Handeln immer schon Gegenstand philosophischer Reflexion war. Bereits in der Antike ging es dabei nicht nur um ethisches oder politisches Handeln, sondern bereits um das absichtliche Handeln im Allgemeinen und um seine Erklärung im Besonderen. Zum historischen Umfeld werden ungeachtet ihrer immer noch aktuellen Bedeutung auch die Arbeiten von Anscombe, Davidson und von Wright gerechnet. Des Weiteren werden in diesem Kapitel auch die handlungstheoretischen Grundgedanken von Dray, Hempel und Churchland in die Diskussion einbezogen. Dabei werden zwei Ziele verfolgt: Das erste ist die kritische Untersuchung einflussreicher historischer bzw. traditioneller handlungstheoretischer Positionen unter besonderer Berücksichtigung des problematischen Verhältnisses von Absicht und Handlung einerseits und des Problems der Handlungserklärung andererseits. Das zweite ist, soweit bereits möglich, die kritische, vergleichende Gegenüberstellung dieser Positionen mit derjenigen Sellars'. Hinsichtlich des Kernproblems dieser Arbeit, nämlich der Konzipierung, Rechtfertigung und Verteidigung von Gründeerklärungen, wird in diesem Kapitel zudem der Nachweis erbracht, dass dieses Problem metaphorisch als Lücke zwischen Anseambe und Davidson paraphrasiert werden kann. Kapitel III nimmt Bezug auf die aktuellen Debatten der philosophischen Handlungstheorie. Unter dem Prädikat aktuell werden dabei diejenigen Positionen verstanden, die jenseits der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts bis hin in die Gegenwart entwickelt und begründet wurden. 6 Im Vordergrund steht die Untersuchung Als Wendepunkt, der den Übergang der traditionellen Handlungstheorie zu den aktuellen Debatten der philosophischen Handlungstheorie markiert, wird in der vorliegenden Arbeit das bekannte Werk Actions, Reasons, and Causes (1963) von Donald Davidson gesetzt. Zur traditionellen Handlungstheorie und somit zu Kapitel II zählen folglich alle Werke, die vor

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Kapitel I Einleitung

derjenigen aktuellen Positionen, die in einer engen Verbindung zur Handlungstheorie Sellars' stehen. Es wird, soweit bereits möglich, der Nachweis erbracht, dass die bereits als historisch einzustufende Handlungstheorie Sellars' deutliche Bezüge zum aktuellen Diskurs der philosophischen Handlungstheorie aufweist (These S4). Obgleich aber einige gegenwärtige Ansätze und Konzeptionen bei Seilars ihre gedankliche Vorbereitung finden, wird aber in den seltensten Fällen Seilars auch namentlich genannt. Über die möglichen Gründe wurde bereits oben reflektiert. Da ein beträchtlicher Teil der aktuellen Diskussion in der Auseinandersetzung mit dem durch Davidson entwickelten Standardmodell der kausalen Handlungserklärung besteht, beginnt dieses Kapitel mit einer kritischen Explikation der intrinsischen Probleme dieses Modells. Denn obgleich dieses bekannte Modell einen Meilenstein und Wendepunkt in der Handlungstheorie darstellt, so hat es doch die handlungstheoretischen Probleme nicht in dem Maße gelöst, wie man es anfänglich euphorisch erwartet hatte. In diesem Kapitel wird der Versuch unternommen, die Probleme des Standardmodells auf drei Kernprobleme zu reduzieren. Die Untersuchung wird auch eine kritische Prüfung der vielfältigen Versuche einschließen, diese Probleme durch entsprechende Modifikationen und Fortentwicklungen zu lösen. Das entscheidende Ergebnis dieser Untersuchung wird sein, dass Handlungen nur dann adäquat erklärt werden können, wenn man neben dem kausalen Moment auch das inhaltliche Moment von Absicht und Handlung in entsprechender Weise, die näher zu bestimmen ist, berücksichtigt. Mit diesem Ergebnis rückt die aktuelle Debatte in die Nähe Sellars', der in seiner Handlungstheorie die Bedeutung des inhaltlichen Moments gegenüber dem kausalen begründet und die These verteidigt, dass diese beiden Momente sowohl in der Philosophie des Geistes als auch in der Handlungstheorie strikt zu trennen sind. Denn viele Irrtümer und Missverständnisse in diesen beiden philosophischen Disziplinen gründen auf einer Missachtung dieser Trennung. Es wird nachgewiesen, dass Sellars' aktueller Bezug aber nicht nur in seiner Begründung der Bedeutung mentaler Inhalte besteht. Denn auch seine Willensakttheorie, seine Begründung der Vorrangstellung des Absichtsbegriffs, seine Zweiteilung der Absicht in einen unmittelbaren und mittelbaren Anteil und seine Überlegungen zur Kontrollfunktion des Absichtsbegriffs finden sich in den aktuellen Debatten wieder. Aufgrund der auch in kausalen Handlungserklärungen letztendlich notwendigen Berücksichtigung des inhaltlichen Moments von Handlungen und ihrer konstituierenden mentalen Einstellungen stellt sich die Frage: Wie kausal sind kausale Handlungserklärungen? Es wird der Versuch unternommen, diese Frage aus der Perspektive der aktuellen Debatte zu beantworten. Da das Problem der Handlungserklärung auch eines des Handlungs- und Erklärungsbegriffes diesem markanten Wendepunkt publiziert wurden. Zur aktuellen Debatte und damit zu Kapitel III gehören alle Werke, die nach diesem locus classicus der philosophischen Handlungstheorie veröffentlicht wurden. Davidsons Werk selbst wird in dieser Arbeit zur traditionellen Handlungstheorie gerechnet.

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5 Aufbau des Buches

ist, werden in den beiden letzten Abschnitten dieses Kapitels diese beiden Begriffe einer auf das Problem der Handlungserklärung begrenzten Analyse unterzogen. Die kritische Rekonstruktion der gegenwärtig immer noch nahezu unrezeptierten handlungstheoretischen Position Sellars' erfolgt in den Kapiteln IV bis IX. Diese Rekonstruktion repräsentiert, neben dem sachproblematischen Schwerpunkt, den historischen Schwerpunkt dieser Arbeit. Dies ist auch der Grund dafür, warum Sellars' Handlungstheorie umfassender und tiefgründiger untersucht wird, als die in den Kapiteln II und III diskutierten handlungstheoretischen Positionen. Da sie zudem vielschichtig, komplex und voraussetzungsreich ist, und damit zweifelsfrei zu den am schwierigsten zugänglichen Handlungstheorien gehört, wird in dieser Arbeit eine sukzessive und auf sechs Kapitel aufgeteilte Rekonstruktion verfolgt. Sie beginnt mit der Explikation der handlungstheoretischen Termini Sellars' und endet mit der Verortung seiner Handlungstheorie innerhalb seines Gesamtwerkes. Kapitel IV ist der kritischen Explikation derjenigen handlungstheoretischen Grundbegriffe gewidmet, die als technische Termini die Sellarssche Theorie oder Logik der Absicht prägen. Das Besondere an der Konzeption dieser Begriffe ist, dass sie bereits ihre geistesphilosophische Interpretation einschließt und damit Sellars' geistesphilosophische Grundlegung seiner philosophischen Handlungstheorie vorbereitet. Aufbauend auf Kapitel IV folgt in Kapitel V die Untersuchung und Prüfung der Sellarsschen Konzeption des praktischen Schlusses, den er als "practical reasoning" bezeichnet. Das Besondere an dieser Konzeption ist ihre Begrenzung auf die in foro interno durchgeführten praktischen Überlegungen des Handelnden im Vorfeld seiner Handlung. Derartige praktische Schlüsse sind folglich keine Schlüsse durch Dritte und daher zunächst nicht unmittelbar als Handlungserklärung geeignet. Das Kapitel verfolgt das Ziel, erstens die inhärenten Probleme und Defizite dieser Konzeption auszuweisen (These S3, zweiter Teil) und zweitens die Bedingungen aufzuzeigen, unter denen sie eine Erklärung von Handlungen ermöglicht. Kapitel VI kann als der Schlüssel zum Verständnis der philosophischen Handlungstheorie Sellars' angesehen werden. Denn es legt die enge und untrennbare Verknüpfung seiner Handlungstheorie mit der Philosophie des Geistes offen. In diesem Kapitel werden diejenigen Grundbegriffe und Zusammenhänge entfaltet, die den Weg zu einer Lösung des philosophischen Problems des Verhältnisses von Kausal- und Gründeerklärung menschlicher Handlungen aus der Perspektive Sellars' vorbereiten. Besondere Aufmerksamkeit ist bei dieser Untersuchung auf die für Sellars charakteristische Trennung mentaler Akte und mentaler Inhalte zu richten. Denn diese Trennung ist nicht nur für seine Philosophie des Geistes, sondern auch für das Verständnis seiner Handlungstheorie fundamental. Kapitel VII ist dem problematischen Verhältnis von Handlungsgrund und Handlungsursache und damit der kritischen Auseinandersetzung mit der bekannten These Davidsons "reasons are causes" gewidmet, die Sellars bereits vor David-

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Kapitel I Einleitung

son publizierte. Es wird untersucht, in welcherWeise Seilars diese These begründet und welche Bedeutung diese These innerhalb seiner Handlungstheorie im Allgemeinen und für das Problem der Handlungserklärung im Besonderen hat. Das Kapitel beginnt mit einer kritischen Untersuchung des Verhältnisses von Absicht und Handlung und beantwortet darauf aufbauend die Frage, in welchem Sinne Gründe die Ursachen von Handlungen sein können. Das Ziel ist der Nachweis, dass die Besonderheit der Position Sellars' darin besteht, dass er widerspruchsfrei sowohl ein kausales als auch zugleich ein nicht-kausales Verhältnis von Absicht und Handlung begründet. Dem entspricht, dass einer Handlung widerspruchsfrei ein Grund als auch zugleich eine Ursache vorausgehen kann. Es wird untersucht, ob diese Implikationen plausibel sind und welche Konsequenzen daraus für das Problem der Handlungserklärung folgen. Es wird nachgewiesen, dass Seilars den Versuch unternimmt, den Weg zu einem Miteinander von Gründe- und Kausalerklärungen von Handlungen zu öffnen (These S2), dass aber dieser Versuch auf einem Irrtum bzw. auf einem undifferenzierten Handlungsbegriff gründet. Es wird begründet, dass Seilars zwar die kategoriale Differenzierung von Gründe- und Kausalerklärung gedanklich vorbereitet, diesen Gedanken aber nicht konsequent zu Ende führt. In Kapitel VIII wird das anspruchsvolle Ziel verfolgt, die in den vorhergehenden Kapiteln gesammelten Mosaiksteinehen zu einem synoptischen Gesamtbild der Handlungstheorie Sellars' zusammenzufügen und dieses Bild in seinem Gesamtwerk zu verorten. Das in Kapitel VIII konstruierte Gesamtbild der philosophischen Handlungstheorie Sellars' wird in Kapitel IX die Möglichkeit eröffnen, erstens das Wesen menschlicher Handlungen im manifesten und wissenschaftlichen Weltbild zu entfalten und zweitens die schwierige und kontrovers diskutierte Frage nach der Reduktion beider Weltbilder im Hinblick auf menschliche Handlungen zu beantworten. Weiterhin wird dieses Gesamtbild die Möglichkeit eröffnen, die vier für Seilars charakteristischen Gegenüberstellungen im Zusammenhang zu betrachten und ihre Wechselbeziehungen untereinander aufzudecken: erstens die Gegenüberstellung mentaler Inhalte und mentaler Akte, zweitens die des Raums der Gründe und des Raums der Ursachen, drittens die des manifesten und wissenschaftlichen Weltbildes und viertens die nicht-kausaler und kausaler Handlungserklärungen (These Sl bis S3). Kapitel X ist zumindest aus der Sicht des Autors der Höhepunkt der Arbeit. Denn jede Auseinandersetzung mit einem philosophischen Problem gleich welcher Couleur ist mit dem Anspruch und der Herausforderung verbunden, eine eigene Position zu beziehen und zu begründen. Als Ausgangspunkt dienen die vier Thesen zur Handlungstheorie Sellars' und zu seiner Sichtweise des Problems der Handlungserklärung, die in den sechs Seilars-Kapiteln entwickelt, begründet und verteidigt wurden. In diesem Kapitel wird es vor allem nochmals um die vierte These gehen, dass Sellars nicht nur Gedanken der aktuellen Debatten vorwegnimmt, son-

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6 Editorische Hinweise

dem darüber hinaus auch neue Wege zur Lösung des Problems der Handlungserklärung eröffnet. Aufbauend auf Seilars wird untersucht, inwieweit Handlungen auch anders "erklärt" oder transparent gemacht werden können. Es ist das Ziel, zumindest eine grobe Ideenskizze dieser alternativen Wege zu entwerfen und auf diesbezüglich noch zu lösende Probleme zu verweisen. Eine gleichfalls eigene handlungstheoretische Position wird auch mit der bereits oben formulierten Kernoder Zentralthese dieser Arbeit bezogen. Es ist das zweite Ziel dieses Kapitels, die Begründung dieser These und somit der Pointe dieser Arbeit, nämlich dass gerade die auf den Kopf gestellte Behauptung der Kausalisten gültig ist (siehe oben), zu vollenden und gegen Einwände zu verteidigen.

6 EDITORISCHE HINWEISE Die vorliegende Arbeit ist, wie viele andere wissenschaftliche Arbeiten auch, mit dem Problem der Übersetzung der nicht in deutscher Sprache publizierten Quellen, insbesondere ihrer Fachtermini, konfrontiert. Dies gilt im besonderen Maße auch für die Werke Sellars'. Denn Seilars verwendet seine Begriffe primär als technische Begriffe, die in seinen Theorien zwar eine eindeutige Bedeutung besitzen, aber dabei andererseits, wie er selbst mehrfach betont, ihre alltagssprachliche Bedeutung einbüßen. Als Kriterium der Übersetzung fungierte in der vorliegenden Thesis primär ihre Adäquatheit mit der Theorie und erst sekundär mit der Alltagssprache. Eine primär an der Alltagssprache orientierte Übersetzung würde der Theorie ihre Eindeutigkeit und Präzision nehmen. Aus diesem Grund mögen die in dieser Arbeit gewählten Übersetzungen der technischen Begriffe aus der alltagssprachlichen Perspektive im Einzelfall etwas schwerfällig oder künstlich erscheinen. Doch dies liegt in der Natur der Sache. Denn technische Begriffe sind keine gewachsenen Begriffe, sondern im Hinblick auf theoretische Eindeutigkeit konstruierte und damit künstlich geschaffene Begriffe. Anstatt die Fachtermini zu übersetzen, hätte man sie alternativ auch in ihrer Originalsprache belassen können. Das Resultat wäre ein Text und Satzbau gewesen, in dem englischsprachige und deutschsprachige Wörter in einem kunterbunten Durcheinander aufträten. In Anbetracht dessen erschien die Übersetzung der Fachtermini, wobei der englische Fachausdruck gelegentlich in Klammer angehangen wird, als die bessere Alternative. Lediglich bei den aufgeführten (längeren) Zitaten wurde, bis auf wenige Ausnahmen, auf eine Übersetzung verzichtet. Alle Zitate werden durch Anführungszeichen und, sofern sie nicht im Fließtext aufgeführt werden, durch eine kleinere Schriftgröße gekennzeichnet. Quellenangaben werden unmittelbar im Text gegeben. Sie haben die Form (Anscombe 1957, 45). Die Jahreszahl bezieht sich stets auf die Erstauflage des

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Kapitel I Einleitung

Werkes (hier: Anscombes Intention), die Seitenzahl (hier: 45) dagegen auf die zitierte Auflage. Die vollständigen Quellenangaben beider Auflagen sind in der Literaturliste aufgeführt (Kap. XI). Eine Ausnahme gibt es bei den Zitaten von Sellars, da sich hinsichtlich seiner Werke seit einigen Jahren ein hilfreiches Abkürzungsverzeichnis etabliert hat. Zitate von Sellars haben daher die Form (EPM 35), wobei in diesem Beispiel die Abkürzung EPM auf sein bekanntes Werk Empiricism and the Philosophy of Mind verweist, das als einziges auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Die angegebene Seitenzahl bezieht sich unverändert auf die jeweils zitierte Auflage. Das Erscheinungsjahr der zitierten Auflage und das der Erstauflage sind in der Literaturliste aufgeführt. Sofern in Zitaten Erläuterungen eingefügt sind, so sind diese durch rechteckige Klammem und durch die Initialen des Autors [jhf] gekennzeichnet. Orthographische und drucktechnische Fehler, die gerade in Sellars' Werken relativ häufig sind, werden, sofern sie Inhalt und Bedeutung des Zitates nicht verändern, ohne Kennzeichnung korrigiert.

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KAPITEL II HISTORISCHER KONTEXT I regard Aristotle as the philosopher of the Manifest Image. Wilfrid Seilars 1975

In diesem Kapitel wird nach einem Rückblick in die antike Handlungstheorie (Abs. 1 und 2) zunächst eine schon klassische Kontroverse um den Status von Handlungserklärungen vorgestellt und kritisch untersucht (Abs. 3). Es handelt sich dabei um die Auseinandersetzung zwischen Carl Gustav Hempel und William Dray um die Frage, ob Handlungen ein eigenständiges Erklärungsmodell, wie das der intentionalen Erklärung, erfordern oder ob sie, so wie physikalische Phänomene, dem in den Naturwissenschaften etablierten deduktiv-nomologischen Erklärungsschema (DN-Schema) untergeordnet werden können. 1 Die Untersuchung dieser Kontroverse wurde in dieses Kapitel aufgenommen, da sie erstens einen Kern des Problems der Handlungserklärung trifft und zweitens der Auseinandersetzung mit der Handlungstheorie Sellars' (Kap. IV ff) dienlich ist, obgleich Seilars diese Problematik zum Teil unter einem anderen Vorzeichen untersucht. 2 Denn ihm geht es nicht primär um das Verhältnis deduktiv-nomologischer und intentionaler Erklärungen, sondern um die damit eng verknüpften Relationen von mentalem Inhalt und mentalem Akt, Grund und Ursache sowie vor allem um die Beziehung von manifestem und wissenschaftlichem Weltbild. 3 Die Kontroverse zwischen Hempel und Dray verdeutlicht, dass sich die Debatte über das Problem der Handlungserklärung vor allem an der Frage nach dem Status der Handlungserklärung entzündet. Sind Handlungserklärungen der Art nach eigenständig oder sind sie vom gleichen Typus wie Kausalerklärungen? Die These, dass sie der Art nach DN-Erklärungen sind, z.B. deduktiv-nomologische Kausalerklärungen, findet im europäischen Sprachraum ihre Quelle im Positivismus. Seine Diese Kontroverse fand in der Mitte des 20. Jahrhunderts vor allem in den folgenden drei Werken statt: Hempel, Carl Gustav: The Function of General Laws in History. Journal of Philosophy 39, 1942, 35-48, ders.: Rational Action. Proceeding and Addresses of the APA 35, 1962, 5-23, Dray, William: Laws and Explanation in History. Oxford, Oxford University Press, 1957. Seilars behauptet, wenn auch vorerst noch sehr pauschaliert, bereits in seinem 1963 publizierten Werk Imperatives, Intentions, and the Logic of Ought, das eine überarbeitete Version des bereits 1956 erschienenen gleichnamigen Werkes ist, eine Vereinbarkeit von Gründe- und Kausalerklärungen. Damit vertritt er zum Zeitpunkt der unversöhnlichen Kontroverse zwischen Hempel und Dray bereits eine versöhnliche Position hinsichtlich der beiden scheinbar widerstreitenden Positionen. Zur Erinnerung: In der Einleitung wurde das Problem der Handlungserklärung allgemein als das problematische Verhältnis kausaler und nicht-kausaler Handlungserklärungen identifiziert, das sich bei Seilars in den drei genannten, gleichfalls problematischen Verhältnissen widerspiegelt. Als eine besondere Präzisierung wurde zudem das Problem der Rechtfertigung und Verteidigung von Gründeerklärungen als sachbezogenes Zentralproblem der Arbeit gleichfalls unter das Problem der Handlungserklärung subsumiert.

Kapitel II Historischer Kontext

Grundlagen formulierte 1844 A. Comte in seinem Discours sur l'esprit positif Besondere Bedeutung erlangte der Positivismus als Neopositivismus oder logischer Empirismus durch den Wiener Kreis, dem u.a. M. Schlick, R. Carnap und 0. Neurath angehörten und an deren Treffen auch Hempel teilnahm. Bezeichnend für den logischen Empirismus ist seine strikte Orientierung an den (angeblich) exakten Naturwissenschaften, insbesondere der modernen Physik und mathematischen Logik. Eine für das Problem der Handlungserklärung besonders relevante These des Positivismus ist der methodologische Monismus, also die Idee von der Einheit der wissenschaftlichen Methode, welche die mathematisch fundierte Physik als methodologischen Standard setzt. 4 Damit sind aus positivistischer Sicht alle nichtnomologischen und nicht-kausalen Handlungserklärungen, die beispielsweise auf Absichten, Gründe oder Handlungsüberlegungen rekurrieren, als unwissenschaftlich abzulehnen. Naturalistisch paraphrasiert besagt die positivistische These, dass Menschen Teil der Natur sind und ergo ihr Handeln ebenso Naturgesetzen untersteht wie die übrige Natur. Handlungen bedürfen folglich keiner Sonderbehandlung. Diese These ist keine genuine These des Positivismus, sondern vielmehr eine in der Geschichte der Philosophie zyklisch wiederkehrende These. So verteidigten im 17. Jahrhundert die Anhänger des Mechanismus die These, dass Menschen vollständig mechanisch erklärt werden können. 5 Gegenwärtig sind es vor allem die durch die moderne Hirnforschung beeinflussten Philosophen, wie das Ehepaar Churchland, die auf Grundlage neuronaler Prozesse eine vollständige mechanistische Erklärung menschlichen Handeins behaupten. Dem Streben des Positivismus nach einer Einheitswissenschaft und einheitlichen Erklärungsmethode, dem covering-law-Modell bzw. deduktiv-nomologischen Modell (DN-Modell) nach Hempel und Oppenheim, stehen in der traditionellen Handlungstheorie die Vertreter der These des V erstehens von Handlungen gegenüber. Zu diesen sind im weiteren Sinne auch diejenigen zu rechnen, die von einem erweiterten Erklärungsbegriff ausgehen und intentionale Handlungserklärungen, Gründeerklärungen, rationale Erklärungen und andere nicht-nomologische und nicht-kausale Erklärungen als eigenständige und adäquate Erklärungen von Handlungen verteidigen. DieserThese zufolge sind Handlungen keine immerwiederkehrenden gleichartigen Ereignisse, die mittels der Subsumption unter ein Gesetz erklärt werden können. Handlungen, so die Intentionalisten, sind keine bloßen Ereignisse, sondern vielmehr individuelle, einzigartige Sinngebilde, die es zu verstehen oder zumindest anders zu erklären gilt. Dieser Zugang zu der Handlung einer PerInwieweit dieser methodologische Standard, der wie jeder andere Standard auf Konvention oder Stipulation beruht, hinsichtlich Handlungserklärungen gerechtfertigt oder adäquat ist, wird noch zu untersuchen sein. Vgl. von W right ( 1971, 17f), der den Positivismus ideengeschichtlich in einer Tradition verortet, die er die galileische nennt. Diese "läßt sich bis zu Platon, also über Aristoteles hinaus, zurückverfolgen" (a.a. 0. 17).

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Kapitel li Historischer Kontext

"son sei von ganz anderer Art, als der naturwissenschaftliche Zugang zu bloßen Ereignissen. Handlungswissenschaften können ergo, so die These der Intentionalis:ten, nicht mit der Naturwissenschaft gleichgesetzt und ergo nicht mit dieser zu . 'einer Einheitswissenschaft verschmolzen werden. Denn beide Wissenschaftszweige grunden auf divergierenden U ntersuchungsmethoden, die nicht auf eine Einheitsmethode reduzibel sind. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, ob beide Erklärungsmodelle einander ausschließen oder ob sie nicht doch, in welcherWeise auch immer, vereinbar sind. So ist z'!lmindest widerspruchsfrei denkbar, dass sich beide Modelle bei der Erklärung von Handlungen, in Abhängigkeit von der Frage, ·"welche die Erklärung zu beantworten beansprucht, einander befruchtend ergänzen. Dies wird im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Handlungstheorie Sellars' :-noch kritisch zu untersuchen sein. • Der Streit um das Verstehen oder nicht-kausale Erklären von Handlungen einerseits und das kausale Erklären von Handlungen andererseits ist bis heute nicht entschieden, auch wenn er zwischenzeitlich zugunsten der kausalistischen Seite beendet schien. Doch gerade die aktuelle Debatte der Handlungstheorie jenseits der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts verdeutlicht im zunehmenden Maße die vielfältigen Probleme, mit denen Kausalerklärungen von Handlungen konfrontiert sind. Die Probleme lassen erkennen, dass menschliche Handlungen zumindest einige Aspekte umfassen, welche Kausalerklärungen nicht adäquat erfassen können, zumindest wenn sie nach dem bekannten Standardmodell Davidsons konzipiert sind. Es wird nachzuweisen sein, dass Seilars hinsichtlich dieser Probleme und Schwierigkeiten einige vielversprechende Lösungsansätze vorzuweisen hat. Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich das Problem der Handlungserklärung bzw. das Problem der Vereinbarkeit kausaler und nicht-kausaler Handlungserklärungen bei Davidson und Seilars anders darstellt als oben dargelegt. Denn sowohl Davidson als auch Seilars sind Vertreter der angelsächsischen Philosophie. In dieser, das lassen dieWerke beider deutlich erkennen, nahm die Diskussion um den Status der Handlungserklärung einen anderen Verlauf. Der Streit entzündete sich hier nicht wie im europäischen Raum am Gegensatzpaar V erstehen und Erklären, sondern am gleichfalls scheinbaren Gegensatzpaar Grund und Ursache. Das Problem des V erhältnisses oder der Verbindung kausaler und nicht-kausaler Handlungserklärungen wird damit zum Problem des Verhältnisses oder der Verbindung von Handlungsgrund und Handlungsursache. Beide Probleme stehen aber in einer engen Beziehung, denn die Lösung des zweiten präjudiziert in gewissen Grenzen die Lösung des ersten. Im Anschluss an die Untersuchung der Hempel-Dray-Kontroverse werden in diesem Kapitel vier klassische und völlig unterschiedliche Lösungsansätze für das Problem der Handlungserklärung diskutiert. Das distinktive Merkmal dieser Lösungsansätze ist die Art des Verhältnisses, das zwischen den mentalen Einstellungen wie Absichten, Gründe, Überzeugungen und Wünsche einerseits und der

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Kapitel II Historischer Kontext

Handlung andererseits angenommen wird. Im Einzelnen handelt es sich dabei erstens um die von Churchland begründete deduktiv-nomologische Verbindung (Abs. 4), zweitens die auf Wittgenstein rekurrierende und durch Anscombe ausgearbeitete kriterial-grammatische Relation (Abs. 5), drittens die logische Verknüpfung von Wrights (Abs. 6) und viertens das Kausalverhältnis von Davidson (Abs. 7). Eine kritische Untersuchung dieser scheinbar widerstreitenden Positionen ist insbesondere deswegen lohnend, da Sellars eine Vereinbarkeit dieser Positionen begründet. Die heute als Standardtheorie bekannte Position Davidsons markiert einen vorläufigen Endpunkt der traditionellen Handlungstheorie und einen Wendepunkt hin zu den aktuellen Debatten der Handlungstheorie. Seine Theorie wird daher in diesem Kapitel den Abschluss bilden. Wie im nachfolgenden Kapitel III zu zeigen ist, erschöpft sich ein großer Teil der aktuellen Debatte in der Auseinandersetzung mit den Problemen der Standardtheorie Davidsons. Die vielfältigen Einwände zu seiner Theorie und ihren in der Nachfolge entwickelten Modifikationen werden daher erst im Kapitel III U:nter dem Titel Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie untersucht. Das philosophische Problem des menschlichen Handeins und seiner Erklärung hat also, so das Fazit dieser einführenden Überlegungen, eine lange Tradition, die ihre Quelle, wie bei vielen anderen philosophischen Problemen auch, in der Antike hat, mit der die Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext nun beginnen soll.

1 SOKRATES UND PLATON: ERKENNTNISGELEITETES HANDELN Sokrates und Platon verteidigen die These, dass richtige Erkenntnis notwendig zum richtigen Handeln führt. Wenn folglich jemand nicht in der richtigen Weise handelt, dann ist dies allein auf fehlende oder mangelhafte Erkenntnis zurückzuführen. Auch die menschliche Willensschwäche (Akrasia) findet hierin ihren Grund. Sokrates und Platon scheinen aber zu irren. Denn die Erfahrung lehrt, dass viele Menschen trotz richtiger Erkenntnis häufig eine andere, nicht dieser Erkenntnis angemessene Handlung ausführen. Überzeugungen oder Erkenntnisse sind folglich allein nicht hinreichend für die Ausführung einer der Überzeugung entsprechenden Handlung. Was fehlt also? Was muss zur Erkenntnis hinzukommen, damit die Verbindung zur Handlung eine notwendige wird? Oder ist die Forderung nach einer notwendigen Verbindung zwischen Handlung und mentaler Einstellung, welche auch immer es sein mag, zu streng? Die Fragen und Probleme, die Sokrates' und Platons Ansatz aufwerfen, haben bis heute nicht an Aktualität und Brisanz

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·2 Aristoteles: Praktischer Syllogismus, Form und Stoff, Akteurskausalität .,

verloren, wie gerade die aktuellen Debatten der philosophischen Handlungstheorie zeigen (Kap. III). 6 Neben der Frage nach dem Status der Verbindung von Handlung und mentaler Einstellung ist es aber vor allem die brisante Frage, welche mentale Einstellung oder Einstellungen de facto handlungsrelevant sind. Ist es, wie Sokrates und Platon annehmen, allein die in Überzeugungen zum Ausdruck kommende Erkenntnis, die handlungsrelevant ist? Oder ist es der aristotelische Begriff eines als begehrenswert charakterisierten Gewollten? Ist es eine Kombination von Überzeugung und Wunsch, die als primärer Grund handlungswirksam wird, wie es in der neuzeitlichen Handlungstheorie beispielsweise durch Davidson behauptet wird? Oder ist es der Begriff der Absicht, der dieVerbindungzur Handlung knüpft, wie es beispielsweise Seilars und viele andere Philosophen der Gegenwart annehmen? 7 Oder sind es andere mentale Einstellungen oder Modikationen der bereits genannten, die diese Rolle entweder alleine oder in Kombination mit anderen mentalen Einstellungen übernehmen? Diese Fragen nach dem Ursprung oder der Quelle des menschlichen Handeins bestimmen zu einem beträchtlichen Teil auch die Diskussion in der gegenwärtigen philosophischen Handlungstheorie. Selbst der sokratische und platonische Ansatz, dass Erkenntnis oder Überzeugungen alleine hinreichend sind, um Handlungen zu begründen, hat in den aktuellen Debatten seine Renaissance gefun. den (z.B. Locke 1982). Nur mit dem Unterschied, dass dieser Ansatz heute, im \Vergleich zur Antike, nur einer unter sehr vielen und miteinander konkurrierenden ist. Das Problem des Handlungsursprungs ist auch für das der Handlungserklärung !von großer Relevanz. Denn im Problem der Handlungserklärung ist implizit stets 'auch die Frage enthalten, auf was diese Erklärung rekurrieren muss, um eine Handlung adäquat zu erklären.

2 ARISTOTELES: PRAKTISCHER SYLLOGISMUS, FORM UND STOFF, AKTEURSKAUSALITÄT In diesem Abschnitt wird zunächst eine kurze Begründung der handlungstheoretischen Aktualität der aristotelischen Untersuchung des menschlichen Handeins gegeben. Anschließend werden diejenigen seiner Kerngedanken näher untersucht, die eine Verbindung zum Problem der Handlungserklärung und zur Handlungs6

Eine detaillierte und kritische Auseinandersetzung mit der Handlungstheorie Platons führt u.a. Kauffmann in seinem 1993 publizierten Werk Ontologie und Handlung. Untersuchungen

zu Platons Handlungstheorie. 7

Z.B. G. E. M. Anscombe, M. Brand, M. Bratman und G. Harman.

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Kapitel II Historischer Kontext

theorie Sellars' haben. Es wird begründet, dass es vor allem drei aristotelische Überlegungen zum menschlichen Handeln sind, die diese Bedingungen erfüllen. Erstens, sein praktischer Syllogismus, zweitens, seine Trennung von Form (morphe) und Stoff (hyle) und drittens, seine Konzeption der Akteurskausalität. Was die Beziehung zwischen Aristoteles und Seilars betrifft, so wird in Bezug auf das Problem der Handlungserklärung zudem untersucht, ob diese Bindung eine mehr auf Gegensätzlichkeit oder Gemeinsamkeit beruhende ist. Aristoteles' Untersuchungen des menschlichen Handeins mehr als 2000 Jahre zurück. Dennoch sind sie für die gegenwärtige philosophische Handlungstheorie nicht nur von historischem Wert. Im Gegenteil: Seine Kerngedanken zum menschlichen Handeln haben einen überraschend aktuellen Bezug und erweisen sich für einige handlungstheoretische Probleme und Fragestellungen der Gegenwart als fruchtbare Ansätze. Diese Aktualität hat zumindest zwei Gründe. Erstens hat sich das menschliche Handeln seit der Antike nicht in seinen allgemeinen Grundzügen geändert. Auch heute handelt der Mensch, ebenso wie sein antiker Vorfahre, um etwas zu verändern, gesteckte Ziele zu erreichen, Absichten zu realisieren, Wünsche zu erfüllen oder Bedürfnisse zu befriedigen. Geändert haben sich lediglich die Konkreta wie zum Beispiel die verfolgten Ziele, die erstrebten Wünsche oder die zum Ziele führenden Mittel, nicht aber die allgemeine Struktur menschlichen Handelns. Ein zweiter Grund besteht darin, dass zwischen Aristoteles und der Gegenwart eine große handlungstheoretische Lücke klafft. Denn abgesehen von wenigen Ausnahmen8 war das philosophische Interesseammenschlichen Handeln in dieser langen Zwischenzeit primär ethisch begründet. Menschliche Handlungen wurden aus moralischen Gesichtspunkten untersucht und waren somit Gegenstand der praktischen Philosophie, zu der neben der Ethik die Politik und Jurisprudenz gehören. Im Vordergrund stand also die Frage, unter welchen Bedingungen Handlungen als gerecht oder ungerecht oder unter welchen Kriterien sie als moralisch gut oder moralisch verwerflich zu werten sind. Zum Gegenstand der theoretischen Philosophie wird menschliches Handeln aber erst dann, wenn man es als solches untersucht und nicht als moralisch oder als gerecht. Denn so wie es in der Logik um die allgemeinen Strukturen menschlichen Denkens als solches geht und nicht um die spezifischen Denkinhalte, so geht es der Handlungstheorie primär um die allgemeinen Strukturen menschlichen Handeins und nicht um konkrete Handlungsattribute wie moralisch oder unmoralisch, gerecht oder ungerecht. Im Vordergrund stehen folglich die bereits in der Einleitung diskutierten Kernfragen der Handlungstheorie, nämlich was eine Handlung ist und wie man sie adäquat erklären kann. Bei Anstoteies gehen diese Fragestellungen zumeist noch Hand in Hand mit ethischen, obgleich einige seiner Überlegungen schon deutliche handlungstheoretische Züge Zu nennen wären u.a. Augustinus und Thomas von Aquin.

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2 Aristoteles: Praktischer Syllogismus, Form und Stoff, Akteurskausalität

aufw~isen. In dieser Hinsicht gibt es bereits eine erste Gemeinsamkeit mit SeUars. Denn auch bei Seilars sind Handlungstheorie und Ethik eng miteinander verzahnt und zwar in nahezu allen seinen handlungstheoretisch relevanten Werken. 9 Aristoteles und Seilars sind aber keine Ausnahmen. So finden sich auch in den aktuellen handlungstheoretischen Debatten wieder vermehrt enge Verknüpfungen zur Ethik (z.B. Bennett 1995, Rorty 1988). Aufgrund der handlungstheoretischen Totzeit zwischen Antike und Gegenwart ist es also nicht verwunderlich, dass zeitgenössische handlungstheoretische Werke auffallend häufig auf aristotelische Werke rekurrieren. Es ist aber nicht allein die Lücke, sondern primär die Qualität und der Gehalt seiner Untersuchungen, die einen solchen Rekurs handlungstheoretisch zu einem lohnenswerten Unternehmen machen. Dabei wird vor allem das Ziel verfolgt, die aristotelischen Ansätze weiterzuführen und für die Lösung aktueller handlungstheoretischer Probleme und Fragestellungen fruchtbar zu machen. Es ist hier leider nicht der Ort, den bedeutenden Einfluss Aristoteles' auf die philosophische Handlungstheorie des 20. und des gerade begonnenen 21. Jahrhunderts zu untersuchen. Stattdessen werden, wie bereits oben erwähnt, diejenigen drei aristotelischen Überlegungen zum menschlichen Handeln herausgegriffen, die erstens einen deutlichen Bezug zur Handlungstheorie Sellars' und zweitens zum Problem der Handlungserklärung haben: nämlich der aristotelische praktische Syllogismus, seine Trennung von Form und Stoff sowie s'ein Begriff der Akteurskausalität. (1) Aristoteles' praktischer Syllogismus Der aristotelische praktische Syllogismus spiegelt die Überlegungen des Handeln- den im Vorfeld seiner Handlung wider. Er artikuliert folglich keine Handlungs. erklärung, sofern man, wie einleitend begründet wurde (Kap. I), den Erklärungsbegriff mit einer Erklärung durch Dritte identifiziert. Obgleich aber die praktischen Überlegungen des Handelnden in diesem Sinne noch keine Erklärung sind, können sie in gewissen Grenzen, die noch aufzuzeigen sind, als eine Vorstufe zur Erklärung menschlichen Handeins interpretiert werden. Wie auch immer diese Erklärung dann aussehen mag, sie muss in einem ersten Schritt die Rekonstruktion der Überlegungen des Handelnden durch Dritte umfassen. Erleichtert wird dieser Schritt dann, wenn der Handelnde selbst seine Überlegungen dem nach einer Handlungserklärung suchenden Dritten mitteilt. Damit liegt eine zweite Gemeinsamkeit von Aristoteles und Sellars vor. Denn auch Sellars' handlungstheoretisches Interesse ist primär auf die der Handlung vorgängige Überlegung des Handelnden 9

In einigen Werken verweist Seilars bereits im Titel auf die enge Bindung von Handlungstheorie und Ethik, z.B. Imperatives, Intentions, and the Logic of Ought (1956 und 1963), Objectivity, lntersubjectivity and the Moral Point of View (1967) und On Reasoning About Values (1980),

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Kapitel II Historischer Kontext

fokussiert, die er practical reasoning nennt und gleichfalls keine Erklärung im oben genannten Sinne ist. Auch wenn die beiden Schlussschemata von Aristoteles und Sellars in ihrer inneren Struktur, wie noch zu zeigen ist, stark divergieren, so haben _beide doch allein aufgrund dessen, dass sie Handlungsüberlegungen in der ersten Person wiedergeben, ähnliche inhärente Probleme und Vorzüge (Kap. V). Der aristotelische praktische Syllogismus erwähnt in seiner ersten Prämisse zumeist etwas allgemein Wünschenswertes. Nach Anscombe, die den aristotelischen praktischen Syllogismus in die gegenwärtige Handlungstheorie einführte (Abs. 5 unten), wird in dieser Prämisse etwas Gewolltes als allgemein begehrenswert charakterisiert (desirability-characterisation). Diese Prämisse drückt also nicht aus, dass jemand etwas will oder dass jemand eine bestimmte Absicht hat. Hierin zeigt sich ein erster deutlicher Unterschied zu Sellars, der sein practical reasoning ausschließlich mittels des Begriffs der Absicht konzipiert. Sein Schlussschema beginnt jedoch nicht nur mit einer Absicht, sondern schließt auch mit einer Absicht, was ein besonderes Merkmal seines practical reasonings ist (Kap. V). Die zweite Prämisse des aristotelischen praktischen Syllogismus verweist auf das sinnlich wahrgenommene Vorhandensein des Gewollten. Mit diesen beiden Prämissen endet überraschenderweise bereits sein praktischer Syllogismus. Denn eine Konklusion fehlt. Damit ist sein praktischer Syllogismus zwar aus theoretischen Gesichtspunkten elliptisch, nicht aber aus praktischen. Denn für Aristoteles ist es gew-iss, dass jemand, der beide Prämissen akzeptiert, auch handelt. Der aristotelische praktische Syllogismus zielt folglich, wie Keutner plausibel begründet, weder auf die Frage nach der Entscheidung zwischen verschiedenen Handlungen, noch auf die nach der Entscheidung zur Handlung und somit auf die Frage nach der Absicht. Bei der Handlungsüberlegung im Sinne Aristoteles' steht die Absicht des Handelnden schon fest, seine Entscheidung ist schon getroffen (Keutner 2004, 32f). "Die eine das Handeln bestimmende Meinung ist allgemein [erste Prämisse; jhf], die andere geht auf das einzelne [zweite Prämisse; jhf], das als solches der sinnlichen Wahrnehmung untersteht. Wird nun aus den beiden Meinungen durch logische Verknüpfung eine, so muß die Folgerung[... ] im Praktischen sogleich in die Handlung übersetzt werden; es muß z.B., wenn man alles Süße kosten muß [erste Prämisse; jhf] und dieses bestimmte einzelne Ding süß ist [zweite Prämisse; jhf], der Mensch, wenn er es kann und nicht gehindert oder abgehalten wird, dieses gleichzeitig auch tun" (Aristoteles NE 1147a 25-34).

Da der aristotelische praktische Syllogismus aufgrund der fehlenden Konklusion nicht schlüssig ist, kann er in dieser Hinsicht auch nicht als Handlungserklärung dienen. "[DJennoch hat er sehr wohl eine Verwendung, nämlich als praktische Überlegung des Handelnden" (Keutner 2004, 30). Solche Handlungsüberlegungen

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haben per se jedoch keinen Erklärungswert. "Denn der Handelnde erklärt sich im Normalfall nicht selbst das eigene Handeln" (a.a.O., 35). Wird die Handlungsüberlegung allerdings durch einen Dritten rekonstruiert oder einem Dritten gegenüber mitgeteilt, so kann daraus sehr wohl eine adäquate Handlungserklärung formuliert werden, allerdings nur dann, wenn man den Begriff der Erklärung entsprechend erweitert und nicht auf den einer deduktiv-nomologischen Kausalerklärung einengt. Eine auf die Überlegungen des Handelnden rekurrierende Handlungserklärung vermag sogar eine Handlung, wie noch zu zeigen ist, in einerWeise erklären, die über das Erklärungspotential einer Kausalerklärung hinausgeht. Solche intentionalen Handlungserklärungen oder Gründeerklärungen gewinnen ihre Erklärungskraft nicht durch den Nachweis einzelner Ursachen und Gesetze. Ihre Erklärungskraft besteht vielmehr darin, dass sie durch den Rekurs auf die Handhingsüberlegungen die Handlung aus der Perspektive des Handelnden als plausibel und nachvollziehbar erweisen. Hat eine Person erst einmal verstanden, warum der Andere in dieser oder jener Weise gehandelt hat, so ist sie auch in der Lage, die Handlung des Anderen sich selbst und Dritten gegenüber zu erklären. Das Potential dieser Erklärung besteht also primär darin, dass sie Handlungen anders erklärt Ünd auf handlungsrelevante Aspekte verweisen kann, die in Kausalerklärungen per se unberücksichtigt bleiben müssen und mit ein Grund dafür sind, dass Kausal. ~rklärungen in einem hohen Maße falsifizierenden Gegenbeispielen ausgesetzt sind. Da auch Sellars' Konzept des practical reasonings Handlungserklärungen nur über denWeg der Rekonstruktion des practical reasonings des Handelnden ermöglicht, - Wird in den folgenden Kapiteln dieser Erklärungstypus und seine besondere Erklärungskraft noch näher zu untersuchen sein. Sellars' Konzept der praktischen Überlegungen des Handelnden orientiert sich, wie bereits angemerkt, allein am Begriff der Absicht. Der Handelnde schließt von 'einer Prämissenabsicht über Zwischenschritte logisch stringent auf eine Konklu'sionsabsicht. Folglich endet auch das Seilarssehe Schlussschema des practical reaso'nings ebenso wie bei Aristoteles nicht mit einer Handlung oder einer Konklusion, die eine Handlung ausdrückt oder zu einer Handlung auffordert. Doch diese Gemeinsamkeit mit Aristoteles ist nur eine äußerliche. Denn, dass in Sellars' practical reasoning nicht auf Handlungen, sondern auf Absichten geschlossen wird, hat rein formale Gründe und keine praktischen wie bei Aristoteles. Seilars gliedert in seiner Philosophie des Geistes den Menschen in drei Bereiche, nämlich in den des WeltSprache-Übergangs (language-entry transition), Sprache-Sprache-Übergangs (intra-language transition) und Sprache-Welt-Übergangs (language-exit transition). Unter dem Begriff der Sprache ist hierbei die innere Sprache der Gedanken zu verstehen, die Seilars Mentalese nennt (Kap. VI). Gemäß dieser Einteilung finden alle praktischen und theoretischen Überlegungen, Inferenzen und Schlüsse und folglich auchalle Handlungsüberlegungen allein im mittleren Bereich der Sprache-SpracheÜbergänge statt. Dieser Bereich ist jedoch nur mittelbar mit der Welt verbunden

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und zwar über den Bereich des Sprache-Weh-Übergangs, sofern es um Handlungen geht, und über den Bereich des Welt-Sprache-Übergangs, sofern es um Wahrnehmungen geht. Zu einer Handlung kommt es folglich nur dann, wenn die Konklusionsahsicht der inneren Handlungsüberlegung über einen Willensakt in die beabsichtigte Handlung mündet. Der Willensakt konstituiert den Sprache-WeltÜbergang und stellt damit die erforderliche direkte Verbindung zur Handlung her. Er ist das Medium, das die Konklusionsahsicht des Sprache-Sprache-Bereichs mit der Handlung verbindet. Erweitert man folglich, was auch Seilars hin und wieder tut, die rein innere Handlungsüberlegung um Wille und Handlung, so kommt man zu einem Schlussschema, das im Gegensatz zum aristotelischen praktischen Syllogismus auf eine Konklusion schließt, die eine Handlung zum Ausdruck bringt (Kap. V). Aristotelisch ist demzufolge in diesem Schema allein die innere Handlungsüberlegung, also das practical reasoning, nicht jedoch das um Wille und Handlungskonklusion erweiterte Schlussschema. Auch der aristotelische praktische Syllogismus kann um eine Konklusion erweitert werden, die er zumindest unausgesprochen bereits enthält. Im Folgenden soll dies anhand eines Beispiels nachgewiesen werden, das zwar nicht aus der Feder von Aristoteles stammt, aber in seinem Sinne konstruiert ist. Dabei wird es weniger um das Beispiel als solches gehen, sondern um die Probleme, die einem praktischen Schluss mit Handlungskonklusion inhärent sind und folglich auch die Seilarssehe Konzeption treffen. Die erste Prämisse des Beispiels beinhaltet im aristotelischen Sinne eine Aussage über ein allgemein Begehrenswertes oder Gutes, z.B. Sport treiben ist gut für die Gesundheit. Diese Prämisse legt also noch keine bestimmte Sportart fest, sondern behauptet ganz allgemein, dass eine Handlung vom Typ Sport-Treiben gesund ist. Diese Prämisse kann daher als ein Allsatz oder als eine universale Prämisse aufgefasst werden. Die zweite Prämisse führt sodann eine spezielle sportliche Handlung oder Sportart ein, die einer Instantiation der universellen Prämisse entspricht. Es ist folglich eine partikuläre Prämisse, z.B. Laufen ist eine sportliche Handlung. Die partikuläre Konklusion des Syllogismus lautet damit: Laufen ist gut für die Gesundheit. Oder in formalisierter Schreibweise: (Pt) (P2) (K)

AlleS führen zu G. List einS, Ergo, L führt zu G.

Dieser Syllogismus ist logisch gültig und entspricht gemäß der üblichen Klassifizierung von Syllogismen dem Modus A-1-I in der ersten Figur (Copi 1998, 108f). Auch wenn es in diesem Syllogismus um Handlungen geht, so ist er im strengen Sinne noch kein praktischer, sondern ein theoretischer. Denn die gewählten Abkürzungen können ebenso für beliebige andere Tatsachen stehen. Praktisch wird

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2 Aristoteles: Praktischer Syllogismus, Form und Stoff, Akteurskausalität

der Syllogismus erst dann, wenn er auf eine Handlung schließt oder auf einen Satz, der die zu vollziehende Handlung zum Ausdruck bringt. Eine Konklusion, die diese Bedingung erfüllt, könnte für das obige Beispiel wir folgt lauten: (Kl) Ergo, laufe ich. Diese Konklusion folgt aber nun weder logisch aus den beiden Prämissen (Pl) und (P2), noch aus der Konklusion (K). Aristoteles selbst führt keine der beiden Konklusionen auf. Denn es scheint für ihn außer Frage zu sein, dass jeder Mensch dasjenige tut, was für ihn gut ist, sofern er weiß, was für ihn gut ist. Und dieses Wissen vermitteln die beiden Prämissen. Es ist aber logisch nicht zwingend entsprechend seines Wissens zu handeln. Dies ist ein Makel, der allen Schlüssen anhaftet, welche die Handlung logisch stringent mit Prämissen zu verknüpfen versuchen, die Begehrenswertes, Wünsche, Überzeugungen, Absichten oder ein Wollen aussprechen. Alle diese Schlüsse scheitern unweigerlich daran, dass niemand mit logischer Notwendigkeit zum Handeln gezwungen ist und zwar auch dann nicht, wenn alle Prä~issen des praktischen Schlusses wahr sind. Der praktische Syllogismus ist, so Anscombe, kein Beweisverfahren. Der Übergang von "Laufen ist gesund" zu "Ergo, laufe ich" ist kein logischer Schluss, sondern bestenfalls ein rationaler. Denn wenn Laufen gesund ist, dann ist es vernünftig zu laufen. Aber auch dann gilt, dass · ;nemand gezwungen ist, vernünftig zu handeln. Dies bedeutet nicht, dass Logik · 'imd Rationalität beim menschlichen Handeln keine Rolle spielen. Im Gegenteil: Der mit Abstand überwiegende Teil menschlicher Handlungen folgt dem Muster :'rationaler Handlungen oder gehorcht logischen Gesichtspunkten. So kann niemand .'zugleich zwei sich logisch widersprechende Absichten haben oder zwei sich logisch :ausschließende Handlungen ausführen, z.B. zwischen sieben und acht Uhr aus 'gesundheitlichen Gründen laufen und zur gleichen Zeit gemütlich in einem Kaffeehaus sitzen. Alle diese Probleme treffen in gewissen Grenzen, die noch aufzuzeigen sind, auch auf Seilars zu. In der neuzeitlichen Handlungstheorie ist u.a. von Wright mit diesem Problem konfrontiert, der mit seinem logischen Verknüpfungsargument das Wollen des Handelnden mit seiner Handlung zu verknüpfen versucht. Auch Aristoteles war sich dieser Problematik bewusst. Denn er unterscheidet im Gegensatz zu Sokrates Menschen, die Wissen haben und danach handeln, und solchen, die Wissen haben und nicht danach handeln. Richtige Erkenntnis führt daher nicht immer zum richtigen Handeln. Folglich gründet die Unbeherrschtheit (gr. Akrasia) nicht in erster Linie auf fehlendem oder falschem Wissen. Das richtige Wissen wird vielmehr, so behauptet Aristoteles, durch Leidenschaft zurückgedrängt und kann damit nicht zur Anwendung kommen. Unbeherrschte haben zwar das richtige Wissen, sie haben es aber noch nicht in der vollen Tiefe begriffen. Aristoteles' Begriff der Unbeherrschtheit umfasst nicht den Begriff der Willensschwäche in seiner Gesamtheit. Denn seine Untersuchung ist allein auf die leiden-

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Kapitel li Historischer Kontext

schaftsbezogene Unbeherrschtheit gerichtet, nicht aber auf die Willensschwäche. Aber der Grund, dass jemand nicht oder anders handelt, liegt nicht nur in seinen Leidenschaften, sondern es gibt auch andere Gründe, die aber hier nicht zur Debatte stehen. Zum Abschluss dieses Unterabschnitts soll noch eine weitere Gemeinsamkeit des aristotelischen praktischen Syllogismus mit dem Seilarssehen Konzept des practical reasonings aufgeführt werden, auch wenn sie das Problem der Handlungserklärung nur marginal berührt. Es ist eine Gemeinsamkeit, die im Schnittbereich von Handlungstheorie und Ethik liegt. Wie gezeigt wurde, formuliert Aristoteles die erste Prämisse seines praktischen Syllogismus als einen universellen Satz oder Allsatz, wie "allen Menschen nützt trockene Nahrung" (Aristoteles NE 1147a 7) oder "wenn man alles Süße kosten muß" (a.a.O., 1147a 31). Diese Prämisse drückt also eine Art Prinzip aus, sodass sein praktischer Syllogismus auch als Subsumption unter Regeln oder Prinzipien aufgefasst werden kann. Auch ethische Prinzipien können daher als erste Prämisse dienen. Genau diesenWeg geht Sellars, um die von ihm angestrebte Verknüpfung von Ethik und Handlungstheorie herzustellen. Er bringt in der Prämissenabsicht seines practical reasonings ein ethisches Prinzip zum Ausdruck, das für jeden Einzelnen der Gemeinschaft verbindlich ist, wie "I shall maximize GW" (SM 213), wobei die Abkürzung GW für generat welfare steht. An anderer Stelle formuliert er diese Absicht als eine Wir-Absicht, worauf hier aber nicht eingegangen werden muss.

