Die Konstruktion der Handlung in der Orestie des Aischylos: die Makrostruktur des "Plot" als Sinnträger in der Darstellung des Geschlechterfluchs 3406448607, 9783406448607

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Die Konstruktion der Handlung in der Orestie des Aischylos: die Makrostruktur des "Plot" als Sinnträger in der Darstellung des Geschlechterfluchs
 3406448607, 9783406448607

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ZETEMATA MONOGRAPHIEN ZUR KLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFT Heft 99

Lutz Käppel

Die Konstruktion der Handlung der Orestie des Aischylos Die Makrostruktur des ,Plot‘ als Sinnträger in der Darstellung des Geschlechterfluchs

VERLAG C.H.BECK MÜNCHEN

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ZETEMATA MONOGRAPHIEN ZUR KLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFT BEGRÜNDET VON ERICH BURCK UND HANS DIETER IN GEMEINSCHAFT MIT CHRISTIAN GNILKA UND DIETER TIMPE HERAUSGEGEBEN VON ECKARD LEFEVRE UND GUSTAV ADOLF SEECK HEFT 99

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Die Konstruktion der Handlung in der Orestie des Aischylos Die Makrostruktur des ‘Plot' als Sinnträger in der Darstellung des Geschlechterfluchs

VON LUTZ KÄPPEL

VERLAG C. H. BECK MÜNCHEN

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kappel, Lutz: Die Konstruktion der Handlung in der Orestie des Aischylos : die Makrostruktur des “Plot” als Sinnträger in der Darstellung des Geschlechterfluchs / Lutz Kappel. - München : Beck, 1998 (Zetemata ; H. 99) Zugl.: Tübingen, Univ., Habil.-Sehr., 1997 ISBN 3 406 44860 7

ISBN 3 406 44860 7 © C. H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 1998 Satz; Lutz Käppel mit Word 4.0 für Macintosh Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany

Inhalt Vorrede .

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I. Einleitung.

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§ 1

Der Stand der Diskussion um die Freiheit des menschlichen Handelns im Verhältnis zum Geschlechterfluch in der Orestie. § 2 Der Begriff der dramatischen Handlung nach Aristoteles. § 3 Die Methode der Rekonstruktion des ,Plot‘ als des Kausalzusammen¬ hangs dramatischer Handlung.

25

II. Die Konstruktion der Handlung des ,Agamemnon‘: Die Wurzeln und das erste Wirken des Geschlechterfluchs.

39

§ 1 Dramatischer Auftakt und Exposition als Keim des ,Plot‘ der Trilogie im Prolog: Das Fackelzeichen (Ag. 1-39) . § 2 Die Weiterführung der szenisch präsentierten Handlung in der Parados: Die Neugier und das Bangen des Chores (Ag. 40-257). § 3 Das Ende des ersten Handlungsbogens im ersten Epeisodion: Klytaimestra informiert den Chor vom Sieg (Ag. 258-354) . § 4 Die expositorische Verlängerung des ,Plot‘ in die Vergangenheit in der Parados: Die Opferung Iphigenies (Ag. 40-257). 1. Der Ausbruch des Krieges: Kriegsursachen (Ag. 40-71). 2. Die Flotte in Aulis (Ag. 104-159). 3. Die Opferung Iphigenies (Ag. 184-257). § 5 Die Vervollständigung der Exposition im ersten Epeisodion und im ersten Stasimon: Die Zerstörung Troias (Ag. 258-354, 355-488) .... § 6 Der zweite Bogen der szenischen Handlung im zweiten Epeisodion: Der Auftritt des Herolds (Ag. 489-680). § 7 Das dritte Epeisodion : Die Ankunft Agamemnons (Ag. 782-974) .... § 8 Das vierte Epeisodion: Die Visionen Kassandras: Rückblick und Prophezeiung (Ag. 1035-1371) . § 9 Das letzte Epeisodion: Der Tod Agamemnons und die Folgen (Ag. 1344-1673). § 10 Zusammenfassung: Der ,Plot‘ des ,Agamemnon‘.

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III. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren‘ und den ,Eumeniden‘: Die Fortpflanzung und das Ende des Fluches .... 193 § 1 Die Vorbereitung des ,Plot‘ der ,Choephoren‘ im ,Agamemnon‘. 193 § 2 Der erste Handlungsbogen : Vom Eintreffen Orests bis zur Wieder¬ erkennung der Geschwister (Cho. 1-305) . 196 §3 Der zweite Handlungsbogen: Der ,Kommos‘(Cho. 306-478/-509) .204

Inhaltsverzeichnis

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§ 4 Der dritte Handlungsbogen: Die Planung der Tat, die Durchkreuzung des Plans und das ungeplante Gelingen (Cho. 510-869, 870-930) .... 215 § 5 Die Wurzeln des ,Plot‘ der ,Eunieniden‘ in den ,Choephoren‘.232 § 6 Die neue Qualität der ,Eumeniden‘.238 § 7 Die Handlung in Delphi (Eum. 1 -234). 240 § 8 Die Handlung in Athen: Von der Ankunft Orests in Athen bis zu seinem Freispruch (Eum. 235-777) . 253 §9 Die Versöhnung der Erinyen (Eum. 778-1047). 268 IV. Synthese.272 Appendix Der Verlauf der Orestie des Aischylos: Die Sukzession von szenischer Handlung und expositorischer Informationsvergabe.281 1. ,Agamemnon*

.282 2. ,Choephoren‘.288 3. ,Eumeniden‘.294 Literaturverzeichnis .299 Beilagen: Handlungsschemata I: zum ,Agamemnon* II: zu den ,Choephoren*

III; zu den ,Eumeniden* IV; zur ,Orestie* insgesamt

VORREDE

Das vorliegende Buch ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die der Fakultät für Kulturwissenschaften der Eberhard-Karls-Universität Tübingen im Sommersemester 1997 Vor¬ gelegen hat und im darauffolgenden Wintersemester angenommen wur¬ de. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der aischyleischen Orestie steht von vornherein vor einem ganz elementaren Dilemma. Entweder läßt sich der Interpret auf die Komplexität dieser monumentalen Dichtung ein, die wohl zu den vielschichtigsten Werken der Weltliteratur schlecht¬ hin zu zählen ist. Ein solcher Zugang würde - in Anbetracht der beschränkten Kräfte eines Einzelnen - die Konzentration auf einen Ausschnitt des Textes erzwingen. Oder er versucht, das Ganze in den Blick zu nehmen. Dies bedeutet dann - soll die Beschäftigung als Wissenschaft sinnvoll bleiben -, daß er die Vielschichtigkeit des Werkes zunächst methodisch auf einen Aspekt seines Sinnpotentials reduzieren muß. Dieser zweite Weg ist hier beschritten worden, indem mit der Frage nach der Konstruktion der Handlung ein einzelner Aspekt untersucht wird. Zugleich ist damit jedoch ein zentrales Sinnmoment des ,Dramas' angesprochen, so daß eine Betrachtung dieses Aspektes Einsichten ins Ganze vermittelt, die am Ende dann doch so sehr über das Einzelne hinausgehen, daß auch andere Sinnschichten des Werkes ausgeleuchtet werden können. Ich hoffe, daß meine Arbeit andere anregen kann, hier weiterzuarbeiten. Besonders hingewiesen sei der Leser auf die im Anhang beigegebe¬ nen graphischen Schemata. Sie können parallel zur Lektüre des Buches benutzt werden; sie bilden gleichsam das zum Schaubild erstarrte Substrat der Untersuchung. Text und Schemata sind dadurch miteinander verbunden, daß die gesperrt gedruckten Passagen des Textes auf die entsprechenden Positionen des jeweiligen Schemas verweisen. Der Text ,baut‘ also sukzessive die Schemata auf. Wem die verbale Darstellung der komplexen Zusammenhänge mehr behagt, mag auf das Studium der Schemata auch verzichten. Die beiden Darstellungsformen sind grundsätzlich abundant.

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Vorrede

Auf Indizes wurde aus sachlichen Gründen verzichtet. Die Darstellung folgt dem Text der Orestie, so daß alles an seinem jeweiligen Ort auffindbar ist. Erste Ideen zu der Orestie-Interpretation, die in diesem Buch vorgeschlagen wird, konnte ich während eines unvergeßlichen Aufent¬ haltes vom Herbst 1992 bis zum Sommer 1993 am Center for Hellenic Studies in Washington, D. C. entwickeln. Den dortigen Mitforschern, allen voran den Direktoren Deborah Boedeker und Kurt Raaflaub bin ich für vielfältige Unterstützung, besonders aber für die freundliche Atmosphäre dankbar, die dies ermöglicht hat. Nach Tübingen zurück¬ gekehrt, gab mir ein großzügiges Forschungsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Chance zu abgeschiedener Arbeit. Auch hierfür danke ich herzlich. Die angenehmste Pflicht freilich ist es mir, den Förderern und Freunden zu danken, die mir in verschiedenen Phasen Hilfe und Unterstützung gewährt haben: Als Gutachter des Habilitations¬ ausschusses haben Werner Gauer, Richard Kannicht, Frank Kolb, Ernst A. Schmidt und Thomas A. Szlezäk eine Fülle sachdienlicher Hinweise beigesteuert, Frances Back, Iris Banholzer und Konstantina Vertsioni haben bei der Erarbeitung und technischen Herstellung wertvolle Hilfe geleistet, und die Herausgeber der ,Zetemata‘ haben schließlich durch die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe ihre schnelle und schöne Publikation ermöglicht. Allen voran danke ich jedoch Johanna Loehr, der dieses Buch im Grunde alles verdankt. Ihr sei es daher gewidmet. Tübingen, im August 1998

L.K.