(2) Die aristotelische Konzeption von Form und Stoff Man mag sich vielleicht an dieser Stelle die Frage stellen, welcher Zusammenhang zwischen der aristotelischen Differenzierung von Form (morphe) und Stoff (hyle) und dem Problem der Handlungserklärung besteht, das dieser Arbeit seine Orientierung gibt. Die Verbindung ist de facto auch keine unmittelbare, sondern eine mittelbare, wobei das Bindeglied die Handlungstheorie Sellars' ist. Diese Behauptung soll im Folgenden begründet werden. Insbesondere wird nachgewiesen, in welcher Weise diese Verbindung besteht, auf die Sellars, obgleich Aristoteles-Kenner, selbst nicht explizit hinweist. Sellars' nicht-reduktionistische Position hinsichtlich Handlungsgründen und Handlungsursachen und folglich zwischen intentionalen und kausalen Handlungserklärungen gründet auf seiner geistesphilosophisch fundiertenTrennungvon mentalen Inhalten und mentalen Akten. Beide Begriffe stehen in einem engen Abhängigkeitsverhältnis. Die Art und Weise wie Sellars diese beiden Begriffe und ihre wechselseitige Bedingtheit konzipiert, zeigen eine erstaunliche Analogie oder Nähe zu den beiden aristotelischen Begriffenmorphe und hyle. Ein Verständnis des aristotelischen Begriffspaares erweist sich daher als fruchtbar für ein besseres Ver-

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, 2 Aristoteles: Praktischer Syllogismus, Form und Stoff, Akteurskausalität

stän"dnis des Seilarssehen Begriffspaares und seiner Bedeutung für das Problem der Handlungserklärung. 10 Worin besteht also diese Analogie? Mentale Inhalte bringen dasjenige zum Ausdruck, was gedacht, behauptet oder beabsichtigt wird. Sie haben zumeist die Form von Propositionen und können somit in ein logisches Schlussschema eingebracht werden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Seilars sein streng nach logischen Regeln konzipiertes practical reasoning, also die praktischen Überlegungen des Handelnden im Vorfeld seiner Handlung, allein auf mentale Inhalte gründet. Die Ebene mentaler Inhalte, die gemäß seiner Notation zum Raum der Gründe gehört, ist daher für seine Konzeption des practical reasonings von besonderer Bedeutung. Mentale Akte fungieren dagegen bloß als die (im weitesten Sinne materiellen) Vehikel oder Träger der mentalen Inhalte. Den Begriff des Aktes entlehnt Sellars bereits von Aristoteles: " [A] cts are no.t actions, pieces of conduct. They aremental actualities in the Aristotle's sense of the term (energeiai)" (VR §6). Handlungsüberlegungen umfassen im einfachsten Fall, der durch den aristotelischen praktischen Syllogismus repräsentiert wird, lediglich zwei Prämissen. Sellars' practical reasoning ist dagegen bereits umfangreicher konzipiert und hat das Potential, neben Absichten auch Motive, Gründe und Überzeugungen des Handelnden sowie den Handlungskontext zu berücksichtigen. Da Handlungsüberlegungen in mentalen Inhalten zum Ausdruck kommen und letztere zum Raum der Gründe gehören, kommen folglich auch alle durch Seilars ausgewiesenen irreduziblen Attribute dieses Raumes bei Handlungsüberlegungen zum Tragen (Kap. IX). Mentale Inhalte und Handlungsüberlegungen haben folglich immer auch eine soziale, normative und holistische Komponente. In diesem Sinne haben sie das besondere Vermögen, der zu realisierenden Handlung eine Gestalt und Richtung, ·einen teleologischen Zweck und Sinn zu geben, wie es mentale Akte nicht vermögen. So weisen mentale Inhalte der bloßen Körperbewegung, welche die Handlung begleitet, ihre Bedeutung und somit ihre Form zu. Durch die Form wird beispiels-weise das bloße Heben eines Armes zu einem freundlichen Gruß oder zu einem deutlichen Herbeiwinken eines Kellners. Mentale Inhalte haben ergo eine formgebende Kraft, die derjenigen der aristotelischenmorphevergleichbar ist. Obgleich aber mentale Inhalte in diesem Sinne handlungsproduktiv sind, so sind sie doch nicht die unmittelbare Ursache. Sie vermögen zwar dem Armheben seine sinngebende Form zu verleihen, aber nicht das Ereignis des Armhebens zu verursachen. Hierzu sind zusätzlich mentale Akte oder ursächliche mentale (bzw. materielle) Ereignisse nötig, die auf stofflicher Ebene das Armheben bewirken. Materielle oder stoffliche mentale Akte sind folglich mit der aristotelischen hyle vergleichbar. Dennoch gibt es einen wesentlichen Unterschied, auf den noch hinzuweisen ist. 10

Eine detaillierte und kritische Untersuchung der beiden Seilarssehen Schlüsselbegriffe und ihrer Relevanz für das Problem der Handlungserklärung erfolgt ab Kapitel VL

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Kapitel li Historischer Kontext

Eine weitere Analogie besteht darin, dass weder Sellars noch Aristoteles mit ihrem Begriffspaar einen ontologischen Dualismus begründen. Denn" [e] ine Materie kann niemals ohne Form sein, wie es auch umgekehrt keine Form geben kann, die nicht an irgendeiner Materie hängt" (Busche 2001, 132). Genau dies impliziert Sellars' Handlungstheorie. Denn mentaler Inhalt und mentaler Akt stehen ebenso wie Form und Stoff in einem Verhältnis der Wechselwirkung. Obgleich wesensmäßig voneinander verschieden, sind also mentaler Inhalt und mentaler Akt, ebenso wie Form und Stoff, keine zwei voneinander unabhängigen cartesischen Substanzen. Sellars und Aristoteles behaupten hinsichtlich ihrer Begriffspaare auch gleichermaßen keinen Materialismus oder physikalischen Monismus, der psychologische Einstellungen als im weitesten Sinne physikalische Ereignisse, Zustände oder Prozesse identifiziert. Psychologische Einstellungen, wie handlungsrelevante Absichten und Überzeugungen, sind stets mentaler Inhalt und mentaler Akt, also Form und Stoff. Und obwohl mentale Inhalte zwar mentaler Akte als Vehikel bedürfen, sind sie dennoch nicht auf diese reduzibel. So auch Aristoteles. "Die Form ist zwar stets an der Materie[...]. Sie läßt sich aber gleichwohl nicht auf Materie reduzieren" (a.a.O., 135). Aristoteles und Seilars vertreten also gleichermaßen eine nicht-reduktionistische Position. "Die Form ist also etwas, das für Aristoteles zur Materie, ja zum Körper hinzukommt und nicht aus diesen abgeleitet werden kann. Zugleich ist in der aristotelischen Teleologie die Form sogar ~Zweck~" (a.a.O., 136). Auch dies gilt uneingeschränkt für Sellars' mentale Inhalte, die allein Grund und Zweck einer Handlung zum Ausdruck bringen und gleichfalls nicht aus den mentalen Akten, die bloß als Vehikel der Inhalte fungieren, abgeleitet werden können. So wie bereits aufgeführt, ist es vor allem die holistische, soziale und normative Natur mentaler Inhalte, die weder auf mentale Akte reduzibel ist, noch aus diesen deduziert werden kann. Weil mentale Inhalte der Handlung ihren Sinn, ihre Bedeutung und Form verleihen, stehen sie in einem höheren Rang als die mentalen Akte, die als mentale Ursachen lediglich dafür sorgen, dass die zur Handlung adäquaten Körperbewegungen bewirkt werden. Mentale Inhalte besagen daher, was die Handlung ist, während mentale Akte dafür sorgen, dass sie stattfindet. Wie Busche nachweist, gilt dies auch für Aristoteles' Begriffspaar Form und Stoff. Es "gehört zu seinen größten und stärksten Überzeugungen gerade die Ansicht von der Höherrangigkeit der Form gegenüber dem Stoff. ~Denn die Natur gemäß der Form ist entscheidender~, d.h. ~stärker herrschend als die stoffliche Natur[ ... ]~ (a.a.O., 135). Dies bedeutet, "daß dasjenige, was etwas ist, d.h. das Wesentliche, weit mehr durch seine Form als durch seine Materie hervorgebracht wird" (a.a.O.). So wie bei Seilars die Leistungsfähigkeit mentaler Inhalte von der spezifischen Ausgestaltung ihrer Träger, den mentalen Akten, abhängig ist, so gilt gleichermaßen für Aristoteles, dass "die Leistungsfähigkeit der Form wiederum an geeigneten spezifischen Materien hängt" (a.a.O., 136). Oder: So "wie es gerade die Form ist, die das Spezifische

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2. Aristoteles: Praktischer Syllogismus, Form und Stoff, Akteurskausalität

eines Dinges ausmacht" (a.a.O.), so sind es bei Sellars, wie noch nachzuweisen ist, die mentalen Inhalte, die das Wesen oder Spezifische einer Person ausmachen und ihre unverwechselbare Individualität und somit ihr unverwechselbares Ich konstituieren. Mentale Inhalte, die das Wesen und die Irreduzibilität der Person ausmachen, gehören daher für Seilars in das manifeste Weltbild, das er auch das aristotelische Weltbild nennt, da es Personen als Einheit oder Basisindividuen und nicht, wie das wissenschaftliche Weltbild, als Zusammensetzung physikalischer Partikel betrachtet (Kap. VIII und IX). "In the Manifest Image, a person is a basic individual. (It should be clear that I regard Aristotle as the philosopher of the Manifest Image)" (SK 303). Mentale Inhalte erfüllen funktionale Aufgaben, die über die Beschaffenheit der mentalen Akte hinausweisen. Diese Konzeption entspricht der geistesphilosophischen Position des Funktionalismus, als dessen Begründer Sellars gilt. Die holistische Struktur mentaler Inhalte kann in gewissen Grenzen als die Seele des Körpers interpretiert werden, wobei zwischen Seele (psyche) und Körper dieselbe wechselseitige Abhängigkeit besteht wie zwischen Form und Materie (vgl. Busche 2001, 133) und damit zwischen mentalem Inhalt und mentalem Akt. Doch hier stößt die Analogie in zweifacher Hinsicht an ihre Grenzen. Denn erstens weisen weder einzelne mentale Inhalte noch das funktionale, holistische Netz mentaler Inhalte die dreifache Kausalität auf, die nach der aristotelischen Lehre für die psyche kennzeichnend ist (vgl. a.a.O., 27ff, 141). Während diepsychezugleich Zweck-, Formund Wirkursache ist, sind mentale Inhalte lediglich Zweck- und Formursache. Mentale Inhalte vermitteln den Grund und den formgebenden Sinn einer Handlung, aber sie vermögen nicht zugleich die Handlung zu verursachen. Denn die begrifflichen Inhalte sind Propositionen, aber keine wirkursächlichen Ereignisse. Die Rolle der Wirkursache übernehmen in der Konzeption Sellars' allein die mentalen Akte, die gemäß dem Funktionalismus dem Prinzip der multiplen Realisierbarkeit unterliegen. Hier stößt die Analogie an ihre zweite Grenze, denn nach der aristotelischen Lehre sind, wie Busche nachweist, der Materie durch die Form enge Bedingungen gesetzt, die eine multiple Realisierung einschränken (a.a.O., 143). Zusammenfassend folgt somit: Zwischen dem aristotelischen Begriffspaar Form und Stoff und dem Seilarssehen Begriffspaar mentaler Inhalt und mentaler Akt besteht in vielen Punkten eine enge Analogie. Hinsichtlich des Problems der Handlungserklärung sind dabei zwei Aspekte von besonderer Bedeutung: erstens die :'wechselseitige Abhängigkeit von Form und Stoff bzw. von mentalem Inhalt und ·mentalem Akt und zweitens ihre jeweilige Irreduzibilität. Denn hieraus folgt, wie ·noch näher nachzuweisen ist, erstens die Irreduzibilität von Handlungsgründen ·und Handlungsursachen, zweitens die Irreduzibilität von intentionalen und kausalen Handlungserklärungen und drittens die Vereinbarkeit der beiden Handlungserklärungsarten in dem Sinne, dass beide weder einander widersprechen, noch einander ausschließen (Kap. VII ff). In dieser Hinsicht wird sich die hier explizierte

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Kapitel II Historischer Kontext

Analogie zwischen dem Begriffspaar Form und Stoff einerseits und dem Begriffspaar mentaler Inhalt und mentaler Akt andererseits sowohl für das Problem der Handlungserklärung als auch für die kritische Untersuchung der Handlungstheorie Sellars' als fruchtbar erweisen. (3) Die aristotelische Akteurskausalität In der gegenwärtigen Handlungstheorie wird zwischen zwei Kausalitätsbegriffen differenziert, der Ereignis-Ereignis-Kausalität und der Akteur-Ereignis-Kausalität. 11 Der grundsätzliche Unterschied zeigt sich in der Beantwortung der Frage, was die Ursache der Handlung ist bzw. wo diese Ursache lokalisiert ist. Während die Vertreter der Ereigniskausalität das handlungsverursachende Ereignis immer tiefer ins Innerere des Handelnden verlegen, wodurch Handlungstheorie und Philosophie des Geistes zusammenwachsen, betrachten die Vertreter der Akteurskausalität den Handelnden selbst als die Ursache seiner Handlung. Aus Sicht der Akteurskausalität hebt der Mensch beispielsweise seinen Arm, um zu winken. Aus Sicht der Ereigniskausalität ist es dagegen ein mentales Ereignis, das den Arm hebt und nicht primär der Mensch. Gegen diese Position wird daher, vor allem in den aktuellen Debatten, der Einwand erhoben, dass sie in ihren Handlungserklärungen den Menschen als handelnde Person nicht genügend beachtet. Zudem ist sie mit dem Problem konfrontiert, die erste Ursache auszuweisen, denn jedes ursächliche Ereignis kann wieder als Wirkung eines früheren ursächlichen Ereignisses identifiziert werden. Die Akteurskausalität, die auf Aristoteles zurückgeführt werden kann, versucht diesem Problem zu entgehen, indem sie den Menschen als erste Ursache ausweist. "Der Stock bewegt den Stein, wird (selbst) bewegt von der Hand, die ihrerseits bewegt wird von dem Menschen, dieser dann (tut das) nicht mehr auf Grund davon, daß er von anderem bewegt würde" (Aristoteles Physik, 256a 11-15).

Nach Aristoteles "muß es notwendig ein Erstes Bewegendes geben, [... ] es kann ja unmöglich damit ins Unendliche fortgehen" (a.a.O., 25-28). Bei Handlungen, wie dem Bewegen des Steines mittels eines Stockes, der von der Hand geführt wird, ist also der Mensch der erste Bewegende, der durch nichts anderes, sondern allein durch sich selbst bewegt wird. Problematisch an dieser Form der Akteurskausalität ist, dass sie die heute unbestreitbare kausale Wirksamkeit mentaler Einstellungen des Handelnden nicht berücksichtigt. So gibt es im Inneren des Menschen sehr wohl weitere Ereignisse, die das Heben des Armes verursachen. Ergo ist auch der ll

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Die Ereignis-Ereignis-Kausalität und die Akteur-Ereignis-Kausalität werden im Folgenden wie üblich kurz als Ereigniskausalität (event causation) bzw. als Akteurskausalität (agent causation) bezeichnet.

2 Aristoteles: Praktischer Syllogismus, Form und Stoff, Akteurskausalität

Vertreter der Akteurskausalität gezwungen, das erste Bewegende in das Innere des Menschen zu verlagern. 12 So gesteht Chisholm, der den Begriff der Akteurskausalität (agent causality) in die moderne philosophische Handlungstheorie einführte, ein: "Wir brauchen [...] den handelnden Menschen nicht wie Aristoteles schon an dieser Stelle einzuführen - wir brauchen nicht, können es aber. Wir können sagen, daß die Hand durch den Menschen bewegt wird, wir können aber auch sagen, daß die Bewegung der Hand durch die Bewegung bestimmter Muskeln verursacht wird; und wir können sagen, daß die Bewegung der Muskeln durch bestimmte Ereignisse verursacht wird, die im Gehirn stattfinden. Aber irgendein Ereignis - und zwar v'ermutlich eines der Ereignisse, die im Gehirn stattfinden - wird durch den Handelnden verursacht und nicht durch irgendwelche anderen Ereignisse" (Chisholm 1966, 360f). Damit ist die Akteurskausalität gegenüber der Ereigniskausalität zunächst scheinbar gerettet. Dennoch gibt es vielfältige Einwände, denen Chisholm ;uch entgegnet. So zum Beispiel der Einwand, dass es denkbar ist, dass der Handelnde gar nichts von den mentalen Ereignissen in seinem Gehirn weiß, die er, um handeln, verursachen muss. Es ist nicht ergiebig, auf diese Einwände und auf Chisholms Entgegnungen einzugehen, da sich hier ein anderes Problem auftut, von dem beide Positionen gleichermaßen betroffen sind. Zunächst ist man nicht gezwungen, die Suche nach der Handlungsursache im Inneren des Menschen zu beenden. Denn man kann die Suche, die auf der Handlungsseite begonnen hat, dann ins Innere führte, auf der Wahrnehmungsseite wieder aus dem Inneren des Menschen in seine äußere Welt hinausführen. Denn es könnte sehr wohl sein, dass die handelnde Person wahrgenommen hat, wie irgendein Krabbehier hinter einen , Stein huschte, und dass daraufhin in ihr der Wunsch geweckt wurde, den Stein mit :einem Stock beiseite zu schieben, um zu sehen, was für eine Art Krabbehier es war. Die Ereigniskette beginnt also hier in der physikalischen Welt, führt sodann weiter über das Innere des Menschen, um dann wieder in Form eines Handlungsereignisses erneut in die physikalische Welt einzutreten. Was hat dies mit Seilars und dem Problem der Handlungserklärung zu tun? Zweierlei: Erstens ist diese hier vorgestellte Überlegung völlig im Einklang mit Sellars' geistesphilosophischer Gliederung des Menschen in die drei bereits aufgeführten Bereiche des Welt-Sprache-, Sprache-Sprache- und Sprache-Welt-Übergangs. Gemäß dieser Gliederung fügt sich der Mensch, auch nach Sellars, widerspruchsfrei in das Kausalgefüge der Welt ein. Zweitens wird deutlich, dass in der aufgeführten Ereigniskette etwas fehlt. Denn Menschsein erschöpft sich nicht in Reaktion auf Reize. Menschsein heißt nicht, physikalische Inputereignisse mittels mentaler Ereignisse in physikalische Outputereignisse, z.B. Körperbewegungen, kausal zu überführen. Das Element, das hier fehlt, ist das der mentalen Inhalte, welche die Handlungsüberlegungen des

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Es sei denn, er schlägt einen ganz anderen Weg ein und erklärt die Handlung nicht-kausal. Dieser Weg steht aber hier vorerst nicht zur Debatte.

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Kapitel II Historischer Kontext

Handelnden zum Ausdruck bringen und von ganz anderer und irreduzibler Kategorie sind als kausal wirksame Ereignisse. In welcher Weise ein Mensch handelt, entscheidet also weder ein momentaner W ahrnehrnungsreiz, noch irgendein mentales Ereignis, sei es nun ein ursächliches Absichtsereignis oder eines, das durch ein Wunsch-Überzeugungspaar gebildet wird (Abs. 7). Handlungsbestimmend und letztlich für Dritte auch handlungserklärend sind primär die zum Teil komplexen Überlegungen des Handelnden. In diese können bei Bedarf der gesamte Handlungskontext einfließen, der mitunter auch durch konkurrierende Absichten, Überzeugungen und Wünsche geprägt ist. Zusammenfassend stellt sich das Ergebnis somit wie folgt dar: Sowohl die auf Aristoteles zurückführbare Akteurskausalität als auch die Ereigniskausalität greifen hinsichtlich Handlungserklärungen zu kurz. Denn menschliche Handlungen werden nicht einfach durch eine Ursache, die arn Anfang einer linearen Kausalkette steht, kausal angestoßen und dann ihrem Schicksal überlassen. Solche Kausalketten führen, was Handlungserklärungen betrifft, zu vielfältigen Problemen, wie abweichende Kausalketten, welche die aktuelle Debatte der philosophischen Handlungstheorie wesentlich prägen. In Kapitel III werden einige dieser Problerne und ihre Lösungsansätze kritisch und mit Blick auf die Antworten und Ansätze Sellars' untersucht.

3 HEMPEL CONTRA DRAY: DISPOSITION CONTRA INTENTION In den siebziger Jahren, als Carl Gustav Hempel seine Einwände gegen die intentionale Handlungserklärung Williarn Drays formulierte, waren die verschiedenen Positionen zum Status der Handlungserklärung noch klar voneinander differenziert. In den aktuellen Debatten der philosophischen Handlungstheorie werden diese ehemals scharfen Grenzen zunehmend fließend (Kap. III). Die folgende Auseinandersetzung mit der Hernpel-Dray-Kontroverse beinhaltet somit neben einer problernorientierten Dimension auch eine historische. Ebenso wie von Wright, Droysen, Dilthey und Collingwood verfolgt Dray primär das Ziel, die Autonomie der Humanwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften zu begründen. Im Vokabular Sellars' könnte man dieses Ziel als die Begründung der Eigenständigkeit des Raums der Gründe gegenüber dem Raum der Ursachen formulieren. Geistesphilosophisch rekurriert Sellars diese Begründung auf die Autonomie mentaler Inhalte gegenüber mentalen Akten. Es geht Dray um den Nachweis, dass Handlungen individuell und einzigartig sind und aus guten Gründen heraus vollzogen werden, welche die Handlung als rational ausweisen. In

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3 Hempel contra Dray: Disposition contra Intention

diesem Sinne erklären intentionale Handlungserklärungen 13 durch den Ausweis der guten Gründe, die der Handelnde in einer bestimmten Handlungssituation hatte. Wenn Peternach seinem Jogging an einem Kiosk eine Flasche Mineralwasser kauft, weil er Durst hat, dann ist sein Durst ein guter Grund dafür, am Kiosk ein Wasser kaufen. Es war vernünftig dies zu tun. Peters Handlung ist damit verständlich und erklärt. Diese Erklärung besagt aber nicht, dass Peter oder andere Personen in der gleichen Situation Gogging) immer am Kiosk ein Wasser kaufen, wenn sie dort gerade Durst verspüren. Denn es könnte sein, das jemand gerade zu wenig Geld dabei hat und deshalb zum nächsten Kiosk geht, wo das Wasser preiswerter ist. Vielleicht unterdrückt dieser jemand auch seinen Durst, weil er einen wichtigen Termin hat, den er pünktlich wahrnehmen möchte. Oder er entschließt sich statt Wasser ein Glas Milch zu trinken, um nicht nur seinen Durst zu löschen, sondern zugleich seinem Körper ein paar Nährstoffe zuzuführen. Der gute Grund erklärt also stets nur eine einzige, individuelle Handlung, die in einem ganz bestimmten Handlungskontext stattfindet. Ein wichtiger Schritt in Richtung einer Handlungserklärung ist die Rekonstruktion derjenigen Überlegungen, die der Handelnde vor seiner Handlung ausführte oder ausgeführte hätte, wenn er die nötige Zeit dazu gehabt hätte. Denn sie decken den Handlungsgrund und ggf. weitere handlungsrelevante Informationen auf und erweisen damit die Handlung als plausibel, vernünftig und nachvollziehbar. "Weil die Überlegung das, was wir normalerweise die Gründe des Handelnden nennen würden, wiedergibt, werde ich von jetzt an diese große Menge von Erklärungen als >rationale Erklärungen< bezeichnen" (Dray 1957, 281). Rationale Erklärungen sind Erklärungen, "die den Sinn dessen enthüllen, was getan wurde" (a.a.O., 282). "Das Ziel derartiger Erklärungen besteht darin zu zeigen, daß das, was getan wurde, das war, was bei den gegebenen Gründen zu tun war, und nicht bloß das, was normalerweise in solchen Situationen getan wird - vielleicht in Übereinstimmung rriit bestimmten (mehr oder weniger vagen) Gesetzen. Der Ausdruck ~das, was zu tun war< verrät eine äußerst wichtige Eigenschaft von Erklärungen mit Hilfe der Überlegungen des Handelnden [... ].Denn der Infinitiv ~zu tun< fungiert hier als ein Wertbegriff. Daher möchte ich die These vertreten, daß in solchen Erklärungen ein Element der Beurteilung dessen, was getan wurde, enthalten ist und [...] inwieweit sie angemessen war" (a.a. 0.). Handlungserklärungen, die sich eines deduktivnomologischen Modells bedienen, vermögen diese Aufgabe nicht zu leisten. Denn sie lassen essentielle erklärende Aspekte unberücksichtigt, die sich nur aus den

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Der Begriff der intentionalen Handlungserklärung ist hier in einem weiten Sinne zu verstehen. In diesem Sinne rekurriert eine intentionale Handlungserklärung auf mentale Einstellungen im Allgemeinen (wie zum Beispiel auf Gründe) und nicht nur auf Absichten (Intentionen) im Speziellen, wie beispielsweise bei Sellars. In diesem weiten Sinne schließen sie Grundeerklärungen und rationale Erklärungen von Handlungen ein.

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Kapitel II Historischer Kontext

praktischen Überlegungen des Handelnden und dem Handlungskontext erschließen. Hempel kann, als Mitbegründer des deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells und als Verfechter der Einheitswissenschaft, Drays Handlungserklärung nicht akzeptieren. Denn weil er die These vertritt, dass für alle Wissenschaften nur ein einziges, einheitliches Erklärungsmodell maßgebend ist, muss er zugleich behaupten, dass auch das menschliche Handeln diesem deduktiv-nomologischen oder covering-law-Modell untergeordnet werden kann. Hempel muss also nachweisen, dass dies möglich ist. Gelingt dies nicht, so muss die These der Einheitswissenschaft aufgegeben und eine Autonomie all derjenigen Wissenschaften akzeptiert werden, die das menschliche Handeln als Untersuchungsgegenstand haben, wie beispielsweise die Handlungs-, Human- und Geschichtswissenschaften. Nach Hempellässt sich eine Handlung wie folgt in das deduktiv-nomologische Schema einbinden und damit zugleich erklären (Hempel 1962, 399). (Pl) (P2) (P3) (K)

H war in einer Situation vom Typ S. H war ein rational Handelnder. In einer Situation vomTypSwird jeder rational Handelnde x tun. Also hat H x getan. 14

Diese Erklärung gründet nicht mehr auf einer Rekonstruktion der Handlungsüberlegung des Handelnden. Sie ist eine Erklärung durch Dritte und steht in Übereinstimmung mit dem in Naturwissenschaften üblichen ErklärungsmodelL In dieser Erklärung beschreibt die erste Prämisse die Handlungssituation (S) und die zweite Prämisse den Handelnden (H). Die dritte Prämisse artikuliert das allgemeine Gesetz, unter das die zu erklärende Handlung (x) subsumiert wird. Dieses Schema bezeichnet Hempel daher auch als die covering-law-Form der Erklärung. Es unterscheidet sich in zwei wesentlichen Aspekten von demjenigen Drays. Zum einen wird die Rationalität des Handelnden in die Prämisse der Erklärung integriert und zum zweiten ein allgemeines Gesetz angegeben, das der Erklärung seine Erklärungskraft verleiht. Die vorausgesetzte Rationalität des Handelnden kann als eine Disposition des Handelnden zum rationalen Handeln interpretiert werden, sodass die aufgeführte Erklärung auch als eine "dipositionelle Erklärung" (a.a.O., 399) bezeichnet werden kann. Mit der Einführung des Dispositionsbegriffs wird deutlich, dass Hempels Handlungserklärung eine Kausalbeziehung zugrunde liegt, welche die in den beiden Prämissen formulierten Ursachen und die in der Konklusion konstatierte Handlung mittels eines Kausalgesetzes verknüpft. Auch Seilars greift bei seiner geistesphilosophischen Untersuchung der praktischen Überlegun14

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Das aufgeführte Schema wurde im Vergleich zum Original dahingehend modifiziert, dass die einzelnen Zeilen als Prämisse (P) bzw. als Konklusion (K) gekennzeichnet wurden.

3 Hempel contra Dray: Disposition contra Intention

gen des Handelnden auf Dispositionen zurück, gibt diesen aber eine flexiblere, dynamischere Struktur als Hempel dies tut. Zudem versucht Sellars, im Gegensatz zu Hempel und auch zu Ryle, die Dispositionen als solche zu erklären, in dem er zu diesem Zweck theoretische Entitäten, nämlich mentale Episoden oder mentale Akte postuliert, die nicht mit den propositionalen mentalen Inhalten verwechselt werden dürfen (Kap. VI). Die Problerne der Handlungserklärung Hernpels sind offensichtlich. Zum einen gibt es im Alltag viele Fälle, in denen sich eine rational handelnde Person H in einer · Situation vom Typ S befindet und doch nicht x, sondern vielleicht y, z oder gar nichts tut, ohne dass sie deshalb gleich als irrational zu prädizieren ist. Vielleicht hat sie in dieser Situation einfach nur, wie Dray argumentiert, gute Gründe y statt x zu tun. Ein zweites Problem, das in der handlungstheoretischen Literatur jedoch 'nur selten genannt wird, artikuliert sich in der Frage: Wie erkennt eine Person, ob ·sie in einer Situation vom TypS ist? Was kennzeichnet eine solche Situation, was schließt sie ein und was aus? Umfasst sie nur die gerade aktuellen äußeren Fakta oder auch die momentanen mentalen Einstellungen des Handelnden? Dies wäre notwendig, denn die aktuelle Stimmungslage des Handelnden, wie seine Gefühle, Wünsche und Überzeugungen, sind zumindest gleichermaßen, wenn nicht gar dominierend handlungskonstitutiv. Kann es in Anbetracht dieser Komplexität überhaupt zwei identische Situationen geben? Kann folglich eine bestimmte Person jemals wieder in die gleiche Handlungssituation kommen? Können zwei Personen in der gleichen Handlungssituation sein? 15 Hempel ist sich dieser Problematik be. \vusst. Er spricht daher auch nicht von einer SituationS, sondern von einer Situation vom Typ S. Das Problem wird dadurch aber nicht erleichtert. Denn es bleibt ~eiterhin unbestimmt, welche Krixerien den Typ S eindeutig gegenüber anderen Situationstypen auszeichnen. Hernpels Handlungserklärung schlägt folglich im Allgemeinen fehl, auch wenn sie im Hinblick auf die eine oder andere spezielle Handlung glücken mag. Hauptgrund des Scheiterns ist die erzwungene Gesetz- mäßigkeit. Denn obgleich Menschen im Alltag in ähnlichen Situationen häufig ähnlich handeln, so finden sich im Alltag aber auch immer wieder Ausnahmen, in denen sie, obwohl in einer gleichen Situation, anders handeln. Denn zum Menschsein gehören Ausnahmen ebenso zur Regel, wie routinierte und immer wiederkehrende Handlungen. Diese können in gewissen Grenzen sogar gesetzesartig ablaufen und daher auch prognostiziert werden, aber eben nicht allgemein im Sinne eines Naturgesetzes. 15

Es wurde hier der Begriff "gleich" bevorzugt, da es identische Situationen ohnehin nicht geben kann. So ist nach einer Sekunde die Situation schon nicht mehr identisch derjenigen vor einer Sekunde. Und zwei Personen können zu einem bestimmten Zeitpunkt niemals in einer identischen Situation sein, da sie nicht am identischen Ort sein können. Sie können bestenfalls sehr nahe beieinander stehen, wobei ggf. die eine Person die Situation schon ganz anders wahrnimmt als die andere.

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Kapitel II Historischer Kontext

Sowohl Drays als auch Hempels Erklärungsschema scheitern, wenn die Handlung unvernünftig ist. Denn beide Schemata berufen sich, wenn auch in unterschiedlicher Weise, auf die Rationalität des Handelnden. Bei Hempel ist sie als Prämisse Bestandteil des Explanans und bei Dray des Explanandums. 16 Nehmen wir an, Peter bestellt in einem Kaffeehaus nach dem V erzehr von zwei großen Stück Torte noch ein drittes und sogar viertes Stück. Seine Handlung ist absichtlich, denn schließlich ruft er jedesmal die Bedienung herbei. Da er aber übergewichtig ist und ihm vom Arzt mit Nachdruck eine Diät auferlegt wurde, ist seine Handlung irrational. Deshalb kann es nicht gelingen, die guten Gründe offenzulegen, die seine Handlung im Sinne Drays zu erklären vermögen und in der gegebenen Situation zugleich als angemessen ausweisen. Drays Erklärung kann den rationalen Sinn dieser Handlung nicht enthüllen, da es weder aus der Sicht des Handelnden noch aus der des Beobachters einen solchen rationalen Sinn gibt, sondern bestenfalls eine Art Suchtverhalten. Aber dennoch bleibt ihr Element der Beurteilung bestehen. Denn Peters Handlung ist in der gegebenen Situation als unangemessen und unvernünftig zu beurteilen. Dray ist sich dieser Problematik bewusst, denn er betont, dass eine Erklärung nach dem rationalen Modell nicht "garantiert, daß es sich dabei um das handelt, was zu tun richtig, angemessen oder intelligent war" (Dray 1957, 282). Hempels Erklärungsmodell ist auf diesen Fall gar nicht anwendbar, da die Rationalitätsprämisse nicht erfüllt ist. Es sei denn, man ersetzt sie durch eine Prämisse, welche die Disposition zum unmäßigen Tortenverzehr ausdrückt, und modifiziert dementsprechend auch das scheinbar allgemeine Gesetz (P3). Das Problem, das dadurch entsteht) ist offensichtlich. Denn mit jeder neuen Disposition muss auch das allgemeine Gesetz geändert werden, es sei denn man erwähnt in den Prämissen und im Gesetz alle bekannten Dispositionen des Handelnden auf einmal. Dann wird das angestrebte allgerneine Gesetz aber zu einem derart speziellen Gesetz, das nur noch für einen einzigen Handelnden gilt, wodurch es den Status ein Gesetz im Sinne eines Naturgesetzes zu sein verliert. Eine notwendige Bedingung für den Erfolg der Erklärungsmodelle von Dray und Hempel ist, dass man die Vernünftigkeit der Handlung aus der Sicht des Handelnden betrachtet und nicht aus der Sicht des Beobachters. Denn seine Überzeugungen und Zwecke können ganz andere sein, als die des Beobachters. Bei rationalen Handlungserklärungen muss folglich allein erklärt werden, dass die Handlung aus Sicht des Handelnden rational war, unabhängig davon, was der Beobachter von dieser Handlung hält, wie er diese Handlung bewertet oder ob er ggf. anders gehandelt hätte.

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Sie ist deshalb Bestandteil des Explanandums, da eine Handlungserklärung, die auf Handlungsgrunde rekurriert, nach Dray den Sinn der Handlung offenbart und dadurch sich zugleich als rational ausweist.

4 Churchland: Deduktiv-nomologische Handlungserklärung

Das Wesentliche an der Kontroverse zwischen Dray und Hempel im Hinblick auf das Problem der Handlungserklärung ist, dass sie sich nicht primäramBegriff der Handlung, sondern am Begriff der Erklärung entzündet. Während Hempel einen sehr engen Erklärungsbegriff hat, der nur einen einzigen Erklärungstyp beinhaltet, nämlich den der ON-Erklärung, ist Drays Begriff der Erklärung weiter. Denn dieser umfasst die DN-Erklärung, die Dray allein den Natunvissenschaften zugesteht, Nnd die Gute-Gründe-Erklärung der Humanwissenschaften. Historisch gesehen liegt somit der Kontroverse zwischen Dray und Hempel der Streit um die Möglichkeit einer Einheitswissenschaft und damit einer für alle Wissenschaften einheitlichen Erklärungsform zugrunde. Es ist ein Streit, der sich unter verschiedenen Überschriften fortgesetzt hat und beim Problem der Handlungserklärung am stärksten zum Ausdruck kommt. Insbesondere durch die Fortschritte in den Wissenschaften, vor allem in den Neurowissenschaften, flammt der Streit unter Titeln wie kausale versus nicht-kausale Handlungserklärung oder Determinismus versus Freiheit gegenwärtig erneut auf. Allerdings ist der Streit in den aktuellen Debatten kein primär bilateraler Lagerstreit mehr. Denn erstens ist das "versus" einem ;,und/oder" und das "bilateral" einem "multilateral" gewichen. Das Problem der Handlungserklärung ist komplexer geworden. Es ist eine Besonderheit Sellars', bereits zu einem frühen Zeitpunkt, nämlich Ende der fünfziger und Anfang der Iechziger Jahre, den Versuch unternommen zu haben, das Miteinander von Gründe- und Kausalerklärungen von Handlungen zu begründen.

4 CHURCHLAND: :DEDUKTIV-NOMOLOGISCHE HANDLUNGSERKLÄRUNG . Paul M. Churchland vertritt ebenso wie Hempel die These, dass menschliche Handlungen unter ein allgemeines Gesetz subsumiert und damit erklärt werden können. In seinem bekannten Werk The Logical Character of Action-Explanations (Churchland 1970) unternimmt er daher den Versuch, "prima-facie-Argumente ·llafür vorzulegen, daß Handlungserklärungen tatsächlich von der geläufigen DNForm sind" (a.a.O., 305). Churchland kennt das Problem der Handlungserklärung Hempels, das sich darin äußert, dass es vielfältige alltägliche Handlungen gibt, die sich der rational-dispositioneBen Handlungserklärung Hempels widersetzen. Es gibt in dem breiten Spektrum möglicher menschlicher Handlungen einfach zu viele tusnahmen. Es gibt "gegen erklärende Feststellungen der Form »X hat H getan, . weil er 0 wollte< Einwände in rauben Mengen" (a.a.O., 306) . . Das grundsätzliche Problem aller Handlungserklärungen besteht darin, dass sie , immer dann scheitern, wenn es trotz Kenntnis der Absichten 1 Gründe, Motive, Wünsche und Überzeugungen nicht zur derjenigen beabsichtigten Handlung

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Kapitel !I Historischer Kontext

kommt, die es zu erklären gilt. Der Grund hierfür liegt darin, dass keine Person gez'Wungen ist, aus gesetzlicher oder logischer Notwendigkeit zu handeln. Tm gewissen Sinne besteht dieses Problem auch dann, wenn die Verbindung von Absicht und Handlung nicht kausalgesetzlich oder logisch, sondern grammatiseh-kriterial gedacht wird. Denn auch niemand ist gez"11praktisch< und kein logischer Beweis" (a.a.O., 1!0). Er ist allein von begrifflicher oder grammarisch-kriterialer Gültigkeit, aber nicht von logischer. Die Frage nach dem Verhältnis von Absicht und Handlung erweist sich ergo als eine nach der Regel, Norm oder Konvention. 55 Denn jeder Mensch handelt innerhalb einer sozialen Geneinschaft nach Konventionen, Regeln und Kormen. Diese Spielregeln der Gemeinschaft bestimmen aber nur, dass man clie beabsichtigte Handlung - ceteris paribus- auch ausführt. Sie zwingen aber weder logisch noch nornelogisch zum Handeln. Was aber wiederum nicht bedeutet, dass bei menschlichen Handlungen und praktischen Überlegungen logische und kausale Aspekte i90 kg schwer zu sein« empirisch ermittelt und geprüft werden kann, sind alle aufgeführten Bedeutungen jedoch nicht empirisch verifizierbar.

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

gung der Irreduzibilität mentaler Inhalte aufgeführt wurde. Esfelds Behauptung, dass Gehirnzustände die Ursachen von Körperbewegungen sind, kann auch aus Sellars' Handlungstheorie deduziert werden, vorausgesetzt man beachtet die kategoriale Differe11z von Körperbewegung und Handlung, die Seilars noch zumeist vernachlässigt. In diesem Fall impliziert seine Theorie, dass mentale Ereignisse oder mentale Zustände die Ursache von Körperbewegungen sind und zwar sowohl als postulierte theoretische Entitäten als auch in ihrer physikalischen Realisierung als neurale Zustände (Kap. VI ff). Wenn aber neurale Zustände die Körperbewegung verursachen, welche Rolle bleibt dann noch für die sozial fundierten begrifflichen mentalen Inhalte? Sind sie bloß Epiphänomene? Dies ist das Problem worauf Esfeld verweist. Doch dieses Problem ist lösbar. Denn obgleich Hirnzustände Kör- . perbewegungen verursachen, so bestimmen sie doch nicht die soziale Bedeutung dieser Bewegung. Diese wird nämlich allein durch die Inhalte bestimmt. Denn ob ein Armheben ein freundlicher Gruß, ein Herbeiwinken eines Kellners oder Teil einer Gymnastikübung ist, dies bestimmt nicht ein mentales ursächliches Ereignis, sondern der durch soziale Praktiken fundierte mentale Inhalt. Während also mentale Ereignisse und Handlungsereignisse (Körperbewegungen) einer Kausalrelation folgen, stehen mentale Inhalte und Handlungen in einem Bedeutungszusammenhang. Mentale Inhalte sind folglich für Handlungen bedeutungsrelevant. In diesem Sinne sind sie zugleich handlungskonstitutiv. Mentale Inhalte sind folglich keine Epiphänomene, nur weil sie keine kausale Wirksamkeit haben. Vielmehr sind sie überhaupt keine Phänomene. Sie sind Sätze, Beschreibungen oder Propositionen und damit von einer ganz anderen Kategorie als Phänomene, die entweder Ursachen oder Wirkungen sind. Wenn mentale Inhalte aber keine Phänomene sind, so sind sie auch keine Epiphänomene. Die Frage, ob mentale Inhalte Epiphänomene sind, stellt sich also erst gar nicht. Mentale Inhalte vermögen Handlungen nur deshalb Bedeutung und Sinn zu verleihen, weil sie mit der Handlung in einer grammatisch-kriterialen Beziehung stehen (Kap. VII) und eben nicht in einem Kausalverhältnis. Ein weiteres Problem auf das Esfeld verweist äußert sich in der Frage nach dem Verhältnis mentaler Inhalte und mentaler Akte. Esfeld behauptet, dass sich hier eine Erklärungslücke auftut, die der beim Qualia-Problem des Funktionalismus ähnlich ist (Kap. VIII). "Kurz, wie eine Erklärungslücke vom Nicht-Qualiamäßigen zu den Qualia besteht, so besteht eine Erklärungslücke vom Nicht-Sozial-Normativen zum Sozial-Normativen" (a.a.O., 165), wobei das Sozial-Normative die mentalen, begrifflichen Inhalte und das Nicht-Sozial-Normative die kausal wirksamen mentalen Ereignisse bezeichnet. In der Tat vermag die Dualität mentaler Inhalte und mentaler Akte das Problem der Qualia nicht zu lösen. Diese Dualität vermag also nicht zu zeigen, wie es möglich ist, dass bestimmte Handlungen von bestimmten Gefühlen begleitet sind. Da das Qualia-Problem unabhängig vom Leitproblem dieser Arbeit ist, nämlich vom Problem der Handlungserklärung, wird es

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8 Das Problem des vernachlässigten Handlungskontextes

im Folgenden nicht weiter untersucht. 55 Dagegen ist das problematische Verhältnis mentaler Inhalte und mentaler Akte sehr wohl mit dem Problem der Handlungserklärung verknüpft. So impliziert Sellars' Handlungstheorie, dass mentale Inhalte zum Raum der Gründe gehören und somit Bestandteil von Gründeerklärungen sind, wohingegen mentale Akte zum Raum der Ursachen gehören und folglich Bestandteil von Kausalerklärungen sind. Das problematische Verhältnis von Gründe- und Kausalerklärungen steht also in einer engen Beziehung zum problematischen Verhältnis mentaler Inhalte und mentaler Akte. Aufgrund dessen wird eine Irreduzibilität mentaler Inhalte eine Irreduzibilität von Gründeerklärungen implizieren, wohingegen umgekehrt reduzible mentale Inhalte auf reduzible Gründeerklärungen schließen lassen.

8 DAS PROBLEM DES VERNACHLÄSSIGTEN HANDLUNGSKONTEXTES Traditionelle Handlungserklärungen- kausale wie intentionale- versuchen Handlungen zumeist dadurch zu erklären, dass sie die zu erklärende Handlung auf eine Absicht, einen Grund, einen Wunsch oder ein Wunsch-Überzeugungspaar rekurrieren. Nun sind aber Absichten, Gründe, Wünsche, Überzeugungen und andere mentale Einstellungen keine isolierten Elemente. So stehen Absichten und Überzeugungen stets in einer Wechselbeziehung zu einer Vielzahl anderer Absichten und Überzeugungen. Statt einzelner Überzeugungen und singulärer Absichten gibt es folglich ein "Gefüge der Überzeugungen" (Davidson 1995, 40) und ein "Gefüge der Absichten" (a.a.O.), die Teil des holistischen Hintergrundes sind, vor del):l Handlungen zu verstehen und zu erklären sind. 56 Absichten und Überzeugungen erhalten ihre Bedeutung erst im Rahmen dieses holistischen Gefüges oder Netzes. Somit kann die Frage, ob eine Absicht oder Handlung rational ist, erst vor diesem holistischen Hintergrund beantwortet werden. "Über Absichten, absichtliche Handlungen und sonstige propositionale Einstellungen [... ] müssen wir meines Erachtens mehr oder weniger das gleiche sagen: Für sich genommen sind sie nie irrational, sondern nur als Teile eines umfassenderen Musters" (Davidson 1985e, 321). Wenn Absichten und Überzeugungen Teile eines holistischen Systems sind, 55

Eine Möglichkeit, dieses Problem zu lösen, könnte darin bestehen, dass man den mentalen Akten nicht nur einen mentalen Inhalt, sondern zusätzlich einen phänomenologischen Inhalt zuordnet (vgl. Smith 1987, 136ff). Wie dieser phänomenologische Inhalt jedoch zu denken ist und in welchem Verhältnis er zu den mentalen Inhalten und mentalen Akten steht, bleibt jedoch ein (zumindest vorerst) ungelöstes Rätsel.

56

Brand spricht statt von Gefügen von "desire and belief matrices" (Brand 1997, 206) und Harman von einem "total system of intentions" (Harman 1976, 153)

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

dann sind auch handlungsrelevante praktische und theoretische SchlüsseTeile dieses Systems, wie beispielsweise Barman richtig erkennt: "Practical reasoning is, like theoretical reasoning, holistic" (Harman 1976, 177). Vor diesem holistischen Hintergrund sind tra().itionelle Handlungserklärungen vielfach zu einfach gestrickt, um individuelle Handlungen adäquat zu erklären. Dies gilt insbesondere für Kausalerklärungen, die, wie bereits nachgewiesen wurde, nicht in der Lage sind, das holistische Netz der Gründe, Absichten und Überzeugungen entsprechend zu berücksichtigen. Werden beispielsweise Gründe aus diesem Netz isoliertund als Ursachen identifiziert, so reißt man sie aus demjenigen Zusammenhang, der ihre Bedeutung konstituiert. Oder anders gesagt: Isoliert man Gründe und identifiziert man sie als determinierende Ursache, so verlieren sie ihre handlungskonstituierende Bedeutung. "Gründe können in Kontexten der Rechtfertigung unsere Stellungnahmen schon deshalb nicht wie natürliche Ursachen determinieren, weil sie sich im holistisch verfassten Raum der semantischen Beziehungen nur transitiv, nach besseren und schlechteren Gründen ordnen lassen" (Habermas 2006, 672). Zum Hintergrund oder zum Kontext einer jeden Handlung gehören aber nicht nur das holistische Netz der Absichten und Überzeugungen, sondern auch die vielfältigen Konventionen, Normen, Regeln und Standards der sozialen Gemeinschaft. Kausalerklärungen vermögen diesen komplexen holistischen Hintergrund von Handlungen nicht zu berücksichtigen. Dieses Vermögen besitzen allein Gründeerklärungen. Sie verlieren aber dieses Vermögen, wenn sie gleichfalls wie Kausalerklärungen der Forderung unterworfen werden, den einen Grund der Handlung zu identifizieren. Sie unterscheiden sich dann zwar immer noch der Art nach von Kausalerklärungen, da sie auf einen singulären Grund und nicht auf einen Grund als singuläre Ursache rekurrieren, aber sie engen sich unnötigerweise ebenso ein wie Kausalerklärungen, die per se den Anspruch haben, die eine hinreichende Ursache zu identifizieren. Aus diesen Überlegungen ist der Schluss zu ziehen, dass in Handlungserklärungen dem holistischen Handlungskontext eine stärkere Erklärungskraft zugesprochen werden muss. Dieser Schluss besagt nicht, dass bei jeder Handlungserklärung notwendig der gesamte holistische Handlungskontext einzubeziehen ist. Inwieweit er zu berücksichtigen ist, hängt von der in Frage stehenden Handlung ab. In speziellen Einzelfällen mag es durchaus hinreichend sein, die Handlung durch ein einzelnes Wunsch-Überzeugungspaar zu erklären. Es überrascht daher auch nicht, dass zum Nachweis der Anwendbarkeit des Standardmodells stets ausgewählte, einfache und spezielle Handlungsbeispiele herangezogen werden. Dies erinnert an eine Warnung Wittgensteins: "Eine Hauptursache philosophischer Krankheiten einseitige Diät: man nährt sein Denken mit nur einer Art von Beispielen" (Wittgenstein 1953, §593). Im Allgemeinen wird dies aber nicht ausreichend sein. In Abhängigkeit von den Fragen, die an die Handlung gestellt und in Abhängigkeit von den Fordenmgen, die an die Handlungserklärung gerichtet werden, kann es

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8 Das Problem des vernachlässigten Handlungskontextes

nötig sein, die Reichweite der Erklärung zu vergrößern. Und dies bedeutet, den Handlungskontext oder den holistischen Hintergrund der Handlung stärker in die Erklärung einzubinden. Den Handlungskontext einbeziehen heißt, dass man bei der Untersuchung, aus welchem Grund eine Person gehandelt hat, die "Reichweite vergrößert" (Stoutland 2001, 168) indem man beispielsweise auch die Voraussetzungen des Handelnden sowie "der Welt seines Handeins und letztlich seiner gesamten Lebensgeschichte" (a.a.O.) einbezieht. Eine solche Untersuchung der Handlung ist sicherlich keine kausale mehr, sondern eine "interpretative Untersuchung" (a.a.O.). Der Einbezug des handlungskonstitutiven Kontextes erweitert den Blick auf die zu erklärende oder zu verstehende Handlung. Dabei ist zu beachten, dass Handlungen nicht nur vor einem holistischen Hintergrund sozialer Praktiken vollzogen werden, sondern selbst Teil eines holistischen Netzes sind. Denn ebenso wie Absichten und Überzeugungen keine insolierten Elemente sind, so sind auch Handlungen nicht isoliert voneinander. Die Bedeutung einer Handlung besteht im Allgemeinen in ihrem Zusammenhang zu anderen Handlungen. Es gibt also nicht nur ein Gefüge der Absichten und ein Gefüge der Überzeugungen, sondern auch ein Gefüge der Handlungen, das die eigenen Handlungen ebenso einschließt wie die der Anderen. Handlungskontexte und holistische Hintergründe konstituieren Handlungen und geben ihnen ihre Bedeutung. Sie haben damit zweifelsfrei eine Erklärungskraft. Handlungserklärungen, die diese Erklärungskraft nicht nutzen, sind beständig der Gefahr ausgesetzt, Handlungen nicht in adäquaterWeise zu erklären. Dies gilt, wie oben nachgewiesen wurde, insbesondere für Kausalerklärungen, die nach dem Standardmodell Davidsons konzipiert sind. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die jüngsten Debatten der philosophischen Handlungstheorie bereits eine stärkere Berücksichtigung des Handlungskontextes bei Handlungserklärungen erkennen lassen. So begründet beispielsweise Leist, dass es nicht hinreichend ist, Handlungen nur auf Wünsche und Überzeugungen zu rekurrieren, da sie auch von dem "Akteur, dessen Selbstverständnis, seiner Einstellung, seinem Wissen, seiner Geschichte, seinen Handlungsumständen, seiner sozialen Position und Rolle, seiner Gesellschaft, seiner Tradition" (Leist 2007, 522) konstituiert werden. Dies vermögen Kausalerklärungen nicht zu leisten, denn in ihnen "wird das Verstehen von Handlungen auf das Verstehen von Beschreibungen der einzelnen Handlungsereignisse begrenzt" (a.a.O.). Um zu erklären bzw. die Frage zu beantworten, warum jemand etwas tut, ist es vielmehr notwendig, die in Frage stehende Handlung vor ihrem holistischen Hintergrund zu betrachten. Dieser umfasst interne Aspekte wie Absichten, Gründe und Überzeugungen als auch externe Aspekte wie soziale Praktiken, Normen, Regeln und Konventionen. "Welche Absichten mit einer bestimmten Handlung verbunden sind, kann manchmal eine einzelne Handlung klar genug werden lassen, unter Umständen ist aber eine umfangreiche Erzählung nötig. Handeln kann wie alle menschlichen Manifestationen ganz einfach, aber auch sehr kom-

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

pliziert sein, und der Vorzug des Holismus besteht darin, diese Komplexität anzuerkennen[... ]. Von einer ,holistischen' Handlungstheorie könnte man erst dann reden, wenn die eben angedeuteten Abhängigkeiten sichtbar würden, während die Standardtheori~ des Handeins viel dazu beigetragen hat, sie zu verdrängen" (a.a.O.). Die Standardtheorie, die Leist hier angreift, ist diejenige Davidsons. In ihr werden Handlungen als Ereignisse identifiziert, die durch mentale Ereignisse verursacht werden. Diese Theorie lässt, wie oben bereits begründet wurde, keinen Raum für mentale Inhalte und damit für holistische Bedeutungszusammenhänge. "Nur wenn Handlungen keine Kausalereignisse sind, können sie untereinander ebenso vernetzt sein, wie Sätze und Wörter es sind [Sellars' mentale Inhalte; jhf]. Der Bedeutungsholismus ist dann notwendig auch ein Handlungsholismus. Für Bedeutungen wie für Handlungen gilt dann ebenso, dass sie praktischen, nicht ontologischen Erfordernissen gehorchen müssen" (a.a.O., 527). Leist kritisiert an Davidson, dass er zwar einen Bedeutungs- und Erkenntnisholismus verteidigt, aber diesen nicht auf die Handlungstheorie ausweitet. Diese Kritik ist berechtigt. Denn wenn handlungskonstituierende Überzeugungen und Absichten und folglich auch handlungskonstituierende theoretische Argumente und praktische Schlüsse in einem holistischen Bedeutungszusammenhang stehen, so ist nicht einzusehen, warum dies für Handlungen nicht gelten solL Vielmehr impliziert das durch Davidson verteidigte holistische Gefüge der Absichten und Überzeugungen geradewegs ein gleichfalls holistisches Gefüge der Handlungen, in dem Handlungen in einem Bedeutungszusammenhang, aber nicht in einem Kausalzusammenhang stehen. Leist argumentiert damit korrekt für ein Ende der kausalen Standardtheorie Davidsons und für ihre Überführung in eine "normative, kontextualisierte und holistische Theorie des Handelns" (a.a.O., 540). 57 Handlungserklärungen im Sinne dieser Theorie müssen Erklärungen sein, die das Vermögen haben, den holistischen Hintergrund adäquat zu berücksichtigen. Und ein solches Vermögen haben allein intentionale und auf Gründe rekurrierende Erklärungen, sofern sie nicht den bereits oben aufgeführten Fehler begehen, den Handlungskontext in gleicher Weise zu ignorieren wie Kausalerklärungen. Dass sie die Kraft haben den holistischen und normativen Hintergrund in die Erklärung einzubeziehen liegt aus geistesphilosophischer Sicht daran, dass sie auf mentale Inhalte rekurrieren und nicht auf mentale

57

Es überrascht in der Tat, dass Davidson diesen Weg nicht beschreitet. Denn an vielen Stellen seiner mittleren Werke und seines Spätwerkes finden sich Äußerungen, die eine Abwendung vom kausalen Standardmodell und eine Hinwendung zu einer holistischen Handlungstheorie nahelegen, z.B. die beiden folgenden: "Da Absichten und Handlungen aus praktischen Überlegungen folgen [...] sind auch Absichten, absichtliche Pläne und deren Ausführung ins Netz evaluativer Einstellungen und praktischen Wissens verstrickt" (Davidson 1995, 45). "Beliefs and desires issue in behaviour only as modified and mediared by further beliefs and desires, attitudes and attendings, without Iimit" (Davidson 1970, 217).

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8 Das Problem des vernachlässigten Handlungskontextes

Ereignisse. Dies begründet, wie noch zu zeigen ist, in stringenterWeise die Handlungstheorie Sellars' (Kap. IV ff). Im Gegensatz zu Leist untersucht Huemer nicht den holistischen Hintergrund von Handlungen, sondern den von Wahrnehmungen und zwar unter besonderer Berücksichtung kausaler Theorien der Wahrnehmung und unter Mitberücksichtigung der Theorie Sellars'. Da Seilars begründet, dass der Bereich der Wahrnehmung in wesentlichen Aspekten spiegelbildlich zum Bereich der Handlung ist (Kap. VI), können Huemers Untersuchungsergebnisse zumTeil direkt auf Handlungen übertragen werden. Huemer begründet, mit Rückgriff auf Haugeland und Dretske und in völliger Übereinstimmung mit Sellars, einen Ansatz, der Wahrnehmungserlebnissen eine Doppelrolle zuweist, da sie sowohl einer kausalen und rationalen Beschreibung zugänglich sind. "Neben der Beschreibung von W ahrnehmungserlebnissen als Positionen im logischen Raum der Vernunft [Sellars' Raum der Gründe; jhf] erlaubt es dieser Ansatz aber auch, sie mit Hilfe einer naturwissenschaftlichen Theorie als Teil einer kausalen Kette [und somit in Sellars' Raum der Ursachen; jhf] zu beschreiben" (Huemer 2002, 390). Im logischen Raum der Vernunft wird "jede Gegenstandswahrnehmung von konstitutiven Standards bestimmt" (a.a.O., 389).58 Hieraus folgt, dass "jedes Wahrnehmungserlebnis einen holistischen Hintergrund verlangt" (a.a.O.). Was der Mensch wahrnimmt, hängt folglich von seinem Hintergrundwissen ab. So können zwei Personen etwas unterschiedliches wahrnehmen, obgleich sie den gleichen Gegenstand betrachten. So mag die eine Person lediglich eine schwarze Holzfigur wahrnehmen, während die andere Person eine schwarze Schachfigur, beispielsweise einen schwarzen Turm wahrnimmt (vgl. a.a.O., 387f). Das holistische Netz der mentalen Inhalte konstituiert demzufolge dasjenige, was wir wahrnehmen. In diesem Sinne werden auch beobachtete Handlungen von verschiedenen Personen unterschiedlich wahrgenommen und damit ggf. unterschiedlich erklärt. Denn da Personen in aller Regel ein unterschiedliches Hintergrundwissen haben, "sehen" sie folglich eine bestimmte Handlung auch vor einem unterschiedlichen holistischen Hintergrund. Dieses Hintergrundwissen bestimmt daher auch, wie ausgedehnt oder wie zusammengezogen eine Handlungserklärung sein muss oder sein kann, damit die erklärte Handlung für einen Dritten verständlich und nachvollziehbar wird. Dieses Wechselverhältnis von Handlungserklärung und holistischem Hintergrundwissen wird im letzten Kapitel dieser Arbeit Gegenstand der Untersuchung sein. 58

Es ist das Ziel von Huemer, das "Wechselverhältnis von kausaler und rationaler Beschreibung der Wahrnehmungserlebnisse" (a.a.O., 384) zu diskutieren und zu zeigen, dass "ein rein kausaler Ansatz keine zufriedenstellende Erklärung von Wahrnehmungserlebnissen liefern kann" (a.a.O.) und "durch Informationsbeziehungen bzw. einen holistischen Hintergrund zu ergänzen" (a.a.O., 389) ist. Sein Ziel ist damit eine Art Spiegelbild des Ziels der vorliegenden Arbeit. Denn das, was Huemer in Bezug auf Wahrnehmungen begründet, wird in dieser Arbeit in Bezug auf Handlungen und ihre Erklärungen angestrebt.

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

Zum Handlungskontext gehört auch das Hintergrundwissen des Handelnden. So wird eine Person nur dann bestimmte Handlungen sinnvoll ausführen können, wenn sie die Bedeutung dieser Handlung kennt und weiß, wie man die Handlung ausführt. So Vlllird beispielsweise eine Person nur dann bei einem Schachspiel die Figuren in der richtigen Weise bewegen, wenn sie die Schachregeln beherrscht, sowie die Bedeutung der Figuren und ihrer Züge kennt. Jemand, der dieses Hintergrundwissen nicht besitzt, wird die Handlung des Schachmattsetzens nicht sinnvoll ausführen können. Und er wird nicht, wenn er bei einem Schachspiel zuschaut, erklären können, warum einer der beiden Spieler eine schwarze Holzfigur schräg über ein Feld zieht und dabei Schach sagt. Ob jemand eine Handlung erklären kann oder eine Handlungserklärung versteht, hängt folglich von seinem Hintergrund-· wissen oder, geistesphilosophisch formuliert, vom holistischen Netz seiner mentalen Inhalte ab. Nicht-kausale Handlungserklärungen, die den holistischen Hintergrund oder Handlungskontext einbeziehen, haben gegenüber Kausalerklärungen den Vorteil der Flexibilität. Denn sie können die Reichweite der Erklärung nahezu beliebig ausdehnen oder einengen, je nachdem, welche Fragen an die zu erklärende Handlung gerichtet und welche Forderungen an die Erklärung gestellt werden. Kausalerklärungen haben dagegen den Vorteil der Tiefe, da sie Handlungen bei Bedarf auf einer tieferliegenden physikalischen Ebene zu erklären vermögen. In diesem Sinne unterscheiden sich kausale und nicht-kausale Handlungserklärungen, wie bereits oben schon des Öfteren nachgewiesen, der Art nach. "Rationalisierungen [also nicht-kausale Handlungserklärungen; jhf] sind horizontal und narrativ, nicht vertikal und nomologisch. D.h., wenn wir Rationalisierungen [...]verbessern, dann bringen wir immer mehr Elemente aus derselben Ebene ins Spiel: Erfahrungen, Überzeugungen, Interessen, Pläne, etc. Dies geschieht auf dem Wege des Erzählens und nicht auf dem des Subsumierens von Zuständen und Ereignissen unter Gesetze. Rationalisierungen steigen nicht auf tieferliegende Ebenen ab (Gehirn) und dringen nicht zu Mechanismen und Gesetzen vor" (Lanz 1987, 140). Während Kausalerklärungen an eine ganz bestimmte Erklärungsform gebunden sind, nämlich an eine deduktiv-nomologische, sind nicht-kausale Handlungserklärungen oder Rationalisierungen (also Gründeerklärungen oder intentionale Erklärungen) nicht an eine bestimmte Form geknüpft. Sie können die Form praktischer Schlüsse annehmen aber auch die sehr freie Form einer Erzählung. Gerade letztere erweist sich hinsichtlich des primären Ziels einer Handlungserklärung, nämlich die Erklärung einer einzelnen, individuellen Handlung, als besonders flexibel. Denn sie vermag nicht nur den spezifischen Handelnden als individuelle Person zu berücksichtigen, sondern auch alle seine spezifischen temporalen und lokalen Begleitumstände sowie auch alle sozialen Praktiken, Normen und Konventionen, in die sein Handeln eingebunden ist.