I. EINLEITUNG

§ 1

Der Stand der Diskussion um die Freiheit des menschlichen Handelns im Verhältnis zum Geschlechterfluch in der Orestie

Wer heute noch einen Beitrag zur Erforschung der Orestie des Aischylos leisten möchte, sieht sich sogleich mit einer langen Forschungsgeschichte konfrontiert, die diese Trilogie des athenischen Dichters, aufgeführt an den Dionysien des Jahres 458 v. Chr., im ganzen wie im Detail im wahr¬ sten Sinne des Wortes erschöpfend behandelt hat. Gerade die jüngere Forschung hat bei ihrer Beschäftigung mit der Orestie unter zahlreichen Spezial-Perspektiven beachtliche Fortschritte erzielen können: Nicht nur die rein textwissenschaftliche Aufarbeitung hat in der neuesten Edition von M. L. West (1990)' wohl für lange Zeit einen überzeugenden Abschluß gefunden - ganz zu schweigen von der monumentalen Kommentierung der drei Stücke allein in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts^ -, sondern auch zahlreiche Spezialuntersuchungen haben unser Verständnis der Stücke wesentlich gefördert: Diese reichen von der theaterwissenschaftlichen Forschung, die die Inszenierung der Stücke weitgehend rekonstruiert haO, über die motivgeschichtliche Forschung'*, die historische Forschung, die sich vornehmlich mit dem Zeitbezug der Stücke beschäftigt hat^, die Religionswissenschaft, die vom Opferritual bis zum Wesen der in der Orestie auftretenden Gottheiten wichtige Beiträge liefern konnte^, rechtsgeschichtlich orientierte Interpretationen^ bis hin zu feministischen* und kühnen dekonstmktivistischen ,Lesungen‘9.

‘ M. L. West, Aeschyli Tragoediae cum incerti poetae Prometheo (1990). Nach dieser Ausgabe wird in der folgenden Untersuchung zitiert. Abweichungen werden jeweils .speziell vermerkt. 2 Als maßgebliche Kommentare sind dabei zu nennen: Für die gesamte Orestie: Rose, Headlam-Thomson, Groeneboom; für den , Agamemnon': Fraenkel, Denniston-Page, Bollack; für die ,Choephoren‘: Garvie, Sier; für die ,Eumeniden‘: Sommerstein, Podlecki (s. u. im Literatur¬ verzeichnis unter 1.). 2 Als Standardwerk ist hier vor allem Taplin (1977) zu nennen. '* Lebeck (1971); vgl. auch van Nes (1963), Sideras (1971), Sansone (1975), Petrounias (1976). ^ Hier sind vor allem zu nennen: Meier (1980); Meier (1988) 117-155; Bleicken ('^1995); zuvor schon Dover (1957); Dodds (1%0); Podlecki (1966); Macleod (1982). ^ So u. a. Zeitlin (1965); Henrichs (1991); Henrichs (1994).

I. Einleitung

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Bei all dieser intensiven Forschungstätigkeit ist jedoch ein zentrales Problem der Deutung der Orestie des Aischylos nach wie vor offen: Die Frage nach dem Status der Handlungen der dramatis personae, vornehm¬ lich Agamemnons und Klytaimestras im ,Agamemnon‘ sowie des Orestes in den ,Choephoren‘. Gerade in jüngster Zeit ist die Frage nach der aischyleischen Auffassung vom Wesen menschlichen Handelns in der philologischen Forschung verschärft gestellt worden: So hat R. Thiel in seiner monu¬ mentalen Arbeit über ,Chor und tragische Handlung im «Agamemnon» des Aischylos* (1993) mit großer Entschiedenheit der weit verbreiteten Ansicht widersprochen, daß das Handeln und Leiden der Personen in der Orestie dem im Haus des Atreus wütenden Geschlechterfluch zu verdan¬ ken sei. Vielmehr müsse insbesondere die Opferung Iphigenies durch Agamemnon als ein dem Charakter entspringendes, schuldhaftes Verhal¬ ten des Täters bewertet werden, das ihn schließlich zu Fall bringe'^. Der ,Agamemnon* wird damit zu einer Demonstration dafür, wie ein (vermeidbarer) Fehler des Helden ihn schließlich ins Verderben führt. Damit setzt diese neueste Interpretation eines Stückes der Orestie eine alte Interpretationsrichtung fort, indem sie nun auch für die aischyleische Tragödie mit dem aristotelischen Konzept des 'mittleren Charakters' operiert, der durch einen in diesem Charakter wurzelnden Fehler schließlich ins Unglück gerät". Die philologische Interpretation, mit der Thiel seine These aus dem Aischylostext gewinnt, soll unten in der Interpretation im Kap. II an der jeweiligen Einzelstelle geprüft werden. Hier sei nur allgemein angemerkt, daß ein solcher Blick auf die Handlung einer dramatis persona in einer Tragödie den Interpreten methodisch dazu zwingt, die zur Bewertung anstehende Tat vom Handlungskontext zu iso¬ lieren, sie auf ihre Vermeidbarkeit zu prüfen und schließlich - wenn eine solche Vermeidbarkeit festgestellt ist - sie aus dem vermeintlichen Charakter des Täters, der aus seinen Äußerungen und Handlungen zu er¬ schließen ist, abzuleiten: ’ Gagarin (1967) 57-118. « Zeitlin (1978). ^ Goldhill (1984); dazu vgl. bes. die Rez. von C. Clark-E. Czapo, Phoenix 45 (1991) 95-125. 10 Thiel (1993) 247-261. 421^41. 11 Mit explizitem Bezug auf die Theorie des .mittleren Charakters* in der aristotelischen .Poetik* (Aristot. Poet. 1453 a 7-10): Thiel (1993) 250-256. Thiel stellt sich mit seinem Ansatz ausdrücklich in die Nachfolge von Cessi (1987) und A. Schmitt (1988). (1988a), die der aristote¬ lischen Tragödieninterpretation, vornehmlich in der Sophoklesinterpretation, in der deutschen Forschung wieder zu einiger Geltung verholfen haben; vgl. weiterführend A. Schmitt (1990) 5963, (1991), (1992).

§ 1: Der Stand der Forschung

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„An zwei Stellen der Tragödie handelt Agamemnon in zumindest problematischer Weise: ln der Parodos schlachtet er seine eigene Tochter, im dritten Epeisodion be¬ tritt er purpurgewirkte Tücher... Beide Handlungsweisen haben eine Reihe auffäUiger Gemeinsamkeiten, die den Schluß nahelegen, daß der Zuschauer den Grund da¬ für, daß Agamemnon jeweils so handelt, wie er handelt, in je denselben Charakterzügen der Hauptperson erkennen soU, die in beiden Szenen in unterschiedhcher Weise relevant werden.“’^

Mit einer solchen oder ähnlichen Methode hatte bereits vor Thiel eine ganze Reihe von Interpreten die ,Freiheit' und damit die ,Schuldhaftigkeit' der Taten der einzelnen Personen ermittelt: So ist bereits Eduard Fraenkel - wenngleich er Agamemnons Tat nicht aus seinem Charakter ableitet von der Freiheit der Entscheidung Agamemnons überzeugt: „Aeschylus, by using unmistakable language (220ff....), makes it clear that all the evü that is to befall Agamemnon has its first origin in his own voluntary decision ... From the point of view of Aeschylus it was all-important that nothing but Agamemnon’s deliberate decision should appear as the primary cause of his sufferings

Ihm folgen - um nur einige Beispiele zu nennen - so bedeutende Gelehrte wie E. R. Dodds''*, N. G. L. Hammond'^, D. J. Conacher'^ und — noch einmal mit der Thielschen Pointe der Offenbarung ,innerer Tendenzen' des Handelnden zur Tat - A. Schmitti^.

12 Thiel (1993) 247f. 12 Fraenkel II p. 99. 1Ί Dodds ([1960]/1977) 72: „... der Dichter (wollte) meiner Ansicht nach nicht nur zugestehen, sondern sogar betonen ..., daß ein Moment der Wahl (sc. für Agamemnon) vorhanden sei.“ Und für Orestes: ebd. 73: „Selbstverständlich war es Orestes' Absicht, seine Mutter zu töten, die ihn nach Argos führte, und doch ist hier ein echter Augenblick des Wählens da.“ 15 Hammond (1965) 46f.: „Agamemnon’s purpuse in promoting a war against Troy happened to coincide with the will of Zeus to punish Paris and Troy. This coincidence is no credit to Agamemnon ... Agamemnon sees two courses open to him - either to reject the course recommended by Calchas, or to accept it and kill his own daughter ... The choice is bitter. But it is very much a choice, and a choice for which one bears a heavy personal responsibility.“ Und zu Orestes ebd. 51: „In the latter part of the Oresleia ... the feeling may be uppermost in us that Orestes has little choice. But we should remember that his own wishes coincide with the wishes of the gods ... (299-304).“ 16 Conacher (1987) 13f. 85-92. 12 A. Schmitt (1997) 19, pauschal für den ,Agamemnon“ des Aischylos wie für Euripides' ,Iphigenie in Aulis“: „Die Frage, die sich ... jeder Zuschauer stellt: ,Wie wird sich Agamemnon jetzt entscheiden?“ zeigt, wie die ungeheure Bedrängnis Agamemnons durch Artemis die Aufmerksamkeit gerade auf die selbständigen Handlungsmöglichkeiten Agamemnons lenkt, ja darüber hinaus sogar dazu dient, noch verborgene, unentwickelte innere Tendenzen in Agamemnon zum Vorschein zu bringen. Ob Agamemnon bereit oder nicht bereit ist, selbst die Hürde zu über¬ springen, sagt eben etwas über die Art und die Intensität seiner Entschlossenheit, diesen Krieg zu wollen, aus.““

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l. Einleitung

Gegen diese Deutungen der Verbrechen der handelnden Personen als freier Entscheidung entspringender Taten von Tätern stehen freilich die zahlreichen Hinweise des Chores und einiger dramatis personae im Stück selbst, daß es sich bei den dargestellten Verbrechen um Heimsuchungen der Götter oder des Schicksals oder Auswirkungen eines Fluches handelti*. Auf der Grundlage dieser Textsignale hat sich eine Position ent¬ wickelt, die im Gegenteil die Verbrechen im Haus des Atreus als unab¬ änderliche Heimsuchung durch das Schicksal, oder genauer: den Geschlechterfluch, der seit dem Streit zwischen Thyestes und Atreus das Haus der Familie beherrscht, betrachtet. Am schärfsten wurde sie von den Kommentatoren J. D. Denniston und D. Page vorgetragen. In einem imaginären Interview mit Aischylos lassen sie den Dichter folgende Interpretation seines Werkes geben: „(10) Your critics have sometimes said that Artemis presented Agamemnon with alternative courses - either to kiU his daughter and sail to Troy, or to stay at home and so spare his daughter: is this what you intended? - It was neither said nor intended. The death of Iphigeneia is claimed in requital for a death (that ofthe hare and its offspring) which has already taken place: her sacrifice is related to a pastfact, not to a future condition: nowhere is there the slightest indication that Artemis offered Agamemnon a choice between alternatives, and he himself very quickly sees that he has no choice. (11) If it was your purpose to show that Agamemnon had no choice whatever in the matter, could you not have made this very important fact a litüe plainer? - No: it is definitely stated that he put on the harness of Necessity: a man who acts under Necessity is not acting voluntarily. It is further stated in unambiguous terms that his mind was deranged (ποφακοπά) before the trouble could be begun (πρωτοπήμων). (12) How is this consistent with the Statement that his Spirit 'changed direction', and thereafter was ’impious' and ünholy’, and that he 'altered his mind’ in favour of a course of 'uttermost daring’? - The ’change of mind' simply represents the fact. When Agamemnon saw> that he had no choice in the matter (άνάγκας έδυ λεπαδνον), he now made up his mind to obey, ... nobody denies that he made up his mind to the act, or that the act was abominable:

Vgl. z. B. die Beteuerungen des Chores, daß alles auf Befehl und nach dem Willen des Zeus verläuft: s. z. B. Ag. 61. 111; aus Ag. 218: άνάγκοις έδυ λεπαδνον (sc. Agamemnon) scheint zu sprechen, daß Agamemnons Tat ein von der ,Ananke“ erzwungener Akt gewesen ist (dazu s. u. Kap. II § 4); am Ende sind sich der Chor und Klytaimestra einig, daß ihre Tat eine Auswirkung des seit dem Thyestesmahl im Hause wütenden Fluches sei: Ag. 1457-1488. Auch Orests eigener Antrieb, den Muttermord zu begehen, tritt an manchen Stellen hinter dem Befehl Apollons, die Tat zu vollstrecken, zurück, und zwar sowohl aus der Perspektive Orests und Apollons (Cho. 269ff. Eum. 465ff. 579f.) als auch aus der Perspektive der Gegner (Eum. 198200).

§ 1: Der Stand der Forschung

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the question renmins, had he any choice? It is clearly stated that Artemis compelled Agamemnon to commit the crime, and that she did so for no fault on his part:

H. Lloyd-Jones hat diese Position aufgegriffen und mit dem Gedanken des Geschlechterfluchs verknüpft: „We can now trace, from the πρώταρχος άτη of Thyestes, the grand design of Zeus. The action of the Theban trilogy, almost the only other of which we have a reasonable knowledge, is determined from the Start by the curse upon Laius; so, I feel certain, is the action of the Oresteia by the curse upon Atreus. From his birth Agamemnon's fate, hke that of Oedipus orEteocles, has been determined; he is the son of the accursed Atreus. Zeus uses him as the instrument of his vengeance upon Troy; but he uses him in such a fashion that his own destmction must inevitably foUow. At the outset of the expedition, Artemis, a partisan of Agamemnon's enemies, demands of him blood for blood. Agamemnon cannot refuse, for it is Zeus' will that the fleet sail; and Zeus sends Ate to take away his judgement and force him to consent. The King bows to the goddess's demand; and his consent brings down upon him the vengeance of his wife, who shares her sister's uncarmy and daemonic namre serving hke her as an instrument of Zeus' destructive purpose. Even his righteous revenge upon the Trojans involves Agamemnon in yet further guilt. In one sense, it is a triumph of divine justice; in another, an atrocious crime; the instrument of Zeus' punishment of Troy must himself be punished. But such guilt as the King contracts from the sacrifice of his daughter and from the annihilation of Troy with its people and its temples is only a consequence of the original guilt inherited from Atreus; the curse comes first, and determines everything that foUows. Zeus brings about the ruin of Priam; Zeus brings about the ruin of Agamemnon.“2°

Weitere Vertreter dieser Position, die die komplette Verantwortung für die Tat höheren Mächten zuschreibt, sind u. a. K. v. Fritz^*, A. Rivier22 und Th. Rosenmeyer23. Schon früh hat es Vermittlungsversuche zwischen beiden Extrem¬ positionen gegeben. So hat z. B. bereits B. Snell erkärt: „In der Schlachtung Iphigenies sieht auch der Chor eine Schuld Agamemnons (besonders 218ff.) ... Er stürzt nicht durch blinde Ungerechtigkeit... (Es) regiert... der Geschlechterfluch das Geschehen. Die Menschen entscheiden sich frei und sind doch zum Verhängnis geboren. Auch hier bleibt im tiefsten Grunde unentschieden,

Denniston-Page p. XXVII-XXVIII. 29 Lloyd-Jones (1962) 199. 21 V. Fritz (1962) 1-112, bes. 8-11 (zu Orestes). 22 Rivier (1968) 5-39. 23 Rosenmeyer (1978) 1-24, bes. 9f. (zu Agamemnon) und 13 (zu Orestes).

I. Einleitung

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ob die Freiheit der Handelnden oder die Notwendigkeit das Geschehen bestimmt.“^'*

A. Leskys vermittelnde Position nähert sich dagegen stark der Schick¬ salsposition an. Denn für Lesky können die Täter, nachdem sie ihr Schick¬ sal erkannt haben, nur noch wollen, was sie immer schon müssen: „Daß an ihm (sc. Agamemnon) das Wort λίπόναυς (der die Schiffe verläßt) haften würde, stellt ihn unter den Dmck der Notwendigkeit. Da er aber zur Einsicht gekommen ist, daß er sein Kind opfern muß, will er es auch, begehrt die Tat und macht sie so ganz zu seiner eigenen

Und zu Orests Tat: „... der Kommos ist jene Partie, in der Orestes den von ApoUon befohlenen Mord in sein eigenes Wollen hineinnimmt, in dem er zu einem leidenschaftlichen Begehren dessen kommt, was vordem ein Auftrag war, der blinden Gehorsam heischt. Erst im Kommos wird Orestes von einem Werkzeug des Gottes zum Handelnden, für seine Tat verantwortlichen Menschen.“^^

Auch A. F. Garvie, der jüngste Choephoren-Kommentator, stellt heraus, daß aus den Stücken beide Konzepte: das vom freien menschlichen Handeln und das von der Fremdbestimmtheit menschlichen Handelns durch die Götter ableitbar seien: „Aeschylus does not teU us why he (sc. Agamemnon) had to make this choice. We may, if we like, connect it with the curse that he has inherited from his father Atreus, but though the curse may be implied in Calchas’ prophecy, it is not explicitly mentioned tili much later in the play. What matters at this stage is that he makes his choice, and must accept the responsibility for the crime which he commits.“^"^ „Choephori presents the same combination of human and divine responsibility, of freedom and compulsion

Im Folgenden führt Garvie die Faktoren, die zum Mord an Klytaimestra führen, im Einzelnen aus^^: Einerseits sei es der Wille des Zeus, Klytai¬ mestra zu bestrafen, und auch der tote Agamemnon und die Mächte der Unterwelt riefen nach Rache; andererseits sei es auch Orests eigener Wille, die Tat zu begehen, und die Freiheit seiner Entscheidung folge 24 Snell (1928) 125. 25 Lesky (1972) 111. - Weitere Äußerungen Leskys zur Entscheidung Agamemnons unten Kap. II § 4. 2^ Lesky (1972) 125. - Weitere Äußerungen Leskys zur Entscheidung Orests unten Kap. III § 3. 22 Garvie p. XXIX-XXX. 28 Garvie p. XXXI. 29 Garvie p. XXXI.

§ 1: Der Stand der Forschung

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schon aus Apollons Warnung davor, sie zu unterlassen. Eine Vermittlung dieser Faktoren leistet Garvie jedoch leider nicht. Schon die exemplarische Vorstellung der drei Grundpositionen der Forschung macht die Problematik der gesamten Diskussion deutlich: Da sowohl die Freiheit der Entscheidungen der Täter zur Tat aus der aischyleischen Darstellung des Geschehens grundsätzlich ableitbar zu sein scheinT^’, als auch Äußerungen der dramatis personae und des Chores darauf hinweisen, daß die Götter, das Schicksal oder Flüche am Werke seien, sehen sich die Interpreten gezwungen, entweder zwischen den Alternativen zu entscheiden oder sie miteinander zu vermitteln oder sie schließlich gleichberechtigt nebeneinander stehen zu lassen. Der erste Weg, die klare Entscheidung der Alternative, wird naturgemäß von den Vertretern der ,reinen“ Positionen gewählt. So analysiert z. B. Thiel die Entscheidungssituation Agamemnons in der Parodos des ersten Stückes der Trilogie und kommt zu dem Ergebnis, daß es sich um eine freie Entscheidung handelTf Um nun obendrein die Verantwortung für die Tat vollkommen auf Agamemnon zu begrenzen, deutet er alle Indizien, die gegen eine solche Position sprechen, in eben diesem Sinne: Artemis habe die Winde nicht geschickt, um den König zur Opferung seiner Tochter zu bewegen, sondern um den Krieg gegen Troia zu verhindern, indem sie ein (zu) hohes Opfer von Agamemnon forderte. Damit finde die Tat gegen den Willen der Göttin statt und sei eindeutig ein Verbrechen32. Und Klytaimestras Aussage, in ihr wirke der Fluch des Hauses, sei lediglich eine Ausrede der Täterin, um die Schuld von sich abzuwälzen33. Umgekehrt setzen z. B. Denniston und Page sowie Rivier alles daran, die Indizien der Entscheidungsszene herunterzuspielen, die auf eine freie Entscheidung hindeuten^^, während sie großes Gewicht auf die Aussagen über den Geschlechterfluch legen. Der Vermittlungsversuch Snells läßt dagegen beide Komponenten gemeinsam bestehen, ohne ihr Verhältnis zueinander zu klären („im tief¬ sten Grunde unentschieden“), Lesky löst das Problem, indem er die Komponenten nacheinander wirksam werden läßt (der Täter erkennt, daß 30 Dazu s. u. meine exemplarische Interpretation der Parodos des 'Agamemnon': Kap. II § 4. 31 Ag. 184-249: Thiel (1993) 111-143. 32 Ag. 104ff.: Thiel (1993) 73-87. 33 Ag. 1497ff.: Thiel (1993) 377-395, bes. 386. 390. 393f. Da schließlich auch der Chor von der Mitwirkung eines Rachegeistes (Ag. 1507ff.) spricht, ist Thiel gezwungen, diesen Gedanken aufzunehmen. Er reduziert seinen Sinn aber darauf, daß der Chor von der Mitwirkung des Aigisthos spricht, der für das Thyestesmahl Rache nehme. Einen wirklichen ’Daimon' will aber Thiel auch in ihm nicht sehen: Thiel (1993) 394f. 34 Denniston-Page p. XXVII (4)-(9); Rivier (1968) passim.