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8 Das Problem des vernachlässigten Handlungskontextes

Zum Abschluss dieses Abschnitts soll nun noch die Frage beantwortet werden, ob und inwieweit die bereits historische Handlungstheorie Sellars' die aufgeführten aktuellen Entwicklungen gleichfalls beinhaltet. Die Antworten sollen an dieser Stelle jedoch nur skizziert werden, da eine ausführliche Untersuchung Gegenstand der nachfolgenden Seilars-Kapitel ist. Es ist eine Besonderheit Sellars', dass erbereits in seinen Frühwerken auf die Bedeutung des Handlungskontextes und auf die Relevanz der spezifischen Handlungssituation hinsichtlich praktischer Handlungsüberlegungen (Sellars nennt sie "practical reasoning") hinweist. Die Art undWeise allerdings, wie er den Handlungskontext einbezieht, waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Denn Seilars bindet den Handlungskontext in die Handlungsüberlegungen des Akteurs ein. Dieser Schritt ist zunächst noch plausibel, da Personen sich in aller Regel zunächst einen Überblick über die bestehende Handlungssituation verschaffen, bevor sie sich zum Handeln entschließen. Problematisch ist allerdings der zweite Schritt. Denn Seilars strebt eine logische Theorie des practical reasonings an und subsumiert zu diesem Zweck die Handlungsüberlegungen unter logische Gesetzmäßigkeiten, die alltäglichen Handlungsüberlegungen nicht gerecht werden (Kap. V). Denn, wie bereits im Kapitel II nachgewiesen wurde, ist kein Akteur gezwungen aus logischer Notwendigkeit zu handeln. Sellars' Theorie des practical reasonings repräsentiert zweifelsfrei die wohl größte Schwachstelle seiner Handlungstheorie. Wie Seilars richtig bemerkt, ist sie nur auf ideal rationale Personen anwendbar, nicht aber auf Normalsterbliche. 59 Mit dem Scheitern seiner formallogischen Konzeption des practical reasonings schlägt somit zugleich auch der Einbezug des Handlungskontextes fehl. Dennoch gebührt Seilars die Anerkennung, auf die Relevanz des Kontextes zumindest hingewiesen zu haben, auch wenn seine Bemühungen, diesen Kontext zu berücksichtigen, wenig erfolgreich waren. Dabei bietet Sellars' Handlungstheorie sehr wohl eine Alternative, den Handlungskontext adäquat zu berücksichtigen und zwar über seine Konzeption mentaler Inhalte, wie Absichtsinhalte und Überzeugungsinhalte. Mentale Inhalte stehen in einem holistischen Bedeutungszusammenhang und sind durch Konventionen, N ormen und soziale Praktiken geprägt. Sie sind folglich durch vielfältige Faktoren bestimmt, die das Innere des Handelnden mit seiner Außenwelt verbinden. Mentale Inhalte gehören innerhalb des philosophischen Systems Sellars' zum Raum der Gründe und spielen damit eine Schlüsselrolle bei nicht-kausalen Handlungserklärungen, also bei Rationalisierungen, Gründeerklärungen und intentionalen Erklärungen. Über die Konzeption der mentalen Inhalte besteht folglich innerhalb der Handlungstheorie Sellars' durchaus die Möglichkeit, den holistischen Handlungshintergrund in die Handlungserklärung zu integrieren. Denn sobald man die Be59

"An ideally rational person would, of course, believe all the implications of what he believes. He would equally intend all the implications of what he intends. N either, of course, is true of ordinary mortals" (VR §24).

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

deutungder Inhalte sowie die sozialen und normativen Quellen dieser Inhalte erstmal erkannt hat, ist es nämlich nur noch ein kleiner Schritt zu einem stärker kontextbezogenen Verständnis von Handlungen. Nach diesem Verständnis sind handlungskonstituierende Gedanken, Absichten und Überzeugungen keine isolierten Entitäten im Inneren des Handelnden, sondern auf vielfältigeWeise mit der physikalischen aber auch mit der sozialen Welt und damit mit Konventionen, Normen, Regeln und Standards verknüpft. Diese handlungsrelevante V erknüpfung des Inneren mit der Außenwelt widerspricht nicht der ebenfalls von Sellars verteidigten These, dass die Handlungsüberlegungen eines Akteurs in foro interno vollzogen werden. In den aktuellen Debatten der philosophischen Handlungstheorie haben einige Überlegungen von Amelie 0. Rorty starke Ähnlichkeit mit den Implikationen, die Sellars' Handlungstheorie ermöglichen. So begründet Rorty in Bezug auf Reaktionen auf Gesprächspartner und somit auf Sprachhandlungen, "dass sich die Reaktionen in foro interno abspielen; aber deswegen sind sie nicht weniger sozial" (Rorty 1988, 206). Sie stimmt mit Seilars überein, dass selbst ein autonomes Individuum "nicht in einem Vakuum leben [kann], sondern [es] handelt vor dem Hintergrund sozialer Institutionen und Praktiken und verlässt sich dabei auf die normale soziale Interaktion" (a.a.O.). Selbst der "letzte imaginäre Augenblick der Entscheidung [... ] hat seinen Ursprung und seine Bedingungen im komplexen Zusammenhang der biologischen Erbschaft und der sozialen Interaktionen des Individuums" (a.a.O.). Dies bedeutet nicht, dass man bei allen Handlungen, um sie zu erklären, alle diese Faktoren berücksichtigen muss. In welchem Umfang dieser Hintergrund oder Kontext einzubeziehen ist, hängt von der Komplexität der Handlung ab und davon, inwieweit sich die zu erklärende Handlung bereits in das Schema der uns vertrauten Handlungen eingliedert. Richtig ist jedenfalls, dass das Standardmodell der kausalen Handlungserklärung für die meisten alltäglichen Handlungen erstens viel zu eng und zweitens kategorial ungeeignet ist. Handlungen werden durch das Standardmodell "in unangemessener Weise vom verzweigten Netz der notwendig mitwirkenden Ursachen" (a.a.O.) abgelöst. Und zu diesem verzweigten Netz gehören Präferenzen sowie vielfältige temporale und lokale Begleitumstände, aber vor allem Normen, Konventionen und soziale Aspekte. Gerade den letztgenannten Elementen kommt in Sellars' Handlungstheorie eine große Bedeutung zu, da sie die Irreduzibilität mentaler Inhalte gegenüber mentalen Akten ausweisen, welche die Irreduzibilität des Raums der Gründe gegenüber dem Raum der Ursachen und schließlich die Irreduzibilität von Gründeerklärungen gegenüber Kausalerklärungen von Handlungen impliziert. Dies zu begründen, ist ein primäres Ziel der SeilarsKapitel (Kap. IV ff).

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9 Das Problem der Ontologie menschlicher Handlungen

9 DAS PROBLEM DER ONTOLOGIE MENSCHLICHER HANDLUNGEN Die Frage, was ist eine Handlung, ist eine der Kernfragen der modernen und traditionellen philosophischen Handlungstheorie. Die Beantwortung dieser Frage hat sich als weitaus schwieriger herausgestellt, als vielleicht zu erwarten war. Tatsache ist, dass sie bis heute nicht abschließend beantwortet ist. Der Weg, der üblicherweise zur Beantwortung dieser ontologischen Frage eingeschlagen wird, ist die exemplarische Untersuchung menschlicher Tätigkeiten und der daran anschließende Versuch, diejenigen distinktiven Merkmale zu analysieren, die Handlungen gegenüber einem bloßen Tun 60 oder Geschehen auszeichnen. Die Antworten, die damit ermittelt werden, sind jedoch ständig der Gefahr durch Gegenbeispiele ausgesetzt. Denn es genügt der Nachweis eines einzigen Gegenbeispiels, um eine gegebene Antwort zu widerlegen, beispielsweise eines scheinbar bloßen Tuns, das sich de facto doch als eine Handlung erweist, oder einer scheinbaren Handlung, die de facto doch nur ein bloßes Tun ist. Die zahlreichen Versuche, die Frage nach dem Wesen der Handlung zu beantworten, stellen sich im Rückblick als eine immer wiederkehrende Geschichte von Beispielen und widerlegenden Gegenbeispielen dar. Es sollen an dieser Stelle nicht die äußerst vielfältigen Lösungsversuche diskutiert werden, die sowohl in der traditionellen als auch in der jüngsten handlungstheoretischen Literatur zahlreich zu finden sind. Stattdessen soll die handlungstheoretische Kernfrage, was ist eine Handlung, hinsichtlich ihrer Bedeutung für das philosophische Problem der Handlungserklärung, das der vorliegenden Arbeit seine Orientierung gibt, untersucht werden. Denn das Problem der Ontologie menschlicher Handlungen ist eng mit dem Problem der Handlungserklärung verknüpft. Aus diesem Grund wird es hilfreich sein, in diesem Abschnitt zumindest einige grundsätzliche Gedanken zu dieser Thematik aufzugreifen. Eine umfassende Explikation des Problems der Ontologie menschlicher Handlungen würde am Ziel der vorliegenden Arbeit vorbeigehen. Warum ist die Frage nach dem Wesen der Handlung auch für das Problem der Handlungserklärung von Bedeutung? Der Grund hierfür ist offensichtlich. Handlungen sind das Erklärungsobjekt von Handlungserklärungen. Folglich ist die Entscheidung für oder wider eine bestimmte Erklärungsart auch davon abhängig, was das zu erklärende Objekt, nämlich die Handlung, ist. Daher ist die Frage, ob eine Handlungserklärung eine bestimmte Handlung adäquat erklärt oder nicht, auch eine Frage nach der Ontologie menschlicher Handlungen. Wenn menschliche Handlungen beispielsweise Ereignisse sind, die als Ursache oder Wirkung in einer Kausalkette auftreten, dann liegt eine Kausalerklärung der Handlung nahe. Dass 60

Ein bloßes Tun wird hier mit einem unabsichtlichen Tun und somit mit einem bloßen Verhalten, einer unbeabsichtigten Reaktion oder einem zufälligen Widerfahrnis gleichgesetzt.

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

Handlungen Ursachen sein können, scheint intuitiv richtig und der Alltagssprache adäquat zu sein, denn schließlich will man mit seinen Handlungen etwas bewirken. Mit Handlungen, die nichts bewirken, erreicht man nichts. Selbst mit Unterlassungen, die auch aki Handlungen zählen, verfolgt man in aller Regel ein Ziel. Aber sind Unterlassungen auch Ereignisse? Im weitesten Sinne schon, denn wenn eine Person eine bestimmte Handlung unterlässt, dann bedeutet dies nicht, dass sich nichts ereignet. Der Unterschied zwischen Unterlassung und Handlung besteht vielmehr darin, dass sich bei der Unterlassung etwas anderes ereignet, als wenn man handelnd eingreift. Mit Unterlassungen lässt man den Dingen ihren Lauf, wohingegen man mit Handlungen in den Lauf der Dinge eingreift. Handlungen können aber nicht nur Ursachen sein, sondern, im Sinne der kausalen Handlungstheorie, auch · Wirkungen. 61 So versuchen Kausaltheoretiker nachzuweisen, dass Handlungen die Wirkungen von ursächlichen mentalen Ereignissen sind. Wenn Handlungen aber sowohl Ursachen als auch Wirkungen sein können, dann liegt die Vermutung nahe, dass Handlungen tatsächlich Ereignisse und folglich Kausalerklärungen ihre angemessene Erklärungsart sind. Ist diese Vermutung richtig? Wenn eine Person absichtlich etwas tut, beispielsweise mit dem Auto zur Arbeit fährt, dann ereignet sich vielerlei. Denn beim Autofahren wird der Zündschlüssel eingesteckt, es werden Gänge eingelegt, es wird gekuppelt, beschleunigt, gelenkt, gebremst und vieles mehr. Im Vorgang des Autofahrens sind folglich vielerlei Ereignisse involviert, die, obgleich routiniert, absichtlich herbeigeführt werden und die man zusammenfassend als die Handlung mit dem Namen >Autofahren< beschreiben kann. Sind damit Handlungen doch keine Ereignisse, sondern vielmehr die Beschreibung von miteinander verketten Ereignissen als Handlung? Wenn dies zutrifft, dann sind nicht Handlungsereignisse das Erklärungsobjekt, sondern Handlungsbeschreibungen oder Handlungssätze. Bei einem einfachen Ereignis, wie beispielsweise das Heben des Armes, ist zumeist nur ein einziger Satz erforderlich, um dieses Ereignis als Handlung zu beschreiben. So kann das Ereignis, dass Peters Arm sich hebt, mit dem Handlungssatz "Peter grüßt" beschrieben werden. Dieses Ereignis kann aber abhängig vom Kontext auch ganz anders beschrieben werden: "Peter ruft den Kellner herbei, um noch ein Glas vom guten 2003er Riesling zu bestellen." Oder: "Peter ruft am Ufer eines Flusses den Fährmann herüber, um noch ein wenig die Sonne auf der Sonnenseite des Flusses zu genießen." Oder: "Peter entspannt seinen Arm, da dieser durch das Eintippen eines handlungstheoretischen Essays stark angespannt ist." Alle diese Sätze beschreiben eine und dieselbe Körperbewegung als unterschiedliche Handlung, die mit unterschiedlichen Gründen ausgeführt wird. Man kann das Ereignis des Armhebens aber auch als eine Nicht-Handlung oder als bloßes Ereignis beschreiben, beispielsweise als einen Abwehrreflex oder als eine krankhafte Zuckung. Vielleicht wurde Peters Arm aber 61

Zu den Wirkungen sind aber auch alle unerwünschten Handlungsfolgen zu rechnen.

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9 Das Problem der Ontologie menschlicher Handlungen

auch gewaltsam durch eine andere Person nach oben bewegt. Ebenso wie bei der unwillkürlichen Zuckung vollzieht Peter auch in diesem Fall keine Handlung, wohl aber der gewalttätige Dritte. Die aufgeführten Beispiele zeigen zweierlei. Erstens, dass ein bestimmtes, gleichbleibendes Ereignis in vielerlei Arten als Handlung und als Nicht-Handlung beschrieben werden kann und zweitens, dass die Beschreibungsvarianten kontextabhängig sind. Grundsätzlich gibt es nahezu unbegrenzt viele Möglichkeiten ein bestimmtes Ereignis als Handlung oder NichtHandlung zu beschreiben. Dies hat, wie in Kapitel II gezeigt wurde, bereits Davidson begründet. Auch er kommt zu dem Ergebnis, dass Ereignisse in vielfacher W eise beschrieben werden können. Während aber zwischen den Ereignissen eine kausale Ursache-Wirkungsrelation besteht, sind ihre propositionalen Beschreibungen im weitesten Sinne logisch, begrifflich oder grammatisch-kriterial verknüpft. Wie noch nachzuweisen ist, wird dieses Ergebnis aber auch schon in der handlungstheoretischen Konzeption Sellars' begründet. Liegt nicht nur ein einzelnes Ereignis vor, sondern eine Ereigniskette, dann reicht ggf. ein einzelner Satz nicht aus, um diese Kette beispielsweise als eine Handlung zu beschreiben. Es sei denn, es gelingt, diese Kette unter einen einzigen Handlungsbegriff zu subsumieren, wie im Falle des Autofahrens. So wie ein und dasselbe Ereignis verschiedenen Handlungen zugeordnet werden kann, so kann andererseits eine und dieselbe Handlung unterschiedlichen Körperbewegungen oder Ereignissen zugerechnet werden. Peter kann beispielsweise seine Freundin grüßen, indem er den Arm hebt, mit dem Kopf nickt, den Augen zwinkert oder ganz dezent den Zeigerfinger anhebt. Hieraus folgt, dass man weder von der Körperbewegung auf die beabsichtigte Handlung schließen kann, noch von der Absicht oder dem Handlungsgrund auf die Körperbewegung. Ersteres spricht gegen den Behaviorismus, zweites gegen eine kausalgesetzliche Verbindung eines ursächlichen Handlungsgrundes mit einer bestimmten Körperbewegung als Wirkung. Aus alledem ist zu schließen, dass Handlungen doch keine Ereignisse sind, sondern Beschreibungen von Ereignissen als Handlung. Die Frage, die sich damit stellt, lautet: Wie können Handlungen erklärt werden, dessen ontologischer Status nicht Ereignisse, sondern Sätze sind? Woraus gewinnen diese Sätze ihre Bedeutung? Wird das Problem der Handlungserklärung damit zu einem bedeutungstheoretischen Problem? Da Sätze, Aussagen oder Propositionen der Rechtfertigung oder Begründung unterliegen, ist die Antwort offensichtlich. Die adäquate Erklärung von Handlungen ist in diesem Fall die Gründeerklärung. Es sind die Handlungsgründe die der bloßen Körperbewegung ihre Bedeutung geben und die folglich erklären, warum die Körperbewegung absichtlich ausgeführt wurde. Gründeerklärungen vermögen aber nicht zu erklären, wie die Körperbewegung verursacht wurde. Dies vermögen allein Kausalerklärungen, die aber wiederum nicht in der Lage sind, die Bedeutung der Köperbewegung zu erklären.

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Als ein erstes Resultat ist damit festzuhalten: Handlungen sind zwar aus ontologischer Sicht keine bloßen Ereignisse, aber sie gehen mit Ereignissen einher, treten als Ereignisse in Erscheinung und sind als solche Gegenstand unserer W ahrnehmung. In dieser Hinsicht sind sie grundsätzlich auch Kausalerklärungen zugänglich. Andererseits besteht zwischen Handlungssätzen, die Ereignisse als Handlung beschreiben, keine Kausalrelation. Denn diese gibt es nur zwischen Ereignissen. Um Handlungssätze zu "erklären", beispielsweise "Peter grüßt", kann also nicht auf Kausalerklärungen zurückgegriffen werden. Solche Sätze sind zu begründen oder zu rationalisieren, indem beispielsweise ein Grund genannt wird, wie "Peter grüßt, weil er auf der anderen Straßenseite seine Freundin sieht." Wie bereits in Kapitel II nachgewiesen wurde, kommen diesen beiden Erklärungsarten kategorial unterschiedliche Aufgaben zu. Es ist ein Verdienst Sellars', einen Beitrag zur Lösung des Problems dieser (scheinbaren) Doppeldeutigkeit des Handlungsbegriffes geleistet zu haben. Sellars begründet, dass mentale Akte oder Ereignisse die Träger oder Vehikel ihrer mentalen Inhalte sind. Mentale Ereignisse sind somit bedeutungstragende Ereignisse. Während die mentalen Ereignisse lediglich die handlungszugehörige Körperbewegung verursachen, geben ihre mentalen Inhalte dieser Bewegung die beabsichtigte Bedeutung. 62 In diesem Sinne können auch Handlungen als bedeutungstragende Ereignisse oder als bedeutungstragende Körperbewegungen interpretiert werden. Dabei kann von der Körperbewegung nicht auf die Bedeutung und von der Bedeutung nicht auf die Körperbewegung geschlossen werden. Beide sind von unterschiedlicher Art und stehen daher in einem irreduziblen Verhältnis. Beide sind daher auch unterschiedlich zu erklären. Die Erklärung der Bedeutung einer Körperbewegung erfordert eine Gründeerklärung und die Erklärung der bloßen Körperbewegung eine Kausalerklärung. So wie sich Körperbewegung und Bedeutung der Körperbewegung der Art oder Kategorie nach voneinander unterscheiden, so unterscheiden sich auch Kausal- und Gründeerklärungen der Art oder Kategorie nach und stehen daher gleichfalls in einem irreduziblen Verhältnis. Es ist eine Besonderheit der Handlungstheorie Sellars', dass sie ausgehend von der geistesphilosophischen Trennung mentaler Inhalte und mentaler Akte sukzessive Thesen über dasWesenvon Handlungen bis hin zu Thesen zum Verhältnis von Kausalund Gründeerklärungen von Handlungen impliziert. Es ist das Ziel der nachfolgenden sechs Sellars-Kapitel dies gleichfalls sukzessive zu begründen.

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Diese Aussage beinhaltet bereits eine notwendige Korrektur der philosophischen Handlungstheorie Sellars', die dem Irrtum oder zumindest der Ungenauigkeit unterliegt, nicht nur das Verhältnis von mentalem Ereignis und handlungszugehöriger Körperbewegung als kausal zu konzipieren, sondern auch das von mentalem Ereignis und Handlung. Obgleich also Seilars strikt und plausibel zwischen mentalen Inhalten und kausal wirksamen Akten trennt, begeht er zumeist den Irrtum, Körperbewegung und Handlung als ein und dasselbe zu betrachten (Kap. VII).

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9 Das Problem der Ontologie menschlicher Handlungen

Zum Ende dieses Abschnitts soll noch ein kurzer, kritischer Blick auf das Problem der Handlungsindividuation gerichtet werden, das mit dem Problem des ontologischen Status von Handlungen eng verknüpft ist. Denn in beiden Problemen geht es im weitesten Sinne um den problematischen Begriff der Handlung. Während beim Problem der Ontologie das Wesen der Handlung zur Debatte steht, stehen beim Problem der Handlungsindividuation die folgenden Fragen zur Diskussion: Was zählt als eine Handlung und was als mehrere Handlungen? Unter welchen Bedingungen sind Handlungen identisch und unter welchen sind sie es nicht? Worin unterscheiden sich Handlungen? Ebenso wie das Problem der Ontologie menschlicher Handlungen ist auch das der Individuation von Handlungen kein explizit aktuelles, sondern gleichfalls eines, das seine Wurzeln in der traditionellen Handlungstheorie hat, nämlich in Anscombes 1957 publiziertem Hauptwerk Intention. Es geht primär um die Frage der Strukturierung von Handlungen und der Aufspaltung komplexer Handlungen in Handlungseinheiten. So können Handlungen in Analogie zu einer Ziehharmonika "bis auf ein Minimum zusammengedrängt, aber auch ganz weit auseinander gezogen werden" (Feinberg 1970, 204); sie können feinkörnig und grobkörnig gegliedert oder in Basishandlungen und NichtBasishandlungen aufgeteilt werden. Der Begriff der Basishandlung ist dabei aber zumindest gleichermaßen umstritten wie der Begriff der Handlung selbst (siehe unten). Insgesamt bildet das Problem der Individuation und das der Ontologie eine Art Unterbau für das übergeordnete Problem der Handlungserklärung. Denn in Handlungserklärungen ist die Handlung das Objekt der Erklärung und als solches kann es nur dann adäquat erklärt werden, wenn man zumindest weiß, was es mit diesem Objekt auf sich hat. Um das Problem der Handlungsindividuation klarer zu fassen, ist es hilfreich, zunächst ein Beispiel zu untersuchen. Das in der Handlungstheorie wohl am häufigsten genutzte Beispiel ist das Heben eines Armes oder einer Hand. Sabine sitzt in einem Lokal und hebt ihren Arm, um damit dem Kellner zu signalisieren, dass sie noch etwas bestellen möchte. Dies ist zweifelsfrei eine Handlung und nicht bloß etwas, was ihr zustößt, sei es aufgrundeines Reflexes, einer äußeren Gewalt oder irgendeiner Zufälligkeit. Nach der Standardtheorie wird das Ereignis des Armhebens durch das Auftreten eines ursächlichen Handlungsgrundes, also durch ein psychologisches Ereignis, verursacht. Es gibt also insgesamt zwei Ereignisse, die hier zum Tragen kommen, einerseits das verursachende mentale Ereignis und andererseits das kausal verursachte Ereignis des Armhebens. Wenn man annimmt, dass Handlungen selbst Ereignisse sind, dann stellt sich die Frage, welches dieser beiden Ereignisse oder ggf. beide zusammen die Handlung darstellen. Rein formal sind drei Antworten möglich. Erstens: Behavioristisch wird die Frage dahingehend beantwortet, dass nur das beobachtbare Ereignis, also die Körperbewegung des Armhebens, als die Handlung zu identifizieren ist. Diese Antwort ist allerdings mit dem Problem konfrontiert,

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dass allein aus der Körperbewegung noch nicht geschlossen werden kann, ob es sich überhaupt um eine Handlung oder bloß um ein Geschehnis handelt. So kann es sein, dass sich der Arm unabsichtlich und nur aufgrund irgendeines Reflexes nach oben bewegt ...,Auch bei komplexeren Körperbewegungen ist nicht immer eindeutig, ob eine Handlung vorliegt oder nicht. So kann jemand dadurch, dass er stolpert, die Treppe herunter fallen, oder er fällt die Treppe absichtlich herunter, da es zu seinem Beruf als Schauspieler gehört. Ersteres ist ein bloßes Widerfahrnis und damit keine Handlung, zweites dagegen ist eine waschechte Handlung. Es ist folglich falsch, Köperbewegungen als identisch mit Handlungen zu betrachten. Zweitens: Wenn allein aus Körperbewegungen nicht geschlossen werden kann, ob eine Handlung vorliegt oder nicht, scheint das distinktive Merkmal der Handlung ein der Handlung vorausgehendes psychologisches Ereignis zu sein, beispielsweise das Ereignis des Auftretens eines Grundes, einer Absicht oder einer anderen mentalen Einstellung. In diesem Sinne identifiziert beispielsweise Prichard in seinem 1949 publizierten Werk Acting, Willing, Desiring die Handlung mit dem Willen zum Handeln, also mit einem Willensakt. 63 Sobald man ein psychologisches Ereignis, wie beispielsweise den Willensakt, als Ursache des Handlungsereignisses identifiziert, hat man es nicht mehr mit einer Akteurskausalität zu tun, sondern mit der in den Naturwissenschaften üblichen Ereigniskausalität. Dieser Ansatz ist aber gleichfalls problematisch. Denn wenn bereits der Willensakt eine Handlung ist, dann muss diesem wiederum ein Willensakt und somit eine weitere Handlung vorausgehen und so fort. Der Ansatz scheitert folglich an einem regressus in infinitum mit der Konsequenz, dass die Willensakttheorie innerhalb der Handlungstheorie an Bedeutung verlor. Um so mehr überrascht es, dass Seilars in den 70er Jahren die Willensakttheorie rehabilitierte, nunmehr aber in einer Form, welche die bekannten Probleme der traditionellen Willensakttheorie vermied. Insbesondere identifizierte Sellars den Akt des W ollens nicht mehr, wie noch Prichard, mit einer Handlung, sondern mit einem mentalen Ereignis. Wie bereits oben nachgewiesen wurde, stößt die Willensakttheorie in der von Seilars rehabilitierten Form auch in den aktuellen Debatten wieder zunehmend auf Interesse, wenn auch unter anderen Bezeichnungen und zumeist ohne explizite Nennung Sellars'. In der traditionellenForm ist die Willensakttheorie allerdings aufgrund der genannten Probleme zurückzuweisen. Handlungen sind weder Willensakte noch andere mentale Ereignisse. Oder vice versa formuliert: Mentale Ereignisse sind keine Handlungen. Drittens: Als letzte und auf den ersten Blick vielversprechendste Lösung bleibt somit die Identifikationen der Handlung mit dem aus beiden Ereignissen - dem vorgängigen mentalen Ereignis und dem der Körperbewegung - zusammengesetzten Ereignis. Die Handlung wird also hier weder als Wirkung noch als Ursache aufgefasst, sondern als der gesamte Vorgang, der mit der Absichtsbildung beginnt 63

"[f]o act is really. to will something" (Prichard 1949, 190).

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und mit der Körperbewegung endet. Sie wird somit als eine Einheit oder als ein zusammenhängender Prozess verstanden. Aber auch dieser Ansatz birgt Probleme in sich, insbesondere dann, wenn man komplexere Handlungen betrachtet, die sich aus mehreren Ereignissen zusammensetzen, die zeitlich weit auseinander liegen. Als Beispiel werden in diesem Zusammenhang häufig Tötungsdelikte aufgeführt, die unter dem Titel Time-ofKilling-Problem bekannt sind. 64 In diesen Beispielen wird zumeist von einer Person berichtet, die fest entschlossen ein Gewehr nimmt, mit einer Fingerkrümmung den Abzug betätigt, damit die Kugel auslöst, die sodann durch die Luft fliegt, eine andere Person (Goldman) oder ein Tier (Bach) trifft, die oder das dann nach 24 Stunden stirbt. In diese Handlung sind mehrere unterschiedliche Ereignisse verwickelt. Doch was ist hier genau die Handlung, welche die Person vollzieht? Ohne Zweifel ist, dass die Person einen Entschluss gefasst hat, dass sie geschossen hat und dass sie getötet hat. Haben wir hier also drei Handlungen oder nur eine? Falls wir nur eine haben, welche ist es, wann beginnt und wann endet sie? Wann hat die Person die andere getötet, als sie geschossen hat oder als die andere Person starb? Bach untersucht mögliche Antworten und kommt zum Schluss, dass alle Antworten gleichermaßen problematisch sind (Bach 1980, 93ff). Denn ist die Tötungshandlung identisch mit dem Entschluss, so hat die Person die andere Person bereits 24 Stunden vor ihrem Tod Gleiches folgt, wenn die Tötungshandlung mit dem Schießen identifiziert wird. Identifiziert man dagegen die Tötungshandlung mit dem Abschluss der Kausalkette, also mit dem Sterben der anderen Person, so hat der Schütze diese Person 24 Stunden nach ihrem Schuss getötet. "Es wäre möglich, dass er selbst vor diesem Zeitpunkt umgebracht würde" (a.a.O., 93). Wird die Tötungshandlung aber mit der gesamten Kausalkette identifiziert, so "hat die Tötung einen ganzen Tag in Anspruch genommen" (a.a.O.). Alle diese Antworten sind unplausibel, sodass sich die Frage stellt, ob "Handlungen · überhaupt individuiert werden können - oder individuiert werden müssen" (a.a. 0 ., 95). Fasst man diese Ergebnisse zusammen, so wird deutlich, dass sich die Probleme der Individuation von Handlungen "nur unter der Annahme einstellen, Handlungen seien Ereignisse" (a.a.O., 94). Bach schlägt daher vor, Handlungen nicht mit Ereignissen, sondern mit der Herbeiführung von Ereignissen durch den Handelnden zu identifizieren bzw. als "Exemplifizierungen einer bestimmten Relation, nämlich der Relation des Herbeiführens [... ],deren Relata Akteure und Ereignisse sind" (a.a.O., 89). Das Problem der Handlungsindividuation wird damit zwar nicht gelöst, sondern es stellt sich erst gar nicht. Denn " [d] a eine Handlung genau dann vollzogen worden ist, wenn jemand ein Ereignis herbeigeführt hat, brauchen wir keine Handlungen, sondern nur Akteure und Ereignisse zu zählen" (a.a.O., 96f). Unklar bleibt jedoch, wie man sich die Herbeiführung vorzustellen hat, die in 64

Z.B. in Bach 1980, 93ff und Goldman 1971, 341f.

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

Bachs Konzeption auf eine Relation zwischen Akteur und herbeigeführtem Ereignis reduziert wird. Doch damit ist nichts gelöst, denn es ist gerade die Bestimmung dieser Relation, die sich bereits in der traditionellen Handlungstheorie als problematisch elVti!iesen hat. Durch Bach hat diese Relation lediglich einen Namen bekommen, nämlich "Handlung". Setzt man den Akteur an den Anfang der Ereigniskette, so führt dies zur bekannten Konzeption der Akteurskausalität. Setzt man dagegen psychologische Einstellungen wie Wünsche, Überzeugungen, Absichten oder Gründe an den Anfang der Ereigniskette, so führt dies zum problematischen Verhältnis mentaler Einstellungen und Handlungen und zur immer noch kontrovers diskutierten Grund-versus-Ursache-Problematik. Zum Problembereich der Handlungsindividuation gehört auch die nicht mehr ganz so aktuelle Debatte um den Begriff der Basishandlung (basic action). Da auch Sellars diesen Begriff nutzt, bietet sich an, diesen problematischen Begriff hier kurz kritisch zu betrachten. Es geht bei der Debatte, die durch Arthur C. Danto eingeführt wurde, um die Frage, ob Handlungen auf Basiselemente reduziert werden können (Danto 1965). Solche Basiselemente oder Basishandlungen sind einfache und nicht weiter analysierbare Handlungen, sozusagen die Bausteine komplexer Handlungen. Eine der vielen Schwierigkeiten in Bezug auf Basishandlungen besteht darin, zu differenzieren, wann eine Handlung einfach ist, und somit als Basishandlung gilt, und wann nicht. So führt beispielsweise Jane R. Martin aus, dass der Begriff der Basishandlung personen- und begabungsabhängig ist. Denn der "eine kann eine als Basis-Handlung vollzogene Handlung für komplex halten; ein anderer kann sie für einfach halten" (Martin 1972, 133). So können Seilspringen, Klavierspielen und Eislaufen von Personen, die diese Tätigkeiten routinemäßig ausüben, als Basishandlung vollzogen werden. Für Personen, die solche Tätigkeiten als Anfänger ausführen, sind dies dagegen komplexe Handlungen mit vielen Handlungsteilen und damit keinesfalls Basishandlungen. Diese ,,Kontext-Relativität" (a.a.O., 130) ist allerdings ein Kennzeichen aller Handlungen und somit ihrer Beschreibung oder Erklärung. So kann es sein, dass zwei Personen die gleiche Körperbewegung sehen, diese aber als zwei verschiedene Handlungen beschreiben. 65 Auch Sellars greift auf das Beispiel des Klavierspieleus zurück. Er erläutert, dass ein geübter Klavierspieler den Willen zum Ausdruck bringt, eine bestimmte Melodie zu spielen, ohne dabei fortlaufend den Willen zum Ausdruck zu bringen, jetzt will ich diese Note spielen, jetzt jene und so fort. Nur bei einem Klavierschüler im Anfängerkurs erfordert jede einzelne Note auch einen einzelnen Willensakt. Hin65

Ein Beispiel: Sabine steht am Flussufer und hebt ihren Arm. Der Fährmann auf der anderen Flussseite interpretiert dies als Zeichen dafür, dass sie übersetzen möchte und setzt sein Boot in Bewegung. In der Nähe des Fährmanns steht Peter, der gleichfalls das Armheben von Sabine sieht und es als einen an ihn gerichteten Gruß deutet. Wer hat recht? Die Antwort lautet: Keiner. Denn Sabine hob nur ihren Arm, um eine Muskelverspannung zu lösen. Drei Kontexte, zwei falsche Interpretationen, eine Handlung.

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10 Das Problem des Erklärungsbegriffs

sichtlich Basishandlungen schließt sich Sellars Danto an und wendet sich gegen Prichard, der den Willensakt als ursächliche Basishandlung ansieht. Eine zweite Schwierigkeit drückt sich in der Frage aus, ob mit Basishandlungen das Wesen von Handlungen erfasst ist. Dies scheint sicherlich nicht der Fall zu sein, denn damit eine Tätigkeit als Handlung aufgefasst werden kann, muss sie sicherlich mehr umfassen als nur das Merkmal einfach und nicht weiter analysierbar zu sein. Als Ergebnis dieses Abschnitts ist erstens festzuhalten, dass die Frage nach dem, was eine Handlung ist, einen entscheidenden Einfluss auf das Problem der Handlungserklärung ausübt. Zweitens wurde nachgewiesen, dass Handlungen keine Ereignisse sind, aber von Ereignissen begleitet werden und damit in gewissen Grenzen auch einer kausalen Erklärung zugänglich sind. Drittens wurde begründet, dass bestimmte Ereignisse, z.B. Körperbewegungen, als Handlung beschrieben werden können. Beschreibungen sind aber propositional und folglich von ganz anderer Art als Ereignisse. Sie sind zu ihrer Erklärung auf Gründe und nicht auf Ursachen zu rekurrieren. Daher sind Handlungen, wie zu erwarten war, auch Gründeerklärungen zugänglich. Handlungen können also grundsätzlich zumindest aus zwei kategorial unterschiedlichen Perspektiven betrachtet, beschrieben und erklärt werden, wobei Gründe- und Kausalerklärungen unterschiedlicher Art oder Kategorie sind und auch eine völlig unterschiedliche Kraft haben, Handlungen zu erklären.

10 DAS PROBLEM DES ERKLÄRUNGSBEGRIFFS Während in der philosophischen Handlungstheorie der Begriff der Handlung ausgiebig thematisiert wurde und immer noch wird, trifft dies auf den Begriff der Erklärung, zumindest innerhalb der Handlungstheorie, nicht im gleichen Maße zu.· Der Grund hierfür ist naheliegend. Denn der Begriff der Erklärung ist primär kein Reflexionsobjekt der Handlungstheorie, sondern Untersuchungsgegenstand der Wissenschaftstheorie. Dahingegen ist der Begriff der Handlung der Schlüsselbegriff der philosophischen Handlungstheorie schlechthin. Aufgrund der Erfolge in den Naturwissenschaften und aufgrund des langen Schattens des Positivismus standen Handlungserklärungen lange Zeit unter dem Diktat des kausal-nomologischen Erklärungsmodells. Als Erklärung wurde nur akzeptiert, was erstens das zu erklärende Phänomen auf Ursachen rekurrierte und zweitens Phänomen und Ursache unter ein verbindendes Gesetz subsumierte. Es ist aber ein Irrtum zu glauben, dass eine Erklärung nur dann gegeben ist, wenn das in Frage stehende Faktum, sei es ein physikalisches Ereignis oder eine Handlung, erstens auf eine kausal wirksame Ursache (causa efficiens) rekurriert und zweitens zusammen mit der Ursache unter ein verbindendes Kausalgesetz subsumiert wird. Dass eine Erklärung diesen Forderungen oder Gültigkeitskriterien genügen muss,

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

ist nichts weiter als eine neopositivistische oder naturwissenschaftliche Konvention oder Stipulation. Zudem ist der Begriff der Gültigkeit kein absoluter und nicht weiter hinterfragbarer Begriff, sondern ein kriterialer und damit relativer Begriff.66 Gültigkeit ist fqlglich ein auf intersubjektiver Übereinkunft gründendes Kriterium. Kriterien sind nicht wahr oder falsch, sondern gut oder schlecht bzw. adäquat oder inadäquat. In diesem Sinne ist es angemessener, von guten oder schlechten, als von wahren oder falschen Erklärungen zu sprechen. Ob eine Erklärung ihre Aufgabe erfüllt oder nicht, ist zudem nicht nur eine Frage ihrer Gültigkeit. So sind Angemessenheit, Adäquatheit, Konsistenz, Kohärenz, Akzeptanz, Wissensstandserweiterung und andere mehr gleichfalls legitime Forderungen, die an eine Erklärung gerichtet werden können. 67 Damit öffnet man den . Weg zu Erklärungen anderer Art, die per se zunächst nicht schlechter (oder besser) sind als kausalgesetzliche Erklärungen. Das Muster der Kausalerklärung ist zumindest nicht das einzige mögliche Erklärungsmuster. Und dies gilt nicht nur für das Erklärungsobjekt der menschlichen Handlung, sondern auch für Erklärungsobjekte der Naturwissenschaften. Auch der Erfolg kausalgesetzlicher Erklärungen in den Naturwissenschaften ist kein Argument dafür, andere Erklärungsarten, die auf anderen Kriterien oder Forderungen gründen, auszugrenzen, weder in der philosophischen Handlungstheorie, noch in den Naturwissenschaften selbst. 68 Ob eine Erklärung ein Phänomen adäquat oder angemessen erklärt, hängt wiederum davon ab, auf welche Frage die Erklärung antworten soll. So können letztendlich alle Fragewörter auf Handlungen angewandt werden: "Quis? quid? ubi? quibus auxiliis? cur? quomodo? quando?" (Kenny 1963, 272). Die Abhängigkeit der Erklärung von der Fragestellung ist eng verbunden mit ihrer Abhängigkeit von der Perspektive, aus der das zu erklärende Phänomen betrachtet wird. Ist das Phänomen eine Handlung, so kann diese aus sozialwissenschaftlicher, naturwissenschaftlicher, psychologischer, historischer oder medizinischer Sicht betrachtet, hinterfragt, beschrieben und schließlich erklärt werden. Aus jeder dieser Perspektiven stellt sich die Handlung, obwohl es die gleiche ist, anders dar. Folglich wird auch die Erklärung jeweils anders ausfallen. Dies erinnert an Leibniz. Denn so "wie eine und dieselbe Stadt, die von verschiedenen Seiten betrachtet wird, als eine ganz andere erscheint und gleichsam auf perspektivische Weise vervielfacht ist" (Leibniz 1714, Abs. 57, 465), so zeigt sich auch eine und dieselbe Handlung aus verschiede66

Eine Erklärung ist ergo immer nur relativ zu ihren Gültigkeitskriterien gültig.

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Inwieweit diese Forderungen miteinander verknüpft sind, wäre noch zu untersuchen. So schließt die Forderung nach Adäquatheit sicherlich die Forderung nach Konsistenz ein, denn eine widersprüchliche Erklärung kann unmöglich adäquat sein. Ebenso ist die Forderung nach Akzeptanz nicht von den Forderungen nach Konsistenz und Kohärenz zu trennen.

68

Es wäre sicherlich eine Untersuchung wert, ob nicht "verstehende Erklärungen" oder "understanding explanations" (von Wright 1985, 2), ggf. in modifizierter Weise, auch in den Naturwissenschaften den Weg zu neuen Erkenntnissen und einem neuen Naturverständnis öffnen.

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10 Das Problem des Erklärungsbegriffs

nen Perspektiven in jeweils verschiedener Gestalt. So können zwei Personen, wie im letzten Abschnitt exemplarisch dargelegt, eine und dieselbe Handlung einer dritten Person als unterschiedliche Handlungen wahrnehmen und erklären. Schließlich hängt die Frage, ob eine Erklärung adäquat ist, auch noch davon ab, welchen Wissensstand der nach einer Erklärung Suchende hat. So kann es einerseits sein, dass zur Erklärung eines bestimmten Sachverhalts nur ein einziges Wort genügt. Andererseits kann zur Erklärung auch ein detaillierter Bericht oder eine umfassende Erzählung notwendig sein. Denn es ist eine primäre Aufgabe von Erklärungen, Wissenslücken zu schließen, um die beim Fragestellenden vorhandene "kognitive Dissonanz zu eliminieren oder reduzieren" (Gärdenfors 1990, 94). Ähnlich sieht es auch Kim: "Tobe in need of an explanation is tobe in an epistemically incomplete and imperfect state, and to gain an explanation is to improve one's epistemic situation; it represents an epistemic gain" (Kim 1989, 274). Als Maxime von Erklärungen wird häufig die Einfachheit genannt. Dabei wird aber zumeist übersehen, dass einfache Erklärungen nicht notwendig auch die besseren Erklärungen sind. Denn wenn eine Person A einer Person B ein Phänomen in einfachen Zusammenhängen erklärt, so ist damit noch nicht garantiert, dass die Person B diese Erklärung auch versteht. Es geht also bei Erklärungen nicht nur um Einfachheit, sondern primär um Verstehen. Hierzu kann es nötig sein, ein Phänomen in verschiedenen Weisen und aus unterschiedlichen Perspektiven zu erklären. Wenn einePersonAeiner PersonBein Phänomen erklären kann, dann hat die Person A das Phänomen in aller Regel auch verstanden. Denn nur wenn jemand etwas verstanden hat, so vermag er es auch Anderen zu erklären. Wenn darüber hinaus die Person A das Phänomen aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlichenWeisen zu erklären vermag, dann hat sie das Phänomen sicherlich erst recht verstanden. Aus allen vorgängigen Überlegungen ist der Schluss zu ziehen, dass es die Erklärung nicht gibt. Das Spektrum möglicher Erklärungen ist vielmehr außerordentlich breit. Oder wie Keutner im Sinne Wittgensteins formuliert: "[D] er Begriff der Erklärung ist nach Art einer Familie gestaltet: Erklärungen haben Ähnlichkeit miteinander, es ist ihnen nicht allen eine einzelne Eigenschaft gemeinsam, die sie entscheidend in ihrer Zugehörigkeit zum Begriff >Erklärung< kennzeichnen würde. Und auch das Merkmal der logischen Gültigkeit spielt nicht die Rolle eines solchen Kriteriums" (Keutner 2004, 40). Es bietet sich an dieser Stelle an, die Überlegungen zum Problem des Handlungsbegriffes (Abs. 9 oben) und die hier durchgeführten Überlegungen zum Problem des Erklärungsbegriffes gemeinsam zusammenzufassen. Es konnte nachgewiesen werden, dass es weder den einen Handlungsbegriff noch den einen Erklärungsbegriff gibt. So reicht das Spektrum des Handlungsbegriffes von Handlungen als bloße Ereignisse bis hin zu Handlungen als Sinngebilde. Das Spektrum des Erklärungsbegriffs erstreckt sich dagegen, wenn man sich dem positivistischen

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

Diktat entzieht, von der deduktiv-nomologischen Kausalerklärung bis hin zu verstehenden, holistischen und narrativen Erklärungen. Beide Spektren zusammen spannen ein Quadrat der Handlungserklärung auf. In Abhängigkeit davon, welchen Handlungsbegrif man mit welchem Erklärungsbegriff verknüpft, ergeben sich somit unterschiedliche Möglichkeiten von Handlungserklärungen. Nicht alle diese Möglichkeiten führen zu sinnvollen Handlungserklärungen. Vermutlich sind gar nur die wenigsten der auf diesem Wege formal möglichen Handlungserklärungen tatsächlich sinnvolle Erklärungen. Welche der Möglichkeiten aber sinnvoll sind, ist eine Frage, die hier nicht weiter verfolgt werden kann, da diese Frage den Rahmen der vorliegenden Arbeit bei Weitem sprengen würde. Tatsache ist aber, dass zumindest einige dieser Möglichkeiten bereits in der Handlungstheorie Sellars' gedanklich vorbereitet sind, auch wenn Sellars dies nicht explizit zum Ausdruck bringt. Dass Handlungstheorie diese Möglichkeiten impliziert und welche es sind, wird in den nachfolgenden Kapiteln zu untersuchen und zu begründen sein.

11 FAZIT In diesem Kapitel wurde eine kritische Auseinandersetzung mit den aktuellen Debatten der philosophischen Handlungstheorie geführt. Da die hierzu publizierte Literatur inz'VIrischen besonders umfangreich ist, wurde die Auseinandersetzung auf diejenigen handlungstheoretischen Konzeptionen begrenzt, die erstens einen Beitrag zum Problem der Handlungserklärung leisten und zweitens in einer engen Beziehung zur Handlungstheorie Sellars' stehen, auch wenn diese in den entsprechenden Publikationen zumeist nicht explizit genannt wird. Es wurde begründet, dass sich das philosophische Problem der Handlungserklärung aus zwei Problemen speist, die dem Begriff der Handlungserklärung selbst inhärent sind: das Problem des Handlungsbegriffs und das Problem des Erklärungsbegriffs. Es wurde deutlich, dass auch in den aktuellen Debatten der Handlungsbegriff immer noch Gegenstand kontroverser Diskussionen ist. Als Resultat wurde der Schluss gezogen, dass es den Handlungsbegriff nicht gibt bzw. dass es kein allgemeines Wesensmerkmal gibt, dass allen Handlungen gemeinsam zukommt. Handlungen sind, so wurde nachgewiesen, keine Ereignisse. Aber sie gehen stets mit Ereignissen oder Körperbewegungen einher. Daher sind Handlungen in gewissen Grenzen auch einer kausalen Deutung oder Erklärung zugänglich. In diesen Erklärungen werden Handlungen (genauer: Handlungsereignisse oder handlungsimmanente Körperbewegungen) als Wirkungen identifiziert und mentale Einstellungen, beispielsweise Absichten (genauer: Absichtsakte oder Absichtsereignisse), als deren Ursachen. Diesen kausalen Erklärungen stehen die intentionalen Erklärungen gegenüber, die Handlungen nicht als Wirkungen und Ab-

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11 Fazit

sichten nicht als Ursachen einer Kausalrelation deuten. Ob eine Körperbewegung, z.B. das Heben eines Armes, ein absichtliches Grüßen, Winken, Herbeiwinken oder Teil einer Frühgymnastik ist, kann allerdings nicht aus einer Kausalrelation und folglich nicht aus einer Kausalerklärung erschlossen werden. Dies erschließt sich vielmehr erst aus der Beschreibung der Körperbewegung als Grüßen, Winken, Herbeiwinken oder als gymnastische Übung. Zwischen Beschreibungen von Handlungen und Absichten besteht allerdings keine kausale Verknüpfung, denn diese besteht, wie Davidson bewies, nur zwischen Ereignissen. Zwischen Beschreibungen oder Propositionen besteht ein Bedeutungszusammenhang bzw. eine im weitesten Sinne logische, begriffliche oder grammatisch-kriteriale Relation. Handlungen sind somit sowohl intentionalen Erklärungen, als auch Kausalerklärungen zugänglich, wohlwissend, dass letztere nur die zur Handlung zugehörigen Körperbewegungen zu erklären vermögen und daher von anderer Kategorie sind, als intentionale Erklärungen oder Gründeerklärungen. Die Frage, welche dieser beiden Erklärungsarten menschliche Handlungen adäquater zu erklären vermag, ist damit noch nicht abschließend beantwortet, da eine Antwort u.a. auch von den Forderungen und Fragen abhängt, die an die Erklärung gerichtet werden. Ebenso wie beim Handlungsbegriff gibt es auch beim Erklärungs begriff kein allgemeines W esensmerkmal, das allen Erklärungen gemeinsam ist. Es wurde begründet, dass es die eine Erklärungsmethode nicht gibt und auch nicht geben kann, sondern vielmehr ein Spektrum an Erklärungsarten vorliegt. Dieses reicht von deduktiv-nomologischen Erklärungen, über Gründeerklärungen und verstehende Erklärungen, bis hin zu holistischen und narrativen Erklärungen. Es wurde nachgewiesen, dass kausale Handlungserklärungen, die auf dem Standardmodell Davidsons rekurrieren, vielfältigen Problemen und falsifizierenden Gegenbeispielen ausgesetzt sind. Ein Grund dafür, dass es so vielfältige, falsifizierende Gegenbeispiele gibt, liegt darin, dass menschliche Handlungen sowie die Vorgänge, die dabei eine Rolle spielen, erstens weitaus komplexer und zweitens von anderer Kategorie sind, als es eine einfache, unidirektionale Kausalkette zu beschreiben vermag. Es wurde begründet, dass Kausalerklärungen vor allem dann dem Irrtum ausgesetzt sind, wenn sie eine bestimmte Absicht oder einen bestimmten primären Grund als eine singuläre Ursache begreifen, die eine unidirektionale Kausalkette einmalig anstößt und damit am Ende der Kette die Handlung bzw. die handlungsimmanente Körperbewegung bewirkt. Metaphorisch gesprochen, gibt die mentale Ursache hier bloß den Startimpuls zur Handlung und überlässt anschließend die Handlung und den Handlungserfolg ihrem Schicksal. Dieses Modell öffnet, wie gezeigt wurde, falsifizierenden Gegenbeispielen Tür und Tor. Dies gilt auch für alle diejenigen modifizierten Modelle, in denen das Wunsch-Überzeugungspaar durch Absichten, Absichts-Überzeugungspaare oder durch andere ursächliche mentale Einstellungen oder Kombinationen mentaler Einstellungen ersetzt wird. Denn diese Ersetzungen ändern nichts am grundlegenden Problem kau-

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

saler Handlungserklärungen nach dem StandardmodelL Die aktuell immer noch kontrovers diskutierte Frage, welche Momente Handlungen konstituieren, ob es Absichten, Überzeugungen, Wünsche, Willensakte, Gründe oder ganz andere Momente sind, spid't folglich für das Problem der Handlungserklärung nur eine sekundäre Rolle. Aus diesem Grund scheitern auch die vielfältigen Rettungsversuche des Standardmodells, die bloß darin bestehen, die mentalen Einstellungen gegeneinander auszutauschen. Oder anders gesagt: Die durch die Gegenbeispiele manifestierten Probleme des Standardmodells bleiben bestehen, wenn man beispielweise statt auf Wünsche und Überzeugungen, die gemeinsam den primären Grund bilden, auf Absichten oder andere mentale Einstellungen rekurriert. Es wurde allerdings gezeigt, dass in den aktuellen Debatten der Absichtsbegriff eine Renaissance erfährt, wodurch die bereits historischen Konzeptionen von Anscombe und Seilars zunehmend wieder an Bedeutung gewinnen. Auch Davidson rehabilitierte in seinen Spätwerken den Begriff der Absicht (vgl. Kap. II). Die kritische Auseinandersetzung mit den vielfältigen Versuchen, das kausale Standardmodell mittels Modifikationen zu retten, brachte das Ergebnis, dass viele dieser Rettungsversuche bereits derart weit vom Standardmodell abweichen, sodass man besser von neuen, alternativen Konzepten sprechen sollte, als von einer Rettung des Standardmodells durch Korrekturen und Modifikationen. Die Grenze zwischen Rettung und neuen Konzepten erwies sich hier als ebenso fließend, wie die ehemals feste und unüberwindlich scheinende Grenze zwischen Gründe- und Kausalerklärungen von Handlungen. Auch diese ist, wie die Auseinandersetzung gleichfalls zeigte, in den aktuellen Debatten fließend geworden. Im Hinblick auf Seilars ist das wohl wichtigste Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Rettungsversuchen, dass diese Versuche auffallend häufig auf Überlegungen rekurrieren, die ihre gedanklichen Wurzeln in der Handlungstheorie Sellars' haben. Gegen Ende dieses Fazits werden diese Wurzeln nochmals als Übersicht aufgelistet. Es wurde begründet, dass die lineare, unidirektionale Kausalkette der Standardtheorie nicht hinreichend ist, die vielfältigen Handlungen des Alltags zu erklären und, dass sich die Funktion mentaler Einstellungen wie Wünsche, Überzeugungen, Absichten und Gründe nicht darin erschöpfen kann, als mentale Ereignisse die Handlung ursächlich und einmalig anzustoßen. Denn mentale Einstellungen umfassen mentale Ereignisse und mentale Inhalte. Erstere sind zudem nicht nur kurze handlungsauslösende Impulse, sondern bilden eine vernetze, kausale Struktur, die permanent dafür sorgt, dass die mentalen Inhalte den verursachten Körperbewegungen genau diejenige Bedeutung geben können, die diese Bewegungen allererst als Handlung konstituieren. Ohne dieses bedeutungs-und sinngebende Moment wäre die Körperbewegung bloß ein verursachtes Verhalten, aber keine intentionale Handlung. Aber auch die bedeutungsgebenden Inhalte sind keineswegs isolierte Gehalte, also keine singulären Absichtsinhalte und keine singulären Überzeugungsinhalte. Vielmehr bilden sie ein kohärentes und konsistentes holistisches Netz. Es

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11 Fazit

ist kein statisches und kein abgeschlossenes Netz, sondern ein dynamisches und offenes. Erst durch die Berücksichtigung mentaler Inhalte können Handlungen in ihrer Individualität und somit als Handlungen von Personen beschrieben und erklärt werden. Denn die mentalen Inhalte prägen das unverwechselbare Selbstbildnis eines jeden einzelnen Menschen. Es gehört zum Verdienst Sellars', bereits in seinen Frühwerken die Notwendigkeit der Trennung mentaler Inhalte und mentaler Akte auch für die philosophische Handlungstheorie begründet zu haben. Aus dieser Trennung folgt, wie nachgewiesen wurde, dass Handlungen zumindest aus zwei kategorial unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachtet, beschrieben und erklärt werden können: zum einen aus der Perspektive mentaler Inhalte, die zum Raum der Gründe gehört, und zum anderen aus der Perspektive mentaler Akte, die zum Raum der Ursachen gehört. Da mentale Inhalte und mentale Akte, ebenso wie der Raum der Gründe und der Raum der Ursachen, nicht aufeinander reduzibel sind (siehe Kap. IX), sind auch Gründe- nicht auf Kausalerklärungen reduzibel. Sie unterscheiden sich ebenso der Art nach, wie die beiden Momente des Mentalen und die beiden epistemologischen Räume. Aus diesem Grund kann auch der praktische Schluss nicht in eine Kausalerklärung überführt werden, die ihre Gültigkeit und Erklärungskraft aus einem allgemeinen Gesetz bezieht. Es ist ein Verdienst Sellars' begründet zu haben, dass praktische Schlüsse die in foro interno durchgeführten Überlegungen des Handelnden sind und als solche innerhalb der Ebene mentaler Inhalte geführt werden, die zum Raum der Gründe gehört, der nicht auf den Raum der Ursachen reduzibel ist. Dies bedeutet: In der Ebene mentaler Inhalte, in der die Handlungsüberlegungen durchgeführt werden, gibt es keine Kausalerklärungen. Diese sind nur auf der tieferliegenden Erklärungsebene mentaler Akte möglich. Gründeerklärungen, zu denen im weiteren Sinne auch intentionale und teleologische Erklärungen zu zählen sind, sind also autonome Erklärungen eigener Art. Sie erklären Handlungen kategorial anders als Kausalerklärungen. Denn Gründeerklärungen zwängen Handlungen nicht in das viel zu enge Korsett kausalgesetzlicher Notwendigkeit. Gründeerklärungen gewinnen ihre Erklärungskraft und Gültigkeit folglich nicht dadurch, dass sie die Handlung gemäß dem deduktiv-nornelogischen Schema unter ein Gesetz subsumieren. Ihre Erklärungskraft erlangen sie, indem sie auf mentale Inhalte rekurrieren und damit die Gründe, Ziele und Absichten des Handelnden aufdecken, welche die Handlung als plausibel, vernünftig, verständlich und nachvollziehbar darstellen. In diesem Sinne sind Gründeerklärungen "verstehende Erklärungen" oder "understanding explanations" (von Wright 1985, 2). Gegenüber Kausalerklärungen können sie folglich auch auf alle Elemente rekurrieren, die den Raum der Gründe als irreduzibel gegenüber dem Raum der U rsachen ausweisen. Gründeerklärungen haben daher gegenüber Kausalerklärungen das Potential, auch erklärungsrelevante Konventionen, Regeln, Normen, Werte und andere handlungsbestimmende Aspekte der sozialen Gemeinschaft mit zu berück-

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

sichtigen. Sie haben folglich das Potential, in Abhängigkeit von den Forderungen, die an sie gerichtet werden, den Einbezug des erklärenden Handlungskontextes flexibel auszudehnen oder einzuengen. Insbesondere haben sie aber gegenüber Kausalerklärungen das Vermögen, den Handelnden als Person in die Erklärung einzubeziehen. 69 Ihr Erklärungsvermögen weist damit, wie nachgewiesen wurde, weit über die einer Kausalerklärung hinaus, die Handlungen nur auf eine vorgängige singuläre Ursache und ein Gesetz rekurriert. 70 Damit kann die Behauptung der Kausalisten, dass Gründeerklärungen elliptisch sind, umgekehrt werden. Denn nicht Gründeerklärungen sind elliptisch, sondern Kausalerklärungen. Sie vermögen nämlich nicht den Handlungsgrund in seiner Vollständigkeit zu entfalten (Kap. X). Dieses Ergebnis lässt sich auch aus der Handlungstheorie Sellars' implizieren, wie in den nun folgenden Sellars-Kapiteln nachgewiesen wird. So behauptet Sellars bereits in seinem ersten handlungstheoretischenWerk Imperatives, Intentions, and the Logic of Ought: . "For, as is well known, in causal explanations we are content to singleout one aspect of the total relevant situation within which the explanandum occurs, dub it the cause, and relegate the presupposed remainder to the category of condition. On the other hand, we have not given a person's reason for acting as he did, unless we have given the whole reason in its proper form" (IIOR 187).

Hierbei ist zu beachten, dass die Elliptizität der kausalen Handlungserklärung nicht allein durch empirische Ergänzungen beseitigt werden kann. Vielmehr erfordert die Vervollständigung einen Kategorienwechsel. Denn das fehlende Moment, das Kausalerklärungen das Vermögen verleihen könnte, nicht nur handlungsimmanente Körperbewegungen, sondern Handlungen zu erklären, ist das des Handlungssinns, der allein in den mentalen Inhalten und somit in den praktischen Überlegungen des Handelnden zum Ausdruck kommt. Sobald aber kausale Handlungserklärungen dieses inhaltliche Moment einbeziehen, verlieren sie ihren Status als reine Kausalerklärung und werden selbst zu Gründeerklärungen. Seilars verteidigt die Koexistenz und Komplementarität von Gründe- und Kausalerklärung von Handlungen und räumt ihnen eine je eigene Erklärungsperspektive 69

Vgl. hierzu die Differenzierung in eine personen-und sachbezogene Sichtweise von Handlungen durch Hornsby: "Some philosophical problems about agency can be put in terms of two points ofview. From the personal point of view, an action is a person's doing so mething for a reason, and her doing it is found intelligible when we know the reason that led her to it. From the impersonal point of view, an action would be a link in a causal chain that could be viewed without paying any attention to people, the links being understood by reference to the world's causal workings" (Hornsby 1993, 283).