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I. Einleitung

er die Tat tun muß, und will sie dann), und Garvie läßt sie schließlich als Faktoren nebeneinander stehen. Bei diesem groben Überblick über die Methoden der Lösung des Widerspruchs, den die Texte zu enthalten scheinen, fällt auf, daß sich die Interpreten dem Problem ausschließlich dadurch näherten, daß sie die je¬ weils einschlägigen Textpassagen entweder gegeneinander auszuspielen oder bei ihrer Interpretation der entsprechenden Tat die verschiedenen Komponenten als miteinander, nacheinander oder nebeneinander wir¬ kende Faktoren am Text festzumachen versuchten. In allen Fällen bestand die Methode der Interpretation jedenfalls darin, die jeweilige Tat isoliert in den Blick zu nehmen und vor dem Hintergrund dessen, was der Chor und verschiedene dramatis personae über sie sagen, zu bewerten. Das Problem dieser Methode liegt nun handgreiflich darin, daß das Drama als Literaturgattung mit einem inneren Kommunikationssystem operiert, das von Figurenperspektiven bestimmt ist, und kein direktes, zwischen Dichter und Zuschauer vermittelndes Kommunikationssystem existiert. Nirgends spricht der Dichter direkt zum Zuschauer und sagt ihm, wie die dargestellte Handlung zu verstehen sei^s. Zwar wird man den Aussagen der Chöre in bestimmten Passagen größere Autorität als bewertender und deutender Instanz beimessen als z. B. denen eines Mörders bei der Rechtfertigung seiner Tat, denen man von vornherein extreme Perspektivität unterstellen wird. Doch ist auch der Chor in wie¬ der anderen Kontexten durchaus Partei und Mitspieler^*. Das bedeutet: Im Prinzip ist auf keine der Aussagen, die im inneren Kommunikationssystem über die Tat gemacht werden, in dem Sinne ,Verlaß*, daß sie dem Zuschauer die vom Autor intendierte Deutung des Geschehens von vornherein direkt liefern würde. Dieser Schwäche der Diskussion um die Deutung des Geschehens möchte die folgende Untersuchung abhelfen, indem sie erstmals versucht, einen Schritt auf eine von den Figurenperspektiven unabhängige Ebene zu tun, nämlich auf die Ebene der Konstmktion der Handlung selbst. Was die Vgl. Pfister (1988) Kap. 1.2. und 3.5. 3* Eine wirklich überzeugende Bestimmung der Rolle des Chores in der aischyleischen Tragödie steht m. E. noch aus. Auch Thiels (1993) Behandlung des Themas befriedigt nicht, weil sein Bestreben, die Perspektive des Chores strikt als die eines .Mitspielers' zu erweisen, allzu deutlich von dem Bestreben geleitet ist, dem Chor als Parteigänger Agamemnons die .Glaub¬ würdigkeit' in den Aussagen zu nehmen, in denen er vom Troianischen Krieg als einem Akt der Dike des Zeus spricht (Thiel [1993] 42: „[Der Chor bemüht sich,] den Feldzug als berechtigte und begünstigte Strafaktion erscheinen zu lassen.“ [Hervorhebung von mir]). Ein erster Versuch, die Lücke wenigstens ansatzweise zu schließen, jetzt in Kappel (1999). - Zum Chor als Mitspieler s. u. Kap. II § 2-3. 9, Kap. III § 2. 4. 6-9.

§ 1: Der Stand der Forschung

17

Handlung eines Stückes sei, muß sich der Zuschauer (und der Interpret) zwar auch aus dem von den Figuren des Dramas aus ihrer jeweiligen Perspektive Gesagten rekonstruieren, doch ist eine solche Rekonstruktion — wie die folgende Untersuchung eindeutig zeigen wird - lückenlos mög¬ lich. Aus der Überlagerung, Ergänzung und der szenischen Bestätigung von Informationen aus verschiedenen Figurenperspektiven sowie zahlrei¬ chen expositorischen Informationen über die ,Vorgeschichte‘3’ergibt sich für den Zuschauer am Ende ein klares Bild davon, wer was wann aus welchem Grund getan hat. Und erst aus diesem, vor den Augen des Zuschauers sukzessive entstehenden dramatischen Handlungskonstrukt ent¬ steht zugleich ein sich Schritt für Schritt vergrößernder Referenzrahmen, in dem jedes Ereignis und jede figurenperspektivisch geprägte Aussage einen Platz hat. Die Einzelhandlungen und -ereignisse der jeweiligen Stücke sollen also nicht isoliert für sich bewertet, sondern zunächst als Teil eines großen Gesamtzusammenhanges erfaßt und verstanden werden. Der systematischen Rekonstruktion dieses Gesamtzusammenhanges der Ereignisse, d. h. des ,Plot‘ der Orestie^*, dient die vorliegende Unter¬ suchung. Ein solcher Ansatz verspricht für die Interpretation der aischyleischen Trilogie einen dreifachen Erkenntnisfortschritt: (1) Erstens wird überhaupt zum ersten Mal in der Eorschung die ele¬ mentare Konstruktion der Handlung für jedes einzelne Stück der Orestie aus dem Text heraus bestimmt und festgehalten^^. Dies liefert dem Interpreten eine geschlossene Grundlage für die systematische Einordnung jeder Handlung und jedes Ereignisses in den Gesamtzusammenhang der Handlung. Diese Einordnung der Einzelhandlung in den unabhängig von den Figurenperspektiven gegebenen Ereigniszusammenhang wird eine sehr viel produktivere Deutung ihrer Qualität als aktiver freier Handlung oder als passiven Schicksals ermöglichen. Die fraglos vorausgesetzte Prämisse dieses Ansatzes besteht freilich darin, daß die Konstruktion der Handlung ein wesentliches Sinnmoment einer aischyleischen Tragödie dar-

3·^ Zur Vergabe expositorischer Information als Mittel, Informationen über nicht szenisch dargestellte Handlung dem Zuschauer nahezubringen, s. Pfister (1988) Kap. 3.6. und 3.7.2. 3« Zum Begriff ,Plot‘ für die Konstruktion der Handlung s. u. Kap. I § 2 und Pfister (1988) Kap. 6.1.1.2. 39 Zwar werden einzelne Handlungszusammenhänge punktuell von der Forschung immer wieder diskutiert (auf die entsprechende Literatur werde ich im Laufe der Interpretation eingehen), doch die systematische Rekonstruktion des ,Plot‘ der Orestie steht in der Tat noch aus. Die einzige Untersuchung, die das Thema im Titel trägt, hat das Ziel der Rekonstruktion des ,Plot‘ der Orestie jedoch m. E. leider verfehlt: Konishi (1990) mit Käppel, Gnomon 65 (1993) 289-293.

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I. Einleitung

Stellt. Daß dies der Fall ist, hoffe ich im Laufe der Untersuchung zeigen zu können. (2) Zweitens ist auch die Frage nach der Konstruktion der Handlung einer Trilogie von erheblicher Bedeutung für die Interpretation der Einzelstücke sowie dann auch wieder der Trilogie insgesamt. Besonders im Rahmen der Frage nach aischyleischer Handlungstheorie - und um nichts anderes geht es bei der Frage nach der Freiheit oder Schicksalhaftigkeit einer Handlung - ist dieser Aspekt besonders wichtig. Aischylos war bekanntlich der einzige, der Inhaltstrilogien und -tetralogien - d. h. drei aufeinanderfolgende, stofflich zusammenhängende Stücke mit einem Satyrspiel - regelmäßig verfaßte'*'’. Die Form der Trilogie ist das sinn¬ fällige ästhetische Mittel, desaströse Familiengeschichten in mehreren Generationen dramatisch darzustellen*’. In einer Problematik, bei der es gerade um die Frage der Freiheit des Einzelnen in einer über Genera¬ tionen sich wiederholenden Kette von Untaten geht, liegt eine gründliche Untersuchung der Darstellungsform der Trilogie, d. h. eine Unter¬ suchung der inneren Verknüpfung der drei Stücke, auf der Hand. Sie verspricht eine Aufklärung darüber, ob und in welcher Weise ein ver¬ meintlicher ,Geschlechterfluch* über Generationen hin wirkt, bzw. wel¬ ches die ästhetischen Darstellungsmittel sind, die ihn dem Zuschauer nahebringen. (3) Drittens werden sich auch eine Reihe von Einzelproblemen der Forschung mit dem gewählten Ansatz lösen lassen, namentlich das ,Ent¬ scheidungsproblem* in der Parodos des ,Agamemnon* (Kap. II § 4), die Frage des Geschlechterfluches im Zusammenhang mit Agamemnons Tod (Kap. II § 8-10), die Funktion und Wirkung des Kommos in den ,Choephoren* sowie das Problem der Diskrepanz zwischen dem Mordplan Orests und dessen Ausführung (Kap. III § 3-4), schließlich die Bedeutung der Verwandlung der Erinyen in Eumeniden (Kap. III § 9 Ende und Kap. IV). Die Erarbeitung der Konstruktion der Handlung wird in folgenden Schritten vonstatten gehen:

Eine Liste aller sicher oder mutmaßlich von Aischylos verfaßten Trilogien und Tetralogien in TrGF 111 p. 110-119; an einschlägiger neuerer Literatur zum Thema ,Inhaltstrilogie' siehe vor allem Gantz (1978/19); ders. (1980); an älterer Literatur vgl. Schöll (1859); Wecklein (1891/1892); Meautis (1936). Vgl. besonders die sog. .Thebanische Tetralogie' (TrGF III p. 110, Nr. A II. Radt), von der nur das letzte Stück, die ,Sieben gegen Theben', erhalten ist; zum mutmaßlichen Inhalt der übrigen Stücke s. Hutchinson zu Sept. p. XVII-XXX.

§ 1: Der Stand der Forschung

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(1) Zunächst soll anhand der aristotelischen Definition des ,Mythos‘ ei¬ ner Tragödie ein Verstehenshorizont über dem Untersuchungsgegenstand eröffnet werden (Kap. I § 2). Im Laufe der Untersuchung wird sich zei¬ gen, daß das aristotelische Konzept des ,Mythos‘ als der σύστασις πραγμάτων ein exzellentes heuristisches Modell bildet, um die Struktur des ,Plot‘ der aischyleischen Stücke zu erfassen. (2) Um ein ,Handlungsgemenge‘, wie es die Orestie darstellt, angemes¬ sen analysieren zu können, ist es nötig, Kategorien und Methoden zu ent¬ wickeln, nach denen sich Handlungsstrukturen beschreiben lassen. Die Struktur einer geschlossenen dramatischen Handlung stellt sich - wie be¬ reits Aristoteles richtig gesehen hat (s. u. Kap. I § 2) - nicht allein als zeitliche Abfolge innerlich unverbundener Ereignisse dar, sondern als ^.rQigmszusammenhang, in dem ein Ereignis aus einem anderen (oder mehreren anderen) folgt. Dieser Zusammenhang wird gemeinhin als Kausalzusammenhang gefaßt. Da jedoch das Phänomen der Kausalität, be¬ sonders wenn es nicht um die Kausalität von Naturereignissen, sondern um Kausalität im Bereich menschlichen Handelns geht, außerordentlich reich an subtilsten Implikationen ist, muß vorab sichergestellt werden, daß die Analyse mit einem Kausalitätskonzept operiert, das für Handlungs¬ gemenge der vorliegenden Art geeignet ist. Bevor man sich anschickt, die Struktur einer dramatischen Handlung zu analysieren, kommt man nicht umhin, sich klargemacht zu haben, was es bedeutet, daß eine Handlung (bzw. ein Ereignis) die Ursache einer anderen (eines anderen) ist. In der Regel setzen die Interpreten ihre eigene Vorstellung von Handlungs¬ zusammenhängen implizit voraus. Die hier versuchte explizite Definition der Kausalität von Handlungen wird - wie wir in der konkreten Analyse sehen werden - ein methodisch klares Instrument liefern, Handlungs¬ zusammenhänge zu bestimmen und so Handlungsstrukturen aufzuspüren (Kap. I § 3). (3) Sodann erfolgt die eigentliche Analyse. Diese vollzieht sich in der Weise, daß im Nachvollzug der szenisch präsentierten Handlung ein Schema des ,Plot‘ der Orestie erarbeitet wird. Dabei wird einerseits die Handlungsführung der szenisch präsentierten Handlung im Eortgang des Stückes analysiert und beschrieben. Andererseits wird anhand der sukzes¬ sive vergebenen expositorischen Informationen, d. h. der Informationen, die über die vor dem Beginn des Stückes, dem sog. ,point of attack‘''2,

'*2 Zum Begriff des ,point of attack' s. Pfister (1988) 3.7.2.6.: „Hat ein dramatischer Text einen späten point of attack ..., geht also der dramatisch präsentierten Eingangssituation eine

20

/. Einleitung

liegenden Ereignisse Auskunft geben, der ,Plot‘ des Stückes in die ,Vergangenheit‘ verlängert. Dieser zweite Schritt wird sich für die Analyse der Handlung des ,Agamemnon‘ als besonders wichtig erweisen, da all die Ereignisse, die die szenische Handlung vorantreiben, in der Vergangenheit liegen. Da die Orestie keine initial-isolierte, sondern eine sukzessiv-integrierte Exposition aufweist, muß auch diese im Nachvollzug des Textes erarbeitet werden''^. Die Ergebnisse werden jeweils - wenn es sich anbietet - in kurzen resümierenden Schemata in der Abhandlung wiedergegeben. Parallel zur Lektüre der Abhandlung kann der Leser auch die (Re-)Konstruktion des ,Plot‘ anhand der separat am Ende des Buches beigefügten Handlungsschemata I-IV mitverfolgen. Das Ziel aller Bemühungen um die Beschreibung der Konstruktion der Handlung in der Orestie und der Prinzipien, nach denen sie erfolgt, besteht freilich darin, einen Beitrag zur immer noch offenen Diskussion um die aischyleische Auffassung von der Freiheit oder Bedingtheit menschlichen Handelns zu leisten.

§ 2 Der Begriff der dramatischen Handlung nach Aristoteles Die Frage nach der Konstruktion der Handlung einer griechischen Tragödie wirft jeden Interpreten zurück auf Aristoteles. Zwar hat die Forschung längst erkannt, daß die Kategorien der aristotelischen ,Poetik‘ keineswegs hinreichend zur Interpretation einer antiken Tragödie, aber als heuristisches Mittel bei der Beschreibung und Deutung bestimmter Phänomene durchaus hilfreich sind'·'^. In diesem Sinne soll hier zu Beginn am Leitfaden der aristotelischen ,Poetik‘ kurz skizziert werden, was ich im Folgenden unter der ,Handlung‘ der Tragödien der Orestie verstehen möchte.

umfangreiche Vorgeschichte voraus, dann liegt auch eine große Menge von Informationen vor, die expositorisch vermittelt werden müssen.“ Zu den beiden genannten Möglichkeiten expositorischer Information s. Pfister (1988) Kap. 3.7.2.2. So z. B. zuletzt Flashar (1997) 62: „Die Poetik der Tragödie muß ... aus ihr selber entwickelt werden. Das Zeugnis des Aristoteles sollte man weder verwerfen noch (sollte man) sich ihm unterwerfen.“ Ansätze zu einer Vermittlung zwischen aristotelischer Tragödientheorie als Handlungstheorie und der Handlungstheorie der Tragödie selbst bietet bereits Kannicht ([1976] 1996) 138-149, bes. 148f.

§ 2: Der Begriff der Handlung nach Aristoteles

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Anstoteles definiert im 6. Kapitel der ,Poetik* die Tragödie bekanntlich als „die Darstellung einer ernsten und abgeschlossenen Handlung (μίμησις ... πράξεοος) von einer bestimmten Größe, ... als Darstellung von Handelnden und nicht durch Erzählung, die Jammer und Schauder hervorruft und dadurch eine Reinigung von derartigen Affekten bewirkt“ (Aristot. Poet. 6, 1449 b 24-29). Unmittelbar nach dieser Definition zählt Aristoteles die sog. sechs qualitativen Teile der Tragödie auf: 0\|Ας (Inszenierung), μελoπottα (Melodik), λέξις (Sprache), ήθος (Charak¬ ter), διάνοια (Erkenntnisfähigkeit) (Aristot. Poet. 6, 1449 b 32-33/38) und schließlich den μύθος. Diesen definiert er im Rahmen der Tragödie als einer μίμησις πράξεως als denjenigen Teil, der eben diese Darstel¬ lung der Handlung leistet: έστιν

δε

τής

μέν

πράξεοτς

ό

μϋθος ή

μίμησις,

λέγω γάρ

μΰθον

τούτον την σύνθεσιν των πραγμάτων. „Die Darstellung der Handlung aber ist der Mythos, denn ich meine hier mit .Mythos' die Zusammensetzung der Ereignisse.“ (Aristot. Poet. 6, 1450 a 3-5).

Damit ist der .Mythos* als die .Zusammensetzung der Ereignisse* als der Teil definiert, der den Zweck der Tragödie unmittelbar erfüllt. Deshalb stellt Aristoteles den .Mythos* als die σύστασις πραγμάτων unter den sechs qualitativen Elementen auch an die Spitze: „Das wichtigste von diesen aber ist die Zusammensetzung der Ereignisse; denn die Tragödie ist Darstellung nicht von Menschen, sondern von Handlungen und Leben.“ (Aristot. Poet. 6, 1450 a U-l?)“*^.

Daß Aristoteles im Folgenden dem .Mythos* in der Rangliste der qualitativen Teile dezidiert den Vorrang vor dem .Charakter* (ήθος) gibt (Aristot. Poet. 6, 1450 a 20-25; 29-35; 35-38), soll uns hier nicht weiter beschäftigen, da wir damit bereits in die Problematik des aristotelischen Tragödienideals eintreten, das als methodisches Hilfsmittel für eine Analyse einer konkreten Tragödie wenig hilfreich ist. Wenden wir uns stattdessen lieber der inhaltlichen Bestimmung dessen zu, was der .Mythos* nach Aristoteles ist bzw. zu sein hat“^:

45 Vgl. auch Aristot. Poet. 6, 1450 a 38-39; αρχή μεν ούν και οίον ψυχή ό μΰθος τής τραγωιδίας. „Das Fundament und gleichsam die Seele der Tragödie ist der Mythos.“ 46 Auch hier bricht wiederum der normative Zug der aristotelischen Poetik durch. Gleichwohl wollen wir die Bestimmung des Aristoteles für unsere Zwecke der Analyse der Orestie hypothetisch akzeptieren, ln der Interpretation der Handlung der aischyleischen Trilogie werden sich die Postulate bezüglich des Mythos auf frappierende Weise bestätigen; zum Nebeneinander deskriptiver und normativer Elemente in der aristotelischen .Poetik' s. Söffing (1981).

22

/. Einleitung

(1) Der Mythos soll ein Ganzes bilden: ,£in Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst keine notwendige Verbindung zu etwas Vorhergehendem hat, auf das aber natürlicher¬ weise etwas folgt. Ein Ende ist hingegen, was selbst natürlicherweise nach etwas anderem folgt, und zwar notwendigerweise oder meistenteils, worauf aber nichts anderes folgt. Eine Mitte ist, was selbst auf etwas folgt und auf das etwas folgt.“ (Aristot. Poet. 7, 1450 b 26-31).

(2) Der Mythos soll eine Einheit bilden: „Der Mythos soll, da er Darstellung einer Handlung ist, auch Darstellung einer ein¬ zigen und vollständigen Handlung sein, und die Teile der Geschehnisse müssen so zusammengesetzt sein, daß das Ganze sich verändert und in Bewegung gerät, wenn ein Teil umgestellt oder entfernt wird. Denn was keine sichtbaren Eolgen produziert, ob es anwesend oder ob es abwesend ist, ist nicht Teil des Ganzen.“ (Aristot. Poet. 8, 1451 a 31-35)'*^.