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Dieser Vorteil geht jedoch verloren, wenn Gründeerklärungen so wie Kausalerklärungen versuchen, den einen Grund der Handlung zu extrahieren, mit dem einzigen Unterschied, dass sie diesen nicht als Ursache ausweisen.

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11 Fazit

und Erklärungsweise ein. Begründet wird diese Sichtweise durch die für Seilars typische Trennung mentaler Inhalte und mentaler Akte. Indem er die besondere Bedeutung mentaler Inhalte gegenüber mentalen Akten ausweist, nimmt er einige grundlegende Gedanken vorweg, die in den aktuellen handlungstheoretischen Debatten zunehmend an Gewicht gewinnen. Es wurde in diesem Kapitel der Nachweis erbracht, dass nicht nur die Trennung mentaler Inhalte und mentaler Akte, sondern auch weitere handlungstheoretische und geistesphilosophische Überlegungen Sellars' in der gegenwärtigen Handlungstheorie vermehrt berücksichtigt werden. Die folgende Aufstellung gibt eine zusammenfassende Übersicht: 0 Trennung mentaler Inhalte und mentaler Akte, 0 Rekurs auf den Begriff der Absicht als irreduzible Handlungskonstituente71, 0 Zweiteilung der Absicht in eine mittelbare und unmittelbare Absicht, 0 Zuweisung einer Kontrollfunktion an die unmittelbare Absicht, 0 Holistische Konzeption des Mentalen. Wie gezeigt wurde, aber noch näher zu untersuchen ist (Kap. X), eröffnet die holistische Konzeption des Mentalen neue Wege der Handlungserklärung, die jedoch durch Seilars selbst nicht mehr beschritten wurden. Die in diesem Kapitel geführte Auseinandersetzung mit den aktuellen Debatten der philosophischen Handlungstheorie hat somit insgesamt gezeigt, dass die bereits als historisch zu klassifizierende Handlungstheorie Sellars' starke aktuelle Bezüge aufweist und viele aktuelle Ansätze bereits gedanklich vorwegnimmt. Die in der Einleitung bereits vorgestellte "Aktualitätsthese" (These S4) ist damit erwiesen.

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Der Begriff der Absicht als erstrangige Handlungskonstituente wurde 1957 durch Anscombes Hauptwerk Intention als Schlüsselbegriff in die handlungstheoretische Diskussion eingeführt. Weniger bekannt ist, dass Sellars bereits ein Jahr zuvor, also im Jahre 1956, in seinem Werk Imperatives, Intentions, and the Logic of Ought sich umfassend und detailliert mit dem Absichts begriff auseinandersetzt und ihn gleichfalls als primären handlungskonstituierenden Begriff begründet. Die Untersuchungsmethoden unterscheiden sich aber in beiden Werken wesentlich (Kap. IV). Seit der Einführung des Absichtsbegriffs, durch Anscombe und Sellars, dreht sich, wie gezeigt wurde, die Debatte vor allem darum, ob dieser Begriff autonom ist oder, wie Davidson vor allem in seinen Frühwerken behauptet, auf das Begriffspaar von Wunsch und Überzeugung bzw. Proeinstellung und Überzeugung und damit auf den primären Grund reduzibel ist.

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Kapitel III Aktuelle Debatten der philosophischen Handlungstheorie

These S4: Sellars' handlungstheoretische Überlegungen, obgleich zur traditionellen Handlungstheorie gehörig, ermöglichen Implikation, die nicht nur einige Ansätze der aktuellen Debatten der Handlungstheorie vorwegnehmen, sondern darüber hinau~ auch bereits Wege zu einem neuen Verständnis von Handlungserklärungen öffnen. Mit dieser These ist aber noch nicht die Plausibilität der Sellarsschen Position und folglich auch nicht die Plausibilität der ihr nahestehenden aktuellen Ansätze begründet. Diese Aufgabe w-ird im weiteren Fortgang dieser Arbeit zu leisten sein. Nachdem also in diesem und im letzten Kapitel die Handlungstheorie Sellars' historisch und aktuell verortet wurde, wird sie nun selbst einer kritischen Untersuchung unterzogen. Da sie komplex und voraussetzungsreich ist und einem noch nicht zusammengesetzten Mosaik gleicht, wird die kritische und prüfende Untersuchung sukzessive ausgeführt. Das aus den Mosaikteilen erstellte Gesamtbild der Handlungstheorie Sellars' wird daher in den nachfolgenden sechs Sellars-Kapiteln kapitelweise zunehmend an Gestalt und Inhalt gewinnen.

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KAPITEL IV ABSICHT, WILLE UND HANDLUNG Intentions imply intentions just as beliefs imply belief. Wilfrid Seilars 1966

Mit diesem Kapitel beginnt die kritische Auseinandersetzung mit der philosophischen Handlungstheorie Sellars', die eng und untrennbar mit seiner Philosophie des Geistes und Sprachphilosophie verknüpft und daher vielschichtig, komplex und voraussetzungsreich ist. Es gibt in seinem Gesamtwerk kein Werk, das seine Handlungstheorie geschlossen darstellt. Vielmehr ist sie über sein Gesamtwerk in der Art zahlreicher und äußerst unterschiedlicher Mosaiksteinehen verteilt. Etwa dreizehn seinerWerke befassen sich schwerpunktmäßig mit der Handlungstheorie, die in den meisten dieser Werke nahtlos in ethische Reflexionen übergeht. Wer aber der Ansicht ist, dass nach der eingehenden Lektüre dieser dreizehn Werke das Bild seiner Handlungstheorie geschlossen vorliegt, wird enttäuscht. Denn durch die enge Verbindung seiner Handlungstheorie mit der Philosophie des Geistes und anderen philosophischen Teilgebieten, erschließt sich dieses Bild erst nach einem zusätzlichen Studium zumindest der Schlüsselwerke dieser benachbarten philosophischen Bereiche. Die besondere Herausforderung in der Auseinandersetzung mit Sellars' Handlungstheorie besteht also primär darin, die zu ihr gehörenden Mosaiksteinchen erstens zu identifizieren und zweitens zu einem synoptischen Gesamtbild zu vereinigen. Vor der Synopsis steht also die Aufgabe der Analyse. Die Rekonstruktion seiner Handlungstheorie erweist sich daher am fruchtbarsten, wenn man seinem frei nach Kam formulierten Motto folgt: "[A]nalysis without synopsis is blind, synopsis without analysis is empty" (SC 5).

Gemäß diesem Motto erfordert der Zugang zu seiner Handlungstheorie zunächst eine analytische Detailarbeit, die in der gründlichen Analyse seiner Werke und Grundbegriffe besteht. Anschließend sind die Detailergebnisse zu einem Gesamtbild zu vereinen, das seine Handlungstheorie als ein systematisches Ganzes erkennen lässt. Erst daran kann sich eine kritische am Gesamtbild orientierte philosophische Auseinandersetzung anschließen. Diese hier in groben Schritten dargestellte philosophische Aufgabe prägen den Inhalt des vorliegenden und der folgenden fünf Kapitel. In diesem Kapitel werden in einem ersten Schritt zunächst einige Grundbegriffe seiner Handlungstheorie entfaltet und erörtert. Hierzu gehören in erster Linie die Begriffe der Absicht, des Willensaktes und der Handlung. Von besonderer Bedeutung sind dabei aber auch einige technische Begriffe, die Sellars' Handlungstheorie insgesamt prägen. Hierzu gehören die englischsprachigen Begriffe shall, intend, will und ought. Diese Begriffe sind einerseits eng miteinander verbunden, weisen aber andererseits aus handlungstheoretischer Perspektive wesentliche Un-

Kapitel IV Absicht, Wille und Handlung

terschiede auf. Aus der Perspektive der Philosophie des Geistes werden diese Unterschiede noch deutlicher werden (Kap. VI).

1 ABSICHT Der locus classicus zum Begriff der Absicht ist das 1957 publizierteWerk Intention von Anscombe. Die Absicht ist nach Anscombe weder ein innerer Prozess noch ein inneres Ereignis. AufUrsachen kann man hinweisen, auf Absichten dagegen nicht. Eine Absicht kann daher nicht empirisch unabhängig von der Handlung überprüft werden, denn sie ist mit der Handlung grammatisch oder kriterial verknüpft. Die These eines grammatischen Verhältnisses zwischen Absicht und Handlung findet sich auch bei Sellars. Doch nach seiner Konzeption ist das Verhältnis von Absicht und Handlung nicht auf ein grammatisch-kriteriales begrenzt, sondern kann widerspruchsfrei zugleich als ein kausales beschrieben werden. Zudem wird, entgegen Anscombes Konzeption, die Absicht auch als ein mentales Ereignis begründet. Die größte Gemeinsamkeit zwischen Anscombe und Seilars besteht sicherlich darin, dass beide sich gleichermaßen umfassend mit dem Begriff der Absicht auseinandersetzen, ·Anseambe primär in ihrem Werk Intention und Sellars in einer Reihe von Werken, die in einem Zeitraum von erwa 25 Jahren erschienen. Sellars' erstes Werk, in dem er den Begriff der Absicht analysiert, Imperatives, Intentions, and the Logic of Ought, erschien 1956, also bereits ein Jahr vor Anscombes Intention. Insgesamt finden sich in den Arbeiten von Anscombe und Sellars zum Begriff der Absicht aber nur wenige Berührungspunkte. Es überrascht daher vielleicht nicht, dass Seilars dasWerk Anscombes in seinen handlungstheoretisch relevanten Werken kein einziges Mal zitiert, auch nicht in seinen jüngsten handlungstheoretischen Arbeiten, die mehr als zwanzig Jahre nach Anscombes Intention publiziert wurden. Eine Auseinandersetzung mit ihremWerk wäre aber sicherlich ein lohnendes Unternehmen gewesen. Denn es bestehen zumindest zwei wesentliche Gegensätze, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit ihremWerk angeboten hätten: erstens die bereits genannte These Sellars', dass sich das Verhältnis zwischen Absicht und Handlung nicht nur grammatisch-kriterial, sondern auch kausal beschreiben lässt (Kap. VII), und zweitens die zu Anscombe konträre These Sellars', dass Absichten als mentale Akte oder innere Ereignisse aufgefasst werden können (Kap. VI). In den Frühwerken Sellars' spielen diese beiden Problembereiche noch eine marginale Rolle. Es sind vor allem die Entwicklung einer Logik der Absicht und darauf aufbauend die Entwicklung einer Logik des praktischen Schließens, die in diesen frühen handlungstheoretisch relevantenWerken Sellars' im Vordergrund stehen. Diese Logiken und ihre Grundbegriffe werden im Folgenden näher expliziert.

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1 Absicht

Absichten spielen in Sellars' praktischen Schlüssen eine entscheidende Rolle, denn sie bilden sowohl ihre Prämissen als auch ihre Konklusionen (Kap. V). In praktischen Schlüssen a la Seilars wird somit von Absichten auf Absichten geschlossen, also von Prämissenabsichten auf Konklusionsabsichten. Der Logik des praktischen Schließens liegt eine Logik der Absicht zugrunde, die Sellars in seinen frühen handlungstheoretischen Werken IIO und IIOR entwickelt und später sukzessive verfeinert. In IIO und IIOR analysiert Seilars die Art und Weise, wie Personen ihre Absichten ausdrücken. Beispiele solcher Absichtsausdrücke (expressions of intentions) sind: (1) (2)

Ich beabsichtige in zehn Minuten einen Kaffee zu kochen. Ich beabsichtige heute Nachmittag den Rasen zu mähen.

DasVerständnis der Sellarsschen Theorie der Absicht erfordert zunächst eine klare Differenzierung seines technischen Vokabulars. Zu diesem Vokabular gehören insbesondere die Begriffe

shall, will, intend und ought, wobei der zuletzt genannte bereits den Übergang seiner Handlungstheorie in seine Ethik markiert. Sellars ist sich bewusst, dass die englische Sprache hinsichtlich ihres Potentials, Absichten zu formulieren, weitaus reicher ist, als es die technische Verwendung der vier genannten Begriffe ermöglicht. "That this regimentation does not mirror the surface grammar of ordinary English is clear" (CPCI §34). Eine solche Alltagssprache ist aber erfahrungsgemäß mehrdeutig und redundant, was der Entwicklung einer klar umrissenen, eindeutigen Theorie und Logik der Absicht entgegensteht. Für die Entwicklung einer solchen Theorie bietet sich also an, die Zahl der Begriffe einerseits zu begrenzen und andererseits in einem technischen Sinne zu verwenden. Diese auf eine Theorie oder Fachsprache zugeschnittenen termini technici haben eine weitaus engere und präzisere Bedeutung als die gleichlautenden aber äquivoken Begriffe der Alltagssprache. Derterminus technicus ist ein Kunstausdruck, d.h. ein für bestimmte Zwecke künstlich geschaffener Ausdruck, zum Beispiel für den Gebrauch innerhalb einer Theorie. Er unterscheidet sich daher zwangsläufig von den natürlich gewachsenen Ausdrücken der Alltagssprache. Dies gilt es im Folgenden zu beachten. Der technische Begriffshall wird von Seilars ausschließlich dazu verwendet, Absichten zum Ausdruck zu bringen. "Shall-statements express intentions" (TA 107). Absichtsausdrücke oder Absichtsäußerungen haben dabei die Form I shall do A.

191

Kapitel IV Absicht, Wille und Handlung

Der Ausdruck will wird dagegen verwendet, um Aussagen im Futur zu formulieren, z.B.: I will do A.

"'

Zwischen den beiden Ausdrücken "I shall do A" und "I will do A" besteht ein fundamentaler Unterschied. Während der erste eine Absicht (intention) kundgibt, drückt der zweite eine Behauptung oder Überzeugung (belief) aus. Überzeugungen können wahr oder falsch sein. Daher ist mit dem Ausdruck einer Überzeugung die Verpflichtung verbunden, diese zu rechtfertigen. Absichtsausdrücke sind dagegen weder wahr noch falsch. Absichten können realisiert oder nicht realisiert werden. Sie können im Hinblick auf ein angestrebtes Ziel zweckmäßig oder unzweckmäßig oder aus moralischer Sicht g'llt oder schlecht sein. Überzeugungen drücken eine Tatsache oder einen Sachverhalt aus. Sie sind daher an sich weder gut noch schlecht. Die behaupteteTatsache kann in der Vergangenheit, Gegenwart oder wie bei "I will do A" in der Zukunft liegen. Überzeugungen sagen, was war, ist oder sein wird. Absichtsäußerungen sagen dagegen, im Sinne Sellars', was sein soll. Jeder Ausdruck einer Absicht ist mit der Verpflichtung verbunden, die Absicht zu realisieren, also beispielsweise die Handlung A auszuführen. Im Kontrast zu Überzeugungen verweisen Absichten stets auf Zukünftiges. Denn man kann nicht beabsichtigen, dass man gestern zum Einkaufen ging. Aber man kann behaupten oder seine Überzeugung zum Ausdruck bringen, dass man gestern zum Einkaufen gegangen ist. Ein datierter Kassenzettel rechtfertigt, zumindest als empirischer Beleg, diese Behauptung. Trotz des fundamentalen Unterschieds zwischen den beiden technischen Termini shall und will besteht aber auch eine enge Verbindung zwischen der Absicht "I shall do A" und der Überzeugung "I will do A". "For intending to do A involves knowing that [... ] one will do A. [... JThus, while intending to do A does not consist in believing that one will do A, it essentially includes it" (TA 126).

Die Absicht "I shall do A" kann nämlich als die Absicht interpretiert werden, die Überzeugung "I will do A" durch eine adäquate Handlung wahr zu machen. Obwohl also Absichten nicht selbst wahr oder falsch sein können, sind sie doch eng mit Überzeugungen, die wahr oder falsch sein können, verknüpft. "[E]xpressions of intention are neither true or false for [...] they do have the semantical values, realized and not-realized depending on whether the correlated expression of belief is true or false" (ORAV §57).

192

1 Absicht

Die Korrelation zwischen der Absicht "I shall do A" und der Überzeugung "I will do A" besteht folglich darin, dass eine Person, welche die Absicht hat, A zu tun, notwendig auch die Absicht haben muss, die Behauptung "I will do A" wahr zu machen. In diesem Sinne besteht also zwischen beiden Ausdrücken eine notwendige Verbindung und nicht nur, wie Sellars in IIOR noch irrtümlich annimmt, ein bloß stipulativer Zusammenhang (IIOR 175). Den technischen Ausdruck intend verwendet Seilars um einer Person eine Absicht zuzuschreiben (ascription of an intention), z.B. Jones intends to do A. Mittels dieses Ausdrucks wird hier also von Jones Absicht berichtet, A zu tun. Wir haben hier also keine Absichtsäußerung, sondern einen biographischen Bericht über eine Absicht (describing or reporting intention). In diesem Bericht wird Jones die Absicht zugeschrieben, A zu tun. Zwischen einem Ausdruck einer Absicht, der den Begriff shall verwendet, und einer Zuschreibung einer Absicht, die durch den Begriff intend ausgewiesen wird, besteht somit ein wesentlicher Unterschied, auf den Seilars immer wieder hinweist. "lt is essential to distinguish between the autobiographical factual statement

I intend to doA which ascribes an intention to me, as Jones intends to do A ascribes an intention to Jones, and, on the other hand, I shall doA which (in our regimented idiolect) expresses that intention" (ORAV §32).

Es sieht so aus, dass zwischen der Äußerung der Absicht "I shall do A" und der autobiographischen Selbstzuschreibung dieser Absicht "I intend to do A" der wesentliche Unterschied, auf den Seilars hier hinweist, nicht besteht. Dies ist richtig. Denn wenn jemand beispielsweise seine Absicht ausdrückt, dass er A tun wird, kann er sich selbstverständlich seine Absicht auch selbst zuschreiben. In diesem Sinne können beide Ausdrücke, sofern sie in der ersten Person formuliert sind, durchaus synonym verwendet werden, ohne dass Missverständnisse auftreten (ORAV §33). Werden diese Ausdrücke allerdings in der dritten Person formuliert, so ergeben sich fundamentale Unterschiede (Abs. 1.1 unten).

193

Kapitel IV Absicht, Wille und Handlung

Bislang mag es erscheinen, dass der Unterschied zwischen den beiden technischen Begriffen shall und intend lediglich in ihrem unterschiedlichen Gebrauch in Absichtsäußerungen und Absichtszuschreibungen besteht und allein im Hinblick auf eine Entwicklmtg einer Theorie oder Logik der Absicht konstruiert wurde. Doch dies ist ein Irrtum. Eine tiefergehende Analyse wird zeigen, dass die beiden Begriffe shall und intend, aus der Perspektive der Philosophie des Geistes, zwei unterschiedlichen mentalen Ebenen zugeordnet sind: shall gehört zur Ebene der propositionalen mentalen Inhalte oder Gehalte und intend zur Ebene der mentalen Akte oder Ereignisse (Kap. VI). Die an dieser Stelle daher vielleicht noch künstlich und oberflächlich erscheinende Trennung der beiden Begriffeshall und intend hat also tiefgehende Wurzeln mit weitreichenden philosophischen Konsequenzen, die bis hin zur Problematik von Gründe- und Kausalerklärungen von Handlungen reichen. Metaphorisch kann man also die Trennung zwischen shall und intend als die sichtbare Spitze eines Eisberges beschreiben, der, wie die folgende Übersicht vorgreifend zeigt, weit in die Tiefe reicht.

shall

intend

Absicht als propositionaler Gehalt Raum der Gründe Gründeerklärungen

Absicht als Akt oder Ereignis Raum der Ursachen Kausalerklärungen

Es wird die Aufgabe der folgenden Kapitel sein, die Tiefgründigkeit dieser Trennung schrittweise aufzudecken und dabei nicht nur das Trennende, sondern auch das Gemeinsame auszuweisen. Es wird also die Aufgabe sein, von der Oberflächenstruktur in die Tiefenstruktur der philosophischen Handlungstheorie Sellars' vorzudringen. Bislang ·wurden die technischen Begriffe Sellars' in englischer Sprache eingeführt und expliziert. Um im Folgenden die gleichzeitige Verwendung englischer und deutscher Begriffe nicht unnötig auszudehnen, was die Lesbarkeit und Verständlichkeit des Textes sicherlich mindern würde, soll nun ein Versuch der Übersetzung unternommen werden. Die Schwierigkeit der Übersetzung der drei technischen Begriffe shall, will und intend in die deutsche Sprache besteht in zwei Aspekten. Die technische Bedeutung der Begriffe, die sie im Rahmen der Handlungstheorie Sellars' haben, darf einerseits keinesfalls verloren gehen. Denn dies würde die Klarheit und Exaktheit seiner Theorie gefährden. Andererseits sollen die Begriffe nicht zu sehr von der Alltagssprache abweichen. Werden diese beiden Kriterien berücksichtigt, wobei dem der theorieadäquaten Übersetzung das Primat zukommt, so erweisen sich die folgenden Übersetzungen als die geeignetsten:

194

1 Absicht

Ishall I will I indend

Ich beabsichtige Ich werde Ich habe die Absicht

Die Zweckmäßigkeit der letzten Übersetzung ergibt sich aus Sellars' Unterscheidung zwischen dem Haben einer Absicht als Synonym für einen Absichtsakt oder ein Absichtsereignis und dem Inhalt einer Absicht. Es ist also eine Unterscheidung, die auf seiner Philosophie des Geistes gründet (Kap. VI). Problematisch ist die aufgeführte Übersetzung, wenn statt der ersten Person die dritte Person zur Anwendung kommt, wie nun gezeigt werden soll.

1.1 DIEEGOZENTRIZITÄT DER ABSICHT Das einheitliche und gemeinsame Kennzeichnen aller Absichtsausdrücke ist nach Seilars dasWortshall bzw. das Wort beabsichtigen. Tritt dieses Wort in einer Aussage auf, so ist damit eindeutig festgelegt, dass es sich bei dieser Aussage um den Ausdruck einer Absicht handelt. Betrachten wir die folgenden beiden englischsprachigen Beispiele: I shall go to office Tom shall go to office

Ich beabsichtige ins Büro zu gehen.

Unproblematisch ist das erste Beispiel. In ihr drückt der Sprecher seine Absicht aus, ins Büro zu gehen. Schwierigkeiten bereitet das zweite Beispiel. Bei ihm scheint zunächst nicht klar zu sein, wessen Absicht hier zum Ausdruck kommt. Übersetzt man "Tom shall go to office" mit "Tom beabsichtigt ins Büro zu gehen", dann wäre es Toms Absicht, die hier zum Ausdruck kommt. Doch dies ist falsch, denn "Tom beabsichtigt ins Büro zu gehen" ist kein Ausdruck einer Absicht (expression of intention), sondern eine Zuschreibung einer Absicht. Mit ihr wird lediglich darüber berichtet, dass Tom die Absicht hat, ins Büro zu gehen. Das gemäß der obigen technischen Notation korrekte Übersetzungspaar für diesen Bericht ist Tom intends to go to office

=

Tom hat die Absicht ins Büro zu gehen.

Was bedeutet dann aber "Tom shall go to office"? Nach Seilars ist die Antwort eindeutig. Denn im Sinne seiner technischen Verwendung des Begriffs shall drückt eineshall-Aussage die Absicht derjenigen Person aus, die diese Aussage ausspricht oder denkt. "I [Sellars; jhf] use "shall" in such a way that it always (as it does not in ordinary English) expresses an intention [...] of the speaker" (TA 105, FN 1,

195

Kapitel IV Absicht, Wille und Handlung

siehe auch ORAV §27 und CPCI §34). Absichtsausdrücke sind ergo in ihrer technischen Verwendung stets auf die erste Person bezogen. "[T] he intention expressed by a 'shall' statement is invariably the speaker's intention" (SM 184f). In der Alltagsspracli.e, in der shall nicht im technischen, theoriebezogenen Sinne verwendet wird, wird shall weitaus vielseitiger genutzt. Diese strikte Egozentrizität von Absichtsausdrücken wird sich als ein essentieller Makel der Seilarssehen Handlungstheorie erweisen, da sie Handlungserklärungen in der dritten Person verhindert oder zumindest erschwert (Kap. V). "Tom shall go to office" drückt also nicht die Absicht Toms, sondern desjenigen aus, der diesen Satz ausspricht oder denkt. Nehmen wir an, der Sprecher sei Peter. "It is important to see that I can not only intend to do something myself, I can also intend that someone else do something, i.e. that it be the case that he dpes it. Intentions pertaining to the actions of others are not 'intentions to do' in the primary sense in which I shall do A is an intention to do. Thus, in spite of their superficial similarity, Tom shall do A

and I shall do A do not have the same conceptual structure. The former has the form

(Ceteris paribus) I shall do that which is necessary to make it the case Tom doesA whereas the latter cannot, without the absurdity of an infinite regress, be supposed to have the form

(Ceteris paribus) I shall do that which is necessary to make it the case I do A" (SM 184).

Damit sind insgesamt die folgenden drei Fälle zu differenzieren: (1) (2) (3)

196

Peter: "I shall go to office." Peter: "Tom shall go to office." Peter: "Tom intends to go to office."

1 Absicht

Die ersten beiden Aussagen sind Absichtsausdrücke (expressions of intention). Die letzte Aussage ist eine Absichtszuschreibung (ascriptions of intention). Beide Aussagenformen sind streng zu differenzieren (SM 185). Im ersten Fall drückt Peter seine Absicht aus, ins Büro zu gehen. Im zweiten Fall drückt Peter seine Absicht aus, dass Tom ins Büro geht. Peter wird also alles in seiner Macht liegende tun oder veranlassen, um zu erreichen, dass Tom ins Büro geht. Lässt man moralische Bedenken mal außer Acht, dann ist sogar denkbar, dass Peter auch Gewalt anwenden wird, um Tom ins Büro zu zwingen und um damit seine eigene (Peters) Absicht zu realisieren. "[O]ne who candidly says Tom shall do X will do that which he believes would bring about Tom's doing of X" (IIO 249).

Obwohl also die beiden ersten Beispiele gleichermaßen Absichtsäußerungen sind, unterscheiden sie sich doch wesentlich. Gemeinsam ist beiden nur, dass es jeweils die Absicht des Sprechers ist, die zum Ausdruck gebracht wird. Wie ist dagegen das dritte Beispiel zu deuten. In diesem Beispiel berichtet Peter darüber, dass es Toms Absicht ist, ins Büro zu gehen. Es handelt sich also hier nicht um die Äußerung einer Absicht, sondern um die berichtende Zuschreibung einer Absicht. Wenn man Peter fragen würde, wie er diesen Bericht rechtfertigt, könnte er beispielweise antworten, dass er Tom belauschte, als er laut dachte "I (Tom) shall go to office" oder das Tom ganz offen gegenüber Peter seine Absicht "1 (Tom) shall go to office" zum Ausdruck brachte. Die (empirische) Rechtferti:gung der Absichtszuschreibung gründet also in diesen beiden Fällen auf einem Belauschen oder einer offenen Mitteilung der Absichtsäußerung. Problematisch ist also allein das zweite Beispiel: "Tom shall go to office". Hier bieten sich zwei Möglichkeiten einer Übersetzung an, die auch dem technischen Sinn dieses Ausdrucks gerecht werden. Die erste lautet: "Tom soll ins Büro gehen". Diese Übersetzung ist aber nur dann zweckmäßig, wenn man sich auf die Theorie der Absicht begrenzt. Für Sellars ist aber die Theorie der Absicht ein Fundament für eine Theorie des Sollens. Während der relevante technische Ausdruck in der Theorie der Absicht der Begriffshall ist, so ist nach Seilars der entsprechende technische Ausdruck in der Theorie des Sollens der Begriff ought. Übersetzt man shall also mit sollen, so kommt man in Konflikt mit ought. Damit ist die erste Möglichkeit der Übersetzung zumindest im Rahmen der Handlungstheorie Sellars', die fließend in seine Ethik übergeht, hinfällig. Die zweite Möglichkeit den Ausdruck "Tom shall go to office" zu übersetzen folgt dem obigen Vorschlag, shall durch beabsichtigen zu übersetzen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass durch die Über-

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Kapitel IV Absicht, Wille und Handlung

setzung die Absichtsäußerung nicht in eine Absichtszuschreibung umgewandelt wird. Dies wäre ein fataler Fehler, da sich, wie bereits nachgewiesen wurde, Absichtsausdrücke und Absichtszuschreibungen kategorial unterscheiden. Eine Übersetzung von ,~Tom shall go to office" in "Tom beabsichtigt ins Büro zu gehen"· wäre ein solcher Fehler. Um solche Fehler und folglich Missverständnisse zu vermeiden, sollte man von einer wortwörtlichen Übersetzung absehen und stattdessen bei der Übersetzung den Sprecher der Absicht mit benennen. Dieser Weg bietet sich aber nicht nur bei Übersetzungen an, sondern auch i~ der englischen Originalsprache. So benennt auch Seilars in seinen Beispielen des Öfteren explizit den Sprecher, um Missinterpretationen vorzubeugen. Die Übersetzung der obigen drei exemplarischen Fälle, die sowohl konform ist mit der Egozentrizität von Absichts~ äußerungen als auch mit den bereits vorgeschlagenen technischen Übersetzungen von shall und intend, lautet demnach: (1) (2) (3)

Peter: "Ich (Peter) beabsichtige ins Büro zu gehen." Peter: "Ich (Peter) beabsichtige, dass Tom ins Büro geht." Peter: "Ich (Peter) berichte, dass Tom die Absicht hat, ins Büro zu gehen."

Der zu Beginn dieses Abschnitts noch unübersetzte Ausdruck "Tom shall go to office" ist damit im technisch korrekten Sinne wie folgt zu übersetzen: "Ich (Peter) beabsichtige, dass Tom ins Büro geht", wobei Peter der Sprecher dieser Absichtsäußerung ist. Um die Sachlage zu verdeutlichen, sei noch ein letztes Beispiel betrachtet: Peter zu Dirk: "Tom shall go to office." Auch in diesem Beispiel ist der Sprecher wieder Peter. Folglich ist es seine Absicht, die hier ausgedrückt oder offen ausgesprochen wird. Aber worin besteht Peters Absicht? Welches ist ihr Inhalt oder Gehalt? Es ist die Absicht Peters, dass Dirk alles ihm Mögliche veranlasst, um Tom dazu zu bewegen, dass er (Tom) ins Büro geht. Peter überträgt also in diesem Beispiel die Realisierung seiner Absicht, dass Tom ins Büro geht, auf Dirk. Zusammenfassend können somit die folgenden Ergebnisse festgehalten werden: (i)

Absichtsausdrücke oder Absichtsäußerungen beziehen sich stets auf den Sprecher, also auf die erste Person. Es gibt somit eine "'first person' feature of intentions" (SM 185).

(ii)

Absichtsausdrücke oder Absichtsäußerungen formulieren Absichten, die realisiert oder nicht realisiert werden und hinsichtlich eines Ziels zweck-

198

1 Absicht

mäßig oder unzweckmäßig oder aus moralischer Sicht gut oder schlecht sind. Absichtsausdrücke oder Absichtsäußerungen sind im Gegensatz zu Überzeugungen weder wahr noch falsch. (iii)

Absichtszuschreibungen berichten autobiographisch über eigene Absichten oder biographisch über die Absichten einer dritten Person.

(iv)

Absichtszuschreibungen sind Berichte oder Überzeugungen, die wahr oder falsch sind.

Es v.rird die Aufgabe der folgenden Kapitel sein (insbesondere von Kapitel VI), diese Thesen zu verfeinern und weiter zu fundieren.

1.2

DER ABSICHTSOPERATOR

Seilars verwendet in seiner Theorie der Absicht den Begriffshall bzw. beabsichtigen als einen technischen Fachausdruck. Um eine Logik der Absicht zu entv.rickeln, welche Regeln der klassischen Logik und der Modallogik nutzen kann, geht Sellars noch einen Schritt weiter und formuliert shall als einen Operator. "I shall reconstruct 'shall' tobe an operator which turns indicative Statementsinto Statements of intention. Thus, I shall do A

becomes Shall [I will do A]" (SM 180).

Dieser Operator ermöglicht es Seilars praktische Schlüsse zu formalisieren (Kap. V). Der Ausdruck "Shall [I will do A]" deutet auf eine bereits bekannte und interessante Verbindung hin, die in Sellars' Handlungstheorie eine wichtige Rolle spielt. Es ist die Verbindung zwischen Absichten und Überzeugungen: Shall [I will do A]

--y-y--. Absicht Überzeugung Auf Absichtsausdrücke weist in der technischen Terminologie Sellars' allein der Shall-Operator hin. D.h. "Shall [I will do A]" drückt eine Absicht aus, die realisiert

199

Kapitel IV Absicht, Wille und Handlung

oder nicht realisiert wird. Der Operand, also "I will do A", ist aber der Ausdruck einer Überzeugung, die wahr oder falsch ist. Damit kann, wie im vorigen Abschnitt bereits begründet wurde, der Absichtsausdruck "Shall [I will do A]" in zweifacher Hinsicht interprt)tiert werden: zum einen als "Ich beabsichtige A zu tun um damit meine Absicht zu realisieren" (also: ~I shall do A~) und zum anderen als "Ich beabsichtige meine propositionale Überzeugung ~I will do A~ wahr zu machen". Überzeugungen (beliefs) und Absichten (intentions) sind also eng miteinander verknüpft. Während aber Überzeugungen nur behaupten, dass etwas der Fall war, ist oder sein wird, bringen Absichten zum Ausdruck, dass man durch eine adäquate Handlung dafür sorgt, dass dieses oder jenes der Fall sein wird. In dieser Hinsicht gehen Absichten über bloße Behauptungen oder Überzeugungen hinaus. Sie greifen über beabsichtigte Handlungen in die Welt ein und führen in ihr zu beabsichtigten Veränderungen. "I think it would generally be agreed that intending to do A is not the same thing as believing that one will do A. [... ] On the other hand, granted that they arenot identical, there is nevertheless a very close relationship between them. For intending to do A involves knowing that, unless one is paralyzed and unless unfavorable circumstances prevent one's minimal action from developing into a doing of A, one will doA- that is, of course, unless one changes one's mind before the time of action occurs. Thus, while intending to do A does not consist in believing that one will do A, it essentially includes it. How is this to be understood? Notice that coming to intend to do A neither requires a priorbeliefthat one will do A, nor is it incompatible with the existence of such a belief. One may believe on inductive grounds that one will, in all probability, do A and then ask oneself, "After all, shall I do A?" and deliberate whether or not to do it" (TA 125f).

Absichten schließen folglich immer ein Denken bzw. eine Überzeugung ein, dass etwas der Fall sein wird. Absichten tendieren daher im Gegensatz zu Überzeugungen zu einem Vollzug, zu einer Handlung oder einem language-exit transition (Kap. VI). Absichtsausdrücke (shall-statements) beinhalten also in ihrer logischen Formalisierung stets eine deskriptive propositionale Überzeugung als Operand. Dieser Ansatz "enables us to construe the inferentiallogic of intentions as completely derivative from the logic of propositions; and to tie this logic to a philosophically perspicuous depth grammar in which logical connectives occur only in propositional contex:ts" (CPCI §1 02). Alle bekannten Elemente der klassischen propositionalen Logik können somit in die Logik der Absicht (Abs. 1.4) und schließlich in die Logik des praktischen Schließens (Kap. V) übernommen werden. Während aber Absichtsausdrücke, wie oben dargelegt wurde, realisiert oder nicht realisiert werden, aber nicht wahr oder falsch sind, kann dem propositionalen, deskriptiven Operanden derWahrheitswert wahr oder falsch zugeordnet werden.

200

1 Absicht

"'Shall' Statements are, as such, neither true nor false (which indicates, again, that an extended use being made of the term 'statement'), though the descriptive Statements embedded in them are either true or false" (SM 188).

1.3 HANDLUNGSABSICHTENUND FAKTABSICHTEN Absichten sind, dies lassen bereits die Ergebnisse des vorangegangenen Abschnitts vermuten, nicht auf Handlungen begrenzt. Denn Absichten können auch zum Ausdruck bringen, dass etwas der Fall sein soll oder ein bestimmter Sachverhalt realisiert wird. Natürlich wird der beabsichtigte Sachverhalt oder Fakt in aller Regel nicht von selbst eintreten. Wenn jemand einen bestimmten Sachverhalt beabsichtigt, so liegt es an ihm, diesen Sachverhalt durch eine entsprechende Handlung herbeizuführen. Mit jeder Faktabsicht ist demzufolge eine entsprechende Handlungsabsicht verknüpft. "Intentions arenot limited to intentions to do [...].There arealso intentions that something be the case. The latter, however, are intentions, practical commitments, only by virtue of their conceptual tie with intentions to do. Roughly It shall be the case that-p has the sense, when made explicit, of

(Ceteris paribus) I shall do that which is necessary to make it the case that-p" (SM 183f).

Es besteht also nach Seilars eine begriffliche Verbindung zwischen der Faktabsicht und der Handlungsabsicht. Denn der Begriff der Faktabsicht schließt den der Handlungsabsicht ein. Wenn Doris beispielsweise die Fak.tabsicht hat, dass es der Fall sein soll, dass ihr Tee süßer ist, so wird sie diese Faktabsieht in die Handlungsabsicht münden lassen, noch ein oder zwei Stück Zucker in ihren Tee zu geben. Oder allgemein formuliert: "[T]here is a conceptual tie between It shall be the case that ...

and Ishall do ... Abstractly put, intentions that something be the case imply intentions to do" (ORAV §45).

201

Kapitel IV Absicht, Wille und Handlung

Auch für Faktabsichten nutzt Seilars den technischen Begriff "Shall" als einen Operator. In diesem Sinne rekonstruiert er "S shall be P" als "Shall [S will be P]". Somit sind gemäß Seilars zwischen Handlungsabsichten und Faktabsichten und folglich zwischen"zwei Shall-Operatoren zu unterscheiden; einem Shall-Operator, der auf Handlungen zielt, und einem, der mit Behauptungen (Statements) operiert. Dies bedeutet: "A careful distinction must be drawn between 'shall' as an operator which operates on action verbs and 'shall' in the sense, roughly, of 'shall be the case' which operates on Statements" (SM 181).

1.4 DIE LOGIK DER ABSICHT Das Kernprinzip der Sellarsschen Logik der Absicht und folglich seiner Logik des praktischen Schließens lautet: "Intentions imply intentions just as beliefs imply belief" (SM 182).

Doch hier ist Vorsicht geboten. Denn sowohl der Begriff der Absicht (intention) als auch der Begriff der Überzeugung (belief) sind aus der Perspektive der Philosophie des Geistes zweideutig (Kap. VI). Da aber Sellars zwischen den verschiedenen Bedeutungen zumeist nicht sauber differenziert bzw. dem Leser überlässt zu erkennen, welche Bedeutung gemeint ist, bedarf es einiger Übung im Lesen von Sellars' Werken, um die jeweilige Bedeutung aus dem Kontext heraus zu erschließen. Absichten und Überzeugungen sind nach Sellars' Philosophie des Geistes gleichermaßen eine Spezies von Gedanken (thoughts). Als Gedanken haben sie einerseits einen propositionalen Inhalt oder Gehalt. Andererseits sind Gedanken mentale Akte, Zustände oder Episoden und als solche Ereignisse. 1 Diese sind entweder (nämlich im manifesten Weltbild) postulierte und ontologisch unbestimmte theoretische Entitäten (Kap. VI) oder (nämlich im wissenschaftlichen Weltbild) ontologisch bestimmte physikalische Vorgänge, wie beispielweise neurophysiologische Prozesse im Hirn (Kap. VI bis IX). Hinsichtlich des Begriffs des Gedankens ist folglich das Haben eines Gedankens oder das Sichereignen eines mentalen Aktes von seinem Inhalt, also vom dem, was gedacht wird, zu unterscheiden. Gleiches gilt für Absichten und Überzeugungen:

Seilars verwendet die Begriffe Akt, Zustand, Episode und Ereignis zumeist synonym. Wie noch zu begründen ist, ist damit aber die Gefahr von Missverständnissen verbunden, da diese Begriffe differenzierende Merkmale aufweisen, die ihre synonyme Verwendung verbieten.

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1 Absicht

"We must distinguish between intentions as states of intending and intentions as what is intended, just as we distinguish between states of believing and what is believed, the so-

called 'content' of the believing. In the latter case we distinguish between the implications of the content of a belief and the implications of the state of having a belief with that content" (SM 182). Diese Unterscheidung öffnet denWeg zu den geistesphilosophischenWurzeln der philosophischen Handlungstheorie Sellars'. Nur durch sie wird es in den folgenden Kapiteln möglich sein, Sellars' These, dass Gründe Ursachen sein können, zu verstehen und die Frage zu beantworten, inwieweit Sellars eine kausalistische Position vertritt und inwieweit er Gründeerklärungen von Handlungen akzeptiert. In der Unterscheidung von mentalen Akten und mentalen Inhalten liegt der Kern dessen, was Sellars' Handlungstheorie auszeichnet. In ihr treffen sich seine philosophische Handlungstheorie und seine Philosophie des Geistes. Und in ihr liegt auch der Schlüssel zur Lösung vieler in der Einleitung (Kap. I) gestellten Fragen. Ohne ein Verständnis der Schnittstelle zwischen Handlungstheorie und Philosophie des Geistes bleibt das Verständnis der Handlungstheorie Sellars' oberflächlich und auf eine bloß formale Logik der Absicht und des praktischen Schließens begrenzt. In Kapitel VI sollen diese Grenzen aufgebrochen werden, um den Weg in ein tieferes Verständnis der Sellarsschen Handlungstheorie zu öffnen. Hier ist zunächst aber die Frage zu beantworten, was dieser kurze vorgreifende Exkurs in Sellars' Philosophie des Geistes mit seinem oben genannten Kernprinzip, dass "intentions imply intentions just as beliefs imply beliefs" gemein hat. Sellars' Antwort lautet: "Thus, when I speak [... ] of one intention I 1 implying another intention I2, I shall be speaking about an implication between two intention-contents. That in this sense an intention I 1 implies an intention I2 does not carry with it the idea that Jones intends I 1 implies Jones intends I2" (SM 183). Das, was sich in Sellars' Kernprinzip der Logik der Absicht demnach wechselseitig impliziert, sind nicht Absichtsakte oder Überzeugungsakte, sondern ausschließlich ihre Inhalte. Warum schließt aber Sellars im obigen Zitat den Fall aus, dass "Jones intends I 1 implies J ones intends I 2 "? Dieser Fall ist aufgrundder bisherigen Ergebnisse deshalb ausgeschlossen, weil der Begriff intend als terminus technicus auf das Haben einer Absicht und damit auf einen Absichtszustand, Absichtsakt oder ein Absichtsereignis hinweist und nicht auf einen Absichtsinhalt und damit auf einen propositionalen Ausdruck der Absicht. Absichtsinhalte und Absichtszustände dürfen nicht verwechselt oder gar gleichgesetzt werden. Beide sind, wie in Kapitel VI nachgewiesen wird, mit kategorial unterschiedlichen Modi der Erklärung verbunden. Denn Absichtsinhalte gehören in den Raum der Gründe und Absichtszustände oder-aktein den Raum der Ursachen. Sellars' Logik der Absicht und des prakti-

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Kapitel IV Absicht, Wille und Handlung

sehen Schließens ist ausschließlich eine Logik des Raums der Gründe und nicht der Ursachen. Das Prinzip der Logik der Absicht "intentions imply intentions" bezieht sich folglich allein auf Absichtsinhalte. Diese haben stets die Form von Absichtsäußerungen und ' is a formula which may or may not be logically complex" (ORAV §66, ähnlich auch an anderen Stellen).

Dieses Prinzip bedarf einiger Erläuterungen. Zunächst beinhaltet dieses Prinzip den scheinbar neuen terminus technicus shall be. Doch so neu ist er nicht. Denn er ist der Ausdruck einer Absicht, dass etwas Bestimmtes der Fall sein soll. Absichten, dass etwas der Fall sein soll, wurden bereits in Kapitel IV expliziert. Dort wurde festgestellt, dass Seilars zwei Arten von Absichtsäußerungen unterscheidet, die eng miteinander verknüpft sind, nämlich die Absicht zu einer Handlung und die, dass etwas der Fall sein soll. Letztere ist mit der Verpflichtung verbunden, alles zu tun, um den beabsichtigten Sachverhalt mittels einer adäquaten Handlung zu realisieren. Über diese Verpflichtung ist also die Absicht, dass etwas der Fall sein soll, mit der Absicht zum Handeln verknüpft. Daher schlägt Seilars vor: "I propose to rely on the intuitive (to me, at least) equivalence of lt shall be the case that-p with I shall do what I can to make it the case that-p" (VR §32).

Aus formallogischen Gründen stellt Sellars den technischen Ausdruckshall be, so wie bereits den technischen Term shall, als Operand dar. "As a notational convenience, Iet us rewrite It shall be the case that-p as Shall be [p )" (VR §31).

226

4 Fundamentalprinzipien

Während Sellars in seinen Frühwerken die beiden Absichtsarten noch gleichermaßen mit dem technischenTermshall formuliert, wird also hier zusätzlich shall be eingeführt, um diese beiden Absichtsarten auch symbolisch zu trennen. Im obigen So-Be-It-Prinzip wird also mit Shall be [ausführenden Organ< einer Handlung (bzw. dem unmittelbaren kausalen Urheber eines Verhaltens) unterscheidet, kann man regelkonformes Verhalten sowohl als absichtsvolles regelgeleitetes Handeln eines Handlungssubjekts als auch als kausalen Akt eines ausführenden Organs ohne Regelbewusstsein auffassen" (Seiht 2007, 78).

Als nicht rationaler Mensch könnte Franz von den beiden Prämissen A und A:JB beispielsweise auch irrational auf die Überzeugung C schließen, z.B. "Ich werde mit der Transsibirischen Eisenbahn schnellstmöglich von Köln nach Paris reisen". Franz könnte sogar - B folgern. Wenn man ihn fragt, warum er von - B oder C überzeugt ist, dann wird er dies vielleicht mit den beiden Prämissen zu begründen versuchen. Man könnte nun einwenden, dass es sich dabei doch gar nicht um eine

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Kapitel VI Handlungstheorie und Philosophie des Geistes

Begründung handelt bzw. der Begriff der Begründung eine missbräuchliche Verwendung erfährt. Doch dieser Einwand ist zurückzuweisen. Denn es kann sein, dass Franz sehr wohl weiß, wie man in der Alltagssprache den Begriff der Begründung allgemein richtig gebraucht. Auch in dem besonderen Fall, in dem er C oder - B mit den beiden Prämissen A und A::)B begründet, gebraucht er den Begriff der Begründung ordnungsgemäß. Der Unterschied besteht nur darin, dass ihm bei seiner Begründung an irgendeiner Stelle ein Fehler unterläuft, beispi~lsweise aus Unkenntnis logischer Regeln. Seine Begründung ist daher in diesem besonderen Fall falsch bzw. irrational. Statt von einer missbräuchlichen Verwendung des Begriffs der Begründung, sollte man daher besser von einer irrationalen Begründung sprechen. Die Antwort auf die Frage, wieso eine Person wie Franz irrational schließt oder begründet, liegt damit auf der Hand. Denn man kann die gleiche Strategie verfolgen wie im Falle rationaler Schlüsse und Begründungen., Sie lautet: Franz führt auf der Ebene der Absichts- oder Überzeugungsinhalte irrationale Schlüsse und Begründungen durch, weil sie auf der Ereignisebene der Absichtsoder Überzeugungsakte falsch disponiert oder, wiederum salopp gesprochen, falsch verdrahtet ist. Dieses aus Sellars' Handlungstheorie implizierte funktionale Bild des menschlichen Denkens ähnelt einem funktionalen Automaten. Nehmen wir an, wir konstruieren einen einfachen Automaten mit zwei Tasten und einer Lampe. Seine Funktion sei identisch dem bereits im vorigen Abschnitt exemplarisch vorgestellten Automaten: Dann und nur dann wenn beide Tasten gleichzeitig gedrückt werden (input), leuchtet die Lampe (output). Nehmen wir weiterhin an, wie produzieren einhundert solcher Automaten und stellen fest, dass bei einem die Lampe bereits leuchtet, wenn nur eine der beiden Tasten gedrückt wird. Woran liegt das? Sicherlich daran, dass wir diesen einen Automaten in seinem Inneren falsch verdrahtet oder, wie Sellars sagen würde, falsch disponiert haben. Disponieren oder verdrahten wir diesen einen Automaten entsprechend um, dann wird auch er schließlich so wie alle anderen funktionieren. Die Analogie zum Menschen ist nun die, dass der irrational argumentierende Mensch anders disponiert ist als seine rational argumentierenden Zeitgenossen. Er wird sich durch seine irrationalen Schlüsse und Begründungen zwangsläufig der logischen Kritik seiner rationalen Zeitgenossen aussetzen. Ist der irrational argumentierende Mensch ein Kind, so kann man es durch Belehrung entsprechend umdisponieren. Ist er ein Erwachsener, so kann dieser, sofern er die Kritik versteht und akzeptiert, sich selbst neu disponieren. Der Mensch erscheint also im weitesten Sinne als ein lernfähiger Automat. Die hier dargestellte Analogie zwischen Mensch und Automat ist zwar nicht aus der Feder Sellars', aber er würde ihr vermutlich im genannten weitesten Sinne zustimmen. Denn Sellars vertritt innerhalb der Philosophie des Geistes die Position des Funktionalismus und unter Funktionalisten sind solche Automaten- oder Computerbeispiele sehr beliebt.

294

9 Fazit

In Bezug auf das Eisenbahnbeispiel kann nun damit das folgende Ergebnis extrahiert werden: Die Person Franz, welche die Transsibirische Eisenbahn statt des Thalys nimmt, begründet zwar ordnungsgemäß, aber ihre Begründung ist irrational. Wieso? Weil sie auf der kausalen Ebene der mentalen Akte, Zustände oder Episoden falsch disponiert ist. Oder in der Sprache des wissenschaftlichen Weltbildes formuliert: Weil sie auf der neurophysiologischen Ebene kausal falsch programmiert ist. Wie kommt das? Weil sie beispielsweise in der Schule nicht aufgepasst hat, der Bahnbeamte sie falsch informiert hat, weil sie einen Hirnfehler hat oder ihr Hirn wegen Drogen vorübergehend "kausal falsch verdrahtet ist". Was ist zu tun? In den ersten beiden Fällen wird sich die Person, nachdem man sie über ihre irrationalen Schlüsse aufgeklärt hat, selbst umdisponieren und das nächste Mal, ceteris paribus, den Thalys nehmen. Im Falle der Drogen ist anzunehmen, dass die Person wieder entsprechend ihrer ursprünglichen Disposition rational schließen und den Thalys nehmen wird, sobald die Drogenwirkung vorüber ist und keine bleibenden Schäden aufgetreten sind. In all diesen Fällen wird sich also die Person nicht immer irrational verhalten. Nur im Falle eines unheilbaren Hirnfehlers könnte sie tatsächlich dieses irrationale V erhalten immer an den Tag legen. Dispositionen im Seilarssehen Sinne determinieren also weder das Denken noch das Handeln des Menschen. Der Dispositionsbegriff Sellars' eliminiert nicht die Willensfreiheit des Menschen.

9 FAZIT In diesem Kapitel wurde gezeigt, wie eng in Sellars' Werk die philosophische Handlungstheorie mit der Philosophie des Geistes verknüpft ist. Die für seine Handlungstheorie folgenreichste geistesphilosophische These ist, dass Gedanken und ergo handlungskonstituierende Absichten und Überzeugungen stets ein inhaltliches und ein kausal wirksames Moment haben, also in Inhalt und Akt zu trennen sind. Denn diese Trennung eröffnet zumindest zwei kategorial unterschiedliche Betrachtungs- und folglich Erklärungsperspektiven auf praktische Schlüsse und Handlungen, diebeidezum manifesten Weltbild gehören. Zieht man die wissenschaftliche Perspektive mit ein, so eröffnen sich sogar drei Betrachtungs- bzw. Erklärungsperspektiven, die einen für Seilars typischen Trialismus markieren (Kap. VIII). Welchen Status die mit diesen Perspektiven verknüpften Erklärungen haben, wird noch zu prüfen sein (Kap. IX und X). Es wurde begründet, dass alle drei funktionalen Rollen der Sprache - Spracheintrittsübergänge, innersprachliche Übergänge und Sprachaustrittsübergänge- einen Einfluss auf Handlungsüberlegungen ausüben, miteinander verwoben und nur aus ihrer Gesamtschau verständlich sind. Es konnte gezeigt werden, dass von diesen

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Kapitel VI Handlungstheorie und Philosophie des Geistes

drei funktionalen Rollen zwar diejenige des Sprachaustritts von besonderer Relevanz für die Handlungstheorie und das Problem der Handlungserklärung ist, aber dass auch die beiden anderen Rollen eine gewichtige Stellung in der Handlungstheorie einnehmen, z.B. innerhalb praktischer Schlüsse. Es wurde begründet, dass sich Sellars' Theorie der Gedanken (und damit handlungsrelevanter Absichten und Überzeugungen) in mehrere aufeinander aufbauende Erklärungsstufen gliedert. Erstens die Stufe sprachlicher Gedankehinhalte, die im weitesten Sinne logisch verknüpft sind, zweitens die Stufe kausal wirksamer Dispositionen und drittens die Stufe der postulierten und gleichfalls kausal wirksamen Gedankenepisoden. Letztere fungieren, wie nachgewiesen \'\B und der Konklusion B eine inhaltliche, logische VerDer Begriff"vorläufig" weist darauf hin, dass das aufgeführte Ergebnis die erforderliche Korrektur der Handlungstheorie Sellars' noch nicht einschließt. "Volitions [Willensakte; jhf] cause actions of the kinds involved in the description [Willensinhalt; jhf] of these volitions,. (SM 177).

313

Kapitel VII Können Gründe Ursachen sein?

knüpfung besteht, kann man sie zum Ausgangspunkt nehmen, um sich selbst oder eine andere Person kausal zu disponieren, auf die Inhalte A und A:::>B kausal mit B zu reagieren. Andererseits wird nur derjenige den Inhalt B äußern oder denken, der dazu kausal disponiert ist. Die kausale Verknüpfung bedingt folglich vice versa die intentionale. All dies gilt nicht nur für den Übergang vom Willen zur Handlung und für die innersprachlichen Übergänge bei theoretischen und praktischen Inferenzen, sondern auch für den Bereich der Wahrnehmung (Kap. VIII). 'Für die folgenden Betrachtungen genügt es aber, das Ergebnis auf den Übergang vom Willen zur Handlung zu begrenzen. Es lautet: Die intentionale und kausale Verknüpfung von Wille und Handlung bedingen einander wechselseitig. Dass Wille und Hand- . lung, ebenso wie zwei Gedanken, zwei Absichten oder zwei Überzeugungen, so- .. wohl semantisch (begrifflich, logisch oder grammatisch) und zugleich kausal verknüpft sein können, ist "a question which raises central issues in metaphysics and the philosophy of mind [... ]. How can a volition to raise one's finger have so dose a conceptual tie with finger raising and yet be the cause of a finger raising? The crux of the answer must be that to specify the content of a mental act is analogues to saying what an expression means. In each case we dassify by the use of a (usually) complex functional sortal built from expressions which have specifiable linguistic functions. The correct application of the sortal implies that the item is subject to pattern-governed uniformities which can be described without the use of intentional terms. Thus, tO every explanation in mentalistic terms there corresponds in principle an explanation in non-mentalistic terms" (VR §19). 5

Sellars' funktionalistische Position innerhalb der Philosophie des Geistes wird in diesem Zitat besonders deutlich. Der Funktionalismus trennt die funktionalistische Beschreibung des Mentalen von der empirischen. Dies korrespondiert mit Sellars' Trennung des Mentalen in Inhalt und Akt, wobei letzterer als Vehikel seines Inhalts fungiert. Diese Differenzierung impliziert, wie oben aufgezeigt wurde, einen Dualismus der Beschreibung und Erklärung, nämlich zum einen im mentalistischen oder intentionalen Vokabular und zum anderen in nicht-mentalistischen oder physikalischen Termini. Während im Bereich der innersprachlichen Übergänge (intralanguage transitions) dieser Dualismus der Beschreibung prima facie besteht - zum einen eine Beschreibung in der Ebene propositionaler Gedankeninhalte und zum anderen eine in der Ebene nicht-propositionaler Gedankenakte - stößt diese duale Konzeption im Bereich des Sprache-Weltübergangs (language-exit transition) auf Probleme. Denn beim Übergang vom Willen zur Handlung laufen die beiden bislang parallelen Stränge in einem einzigen Punkt, nämlich in dem der Handlung, zusammen (Bild 7.1). In AAE spricht Sellars von functional und non-functional anstatt von mentalistic und nonmentalistic und in SK von propositional und non-propositional.