(3) Die wichtigste Eigenschaft des Mythos besteht nach Aristoteles jedoch in einer besonderen Qualität seiner inneren Struktur, die er mit der Junktur έξ ανάγκης ή ώς έτη τό πολύ^* („nach Notwendigkeit oder meistenteils“) bezeichnet. Dies war schon in der Bestimmung der Ganzheit der Handlung vorgekommen (Aristot. Poet. 7, 1450 b 30) und hatte dort eine bestimmte Charakterisierung der Abfolge von Ereignissen geleistet. Was mit der so bezeichneten Art der Abfolge bezeichnet sein könnte, lehrt der Abschnitt, in dem zwei prominente Teile des Mythos, Peripetie und Anagnorisis (vgl. Aristot. Poet. 11, 1452 a 22ff. 29ff.), der Gesamt¬ handlung zugeordnet werden: „Diese (d. h. Peripetie und Anagnorisis) müssen aus der Zusammensetzung des Mythos selbst entstehen, so daß sie sich aus den vorhergehenden Ereignissen ent¬ weder nach der Notwendigkeit oder gemäß der Wahrscheinlichkeit ergeben: Derm es macht einen großen Unterschied, ob die Dinge infolge von Ereignissen (διά τάδε) oder nach Ereignissen (μετά τάδε) eintreten.“ (Aristot. Poet. 10, 1452 a 18-21).

Diese Erläuterung über das Verhältnis von Peripetie und Anagnorisis zu den übrigen Ereignissen des Mythos läßt sich nach den Postulaten (1) und (2) leicht auf alle Ereignisse verallgemeinern: Die Zusammensetzung des Mythos muß so gestaltet sein, daß sich Jedes Ereignis aus den vorher¬ gehenden „entweder gemäß der Notwendigkeit oder gemäß der Wahr¬ scheinlichkeit“ ergibt, was nach Aristoteles bedeutet: nicht in bloßer zeitVgl. Aristot. Poet. 9, 1451 b 34f. zum ,episodischen‘ Mythos, der die Bedingung (2) nicht erfüllt. Oder: ή έξ ανάγκης ή κατά τό εΙκός (s. u. passim).

§ 2: Der Begriff der Handlung nach Aristoteles

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lieber Sukzession (μετά τάδε), sondern in ,kausaler‘ Verknüpfung (διά τάδε) (vgl. auch Aristot. Poet. 9, 1452 a 4 δι’ άλληλα). Der jüngste Kommentator der ,Poetik*, Stephen Halliwell, hat die Signifikanz der Formel für die aristotelische ,Poetik* klar formuliert: ,Probability and necessity were first mentioned in the final sentence of ch. 7, and they ... indicate the Standards applied to the internal coherence of a poem. Probability represents a general criterion of regularity which falls short of invariability - Ar. is fond of explaining it in terms of things which happen or hold ’for the most part'. Necessity simply is the invariable - that which happens ’always'. (Necessity in the Poetics, incidently, has nothing whatsoever to do with tragic destiny or inevitability, as is occasionally supposed.) So 'probability' Stands for general human realities and conditions of existence, 'necessity' for the extreme case of such general validity, i. e. the truly universal.“'*^

Damit ist von vornherein dem möglichen Vorwurf vorgebeugt, als postuliere Aristoteles für den Mythos einer Tragödie eine streng deter¬ ministische Abfolge der Ereignisse. Stattdessen läßt er gerade die Frage der unbedingten Notwendigkeit der Abfolge offen, indem er den Zusatz ή κατά τό εικός (Aristot. Poet. 10, 1452 a 20)^0 oder ή ώς έτα τό πολύ (Aristot. Poet. 6, 1450 b 30) hinzusetzt. Zusammengenommen mit dem Hinweis auf die kausale Natur der Verknüpfung (Aristot. Poet. 10, 1452 a 21) bedeutet dies, daß sich Aristoteles ein Handlungsgefüge vorstellt, in dem die das Gefüge konstituierenden Ereignisse in einem inneren Zusammenhang stehen: Eines folgt aus dem anderen^'. Dabei ist keinerlei Aussage über die Natur dieses Ursache-Wirkungsverhältnisses gemacht. Aristoteles beschreibt lediglich die ästhetische Struktur des Mythos als des Grundbestandteiles der Tragödie. Daher scheint es für unsere Zwecke der Analyse konkreter Tragödien unnötig, danach zu fragen, wie Aristoteles das Phänomen der Ursache in seiner allgemeinen philosophischen Theorie behandelt“. Hier in der Skizzierung des aristote¬ lischen Begriffs von Mythos als des die ästhetische Struktur der Tragödie bestimmenden Elementes genügt es, festzuhalten, daß der Mythos einer Tragödie eine Struktur haben soll, in der die Elemente aus einander folgen.

49 Halliwell (1987) 106f. 50 Vgl. da.s gleiche Prinzip für die Charakterdarstellung (Aristot. Poet. 15, 1454 a 33-36). 51 Vgl. auch Belfiore (1992) 113: „These passages teil us that events that follow one another by necessity or probability occur ’because of and not merely 'after' other events; that is, they are efficiently caused by other events.“ 52 Dazu grundlegend Sorabji (1980) bes. Part V: Necessity and Blame (227-298); vgl. auch A. Schmitt (1990) 67 mit weiterer Literatur; 244 Anm. 190.

24

I. Einleitung

Nachdem Aristoteles mit den Kategorien der Ganzheit, Einheit und kausalen Stringenz die Grundprinzipien, nach denen ein Mythos aufgebaut sein sollte, festgelegt hat, kommt er sehr spät noch einmal auf den Mythos, und zwar auf seine Ausdehnung und seinen inneren Aufbau, zu sprechen: Im Kap. 7 hatte er die Ganzheit des Mythos mit den Parametern , Anfang, Mitte und Ende‘ bestimmt. Dies ließ jedoch die Frage offen, wo der ,Anfang* eines Mythos anzusetzen ist. Beginnt der Mythos einer Tragödie schlicht am Anfang des jeweiligen Stückes, so daß dieser ,J γάρ ... ) und dafür, daß Klytaimestra Aga¬ memnon töten wird (νεικέων τέκτονα ... ου δεισήνορα ... -> γάρ). Er ist die Ursache für den Zorn der Artemis und damit für die Opferung Iphigenies, wie diese die Ursache für die Rache Klytaimestras sein wird. Der dem Hause verhaftete ,GrolT wird dabei zu Recht als ,heimtückischer, listiger (δολία) Hausverwalter' bezeichnet. In beiden Eällen führt ,Heim¬ tücke' zur Katastrophe; Bei der Ermordung Agamemnons führt die Heim¬ tücke in der Person der wegen Iphigenie grollenden Klytaimestra zum Ziel, in der Situation in Aulis ist es die wegen der Thyesteskinder grollende Artemis, die heimtückisch das Heer und Agamemnon in eine Zwangslage manövriert. Gemessen an der Stringenz, Stimmigkeit und Eindeutigkeit des aischyleischen Textes wirken die Irritationen mancher Interpreten darüber, daß Artemis als kinderfreundliche Göttin ausgerechnet die Opferung eines Kindes fordert, unverständlich'^e. Man hat nicht nur längst erkannt und entsprechend betont, daß Artemis durchaus ,finstere' Züge hatte und Menschen- und Kinderopfer in ihrem Kult zumindest symbolisch eine

Streit gehört zum Haus (σύμφυτος) (Ag. 153). - Die Deutung von Denniston-Page zu Ag. 1190 (- nach Nägelsbach, Wecklein und Wilamowitz - „’kindred’ Erinyes ..., who seek vengeance for the deaths of members or their family“) kann schon deshalb nicht richtig sein, weil Atreus mit der Schlachtung der Thyesteskinder nicht Rache für den Tod eines Familienmitgliedes nimmt, sondern für den Ehebruch mit seiner Frau. Erst mit dem Mord an den Thyesteskindem begann die blutige Vergeltungskette (Ag. 1188f.). Von da an waren die Erinyen da. Daß sie auf den Ehebrecher .spucken* (Ag. 1192), bedeutet; Atreus tötet die Thyesteskinder. So z. B. Neitzel (1979) passim, Thiel (1993) 46-87, Glau (1996) 310f.

II. Die Konstruktion der Handlung des .Agamemnon'

92

Rolle spielten* *27, sondern die Forderung der Göttin leuchtet auch stück¬ immanent unmittelbar ein. Als Kompensation für die Thyt^itskinder kommt nur ein gleichartiges Opfer in Frage. Die ,FIeimtücke/List‘ (δολία) des Grolls für die ungesühnten Thyesteskinder läge dann darin, daß er als Groll der Artemis ausgerechnet jetzt (παλίνορτος) in dieser Situation, in der Agamemnon im ,Auftrag* des Zeus unterwegs ist, um Unrecht zu bestrafen, durch widrige Winde eine Notlage schafft, in der dieser mit der Forderung konfrontiert wird, nun seinerseits sein eigenes Kind zu töten, wenn er den ,Auftrag* ausführen möchte. Nur durch die Wahl dieser Situation vor dem Troiazug ist die Kompensation für die Schlachtung der Thyesteskinder perfekt. Der Sohn des Atreus selbst wird dazu gebracht, Iphigenie (= Thyesteskinder) zu schlachten, und bestraft dadurch auch sich selbst, indem er das Ver¬ brechen, das der Vater gegen Thyestes begangen hat, nun gegen sich selbst wiederholen muß (Agamemnon == Thyestes). Da die Opferung Iphigenies schließlich zum Tod Agamemnons führt, ist damit auch das Kind des Atreus geschädigt, so wie die Kinder des Thyestes durch Atreus geschä¬ digt waren. Die Kompensation ist also perfekt. Hinzu kommt, daß der negative Aspekt des Adlerzeichens, das Gefressenwerden der HasenA/ni/cr, in der Tat gut zum Verzehrtwerden der Thyesteskinder paßt; eben dieser Aspekt des Zeichens wäre es dann, welches die alte Schuld offenbart, die Artemis dazu veranlaßt, das Opfer zu fordern. Sie hat eine besondere Beziehung zu Kindern aller Art'^* und kann deshalb das Unrecht nicht tatenlos hinnehmen>29.