314

2 Logische, begriffliche, grammatische und kausale Relation

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I I I I I l 1 Inhalt I II.....__ ___, I

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I kausal 'l- - - - - - - - - - - - 'I[ L___________t I

I

Bild 7.1: Sellars' Irrtum (links) und eine mögliche, plausible Lösung (rechts)

Genau an dieser Stelle irrt Sellars. Sein bisher plausibler Gedankengang unterliegt hier einem Fehler oder zumindest einer Ungenauigkeit, deren Quelle aber, wie im Folgenden gleichfalls gezeigt wird, bereits in seiner Logik der Absicht zu lokalisieren ist. Obgleich Sellars strikt mentale Inhalte und mentale Ereignisse (oder mentale Akte) und folglich den Raum der Gründe und den Raum der Ursachen trennt (was plausibel ist), lässt er diese beiden kategorial unterschiedlichen Zweige dennoch in einem gemeinsamen Punkt zusammenlaufen, nämlich in dem der Handlung. Seilars verkennt, dass kausal wirksame Akte nur die Ursache der handlungsimmanenten Körperbewegung sind, nicht aber der Handlung. Er trennt zwar im Bereich des Mentalen korrekt zwischen bedeutungsvollem Inhalt und kausal wirksamem Akt, aber er unterscheidet nur ungenügend zwischen Körperbewegung und Handlung, z.B. zwischen einer bloß physischen Armbewegung und einem beabsichtigten Grüßen mittels der Armbewegung als bedeutungsgebender Grund des Armhebens. Der Ursprung dieses Fehlers liegt darin, dass Seilars seine Handlungstheorie allein auf den Begriff der Absicht stützt und Handlungsgründen und Handlungsmotiven nur wenig Bedeutung beimisst. Sellars' Interesse gilt primär der Absichtlichkeit des Armhebens und den damit verknüpften mentalen Vorgängen im Inneren des Menschen und nur sekundär den Gründen für das Armheben Im Vordergrund seiner Konzeption stehen allein Absichten wie "Ich beabsichtige meinen Arm zu heben". Derartige Absichten erklären aber nicht, warum bzw. aus welchem Grund der Arm gehoben '\'iti.rd, beispielsweise um jemanden zu grüßen, einen Kenner herbeizuwinken oder um sich in einem Seminar zu Wort zu melden. Die Berücksichtigung solcher Gründe ist in Sellars' Theorie der Absicht nur innerhalb der Absichtsausdrücke selbst möglich, z.B. "Ich beabsichtige meinen Arm zu heben, weil ich mich zu Wort melden möchte". Gründe dieser Art können in Absichtsaus-

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Kapitel VII Können Gründe Ursachen sein?

drücken angegeben werden, müssen aber nicht. Denn Sellars' Logik der Absicht und des praktischen Schließens ist derart konzipiert, dass sie auch ohne den Begriff des Grundes konsistent ist (Kap. IV und V). Das ausgewiesene Dilemma tritt nämlich erst dann auf, wenn der praktische Schluss über den Willen in die Handlung mündet. Denn erst dann laufen in Sellars' Konzeption der Zweig der bedeutungsvollen Absichtsinhalte und Willensinhalte und der Zweig der kausal wirksamen Absichtsakte und Willensakte in einem Punkt zusammen. Die plausible"kategoriale Trennung bedeutungsvoller Inhalte und kausal wirksamer Akte, die mit der T rennung des Raums der Gründe und des Raums der Ursachen korrespondiert, und die Seilars im Bereich der innersprachlichen Übergänge (also der theoretischen und praktischen Schlüsse) konsequent beachtet, missachtet er im Bereich des Sprache- , Weltübergangs, also im Bereich des Wille-Handlungsübergangs. Hierführt er beide Kategorien zusammen und begeht damit den aufgeführten Fehler. Wie kann Sellars' Irrtum korrigiert werden? Sehr einfach, denn man muss nur die plausible kategoriale und irreduzible Differenz zwischen mentalen Inhalten und mentalen Ereignissen auch über den Bereich des Mentalen hinaus aufrechterhalten. Und dies erreicht man dadurch, dass man den Begriff der Handlung gleichfalls in Inhalt und Ereignis differenziert, also einen Begriff des Handlungsinhaltes und einen des Handlungsereignisses einführt. Der Begriff des Handlungsereignisses umfasst dann allein die handlungsimmanente Körperbewegung und der Begriff des Handlungsinhaltes die Bedeutung oder den Gehalt dieser Körperbewegung und damit den Handlungsgrund, z.B. ein freundliches Grüßen. Beide Begriffe verstehen sich als technische Begriffe einer eindeutigen Theorie und nicht als Begriffe einer mehrdeutigen Alltagssprache. Denn in der Alltagssprache trennt man in aller Regel weder zwischen Absichtsinhalt und Absichtsakt, sondern spricht nur von Absichten, noch differenziert man zwischen Handlungsinhalt und Handlungsereignis, sondern spricht üblicherweise nur von Handlungen. Dem alltagssprachlichen Begriff der Absicht entspricht dabei in aller Regel der theoretische Begriff des Absichtsinhalts und dem alltagssprachlichen Begriff der Handlung der theoretische Begriff des Handlungsinhalts. Eine Theorie, die, wie diejenige Sellars, das Ziel verfolgt, die manifeste und wissenschaftliche Perspektive zu einer gemeinsamen Perspektive zu vereinen (Kap. IX), muss sich stattdessen eindeutiger'theoretischer Fachtermini bedienen, die diesem Ziel gerecht wird. Und dies erfüllen Sellars' Begriffe von Inhalt und Akt, die er zwar konsequent auf seine Theorie der Gedanken anwendet, aber nicht auf Handlungen überträgt. Führt man aber diese Korrektur durch, so folgt: Zwischen Absichts-, Willens- und Handlungsinhalt besteht eine im weitesten Sinne semantische Verbindung, die zum Raum der Gründe gehört und folglich den Prinzipien der Logik und Rationalität untersteht. Zwischen Absichts-, Willens- und Handlungsereignis besteht eine kausale Verknüpfung, die zum Raum der Ursachen gehört und folglich den Prinzipien der Kausalität gehorcht. Da beide Räume unterschiedlicher Kategorie sind, sind folglich auch Gründe- und Kausal-

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2 Logische, begriffliche, grammatische und kausale Relation

erklärungenunterschiedlicher Kategorie. Sie erklären etwas kategorial Unterschiedliches. Die Gründeerklärung erklärt den Handlungsinhalt bzw. (im alltagssprachlichen Sinne) die Handlung. Die Kausalerklärung erklärt allein die handlungsimmanente Körperbewegung. Zur Verteidigung Seilars sei angemerkt, dass auch er den nicht kausalen Aspekt von Handlungen zumindest ansatzweise zu berücksichtigen sucht. Denn Handlungen, die zweifelsfrei mit einem Ereignis einhergehen, können auch als eine Proposition beschrieben werden. So ist das Heben eines Armes ein physikalisches Ereignis, nämlich eine Körperbewegung, die vom Willensakt mit dem Inhalt "Ich hebe jetzt meinen Arm" verursacht wird. Das Ereignis des Armhebens ist die physikalische Wirkung, der Willensakt mit dem Inhalt oder dem Gehalt ,,Ich hebe jetzt meinen Arm" die dazugehörige Ursache. Das Heben eines Armes kann aber auch als eine Proposition beschrieben werden, z.B. als "Der Arm bewegt sich nach oben" (vgl. Sellars' Actionsand Events). Zwischen dem propositionalen Gehalt des Willens und der propositionalen Beschreibung des Armhebens besteht kein kausaler Zusammenhang. Denn Propositionen sind keine Ereignisse, sondern Sätze oder Beschreibungen. Zwischen diesen besteht ein logischer, begrifflicher oder grammatischer Zusammenhang. Durch die Beschreibung des Armhebens als physikalisches Ereignis einerseits und als Proposition andererseits bleibt folglich der Dualismus der Beschreibung auch beim Übergang Sprache-Welt, also beim Übergang vom Willen zur Handlung bestehen. In völlig gleicher Weise kann man auch im Bereich der Wahrnehmung, also beim Spracheintrittsübergang (language-entry transition) diesen Dualismus der Beschreibung aufrechterhalten (Kap. VIII). Dennoch ist dieser Ansatz unbefriedigend. Er erreicht zwar, dass die beiden kategorial unterschiedlichen und irreduziblen Zweige des Dualismus nicht mehr in der Handlung zusammenlaufen (was das Ziel dieses Ansatzes ist), aber Handlungsgründen und Handlungsmotiven vvird weiterhin keine Bedeutung geschenkt. Der Ansatz entspricht somit einer bloß formalen Korrektur. Dabei ist sich Sellars, wie noch zu begründen ist, durchaus bewusst, dass der inhaltliche Aspekt weit mehr umfasst, als die propositionale Beschreibung der Körperbewegung. Denn er umfasst neben den Handlungsgründen auch irreduzible Handlungshintergründe, wie Konventionen, Normen und soziale Praktiken (Kap. VIII bis X). Der Dualismus der Beschreibung von Gedankenübergängen und Wille-Handlungsübergängen hat Konsequenzen für die Handlungstheorie. Hinsichtlich praktischer Schlüsse bedeutet er, dass diese sowohl auf der Inhaltsebene als auch auf der Ebene der Episoden oder Akte beschrieben werden können. Während jedoch die Beschreibung auf der Inhaltsebene eine intentionale ist, ist die Beschreibung auf der Ebene mentaler Ereignisse eine kausale. Letztere kann einerseits in mentalen Begriffen erfolgen (nämlich im manifesten Weltbild) und andererseits in nicht-mentalen Begriffen (nämlich im wissenschaftlichen Weltbild). Diese wissenschaftliche Beschreibung kann aber prinzipiell erst dann geleistet werden, wenn die Naturwis-

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Kapitel VII Können Gründe Ursachen sein?

sensehaften den ontologischen Status mentaler Ereignisse entdeckt haben. Die Beschreibung im wissenschaftlichen Weltbild wird also davon abhängen, ob es sich um chemische, physikalische, neurophysiologische oder anders geartete Ereignisse handelt. Diese Problematik erkennt auch Sellars. "I say 'in principle' because, in even the simplest cases, the complexity of such an explanation would be unmanageable. Mentalistic explanations involve a cumulatife wisdom which early researchers in artificial imelligence soon came to appreciate" (VR §19).

3 MINIMALE HANDLUNGEN In diesem Abschnitt wird die Theorie minimaler Handlungen einer kritischen Prüfung unterzogen. Hierzu wird diese Theorie zunächst kurz vorgestellt. Ziel ist der Nachweis, dass diese Theorie gleichfalls dem bereits genannten Irrtum der Gleichsetzung von Körperbewegung und Handlung unterliegt. Der Begriff der minimalen Handlung oder Basishandlung wird in der philosophischen Handlungstheorie ebenso kontrovers diskutiert wie der Begriff der Handlung selbst, so beispielsweise durch Arthur C. Danto, Richard Taylor und Roderick M. Chisholm. Die Kontroverse entzündet sich vor allem an den beiden Fragen, worin sich Basishandlungen von Nicht-Basishandlungen und einfache Handlungen von komplexen Handlungen unterscheiden. Das Problem besteht folglich darin, differenzierende Kriterien für diese Handlungstypen zu entwickeln und zu begründen. Bei Seilars verschärft sich das Problem noch dadurch, dass er erklären muss, in welchem Verhältnis der von ihm postulierte Wille zur Basishandlung steht. Hinsichtlich der distinktiven Merkmale von Basishandlungen stimmt er jedoch mit den Standardtheorien (vgl. Martin 1977, 111) weitestgehend überein: Eine minimale Handlung ist "an action which one does not do by doing another action" (VR §12). Um eine minimale Handlung zu vollziehen ist es demzufolge nicht erforderlich, zunächst eine andere vorausgehende Handlung auszuführen. Oder kurz gesagt: Minimale Handlungen gründen nicht auf anderen Handlungen. Sie können aber selbst andere Handlungen oder Folgehandlungen bedingen. Minimale Handlungen stehen daher immer am Anfang einer Handlungskette. "Consider a volition which has the form,

I shall do [minimal action] in order to bring about X and thus do A or, I shall do A by doing MA

318

3 Minimale Handlungen

for example, I shall close my finger [= MA; jhf] in order to cause the gun to go off and thus

to fire it. I shall fire the gun by closing my finger. (closing my finger = MA; jhf].

Let us suppose that I am not paralyzed nor prevemed from doing the minimal action. I do it, but instead of causing X, cause Y. As a result I do not A, but rather B; thus I dislodge the trigger- the gun being defective" [VR §12].

Gäbe es keine minimalen Handlungen, die am Anfang einer Handlungskette stehen, so müsste man, um überhaupt zu handeln, immer erst eine vorausgehende andere Handlung vollziehen. Die Folge wäre ein unendlicher Regress. Menschliche Handlungen setzen also, so die Verteidiger der Theorie minimaler Handlungen, minimale Handlungen notwendig voraus. Minimale Handlungen stehen mehr als jede andere Handlung unter der direkten Kontrolle des Willens. "[M]inimal actions are as securely under our voluntary control as anything could be" (VR §14). Ihre Ausführung wird zwar, ebenso wie die einer jeden anderen Handlung, durch Randbedingungen und Begleitumstände (circumstances) beeinflusst, aber in einem weitaus geringeren Maße. "[T]here is a striking difference in the extent to which minimal and non-minimal actions involve the friendliness of circumstance" (VR §14). Auch wenn minimale Handlungen unter der direkten Kontrolle des Willens stehen, so sind sie doch zumeist nicht diejenigen Handlungen die gewollt bzw. beabsichtigt werden. Wenn Peter beim Schachspiel den Bauern um ein Feld vorziehen möchte, dann tut er dies, indem er ihn beispielsweise mit seinem Zeigefinger ein Feld nach vorne schiebt. Die minimale Handlung, die Peter hier ausführt, ist das Bewegen seines Zeigefingers. Sie ist aber nicht die beabsichtigte Handlung. Denn es ist nicht die Absicht von Peter, seinen Zeigefinger zu bewegen. Es ist auch nicht seine Absicht, seine Finger in einer Weise zu bewegen, die das Verschieben des Bauern ermöglicht. Seine Absicht ist allein, den Bauern um ein Feld vorzuziehen, weil er sich dadurch vielleicht eine bessere strategische Gesamtposition gegenüber seinem Schachgegner erwartet. Sowohl das Bewegen der Finger als auch das Verschieben des Bauern stehen zwar unter der Kontrolle des Willens, aber nicht in dem Sinne, dass zunächst das eine und dann das andere gewollt wird. Peter will also nicht zunächst seine Finger bewegen, um dann anschließend das Bewegen des Bauern zu wollen. Seine Fingerbewegung und sein Verschieben des Bauern bilden eine Einheit, die gemeinsam gewollt wird. "[U]nless the circumstances aresuch as to make us wary, we simply will to open the window by pushing it, where this does not mean that we will to push the window, believ-

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Kapitel VII Können Gründe Ursachen sein?

ing that pushing it will cause it to become open. In precisely this sense there is no separate volition to push" (VR §16).

Noch deutlicher wird das Argument, dass minimale Handlungen und ihre Folgehandlungen eine Einheit bilden, beim Spielen eines Klavierstückes. Hierbei steht das Spielen einer jeden einzelnen Note unter der Kontrolle des Willens, denn man kann das Spielen der gesamten Melodie jederzeit und an jeder Stelle' willentlich unterbrechen und auch wieder fortsetzen. Dennoch wird nicht jede einzelne Note in dem Sinne absichtlich gespielt, indem man zum Beispiellaut-heraus-denkt oder laut-heraus-beabsichtigt. "Jetzt beabsichtige ich B zu spielen. Jetzt beabsichtige ich A zu spielen. Jetzt beabsichtige ich C zu spielen. Und jetzt beabsichtige ich H zu spielen."G Dies wäre, wie Sellars richtig bemerkt, nur bei einem Klavierschüler der · Fall, der gerade seine ersten Unterrichtsstunden absolviert. Jemand, der das Klavierspielen bereits erlernt hat, wird die Melodie als eine Einheit verstehen und die Absicht haben, die Melodie als Ganzes zu spielen und nicht die einzelnen Noten. "A related point is that if one wills to play a melody, there need be no volition, with respect to each note, to sound that note" (VR §17) . .,There is, thus, an important place for the concept of an action being in one's voluntary control in the sense that if, just before doing it, one had willed not to do it, one would not have clone it [...). Playing each note ina learned melodywould be an action in one's volumary control, even though playing the melody which is willed" (VR §18).

Obgleich eine minimale Handlung die beabsichtigte Handlung bedingt, so ist sie nach Seilars dennoch nicht die Ursache der beabsichtigten Handlung. Denn die minimale und die beabsichtigte Handlung sind, wie oben dargelegt, als eine Einheit bzw. Handlungseinheit aufzufassen. In dieser Einheit kann die minimale Handlung als der Beginn der beabsichtigten Handlung interpretiert werden. "Minimal actions are not the causes of nonminimal actions, they are rather the initial stages of nonminimal actions" (MP 241). Sellars illustriert dies graphisch wie folgt (a.a.O.): "The relation of minimal actions to nonminimal actions should not be pict~red thusly,

MA

A

but rather thusly,

Die hier als Beispiel gewählte Notenfolge BA C H wurde vor allem von Johann Sebastian Bach gerne in seinen Kompositionen genutz:t.

320

3 Minimale Handlungen

A

------~~~-------

..

-v-

..

MA

Doch nicht alle Anfangsstadien einer Handlung sind wie in dieser Graphik selbst Handlungen. Es gibt Anfangsstadien, die nicht Teil dieser Handlungseinheit sind und dieser, so Sellars, tatsächlich ursächlich vorausgehen. Hierzu gehören zum Beispiel Nervenimpulse, die nicht willentlich steuerbar sind und beispielsweise die minimale Handlung der Fingerbewegung bewirken. Zu dieser Art von Ursache gehört auch der Wille zum Handeln. "Of course, not every ainitial Stage" of an action is itself an action; consider nerve impulses or, more to the point, volitions" (a.a.O.)

Auch der Wille geht der oben skizzierten Handlungseinheit ursächlich voraus und ist gleichfalls nicht willentlich steuerbar. Denn wäre dies der Fall, so müsste jedem Willen zur Handlung gleichfalls wieder ein Wille zum Wollen vorausgehen und so fort. Das Ergebnis wäre wiederum ein unendlicher Regress. Der Wille zum Handeln steht daher nicht selbst wieder unter einer willentlichen Kontrolle. Ihm geht also kein weiterer Wille voraus, sondern eine Absicht, zum Beispiel die Konklusionsahsicht einer praktischen Handlungsüberlegung. Der Wille zum Handeln ist, wie oben begründet wurde, ein mentaler Akt mit Inhalt. Folglich ist er keine Handlung und kann daher nicht die Funktion einer minimalen Handlung übernehmen. Es ist daher unzulässig, die Kette der Handlungen von der physikalischen Welt ins Mentale fortzusetzen. Der Wille ist das letzte Glied einer mentalen Kette, die minimale Handlung ist dagegen das erste Glied der dem Willen unmittelbar folgenden Handlungskette. Wille und minimale Handlung definieren somit den Übergang von der inneren Sprache (Mentalese) zur äußeren Welt (language-exit transition). Es wurde oben das Problem aufgedeckt, dass das Ergebnis des Willens nicht notwendig diejenige Handlung ist, die gewollt oder hier und jetzt beabsichtigt wird. Nehmen wir an, eine Person, nennen wir sie Pranz, will hier und jetzt in den Zug von Koblenz zum Flughafen Frankfurt einsteigen, der gerade von Köln kommend in den Bahnhof eingefahren ist. Pranz steigt ein und der Zug fährt los. Er hat also seinen Willen oder seine Hier-und-jetzt-Absicht realisiert, da er die dazugehörige Handlung, nämlich das Einsteigen in den Zug von Koblenz nach Frankfurt Flughafen, ausführte. Doch hat Pranz seinen Willen tatsächlich realisiert? Nach etwa einer halben Stunde kommt der Schaffner zur Fahrkartenkontrolle und teilt Franz mit, dass er im falschen Zug sitzt und zwar in einem, der nicht zum Frankfurter Flughafen fährt. Versunken in seine Gedanken an sein Reiseziel- Pranz wollte von Frank-

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Kapitel VII Können Gründe Ursachen sein?

furt nach Delhi fliegen - ist er im Kohlenzer Bahnhof in den falschen Zug eingestiegen. Seine Hier-und-jetzt-Absicht, in den Zug von Koblenz nach Frankfurt Flughafen zu steigen, und die (scheinbare) Realisierung dieser Absicht, führte also nicht zu dem von ihm beabsichtigten Ergebnis. Oder in der Terminologie der minimalen Handlung formuliert: Pranz hat mit seinem Willen zwar die richtige minimale Handlung bewirkt, nämlich das körperliche Einsteigen in den Zug, aber diese minimale Handlung war nicht Bestandteil derjenigen Handlungsein'beit, die er wollte oder hier und jetzt beabsichtigte. Aus diesem und den anderen Beispielen dieses Abschnitts wird deutlich, dass minimale Handlungen zumeist mit Körperbewegungen identifiziert werden. Kör· perbewegungen sind aber keine Handlungen, auch keine minimalen. Eine Hand· _ lung ist beispielsweise das beabsichtigte Schießen; die dazu notwendige Krümmung des Fingers ist dagegen bloß die Körperbewegung, die in diese Handlung involviert ist. Eine Handlung ist auch der Bauernzug beim Schachspielen; die dazu notwendi~ gen Fingerbewegungen sind nur die inhärenten Körperbewegungen. Eine Handlung ist auch das von F ranz beabsichtigte Reisen; das dazu notwendige Einsteigen in den Zug ist seine zur Handlung gehörende Körperbewegung. Minimale Handlungen sind daher keine Handlungen, sondern bloß handlungsimmanente Körperbewegungen. Denn Handlungen umfassen stets ein inhaltliches Moment, Körperbewegungen dagegen nur ein kausales. Die Theorie minimaler Handlungen begeht folglich den Irrtum der Gleichsetzung von Körperbewegung und Handlung und damit einen Kategorienfehler. Aufgrund dieses Ergebnisses ist die Theorie minimaler Handlungen zu verwerfen, auch diejenige Sellars'. Statt minimale Handlungen, die bloß Körperbewegungen sind, von anderen Handlungen zu trennen, ist es auch hier plausibler, Handlungsereignisse (nämlich handlungsimmanente Körperbewegungen wie das Armheben) von Handlungsinhalten (wie das Grüßen) zu trennen, wodurch der Begriff der minimalen Handlung überflüssig wird.

4 GRÜNDE ALS URSACHEN: EINE ERSTE ANNÄHERUNG Allgemein geht man davon aus, dass Gründe- und Kausalerklärungen von Handlungen einen unterschiedlichen Status haben und in ihrer Form verschieden sind. Doch dies muss nicht so sein. Bereits in seinem ersten handlungstheoretisch orientierten Werk IIO weist Seilars 1956, wenn auch noch eher beiläufig, darauf hin, dass beide Erklärungen die gleiche Form haben können. Beide Erklärungen können daher leicht verwechselt werden. Seilars warnt daher:

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4 Gründe als Ursachen: eine erste Annäherung

"It is essential not to confuse Jones wishes that Smith would do X, because he thinks Smith's action would be a person doing A in C with Jones wishes that Smith would do X, because, he thinks, Smith's action would be a person doing A in C. The difference in punctuation represents the difference between the because of causal explanation, and the because which is equivalent to for the reason that" (IIO 254).

Beide Erklärungen haben exakt die gleiche Wortfolge. Sie unterscheiden sich allein in der Kommasetzung und in den durch Seilars durchgeführten Kursivsetzungen. Dennoch, so behauptet Sellars, sei die erste Erklärung eine kausale und die zweite eine Gründeerklärung. Wie ist das zu begründen? Da das im obigen Zitat gewählte Beispielaufgrund seiner Komplexität und seiner leider etwas umständlichen Formulierung eine Diskussion dieser Frage unnötig erschwert, bietet sich an, ein anderes Beispiel zu wählen. Allerdings ist dabei darauf zu achten, dass die Kernstruktur des Originalbeispiels nicht verloren geht. Ein Beispiel, das diese Bedingung erfüllt, ist das folgende. lt is essential not to confuse I shall do X, because I think my doing X would bring about Y. with I shall do X, because, I think, my doing X would bri~g about Y. Auch in diesem modifizierten Beispiel unterscheiden sich beide Erklärungen nur in der Kommasetzung. Damit scheint also allein die Kommasetzung dafür verantwortlich zu sein, welcher Erklarungstyp vorliegt. Entscheiden folglich Kommas darüber, ob eine Kausalerklärung oder eine Gründeerklärung gegeben wurde? Dies erscheint unwahrscheinlich. Hat Sellars vielleicht etwas ganz anderes im Sinn? Wie dem auch sei, weder die dem obigen Zitat vorangehenden noch nachfolgenden Textpassagen lösen dieses Rätsel auf, auch nicht das gesamte Werk IIO. Warum lässt Sellars seine Leser im Ungewissen? Es wird zu zeigen sein, dass diese Unterstellung falsch ist. Denn Seilars scheint vorauszusetzen, dass seine Leser zumindest mit den Grundgedanken seiner Philosophie des Geistes vertraut sind, da sein Hauptwerk Empiricism and the Philosophy ofMind (EPM) zum Zeitpunkt der Pub-

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Kapitel VII Können Gründe Ursachen sein?

likation von IIO bereits erschienen war. 7 Vermutlich waren Verständnisschwierigkeiten bei den Lesern von IIO mit Anlass dafür, dass Sellars sein handlungstheoretisches Erstwerk IIO vollständig überarbeitete und sieben Jahre später erneut als revidierte Version (IIOR 1963) publizierte. In diesem Werk führt Seilars erneut zwei exemplarische Erklärungen auf, die in der WOrtsequenz wiederum vollkommen identisch sind und sich wieder nur in der Kommasetzung {und in der Kursivsetzung) unterscheiden. Die anschließende Erläuterung ist aber berefts deutlich präziser als in 1!0. "[l]t is essential not to confuse Smith did B because he thoughr his doing B would be doing A in C with Smith did B because, he thought, his doing B would be doing A in C. The difference in punctuation highlights the difference between asserting that the occurrence of thoughts of the form "my doing B would be a case of doing A in C" constitutes a (partial) explanation of the occurrence which was Smith's doing of B, and asserting that it was practical thinking of the form "I shall do B because my doing B would be a case of doing A in C" which accounts for Smith's doing of B. [...] It must, of course, be granted that reasons are causes, i.e., that in general we can move from Statements of the second form to Statements of the first, and vice versa" (IIOR 187).

Es sind insbesondere drei Aspekte, die in diesem Zitat von entscheidender Bedeutung sind. Zum einen wird klar, dass im ersten Fall das Auftreten von Gedanken (occurrence of thoughts) zur Erklärung der Handlung herangezogen wird, während im zweiten Fall die Handlung mittels eines praktischen Denkens erklärt wird. Die Unterscheidung, die Seilars hier anspricht, ist diejenige zwischen dem Haben eines Gedankens und dem Inhalt des Gedankens. In späteren Werken wird Seilars diese Unterscheidung, die er hier wiederum nur andeutet, präzisieren und weitaus deutlicher aussprechen. Da aber diese Unterscheidung bereits in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich expliziert und analysiert wurde, können wir uns hier bereits präziser mit der Begründung Sellars' auseinandersetzen. In der ersten Erklärung ist "because he thought" bzw. "weil er dachte" als "er hatte den Gedanken" oder als "er hatte den Gedankenakt" zu interpretieren. 8 Es wird also darauf verwiesen, dass Smith sich im Akt eines Denkens befindet. Es wird folglich auf ein DenkEPM wird bereits in IIO zitiert, allerdings nicht im Zusammenhang mit dem oben aufgeführten Zitat. In Kapitel VI wurde gezeigt, dass Sellars die Begriffe "Gedankenepisode", "Haben eines Gedankens", "Gedankenakt" und "Gedankenzustand" im weitesten Sinne synonym verwendet.

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4 Gründe als Ursachen: eine erste Annäherung

ereignis also auf ein mentales Ereignis verwiesen, das mit dem Handlungsereignis kausal verknüpft ist. In der zweiten Erklärung ist "he thought" in Kommas gesetzt, was darauf hinweisen soll, dass der dem "he thought" folgende Gedankeninhalt die Verbindung zur Handlung herstellt. Eine solche Verbindung wurde oben (Abs. 2) als intentionale oder semantische Verbindung ausgewiesen. Intentionale Verknüpfungen (begriffliche, logische oder kriterial-grammatische) rekurrieren zur Erklärung nicht auf eine kausale Ursache, sondern auf einen Grund. Der zweite Aspekt, der zu nennen ist, ist von noch größerer Relevanz. Es ist die im obigen Zitat formulierte These, dass Gründe Ursachen sind: "It must, of course, be granted that reasons are causes". Begründet wird diese These in IIOR nicht, denn Seilars geht es in diesem Werk nicht um die Ursache-Gründe-Debatte, sondern, wie bereits in IIO, um die Logik der Absicht und des praktischen Schließens. Im Rahmen dieser Logik kann aber die Gründe-gleich-Ursachen-These nicht begründet werden, da sie ein tieferes Verständnis der inneren mentalen Zustände des Menschen erfordert. Eine solche Begründung rekurriert, wie soeben bereits angedeutet, auf der dualen Betrachtung von Gedanken als Akt und Inhalt. Im Folgenden wird dies zu präzisieren sein. Eine Besonderheit der Seilarssehen Handlungstheorie ist der dritte Aspekt, der im obigen Zitat in der Behauptung zum Ausdruck kommt, "that in general we can move from Statements of the second form to Statements of the first, and vice versa." Da es sich bei der ersten Aussage (statement), entsprechend des obigen Zitats, um eine Kausalerklärung handelt und bei der zweiten Aussage, um eine Gründeerklärung, bedeutet dies, dass man sich nach Belieben zwischen Gründe- und Kausalerklärungen hin- und herbewegen kann. Allerdings, so stellt Seilars bereits in IIO klar, sind nur Gründeerklärungen Gegenstand des praktischen Schließens (IIO 258), da nur sie auf den Inhalt rekurrieren und folglich auf das, was beabsichtigt wird. Die folgenden Aussagen fassen die bisherigen Ergebnisse zusammen: (i)

Kausalerklärungen beziehen sich auf das Haben eines Absichtsgedankens mit diesem oder jenem Inhalt, also auf die Absicht als Zustand (state of having an intention), als mentalen Akt oder als mentale Episode und folglich auf Absichten als mentale Ereignisse. Kausalerklärungen gehören folglich in den Raum der Ursachen.

(ii)

Gründeerklärungen beziehen sich auf den Inhalt mentaler Gedankenoder Absichtsakte (content of intention, intention-content), also auf das, was beabsichtigt ist. Sie gehören folglich in den Raum der Gründe.

(iii)

Zwischen Gründe- und Kausalerklärungen kann man sich hin- und herbewegen.

325

Kapitel VII Können Gründe Ursachen sein?

(iv)

Handlungsgründe können Handlungsursachen sein.

Die unter Punkt (iv) aufgeführte Kernthese dieses Kapitels, die Sellars in seinem Fr-Qhwerk IIOR noch ohne nähere Begründung erstmals formuliert, wird nun unter Einbezug seiner Spätwerke eingehender zu analysieren und zu kritisieren sein. Es wird vor allem die Frage zu beantworten sein, in welcher Art und Weise Gründe die Ursachen von Handlungen sein können. Das Hauptwerk, in dem Sellars cfiese These erstens detailliert diskutiert und zweitens mit derjenigen Davidsons konfrontiert, istAaions and Events (AAE 1973 ), das erst zehn Jahre nach IIOR erscheint. Wesentlich für das Verständnis der Seilarssehen Argumentation, so folgt aus diesem Werk, ist die Unterscheidung zwischen dem mentalen Gedankenakt und seinem Gedankeninhalt, die bereits im Kapitel VI eingeführt und analysiert wurde. Da Absichten und Überzeugungen Unterarten von Gedanken sind, ist mit dieser Unterscheidung zugleich eine Unterscheidung zwischen einem Absichtsakt und dem, was beabsichtigt wird, also dem Inhalt der Absicht, verbunden. Gleichermaßen gilt diese Unterscheidung folglich auch zwischen einem Überzeugungsakt und dem Inhalt einer Überzeugung. Es wurde im vorigen Kapitel nachgewiesen, dass mit derUnterscheidungvon Akt und Inhalt erklärt werden kann, warum beispielsweise eine Person, welche die Überzeugung A hat, nicht zugleich die Überzeugung B hat, obgleich letztere logisch aus ihrer Überzeugung A folgt. Die Erklärung bestand einfach darin, dass die Person diese logische Verknüpfung zwischen A und B nicht kennt. Sie hat nicht gelernt, von A auf B zu schließen. Sie ist noch nicht dazu disponiert, die Überzeugung B zu äußern, wenn sie von A überzeugt ist. Dieser innersprachliche mentale Übergang besteht also bei dieser Person noch nicht. Während also auf der inhaltlichen, propositionalen Ebene diese Verknüpfung aus rein logischen Gründen besteht, ist diese bei der hier betrachteten Person auf der Ebene der mentalen Akte noch nicht realisiert (noch nicht an trainiert). Der mentale Akt mit dem Inhalt dassA i~t also noch nicht mit dem mentalen Akt, der den Inhalt dass-B trägt, kausal verknüpft. Es besteht folglich zwischen A und B zwar eine allgemeine und notwendige logische Beziehung, die aber bei der speziellen Person auf der Aktebene noch nicht kausal realisiert ist. Es fehlt sozusagen noch die hardwaremäßige Verbindung zwischen diesen beiden mentalen Zuständen. Oder genauer: Es fehlt die neurophysiologische Realisierung, die den schlummernden Zustand B aktiviert und damit als Output weiterleitet (z.B. an das Sprachorgan), sobald die Aktivierung durch den Input A erfolgt ist. Erst wenn diese funktionale Verknüpfung zwischen A und B auch kausal realisiert ist, wird die betreffende Person von der Überzeugung A kausal auf die Überzeugung B schließen. Mit diesen Überlegungen wird auch der erste Satz des folgenden Zitats verständlich, derunmittelbar zur Kernthese, dass Gründe Ursachen sein können, überleitet.

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4 Gründe als Ursachen: eine erste Annäherung

"I shall argue [...), that it can be a conceptual truth that [...] the one thought is followed

by the other, even though on many occasions, the one occurs without the other - indeed, even if [...) a Jonesean thought that-p is never followed by a Jonesean thought that-q. 9 If I am right, then the way is open to giving something like the 'classical' account of the idea that reasons can be causes. For this account insists that it is because that-p entails that-q that a thought that-p is, ceteris paribus, followed by a thought thatq" (AAE §16f).

Entfaltet man den letzten Satz dieses Zitats, der die Begründung für die Gründegleich-Ursachen-These enthält, so wird die folgende Struktur deutlich. [...] it is because that-p entails that-q

-y-

-y-

/~/

Grund (reason)

Ged.ankeninhalte, Propositionen (content of intention)

that

a thought that-p is [... ] followed by a thought that-q

-y--

-y--

/-------------------

Ursache (cause)

Gedankenakte, Gedankenereignisse (mental act, mental event)

Dieser Satz besagt: Nur weil zwischen den beiden Gedankeninhalten dass-p und dass-q eine Verbindung besteht (it is because that-p emails that-p), folgt auf den Gedankenakt mit dem Inhalt dass-p der Gedankenakt mit dem Inhalt dass-q (a thought that-p is followed by a thought that-q). Der mögliche Einwand, dass dies auch vice versa sein könnte, wird noch zu untersuchen sein. Die Verbindung zwischen den Gedankeninhalten isteine zwischen Propositionen. Sie ist daher eine logische, begriffliche oder grammatisch-kriteriale Verknüpfung und somit eine im weitesten Sinne intentionale oder semantische (Abs. 2 Es ist also eine begriffliche Wahrheit, dass dem einen Gedanken (nämlich dem einen Gedankeninhalt) ein anderer folgt, in der Tat auch dann, wenn Jones' Gedanke, dass-p (nämlich Jones' Gedankenakt mit dem Inhalt dass-p) niemals Jones' Gedanke, dass-q (nämlichJones' Gedankenakt mit dem Inhalt dass-q) folgt. Dies besagt, dass zwar auf der Inhaltsebene eine logische, begriffliche Verknüpfung zwischen p und q bestehen kann, ohne dass diese auf der kausalen Ebene der mentalen Akte oder Episoden realisiert ist. Daher wird J ones nicht von p auf q schließen. Er besitzt noch nicht das kausale Verrnögen, mental von p auf q zu folgern.

327

Kapitel VII Können Gründe Ursachen sein?

oben). Sie verknüpft einen Grund (dass-p) mit seiner Folge (dass-q). Die Verknüpfung der Gedankenakte ist eine zwischen Ereignissen. Sie ist folglich eine kausale. Sie verknüpft eine Ursache (einen Gedankenakt mit dem Inhalt dass-p) mit ihrer Wirkung (einem Gedankenakt mit dem Inhalt dass-q). Damit kann vorläufig festgehalten werden:

(i)

Auf der Ebene der innersprachlichen, propositionalen Inhalte isi'die Verknüpfungvon Gedanken, Absichten und Überzeugungen eine zwischen Grund und Folge.

(ii)

Auf der Ebene der mentalen Akte oder Episoden ist die Verknüpfung von Gedanken, Absichten und Überzeugungen eine zwischen Ursache und Wirkung.

Grund und Ursache sind folglich auf verschiedenen Beschreibungsebenen lokalisiert. Die These, dass Gründe Ursachen sind, ist also so nicht aufrechtzuerhalten. Sie wird zumindest modifiziert werden müssen (siehe unten). Ein weiteres Problem, das aus den obigen Überlegungen deutlich wird, äußert sich in der Frage, ob die innersprachlichen, propositionalen Gedankeninhalte die Bedingung für die kausale Verknüpfung der Gedankenakte stellen oder ob umgekehrt, die kausal verbundenen Gedankenakte die Bedingung für die Verknüpfung ihrer Inhalte sind. Unabhängig davon, wie die Antwort ausfällt, sie wird auch für Absichten und Überzeugungen gelten. Das obige Zitat scheint die erste Variante zu bejahen, worauf das kursiv gesetzte because hinweist. Verleihen also Inhalte oder Gehalte den entsprechenden Akten ihre kausale Wirksamkeit? In gewissem Sinne ja. Denn was können mentale Akte oder mentale Ereignisse bewirken, deren Inhalte beispielsweise leer sind? Sie würden ein System ohne inhaltlichen Input oder Output darstellen. Es ist nicht vorstellbar, wie beispielsweise ein Absichtsakt ohne seinen Inhalt "Ich hebe jetzt meine Hand" das Heben der Hand kausal bewirken kann und diesem Armheben zugleich seinen Handlungssinn verleiht, z.B. das freundliche Grüßen einer anderen Person. Absichtsakte sind bloß die Träger ihrer Inhalte. Erst die Inhalte verleihen den durch die mentalen Akte verursachten Körperbewegungen ihre handlungskonstituierende Bedeutung. Mentale Inhalte bedingen daher mentale Akte dahingehend, dass sie einem mental verursachten Verhalten allererst die Bedeutung einer Handlung verleihen. Mentale Akte können nur Verhalten verursachen. Handlungen erfordern dagegen kausal wirksame mentale Akte und sinn- bzw. bedeutungsgebende mentale Inhalte. Umgekehrt gäbe es aber auch keine Inhalte und auch keine inhaltlich korrekten (oder inkorrekten) theoretischen und praktischen Schlüsse, wenn es keine kausal verknüpften mentale Akte oder Ereignisse gäbe. Ähnlich auch Rosenberg, ein ausgezeichneter Sellars-Kenner:

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4 Gründe als Ursachen: eine erste Annäherung

"Der wesentliche Punkt dabei ist, dass die Gedankenepisoden, welche die Absichten und Entschlüsse einer Person ausmachen, nicht den intentionalen Gehalt hätten, den sie als Repräsentationen haben, wenn sie nicht die kausale Wirksamkeit erlangt hätten, die sie als Ereignisse haben» (Rosenberg 2000, 651).

Inhalt und Akt bedingen also wechselseitig. Die Henne-oder-Ei-Frage ist also hier nicht anwendbar. Damit ergeben sich insgesamt vier Fälle: (i)

Gedankeninhalt A impliziert Gedankeninhalt B und dem Gedankenakt mit dem Inhalt A folgt kausal der Gedankenakt mit dem Inhalt B.

(ii)

Gedankeninhalt A impliziert nicht GedankeninhaltBund dem Gedankenakt mit dem Inhalt A folgt nicht kausal der Gedankenakt mit dem Inhalt B.

(iii)

Gedankeninhalt A impliziert Gedankeninhalt B und dem Gedankenakt mit dem Inhalt A folgt nicht kausal der Gedankenakt mit dem Inhalt B.

(iv)

Gedankeninhalt A impliziert nicht Gedankeninhalt B und dem Gedankenakt mit dem Inhalt A folgt kausal der Gedankenakt mit dem Inhalt B.

Wie sind diese Fälle zu erklären? Fall (i) ist sozusagen der NormalfalL Denn die (beispielsweise) logische Verbindung zwischen den propositionalen Inhalten A und B ist bei der betreffenden Person kausal realisiert. Sie wird daher auf den Gedanken mit dem Inhalt A mit einem Gedanken mit dem Inhalt B reagieren. Oder anders gesagt: Die Person reagiert rationaL Gleiches gilt für den Fall (ii). Hier besteht keine logische Verbindung zwischen A und B. Sie ist deshalb auf der Aktebene auch nicht kausal realisiert, sodass die betreffende Person nicht automatisch den Gedanken B hat, wenn sie den Gedanken A hat. Fall (iii) beschreibt den Fall der fehlenden kausalen Realisierung auf der Aktebene. Daher wird die hiervon betroffene Person nicht von A auf B schließen, obgleich B mit logischer Notwendigkeit aus A folgt. Fall (iv) ist der Fall der Irrationalität. Denn obgleich auf der propositionalen Ebene keine Verbindung zwischen A und B besteht, ist eine solche Verbindung auf der Aktebene kausal realisiert. Folglich wird eine davon betroffene Person von einem Gedanken mit dem Inhalt A immer irrational auf einen Gedanken mit dem Inhalt B folgern. Nach diesen systematischen Überlegungen zu Gedankenübergängen können nun diese Überlegungen auf handlungstheoretische Fragestellungen übertragen werden. Es -wurde nachgewiesen, dass Gedankenakte als Träger oder Vehikel ihrer Gedankeninhalte interpretiert werden können. Des Weiteren -wurde festgestellt: Die Ebene der Inhalte unterliegt der Ordnung der Gründe (order of reasons). Die Ebene

329

Kapitel VII Können Gründe Ursachen sein?

der Akte untersteht der Ordnung der Ursachen (order of causes) und damit den Gesetzen der Kausalität. Dies ermöglicht Handlungen aus zwei kategorial unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, zu beschreiben und zu erklären, nämlich aus der Perspektive der Gründe und aus der Perspektive der Kausalität. Wie oben bereits begründet, eröffnet die kausale Perspektive aber nur einen Blick auf die handlungsimmanente Körperbewegung, wohingegen die inhaltliche Perspektive den Blick auf den Handlungsinhalt und somit auf den Handlungsgrun~ eröffnet. Die inhaltliche Perspektive entfaltet aber auch den Handlungshintergrund, nämlich Konventionen, Normen, Standards und soziale Praktiken, die den Grund der Handlung maßgeblich mitbestimmen (Kap. X). Der durch die kategoriale Trennung mentaler Inhalte und mentaler Akte begründete perspektivische Blick auf menschliche Handlungen, korrespondiert in gewissen Grenzen mit der manifesten und wissenschaftlichen Perspektive auf die Welt im Allgemeinen und auf menschliche Handlungen im Besonderen (Kap. VIII). Dieser Perspektivismus bestimmt zugleich zwei der wesentlichen Ziele der Philosophie Sellars'. Erstens die Analyse dieser Perspektiven und zweitens ihre synoptische Vereinigung. Aus handlungstheoretischer Sicht bedeutet dieses Ziel, die Bedingungen der Möglichkeit von Gründe- und Kausalerklärungen zu analysieren, um dann im zweiten Schritt die Bedingungen der Vereinbarkeit dieser beiden traditionell unversöhnlich gegenüberstehenden Erklärungsarten auszuweisen. Dies gilt auch für das Verhältnis von Absicht und Handlung bzw. von Wille und Handlung. Aufgrund der beiden kategorial unterschiedlichen Perspektiven, nämlich der inhaltlichen und der kausalen, sieht Sellars keinen Widerspruch darin, dass Wille und Handlung logisch und zugleich kausal verknüpft sind. Denn die logische Verbindung bezieht sich allein auf den propositionalen Inhalt des Willensaktes, während sich die kausale Verbindung allein auf den Willen als mentales Ereignis oder mentalen Akt bezieht. Seilars widerspricht damit der Ansicht, z.B. derjenigen Meldens, dass logische und kausale Verbindungen einander ausschließen. Nach Meldens Auffassung kann nämlich zwischen einer Ursache (cause) und einer Wirkung (effect) grundsatzlieh keine logische Verbindung bestehen. Denn letztere wäre eine notwendige, wohingegen eine Ursache-Wirkungsrelation stets kontingent ist. Wenn also zwischen Wille und Handlung eine logische Verknüpfung besteht, dann kann folglich der Wille nicht die Ursache der Handlung sein. Der Grund für dieses Missverständnis liegt auf der Hand. Denn er besteht allein darin, dass hier nicht zwischen dem Akt und seinem Inhalt unterschieden wird. Führt man diese Unterscheidung ein, so löst sich das Dilemma auf. Denn die logische Verknüpfung besteht nur zwischen Willensinhalt und Handlungsinhalt (z.B. ein Grüßen) und die kausale Verknüpfung nur zwischen Willensakt und Handlungsereignis (z.B. das Heben des Armes). Die kategoriale Trennung von Akt und Inhalt ermöglicht also auch hier eine Vereinbarkeit zweier bislang unversöhnlich gegenüberstehender Positionen, nämlich die der lntentionalisten und die der Kausalisten.

330

4 Gründe als Ursachen: eine erste Annäherung

Die kausale und inhaltliche Perspektive ermöglichen auch den praktischen Schluss kategorial unterschiedlich zu betrachten, zu beschreiben und zu erklären. Beim praktischen Schluss folgert man nach Seilars von einer Absicht auf eine andere Absicht. Dabei besteht zwischen den Absichtsinhalten eine im weitesten Sinne logische Verbindung, die der Ordnung der Gründe unterliegt. Zwischen den entsprechenden Absichtsakten besteht dagegen eine kausale Verknüpfung, die der Ordnung der Ursachen unterliegt, da Absichtsakte mentale Ereignisse (mental events) sind. Es ist "a paradigm case of causation, the causing of one mental event by another" (AAE §19). Aufgrund dieser dualistischen Trennung von propositionalen Absichtsinhalten einerseits und kausal wirksamen Absichtsakten als (ggf. physikalische) Träger dieser Inhalte andererseits, kann schließlich Seilars hinsichtlich praktischer Schlüsse (practical inferences, practical reasonings) behaupten: "[WJ e should be happy to say that the premise thought of such an inference causes the conclusion thought" (AAE §19).

Bezogen auf die Gründe-Ursachen-Kontroverse folgt aus diesen Überlegungen die handlungstheoretisch bedeutsame These: "[I]t is because practical premises can be causes of practical conclusions that reasons can be causes of actions" (AAE §48; ähnlich auch in FD 149; VR §70f ).

Absichtsprämissen können (can be) die Ursachen von Konklusionsahsichten sein. Warum können sie es sein? Sie können es deswegen sein, weil Absichtsprämissen als mentale Akte oder mentale Ereignisse beschrieben werden können. Als Ursache der Konklusionsahsicht sind sie zugleich, ceteris paribus, auch die Ursache des aus der Konklusionsahsicht resultierenden Willensaktes und folglich der aus dem Willensakt kausal resultierenden Handlung. 10 Absichtsprämissen können aber auch die Gründe von Konklusionsahsichten sein. Warum können sie es sein? Sie können es deswegen sein, weil Absichtsprämissen als Absichtsinhalte beschrieben werden können. Als Grund des Inhalts der Konklusionsahsicht sind sie zugleich auch der Grund des aus dem Inhalt der Konklusionsahsicht resultierenden Inhalts des Willens und folglich der aus diesem Willensinhalt intentional resultierenden Handlung. Zwischen Prämissenabsicht und Handlung besteht also je nach Betrachtungsperspektive eine Kausalkette (Ursache-Wirkungskette) oder eine Gründekette (Grund-Folgekette). Insgesamt stellt sich die Kette somit wie folgt dar:

Jo

Dieses Ergebnis ist eine Implikation der Handlungstheorie Sellars'. Sie berücksichtigt noch nicht die oben begründete Korrektur seiner Handlungstheorie. Im Sinne dieser Korrektur verursacht der Willensakt nicht die Handlung, sondern allein die zur Handlung gehörende Körperbewegung.

331

Kapitel VII Können Gründe Ursachen sein?

"I shall bring about X. Bringing about X implies doing Y in ten minutes. So, I shall do Y in ten minutes; where, given that the child has acquired the ability to 'tell time,' to ascribe to him a candid saying or proximate disposition to say: 'I shall do Y in ten minutes' is to imply that, ceteris paribus, this thought will be succeeded by:

I shall do Y in nine minutes. I shall do Y in eight rninutes.

I shall now do Y. To put it blundy, to say that Jones did Y in order to bring about X, is to say that he went through sornething like the above practical reasoning. It is in this sensethat the '-:I

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Manifestes Weltbild

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Bild 8.1: Der Trialismus der Erklärungsperspektiven (FP: Fundamentalprinzip gemäß Kap. IV und V)

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~ ;Der Begriff des Weltbildes ist ein unscharfer Begriff. Dies zeigt sich auch bei ~i§ellars, der diesen Begriff mit einer Vielzahl anderer und zum Teil synonymer Be!!;)griffe zu umschreiben versucht. So verwendet er allein in seinem Werk Philosophy ~i,and the Scientific Image of Man (PSIM) neben den Bildbegriffen "pictures" und ~~';,images" auch den Begriff der Projektion ("projections of man-in-the-world"), den ) der Konzeption ("conception") und vor allem den der Perspektive. Häufig verwenKdet er zudem den Begriff des ,,frameworks" oder "conceptual frameworks", die im Sinne Sellars' mit begrifflicher Rahmen, Begriffsgefüge, Begriffssystem oder konzeptueller Rahmen zu übersetzen sind. Die Unschärfe des Weltbildbegriffes gründet auch auf der inhärenten Mehrdeutigkeit des Bildbegriffes. So weist Seilars in PSIM darauf hin, dass man stets mit zwei existierenden Bildern (images) konfrontiert ist: einerseits mit Abbildern, also mit Bildern, die ein Objekt abbilden (image of an object) und andererseits mit Vorstel!ungsbildern, die wiedergeben, wie man sich bestimmte Dinge vorstellt (things imaged). Drittens steht der Bildbegriff auch als Metapher für eine von uns selbst erstellte oder entworfene Konstruktion oder Konzeption (metaphor for conception). Weltbilder und weltanschauliche Positionen sind im Allgemeinen durch Relativität und zufällige Partikularität geprägt. Sie stehen, da sie auf unterschiedlichen und häufig widersprüchlichen Wahrheitsansprüchen, Rechtfertigungsansprüchen, Begründungsansprüchen oder Vorstellungen gründen, untereinander in Konkurrenz. In modernen, pluralistischen Gesellschaften konkurrieren Weltbilder unterschiedlichster Art. Dazu gehören mystische, kosmologische und religiöse Weltbilder, die offenbart oder historisch bedingt sind, sowie metaphysische, ideologische und szientistisch-naturalistische Weltdeutungen. Sie alle basieren zumeist auf Vorstellungen, Überzeugungen oder Spekulationen von Individuen oder Gruppen. Sie sind kulturell bedingt und wandeln sich im Laufe der Geschichte. Weltanschauliche Positionen sind ergo partikulär, zufällig, divergent und von eingeschränkter Geltung. Sie sind folglich nicht verallgemeinerbar und damit hinsichtlich ihrer Relevanzansprüche nicht jedermann zumutbar. 2 Auch aus Sellars' Sicht stehen Weltbilder untereinander in Konkurrenz und unterliegen dem historischen und kulturellen Wandel. Dennoch findet sich in seinen Werken nicht die soeben aufgeführte Vielfalt partikulärer Weltbilder, die von religiösen bis hin zu individuellen und spekulativen Weltanschauungen reicht. Sellars unterscheidet, neben dem Urbild unserer frühgeschichtlichen V erfahren, nur zwei Weltbilder, nämlich das manifeste Weltbild (manifest image) und das wissenschaftAufgrund der Relativität und zufälligen Partikularität ihrer Geltung, sollten daher weltanschauliche Positionen und Überzeugungen in Fragen der Handlungsorientierung nicht das letzte Wort haben.

371

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

liehe Weltbild (scientific image). Der Grund hierfür ist, dass es Seilars primaruna. die Erklärungsleistung der Weltbilder hinsichtlich beobachtbarer Phänomene ~ um die rationale Rechtfertigung dieser Erklärungen geht. Und in dieser Hinsicht unterscheidet sich vor allem das wissenschaftliche bzw. szientistisch-na.turalistiscli~· Weltbild von allen anderen Weltbildern. Indem er seine Untersuchung auf rationa.~· le, verallgemeinerbare, intersubjektiv überprüfbare und methodisch gewonnene~ Erklärungen beobachtbarer Phänomene begrenzt, fallen religiöse, dogmatische Wl(' ideologischeWeltbilderebenso aus seiner Analyse heraus, wie partikuläre Weltdeu-_ tungen von Individuen und Gruppen. Sellars untersucht also ausschließlich Welt- · bilder, die gleichermaßen öffentlich (equally public) und gleichermaßen nicht :lU~ : fällig (equally non-arbitrary) sind. Und diese Bedingungen erfüllen allein das wis- '· senschaftliehe und manifeste Weltbild. ~

1

2 WELTBILD UND PHILOSOPHIE

"1 -,

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Da Weltbilder den Anspruch erheben, das Dasein des Menschen zu erfassen, sind 1 sie zugleich ein primärer Gegenstand der Philosophie. Sie sind "objects of philoso- ·'·; phical reflections and evaluation" (P~IM 5). Das Ziel der Philosophie ist nach Sel- " lars ein einheitliches Bild des Menschen in der Welt. Was sie aber vorfindet sind zwei Bilder, die beide gleichermaßen komplex sind, nämlich das manifeste und das wissenschaftliche Weltbild. BeideBilder geben ein vollständiges Bild des Menschen ! in der Welt, des "man-in-the-world" (PSIM 5ff) wieder. Die Philosophie muss '~ beide Bilder getrennt kritisch untersuchen. Ihr Ziel muss aber sein, beide Bilder zu ~j einem einzigen Bild (one vision) zu verschmelzen. Diese Zusammenführung beider Bilder kann im Sinne eines Stereobildes einer Landschaft gedacht werden. In einem solchen Stereobild werden zwei unterschiedliche Perspektiven einer Landschaft zu einem einzigen kohärenten Bild (coherent experience) vereint. "Here the most appropriate analogy is stereoscopic vision, where the two differing perspectives on a Iandscape are fused into one coherent experience. [...] Let me refer to these two perspectives, respectively, as themanifestand the scientific images of man-in-

the-world" (PS IM 4f).

Die Aufgabe der Philosophie hinsichtlich der beiden sich ergänzenden und zugleich konkurrierenden Perspektiven besteht somit primär in der Beantwortung der Frage: In welchem Ausmaß und in welchem Sinne überlebt das manifeste Weltbild den Versuch, es mit dem wissenschaftlichen Weltbild zu vereinen? Im Folgenden wird nun zunächst dem Vorschlag Sellars' gefolgt, beide Weltbilder oder Perspektiven erst einmal getrennt zu betrachten.

372

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3 Das manifeste Weltbild

3 DASMANIFESTEWELTBILD

~&?Das manifeste Weltbild ist in zweierlei Hinsicht ein "refinement or sophistication"

ii;(PSIM 7) des Urbildes (original image). Zum einen ist es eine kategoriale Verfeinefurirung, da es entgegen dem Urbild zwischen unbeseelten und beseelten Objekten ~~rdifferenziert, und zum anderen eine empirische Präzisierung, da es feinere Metho~~ den der empirischen Erklärung anwendet, wie beispielsweise die Induktion. Gegen~~wärtig sieht sich das manifeste Weltbild selbst mit einer kategorialen und empiri~' sehen Verfeinerung konfrontiert, nämlich durch das zunehmend erstarkende ~,; wissenschaftliche Weltbild. In diesem Abschnitt werden daher primär diejenigen '' Attribute des manifesten Weltbildes herausgearbeitet, die es gegenüber dem \:. Es sollen adber ausgeWiesen un 1ssverstan 1sse o en ge1egt wer en. as a et wo artnackigste Missverständnis ist die Ansicht, dass es sich beim manifesten Weltbild um eine naive, unkritische, theoriefreie und vorwissenschaftliche Konzeption handelt.

wissens_chaftlichdenM~eltbil~ adnus~eichnffen.

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3.1 CHARAKTERISTIKA DES MANIFESTEN WELTBILDES Im manifesten Weltbild sind die vielfältigen Dinge, die uns umgeben, offensichtlich, beobachtbar und wahrnehmbar. Zu diesen Dingen gehören leblose Objekte ebenso wie Tiere und Menschen. Aber auch das Verhalten von Personen und ihre absichtlichen Handlungen gehören zu denjenigen Dingen, die uns das manifeste Weltbild mittels unserer Wahrnehmungsfähigkeit offenbart oder manifestiert. Die Gegenüberstellung des manifesten und wissenschaftlichen Weltbildes legt den Schluss nahe, dass es sich beim manifesten Weltbild um ein einfaches, rudimentäres Bild handelt, das nichtwissenschaftlich oder vorwissenschaftlich ist und sich folglich auch-keinen Theorien zu Erklärungszwecken bedient. Doch dieser Schluss ist falsch. Denn der Unterschied zwischen dem manifesten und dem wissenschaftlichen Weltbild ist weder durch die Gegenüberstellung von unwissenschaftlich versus wissenschaftlich charakterisiert noch durch die Gegenüberstellung von untheoretisch versus theoretisch. Vielmehr ist auch das manifeste Weltbild, wie noch zu begründen ist, im gewissen Sinne wissenschaftlich und theoretisch. "[T]he manifest image is [...] itself a scientific image" (PSIM 7).

Der Unterschied beider Weltbilder liegt stattdessen, so lassen Sellars' Ausführungen in seinem Werk PSIM vermuten, in der Methode der Erklärung. Während im manifesten Weltbild Erklärungen aus Beobachtung, Korrelation und Induktion gewonnen werden, verwendet das wissenschaftlicheWeh bild postulierte, theoreti-

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

sehe und vorerst unbeobachtbare Entitäten, um das Verhalten beobachtbarer Dinge oder Phänomene zu erklären. "It [jhf: das manifeste Weltbild] is not only disciplined and critical; it also makes use of those aspects of scientific method which might be lumped together under the heading 'correlational induction'. There is, however, one type of scientific reasoning which it, by stipulation, does not include, namely that which involves the postulation of imperceptible entities, and principles pertaining to them, to explain the behaviour of perceptible things" (PSIM 7).

Der Unterschied zwischen dem manifesten und wissenschaftlichen Weltbild besteht also darin, dass allein im letzteren theoretische Entitäten zu Erklärungszwecken postuliert werden. Dieser Unterschied ist kein natürlicher, sonder11 einer, der auf Konvention oder Stipulation beruht. Eine andere als stipulative Differenzierung ist auch nicht möglich, weil beide Weltbilder keine realen Bilder oder Abbilder der Welt sind, sondern durch den Menschen selbst gebildete Idealisierungen oder Konzeptionen. "They are both 'idealizations"' (PSIM 5). Als geistige Produkte des Menschen obliegt es also ihnen, die Differenzierung stipulativ festzusetzen. Das in PSIM stipulariv festgelegte Kriterium der Unterscheidung beider Weltbilder ist die Postulierung theoretischer Entitäten. Doch dies stößt innerhalb des Gesamtwerkes Sellars' auf Widersprüche (vgl. Quante 2006, 10, FN 7). Denn auch im manifesten Weltbild gibt es postulierte theoretische Entitäten. Denn mit dem Ziel, eine Theorie der Gedanken zu entwickeln, werden in diesem Weltbild gleichfalls zu Erklärungszwecken und zur Modellbildung theoretische Entitäten postuliert, nämlich Gedankenepisoden, -akte oder -prozesse. "Perhaps the most important pointisthat what the theory postu!ates in the way of new entities are processes and acts rather than individuals. In this sense, it remains in the manifest image" (SK 329).