Siehe insbesondere Lloyd-Jones (1983); Furley (1986) 117-121. *28 Damit würde auch verständlich, weshalb Kalchas betont, daß Artemis - wie überhaupt für alle Kinder - auch für Löwenkinder ein Herz hat (Ag. 140-143): Auch Thyestes war durch den Ehebruch mit Atreus’ Gattin und die Auseinandersetzung um das Königreich kein ,unbeschriebenes Blatt’; vgl. außerdem Ag. 1224, wo Kassandra auch den Sohn des Thyestes, Aigisthos, gerade im Kontext der cena Thyestea als Löwen bezeichnet; nach dem Prinzip ,Löwen gebären Löwen’ ist also auch Thyestes ein ,Löwe’ gewesen. *29 Gerade in diesem Punkt scheint mir das Thyestesmahl sehr viel besser als negativer Bedeutungsaspekt, der Artemis als A'/Vii/erfreundin auf den Plan ruft (Ag. 140-143), für das Adlerzeichen in Frage zu kommen als die Einwohner Troias (Ag. 128-130), deren ,Kinderhaftigkeit’ erst über das tertium comparationis der Unschuld etabliert werden oder aus den von Lloyd-Jones genannten lliasstellen in den Aischylostext hineingetragen werden müßte. Daß später (Ag. 328) Klytaimestra davon spricht, daß u. a. auch Kinder unter den troianischen Opfern sind, ist mit dem Adlerzeichen kompatibel (so daß auch auf den .positiven Aspekt' des Sieges ein Schatten fällt), doch bedeutet das nicht zwangsläufig, daß dies der Grund für Artemis’ Zorn sein muß. - Davon unberührt bleibt freilich, daß im Rahmen des positiven Aspektes, bei dem das Augenmerk auf den Angreifern liegt, die Hasenjungen die Bedeutung .Einwohner von Troia’ haben, und dem Zeichen selbst im Kontext der positiven Bedeutung eine Ambivalenz verleihen, von der *22

§ 4: Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257)

93

Das Adlerzeichen hat sich also in der Deutung des Kalchas als komple¬ xes, aber eindeutig bestimmbares Symbol für einen wesentlichen Teil des ,Plot‘ entpuppt, der dem ,point of attack‘ vorausgeht. Schema 4 soll die bis jetzt erarbeiteten Komponenten zusammenfassen'^o;

Schema 4; Das Adlermahl und seine Bedeutungsebenen:

symbolisiert ■ Atreus & Thyestes

I

essen

if Kinder des Thyestes

• symbolisiert ■ zwei Adler

Agamem. & Menelaos

Agamem. & Menelaos

fiessen

qtfem

töten

Iphigenie

Troia mitsamt Agamem. den Ein¬ wohnern

I

Häsin mit Jungen

-führt zu — (Groll der Artemis)

I

Klyt.

1

tötet

I

-führt zu(Groll KJyt.s)

3. Die Opferung Iphigenies (Ag. 184-257) Den letzten geschlossenen Expositionsteil der Parodos bilden die Verse 184-257: In ihm stellt der Chor die Ereignisse unmittelbar vor der Opfe¬ rung selbst dar. Vorangegangen war der sog. „Zeus-Hymnus“ (Ag. 160183), der den Bericht des Chores von den Ereignissen in Aulis zwischen der Vogeldeutung des Kalchas und den Vorbereitungen zum Opfer unter¬ brochen hatte. Ganz gleich, in welchem Sinne dieser Hymnus auf den Gedankengang des Chores in seinem engeren Kontext zu beziehen ist. Die Forschung ist in diesem Punkt vollkommen uneinig. Für die Zusammen¬ stellung der Elemente des ,Plot‘ und die Klärung ihres Zusammenhanges mit der Gesamtstruktur kann er hier übergangen werden. Denn er enthält

später im Zusammenhang mit der Einnahme Troias ja auch noch mehrfach die Rede ist (vgl. unten Kap. II § 5). Vgl. das Schema bei Furley (1986) 116.

II. Die Konstruktion der Handlung des Agamemnon'

94

keine expositorischen Informationen zur Konstruktion der

Handlungi^i.

Zur Klärung des elementaren philologischen Verständnisses des Textes gebe ich wiederum vorab den von mir akzeptierten griechischen Text mit meiner Übersetzung: 185

και τόθ’ ήγεμών ό πρέσβυς νεών Άχαχϊκών, μάντιν οΰτινα ψέγων, έμπαίοις τύχαισι συμττνέων,

Ich neige dazu, den Zeus-Hymnus (Ag. 160-183) - wie die Refrains Ag. 121. 139. 159 als bange Selbstvergewisserung des Chores zu interpretieren, daß der Feldzug trotz der unheilvollen Ereignisse in Aulis für Agamemnon und die Griechen gut ausgehen werde. Im Anschluß an die ambivalente Deutung des Adlerzeichens durch Kalchas klammert sich der Chor an die positive Komponente des Zeichens, also an die Tatsache, daß der Rachefeldzug als , Auftrag' des Zeus Erfolg haben wird (vgl. Ag. 60-71. Ulf. 126-130); Zeus ist unübertrefflich ..., „wenn es gilt, die nich¬ tige Last der Sorge wahrhaft abzuwerfen (Ag. 165f.)... (Zeus), der die Sterblichen auf den richtigen Pfad gesetzt hat zur Einsicht, der gesetzt hat, daß das „durch Leiden lernen“ Gültigkeit besitzt; I denn es tropft im Schlaf (statt Schlaf) vor dem Herzen I die qualvolle Erinnerung an Leiden; I sogar zu den Widerspenstigen kommt Einsicht und Besonnenheit; I denn gewaltsam ist die Gunst der Götter, die auf der erhabenen Ruderbank sitzen“ (Ag. 176-183). Ich interpretiere diese Verse im Anschluß an Gagarin (1976) 139-150, Smith (1980) 26-30 und Thiel (1993) 104-110 als Mittel des Chores, im Sinne von Ag. 165f. Zuversicht zu schöpfen, indem er sich das Prinzip klarmacht, nach dem Zeus in der Welt wirkt und nach dem er auch im Fall des Paris wirken wird; Er bringt die Menschen dazu, ,vernünftig' zu sein, d. h. das Recht nicht zu verletzen (Ag. 176f.; φρονεΐν ent¬ spricht ύγιεία φρένων, der Gegensatz wäre ύβρίζειν; vgl. Eum. 534-537). Er verleiht dem Gesetz „durch Leiden lernen“ (,Wer nicht hören will, muß fühlen') Geltung (Ag. 177f.). Der Übeltäter kann vor Ungewißheit und Angst nicht schlafen; er erinnert sich an die Leiden, die er sich früher durch Frevel zugezogen hat und muß auch jetzt Strafe für seine Vergehen fürchten (Ag. 179f.). (Gagarin [1976] 143 bezieht Ag. 179f. wiederum auf die Furcht des Chores; μνησιπήμων πόνος verweise dann auf die ,Mühe' der Angst, die mit Erinnerung an die Leiden des Chores als Zurückgebliebene (?) verknüpft ist.) Auch gegen ihren Willen bringt Zeus die Menschen zu Verstand (Ag. 180f.). Denn (δε dcvri τοΰ γάρ; vgl. Denniston, GP 169) die Gunst der Götter (sc. für den Geschädigten; in diesem Fall die Griechen; vgl. Ag. 581f.) kommt irgendwie gewaltsam (sc. zum Frevler; in diesem Fall Paris). Der Chor bekämpft also mit dem Preis auf Zeus seine Furcht; „He (sc. Zeus) relieves their bürden of anxiety because as Zeus the punisher he will teach Troy a lesson. It is the sure knowledge of this punishment that the Chorus seek in the law of pathei mathos, not any higher wisdom“ (Gagarin [1976] 150). - Eine gute Korrektur von Dörries (1956) und Leskys (1972) 162-164 These, daß nach Aischylos das Leid die Menschen moralisch bessere (πάθεt μάθος), bietet Thiel (1993) 95-100. - Fraenkel II p. 112114 und Denniston-Page zu Ag. 184ff. setzen voraus, daß der Zeus-Hymnus auf Agamemnon gemünzt sei und gleichsam die ,Lehre' der gesamten Tragödie enthalte; doch muß man in der Tat mit Denniston-Page a.a.O. feststellen, daß „his (Agamemnon’s) μάθος ..., what he leams from all this, is hard to see.“ Ihre Lösung, πάθει μάθος bedeute „no more than δράσαντν παθεΐν" ist ein wenig überzeugender Ausweg. Demgegenüber scheint die oben vorgeschlagene, rein auf den dramatischen Kontext bezogene Interpretation als Selbstvergewisserung, daß Paris bestraft wird, der Zug also gut ausgehen wird, wesentlich unproblematischer. Damit bietet der Zeus-Hymnus für die Rekonstruktion des ,Plot‘ keinen über den bereits bekannten Deutungsrahmen für den Troianischen Krieg (Strafe des Zeus für Paris) hinausgehenden Gesichtspunkt.