Es werden folglich auch im manifesten Weltbild theoretische Entitäten postuliert und nicht nur im wissenschaftlichen. So werden beispielsweise Gedankenakte postuliert, um Dispositionen und Neigungen zu bestimmten Gedanken, Üherzeugungen und Absichten und folglich auch zu bestimmten Handlungen zu erklären (Kap. VI). Im strengen Sinne sind auch Dispositionen bereits theoretische Entitäten, die postuliert werden, um zu erklären, wie es zu gewissen Wahrnehmungen, Inferenzen und Handlungen kommt. In Kapitel VI wurde gezeigt, wie auf diese Weise bereits im manifesten Weltbild ein Stufenmodell der Erklärung entsteht, das sich von Stufe zu Stufe durch eine zunehmende Erklärungstiefe auszeichnet. Das Kriterium postulierter theoretischer Entitäten; das Seilars in PSIM stipulativ festsetzt, kann also nicht allein als Unterscheidungskriterium für das manifeste und wissen-

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3 Das manifeste Weltbild

schaftliehe Weltbild fungieren. Die Differenz ist eine andere. Doch welche ist es? Die Antwort gibt bereits das obige Zitat. Dort heißt es sinngemäß: Die im manifesten Weltbild postulierten theoretischen Gedankenakte oder -prozesse sind zwar neue Entitäten, aber keine Individuen. Gleich im Anschluss an das obige Zitat wird Sellars deutlicher: "Persons remain the basic individuals of the system" {a.a.O.).

Unter System ist hier das Begriffssystem oder Begriffsgefüge des manifesten Weltbildes zu verstehen. Die gesuchte Differenz besteht also darin, dass durch die Postulierung theoretischer Entitäten im manifesten Weltbild die Person als Einheit oder als "basic individual" nicht entzweit wird, sondern erhalten bleibt, während dies im szientistischen Weltbild nicht mehr der Fall ist. Wie ist dies zu verstehen? Seilars vergleicht den Begriff des "basic individual", den man mit Basiselement, Basiseinheit oder Basisindividuum übersetzen sollte, mit dem Begriff der Substanz. Ein Basisindividuum gründet also, ähnlich wie eine Substanz, nicht auf anderen Substanzen oder anderen Basiselementen. Demgegenüber steht das reduzierbare Individuum, das in Teile oder Basisindividuen zerlegbar ist. Personen sind im manifesten Weltbild Basisindividuen und als solche nicht in Teile zerlegbar. In diesem Sinne ist auch Sellars' Verweis auf Aristoteles zu verstehen: "lt should be clear that I regard Aristotle as the philosopher of the Manifest Image" (SK 303).

Die Postulierung neuer theoretischer Entitäten ist also im manifesten Weltbild nur dann zulässig, wenn dadurch der Status der Person als Basisindividuum nicht verletzt wird. Doch Personen sind nicht die einzigen Basiselemente, denn auch "some physical objects are basic individuals" (SK 301), z.B. die von Seilars gleichfalls genannten mikrophysikalischen Teilchen. Damit entsteht aber ein Dilemma. Denn auch Personen bestehen zweifelsfrei aus solchen mikrophysikalischen Objekten. Folglich besteht eine Person aus Teilen und kann damit kein Basisindividuum sein. Wie ist dieses Dilemma zu lösen? Das Dilemma entsteht dadurch, dass Personen und ihre Handlungen aus zwei kategorial verschiedenen Perspektiven betrachtet werden können, nämlich aus der des manifesten und des wissenschaftlichen Weltbildes. Folglich gibt es zwei divergierende Bilder von Personen und ihren Handlungen. Beide Bilder beschreiben den Menschen in einem jeweils anderen Begriffssystem, von denen aber jedes für sich ein kohärentes System darstellt. Auch das manifeste Weltbild ist ein kohärentes, konsistentes System, das zur Erklärung beobachtbarer Phänomene, zum Beispiel des menschlichen Handelns, erfolgreich

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

herangezogen werden kann, auch wenn es vielleicht nicht die Erklärungstiefe beanspruchen kann, wie das wissenschaftliche Weltbild.> "But though I am indeed a Scientific Realist, and think that the domain of basic individuals consists of those which scientific theory will 'in the long run' find it necessary to postulate, I also regard the conceptual framework [jhf: das manifeste Weltbild] in terms of which man experienced hirnself and the world long before the revolution in physics was even a twinkle in the eye of Democritus, as a coherent" {SK 301).

Dies bedeutet, dass man sich weiterhin des bewährten manifesten Weltbildes bedienen und Personen als Basisindividuen betrachten kann, obgleich man weiß, dass aus wissenschaftlicher Perspektive Personen aus physikalischen Teilchen bestehen. Die Behauptung, dass "(i]n the Manifest Image, a person is a basic individual" (SK 303)

kann folglich aufrechterhalten werden, sofern man sich mit seinen Erklärungen allein im manifesten Weltbild bewegt. Sellars' Stipulation "I shall also stipulate that persons are basic individuals" (SK 301) ist also einzugrenzen und wie folgt zu präzisieren: I shall also stipulate that persons are basic individuals in the manifest image only. Es ist folglich möglich, auch im manifesten Weltbild theoretische Gedankenentitäten, wie Gedankenzustände, zu Erklärungszwecken zu postulieren, solange dadurch die Einheit der Person nicht gefährdet wird. Erst wenn man Gedankenzustände nicht mehr als Zustände begreift, in der sich eine Person als Ganzes befindet, sondern als neuronale Zustände in der Person, gibt man die Einheit der Person auf und wechselt kategorial vom manifesten zum wissenschaftlichen Weltbild. Die Differenz beider Weltbilder ist somit zusammenfassend die folgende: Tm manifesten Weltbild sind Personen unteilbare Basisindividuen. Tm wissenschaftlichen Weltbild sind Personen aus Teilen bestehende Objekte. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit Sellars' philosophischem Gesamtwerk und hebt die Widersprüche, die zwischen einzelnen seinerWerke bestehen, auf. Damit bleibt die Frage, welches Bild entsteht, wenn man Personen und ihr Handeln aus einer gemeinsamen stereoskopischen Perspektive betrachtet. Diese Frage kann aus heutiger Sicht nicht beantwortet werden, da ihre Antwort eine genaue Kenntnis beider Perspektiven und ihrer Wechselbeziehungen erfordert. Eine solche Kenntnis hat man aber gegenwärtig weder vom manifesten noch vom wissenschaftlichen Weltbild. Hinsichdich des letztgenannten ist eine derartige Kenntnis sogar erst in Wie bereits begründet wurde, geht eine gesteigerte Erklärungstiefe nicht notwendig mit einer besseren oder adäquateren Erklärung einher.

376

3 Das manifeste Weltbild

Zukunft, in the long run, zu erwarten, da es selbst erst am Beginn seiner Entwicklung steht. Da das wissenschaftliche Weltbild zudem aus dem manifesten hervorgeht, so wie dieses bereits aus dem anthropomorphen Urbild historisch hervorging, stellt sich zudem die Frage, ob und inwieweit das manifeste Weltbild einen Einfluss auf das wissenschaftliche Weltbild ausübt und vice versa. Doch hierzu muss man erst das manifeste Weltbild als solches in vollem Maße ausschöpfen. "Its coherence as a conceptual framework must be fully savored before one turns to the problern of assessing the impact on this Image of the scientific revolution" (SK 331).

Das manifeste Weltbild ist der Rahmen (framework), in dem der Mensch sich seiner Selbst als Mensch bewusst und damit allererst zum Mensch wird. Im manifesten Weltbild erfährt und begreift er sich selbst als Mensch-in-der-Welt, als "manin-the-world". Er erlangt damit einen Begriff von dem, was es heißt, ein Mensch zu sein. Das manifeste Weltbild ist folglich der Rahmen des menschlichen Selbstverständnisses bzw. der Rahmen, in dem der Mensch allererst sein Selbstverständnis entwickelt. Dadurch entsteht ein Paradoxon, nämlich das "paradox of man's encounter with himself" (PSIM 6). Im manifesten Weltbild begegnet (encounter) der Mensch sich selbst. Und erst dadurch, dass er sich selbst begegnet und sich damit allererst als Mensch·in-der-Welt (man-in-the-world) begreift wird er sich des Menschseins bewusst. "[M]an couldn't be man until he encountered himself" (a.a.O.). Seilars folgert daher korrekt, dass das menschliche Selbstverständnis untrennbar an das manifeste Weltbild gebunden ist und nur in diesem überleben

kann. "To the extent that the manifest does not survive in the synoptic view, tothat extent man himselfwould not survive" (PSIM 18).

Das manifeste Weltbild ist durch seine wissenschaftlichen Methoden (induktive und statistische Schlüsse, Korrelationen, Postulierung theoretischer Gedankenentitäten) selbst ein theoriegetränktes, wissenschaftliches Bild. Es ist daher nicht auszuschließen, dass sich dieses Bild, ebenso wie jedes andere theoretische Bild, eines Tages als falsch herausstellt. Als solches ist es dann gegebenenfalls sogar zu verwerfen. "[T]he image itself might have to be rejected [... ] as false" (PSIM 14). Doch dies führt erneut zu einem Dilemma. Denn da das manifeste Weltbild demjenigen Bild entspricht, das der Mensch von sich selbst hat, so würde mit der Beseitigung dieses Bildes zugleich das Selbstverständnis des Menschen verworfen werden. Hieraus folgt, dass der Mensch nicht als Mensch überlebt, wenn das manifeste Weltbild nicht überlebt. Dies deutet bereits auf einen noch näher zu bestimmenden Kern hin, der sich nicht auf das wissenschaftliche Weltbild reduzieren lässt (siehe unten).

377

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

3.2 HANDLUNGEN IM MANIFESTEN WELTBILD Es ist gegenüber den leblosen Dingen ein Spezifikum von Personen, dass sie handeln. Personen und ihre Handlungen bilden daher auch das primäre Objekt des manifesten Weltbildes. "For when I say that the objects of the manifest image are primarily persons, I am implying that what the objects of this framework, primarily are and do, is what persons are and do" (PSIM 11). Was jedoch Personen tun, ist, sofern sie es überlegt tun, wesentlich durch ihre Absichten und Überzeugungen bestimmt. Absichtliche Handlungen resultieren daher zumeist aus Handlungsüberlegungen (practical reasonings), in denen Absichten und Überzeugungen mit der beabsichtigten Handlung in Verbindung gebracht werden. All dies geschieht aus dem Blick des manifesten Weltbildes zunächst auf der Inhaltsebene der Gedanken, Absichten und Überzeugungen und damit im Raum der Gründe. Fragt man den Handelnden, warum er so und nicht anders gehandelt hat, so wird er seine Handlung mit Rekurs auf seine Handlungsüberlegung rechtfertigen oder begründen. Auch dies geschieht aus der Perspektive des manifesten Weltbildes ausschließlich auf der Inhalts ebene. (i)

Die Inhaltsebene der Gedanken liegt im Raum der Gründe. Sie allein ermöglicht Handlungen zu rechtfertigen, zu begründen und mit Rekurs auf Absichten und Gründe zu erklären.

Sellars' Terminologie des manifesten Weltbildes scheint auf den ersten Blick aber auch die Möglichkeit zu eröffnen, Handlungen kausal zu erklären und zwar in der Ebene der postulierten, theoretischen Gedanken-, Absichts- und Überzeugungsakte und damit im Raum der Ursachen. Doch dieser Anschein trügt und, wie bereits nachgewiesen wurde (Kap. VII), lässt sich auch Seilars durch ihn fehlleiten. Denn seine Handlungstheorie impliziert: (ii)

Die Aktebene der Gedanken liegt im Raum der Ursachen. Sie ermöglicht Handlungen mit Rekurs auf mentale Handlungsursachen kausal zu erklären.

Sellars versucht folglich durch die Trennung von Inhalt und Akt bereits im manifesten Weltbild die Möglichkeit von Gründe- und Kausalerklärungen von Handlungen zu beweisen. Er begründet korrekt, dass beide Erklärungsweisen nicht aufeinander reduzibel sind, da mentale Inhalte nicht auf mentale Akte und der Raum der Gründe nicht auf den Raum der Ursachen reduziert werden können (siehe unten). Er irrt aber darin, dass auch Kausalerklärungen das Vermögen haben, Handlungen zu erklären, obgleich Kausalrelationen nur zwischen Ereignissen bestehen.

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3 Das manifeste Weltbild

Kausalerklärungen vermögen allein das Ereignis der handlungsimmanenten Körperbewegung zu erklären, die im Kapitel VII unter dem Begriff des Handlungsereignisses subsumiert wurde, nicht aber die Handlung, die neben dem kausalen auch ein inhaltliches Moment aufweist. Die obige Implikation (ii) ist daher wie folgt zu korrigieren: (ii')

Die Aktebene der Gedanken liegt im Raum der Ursachen. Sie ermöglicht Handlungsereignisse, wie handlungsimmanente Körperbewegungen, mit Rekurs auf ursächliche mentale Ereignisse kausal zu erklären. Sie ermöglicht aber keine Handlungserklärung. 4

Seilars zeigt nicht, auch nicht exemplarisch, wie Gründe- und Kausalerklärungen zu konzipieren sind. Damit lässt er auch die brisante Frage offen, ob es psychologische Gesetze gibt, welche die kausalen Handlungserklärungen des manifesten Weltbildes stützen. Da Seilars den Wissenschaften vertraut, eines Tages die Existenzweise seiner bloß postulierten Gedankenakte zu ermitteln, ist für ihn diese Frage auch ohne Relevanz. Denn mit der Entdeckung der Ontologie dieser Akte, beispielsweise als neuronale Prozesse, werden diese mentalen Akte und damit psychologische Gesetze ohnehin obsolet. Dies gilt wohlgemerkt nicht für die mentalen Inhalte, sondern nur für die mentalen Akte als Träger dieser Inhalte. Sobald die Existenzweise der mentalen Akte entdeckt ist, obliegt es den Wissenschaften die dazu adäquaten Gesetze zu ermitteln, die dann allerdings keine psychologischen Gesetze mehr sind, sondern im weitesten Sinne naturwissenschaftliche Gesetze.

3.3 DIE THEORIE-THEORIE Es wurde begründet, dass manifestes und wissenschaftliches Weltbild sich nicht

darin unterscheiden, dass letzteres ein theoretisches und ersteres kein theoretisches Weltbild ist. Denn auch das manifeste Weltbild ist bereits ein theoretisches, da es Trotz des Nachweises des Sellarsschen Irrtums, der sich als Irrtum der kausalen Handlungstheorie im Allgemeinen erweist, wird im weiteren Fortgang dieser Arbeit dennoch der Begriff der kausalen Handlungserklärung genutzt, da er ein etablierter terminus technicus der kausalen Handlungstheorie ist, die auch Seilars verteidigt. Aufgrund des ausgewiesenen Irrtums ist dieser Terminus zwar missverständlich (im strengen Sinne sogar falsch), weil Kausalerklärungen keine Handlungen, sondern bloß handlungsimmanente Körperbewegungen erklären. Die Elimination dieses etablierten Fachbegriffes würde aber vermutlich die Missverständnisse noch vergrößern. Wenn im Folgenden also der Begriff der kausalen Handlungserklärung weiterhin genutzt wird, so möge sich der Leser daran erinnern, dass kausale Handlungserklärungen bloß das kausale Moment der Handlung zu erklären vermögen, also die zur Handlung gehörende Körperbewegung, nicht aber das handlungskonstitutive inhaltliche Moment und somit die Handlung als solche.

379

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

Gedanken wie Überzeugungen, Absichten und Wünsche als theoretische, unbeobachtbare Entitäten zu Erklärungszwecken und zur Modellbildung postuliert. Es sind folglich nicht allein die Wissenschaftler, die theoretische Entitäten zu Erklärungszwecken verwenden. Vielmehr sind alle Personen per se Theoretiker oder Wissenschaftler, da sie alle bereits in ihrer alltäglichen Sprache die genannten theoretischen Gedankenentitäten fortwährend nutzen. Diese Behauptung, die unter der Bezeichnung Theorie-Theorie bekannt ist, findet ihren Ausgangspunkt bei Sellars. Es ist die Theorie, dass alle Menschen immer schon Theorien verwenden, um beispielweise das Verhalten oder die Handlungen Anderer zu erklären. Das manifeste Weltbild beinhaltet also eine inhärente Alltagstheorie (folk theory). Da seine theoretischen Entitäten Gedanken, Überzeugungen, Absichten und Wünsche sind, also mentale oder psychologische Entitäten, wird diese Alltagstheorie auch als Alltagspsychologie (folk psychology) bezeichnet. 5 Durch sie wird das manifeste Weltbild ein theoretisches und der Alltagspsychologe ein Wissenschaftler. Die Alltagspsychologie ist eine Wissenschaft im manifesten Weltbild. Die Theoretizität des manifesten Weltbildes gründet aber nicht allein auf der Tatsache, dass es mit theoretischen mentalen Entitäten operiert. Denn auch ohne diese ist es bereits theoriegetränkt. Der Grund hierfür ist, dass bereits die Sprache und ihre Begriffe, die in den mentalen Inhalten zum Ausdruck kommen und mit denen theoretische und praktische Erkenntnisse oder Schlüsse formuliert werden, per se den Charakter einer Theorie haben. Somit begründet bereits die immanent theoriegetränkte Sprache das manifeste Weltbild als ein theoretisches. Als solches ist es grundsätzlich einer potentiellen Falsifikation ausgesetzt. Sollte sich die Alltagstheorie als falsch herausstellen, so impliziert dies aber nicht notwendig die Falschheit der Alltagstheorie als Ganzes. Es muss in diesem Fall geprüft werden, ob sie wahre Elemente beinhaltet, die nicht voreilig eliminiert werden sollten. Diese Prüfung vernachlässigt beispielsweise der Eliminativismus, der die Alltagstheorie als pauschal falsch behauptet und als Ganzes zu eliminieren beansprucht (siehe unten).

4 DAS SZIENTISTISCHE WELTBILD Im Gegensatz zum manifesten Weltbild ist das wissenschaftliche oder szientistische Weltbild (scientific image) eines, das noch im Entstehen begriffen ist. Es ist "still in the process of coming to be" (PSIM 19). In diesem Abschnitt werden die besonderen Merkmale des szientistischen Weltbildes aufgezeigt, um damit die bereits im vorigen Abschnitt begonnene kritische Untersuchung des Verhältnisses beider Weltbilder fortzusetzen und zu vertiefen. Siehe u.a. Nichols 2002, Stich/Nichols 2003 und Stich/Ravenscroft 1993.

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4 Das szientistische Weltbild

4.1 CHARAKTERISTIKA DES SZIENTISTISCHEN WELTBILDES Das wissenschaftliche Weltbild zeichnet sich durch sein dialektisches Verhältnis zum manifesten Weltbild aus. So werden im wissenschaftlichen Weltbild Theorien entwickelt, um bekannte Zusammenhänge oder Korrelationen des manifesten Weltbildes zu erklären, was sodann wiederum neue Zusammenhänge im manifesten Weltbild erkennen lässt. "[M]any of the latter correlations were suggested by theories introduced to explain previously established correlations" (PSIM 19). Zwischen dem manifesten und wissenschaftlichenWeltbildbesteht also ein dialektisches Zusammenspiel ("dialectical interplay") und zwar in dem Sinne, dass beide sich gegenseitig befruchten und so ihr jeweiliges Erklärungspotential bereichern. Nach Seilars ist es insbesondere ein Zusammenspiel "between correlational and postulational procedures" (PSIM 19). Daher bezeichnet er auch das wissenschaftliche Weltbild als "'postulational' or 'theoretical' image" (PSIM 7). Doch dies ist, wie oben nachgewiesen wurde, missverständlich, da auch im manifesten Weltbild neue Entitäten zu Erklärungszwecken und zur Theorie- und Modellbildung postuliert werden. Es ist ebenso ein Irrtum anzunehmen, dass das manifeste Weltbild ein bereits fertiges, abgeschlossenes Weltbild ist, das sich nicht weiter entwickelt oder verändert, während sich das wissenschaftliche Weltbild, bedingt durch den wissenschaftlichen Fortschritt, ständig fortentwickelt. Vielmehr erfährt auch das manifesteWeltbilddurch die Wechselbeziehung beider Weltbilder eine anhaltende Fortentwicklung. Weiterhin ist es ein Irrtum anzunehmen, dass es nur ein wissenschaftliches Weltbild gibt. Es gibt nicht das wissenschaftliche Bild des Menschen-in-der-Welt, sondern viele. So konzipiert jede Wissenschaft ihr eigenes fachspezifisches Bild vom Menschen-in-der-Welt, seinem Verhalten und Handeln. Es gibt ergo ebenso viele "images as there are sciences which touch on aspects of human behaviour. There are as many scientific images of man as there are sciences which have something to say about man" (PSIM 20). Hierzu gehören u.a. die Physik, die Biochemie, die Psychologie und die Sozialwissenschaften. Es muss, so Sellars, das Ziel der Wissenschaft sein, die divergierenden Bilder dieser Einzelwissenschaften zu einem einzigen wissenschaftlichen Bild zu vereinen. Das Ziel ist also eine "integration of a manifold of images" (a.a.O.). Jedes einzelwissenschaftliche Bild findet aufgrund des oben genannten dialektischen Zusammenspiels seine Unterstützung im manifesten Weltbild, d.h. ,,each of which is supported by the manifest world" (PSIM 20). Da das wissenschaftliche Weltbild dem manifesten historisch folgt, findet es im manifesten Weltbild seine Grundlage. " [E] ach theoretical image is a construction on a foundation provided by the manifest image" (a.a.O.). Das wissenschaftliche

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

Weltbild hat folglich seine Wurzeln im manifesten. Es ist aber dennoch, so wie das manifeste Weltbild, ein kohärentes und vollständiges Bild {complete image) des Menschen-in-der-Welt. ist sogar das zum manifestenWeltbildrivalisierende Bild (rival image). Dennoch kann es das manifeste Weltbild nicht ersetzen, ohne zugleich seine Wurzeln zu zerstören oder sein eigenes Fundament zu verwerfen. "[T]he scientific image cannot replace the manifest without rejecting its own foundation" (PSIM 21). Diese Überlegungen sprechen erneut für eine nicht-reduktionistische Position Sellars'.

4.2 DIE ONTOLOGIE MENTALER EPISODEN Eine Kernfrage des wissenschaftlichen Weltbildes ist: Von welcher Ontologie sind die zu Erklärungszwecken und zum Zwecke der Theorie- und Modellbildung postulierten theoretischen Entitäten? Diese Frage bezieht sich nicht nur auf die im vvissenschaftlichen Weltbild selbst postulierten theoretischen Entitäten, sondern auch auf die bereits im manifesten Weltbild postulierten Gedankenepisoden, -akte oder -zustände. Das manifeste Weltbild ist hinsichtlich dieser theoretischen mentalen Entitäten ontologisch neutral. Nicht jedoch das wissenschaftliche Weltbild, denn es gehört zu seinen primären Aufgaben die Existenzweise theoretischer, unbeobachtbarer Entitäten zu entdecken. Die Kernfrage hinsichdich mentaler Akte lautet daher: Von welcher Existenzweise oder Ontologie sind Gedankenakte? Sellars vertritt innerhalb der Philosophie des Geistes die Position des Funktionalismus. Dieser erklärt Gedanken über kausale Input-Output-Funktionen. Wie diese Funktionen oder die Gedankenzustände realisiert sind, darüber sagt der Funktionalismus nichts. Er ist ontologisch neutral oder, anders gesagt, er lässt eine multiple Realisierung zu. Solange Gedankenzustände ihre spezifische funktionale Rolle ausüben, ist es gleichgültig ob sie mechanisch, physikalisch, biologisch, chemisch, neurophysiologisch oder als Computerprogramm realisiert sind. Prinzipiell können sie im Sinne des Funktionalismus auch rein geistig realisiert sein. Es ist die Aufgabe der Wissenschaften herauszufinden, wie sie tatsächlich realisiert sind. Die Wissen· schaften haben ergo die Aufgabe, die Ontologie dieser funktionalen Gedankenzustände oder -episoden zu ermitteln. Sie haben die Frage zu beantworten: Was sind die Vehikel der Funktionen? Was sind die Vehikel oderTräger mentaler Inhalte, die ihre Bedeutung über ihre funktionale Rolle in der Sprache erhalten? "Norice chat on the VB model of thinking, we can distinguish dearly between the functional role of utterances and the phonemic description of the linguistic materials which embody or are the 'vehicles' of these functions. It is a most significant fact that the dassical conception of thought as 'inner speech' (Mentalese) draws no such clear distinction between the conceptualf.unctions of the

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4 Das szientistische Weltbild

Mentalesesymbols and the materials which serve as rhe vehicle of these functions. Yet, if the analogy between thinking (... ] and overt linguistic behavior is tobe a reasonably positive one, the idea that there must be inner-linguistic vehicles (materials) would seem tobe a reasonable one. [...] What might the vehicle be?" (SK 321).

Sowohl für wissenschaftliche Realisten, wie Hilary Putnam und Sellars, als auch für Instrumentalisten, wie van Fraassen, Pierre Duhem und Ernst Mach gibt es auf diese Frage eine klare Antwort. Für den Instrumentalisten sind dieseVehikelnichts weiter als theoretische Entitäten oder wissenschaftliche Objekte (scientific objects), die allein als Instrument oder Mittel zu Erklärungszwecken postuliert werden. Es sind also Entitäten, denen in der Realität nichts entspricht. Wissenschaftliche Realisten behaupten darüber hinaus auch die ontologische Existenz dieser Entitäten. Denn die Wissenschaft ist das Maßaller Dinge, derbeobachtbaren und der unbeobachtbaren, der seienden und der nicht seienden. In Analogie zum Homo-Mensura Satz des Protagoras, in dem behauptet wird "der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind" 6 formuliert Sellars: "[I] n the dirnension of describing and explaining the world, science is the measure of all things, of what is that it is, and of what is not that it is not" (EPM 173).

Dies gilt uneingeschränkt auch für die postulierten, theoretischen Gedankenakte, Wahrnehmungsakte und Willensakte. Für Seilars besteht kein Zweifel, dass diese mentalen Akte neurophysiologisch realisiert sind. "Unless one takes a purely instrumental view of scientific objects, both sensing and thinking rnust be correctly located in a context of neurophysiological activity" (SK 318).

Obgleich Seilars von einer realen Existenz der zunächst nur postulierten Gedankenakte oder Gedankenepisoden ausgeht, so warnt er doch vor voreiligen Schlüssen. "The one thing we can be sure of is that we will confronted with new ways of looking at such 'familiar' facts as that neurons 'fire' and electro-chemical irnpulses are transrnitted through networks and around circuits in the central nervous system. Science has already presented us new and subtle categories. I suspect that newer and still rnore subtle categories will be needed to solve the problern of the place of persons in the scientific image of the world. The philosopher can attempt to see the future as in a glass darkly, but essentially his role rnust be the (by no means unfamiliar) one of a midwife. Partofthis rnidwifery will consist in submitring existing categories to critical exarnination» (SK 331). Zitiert nach Platons Theätet.

383

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

Aus diesem Zitat wird besonders deutlich, dass es nicht die Aufgabe der Philosophie ist, die Ontologie der theoretischen Gedankenentitäten zu ermitteln. Die Aufgabe der Philosophie ist die der Reflexion. Hierzu gehört die kritische Auseinandersetzung mit dem was ist, nicht aber der spekulative Blick auf das, was zukünftig sein könnte. Sie hinkt also der Zukunft stets ein Stück hinterher. Seilars geht also konform mit Georg Friedrich Wilhelm Hegel, der die Philosophie mit der Eule von Minerva vergleicht, die ihren Flug erst in der Abenddämmerung beginnt. Die Philosophie kann gleichfalls ihren reflektierenden Flug erst beginnen, wenn die zu reflektierenden und zu analysierenden Dinge zur Vergangenheit geworden sind. Die Aufgabe der Philosophie ist also nicht die der Prognose. Diese Aufgabe ist den Wissenschaften vorbehalten. Die Wissenschaften können versuchen die Ontologie . der bloß postulierten Gedankenentitäten zu bestimmen um damit das manifeste Weltbild in ein wissenschaftliches zu überführen und um es ggf. vollständig zu eliminieren. Doch dabei muss sich auch die Wissenschaft möglicher Fehler bewusst sem. "[S]cience, is rational, not because it has afoundation but because it is a self-correcting enterprise which can putany claim in jeopardy, though not all at once» (EPM 170).

4.3 HANDLUNGEN IM SZIENTISTISCHEN WELTBILD Sellars' philosophische Handlungstheorie ist primär im manifesten Weltbild lokalisiert. Wie eine solche Theorie des menschlichen Handeins im wissenschaftlichen Weltbild zu formulieren ist, dazu gibt Seilars nur wenige und vage Andeutungen. Das wissenschaftliche Weltbild zeichnet sich im Hinblick auf handelnde Personen dadurch aus, dass es erstens theoretische Entitäten postuliert, die nicht mehr ihm Einklang mit der Person als Einheit oder Basisindividuum stehen und zweitens bestrebt ist, diese Entitäten ontologisch zu bestimmen. Es ist, wie nachgewiesen wurde, nicht die Wissenschaftlichkeit allein, die das wissenschaftliche Weltbild auszeichnen. Denn auch das manifeste Weltbild ist, wie gleichfalls bereits begründet wurde, ein wissenschaftliches. Hieraus folgt: Handlungen können sowohl im manifesten als auch im wissenschaftlichen Weltbild wissenschaftlich beschrieben werden. Meist wird angenommen, Kausalität sei ein spezifischer Begriff des szientistischen Weltbildes. Diese Annahme ist aber ein Irrtum. Denn sowohl im manifesten als auch im wissenschaftlichen Weltbild gibt es einen Raum der Ursachen und somit den Begriff der Kausalität, der das Verhältnis einer Ursache zu ihrer Wirkung beschreibt. Bei gerrauerer Betrachtung stellt sich sogar heraus, dass der Ursprung des Kausalitätsbegriffes als solcher im manifesten Weltbild liegt. Denn er ist allererst ein Begriff der Alltagssprache. Mehr noch, er ist nach Kant einaprioriBegriff

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4 Das szientistische Weltbild

·des menschlichen Verstandes. Es ist nämlich nicht so, dass die uns umgebendeWeh immanent kausaler Natur ist, die vorn Menschen bloß aufgespürt oder entdeckt werden muss. Vielmehr ist es vice versa. Der Kausalitätsbegriff ist ein immanenter Begriff des menschlichen Geistes. Als solcher wird er von den Menschen allererst in die Welt hineingelegt. Es ist ergo nicht die uns umgebende und zu entdeckende · Welt, die dem menschlichen Verstand den Kausalitätsgedanken aufprägt, sondern · es ist der menschliche Verstand selbst, der diesen Begriff in die Welt einbringt. Der Mensch betrachtet seine Welt immer schon durch eine kausale Brille. Daher gehört der Kausalitätsbegriff immer schon ins manifesteWeltbildund wurde vom wissenschaftlichen Wehbild lediglich übernommen. Der Begriff der Kausalität verbindet folglich ebenso wie der Raum der Ursachen das manifeste und wissenschaftliche Weltbild und damit den Bereich des Mentalen und des Physischen (Kap. VIII). Er hält, metaphorisch gesprochen, beide Bereiche zusammen. Ähnlich argumentiert auch Davidson: "Kausalität ist der Mörtel des Universums. Es ist der Kausalitäts begriff, der unser Welt-

bild zusammenhält, ein Bild, das sich andernfalls in ein Diptychon des Geistigen und des Körperlichen zerspalten würde" (Davidson 1985a, 7).

Doch hier ist Vorsicht geboten. Denn Davidson trennt nicht wie Seilars das Geistige bzw. Mentale in Akt und Inhalt, zumindest nicht explizit. Die Kausalität, die nach Davidson das Geistige und Physische zusammenhält, reduziert sich bei Seilars auf geistige Akte und Physisches. Mentale Inhalte, die zum Raum der Gründe gehören, bleiben davon unberührt. Da es in beiden Weltbildern einen Raum der Ursachen gibt, der sich durch die Prinzipien der Kausalität auszeichnet, können auch in beiden Weltbildern Handlungen aus diesem Raum heraus erklärt werden. Damit stellt sich die Frage: Worin unterscheiden sich Kausalerklärungen im Raum der Ursachen des manifesten Weltbildes von Kausalerklärungen im Raum der Ursachen des wissenschaftlichen Weltbildes? Der Unterschied besteht in zwei Aspekten. Erstens werden Kausalerklärungen im manifesten Weltbild im mentalen Vokabular formuliert und im wissenschaftlichen Weltbild in physikalischen Termini. Zweitens werden im manifesten Weltbild Personen als Basisindividuen betrachtet, die Wünsche, Absichten, Überzeugungen und einen Willen zur Handlung haben. Im wissenschaftlichen Weltbild werden Personen dagegen verdinglicht und als Objekte oder physikalische Systeme betrachtet, die in Teile gegliedert sind, beispielsweise in neurale Zustände oder Hirnprozesse, welche die Wünsche, Absichten, Überzeugungen und Willensakte physiologisch realisieren. "[T]he scientific image of man turns out to be that of a complex physical system" (PSIM 25). Kausalerklärungen sind also im wissenschaftlichen Weltbild von einer anderen Art als diejenigen des manifesten Weltbildes. Beide sind aber gleichermaßen keine Gründeerklärungen, die ausschließlich im ·

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

logischen Raum der Gründe und folglich nur im manifesten Weltbild formuliert ,. werden können. Da Kausalbeziehungen nur zwischen Ereignissen bestehen, besit- , zen auch beide gleichermaßen nicht das Vermögen Handlungen zu erklären, sondern nur handlungsimmanente Körperbewegungen, also Ereignisse, die zwar mit Handlungen einhergehen, aber nicht hinreichend handlungskonstitutiv sind. In welcher Beziehung die damit insgesamt drei Beschreibungsweisen oder Erklärungsarten stehen, reduktiv oder nicht reduktiv, wird im übernächsten Abschnitt untersucht. Die durch Seilars angenommene Möglichkeit, Handlungen kausal zu beschreiben und zu erklären, impliziert nicht, dass diese Beschreibungen oder Erklärungen zugleich nomologisch sind. Denn es ist nicht logisch zwingend, dass Kausalverhältnisse nornelogisch sind. Kausalverhältnisse besagen primär nur, dass jede Wirkung ihre Ursache hat. Denn der Mensch betrachtet seine Welt primär durch eine kausale Brille und nicht durch eine nomologische. Der Anspruch, Kausalverhältnisse sekundär auch in eine nornelogische Struktur einzubinden, ist vor allem ein Anspruch des wissenschaftlichen Weltbildes.

5 DAS STUFENMODELL DER HANDLUNGSBESCHREIBUNG Seilars paraphrasiert seine beiden Weltbilder mit dem Begriff der Perspektive. Dies bedeutet, man kann die Dinge und Phänomene, die uns umgeben, stets aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten, beschreiben und erklären. Dies gilt nicht nur für materielle Dinge und Phänomene, sondern auch für das Verhalten von Tieren sowie für das Verhalten und absichtliche Handeln von Menschen. Hieraus folgt: Manifestes und wissenschaftliches Weltbild eröffnen zwei kategorial unterschiedliche Betrachtungsperspektiven auf das menschliche Handeln und somit, zumindest aus der Sichtweise Sellars', zwei kategorial unterschiedliche Weisen seiner Beschreibung, Rechtfertigung und Erklärung. Genau genommen gibt es aber nicht nur einen Dualismus der Erklärungsweisen, sondern, wie bereits nachgewiesen wurde, einen Trialismus (Kap. VIII). Denn es gibt bereits im manifesten Weltbild einen Dualismus der Erklärung, nämlich einerseits die Erklärung in der Ebene mentaler Inhalte und andererseits die in der Ebene postulierter mentaler Akte als kausal wirksame mentale Ereignisse. Bei einer noch feineren Differenzierung eröffnet die zwischen der Inhalts- und Aktebene liegende Stufe der Dispositionen noch eine dritte Erklärungsweise innerhalb des manifesten Weltbildes. Die vierte Erklärungsart ist dagegen die des wissenschaftlichen Weltbildes. Ob und inwieweit diese vier Erklärungsperspektiven aufeinander reduzibel sind, ist damit noch nicht beantwortet. Dieses Problem der Reduktion ist Schwerpunkt des Abschnitts sechs

386

5 Das Stufenmodell der Handlungsbeschreibung

"dieses Kapitels. Aus den genannten vier Beschreibungs- oder Erklärungsweisen lässt sich ein für Seilars typisches Stufenmodell der Handlungsbeschreibung, der •·• Handlungserklärung und der Handlungsrechtfertigung konstruieren, das mit seiner untersten Stufe im manifesten Weltbild beginnt und mit seiner obersten, vierten Stufe das wissenschaftliche Weltbild erreicht. Da diese Stufen bereits im Kapitel VI untersucht wurden, kann hier auf die dort gewonnenen Ergebnisse zurückgegriffen werden. Die einzelnen Stufen sind (Kap. VI):

!

(1)

Stufe des Thinking- bzw. Intending-out-loud,

{2)

Stufe der Dispositionen,

(3)

Stufe der postulierten mentalen Episoden, Akte oder Zustände und

(4)

Stufe der physikalischen Prozesse.

Im Folgenden wird nun exemplarisch gezeigt, wie diese vier Stufen aufeinander aufbauen und sich so sukzessive der wissenschaftlichen Stufe nähern und schließlich in diese übergehen. Da diese Stufen für Beschreibungen, Erklärungen und Rechtfertigungen ähnlich sind, wird die folgende Darstellung auf die Rechtfertigung begrenzt. Um zugleich nochmals die Parallelität zwischen Sprachein- und Sprachaustritt aufzuzeigen, wird das Stufenmodell anhand je eines Beispiels aus diesen beiden Bereichen dargestellt. (A) Das Stufenmodell der Wahrnehmung (language-entry transition) Dieser Abschnitt verfolgt das Ziel, im Sinne Sellars' ein Stufenmodell der Rechtfertigung einer Wahrnehmung zu konstruieren. Als exemplarischer Ausgangspunkt dient das in The Structure of Knowledge aufgeführte Argument von J ones: "I just thought-out-loud 'Lol Hereisa red apple' (no coumervailing conditions obtain); So, there is good reason to believe that there isared apple in front of me" (SK 342).

Die im Folgenden zu beantwortende Frage lautet somit: Wie kann Jones rechtfertigen, dass vor ihm ein roter Apfel ist? Ausgehend von dieser Frage wird zunächst eine Rechtfertigung auf der sprachphilosophischen Ebene des Laut-herausDenkens konstruiert. Anschließend wird gezeigt, wie man diese Rechtfertigung im Sinne Sellars' und seiner technischen Notation so modifizieren kann, dass man sich stufenweise dem wissenschaftlichen Weltbild nähert.

387

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

Erste Stufe: Auf dieser sprachphilosophischen Stufe kann Jones' Antwort oder Rechtfertigung wie folgt rekonstruiert werden: Der rote Apfel ist da, weil ich erstens laut heraus gedacht habe "Hier ist ein roter Apfel" und zweitens in der deutschen Sprache gelernt habe, dass immer dann undnur dann ein roter Apfel vor mir liegt, wenn ich unter Standardbedingungen laut heraus denke "Hier ist ein roter Apfel". Zwischen dem Gedankeninhalt "Hier ist ein roter Apfel" und dem Vorhandensein des Apfels besteht also eine grammatische bzw. kriteriale Beziehung. Dies bedeutet, Jones hat die grammatischen Regeln oder Kriterien erlernt, um den Gedankeninhalt "Hier ist ein roter Apfel" in seiner Alltagssprache richtig zu gebrauchen. Er kennt, wie Seilars sagen würde, die funktionale Rolle und damit die Bedeutung dieses Gedankens. Er wird folglich nicht laut heraus denken "Hier ist ein roter Apfel", wenn de facto eine grüne Birne vor ihm liegt. Die kriteriale Rechtfertigung auf der sprachphilosophischen bzw. sprachfunktionalen Stufe des Laut-heraus-Denkens hat, wie leicht gezeigt werden kann, die Form des Modus Ponens. Bezeichnet man den propositionalen Gedankeninhalt "Hier ist ein roter Apfel" mit G (Gedankeninhalt) und das Vorhandensein des Apfels mit A (Apfel), so folgt:

Pl

G

P2

G::;,A

K

A

Das kriteriale, grammatische Verhältnis von dem Gedankeninhalt "Hier ist ein roter Apfel" und dem Vorhandensein des roten Apfels kann also in diesem Sinne zugleich als ein logisches Verhältnis interpretiert werden. Es wird zu zeigen sein, dass dies auch für das Verhältnis von Wille und Handlung gilt (siehe unten, vgl. auch Kap. VII). Zweite Stufe: Auf der Stufe der Dispositionen lautet, wieder ganz im Sinne Sellars', die AntwortJones': Der rote Apfel ist da, weil ich erstens laut heraus gedacht habe "Hier ist ein roter Apfel" und

388

5 Das Stufenmodell der Handlungsbeschreibung

zweitens die Neigung oder Disposition erworben habe, immer dann und nur

dann laut heraus zu denken "Hier ist ein roter Apfel", wenn unter Standardbedingungen der rote Apfel vor mir liegt. Mit dieser Rechtfertigung ist bereits die Ebene mentaler Inhalte verlassen. Stattdessen rekurriert sie auf einem für Sellars gleichfalls typischen Begriff, nämlich auf dem der Neigung (propensity) oder Disposition (disposition). Mit dem Begriff der Disposition versucht Sellars die Entstehung der kriterial-grammatischen Beziehung zwischen dem Gedanken- oder Wahrnehmungsinhalt und dem wahrgenommenen Gegenstand kausal zu erklären. Dies ist möglich, weil das Erlernen der Grammatik, der Gebrauchskriterien oder der funktionalen Rolle eines Ausdrucks dem Erwerb einer Disposition gleichgesetzt werden kann. Es wird wiederum zu zeigen sein, das.s dies nicht nur auf der Seite der Wahrnehmung gilt, sondern auch für die kriterial-grammatische Beziehung von Wille und Handlung, die gleichfalls mittels des Dispositionsbegriffs erklärt werden kann. Dritte Stufe: Auf dieser Stufe kann im Sinne Sellars' die Antwort oder Rechtfertigung Jones' folgendermaßen rekonstruiert werden: Der rote Apfel ist da, weil ich erstens den Gedanken "Hier ist ein roter Apfel" hatte und zweitens so konditioniert bin, dass mein schlummernder, inaktiver Gedankenzustand mit dem Inhalt "Hier ist ein roter Apfel" immer dann und nur dann aktualisiert oder aktiviert wird, wenn unter Standardbedingungen ein roter Apfel vor mir liegt. Mit dieser Rechtfertigung befindet sichJenes auf der Ebene der postulierten kausal wirksamen Ged.ankenepisoden, -akte oder -zustände. 7 Sellars postuliert diese Gedankenentitäten um die Dispositionen der zweiten Stufe zu erklären (Kap. VI, Abs. 3). In Sellars' Sinne kann die soeben aufgeführte Rechtfertigung auch in einer ande~ ren Begrifflichkeit formuliert werden: Der rote Apfel ist da, weil ich erstens den Gedanken "Hier ist ein roter Apfel" hatte und

7

Nach Seilars deutet bereits die Formulierung "einen Gedanken haben" auf den kausal wirk-. samen Gedankenakt hin und nicht mehr auf seinen Inhalt.

389

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

zweitens mein Gedankenzustand immer dann und nur dann den Output "Hier ist ein roter Apfel" liefert, wenn sein Input ein vor mir liegender roter Apfel ist. Mit·dieser Antwort oder Rechtfertigung greiftJenes auf das Vokabular des Funktionalismus zurück, als dessen Begründer Seilars gilt. Der Funktionalismus erklärt Gedanken über ihre kausale Input~Output-Funktion. Wie diese Funktionen oder die Gedankenzustände realisiert sind, darüber sagt der Funktionalismus nichts. Er ist somit ontologisch neutral und gehört damit, so wie die ersten beiden Stufen, noch zum manifesten Weltbild. Vierte Stufe: Es ist, so Sellars, die Aufgabe der Wissenschaften herauszufinden, wie die theoretischen Gedankenzustände tatsächlich realisiert sind. Die Wissenschaften haben folglich die Aufgabe, die Ontologie dieser Gedankenzustände oder -episoden zu ermitteln. Sobald sie bestimmt und ggf. auch entsprechende Gesetzmäßigkeiten ermittelt sind, kann man versuchen, die Rechtfertigung J ones' auf einer vierten Stufe zu rekonstruieren. Im Gegensatz zu den ersten drei Stufen, die alle zum manifesten Weltbild gehören, gehört die vierte Stufe zum wissenschaftlichen Weltbild. Wie die Rechtfertigung Jones' auf dieser Stufe zu formulieren ist, kann heute noch nicht beantwortet werden, obgleich in jüngster Zeit, vor allem beeinflusst durch die Hirnforschung, vielfach der Versuch dazu unternommen wird (insbesondere durch das Ehepaar Churchland). Die Rechtfertigung der vierten Stufe wird aber mit Sicherheit mit neuen Begrifflichkeiten operieren. (B) Das Stufenmodell der Wille-Handlungsverknüpfung (language-exit transition)

Zur Illustration soll auch hier ein konkretes einfaches Beispiel dienen, dass darin besteht, das Peter seinen Arm hebt, weil er ein Taxi herbeiwinken möchte. Der Ausgangspunkt der Rekonstruktion besteht somit in der Frage: Wie kann Peter rechtfertigen, dass er seinen Arm hebt? Diese Frage wird zunächst wieder ganz im Sinne Sellars' und seiner technischen Terminologie auf einer sprachphilosophischen Stufe, nämlich auf der Stufe des Laut-heraus-Denkens und des Laut-heraus-Beabsichtigens beantwortet. Daran anschließend wird dann wieder der Versuch unternommen, diese Antwort stufenweise so zu modifizieren, dass sie sich mehr und mehr dem wissenschaftlichen Weltbild nähert und schließlich in dieses übergeht und zwar wiederum ganz im Sinne der Philosophie Sellars'. Erste Stufe: Wie kann Peter rechtfertigen, dass er seinen Arm hebt? Seine Antwort oder Rechtfertigung auf sprachphilosophischer Ebene könnte lauten: Ich habe meinen Arm gehoben, weil ich

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5 Das Stufenmodell der Handlungsbeschreibung

erstens hier und jetzt laut heraus dachte bzw. beabsichtigte "Ich beabsichtige jetzt meinen Arm zu heben'~ und zweitens in der deutschen Sprache gelernt habe, meinen Arm immer dann zu heben, wenn ich unter Standardbedingungen hier und jetzt laut heraus denke oder beabsichtige "Ich beabsichtige jetzt meinen Arm zu heben". 8 Zwischen dem Willen, der nach Seilars eine Hier-und-jetzt-Absicht ist (Kap. IV), und der Handlung besteht also eine grammatisch-kriteriale Beziehung. Diese kriteriale Rechtfertigung auf sprachphilosophischer Ebene hat, wie wiederum leicht gezeigt werden kann, die Form des Modus Ponens. Bezeichnet man die Hier-undjetzt-Absicht "Ich beabsichtige jetzt meinen Arm zu heben" mit V (volition) und das Armheben mit A (action), so folgt: Pl P2 K

V V-::;,A A

Das kriteriale, grammatische Verhältnis von Wille und Handlung ist also in diesem Sinne zugleich ein logisches Verhältnis (vgl. Kap. VII). Zweite Stufe: Unter Verwendung des Dispositionsbegriffes lautet Peters Antwort: Ich habe meinen Arm gehoben, weil ich erstens hier und jetzt laut heraus dachte bzw. beabsichtigte "Ich beabsichtige jetzt meinen Arm zu heben" und zweitens die Neigung oder Disposition erworben habe, immer dann meinen Arm zu heben, wenn ich unter Standardbedingungen hier und jetzt laut heraus denke oder beabsichtige "Ich beabsichtige jetzt meinen Arm zu heben". Diese Rechtfertigung rekurriert auf dem Begriff der Neigung bzw. der Disposition. Mit diesem Begriff versucht Seilars die Entstehung der grammatisch-kriterialen Relation von Wille und Handlung kausal zu erklären, wobei er übersieht, dass die Kausalbeziehung nicht zwischen Willensakt und Handlung, sondern nur zwischen Auffallend ist, dass hier der Grund des Armhebens nicht genannt wird. Dies ist eine Besonderheit der Handlungstheorie Sellars', die sich allein auf den Begriff der Absicht stützt. Diese Theorie ist derart konzipiert, dass Handlungsgründe zwar optional innerhalb der Absichtsausdrücke genannt werden können, aber nicht genannt werden müssen. Hierin vrurzelt letztendlich ihr Fehler der Gleichsetzung von Handlung und Körperbewegung.

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

Willensakt und handlungsimmanenter Körperbewegung besteht. Wie das hier gewählte Beispiel besonders deutlich zeigt, besteht die Gefahr dieser für Kausalisten typischen Verwechslung vor allem dann, wenn man Theorien an zu einfachen Beispielen prüft. Ein solches Beispiel ist das von Kausalisten häufig genutzte Beispiel des Armhebens, das im besonderen Maße die nicht gegebene Identität von Körperbewegung und Handlung suggeriert. Dritte Stufe: Auf der dritten Stufe könnte Peters Rechtfertigung wie folgt lauten: Ich habe meinen Arm gehoben, weil ich erstens die Hier-und-jetzt-Absicht mit dem Inhalt "Ich beabsichtige jetzt meinen Arm zu heben" hatte und zweitens so konditioniert bin, das ich meinen Arm immer dann hebe, wenn mein schlummernder, inaktiver Hier-und-jetzt-Absichtszustand mit dem Inhalt ,.Ich beabsichtige jetzt meinen Arm zu heben" unter Standardbedingungen aktualisiert oder aktiviert wird, beispielsweise durch einen chronologisch vorangehenden praktischen Schluss. Mit dieser Rechtfertigung befinden sich Peter auf der Ebene der Absichtszustände oder Absichtsepisoden, die zum Raum der Ursachen gehört und damit den Prinzipien der Kausalität untersteht. Seilars postuliert diese Ebene, um die Dispositionen der zweiten Stufe zu erklären (Kap. VI, Abs. 3). Auch diese Rechtfertigung kann wieder ganz im Sinne der Philosophie Sellars' wie folgt paraphrasiert werden: Ich habe meinen Arm gehoben, weil ich erstens die Hier-und-jetzt-Absicht mit dem Inhalt "Ich beabsichtige jetzt meinen Arm zu heben" hatte und zweitens mein Hier-und-jetzt-Absichtszustand immer dann den Output "Armheben liefert", wenn sein Input die Absicht mit dem Inhalt ,.Ich beabsichtige jetzt meinen Arm zu heben" ist. Mit dieser Antwort oder Rechtfertigung rekurriert Peter auf die Philosophie des Geistes und zw-ar auf die bereits genannte Position des Funktionalismus. Vierte Stufe: Alle bisherigen Stufen rekonstruierten die Rechtfertigung im manifesten Weltbild. Wie die Rechtfertigung Peters auf der vierten Stufe und somit im wissenschaftlichen Weltbild lautet, kann wieder, wie im bereits untersuchten Fall der Wahrnehmung, nur spekuliert werden. Fest steht nur, dass sich seine Recht-

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6 Reduktionismus und Eliminativismus

'fertigung eines ausschließlich physikalischen Vokabulars bedienen wird. Vielleicht lautet sie folgendermaßen: Ich habe meinen Arm gehoben, weil ein Neuroimpuls an meinen Armmuskel geleitet wurde, diesen sodann anspannte, was das Heben meines Armes verursachte. Begriffe wie Absicht und Grund kommen in dieser Rechtfertigung nicht mehr vor. Der wissenschaftlichen Perspektive ist daher per se der Blick auf das inhaltliche Moment des Armhebens verwehrt, das dieses Armheben allererst als Handlung · ausweist und von einem bloß reflexartigen Armheben unterscheidet. Sie vermag folglich nicht die Frage zu beantworten, warum der Arm gehoben wurde, z.B. um ein Taxi herbeizurufen oder um sich in einer Ratssitzung zu Wort zu melden. Die wissenschaftliche Perspektive eröffnet nur einen Blick auf das kausale Moment, das aber allein nicht handlungskonstitutiv ist. Im folgenden Abschnitt wird zu untersuchen sein, ob und inwieweit die explizierten Stufen der Beschreibung, Rechtfertigung und Erklärung aufeinander reduziert und welche dieser Stufen dadurch ggf. eliminiert werden können.

6 REDUKTIONISMUS UND ELIMINATIVISMUS Mit dem Ziel, eine Theorie der Gedanken zu entwickeln, konstruiert Sellars verschiedene Modelle, die aufeinander aufbauen und sich (scheinbar) durch eine jeweils gesteigerte Erklärungsleistung auszeichnen. Wie im Kapitel VI nachgewiesen und im vorigen Abschnitt anband zweier Beispiele illustriert wurde, sind dies erstens das Modell des Laut-heraus-Denkens oder des verbalen Behaviorismus, zweitens das Modell der Dispositionen, drittens das Modell der mentalen Akte, Episoden und Zustände als postulierte, theoretische und (vorerst) unbeobachtbare Entitäten und viertens das Modell der ontologisch bestimmten mentalen Entitäten, beispielsweise das Modell neuronaler Prozesse. Alle diese Modelle haben, so wurde bereits begründet, auch einen Einfluss auf die Lösung typischer handlungstheoretischer Probleme und Fragestellungen. Die in diesem Abschnitt angestrebte Untersuchung des Problems des Reduktionismus

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

die~

und des Eliminativismus sind daher für die Philosophie des Geistes und für philosophische Handlungstheorie gleichermaßen von Bedeutung. In beiden Berei{);j chen geht es um das Selbstverständnis des Menschen, nämlich um sein Selbstver~l! ständnis im Denken einerseits und um sein Selbstverständnis im Handeln anderer-< seits. Beide Bereiche sind daher mit ähnlichen Problemen und Fragen konfrontiert,··~ auch wenn die Lösungen und Antworten unterschiedlicher Couleur sind. Ähnliche ;: Fragen sind: Denken und handeln Personen aufgrund von Gründen oder aufgrund ) determinierender Kausalgesetze? Ist der Mensch in seinem Denken und-Handeln~. frei oder ursächlich kausal determiniert? Eine Antwort auf diese beiden Fragen ist ; eng mit dem Problem des Reduktionismus und des Eliminativismus verknüpft. Was ' kann auf was reduziert und was kann eliminiert werden? .. Es wurde bereits begründet, dass der Begriff der Disposition auf theoretische ' Gedankenentitäten reduziert werden kann. Das Modell der Dispositionen kann also im Folgenden außer Acht gelassen werden. Es bleiben somit noch drei Modelle und damit drei Beschreibungs- oder Erklärungsarten übrig, die in die Untersuchung einzubeziehen sind und die im Kapitel VIII bereits unter dem Begriff des Trialismus der Erklärung subsumiert wurden. Dieser für Sellars typische Trialismus, der für den Bereich der Wahrnehmungen, der Inferenzen und der Handlungen gleichermaßen Gültigkeit beansprucht, ist somit die Ausgangsbasis für die nachfolgende kritische Auseinandersetzung mit dem Reduktionismus und dem Eliminativismus. In Bezug auf Handlungen stellt sich dieser Trialismus wie folgt dar (Kap. VIII):

(i)

Nicht-kausale Handlungserklärungen im Raum der Gründe des manifesten Weltbildes.

(ii)

Kausale Handlungserklärungen im Raum der Ursachen des manifesten Weltbildes.

(iü)

Kausale Handlungserklärungen im Raum der Ursachen des wissenschaftlichen Weltbildes. 9

In den folgenden Abschnitten werden in einem ersten Schritt, aufbauend auf den Ergebnissen der bisherigen Kapitel, zunächst verallgemeinerbare Thesen zum Reduktionismus und zum Eliminativismus entwickelt. Mit diesen Thesen wird sodann in einem zweiten Schritt der Versuch unternommen, eine der schwierigen Fragen in puncto der Philosophie Sellars' zu beantworten und zu begründen: Vertritt Sellars eine reduktionistische Position?

Zum missverständlichen Begriff der kausalen Handlungserklärung siehe Fußnote 4 oben.

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6 Reduktionismus und Eliminativismus

6.1 REDUKTIONISMUS >Der Begriff des Reduktionismus ist ein Begriff des 20. Jahrhunderts. Reduktio: n:istische Bestrebungen gab es allerdings auch schon vorher. So zum Beispiel im 17. :Jahrhundert, wo unter dem Begriff des Mechanismus der Versuch unternommen wurde, alle Dinge dieser Welt, die leblosen als auch die beseelten, mechanisch zu erklären. Weit mehr noch als die Renaissance war das 17. Jahrhundert von einem starken Skeptizismus gegenüber den tradierten Werten und der Religion geprägt, was nicht zuletzt durch eine Vielfalt unterschiedlicher religiöser Standpunkte begünstigt wurde. Als Folge davon wuchs das Bedürfnis nach geistiger Sicherheit und begründeten Grundsätzen, wie zu leben sei. Ein sicheres Fundament für eine geistige Orientierung fand man in den Naturwissenschaften. Die Mathematik, vor allem die Euklidische Geometrie, wurde zur Grundlage der neuen Wissenschaften, vor allem der Mechanik. Innerhalb der Mechanik kam es erstmals zu einer systematischen Verbindung von Erfahrung durch Experimente und sicherer Beweisführung durch mathematische Konstruktionen, also zu einer Verknüpfung von Tatsachenwahrheiten (verites de fait) und Vernunftwahrheiten (verites de raison), was der Mechanik außerordentliche Erfolge bescherte. Sie wurde zur Leitwissenschaft für alle anderen Wissenschaften; Finalerklärungen waren verpönt. Es schien, als könne man die ganze Welt mechanisch begründen: die Welt als Maschine und der Mensch als System beweglicher Elemente, eine hydraulische Maschine. Hobbes beschrieb den Staat, den großen Leviathan, 10 in mechanischer Art und Weise und Spinoza nutzte die geometrische Methode zur Beschreibung menschlicher Affekte und zum Aufbau seiner Ethik11 • Die Mechanik wurde zum metaphysischen ModelL Das szientistische Weltbild veränderte sich durch das neue naturwissenschaftliche, mathematische und mechanische Wissen grundlegend. Die fruchtbare gegenseitige Ergänzung von Technik und Wissenschaft mündete in der Annahme eines prinzipiell unendlichen Erkenntnisfortschritts. Der gegenwärtige Reduktionismus, der Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem im logischen Empirismus und im Positivismus seinen Ausgangspunkt fand, kann als die moderne Fortsetzung des Mechanismus des 17. Jahrhunderts interpretiert werden. Der Reduktionismus behauptet, dass Aussagen oder Beschreibungen einer bestimmten Art auf Aussagen oder Beschreibungen in einer anderen Art zurückgefühn werden können (lat. reducere: zurückführen). Bei den Aussagen anderer Art handelt es sich dabei in aller Regel um naturwissenschaftliche Aussagen. So behauptet beispielsweise innerhalb der Philosophie des Geistes die reduktionistische Position des Materialismus, der auch Physikalismus oder physikalischer Monismus genannt wird, dass alles Mentale auf materielle oder physische Vorgänge zurück10

Hobbes, Thomas: Leviathan. 1651.

H

Spinoza, Benedictus de: Ethica Ordine Geometrico demonstrata. 1677.

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

geführt werden kann. Die wissenschaftlichen Fortschritte in der Hirnforschung haben dem klassischen philosophischen Leib-Seele- oder Körper-Geist-Problem eine moderne Renaissance beschert, die sich durch eine große Dynamik auszeichnet. So entstanden innerhalb der Philosophie des Geistes binnen weniger Jahre eine Vielzahl miteinander konkurrierender Positionen, die sich zwischen zwei Polen lokalisieren. Auf der einen Seite findet sich der nicht-reduktionistische Dualismus, der beispielsweise durch J. C. Eccles neuen Antrieb erhielt, und auf der anderen Seite der Eliminativismus, der vor altem durch das Ehepaar Churchland verteidigt wird (siehe unten). Die Idee, die sich hinter dem Reduktionismus verbirgt, ist die vor allem durch 0. Neurath und R. Carnap entwickelte Idee der Einheit der Wissenschaften. Diese Idee umfasst das Ziel der Einheit wissenschaftlicher Erklärungen, wobei die mathematisch-naturwissenschaftlichen Erklärungen als Ideal fungieren.· Dies hat auch Konsequenzen für die philosophische Handlungstheorie und für ihr Bestreben menschliche Handlungen adäquat zu erklären. Denn die offensichtliche Möglichkeit, menschliche Handlungen kausal und intentional erklären zu können, widersetzt sich dem Streben nach einer einheitlichen, wissenschaftlichen Erklärung, beispielsweise im Sinne des deduktiv-nomologischen Schemas (DN-Schema) von G. Hempel und P. Oppenheim. Diese Problematik drückt sich in der Frage aus, ob menschliche Handlungen einen autonomen Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung bilden und daher auch eine autonome Erklärungsweise erfordern, oder ob man sie auf ein bloßes Verhalten reduzieren kann, dessen Erklärung man naturwissenschaftlich oder deduktiv-nomologisch leisten kann. Es geht also um die Frage, ob man naturwissenschaftliche, objektivistische Methoden auch auf menschliche Handlungen und darauf aufbauend auch auf die Geschichte des Menschen übertragen kann. Der Begriff des Reduktionismus hat sich im Laufe seiner kurzen Geschichte zu einem äußerst extensiven Begriff gewandelt. Im Rahmen der zu Beginn dieses Kapitels gesetzten Ziele ist es jedoch hinreichend, unter dem Begriff der Reduktion die Möglichkeit der Zurückführbarkeit von einer Aussage auf eine andere, von einer Erklärung auf eine andere, von einer Theorie auf eine andere oder von einem Weltbild auf ein anderes zu verstehen und dies als Arbeitsdefinition zu verwenden. Im Hinblick auf die philosophische Handlungstheorie geht es dabei primär um die Frage, ob Handlungsgründe auf Handlungsursachen und Gründeerklärungen von Handlungen auf Kausalerklärungen zurückführbar sind, oder ob Gründe und Ursachen bzw. Gründe- und Kausalerklärungen autonome Instanzen sind. Innerhalb der Philosophie des Geistes geht es um die Frage, ob Gedankeninhalte auf Gedankenakte oder ob Mentales auf Physisches reduzibel ist. Aufgrund der engen Verbindung, die nach Seilars zwischen der Philosophie des Geistes und der philosophischen Handlungstheorie besteht, sind das handlungstheoretische Problem des Verhältnisses von Grund und Ursache und das geistesphilosophische Problem des

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6 Reduktionismus und Eliminativismus

Verhältnisses von mentalem Inhalt und mentalem Akt aufs Engste miteinander verkoppelt (Kap. VII). Von der Reduktion des Mentalen auf das Physische wird zumeist eine gesteigerte Erklärungsleistung erhofft. Doch dies ist ein Trugschluss, der auf der Gleichsetzung des ontologischen Reduktionismus mit dem epistemischen Reduktionismus gründet. Denn aus der Möglichkeit der ontologischen Reduktion des Mentalen auf das Physische bzw. des Grundes auf die Ursache folgt nicht notwendig zugleich eine bessere Erklärung des Mentalen oder menschlichen Handelns. Eine Erklärung in physikalischer Terminologie kann, aber muss nicht notwendig besser sein als eine, die sich eines mentalen Vokabulars bedient. Physikalische, kausale Erklärungen betrachten das zu erklärende Phänomen aus einer kategorial anderen Perspektive als Erklärungen in mentalen Termini, z.B. Gründeerklärungen. Ob dabei die eine oder andere Erklärung besser oder schlechter ist, ist keine objektive, sondern eine normative Frage, denn ihre Beantwortung verlangt nach Kriterien des "besser" oder "schlechter". Diese Frage stellt sich allerdings nur dann, wenn tatsächlich beide Erklärungsarten das Vermögen haben, Handlungen zu erklären, wie Seilars in Übereinstimmung mit der kausalen Handlungstheorie irrtümlicherweise annimmt. Nach diesen Vorüberlegungen zum Begriff des Reduktionismus, kann nun untersucht werden, ob und inwieweit auf den oben begründeten Trialismus der Beschreibung eine Reduktion angewandt werden kann oder ob es sich um drei autonome, irreduzible Beschreibungs- oder Erklärungsweisen handelt. Da es drei Beschreibungsweisen sind, sind folglich drei Reduktionen vorstellbar: (i) auf {ii), (ii) auf (iii) und (i) auf (iii). Die erste ist eine innerhalb des manifesten Weltbildes, die beiden anderen sind Reduktionen vom manifesten auf das wissenschaftliche Weltbild. Da eine Reduktion von (i) auf (iii) nur dann möglich ist, wenn (i) auf (ü) re~ duzibel ist, genügt vorerst eine Untersuchung derverbleibenden beiden Reduktionen. Rein mathematisch sind bei drei Beschreibungsweisen nicht nur drei, sondern aus Gründen der Kombinatorik sechs verschiedene Reduktionen denkbar. Schließt man aber diejenigen Reduktionen aus, die eine tiefere Erklärungsebene auf eine höhere reduzieren, beispielsweise das wissenschaftliche Weltbild auf das manifeste, so verbleiben allein die drei genannten übrig. (A) Sind Gedankeninhalte auf Gedankenakte reduzibel? Diese Frage ist aufgrund der Ergebnisse der vorangegangenen Kapitel zweifelsfrei mit Nein zu beantworten. Es genügt also an dieser Stelle die wichtigsten Ergebnisse und Argumente nochmals kurz zusammenzufassen: (i)

Absichten und Überzeugungen sind Unterarten von Gedanken (Kap. VI).

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

(ii)

Gedanken umfassen einen mentalen Akt und einen mentalen Inhalt (Kap. VI).

(iii)

Gedankeninhalte haben die Form von Propositionen und gehören zum Raum der Gründe. Zwischen ihnen besteht eine logische, begriffliche oder kriterial-grammatische Verknüpfung (Kap. VII).

(iv)

Gedankenakte oder Gedankenepisoden gehören als mentale Ereignisse zum Raum der Ursachen. Sie sind im manifesten Weltbild postulierte, theoretische, unbeobachtbare und ontologisch unbestimmte Gedankenentitäten (Kap. VI).

(v)

Gedankenakte fungieren als Vehikel oder Träger der Gedankeninhalte (Kap. VI).

(vi)

Gedankeninhalte und Gedankenakte bedingen einander wechselseitig, denn Gedankeninhalte, z.B. Absichtsinhalte, bestimmen was beabsichtigt wird, aber nicht, dass das Beabsichtigte auch realisiert wird. Gedankenakte, z.B. Absichtsakte, sorgen dagegen dafür, dass etwas Beabsichtigtes realisiert wird, aber sie determinieren nicht, was beabsichtigt wird. Ohne Inhalt mündet folglich die kausale Wirksamkeit der Gedankenakte ins Leere. Ohne kausal verknüpfte Gedankenakte bleiben die Inhalte ohne Resultat (Kap. VIII).

Dieser letzte Punkt ist zugleich ein erstes Argument gegen eine Reduktion mentaler Inhalte auf mentale Akte. Als These kann dieses Argument wie folgt paraphrasiert werden: These: Im manifesten Weltbild können mentale Inhalte nicht auf mentale Akte reduziert werden, da sie einander wechselseitig bedingen. Infolgedessen können, wie im Kapitel VII nachgewiesen wurde, Gründe auch nicht auf Ursachen reduziert werden. Denn Gründe sind mentale Inhalte und Ursachen sind mentale Akte. Und so wie mentale Inhalte keine mentalen Akte sind, so sind Gründe auch keine Ursachen. Wer Inhalte mit Akten oder Gründe mit Ursachen gleichsetzt, der begeht einen Kategorienfehler. Aber: Wo mentale Inhalte sind, da sind auch mentale Akte und wo Gründe sind, dort sind auch Ursachen. Hieraus folgt die bereits in Kapitel VII bewiesene These:

398

6 Reduktionismus und Eliminativismus

These: Gründe sind keine Ursachen, da beide unterschiedlicher Kategorie sind. Gründe können daher auch nicht auf Ursachen reduziert werden, obgleich Gründe stets mit Ursachen einhergehen. 12 Gegen die These, dass mentale Inhalte nicht auf mentale Akte reduziert werden können, kann der Einwand erhoben werden, dass mentale Akte doch gerade deswegen postuliert wurden, um Gedanken, wie Überzeugungen und Absichten, auf einer tieferen Ebene erklären zu können. Folglich müssen doch die Erklärungen der höheren Ebene auf diese tiefere Ebene zurückgeführt oder reduziert werden können. Dieser Einwand ist nicht unberechtigt. Es können zwar, wie obige These behauptet, mentale Inhalte nicht auf mentale Akte reduziert werden, aber Verknüpfungen mentaler Inhalte können auf Verknüpfungen mentaler Akte reduziert werden. Eine solche Verknüpfung mentaler Inhalte oder Akte gibt es beispielsweise beim praktischen wie auch beim theoretischen Schließen. Doch wie ist diese Reduktion zu verstehen? Lern- und Konditionierungsprozesse legen fest, welche Gedankeninhalte auf der Aktebene kausal verknüpft sind (Kap. VI). Dadurch konnte beispielsweise erklärt werden, warum eine Person rationale und eine andere Person irrationale Schlüsse zieht, warum eine Person sich für den Schnellzug Thalys und eine andere Person sich für die Transsibirische Eisenbahn entscheidet, um schnellstmöglich von Köln nach Paris zu kommen (Kap. VI, Abs. 8). Mittels mentaler Akte konnte auch erklärt werden, warum zwei Personen aus gleichen Prämissen unterschiedliche Schlüsse ziehen. Die Reduktion oder die Zurückführung dieser Probleme irrationaler Schlüsse auf die tiefere Ebene der mentalen Akte ermöglicht folglich, die genannten Probleme oder mentalen Phänomene des rationalen und irrationalen Schließens zu erklären. Zurückgeführt wurde hier aber allein der Vorgang des Schließens, der aus mentaler Sicht eine Verknüpfung von Gedanken darstellt und somit eine logische V erknüpfung von Gedankeninhalten einerseits und eine kausale Verknüpfung von Gedankenakten andererseits. Obgleich aber Gedankenakte die Verknüpfung der Gedankeninhalte auf der Aktebene kausal festlegen, so bestimmen sie doch nicht die Inhalte als solche. Die tiefere Ebene der Gedankenakte ist eine Ebene, die eine kategorial andere Erklärungskraft aufweist als die höhere Ebene der Gedankeninhalte. Worin genau diese Differenz besteht, soll im Folgenden nochmals kurz beleuchtet werden (vgl. Kap. VI). Wenn eine Person von der konjunktiven Prämisse A.(A=>B) auf C oder -B schließt oder sich für die Nutzung der Transsibirischen Eisenbahn entscheidet, um schnellstmöglich von Köln nach Paris zu reisen, so setzt sie sich im Raum der 11

Sellars' Handlungstheorie impliziert, dass mentale Ursachen wie Absichtsakte oder Absichtsereignisse nicht nur die Ursache handlungsimmanenter Körperbewegungen sind, sondern zugleich auch die Ursache der Handlung selbst. Doch dies ist, wie bereits begründet wurde, . ein Irrtum (Kap. VII).

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Gründe der logischen Kritik durch ihre rationalen Zeitgenossen aus. Gleichwohl liegt die Ursache ihres falschen logischen Schließens oder ihres irrationalen Entscheidensauf der Ebene der kausal verknüpften Gedankenakte und somit im Raum der Ursachen. Der mentale Prozess oder Vorgang des Schließens oder Entscheidens verläuft also bei dieser Person kausal anders als bei rationalen Personen. Die Umgangssprache hat hierfür Ausdrücke der folgenden Art geprägt: "Sie sind wohl falsch programmiert." "Bei Ihnen ist wohl eine Schraube locker." "Sie ticken wohl nicht richtig." Der Fehler bei irrationalen Entscheidungen und logisch falschen Schlüssen ist also nicht in der Logik zu suchen, sondern auf der kausalen Ebene. In gleicher Weise liegt der Fehler nicht in der Mathematik, wenn ein Schüler bei einer Rechenaufgabe falsche Schritte vollzieht. Um dies zu verstehen, sind zwei Bereiche scharf voneinander zu trennen: nämlich einerseits den Bereich der Wahrheit oder Falschheit und andererseits den Bereich des wahren oder falschen Schlie'ßens als mentaler Vorgang oder mentales Ereignis. Dass der Schluss von A.(A~B) auf C oder - B falsch ist, ist eine logische Feststellung, die in die Ebene der Inhalte und damit in den logischen Raum der Gründe gehört. Dass eine Person aber von A.(A;:,B) falsch auf Coder-B schließt, ist dagegen eine empirische Feststellung, wobei dieUrsachedes falschen Schließens in kausal falsch verknüpften Gedankenakten und damit im Raum der Ursachen zu suchen ist. Zusammenfassend folgt hieraus: 13 Wahrheit und Falschheit gehören in den Raum der Gründe. Wahres und falsches Schließen gehören in den Raum der Ursachen. In gleicher Weise gilt: Rationalität und Irrationalität gehören in den Raum der Gründe. Rationales und irrationales Schließen gehören in den Raum der Ursachen. Im Raum der Ursachen geht es also nicht um wahr, falsch, rational oder irrational. In diesem Raum geht es allein um den mentalen Vorgang des Schließens und folglich um einen mentalen Akt oder ein mentales Ereignis. Wahrheit und Falschheit sind keine Ereignisse, wahres und falsches Schließen schon. Der oben formulierte Einwand kann damit zusammenfassend wie folgt entkräftet werden: Mentale Akte vermögen zwar die Verknüpfung mentaler Inhalte auf der Aktebene zu erklären, nicht aber die mentalen Inhalte als solche. Im Folgenden werden noch zwei weitere Argumente gegen die Reduktion mentaler Inhalte auf mentale Akte aufgeführt, die jedoch in einer engen Beziehung mit 13

V gl. das Zitat von Frege in Kapitel VI, Abschnitt 4.1.

400

.• •. i

. .

6 Reduktionismus und Eliminativismus

dem bereits genannten Argument der wechselseitigen Bedingtheit mentaler Akte . und mentaler Inhalte stehen. Es versteht sich von selbst, dass diese Bedingtheit in · allen drei Bereichen des Mentalen besteht: im Bereich der Wahrnehmung, der theoretischen und praktischen Schlüsse sowie des Übergangs vom Willen zur Hand. lung. Das zweite Argument gründet darauf, dass mentale Inhalte holistischer und normativer Natur sind und diese Eigenschaft nicht aus den mentalen Akten oder dem Raum der Ursachen ableitbar ist. Hieraus folgt, dass eine Reduktion mentaler Inhalte auf mentale Akte stets verlustbehaftet wäre. Denn bei dieser Reduktion würde die holistische und normative Dimension mentaler Inhalte notwendig verloren gehen. Worin gründet die immanent holistische Natur mentaler Inhalte? Mentale Inhalte gehören, wie gezeigt wurde, zum Raum der Gründe. In diesem Raum stehen die propositionalen Gehalte der Gedanken in einem holistischen Netz inferenzieller Zusammenhänge. Es ist das Netz, in dem die Prinzipien der Logik und Rationalität herrschen und damit das Netz, das allein Wissen und Erkenntnis ermöglicht. Eine kausal bloß antrainierte Äußerung (muttering) "Ich denke, dass-p" oder "Schau! Dort ist eine rote Rose" ist nur eine Reaktion auf einen bestimmten Reiz, z.B. auf ein Gedankenereignis mit dem Inhalt "dass-p" oder auf eine wahrgenommene rote Rose. Es ist eine kausale Reaktion, ein mentales Ereignis, aber keine Erkenntnis. Zu einer Erkenntnis wird eine Äußerung erst dann, wenn sie in ein inferenzielles und kohärentes Begriffsgefüge eintritt. Dieses Begriffsgefüge ist aber nicht auf den Geist eines einzelnen Menschen begrenzt. Eine Äußerung muss sich also nicht nur widerspruchsfrei und kohärent in sein individuelles, privates Begriffsgefüge einfügen, sondern in das Begriffsgefüge einer öffentlichen und allen Personen gemeinsamen Sprache. Dies ist eine Grundbedingung zwischenmenschlicher Kommunikation und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die Aussage "Schnee ist grün" mag sich zwar widerspruchsfrei in das Begriffssystem einer selbst gebastelten Privatsprache einfügen. In der öffentlichen Sprache wird diese Aussage jedoch auf Widerspruch und Kritik stoßen. Mentale Inhalte sind daher Bestandteil eines holistischen Netzes, das weit über den Geist eines Einzelnen hinausreicht. Die Inhalte der Gedanken einer einzelnen Person erhalten folglich ihre Bedeutung nicht aus den Gedankenakten dieser Person, sondern aus zwischenmenschlicher Kommunikation und sozialen Praktiken, die durch Normen, Konventionen und Standards geprägt sind. Kausal verknüpfte Gedankenakte legen die Verknüpfung der Inhalte fest, nicht aber ihre Inhalte. Mentale Inhalte können folglich nicht auf Gedankenakte reduziert werden. Noch deutlicher wird diese These im wissenschaftlichen Weltbild, wo Gedankenakte als physikalische Prozesse im weitesten Sinne vorgestellt werden. Hier besagt die These, dass mentale Inhalte, also das, was wir denken, nicht auf kausal wechselwirkende physikalische Ereignisse, beispielsweise auf neurophysiologische Hirnprozesse, reduziert werden können. Warum sind Inhalte normativ? Gedankeninhalte sind innersprachliche, propositionale Ausdrücke. Inferenzielle Übergänge zwischen Gedankeninhalten, z.B. zwi-

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sehen zwei Überzeugungs- oder zwei Absichtsinhalten, unterliegen den Gesetzen der Logik und haben damit nach Sellars per se ein normatives Element, z.B.: Du sollst von den beiden Prämissen A und A:JB auf die Konklusion B schließen. Dieses Beispiel gründet auf Sellars' allgemeiner These, dass Theoretisches und Praktisches nicht getrennt werden kann. Sie behauptet "the inseparability, yet distinguishability, of theoretical and practical reason in all dimensions of human life" (SM 175). In praktische oder präskriptive Schlüsse fließen folglich stets auch theoretische oder deskriptive Faktoren ein, wie Überzeugungen oder deskriptive Feststellungen über bestimmte Handlungssituationen. Andererseits sind theoretische Aussagen stets auch durch praktische Faktoren bedingt, wie Normen, Regeln, Konventionen oder Kriterien. Sellars gehört damit zu den frühen Verteidigern der These, dass . Theoretisches und Praktisches einander wechselseitig bedingen. In der Moderne findet die Auseinandersetzung mit dieser These beispielsweise in der Debatte um die Wertneutralität von Wissenschaft und Technik ihren Fortgang. In Bezug auf Gedankeninhalte bedeutet diese These, dass alles theoretische Denkenper se durch Regeln, Kriterien undNormen bedingt ist, die nicht aus den Gedankenakten ableitbar sind, sondern Konventionen und zwischenmenschlicher Praktiken entspringen. Folglich können Gedankeninhalte nicht, wie es der Internalismus behauptet, ein Produkt der Gedankenakte sein. Vielmehr sind sie, wie der Externalismus behauptet, ein Produkt sozialer Phänomene (vgl. PSIM 16) und intersubjektiver Standards (vgl. PSIM 17) und damit durch eine inhärente, irreduzible Narrnativität gekennzeichnet. Zu Beginn dieses Unterabschnitts stand die Frage, ob Gedankeninhalte auf Gedankenakte reduzibel sind. Diese Frage kann aufgrundder vorangegangenen kritischen Prüfung nunmehr thesenartig beantwortet werden. · These: Mentale Inhalte sind nicht auf mentale Akte reduzibel, da erstens beide einander wechselseitig bedingen, zweitens beide unterschiedlicher Kategorie sind und drittens mentale Inhalte ein holistisches, normatives und intersubjektives Moment aufweisen. Ergo sind Gründe nicht auf Ursachen und Gründeerklärungen nicht auf Kausalerklärungen reduzibel. Das, was der Mensch denkt, behauptet oder beabsichtigt ist folglich auch ein holistisches, normatives und soziales Phänomen. Es sind Phänomene, die allein dem manifesten Weltbild eigen sind. Es gehört zu den herausragenden Leistungen Sellars' diesen nicht reduzierbaren Kern des manifesten Weltbildes herausgearbeitet zu haben (siehe auch Abs. 8.1 unten).

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6 Reduktionismus und Eliminativismus

(B) Sind theoretische Gedankenakte auf physikalische Gedankenakte reduzibel? Die Frage nach der Reduktion ist, wie gezeigt wurde, eine zweigeteilte. Erstens: Können innerhalb des manifesten Weltbildes mentale Inhalte auf theoretische und ontologisch noch unbestimmte mentale Akte reduziert werden? Zweitens: Können diese postulierten, theoretischen Gedankenakte des manifestenWeltbildesauf ontologisch bestimmte Gedankenakte des wissenschaftlichen Weltbildes reduziert werden? Diese beiden Fragen stellen sich vor allem für den wissenschaftlichen Realisten, der davon ausgeht, dass den postulierten, theoretischen Entitäten eine reale Existenz zukommt. Für den Instrumentalisten stellt sich lediglich die erste Frage, nicht jedoch die zweite, da für ihn theoretische Entitäten ausschließlich als Instrument zu Erklärungszwecken fungieren, denen darüber hinaus aber keine Existenz zukommt. Im vorigen Abschnitt wurde die erste Frage bereits mit Nein beantwortet. Im Folgenden wird nun der Versuch unternommen, auch die zweite Frage zu beantworten und zwar aus der Perspektive des wissenschaftlichen Realismus. Dieser verteidigt die These, dass es den Naturwissenschaften eines Tages gelingen wird, die Ontologie oder Existenzweise der bloß postulierten, theoretischen Gedankenentitäten empirisch zu bestimmen. Solange dies nicht der Fall ist, stellt sich die Situation wie folgt dar: Es gibt bereits innerhalb des manifesten Weltbildes einen Dualismus der Erklärung und somit, zumindest aus der Sichtweise Sellars', zwei kategorial unterschiedliche Weisen menschliche Handlungen zu erklären. Einerseits können sie auf der Inhaltsebene und somit im Raum der Gründe intentional mit Rekurs auf Absichten und Gründe erklärt werden. Andererseits können Handlungen auf der Aktebene und somit im Raum der Ursachen kausal erklärt werden. Da beide Ebenen oder Räume nicht aufeinander reduzibel sind, sind folglich intentionale Handlungserklärungen, die auf Gründe rekurrieren, nicht auf kausale Handlungserklärungen, die auf Ursachen rekurrieren, reduzibel. Dieser epistemische Dualismus der Erklärung impliziert aber keinen ontologischen Dualismus. Denn solange die theoretischen Gedankenentitäten noch unbestimmt sind, ist der Dualismus der Erklärung ontologisch neutraL Oder anders gesagt: Er ist sowohl mit dem ontologischen Dualismus als auch mit dem ontologischen Monismus verträglich. Sobald aber die Naturwissenschaften die Ontologie der bis dato bloß theoretischen Gedankenakte entdeckt haben, stellt sich die Situation anders dar. So ist auch Sellars als wissenschaftlicher Realist davon überzeugt, dass die Wissenschaften mentale Ereignisse in the long run als neurophysiologische Prozesse identifizieren werden. Für ihn ist es also nicht ausgeschlossen, dass die im manifesten Weltbild bloß als theoretische Entitäten postulierten Gedankenakte, obgleich nicht als neuronale Prozesse eingeführt, sich im wissenschaftlichen Weltbild als solche Prozesse erweisen werden. Damit entsteht aus dem Dualismus der Erklärung der bereits zu

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

Beginn dieses Kapitels genannte Trialismus der Erklärung, es sei denn, dass sich Erklärungen der Ebene der theoretischen Gedankenakte vollständig auf Erklärungen der Ebene der physikalischen 14 Akte reduzieren lassen. Sowohl die theoretischen Gedankenakte des manifesten als auch die physikalischen Akte des wissenschaftlichen Weltbildes gehören in den Raum der Ursachen. Sie sind ergo gleichermaßen Ereignisse, die kausal verknüpft sind und folglich kausal beschrieben und erklärt werden können. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass sich beide Erklärungen eines unterschiedlichen Vokabulars bedienen. Die kausalen Erklärungen des manifesten Weltbildes gründen auf intentionalen oder mentalen Termini, wie Wunsch, Absicht, Wille, Gedanke, Überzeugung sowie die entsprechenden Verbformen. Zum Beispiel: Peters mentaler Absichtsakt mit dem . mentalen Inhalt "Ich beabsichtige jetzt meine Hand zu heben" verursachte sein Handheben als Wirkung. Die kausale Beschreibung im wissenschaftlichen Weltbild wird sich dagegen ausschließlich einer physikalischen Terminologie bedienen. Zum Beispiel: Der in der D-Sektion der linken Hirnhälfte aktivierte neuronale Impuls verursachte einen Nervenimpuls, der sich über die Nervenbahnen zur Hand übertrug und dort eine Anspannung der Handmuskeln verursachte, was schließlich das Heben der Hand bewirkte. Eine Reduktion von Erklärungen im Bereich theoretischer Gedankenentitäten auf Erklärungen im Bereich physikalischer Entitäten ist also zumindest konsistent denkbar. Es ist allerdings eine Reduktion mit Verlusten, da bei dieser Reduktion das mentale Vokabular verloren geht. Obgleich also eine Reduktion des Raums der Ursachen des manifesten Weltbildes auf den Raum der Ursachen des wissenschaftlichen Weltbildes möglich ist, stellt sich dennoch die Frage, was damit gewonnen ist. Denn mit der Möglichkeit der Reduktion von einer höheren Erklärungsebene auf eine tiefere ist nicht zwangsläufig auch eine "bessere" Erklärung garantiert. Die neue Erklärung mag zwar tiefgehender sein, was aber nicht zugleich bedeutet, dass sie damit besser ist als die bisherige. Ob eine Erklärung besser oder schlechter ist, ist von vielfältigen Faktoren abhängig. Das Spektrum dieser Faktoren beginnt bei der Art der Frage, welche die Erklärung zu beantworten beansprucht, und reicht bis hin zur Konvention, was denn unter "besser" zu verstehen ist (Kap. III und X). Somit kann nun auch die Frage, ob theoretische Gedankenentitäten auf physikalische Entitäten reduzibel sind bzw. ob der Raum der Ursachen des manifesten Weltbildes auf den Raum der Ursachen des wissenschaftlichen Weltbildesreduzibel ist, beantwortet werden.

14

Der Begriff "physikalisch" wird auch hier wieder im weitesten Sinne verwendet. Das heißt, er schließt physikalische, chemische, biologische und neurophysiologische Prozesse gleichermaßen ein.

404

6 Reduktionismus und Eliminativismus

These: Eine Reduktion des Raums der Ursachen des manifesten Weltbildes auf den Raum der Ursachen des wissenschaftlichen Weltbildes ist widerspruchsfrei denkbar. Da sie einen Übergang des mentalen Vokabulars auf physikalische Termini beinhaltet, ist sie mit dem Verlust des mentalen Vokabulars verknüpft. Es sei an dieser Stelle nochmals daran erinnert, dass diese Reduktion nur hinsichtlich mentaler Akte möglich ist, nicht jedoch in puncto mentaler Inhalte. Diese bleiben irreduzibel. (C) Die Irreduzibilität des Raums der Gründe auf den Raum der Ursachen Unter Punkt (A) wurde begründet, dass innerhalb des manifesten Weltbildes die Ebene der Gedankeninhalte nicht auf die Ebene der postulierten, theoretischen Gedankenakte reduziert werden kann. Da Gedankeninhalte zum Raum der Gründe gehören und die postulierten Gedankenakte zum Raum der Ursachen folgt hieraus zugleich, dass diese beiden Räume gleichfalls nicht aufeinander reduzibel sind. Dieses Ergebnis bleibt auch dann gültig, wenn, wie unter Punkt (B) erörtert, der Raum der Ursachen des manifesten Weltbildes auf den Raum der Ursachen des wissenschaftlichen Weltbildes reduzibel ist. Das Gesamtergebnis gibt Tabelle 9.1 wieder. Ebene der

Raum der

Weltbild

Reduzierbarkeit

1

Gedankeninhalte

Gründe

manifest

nicht reduzibel auf (2) und folglieh nicht reduzibelauf (3)

2

ontologisch unbestimmten, theoretischen Gedankenakte

Ursachen

manifest

reduzibel auf (3)

3

ontologisch bestimmten Gedankenakte

Ursachen

Wissenschaftlieh

-

Tabelle 9.1: Reduktionen im manifesten und wissenschaftlichen Weltbild Aus dieser Tabelle wird Folgendes deutlich: Es geht beim Problem der Reduktion nicht um die Frage, ob das manifeste Weltbild auf das wissenschaftliche Weltbild reduziert werden kann. Denn diese Frage ist aufgrund ihrer Zweideutigkeit unpräzise. Sie muss entweder präzisiert oder in zwei Fragen gegliedert werden. Eine ·

405

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild präzisere Formulierung ist: Welche der beiden Ebenen oder welcher der beiden !:'j Räume des manifesten Weltbildes ist auf das wissenschaftliche Weltbild reduzibel? Die Antwort, so wurde oben begründet, lautet: Nur die Ebene der postulierten, . theoretischen Gedankenentitäten und damit der Raum der Ursachen des manifesten Weltbildes kann auf das wissenschaftlicheWeltbildreduziert werden, nicht aber der Raum der Gründe. Eine zweigeteilte Frage müsste demnach wie folgt lauten: . Kann der Raum der Gründe des manifesten Weltbildes auf das wissenschaftliche Weltbild reduziert werden? Und kann der Raum der Ursachen des manifesten Weltbildes auf das wissenschaftlicheWeltbildreduziert werden? Hier ist, wie nachgewiesen wurde, die erste Frage mit Nein und die zweite mit Ja zu beantworten. Das philosophische Kernproblem konzentriert sich damit auf die Frage nach dem Verhältnis vom Raum der Gründe und dem Raum der Ursachen, unabhängig davon, ob dieser Raum der Ursachen nun ins manifeste oder ins wissenschaftliche Weltbild gehört. Das Problem ist folglich auch unabhängig davon, ob man, wie Davidson, einen physikalischen Monismus vertritt, oder, wie Sellars, einen ontologisch neutralen Funktionalismus. Hier ist allerdings Vorsicht geboten. Wenn man wie Davidson nach dem Verhältnis des Mentalen zum Physischen fragt, so fragt man im Sinne Sellars' und der obigen Tabelle 9.1 nicht nach dem unproblematischen' Verhältnis postulierter Gedankenakte und physikalischer Akte. Vielmehr fragt man nach dem problematischen Verhältnis von mentalen Inhalten oder Gehalten und physikalischen Akten oder Ereignissen. In dieser Hinsicht ist Sellars' Position eng mit derjenigen Davidsons verwandt. Davidsons anomaler Monismus ist ein ontologischer Monismus, der, so wie bei Sellars, einen Dualismus der Beschreibung des Mentalen zulässt. In dieser Hinsicht wird Davidson auch von Seilars unterstützt: "This is the positive side of the argument for the identity theory which Davidson rests on the 'anomalousness' of the mental (VR FN 6). Obgleich Sellars' Position mit einem ontologischen Monismus im Sinne Davidsons verträglich ist, so ist sie doch nicht zu einem solchen verpflichtet, sondern ebenso mit einem ontologischen Dualismus verträglich. Sellars' Position impliziert also weder einen ontologischen Dualismus noch einen ontologischen Monismus. Sie ist mit beiden Positionen vereinbar. Sellars' Philosophie des Geistes ist ontologisch neutral. Die Kausalität des Raums der Ursachen sichert die Verknüpfung der mentalen Akte und Zustände als Träger der propositionalen Gedanken-, Überzeugungs- und Absichtsinhalte. Sie determiniert aber nicht diese Inhalte oder Gehalte und ergo nicht das, was gedacht, behauptet oder beabsichtigt wird. Denn die einzelnen Inhalte sind ein Resultat zwischenmenschlicher Kommunikation und Praktiken in einer sozialen Umwelt. Es sind Inhalte in propositionaler Form, die in einer reichhaltigen und facettenreichen Sprache zum Ausdruck kommen und innerhalb des Raums der Gründe in ein holistisches Netz theoretischen und praktischen Wissens eingebettet sind. Diese Inhalte sind nicht auf ein bloß kausalistisches Vokabular im Raum der Ursachen reduzibel. In dieser Behauptung sind zwei Kernthesen Sellars' vereint: die

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6 Reduktionismus und Eliminativismus

These des Holismus und die, dass alles theoretische und praktische Wissen in den Raum der Gründe und nicht in den Raum der Ursachen gehört. Vielleicht sind mit dem wissenschaftlichen Fortschritt die kausalen Verbindungen mentaler Akte eines Tages vollständig in einer rein physikalischen, also in einer nicht-mentalistischen Sprache erklärbar. Vielleicht wird es zudem möglich sein, diese Verbindungen in gewissen Grenzen unter Gesetzmäßigkeiten zu bringen. Es wäre aber ein Trugschluss anzunehmen, dass diese Gesetze unser Denken und Handeln determinieren. Denn das, was wir denken, was wir beabsichtigen und warum wir folglich handeln, wird nicht primär durch die kausalen Verknüpfungen der Vehikel der mentalen Inhalte bestimmt, sondern durch die jeweiligen mentalen Inhalte selbst. Der Inhalt-Akt-Reduktionismus erweist sich damit als Trugschluss. In diesem Sinne ist auch Sellars' Position eine nicht-reduktionistische. Einzelne Puzzleteile seines Gesamtwerkes ermöglichen zwar eine reduktionistische oder, wenn man hinreichend kleine Teile heraus pickt, auch eine eliminativistische Interpretation. Sein philosophisches Gesamtwerk erlaubt dies aber zweifelsfrei nicht. Dieses lässt nur einen Schluss zu: These 52: Mentale Inhalte sind nicht auf mentale Akte und der Raum der Gründe nicht auf den Raum der Ursachen reduzibel. Folglich sind Handlungsgründe nicht auf Handlungsursachen und Gründeerklärungen von Handlungen nicht auf Kausalerklärungen reduzibel. Ergo: Nicht-kausale Handlungserklärungen, wie Gründeerklärungen, sind autonom. Die damit bewiesene Autonomie von Gründeerklärungen gründet folglich auf Sellars' geistesphilosophischer Trennung mentaler Inhalte und mentaler Akte, die sich in den bisherigen Kapiteln als konsistent und kohärent erwiesen hat. Damit ist festzuhalten: These 53: Sellars' geistesphilosophische Begründung der Autonomie nicht-kausaler Handlungserklärungen ist plausibel. Er irrt allerdings in seiner Annahme, dass Handlungserklärungen logisch stringent und kausal konzipiert werden können. Die bereits in der Einleitung vorgestellten Thesen S2 und 53 sind damit bewiesen. Der Nachweis der beiden in These 53 behaupteten Irrtümer wurde bereits in den Kapiteln V und VII erbracht.

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

6.2 ELIMINATIVISMUS Untersuchungsgegenstand dieses Abschnitts ist das problematische Verhältnis Eliminativismus und philosophischer Handlungstheorie. Dieses Verhältnis ist des~ wegen problematisch, da sich philosophische Handlungstheorie und Eliminativis.:: mus unversöhnlich gegenüberstehen. Denn hat der Eliminativismus recht, so bedeutet dies das Ende der traditionellen Handlungstheorie. Die Frage nach der Be.:. deutung des Eliminativismus für die Handlungstheorie lässt ergo nur zwei kontra.:. verse Antworten zu: entweder ist der Eliminativismus für die Handlungstheorie ohne Bedeutung, weil seine Thesen falsch sind, oder die Handlungstheorie ist aufzugeben, da die eliminativistischen Thesen gültig sind. Die Idee des Eliminativismus geht auf C. D. Broad zurück, der bereits 1925 die Idee eines reinen Materialismus (pure materialism) formulierte, demzufoige mentalen Zuständen (mental states) nichts in der Welt entspricht (Broad 1925, 607-611). Einen frühen Vorschub für den Eliminativismus bereitete auch Seilars selbst, obgleich er diese Position nicht vertritt (vgl. Abs. 7 unten). Als wissenschaftlicher Realist verteidigt Sellars die These, dass seine bloß postulierten, theoretischen Gedankenentitäten sich in the long run - ganz im Sinne des Materialismus - als physiologische Entitäten erweisen. "[T]he fact that they arenot introduced as physiological entities does not preclude the possibility that at a later methodological Stage, they may, so to speak, 'turn out' to be such" (EPM 187).

Da sich zudem jede Theorie eines Tages als falsch herausstellen kann und daher durch eine andere zu ersetzen ist, schließt Seilars nicht aus, dass auch seine zum manifestenWeltbildgehörende Theorie der Gedanken "might have to be rejected, in the last analysis, as false" (PSIM 14). Aufgrund dieser und ähnlicher Behauptungen wird Sellars (fälschlicherweise) als ein Wegbereiter des Eliminativismus betrachtet, vor allem durch seinen Schüler Paul Churchland. Im Anschluss an Seilars sind es vor allem Paul Feyerabend und Richard Rorty, die der Idee einer möglicherweise falschen und deshalb zu eliminierenden Alltagspsychologie neuen Raum geben. So publiziert 1963 Feyerabend die Idee eines "purely physiological approach to human beings" (Feyerabend 1963a, 296) und fragt "why physiologists should leave the 'soul' out of their considerations" (Feyerabend 1963b, 65). Zweijahre später stellt Rorty eine Analogie zwischen nichtexistierenden Dämonen und Sinnesempfindungen auf und behauptet, dass Mentales wie Empfindungen, Gefühle und Sinneseindrücke "turn outtobe nothing but brain-processes" (Rorty 1965, 31). Gegenwärtig sind es vor allem das Ehepaar Churchland und Stephen Stich, die einen derart

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6 Reduktionismus und Eliminativismus

Firadikalen Eliminativismus verteidigen. 15 Der Eliminativismus vertritt zwei (provo(Lkative) Hauptthesen: ~;:

·.

' ·. (i)

r (ii)

Die Theorie der Alltagspsychologie (folk psychology) ist falsch. Sie muss daher eliminiert und durch eine naturwissenschaftliche Theorie ersetzt werden. Den Begriffen der Alltagspsychologie entspricht nichts in der Wirklichkeit. Mentale Zustände oder Phänomene, wie Absichten (intentions), Wünsche (desires) und Überzeugungen/Glauben (beliefs), haben keine Existenz. 16

Hinsichtlich dieser beiden Thesen sind zwei Hauptrichtungen des Eliminativismus, genau genommen des eliminativen Materialismus, zu differenzieren. 17 Der schwache Eliminativismus vertritt nur die These (i), d.h., die Existenz mentaler Entitäten wird nicht bestritten. Ihre wissenschaftliche Erklärung kann aber nicht von der Alltagspsychologie, sondern nur von den Naturwissenschaften geleistet werden. Savitt nennt dies treffend einen "ontologically conservative conceptual change" (Savitt 1974, 435). Der schwache Eliminativismus ermöglicht zwar Handlungen aus einer naturwissenschaftlichen Mikroperspektive heraus zu betrachten, verkennt dabei aber, dass diese Perspektive nur einen Blick auf die handlungsimmanente Körperbewegung öffnet, nicht aber auf die handlungskonstitutive Bedeutung dieser Bewegung. Der starke oder radikale Eliminativismus vertritt die These (i) und (ii), d.h., es sind nicht nur die Theorie der Alltagspsychologie zu eliminieren, sondern auch ihre Begriffe bzw. ihr Vokabular. Dies bezeichnet Savitt als einen "ontologically radical conceptual change" (a.a.O.). Wenn der radikale Eliminativismus recht hat, dann bedeutet dies das Ende der philosophischen Handlungstheorie, da er ihre Begriffe eliminiert.

•s

Zum Beispiel in: Churchland, Pau11981; Churchland, Patricia 1986 und Stich, Stephen 1983. Vgl. auch Wolfgang Huemer, deraus dem obigen Zitat Sellars' (PSIM 14) den Schluss zieht: "Sellars lässt also die Möglichkeit offen, dass wir in der Zukunft zu dem Schluss kommen könnten, dass das manifeste Bild insgesamt überholt ist und als Ganzes abgelöst werden sollte» (Huemer 2008, 3).

16

Damit hat auch der für viele Handlungstheorien konstitutive Begriff der Absicht keine Entsprechung in der Wirklichkeit. Denn es gibt, so der Eliminativismus, keine Absichten.

17

Der Begriff des Eliminativismus steht im Allgemeinen für den des eliminativen Materialismus, der die Elimination des Geistes bzw. die vollständige Reduktion des Geistes auf den Körper behauptet. Fasst man aber den Begriff des Eliminativismus weiter, so schließt er auch die mögliche Elimination des Körpers bzw. die restlose Reduktion des Körpers auf den Geist ein. Auf diese Variante wird hier nicht eingegangen.

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

Der Eliminativismus ist folglich eine Position, die nicht nur einen Einfluss auf die Philosophie des Geistes ausübt, sondern auch auf die Handlungs- und Wissenschaftstheorie. Er ist ein Problem der Wissenschaftstheorie, da er mit seiner These, dass die Theorie der Alltagspsychologie durch eine naturwissenschaftliche Theorie zu ersetzen ist, einen eliminativen Theorienwechsel (theory change) begründet. Er ist ein Problem der Handlungstheorie, da mit der Elimination der alltagspsychologischen Begriffe zugleich auch eine Elimination handlungstheoretischer Grundbegriffe, wie Wünsche, Überzeugungen, Absichten und Gründe verbunden ist. Wenn nämlich der Eliminativismus recht hat, dann gibt es beispielsweise für den Begriff der Absicht, der für viele Handlungstheorien konstitutiv ist, keine Entsprechung in der Wirklichkeit. Denn es gibt, so der Eliminativismus, keine Absichten. Die Handlungstheorie ist dann durch eine naturwissenschaftliche, behavioristische Verhaltenstheorie oder durch eine neurobiologische Theorie zu ersetzen~ Hieraus ergeben sich für die philosophische Handlungstheorie die folgenden Konsequenzen: (1) Mit der Elimination des alltagspsychologischen Vokabulars wird zugleich das mentale Vokabular der philosophischen Handlungstheorie eliminiert. (2) Die Elimination der Alltagspsychologie impliziert folglich die Elimination der (traditionellen) philosophischen Handlungstheorie. (3) Handlungserklärungen sind durch Verhaltenserklärungen und Gründeerklärungen von Handlungen durch Ursachenerklärungen zu ersetzen. Diese Konsequenzen des Eliminativismus für die philosophische Handlungstheorie sind also außerordentlich weitreichend. Allerdings treten sie nur dann ein, wenn der Eliminativismus mit seinen Thesen recht hat. Gegen seine These (i) spricht, dass die Alltagspsychologie mit ihren Verallgemeinerungen durchaus das Potential hat, plausible Erklärungen zu geben und in dieser Hinsicht, entgegen der Behauptung der Eliminativisten, auch in Grenzen erfolgreich ist (vgL Esfeld 2005, 156). Sie hat zwar nicht die Präzision und Strenge einer auf Gesetzen gründenden naturwissenschaftlichen Theorie, aber ein Mangel an Präzision und das Fehlen von strikten Gesetzen impliziert nicht die Falschheit einer Theorie. These (i) kann daher keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen. Dies gilt auch für die ontologische These (ii), die allerdings schwieriger zu widerlegen ist. Denn hierzu ist zunächst zu untersuchen, unter welchen Bedingungen eine Elimination überhaupt möglich ist. Eine Elimination von A zugunsren von B ist immer dann möglich, wenn entweder A vollständig (restlos) auf B reduzibel ist, oder wenn vice versa A vollständig irreduzibel ist. Wenn A vollständig auf B reduzibel ist, dann kann man zwar A eliminieren, aber es besteht dazu keine Notwendigkeit. Sind beispielsweise A die durch Seilars postulierten mentalen Akte und B die damit korrespondierenden physikalischen Ereignisse, so kann es durchaus sinnvoll sein, A zu bewahren, da A eine andere und, je nach Problemstellung, auch bessere Erklärungsperspektive eröffnet als B. Die durch eine vollständige Reduktion ermöglichte Elimination impliziert folglich keine notwendige Elimination.

410

.· : ·• .

6 Reduktionismus und Eliminativismus

Wenn A dagegen vollständig irreduzibel ist, dann könnte der Grund hierfür sein, dass A nichts in der Wirklichkeit entspricht. Dies gilt folglich auch für das Mentale, genau genommen für die mentalen Inhalte, die im vorigen Abschnitt als irreduzibel begründet wurden. "Wenn sich eine Reduktion mentaler Begriffe als unmöglich erweist, dann beziehen sich diese Begriffe auf nichts, und man muss sie eliminieren." (a.a.O.). Der Status von A bzw. der Status mentaler Inhalte wäre dann ähnlich dem von Hexen und Dämonen, die gleichfalls keine Entsprechung in der Wirklichkeit haben und folglich zu eliminieren sind. Der Begriff der Wirklichkeit wird hier auf die physikalische Wirklichkeit begrenzt. Mentale Inhalte - und somit das, was wir denken oder beabsichtigen - sind aber, obgleich nicht physikalischer Natur, dennoch Teil unserer Wirklichkeit und somit unserer alltäglichen Erfahrung. Denn mentale Inhalte verleihen unseren Handlungen ihre Bedeutung und entfalten somit zwar keine physikalische, aber eine semantische Wirkung. In diesem Sinne haben unsere Denkinhalte, entgegen Hexen und Dämonen, sehr wohl eine Wirklichkeit und Existenz, auch wenn ihr Existenzstatus kein physikalischer ist. Die Elimination mentaler Inhalte ist ergo unzulässig; abgesehen davon, dass mit ihrer Elimination zugleich das Selbstverständnis des Menschen als Mensch eliminiert würde. These (ii) ist daher zumindest hinsichtlich mentaler Inhalte falsch. Die Crux ist, dass selbst Eliminativisten auf mentale Inhalte angewiesen sind. Denn sie benötigen zur Artikulation ihrer Überzeugungen nicht nur ein Sprachorgan, sondern auch begriffliche Inhalte, die ihren physikalischen Lauten eine Bedeutung geben. Ohne diese bedeutungsgebenden Inhalte können sie ihre Überzeugungen (die mentaler Natur sind) nicht zum Ausdruck bringen. Mit der angestrebten Elimination mentaler Inhalte eliminiert sich folglich der Eliminativismus selbst (vgl. Beckermann 2001, 262f und Esfeld 2005, 156f). Der Eliminativismus erweist sich als eine Position, die vor allem auf Spekulation gründet oder, wie Seilars sagen würde, eine Position, die versucht ,,to see the future as in a glass darkly" (SK 331). So behauptet beispielsweise Paul Churchland in seinem Buch Seelenmaschine (2001), dass nicht nur Wahrnehmungen neurophysiologisch erklärt werden können, sondern auch das Bewusstsein des eigenen Ichs. Das eigene Ich resultiere allein daraus, dass alle Personen unterschiedlich neurophysiologisch vernetzt sind. Es gibt also keine zwei Personen, deren mentale Zustände in gleicher Weise verknüpft sind. Jede Person denkt und handelt also individuell. Churchland übersieht aber, dass es nicht die individuelle Vernetzung der mentalen Akte oder Zustände ist, die bestimmt, was eine Person denkt, was sie beabsichtigt und wie sie schließlich handelt. Es sind, wie oben nachgewiesen wurde, allein die mentalen Inhalte, die dies entscheiden. Diese gehen allerdings bei der radikalen Reduktion des Mentalen auf das Physische unweigerlich verloren. Zur Erläuterung der Reduktion wählt Churchland als Analogie das Wellenmodelt des Lichtes. Mit diesem Modell wird sozusagen die Alltagstheorie des Lichtes auf die naturwissenschaftliche Wellentheorie reduziert. Churchland erwähnt aber nicht, dass es noch

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

ein zweites Modell gibt, nämlich das Teilchenmodell des Lichtes, und dass dieses Modell durch das Wellenmodell nicht eliminiert wird. Mit einer Reduktion des Lichtes auf das Wellenmodell ist also der Welle-Teilchen-Dualismus des Lichtes keineswegs aufgehoben. Auch nach der Reduktion ermöglicht das Teilchenmodell einige Phänomene des Lichtes immer noch besser zu erklären als das WellenmodelL Die Reduktion des Lichtes aufWellen bei gleichzeitiger Elimination des Teilchenmodells ist also verlustbehaftet. Gleiches gilt uneingeschränkt für die Reduktion des Mentalen auf das Physische und für die Reduktion von Gründeerklärungen auf Kausalerklärungen. Beide Reduktionen sind verlustbehaftet. Ihr Verlust besteht in beiden Fällen in der Elimination einer autonomen Erklärungsweise. Mentale Erklärungen sind nicht per se schlechter oder besser als physikalische Erklärungen, sie erklären das zu erklärende mentale Phänomen nur aus einer kategorial anderen Betrachtungsperspektive. Gleichfalls sind Gründeerklärungen nicht per se-schlechter oder besser als Kausalerklärungen, sie erklären Handlungen nur aus einer kategorial anderen Perspektive. Gründeerklärungen rekurrieren auf Handlungs- und Absichtsinhalte, die den Grund der Handlung artikulieren und damit zum Ausdruck bringen, warum beispielsweise Peter seinen Arm hebt. Kausalerklärungen rekurrieren auf Handlungs- und Absichtsereignisse und folglich auf die Ursache der handlungsimmanenten Körperbewegung. Gründeerklärungen und Kausalerklärungen erklären folglich etwas kategorial Unterschiedliches, obgleich beide gleichermaßen ihren Blick auf Handlungen richten. Zusammenfassend ist damit festzuhalten: Der Eliminativismus ist von einem blinden Drang nach einer einheitlichen naturwissenschaftlichen Erklarung geprägt und verkennt dabei, dass es hinsichtlich des Mentalen und bezüglich menschlicher Handlungen einen zumindest epistemischen Dualismus gibt, der zwei autonome und kategorial unterschiedliche Erklarungsarten umfasst. Es wurde begründet, dass beide Hauptthesen des Eliminativismus zurückzuweisen sind. Die Ausgangsfrage nach der Bedeutung des Eliminativismus für die philosophische Handlungstheorie ist somit beantwortet: Der Eliminativismus ist fiir die Handlungstheorie ohne Bedeutung, da seine Thesen falsch sind.

7 IST SELLARS EIN REDUKTIONIST? Eine der schwierigen Fragen in puncto der Philosophie Sellars' ist: Vertritt Seilars eine reduktionistische Position oder nicht? Innerhalb seiner Philosophie des Geistes stellt sich diese Frage wie folgt dar: Können Gedankeninhalte, wie Überzeugungs- oder Absichtsinhalte, auf Gedankenakte, wie Überzeugungs- oder Absichtsakte, reduziert werden? Diese Frage gilt ungeachtet dessen, ob Gedankenakte bloß postulierte theoretische Entitäten sind oder bereits ontologisch bestimmte

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7 Ist Seilars ein Reduktionist?

physikalische Entitäten im weitesten Sinne. Im Rahmen seiner Handlungstheorie läuft dagegen die Frage, ob Seilars ein Reduktionist ist oder nicht, auf die folgende Frage hinaus: Können Gründe Ursachen sein und können Gründeerklärungen von Handlungen auf Kausalerklärungen reduziert werden? Wie bereits nachgewiesen wurde, ist bei Seilars die Beantwortung dieser handlungstheoretischen Frage untrennbar mit der Beantwortung der zuvor gestellten geistesphilosophischen Frage verknüpft.

7.1 CONTRA EINER REDUKTIONISTISCHEN POSITION SELLARS' Die in den vorangegangenen Abschnitten und Kapiteln erzielten Ergebnisse implizieren hinsichtlich der Frage, ob Seilars eine reduktionistische Position vertritt, nur eine einzige Antwort: Nein. Die Begründungen, die für diese klare Antwort abgeleitet wurden, sollen hier nicht mehr im Detail wiederholt werden. Es genügt, sie nochmals kurz in Erinnerung zu rufen. Als entscheidende Prämisse für die Behauptung, dass Seilars keine reduktionistische Position vertritt, hat sich seine kategoriale Trennung mentaler Inhalte und mentaler Akte erwiesen und zwar sowohl in der Philosophie des Geistes als auch in der philosophischen Handlungstheorie. Es wurde nachgewiesen, dass mentale Inhalte und Akte zumindest aus zwei Gründen nicht aufeinander reduziert werden können. Im folgenden ersten Contra-Argument sind diese beiden Gründe nochmals aufgeführt: Mentale Inhalte und mentale Akte sind nicht aufeinander reduzibel, da sie sich erstens einander wechselseitig bedingen und zweitens mentale Inhalte nonnativer und holistischer Natur sind. Das zweite Argument gegen eine mögliche Reduktion von Gedankeninhalten auf Gedankenakte ist das des Kategorienfehlers. Gedankeninhalte sind Propositionen. Gedankenakte sind dagegen kausal wirksame theoretische Entitäten {im manifesten Weltbild) oder kausal wirksame physikalische Ereignisse (im wissenschaftlichen Weltbild). Folglich gehören beide unterschiedlichen Kategorien an, die nicht aufeinander reduzibel sind. Die Frage, ob Inhalte auf Akte reduzibel sind, ist also aufgrund divergierender Kategorien sinnlos. "[G] enausogut könnten wir fragen, ob grün dreieckig sei und wovon Dreiecke sich ernähren" (Magee 1997, 220). Auf den Fehler der Kategorienverwechslung hat bereits Ryle hingewiesen. In der Ebene der Gedankeninhalte stehen Gedanken in einer rationalen Beziehung, die logischen Prinzipien unterliegt und durch soziale Praktiken und durch intersubjektive Konventionen, Normen und Standards geprägt ist. In dieser Ebene stehen die propositionalen Gehalte in einem "Netzwerk normativ-inferenzieller Zusammenhänge" .

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

(Rosenberg 2000, 645) und damit in einem "logischen Raum des und Gründegebens" (a.a.O.). Damit sind Gedanken intrinsisch normativ oben). Aufgrund ihrer inhärenten Narrnativität ist die Ebene der Ge~da.nk,em.nhal nicht auf die rein kausalen Beziehungen der Ebene der Gedankenereignisse bel. 18 Das obige Argument kann damit wie folgt paraphrasiert werden: Das normative und holistische Moment des Raums der Gründe verhinden seine Reduktion auf den Raum der Ursachen. Als Korollar folgt hieraus: Gründe können nicht auf Ursachen und Gründeerklärungen von Handlungen nicht auf Kausalerklärungen reduziert werden (Kap. I, These $2). Gründeerklärungen scheinen also etwas zu umfassen, das nicht auf Kausalerklärungen reduziert werden kann bzw. das bei einer Reduktion verloren gehen würde. Doch worin besteht dieses Etwas? Gründeerklärungen beziehen sich auf Personen, ihre Absichten und Handlungsüberlegungen. Kausalerklärung beziehen sich dagegen auf Objekte und physikalische Ereignisse. "To say that a certain person desired to do A [... ] is not to describe him as one might describe a scientific specimen" (PSIM 39). Das gesuchte Etwas, was Gründeerklärungen gegenüber Kausalerklärungen abgrenzt und als autonom auszeichnet, ist also im Begriff der Person zu suchen. "And it is this something more which is the irreducible core of the framewo~k of persons. In what does this something more consist?" (PSIM 39).

Personen sind mehr als bloß physische Objekte, denn Personen artikulieren Wünsche, Absichten und Überzeugungen und führen innerhalb einer durch Normen und Konventionen geprägten Gemeinschaft ein individuelles und zugleich soziales Leben. Individualität, Rationalität, Intentionalität, Kreativität und Narrnativität sind also diejenigen Momente, die sich der Reduktion widersetzen und ergo das gesuchte Etwas ("this something more") bilden. "Thus the conceptual framework of persons is the framewerk in which we think of one another as sharing the community intentions which provide the ambience of p:rinciples and Standards (above all, those which make meaningful discourse and rationality itself

18

Ähnlich auch Hösle: "Für Seilars wie McDowell und Brandom sind epistemische Eigenschaften normativer Natur- ihre "Naturalisierung", ihre Reduktion[ ... ] ist also grundsätzlich ausgeschlossen" (Hösle 2005, 145).

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7 Ist Seilars ein Reduktionist?

within which we live our own individuallives. A person can almost be defined as a being that has intentions (PSIM 40). irreduzible Kern umfasst folglich zunächst die individuellen Absichten (und die mit den individuellen Absichten (und Überzeugungen) andePersonen und den gemeinschaftlichen Absichten (und Überzeugungen) un"'ttennbarverknüpft sind. Dieses Netz aus Absichten und Überzeugungen, das über ~die individuellen Absichten und Überzeugungen einzelner Personen weit hinaus!: reicht, bildet einen holistischen Rahmen, der einzelne Personen zu Gemeinschaften (' verbindet. Vor diesem holistischen Hintergrund können Absichten und Überzeui; gungennicht isoliert betrachtet werden. Denn die Inhalte handlungsrelevanter Ab; sichten und Überzeugungen konstituieren sich stets in einem komplexen "Gefüge ' der Absichten" (Davidson 1995, 40) und in einem ebenso komplexen "Gefüge der Überzeugungen" (a.a. 0.). Aus geist es philosophischer Sicht sind es also wiederum, wie bereits begründet wurde, die mentalen Inhalte, die aufgrundihres holistischen Hintergrundes nicht auf die neuronalen Hirnprozesse des wissenschaftlichen Weltbildes reduziert werden können. Reduzibel sind, wie nachgewiesen wurde, nur die mentalen Akte nicht aber ihre Inhalte. Erstere unterstehen der Ordnung der Ursachen, letztere der Ordnung der Gründe. Mentale Inhalte konstituieren folglich einen autonomen Raum der Gründe und der Rechtfertigung und damit einen eigenständigen Raum des Wissens und der Erkenntnis. Der Raum der Gründe bildet somit den holistischen Hintergrund, vor dem sich jede theoretische und praktische Erkenntnis ausweisen muss. Es ist aber auch ein Raum intersubjektiver Regeln, Konventionen und Standards {ethische, logische u.a., vgl. PSIM 38). Daher besitzt dieser Raum nicht nur ein logisches und rationales Moment, sondern auch ein normatives und soziales. Damit sind es zumindest drei miteinander verknüpfte Momente, die sich einer (restfreien) Reduktion in den Raum der Ursachen widersetzen: erstens der holistische Hintergrund, zweitens die Narrnativität und drittens die Intersubjektivität. Da diese drei Momente auch zu den Konstituenten einer menschlichen Gemeinschaft bzw. eines :~>wir< gehören, kann man sie im Sinne Sellars' auch unter dem Begriff der "irreducibility of 'we'" (PSIM 40, FN 1) subsumieren. Die Irreduzibilität des Raums der Gründe hat zur Folge, dass eine zu diesem Raum gehörende Theorie der Erkenntnis oder Rechtfertigung nicht auf eine empi~ rische Psychologie oder auf kausale Mechanismen des Zustandekoromens von Überzeugungen und Absichten reduziert werden kann. Gegen eine reduktionistische Position Sellars' spricht auch der folgende V ergleich, der eine Reduktion mentaler Inhalte auf mentale oder physikalische Ereig~ nissemit dem naturalistischen Fehlschluss gleichsetzt.

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Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

"Now the idea that epistemic facts can be analysed 'Without remainder even 'in princiinto non~epistemic facts (...] is, I believe, a radical mistake, a mistake of a piece with the so-called 'naturalistic fallacy' of ethics. n (EPM 131)

In diesem Zitat repräsentieren die epistemischen Fakten die in den mentalen Inhalten ausgedrückten theoretischen Schlüsse oder Erkenntnisse. Diese Inhalte können nicht aus empirischen und somit nicht-epistemischen Fakten kausal verknüpfter mentaler Akte deduziert werden. "From this point of view, the irreducibi!ity of the personal is the irreducibility of the 'ought' to the 'is"' (PSIM 39). In klarer und unmissverständlicher Weise spricht sich SeHars in seinem Werk PSIM gegen den Reduktionismus aus. Die oben bereits aufgeführten Zitate aus PSIM lieferten hierfür bereits schlüssige Gründe. Besonders deutlich wird Sellars' · Position jedoch im letzten Kapitel von PSIM, wo er die Frage nach der Möglichkeit der wissenschaftlichen Rekonstruktion des manifesten Bildes des Menschen stellt. Er kommt zum Schluss "that such a reconstruction is in principle impossible" (PSIM 38) und führt den bereits oben abgeleiteten irreduziblen Kern (irreducible core) als Grund an. Was ist also zu tun? Die Rückwendung zu den folgenden drei Alternativen lehnt Seilars als inakzeptabel ab (siehe PSIM 38f ):

(i)

autonomes manifestes und autonomes wissenschaftliches Weltbild (Dualismus)

(ü)

Primat des "';ssenschaftlichen Weltbildes (Eliminativismus)

(iii)

Primat des manifesten Weltbildes (Instrumentalismus)

Es gibt keine andere Stelle in Sellars' Gesamtwerk, wo er so konzentriert gleichzeitig Stellung gegenüber dem Dualismus, dem Eliminativismus und dem Instrumentalismus bezieht. Da Seilars die aufgeführten drei Alternativen gleichermaßen ablehnt, bleibt ihm letztendlich selbst nur ein Ausweg: die Integration beider Weltbilder zu einem einzigen. Dieses synoptische Weltbild ist zwar ein wissenschaftliches, aber eines, das um die nicht-reduzierbaren Komponenten des manifesten Weltbildes anzureichern ist. "Thus the conceptual framework of persons is not something that needs to be reconciled with the scientific image, but rather something to be joined to it. Thus, to complete the scientific image we need to enrich it not with more ways of saying what is the case, but with the language of community and individual intentions [...). But to do so is [...] to transcend the dualism of the manifest and scientific images of man-of-the-world " (PSIM 40).

416

7 Ist Seilars ein Reduktionist?

Zusammenfassend können also die folgenden Argumente contra einer reduktionistischen Position Sellars' aufgeführt werden: erstens die wechselseitige Bedingtheit mentaler Inhalte (z.B. Handlungsgründe) und mentaler Akte (Handlungsursachen bzw. die Ursachen handlungsimmanenter Körperbewegungen), zweitens die exklusiv normative, soziale, sprachliche, intersubjektive und holistische Natur mentaler Inhalte oder Gehalte, drittens das Argument des Kategorienfehlers und viertens die Analogie zum naturalistischen Fehlschluss.

7.2 PRO EINER REDUKTIONISTISCHEN POSITION SELLARS' Die Schwierigkeit in der Beantwortung der Frage, ob Seilars eine reduktionistische Position verteidigt, besteht vor allem darin, dass Sellars' Philosophie scheinbar auch Argumente pro einer reduktionistischen Position bereitstellt. Aus der Perspektive seines Gesamtwerkes gibt es zwar, wie oben begründet wurde, nur eine Antwort, nämlich, dass Seilars kein Reduktionist ist. Aber innerhalb seines Werkes finden sich auch Aussagen, die nicht so recht in dieses Gesamtbild einer nicht-reduktionistischen Position zu passen scheinen und der Behauptung, dass Seilars ein Reduktionist oder gar ein Eliminativist ist, partikulär Nahrung geben. So äußert Sellars an einigen Stellen seines Gesamtwerkes die Vermutung, dass die Natutwissenschaften eines Tages die Existenzweise der bis dato bloß postulierten, theoretischen Gedankenakte oder -episoden entdecken werden. An anderen Stellen gehen diese Vermutungen in die konkrete Behauptung über, dass Gedankenakte neurophysiologische Aktivitäten sind: "[T]hinking must be correctly located in a context of neurophysiological activity" (SK 318).

Solche und ähnliche Zitate 19 legen den Schluss nahe, dass Seilars eine reduktionistische Position vertritt, die eine Reduktion des Mentalen auf das Physische oder Neurophysiologische behauptet. So zum Beispiel Thomas Blume, der in seiner Einleitung zur deutschen Übersetzung von Sellars' Empiricism and the Philosophy of Mind von einem reduktionistischen Akzent in Sellars' Werken spricht. Erbe19

Siehe auch PSIM 22ff und 30ff.

417

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

gründet diesen Akzent durch "die Annahme, daß es sich bei einer auf Gedanken, Überzeugungen oder Wünschen basierenden Theorie nur um die Vorstufe zu einer allein auf neurophysiologischen Entitäten beruhenden, physikalischen Mikrotheorie des Verhaltens handelt" (Blume 1999, XXXV). Patricia Churchland, Paul Churchland und Stephen Stich gehen gar noch einen Schritt weiter und behaupten, dass die Reduktion des Mentalen auf das Physische die Möglichkeit eröffnet, die Alltagspsychologie und somit Sellars' Theorie der Gedanken vollständig auf die Neurophysiologie zu reduzieren, sodass sie schließlich eliminiert werden kann. Im Folgenden werden die Argumente, die das Ziel verfolgen, eine reduktionistische Position Sellars' zu beweisen, als Pro-Argumente bezeichnet. Es wird begründet, dass diese Argumente einen Fehler aufweisen und folglich keinen Anspruch auf Gültigkeit erheben können. Alle Pro-Argumente bejahen zunächst Sellars' Behauptung, dass mentale Akte eines Tages als physikalische Akte im weitesten Sinne erwiesen werden, z.B. als neurophysiologische Akte. Der weitere Fortgang der Pro-Argumente hat dann die folgende Struktur: (P) (K)

Mentale Akte sind physische Akte. Ergo: Mentales kann auf Physisches reduziert werden.

Wenn dieses Argument schlüssig ist, dann ist Seilars tatsächlich ein Reduktionist. Aber das Argument ist nicht schlüssig. Denn es unterstellt die Identität zweier Begriffe, die innerhalb der Seilarssehen Philosophie des Geistes nicht identisch sind. Es sind der Begriff des mentalen Aktes und der Begriff des Mentalen. Das Argument verkennt oder leugnet, dass Seilars strikt und konsequent zwischen mentalen Inhalten und mentalen Akten differenziert und diese Trennung in seinem Gesamtwerk kein einziges Mal in Frage stellt oder gar aufgibt. Im Gegenteil: Sellars weist auch im Rahmen seiner Handlungstheorie immer wieder ausdrücklich auf diese kategoriale Differenzierung hin. Mentales umfasst folglich als Oberbegriff immer einen Akt, der in den Raum der Ursachen gehört, und einen Inhalt, der zum Raum der Gründe gehört. In gleicherWeise gliedern sich Überzeugungen und Absichten stets in einen Überzeugungs- bzw. Absichtsakt und in einen Überzeugungs- bzw. Absichtsinhalt. Wenn Sellars behauptet, dass Gedankenakte sich eines Tages als physikalische Akte herausstellen werden, dann bezieht er sich folglich nur auf diese kausal verknüpften mentalen Akte, aber nicht zugleich auf die untereinander logisch verknüpften mentalen Inhalte oder intentionalen Gehalte. Genau dies aber unterstellt das obige Pro-Argument. Es begeht daher den Fehler, dass es von einer partikulären Aussage (P), die nur auf mentale Akte bezogen ist, logisch unzulässig auf eine allgemeine Aussage (K) schließt, die auf das Mentale im Allgemeinen gerichtet ist. Aus der Prämisse, dass mentale Akte und physische Akte identisch sind, folgt daher nicht, dass mentale Akte und zugleich mentale Inhalte auf Physisches

418

'j .·• •· . .·

.· .

7 Ist Seilars ein Reduktionist?

reduzibel sind. Wie oben nachgewiesen wurde, entziehen sich mentale Inhalte gerade einer solchen Reduktion. Das Pro-Argument begründet folglich keinen allgemeinen Reduktionismus. Die These des wissenschaftlichen Realismus, dass die Existenzweise theoretischer Gedankenentitäten eines Tages entdeckt wird, ist ergo als Prämisse des Pro-Arguments nicht hinreichend, um eine reduktionistische Position Sellars' zu beweisen. Das Mentale bewahrt aufgrundseiner irreduziblen mentalen Gehalte, und hierzu gehören auch die Handlungsgründe, seine Autonomie gegenüber dem Physischen. . Wenn Sellars die Möglichkeit in Betracht zieht, dass Gedankenakte oder -zustände sich eines Tages als neuronale Akte oder Erregungszustände im Gehirn erweisen, dann vertritt er einen partikulären Reduktionismus. Nur in dieser abgeschwächten Form kann ein Pro-Argument Gültigkeit beanspruchen. Aber auch hier ist Vorsicht geboten. Denn bei dem genannten partikulären Reduktionismus handelt es sich zunächst nur um einen ontologischen Reduktionismus, der nicht per se einen epistemischen oder erkenntnistheoretischen Reduktionismus impliziert. So erlaubt Sellars' Werk an keiner Stelle den Schluss, dass die mentale Beschreibungsart auf eine physikalische reduzierbar ist und schon gar nicht, dass sie eliminierbar ist. Gedankenzustände sind Zustände in der sich eine Person befindet. Solcherart konzipierte Zustände lassen die für das manifeste Weltbild konstitutive Einheit der Person unberührt. Gedankenzustände sind folglich keine lokalisierbaren Zustände in der Person. Erst die lokalisierbaren Gehirnzustände des wissenschaftlichen Weltbildes zerlegen die Person in neue basic individuals und damit in einzelne Zustände in der Person, die im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts ggf. sukzessive der instrumentellen Beobachtung zugeführt werden können. Ungeachtet eines möglichen ontologischen Reduktionismus eröffnet Sellars' Position stets zwei kategorial unterschiedliche Perspektiven der Beschreibung und Erklärung, und zwar des Mentalen einerseits und menschlicher Handlungen andererseits. Der reduktionistische Akzent Sellars' hinsichtlich mentaler Akte bezieht sich somit ausschließlich auf ihre Ontologie, nicht jedoch auf ihre epistemische Beschreibung. In dieser Hinsicht geht Sellars, wie oben bereits nachgewiesen wurde, konform mit Davidsons anomalen Monismus. Während nämlich Physisches nur physikalisch beschrieben werden kann, können Mentales und menschliche Handlungen stets physikalisch und mental beschrieben werden. Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass Seilars nur hinsichtlich der Ontologie mentaler Akte ein Reduktionist ist (ontologischerReduktionismus), nicht jedoch in puncto mentaler Inhalte einerseits und der epistemischen Beschreibung des Mentalen andererseits.

419

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

8 WAS ZEICHNET SELLARS' HANDLUNGSTHEORIE AUS? Mit dem vorliegenden Kapitel endet die kritische Auseinandersetzung mit der philosophischen Handlungstheorie Sellars'. In diesem Abschnitt werden daher die Besonderheiten und herausragenden Merkmale seiner Handlungstheorie nochmals zusammengefasst. Dabei werden auch die wesentlichen Probleme und Defizite seiner Handlungstheorie noch einmal explizit aufgeführt. Hinsichtlich der Begründung der nachfolgenden Ergebnisse wird auf die entsprechenden Kapitel verwiesen, in denen diese Ergebnisse abgeleitet wurden.

8.1 BESONDERHEITEN UND HERAUSRAGENDE MERKMALE ., Sellars' philosophische Handlungstheorie wurde bislang kaum rezipiert. 20 Dies gilt vor allem für seine jüngsten handlungstheoretischen Werke, welche die bereits in den Frühwerken sich abzeichnende Verbindung zur Philosophie des Geistes weiter vertiefen und festigen. In den Rezeptionen, die dem Gesamtwerk Sellars' gewidmet sind (z.B. De Vries 2005, O'Shea 2007 und Seiht 2007), nehmen die handlungstheoretischen Arbeiten Sellars' nur einen geringen Raum ein. Zudem sind sie vorwiegend auf seine Logik der Absicht und des praktischen Schließens fokussiert. Diese Logiken sind aber nicht von der Qualität, um sie als ein besonderes oder herausragendes Merkmal seiner Handlungstheorie zu qualifizieren. Sie gehören vielmehr eher zu ihren Defiziten (Abs. 8.2). Die der Logik der Absicht und des praktischen Schließens gewidmeten Frühwerke Sellars' wurden 1975 insbesondere durch Bruce A. Aune, Hector-Neri Castaiieda und Alan Donogan rezipiert. Die unten aufgeführten zehn Kernergebnisse wurden in den vorangegangenen Kapiteln im Rahmen der kritischen Auseinandersetzung mit der Handlungstheorie Sellars' sukzessive deduziert. Sie beziehen sich ausschließlich auf den tiefgründigeren, geistesphilosophisch fundierten Teil seiner Handlungstheorie. Der in dieser Hinsicht wohl einzige interessante Aspekt der oben genannten Logiken ist, dass auch sie bereits ihre Wurzeln in der Seilarssehen Philosophie des Geistes haben, obgleich dies nicht auf den ersten Blick erkennbar ist. (i)

20

Sellars' philosophische Handlungstheorie gründet auf seiner Philosophie des Geistes und kann ohne sie nicht verstanden werden. Denn der Schlüssel zum Verständnis seiner Handlungstheorie liegt in seiner strik-

In ihrer Gesamtdarstellung wurde sie bis datto noch gar nicht rezipiert. Auch Seilars selbst hat seine philosophische Handlungstheorie nie als geschlossenes Ganzes publiziert, was im Übrigen auch für seine Philosophie des Geistes, seine Sprachphilosophie, seine Bedeutungstheorie usw. gilt.

420

8 Was zeichnet Sellars' Handlungstheorie aus?

ten geistesphilosophischen Trennungvon Gedanken, wie handlungsrelevanten Absichten und Überzeugungen, in bedeutungsvolle Inhalte oder Gehalte und kausal wirksame Akte (Kap. VI ff). (ii)

Das Problem der Handlungserklärung, in seiner Formulierung als problematisches Verhältnis von Gründe- und Kausalerklärung einerseits und von Absicht und Handlung andererseits, spiegelt sich in Sellars' Handlungstheorie in drei weiteren problematischen Relationen wider: (1) mentaler Inhalt und mentaler Akt, (2) Raum der Gründe und Raum der Ursachen sowie (3) manifestes und wissenschaftliches Weltbild (Kap. VII ff, These Sl).

(iii)

Die Trennung von Inhalt und Akt eröffnet kategorial unterschiedliche Perspektiven der Betrachtung, Beschreibung und Erklärung menschlicher Handlungen, Inferenzen (z.B. theoretischer und praktischer Schlüsse) und Wahrnehmungen (Kap. VI ff).

(iv)

Absichtsinhalte drücken aus, was durch eine Handlung realisiert wird, Absichtsakte sorgen kausal dafür, dass die Handlung realisiert wird. Oder frei nach Kant formuliert: Absichtsinhalte ohne Absichtsakte sind blind. Absichtsakte ohne Absichtsinhalte sind leer (Kap. VII).

21

(v)

Die Trennung von Inhalt und Akt ermöglicht traditionell unversöhnliche Gegensätze zu vereinen. Hierzu gehören einerseits die Vereinbarkeit von Gründe- und Kausalerklärungen (Kap. VIII und IX) sowie andererseits die widerspruchsfreie Begründung einer kausalen und zugleich logischen, begrifflichen oder grammatisch-kriterialen Verknüpfung von Absicht und Handlung (Kap. VII).

(vi)

Die Trennung mentaler Inhalte und mentaler Akte ermöglicht eine Erklärung des Verhältnisses von Handlungsgriinden und Handlungsursachen mit dem folgenden Resultat: Handlungsgrunde sind keine Handlungsursachen. Aber: Wo es Handlungsgründe gibt, da gibt es auch Handlungsursachen (Kap. VII). 21

Es sei daran erinnert, dass Sellars zwar Handlungsgründe und Handlungsursachen trennt, da sie unterschiedlicher Kategorie sind, nicht aber den Begriff der Handlungsursache in Frage stellt. Sellars' Handlungstheorie impliziert folglich, dass Handlungen die Folge von Gründen sind (was plausibel ist) und zugleich die Wirkung von Ursachen sind. Doch hier irrt Seilars

(Kap. VII).

421

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

(vii)

Sellars' Ziel, die manifeste und szientistische Perspektive zu einem synoptischen Bild zu vereinen, impliziert das Ziel, die beiden kategorial unterschiedlichen Perspektiven von Gründe- und Kausalerklärungen auf menschliche Handlungen gleichfalls zu einem synoptischen Bild zu vereinen (Kap. VIII).

(viii) Mentale Inhalte sind nicht auf mentale Akte, der Raum der Gründe nicht auf den Raum der Ursachen, Handlungsgründe nicht auf Handlungsursachen und nicht-kausale Handlungserklärungen nicht auf kausale Handlungserklärungen reduzibeL Ergo: Nicht-kausale Handlungserklärungen, wie Gründeerklärungen, sind autonom (Kap. IX; vgL These 52). (ix)

Kausal- und Gründeerklärungen von Handlungen haben den Status einer Erklärung, was den Wechsel zwischen beiden Erklärungsarten ermöglicht. Beide unterscheiden sich aber der Art nach, da beide menschliche Handlungen aus kategorial unterschiedlichen Perspektiven oder in unterschiedlichen Sprachspielen erklären. So eröffnet die kausale Perspektive nur einen Blick auf die handlungsimmanente Körperbewegung bzw. auf das Handlungsereignis, z.B. das Heben eines Armes. Die Gründeperspektive eröffnet dagegen einen Blick auf das handlungskonstituierende inhaltliche Moment der Handlung, also auf den Handlungsinhalt, z.B. das Grüßen einer Person mittels des Armhebens (Kap. VII ff).

(x)

Sellars' Position ist nur hinsichtlich der Ontologie mentaler Akte eine reduktionistische (ontologischer Reduktionismus). Hinsichtlich mentaler Inhalte und der epistemischen Beschreibung des Mentalen ist sie nicht-reduktionistisch (Kap. IX).

Nicht explizit aufgeführt wurde, dass die Trennung mentaler Inhalte und Akte auch eine Erklärung rationaler und irrationaler Schlüsse (theoretische und praktische) sowie rationaler und irrationaler Handlungen ermöglicht {Kap. VI). Gleichfalls nicht erneut aufgeführt wurde, dass Sellars' Dispositionsbegriff weder das Handeln noch das theoretische und praktische Denken des Menschen determiniert (Kap. VI bis VIII).

8.2 PROBLEME UND DEFIZITE Die Probleme, die der Seilarssehen philosophischen Handlungstheorie inhärent sind, gründen einerseits in ihrer engen technischen Terminologie und ihrem stren-

422

9 Fazit

.· genlogischen Formalismus und andererseits in ihrer Gleichsetzung von Handlung •·. und Körperbewegung. Im Einzelnen wurden in den vorangegangenen Kapiteln die folgenden Probleme und Defizite deduziert .

. (i)

Sellars' Logik der Absicht und des praktischen Schließens gelten nur für ideal rationale Personen, nicht jedoch für Normalsterbliche ("ordinary mortals"; VR §24). Dadurch kann sie nur sehr bedingt auf alltägliches, individuelles praktisches Schließen und Handeln angewandt werden. Sie ist praxisfern (Kap. IV und V).

(ii)

Sellars' Handlungstheorie ermöglicht aufgrund ihrer engen technischen Notation keine Handlungserklärungen in der dritten Person, sondern nur die egozentrische Rekonstruktion der Handlungsüberlegungen in der ersten Person (Kap. V).

(iii)

Seilars vermag das Verhältnis mentaler Akte und mentaler Inhalte nicht hinreichend zu erklären, obgleich in seinen Arbeiten eine mögliche Lösungsskizze zumindest gedanklich angelegt ist (Kap. VI und VII).

(iv)

Seilars zeigt nicht, wie Gründeerklärungen und Kausalerklärungen von Handlungen zu konzipieren sind, obgleich er beiden die Möglichkeit einräumt, Handlungen aus ihrer jeweiligen Perspektive in ihrer jeweils spezifischen Art und Weise zu erklären (Kap. V bis IX).

(v)

Seilars differenziert nicht zwischen Körperbewegung und Handlungund somit nicht zwischen Handlungsereignis und Handlungsinhalt. Er irrt daher ebenso wie die Verteidiger der kausalen Handlungstheorie in der Behauptung, dass menschliches Handeln kausal erklärt werden kann und folglich Handlungserklärungen kausal konzipiert werden können. Er verkennt, dass Kausalerklärungen allein die zur Handlung gehörende Körperbewegung und somit bloß das kausale Moment einer Handlung zu erklären vermögen, nicht aber das handlungskonstitutive inhaltliche Moment (Kap. VII ff).

9 FAZIT Das philosophische Kernproblem dieses Kapitels war das Verhältnis vom manifesten und wissenschaftlichen Weltbild. Dieses Problem artikulierte sich in einer Reihe von Fragen, die zu Beginn dieses Kapitels formuliert wurden und hier noch-

423

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

mals aufgegriffen werden, um die in diesem Kapitel deduzierten Antworten zusammenzufassen. Die ersten beiden Fragen lauteten: Ist das manifeste Weltbild auf das wissenschaftliche Weltbild reduzibel? Falls ja, ist es vollständig und verlustfrei reduzibel? Diese beiden Fragen, so wurde nachgewiesen, sind doppeldeutig. Denn sie fragen zum einen nach der Reduktion mentaler Inhalte auf mentale Akte. Zum anderen fragen sie nach der Reduktion postulierter theoretischer Gedankenakte auf ontologisch bestimmte Gedankenakte, beispielsweise auf neurophysiologische Prozesse. Die erste Frage, so wurde begründet, ist mit Nein zu beantworten, da mentale Inhalte von einer anderen Kategorie sind als mentale Akte oder mentale Ereignisse. Denn mentale Inhalte sind im weitesten Sinne Proposition, die per se nicht auf . Ereignisse reduzibel sind. Des Weiteren umfassen sie durch ihre Abhängigkeit von sozialen Praktiken, Konventionen und Standards ein holistisches und normatives Moment, das gleichfalls irreduzibel ist. Das, was der Mensch denkt, beabsichtigt oder behauptet ist folglich externalistisch bestimmt und kann nicht internalistisch aus der kausalen Struktur seines Hirns deduziert werden. Diese Struktur ist nur das Vehikel der Inhalte. Die zweite Frage wurde dagegen mit Ja beantwortet. Allerdings ist die Reduktion theoretischer Gedankenentitäten auf physikalische Ereignisse nicht verlustfrei. Denn sie geht mit dem Verlust des mentalen Vokabulars einher. Dieser Verlust ist aber, so wurde gezeigt, kein vollständiger, da das mentale Vokabular auf der Ebene der mentalen Inhalte irreduzibel bestehen bleibt. Denn nur die postulierten theoretischen Gedankenakte sind reduzibel, nicht aber ihre Inhalte. Zudem wurde gezeigt, dass eine mögliche Reduktion nicht notwendig mit einer besseren Erklärung einhergeht. So kann sich eine Erklärung auf einer höheren Ebene (Makroel:iene) als besser erweisen, als eine auf einer tieferen Ebene (Mikroebene). Denn ob eine Erklärung geeigneter ist als eine andere, ist, wie bereits in Kapitel III begründet wurde, eine Frage von Kriterien und damit von Konventionen. Die dritte Frage lautete: Ist das manifeste Weltbild unter der Voraussetzung einer restlosen Reduktion zugleich eliminierbar? Die Antwort, welche unmittelbar aus derjenigen der zweiten Frage folgt, lautet nein. Denn das manifeste Weltbild umfasst spezifische Merkmale, die nicht physikalisch beschreibbar und damit eliminierbar sind. Es ist vor allem der Begriff der Person, der sich einer Elimination widersetzt. Denn Personen sind von einer anderen Kategorie als physikalische Objekte. Sie artikulieren Wünsche, Überzeugungen und Absichten, die in einem holistischen Zusammenhang stehen, und führen innerhalb einer durch Normen, Konventionen und Standards geprägten Gemeinschaft ein individuelles und zugleich soziales Leben. Intentionalität, Normativität, Rationalität, Kreativität und Individualität wurden als diejenigen Faktoren nachgewiesen, die sich einer Reduktion und Elimination widersetzen.

424

9 Fazit

Während die ersten drei Fragen allgemeiner Art waren, so bezogen sich die vierte . und fünfte Frage speziell auf die Position Sellars'. Sie lauteten: Welche Position vertritt Sellars, eine reduktionistische oder nicht-reduktionistische? Kann aus der Position Sellars' ein Eliminativismus abgeleitet werden? Es wurde nachgewiesen, dass Sellars aus der Perspektive seines Gesamtwerkes keine reduktionistische und folglich auch keine eliminativistische Position vertritt, da mentale Inhalte nicht auf mentale Akte und der Raum der Gründe nicht auf den Raum der Ursachen reduzibel sind. Lediglich innerhalb des Raums der Ursachen behauptet Sellars als wissenschaftlicher Realist eine "in the long run" mögliche ontologische Reduktion postulierter mentaler Ereignisse auf physikalische Ereignisse. Die letzte Frage lautete: Was bedeutet dies alles für die philosophische Handlungstheorie? Die Antwort, so wurde begründet, ist: Wenn mentale Inhalte nicht auf mentale Akte reduziert werden können, dann sind Handlungsgründe nicht auf Handlungsursachen reduzibel. Da aber Inhalt und Akt einander wechselseitig bedingen, treten Handlungsgründe und Handlungsursachen immer gemeinsam auf. Hieraus folgte, dass Gründeerklärungen und Kausalerklärungen von Handlungen autonome Erklärungsweisen sind, die nicht aufeinander reduzibel sind, aber zwischen denen man durchaus wechseln kann. Es gibt also nicht die eine Handlungserklärung. Menschliche Handlungen können aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und damit perspektivenabhängig erklärt oder beschrieben werden. Diese Antworten sind eine unmittelbare Implikation der Handlungstheorie Sellars', die aber, wie bewiesen wurde, nur zum Teil Gültigkeit beanspruchen kann. Richtig ist, dass Handlungen aus kategorial unterschiedlichen Perspektiven heraus betrachtet werden können, nämlich aus der inhaltlichen und der kausalen. Falsch ist, dass beide Perspektiven eine Handlungserklärung ermöglichen. Richtig ist, dass Gründeund Kausalerklärungen zwei autonome und damit irreduzible Erklärungsweisen sind. Falsch ist, dass es zwei autonome Erklärungsweisen von Handlungen sind. Hier irrt Sellars. Denn die kausale Perspektive als Grundlage der Kausalerklärung erlaubt nur einen Blick auf die handlungsimmanente Körperbewegung oder das Handlungsereignis aber nicht auf das inhaltliche Moment, das dieses Ereignis allererst von einer bloßen oder reflexartigen Bewegung und damit von einem bloßen Verhalten trennt. Erst das inhaltliche Moment konstituiert eine Körperbewegung als eine Handlung, die absichtlich und aus einem Grund vollzogen wird. Erst das inhaltliche Moment gibt dieser Bewegung den Sinn oder die Bedeutung einer Handlung. Seilars irrt also in der Gleichsetzung von Handlung und Körperbewegung und in der Annahme, dass Handlungen Ursachen haben. Richtig ist, dass allein die zur Handlung gehörende Körperbewegung eine Ursache hat, aber nicht die handlungskonstitutive Bedeutung dieser Bewegung. Mit diesem letzten der sechs Seilars-Kapitel sind nunmehr drei der vier in der Einleitung bereits vorgestellten Thesen begründet, nämlich die Thesen Sl bis S3. Die zweigeteilte These S4 wurde hinsichtlich ihres ersten Teils, der die Aktualität

425

Kapitel IX Handlungen im manifesten und szientistischen Weltbild

der bereits als historisch einzustufenden Handlungstheorie Sellars' behauptet, bereits in Kapitel 111 begründet. Der zweite Teil dieser These, der die gedankliche Vorwegnahme alternativer Handlungserklärungen durch Sellars behauptet, wird im folgenden letzten Kapitel dieser Arbeit begründet.

426

KAPITEL X ALTERNATIVE WEGE DER HANDLUNGSERKLÄRUNG [W]e have not given a person's reason for acting as he did, unless we have given the whole reason in its proper form. Wilfrid Sellars 1963

Das Ziel dieses letzten Kapitels ist dreigeteilt. Zunächst werden die vier Thesen dieser Arbeit, die sich auf die Handlungstheorie Sellars' und seine Sichtweise des Problems der Handlungserklärung beziehen und die schon in der Einleitung (Kap. I) vorgestellt wurden, nochmals in der Zusammenschau und in Bezug auf die Fragen, die sie beantworten, dargestellt. Drei dieser Thesen wurden bereits in den bisherigen Kapiteln sukzessive entwickelt, begründet und verteidigt. Die zweigliedrige vierte These wurde bislang nur hinsichtlich ihres erstens Teils, der auf die Frage nach der Aktualität der Handlungstheorie Sellars' antwortet, begründet (Kap. III). Noch offen ist dagegen die Begründung des zweiten Teils, der eine Antwort auf die Frage gibt, ob Sellars neue und alternative Wege der Handlungserklärung gedanklich vorbereitet. Diese Begründung, die in diesem Kapitel gegeben wird, erfordert nicht nur eine radikalere Leseweise seiner Handlungstheorie, sondern auch ein Hinausgehen über seine Theorie. Es ist das zweite Ziel dieses Kapitels, in Art eines Ausblicks auf zukünftig zu leistende handlungstheoretische Aufgaben, zumindest eine grobe Skizze dieser alternativen Wege zu entwerfen. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit stand das Sachproblem der Handlungserklärung, das in dieser Arbeit als das problematische Verhältnis kausaler und nichtkausaler Handlungserklärungen identifiziert wurde. Als eine spezielle Ausdrucksform dieses Problems wurde bereits in der Einleitung das Problem der Konzipierung und Rechtfertigung von Gründeerklärungen und ihre Verteidigung gegenüber Kausalerklärungen ausgewiesen und als sachproblematischer Leitfaden der Arbeit vorgestellt. Zur Vorbereitung einer Lösung dieses Problems wurden anschließend zunächst einschlägige historische (Kap. II) und aktuelle Sichtweisen dieses Problems (Kap. III) einer kritischen Untersuchung unterzogen, wobei die Sichtweise Sellars' im Vordergrund stand (Kap. IV bis IX). In der Einleitung zu dieser Arbeit wurde zudem als Antwort auf dieses Problem bereits die These vorgestellt, dass Gründeerklärungen den Status einer Erklärung sowie das Vermögen haben, Handlungen autonom und vollständig zu erklären, wohingegen Kausalerklärungen zwar gleichfalls den Status einer Erklärung aber nicht das Vermögen haben, Handlungen zu erklären, sondern nur die zur Handlung gehörenden Körperbewegungen. Handlungserklärungen können folglich ausschließlich als Gründeerklärung, nicht jedoch als Kausalerklärung konzipiert werden. Es ist das dritte Ziel dieses Kapitels, diese sachbezogene Kernthese der Arbeit nochmals zusammenfassend in geschlossener Form zu begründen. Auch dabei kann an Seilars angeknüpft werden. Die vollstän-

Kapitel X Alternative Wege der Handlungserklärung

dige Begründung erfordert aber auch hier eine Argumentation, die über seine Handlungstheorie hinausgeht. Es wird folglich als Resümee nochmals zu prüfen sein, inwieweit Seilars die Kernthese stützt, in welchen Punkten er ihr nicht folgt und wo er irrt.

1 VIER THESEN, IHRE BEDEUTUNG UND KONSEQUENZEN Die vorliegende Arbeit versteht sich, wie bereits einleitend dargelegt (Kap. I), als eine Arbeit mit zwei Problemschwerpunkten, nämlich mit einem historischen und einem sachbezogenen. Die historische Komponente umfasste die vollständige Rekonstruktion der Handlungstheorie Sellars', die kritische Auseinandersetzung mit dieser Theorie sowie ihre Verortung in der traditionellen und aktuellen philosophischen Handlungstheorie. Als Sachproblem wurde einleitend das Problem der Handlungserklärung ausgewiesen, das in seiner Präzisierung als Problem der Konzeption und Rechtfertigung von Gründeerklärungen der vorliegenden Arbeit als orientierender Leitfaden diente. Aus dieser Orientierung heraus wurden in der Ein-

leitung zu dieser Arbeit vier Fragen an die Handlungstheorie Sellars' gerichtet: (1) In welcher Weise formuliert Seilars das Problem der Handlungserklärung? (2) Welche Antworten gibt Seilars und worin bestehen ihre Besonderheiten? (3) Sind seine Antworten plausibel? (4) Welche Bedeutung haben seine Antworten auf die aktuelle Debatte der Handlungstheorie? Die Antworten zu diesen Fragen wurden in den vorangegangenen Kapiteln sukzessive entwickelt, begründet und verteidigt. Die folgende Auflistung stellt diese Antworten in Form von Thesen nochmals in einer Zusammenschau dar. Die unmittelbar daran anschließenden Überlegungen, die insbesondere auf die Bedeutung und Konsequenzen dieser Thesen gerichtet sind, haben vor allem den Zweck, die Bearbeitung der beiden noch ausstehenden Aufgaben vorzubereiten: erstens die zusammenfassende Begründung der oben genannten sachproblematischen Kernthese und zweitens die Skizzierung alternativer Handlungserklärungen. These Sl: Seilars formuliert das Problem der Handlungserklärung primär als das geistesphilosophische Problem des Verhältnisses von mentalem Inhalt und mentalem Akt, das sich, unter bestimmten Bedingungen, zugleich als ein Problem des Verhältnisses von manifestem und wissenschaftlichem Weltbild erweist. These S2: Seilars behauptet ein irreduzibles Verhältnis mentaler Inhalte und mentaler Akte. Dies impliziert ein irreduzibles Verhältnis von Grund und Ursa-

428

1 Vier Thesen, ihre Bedeutung und Konsequenzen

ehe und folglich ein irreduzibles Verhältnis von nicht-kausalen und kausalen Handlungserklärungen. Ergo: Nicht-kausale Handlungserklärungen sind autonom. These S3: Sellars' geistesphilosophische Begrundung der Autonomie nicht-kausaler Handlungserklärungen ist plausibel. Er irrt allerdings in seiner Annahme, dass Handlungserklärungen logisch stringent und kausal konzipiert werden können. These 54: Sellars' handlungstheoretische Überlegungen, obgleich zur traditionellen Handlungstheorie gehörig, ermöglichen Implikationen, die nicht nur einige Ansätze der aktuellen Debatten der Handlungstheorie vorwegnehmen, sondern darober hinaus auch bereits Wege zu einem neuen Verständnis von Handlungserklärungen öffnen. Als eine handlungstheoretische Besonderheit Sellars' wurde seine geistesphilosophische Fundierung seiner Handlungstheorie sowie sein Versuch ausgewiesen, die Vereinbarkeit kausalerund nicht-kausaler Handlungserklärungen zu begründen. Es ist eine Vereinbarkeit, die beide Erklärungsarten als autonom ausweist und beiden eine je eigene Erklärungskraft einräumt. Vereinbarkeit in diesem Sinne bedeutet, dass beide Erklärungsarten weder aufeinander reduzibel sind, noch einander widersprechen oder wechselseitig außer Kraft setzen, wie traditionell im Intentionalisten-Kausalisten-Streit behauptet wurde (vgl. Kap. II). Indem Seilars einerseits diesen Streit aufzulösen versucht und andererseits die Bedingungen zur Möglichkeit dieser beiden handlungstheoretischen Positionen ausweist, kann Seilars wohlwollend als Kant der Handlungstheorie bezeichnet werden. 1 Sellars' Ziel, die Vereinbarkeit kausaler und nicht-kausaler Handlungserklärungen zu begründen, steht im Einklang mit seinem Anspruch, das Verhältnis von Absicht und Handlung widerspruchsfrei als kausal und zugleich als grammatisch-kriterial, begrifflich oder logisch zu konzipieren. Auch hierin unterscheidet sich seine handlungstheoretische Position wesentlich von den vielfältigen anderen Positionen, die lediglich eine spezifische Relation von Absicht und Handlung verteidigen und gleichzeitig alle anderen denkbaren Relationen zu widerlegen versuchen. Sellars' Position kann somit als eine integrierende Position interpretiert werden, die das Ziel verfolgt, traditionelle handlungstheoretische Gegensätze widerspruchsfrei zusammenzuführen. Als Bedingung der Möglichkeit oder als Schlüssel dieser Integration wurde seine geistesphilosophische Trennung mentaler Inhalte und mentaDies setzt voraus, dass man der Behauptung zustimmt, dass Kant die beiden traditionell unversöhnlichen erkenntnistheoretischen Positionen des Rationalismus und Empirismus zusammenführt, indem er sie einer Kritik unterzieht und ihre Grenzen und Möglichkeiten ausweist.

429

Kapitel X Alternative Wege der Handlungserklärung

ler Akte nachgewiesen. 2 Diese Trennung stellt in Sellars' Handlungstheorie eine An Axiom dar, das er selbst nicht weiter hinterfragt. Folglich steht und fällt seine Handlungstheorie mit der (intuitiven) Gültigkeit dieses Axioms. Erweist sich dieses Axiom als falsch, so fallen nicht nur sein handlungstheoretisches Gebäude, sondern auch alle seine Implikationen in sich zusammen. Wie nachgewiesen wurde, besteht diese Gefahr vor allem seitens der Naturalisierung des Intentionalen bzw. des Semantischen. In Kapitel III wurde versucht, die von dieser Seite kommenden . Einwände im Sinne Sellars' abzuwehren. Sind diese Einwände erstmal entkräftet, so stellt sich aber bereits die nächste Schwierigkeit, die in der Frage nach dem Verhältnis von Akt und Inhalt zum Ausdruck kommt. Seilars löst dieses Problem nur unbefriedigend. Das problematische Verhältnis mentaler Akte und mentaler Inhalte ist für ihn eine Art Vehikel-Inhalt-Verhältnis. Ob aber Akt und Inhalt, beispielsweise bei Handlungsüberlegungen, parallellaufen oder einander wechselseitig bedingen, beantwortet Seilars nicht. Im Sinne Sellars', aber zugleich über seine Theorie hinausgehend, wurde in den vorigen Kapiteln begründet, dass mentale Inhalte und mentale Akte nicht im cartesianischen, dualistischen Sinne parallel laufen, sondern einander wechselseitig bedingen. Als gravierendes Manko der Handlungstheorie Sellars' wurde die ungenügende Trennung von Handlung und Körperbewegung nachgewiesen. Dadurch übersieht er, dass ein mentales Ereignis, wie der Willensakt, nur die zur Handlung gehörende Körperbewegung verursacht, wohingegen der mentale Inhalt diese Bewegung allererst als Handlung, die aus einem Grund vollzogen wurde, semantisch konstituiert. Als Folge dieses Fehlers irn er auch in der Annahme, dass Handlungserklärungen kausal konzipiert werden können (These S3 und Abs. 3 unten). Die obigen vier Thesen sind das Ergebnis der Rekonstruktion der Handlungstheorie Sellars' und der kritischen Auseinandersetzung mit ihr. Hinsichtlich des Kernproblems dieser Arbeit, dem Problem der Handlungserklärung, geben diese Thesen daher primär die Sichtweise Sellars' wieder. Die Frage, die sich damit anschließt, lautet: Welche über die Sichtweise Sellars' hinausgehenden Bedeutungen und Konsequenzen haben diese Thesen für das Problern der Handlungserklärung? Ihre herausragende Bedeutung besteht zweifelsfrei darin, dass sie Gründeerklärungen als autonom und damit als Erklärungen eigener Art ausweisen. Doch damit ist das Problem der Handlungserklärung noch nicht gelöst. Denn die Thesen lassen offen, wie Gründeerklärungen zu konzipieren sind. Dies repräsentiert ein weiteres Manko der Handlungstheorie Sellars'. Denn das in ihr veneidigte Konzept des practical reasonings gibt allein die egozentrischen Überlegungen des Handelnden im Vorfeld seiner Handlung wieder. Diese Konzeption kann daher, wie begründet Wie begründet wurde, impliziert die Auton~mie mentaler Inhalte und die des Raums der Gründe zugleich die Autonomie nicht-kausaler Handlungserklärungen, wie beispielsweise von Gründeerklärungen (These S2).

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1 Vier Thesen, ihre Bedeutung und Konsequenzen

"Wurde, die Aufgabe einer Handlungserklärung nicht leisten, auch nicht die einer · Gründeerklärung (Kap. V). Dies gilt folglich auch für Anscombes Rekonstruktion . der Handlungsüberlegung (Kap. II). Aber auch Kausalerklärungen, beispielsweise im Sinne Davidsons, können diese Aufgabe, wie gleichfalls bereits begründet wurde, nicht leisten. Denn sie vermögen, abgesehen von ihren vielfältigen inhärenten Problemen, allein die handlungsimmanente Körperbewegung, nicht aber die Bedeutung dieser Bewegung als Handlung zu erklären (Kap. III). Damit entsteht eine Lücke, die als Lücke zwischen Anscombe und Davidson paraphrasiert werden kann. Da Seilars sowohl das Konzept der Handlungsüberlegung als auch das der Kausalerklärung verteidigt, ist er sowohl der einen wie auch der anderen Seite der Lücke zuzurechnen. Wie kann diese Lücke geschlossen werden? Gibt es einen dritten Weg, der zwischen den beiden inakzeptablen Lösungen Anscombes und Davidsons liegt? Anscombes Rekonstruktion der Handlungsüberlegung ist zwar in der Lage, Gründe und Absichten des Handelnden auszuweisen, aber sie besitzt das Manko, dass sie in der ersten Person artikuliert ist, wohingegen Erklärungen üblicherweise in der dritten Person formuliert sind. Davidsons kausale Konzeption ist zwar in der dritten Person formuliert und erweist sich damit als Erklärung, aber sie zeichnet sich durch das Manko aus, dass sie nicht die Gründe der Handlung, sondern bloß die Ursache der handlungsimmanenten Körperbewegung ausweist. Was folglich fehlt, ist eine in der dritten Person formulierte Erklärung, welche die Gründe des Handelnden offenlegt. Was also fehlt ist die Konzeption einer Gründeerklärung, deren Möglichkeit und Autonomie durch Sellars bereits bewiesen wurde. Die Kernfrage lautet somit: Wie können Gründeerklärungen konzipiert und gerechtfertigt werden und wodurch zeichnen sie sich aus? Eine Möglichkeit besteht darin, die egozentrischen Handlungsüberlegungen des Handelnden, die auch seine Gründe beinhalten, zu rekonstruieren und anschließend in der dritten Person zu reformulieren. Dieser Versuch wurde in Kapitel V mittels des Seilarssehen practical reasonings durchgeführt. Der Versuch scheiterte, da Sellars' practial reasoning einem strengen logischen Formalismus unterworfen ist, der individuellen Handlungen nicht gerecht wird (vgl. These 53). Um Gründeerklärungen zu konzipieren, die das Vermögen haben, Handlungen adäquat zu erklären, müssen also neue oder alternative Wege eingeschlagen werden. In der obigen vierten These wird behauptet, dass Seilars diese Wege öffnet. Es ist derjenige Teil der These, der bislang unbegründet ist, obgleich die zur Begründung erforderlichen Elemente bereits mehrfach in den vorigen Kapiteln aufgeführt wurden. Es sind einerseits der Sellarssche Holismus des Mentalen und andererseits die durch Seilars ausgewiesenen irreduziblen Momente mentaler Inhalte und folglich des Raums der Gründe, nämlich Konventionen, Normen und soziale Aspekte, die zugleich den Menschen als soziales Wesen konstituieren. Die Berücksichtigung dieser Momente ermöglicht eine Konzeption von Gründeerklärungen, die Handlungen aus einer erweiterten Perspektive heraus

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Kapitel X Alternative Wege der Handlungserklärung

erklären, die erstens die Grunde der Handlung, zweitens ihre Hintergrunde und drittens den Handelnden als Person offenlegt. Da Sellars diese Wege nur gedanklich eröffnet aber selbst nicht beschreitet, kann die Konsequenz der obigen Thesen nur die Weiterentwicklung seiner Handlungstheorie in diese Richtung sein. Im Folgenden wird gezeigt, welche Möglichkeiten und Antworten sich daraus ergeben und wie damit die oben dargestellte Lücke geschlossen werden kann (Abs. 5). Zuvor wird es aber hilfreich sein, nochmals einen kritischen Blick auf den problematischen Erklärungsbegriff zu richten (Abs. 2) und die Begrundung der sachproblematischen Kernthese in geschlossener Form dazulegen (Abs. 3), wobei zugleich die Irrtümer der kausalen Handlungstheorie aufgedeckt werden.

2 NOCH EINMAL: DER ERKLÄRUNGSBEGRIFF Im Kapitel III wurde begriindet, dass der problematische Begriff der Erklärung eine nicht vernachlässigbare Quelle des Problems der Handlungserklärung ist und damit einen entscheidenden Einfluss auf die Lösung dieses Problems ausübt. Aufgrund dieser Bedeutung des Erklärungsbegriffs für das Kernproblem der vorliegenden Arbeit, wird in diesem Abschnitt nochmals ein zusammenfassender kritischer Blick auf diesen Begriff gerichtet. Es wurde begrundet, dass es ein Irrtum ist zu behaupten, eine Erklärung sei nur dann gegeben, wenn das zu erklärende Phänomen, beispielsweise eine Handlung, auf eine Ursache rekurriert und unter ein Gesetz subsumiert wird. Zudem wurde gezeigt, dass es kein Wesensmerkmal gibt, das allen Erklärungen gemeinsam zukommt. Der Erklärungsbegriff ist, wie Stegmüller plausibel begrundet, ein Familienbegriff im Wittgensteinschen Sinne (Stegmüller 1983, 1027). Was als Erklärung zählt oder nicht, grundet allein auf intersubjektiven Konventionen und Stipulationen. Deshalb kann es die eine Erklärung nicht geben. Die positivistische Einheitsthese, die ein für alle Wissenschaften einheitliches Erklärungsschema behauptet, hat sich damit als Irrtum erwiesen. Vielmehr besteht ein Erklärungspluralismus, wobei nicht zuletzt auch erkenntnisleitende Interessen die Auswahl der Erklärung bestimmen. Da Handlungen und ihre konstituierenden mentalen Einstellungen ein kausales und ein inhaltliches Moment umfassen, sind sie prinzipiell, zumindest auf den ersten Blick, Gründe- und Kausalerklärungen zugänglich, auch wenn diese beiden Erklärungen von kategorial unterschiedlicher Art sind. Denn sie betrachten Handlungen aus kategorial unterschiedlichen Perspektiven. Die Folge ist eme standpunktabhängige Erklärung und Erkenntnis. 3 Es wäre sicherlich eine Untersuchung wert, ob nicht nur bei Handlungen und mentalen Phänomenen, sondern auch bei rein physikalischen Phänomenen kategorial verschiedene Erklärungsperspektiven eingenommen werden können.

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2 Noch einmal: Der Erklärungsbegriff

In den vorangegangenen Kapiteln wurde begründet, dass sowohl die traditionellen Erklärungen von Hempel, Churchland und Davidson (Kap. II), als auch das practical reasoning Sellars' (Kap. IV), überzogene Idealisierungen sind, die individuelle Handlungen nicht vollständig zu erfassen vermögen. Ob eine Handlungserklärung hinreichend ist, hängt nämlich von mannigfaltigen kontextuellen Faktoren ab (Kap. III). Selbst die Warum-Frage ist bereits mehrdeutigwie beispielsweise van Fraassen, Stegmüller und Gärdenfors nachweisen. 4 Die Angemessenheit einer Erklärung ist folglich bereits von der Art der Warum-Frage abhängig. Aufgrund der bereits in Kapitel III nachgewiesenen großen Vielfalt beeinflussender Faktoren ist das Spektrum möglicher Erklärungen breit. So mag einerseits bereits ein einziges Wort oder ein einziger Satz ausreichen, um einen Sachverhalt oder eine Handlung akzeptabel und plausibel zu erklären, beispielsweise dann, wenn der Fragesteller bereits über ein umfangreiches Hintergrundwissen verfügt und nur noch einen kleinen helfenden Hinweis benötigt. Andererseits kann es zur Erklärung eines Sachverhalts edorderlich sein, einen umfassenden Bericht oder eine Erzählung zu geben. Die Adäquatheit einer Erklärung ist daher eine kriteriale Größe und damit gleichfalls eine Frage der Konvention oder Stipulation. So kann man beispielsweise darin übereinkommen, dass eine Erklärung dann adäquat ist, wenn sie die Wissenslücke zwischen dem zu erklärenden Explanandum und dem bereits vorhandenen Wissen derjenigen Person, die eine Erklärung fordert, eliminiert oder zumindest reduziert. 5 Die Erklärung muss sich also konsistent und kohärent in das bereits vorhandene Netz von Üherzeugungen des Fragestellers einfügen. Damit wird sein Wissen erweitert. Es geht also bei Erklärungen primär um Wissensstandserweiterungen oder um "Expansionen von Glaubenssystemen" (Gärdenfors 1990, 101) und damit um eine Vergrößerung der konsistenten und kohärenten Satzmenge.6 Allerdings kann der Fall eintreten, wenn auch eher selten, dass eine Erklärung mit dem bereits bestehenden System von Überzeugungen der fragenden Person logisch kollidiert, sodass nicht eine Wissensexpansion, sondern eine "Revision" auftritt (vgl. a.a.O., 102). "Eine Erklärung, die ihres Namens würdig ist, sollte den epistemischen Zustand so verändern, daß sich der Glaubensgrad des Explanandums erhöht"' (a.a.O., 106f u. 116). Die Wahl einer Erklärung wird folglich davon abhängen, in welchem epistemischen Zustand sich die fragende Person bereits vor der Erklärung befand. Erklärungen stehen ergo "immer "in Relation zu einem epistemischen

VanFraassen 1890, 141-146; Stegmüller 1983, 9Slff; Gärdenfors 1990,95 u. 113. "Eine Person, die nach der Erklärung eines Phänomens fragt, drückt eine ,kogcitive Dissonanz' zwischen dem Explanandum und dem Rest ihrer Glaubensannahmen aus. Die primäre Rolle des Explanans ist es dann, diese kognitive Dissonanz zu eliminieren oder reduzieren" (Gärdenfors 1990, 94). Dies setzt voraus, dass man Wissen als Satzmenge begründet.

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Kapitel X Alternative Wege der Handlungserklärung Zustand" (a.a.O., 107 und 118) und folglich zum vorhandenen Hintergrundwissen,~ der fragenden Person. 7 (j Mit dem Grad der Erweiterung des Wissens ist der Grad der Senkung des Überra-0'; schungswertes hinsichtlich des Explanandums verknüpft (vgl. a.a.O., 107). So wird' ein Fußballfan, der regelmäßigins Stadion geht, von den meisten Handlungen, die ' auf dem Rasen von den Fußballspielern vollzogen werden, nicht überrascht sein. Er kennt die Spielregeln und man wird ihm die Handlungen der Spieler nicht erklären müssen. Eine Person, die zum ersten Mal in ihrem Leben ein Fußballspiel verfolgt, wird dagegen von vielen Handlungen der Spieler überrascht sein. Erklärt man ihr aber diese Handlungen, so wird auch bei ihr der Überraschungswert sukzessive sinken. Gärdenfors' Begründung der Wissensstandserweiterung als Kriterium einer. Erklärung ist somit auch für Handlungserklärungen plausibel. Sie ist sogar für Handlungen besonders adäquat, da sie diese nicht unnötigerweise unter Gesetze zwingt. Erklärungen, die eine Expansion des Wissens ermöglichen, können dies in unterschiedlichen Graden erreichen. Hieraus folgt, dass "Er-klärungen nicht bloß richtig oder falsch sind, sondern daß es Grade der Erklärung gibt" (a.a.O., 116). Er-klärungen gründen auf Kommunikation und Informationsaustausch zwischen Personen (vgl. a.a.O., 119 und 121). Deshalb gibt es informativere und weniger informative Erklärungen (vgl. a.a.O., 116). Jemand, der einen Sachverhalt erklärt haben möchte, wünscht sich diejenige Information, die dies zu leisten vermag. Gegebenenfalls ist ein Sachverhalt oder eine Handlung von verschiedenen Standpunkten aus zu erklären, um diese Aufgabe zu erfüllen. So bietet ein weiter entfernter Standpunkt einen umfangreicheren Blick auf den handlungsrelevanten Hintergrund, als ein sehr naher Standpunkt. Verwendet man die Notation Sellars', so könnte man den entfernten Standpunkt als den synoptischen und den nahen Standpunkt als den analytischen bezeichnen. In diesem Sinne sind Gründeerklärungen synoptisch, während Kausalerklärungen analytisch sind. Aber auch hier ist Vorsicht geboten, da es weder die eine Gründeerklärung, noch die eine Kausalerklärung gibt. Zudem ist, wie die kritische Auseinandersetzung mit den aktuellen Positionen der philosophischen Handlungstheorie zeigte (Kap. III), auch die Grenze zwischen Kausal- und Grundeerklärungen keine statische, sondern eine fließende. Da nicht nur der Erklärungsbegriff ein Familienbegriff im Sinne Wittgensteins ist, sondern auch der Begriff der Handlung, spannt der Begriff der Handlungserklärung, wie nachgewiesen wurde, ein Quadrat auf (Kap. III). Dieses Quadrat berücksichtigt, dass das Problem der Handlungserklärung auf zwei Subproblemen gründet: dem Problem der Handlung und dem der Erklärung. Denn in AbhängigNach Gärdenfors ist es zum Beispiel die "Snuktur von epistemischen Zuständen, welche die grundlegenden kontextuellen Elemente bilden" (Gärdenfors 1990, 96). So hängt die Wahl einer Erklärung auch davon ab, in welchem epistemischen Zustand sich eine Person befindet, wenn sie nach der Erklärung eines Phänomens fragt.

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2 Noch einmal: Der Erklärungsbegriff

'keit davon, wie die beiden folgenden Fragen beantwortet werden, ergeben sich völlig unterschiedliche Konzepte oder Modelle einer Handlungserklärung. Die erste Frage lautet: Was ist eine Handlung? Und die zweite: Was ist eine Erklärung? Das Quadrat der Handlungserklärung setzt in seinen vier Eckpunkten die beiden Pole möglicher Antworten auf diese beiden Fragen fest. So wird hinsichtlich der · Frage nach der Erklärung der eine Pol durch die Antwort gegeben, dass Erklärungen deduktiv-nomologisch und kausaler Art sind. Der andere Pol wird durch die Antwort repräsentiert, dass Erklärungen eine Wissensstandserweiterung im weitesten Sinne sind und folglich alles als Erklärung zählt, was zu einer Erweiterung des Wissens über eine bestimmte Handlung beiträgt. Hierzu gehören beispielsweise auch narrative Erklärungen. Wichtig ist, dass in diesem Pol der Erklärungsbegriff · nicht mehr auf die Subsumierung der zu erklärenden Handlung unter ein Gesetz eingeengt ist, sondern sehr viel weiter gefasst ist. Er berücksichtigt weitaus stärker den inneren und äußeren Handlungskontext sowie den Handelnden als Person und soziales Wesen. Er schließt somit auch den Verstehensbegriff und die Methode des hermeneutischen Zirkels der Humanwissenschaften mit ein. Auch hinsichtlich der Handlungsfrage gibt es zwei Pole und damit zwei entgegengesetzte Antworten. Der eine Pol identifiziert Handlungen mit physikalischen Ereignissen, was allerdings auf einem Irrtum gründet (Abs. 3 unten). Der andere Pol repräsentiert die Antwort, dass Handlungen Sinngebilde darstellen, die sowohl im holistischen System von Handlungen des handelnden Individuums als auch der sozialen Gemeinschaft eingebettet sind. Das Quadrat der Handlungserklärung spannt das Feld möglicher Handlungserklärungen auf, ohne jedoch die Frage zu beantworten, welche Erklärungen ggf. aufeinander reduzibel oder durch andere eliminierbar sind. Es beantwortet auch nicht die Frage, welche der möglichen Handlungserklärungen die adäquateste ist. Es macht aber erneut deutlich, dass es die Handlungserklärung nicht geben kann. Und dieses Ergebnis ist das entscheidende. Was ist aus alledem zu schließen? Erstens: Man kann Gründeerklärungen nicht den Status einer Erklärung absprechen, nur weil sie Handlungen nicht auf Ursachen rekurrieren und nicht unter ein Gesetz subsumieren. Ebenso könnte man behaupten, dass vierrädrige Fahrzeuge nur dann den Status eines Autos haben, wenn auf der Kühlerhaube ein Stern befestigt ist, oder dass ein Gebäude nur dann den Status eines Hauses hat, wenn es mindestens zehn Fenster hat. Solche Behauptungen sind willkürlich und können keinen Status begründen. Zweitens: Erklärungen haben primär die Aufgabe, den Wissensstand zu erweitern und Wissenslücken zu schließen. In diesem Sinne haben Gründe- und Kausalerklärungen gleichermaßen den Status einer Erklärung. Diese Antwort ist auch im Sinne Sel1ars', derbereits in seinen handlungstheoretischen Frühwerken den Übergang von der einen Erklärungsart auf die andere und vice versa begründet. Dieser Übergang wäre sinnlos, wenn eine von den beiden Erklärungsarten nicht den Status einer Erklärung hätte, also gar keine Erklärung wäre.

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In diesem Abschnitt werden im Rahmen einer zusammenfassenden und geschloss~:;f;~ nen Begründung der Kernthese dieser Arbeit, nochmals die Irrtümer der kausale~fJ@ Handlungstheorie ausgewiesen. Da sich diese Irrtümer zugleich als Argumente pt(?,~l~ Gründeerklärung erweisen, wird in diesem Abschnitt zugleich der Weg zu zwe'i'i1~ alternativen Handlungserklärungen bereitet, diebeideVarianten oder Erweiterun