§ 4: Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257)

190

95

εύτ’ άπλοι αι κεναγγεν βοχρύνοντ’ Άχαιϊκός λεώς ΧοΛκίδος πέραν έχων παλνρρόθοις έν Αύλίδος τόποις, πνοαι δ’ άπό Στρυμόνος μολοΰσαχ κακόσχολοι,

195

νήστιδες,

δύσορμοι,

βροχών άλαι, ναών Opferung Ag. mit Iphigenies Wahnsinn j

t

Zeus wählt Ag. als Instrument der Bestrafung

(ermöglicht) ^

Tod Ag.'s

Zerstörung Troias

1 (notwendiger Kausalnexus)

Dies ist eindeutig ein Fortschritt gegenüber Denniston-Page, da sowohl der Tod Agamemnons als auch die Zerstörung Troias plausibel mit einem Ereignis der Vorgeschichte verknüpft werden (Thyestesmahl/Raub der Helena). Problematisch bleibt dagegen in diesem Konzept die Rolle der Artemis. Ihr Zorn, der die Opferung Iphigenies zur Folge hat, wäre die Folge eines Ereignisses (Zerstörung Troias), das seinerseits auf die Opferung folgt. Dies ist als Ereigniszusammenhang im Gesamtkontext vollkommen unplausibel, wenn man Artemis nicht zur Marionette des Zeus machen möchte, deren Verhalten vom höchsten Gott in seinem Planen bereits vorherbestimmt ist**^. Die Vertreter der Position der ,freien Entscheidung‘ Agamemnons (B) legen auf die Einordnung der Opferung Iphigenies in einen Ereigniszu¬ sammenhang sehr viel weniger Wert. Sie begnügen sich in der Regel mit der Analyse der inneren Qualität der Entscheidung selbst, die ja als solche von dem Kontext, in dem sie gefällt wird, in der Tat unabhängig ist. Als Beispiel dafür, wie ein Konzept von der Konstruktion der Handlung aussehen kann, das als zentrales Moment eine Opferung Iphigenies enthält, die

'^2 Zum Problem der Lloyd-Jones'schen Lösung für den Zorn der Artemis s. o. S. 83f.

II. Die Konstruktion der Handlung des Agamemnon ‘

108

ganz allein die freie Tat eines Verbrechers darstellt, soll hier nur die Auf¬ fassung Neitzels (und Thiels) stehen (Schema 7).

Schema 7:

Paris raubt Helena

die Κ0Ν5ΤΕυκΉ0Ν der Handlung in der parodos nach NEITZEL (-THIEL):

Atriden ziehen in den Krieg, um Rache zu nehmen

Λ.·'"

^

!

Artemis schickt Winde zur Verhinderung des _ Krieges Entscheidung zur Opferung

Opferung _ Iphigenies (= ,Wahnsinn‘)

Zerstörung Troias

I .

Tod Ag.'s

[Option: Abbruch des Krieges nicht gewählt]

In diesem Konzept spielt nun wieder der ,Fluch ‘ keine Rolle mehr. Stattdessen erscheint die Opferung Iphigenies, die schließlich den Tod Agamemnons zur Folge hat, dezidiert nicht nur als Entscheidung zwischen zwei Optionen (Abbruch des Krieges vs. Opferung), sondern sogar als energisch durchgesetztes Mittel, die widrigen Winde der Artemis als Hindernis auf dem Weg zum Ziel der Wünsche der Atriden (Zerstörung Troias) zu umgehen. Die Forderung der Artemis nach dem Opfer, die sich hinter den Winden verbirgt, wird darin zu einem Versuch der Göttin, den Ereigniszusammenhang zwischen dem Raub der Helena und der Zerstörung Troias zu unterbrechen. Da dieser Versuch durch die Ent¬ scheidung Agamemnons mißlingt, kommt es schließlich zum Untergang Troias und zum Tod Agamemnons. Dieses Konzept scheint in zweierlei Hinsicht nicht überzeugend: Erstens ist die Deutung der Winde der Artemis als Versuch der Göttin, den Krieg vorzeitig zum Abbruch zu bringen, aus dem Text nicht abzuleiten·^^ Zweitens ist auch das Gesamtkonzept zumindest merkwürdig. Der Zusam¬ menhang zwischen dem Raub der Helena und der Zerstörung Troias wäre danach allein durch die verbrecherische Entscheidung Agamemnons gegen den Götterwillen (Artemis) hergestellt'^·*. Daß Troia zur Strafe für Paris’ Siehe oben S. 83-86: die ausführliche Behandlung im Lichte des Textbefundes. Für Neitzel ist sogar Zeus’ Wille im Grundsatz identisch mit dem der Artemis: Die Vernichtung Troias solle auch nach Zeus’ Willen nicht stattfinden (Neitzel [1979] 15). In diesem Punkt versagt sogar Thiel, der sich ansonsten eng an Neitzel anschließt, diesem Konzept die

§ 4: Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257)

109

Vergehen fällt, spielt in diesem Konzept keine Rolle — ein klarer Verstoß gegen den Text (Ag. 60ff. 11 Iff. 125). Die Positionen der Vertreter der ,Mischlösung‘ (C) lassen sich nur schwer in einem Schema zusammenfassen. Jenes ,unauflösbare7,irrationa¬ le Ineinander bzw. Nacheinander von Schicksalhaftigkeit und Schuld, wie es von Snell, Lesky und Nussbaum (C. 1. 2. 3.) vorgeschlagen wurde, ist von diesen Gelehrten nicht als Konzept der Handlungskonstruktion im eigentlichen Sinne entwickelt. Daher ist das hier gegebene Schema 8 nur als vage Reduktion einer in sich durchaus differenzierten Forschungsposi¬ tion zu verstehen.

Schema 8:

die ΚθΝ8τκυκΉθΝ der Handlung in der Parodos nach Snell - lesky - (Nussbaum): schicksalhafter — Zusammenhang —

I Paris raubt Helena

Zeus schickt Atnden als Rächer Atriden fordern selbst Rache

(?)

Opferung “ Iphigenies

t ^ r

Artemis schickt Winde = fordert Opferung Iphigenies

Zerstörung Troias

Tod Ag.'s

_i

4

Ag. ,entscheidet‘ sich zur Opferung

J

-Schuld-Sühne- - Zusammenhang

Die Position von Williams (C. 4.) schließlich läßt sich gar nicht in ein konkretes Handlungsschema umsetzen. Zu seiner Interpretation werden wir daher erst am Ende unserer Besprechung der Parodos zurückkehren. Alles in allem hat dieser Überblick über die Interpretationsvorschläge der Hauptvertreter der Forschung gezeigt, wie ungeklärt nicht nur die subtile Frage der Bewertung der Tat Agamemnons, sondern auch die sehr viel elementarere Frage nach der Konstruktion der Handlung überhaupt ist, die der Chor in diesem für das Verständnis des Stücks und der Trilogie entscheidenden Abschnitt des ,Plot‘ exponiert.

Zustimmung: „Zwischen Zeus und Artemis (besteht), wiewohl kein Widerspruch, doch eine gewisse Spannung ..." (Thiel [1993] 83).

110

//.

Die Konstruktion der Handlung des .Agamemnon ‘

Im folgenden soll daher zunächst einmal der aischyleische Text selbst konsequent auf die vitalen Probleme des unmittelbaren Textverständnisses in kritischer Auseinandersetzung mit den Grundlinien der Forschung analysiert werden, sodann daraus der ,Plot‘ definitiv (re)konstruiert werden, um schließlich zur Frage nach der Qualität der Handlung Agamemnons zurückzukehren. Das Grundmuster des Chorberichts von der Opferung Iphigenies ent¬ spricht strukturell dem vom Adlerzeichen; (1) Der Chor ordnet zunächst das Ereignis in seinen Kontext ein und gibt vorab einen pauschalen Hinweis, in welchem Sinne es zu verstehen ist: Ag. 107-114: Das Adlerzeichen als

Ag. 184—187; [zur Deutung s. u.]

günstiges Zeichen von Zeus für den Feldzug (vgl. oben Ag. 40-67)

(2) Dann beschreibt er das jeweilige ,übematürliche‘ Geschehen in der Situation, in der es abläuft: Ag. 114—121; Das Mahl der Adler

Ag. 188-204: Der Sturm mit der Deutung des Kalchas

(3) Schließlich das zentrale Moment in wörtlicher Rede: (Ag. 122-125: Einleitung)

(Ag. 205: Einleitung)

Ag. 126—155: Die Rede des Kalchas

Ag. 206-217: Die Rede Agamemnons

(Deutung des Zeichens)

(Entscheidungsfindung)

(4) Und ganz am Ende der resümierende Abschluß der jeweiligen Rede, in dem der Chor die Quintessenz der Rede gleichsam noch einmal auf den Punkt bringt: Ag. 156-159; Die ambivalente

Ag. 218-227: Die Natur der Entschei-

Deutung des Zeichens durch

düng und der Tat Ag. ’s

Kalchas

(5) Das Opfer selbst hatte in der Darstellung des Adlerzeichens keine Entsprechung: -

Ag. 228-249: Das Opfer

Zur Beurteilung des Stellenwertes der Entscheidung Agamemnons (Ag. 206-217) ist es nötig - wie analog schon im Fall des Adlerzeichens sowohl den Kontext der Entscheidung, d. h. die Situation, aus der heraus sie getroffen wird, als auch die Charakterisierung, die ihr der Chor vorab gibt, zu beachten. Zunächst zur Vorabcharakterisierung der AgamemnonRede durch den Chor: έμπαίοις τύχαισι συμτυνέων (Ag. 187). Zum

§ 4: Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257)

111

Verständnis dieses Verses ist es wichtig, sich die syntaktische Gesamt¬ struktur der Passage bis zum Ende der vierten Gegenstrophe zu vergegen¬ wärtigen: Der Hauptsatz beginnt mit και τόθ’ ήγεμών ... συμττνέων (Ag. 184-187): dieser hat noch kein Prädikat. Mit. Ag. 188: εύτ’ beginnt die ,Situationsbeschreibung*; diesen temporalen Nebensatz lassen fast alle Herausgeber mit Ag. 191: τόποις enden, indem sie einen Hochpunkt setzen. In Ag. 192: tcvooi δ’ ... begänne dann ein neuer Satz, der bei Ag. 198: Άργείων endet. West setzt nach Ag. 192: τόποις dagegen ein Komma und läßt auf diese Weise den εύτ’-Satz bis Ag. 198 weiterlaufen. Mit επει δε (Ag. 198) wird schließlich ein letzter Satz eröffnet, wobei der temporale Nebensatz in Ag. 204: κατασχεΐν endet und der Hauptsatz mit δε angeschlossen wird·^^. Es ergibt sich also folgender Satzbauplan: 1. Hauptsatz

κα\ τόθ’ ήγεμών ό πρέσβυς ..., εύτ’ ... βοφύνοντ’ ... τόποις· (,)*^^

(2. Hauptsatz) (?)

πνοαι δ’ ... κατέξαινον άνθος Άργείων

3. Hauptsatz

έπει δ’ ... κατασχεΐν, άναξ δ’ ό πρέσβυς ... είπε ...■

Ag. 205 beendet aber nun zugleich den in Ag. 184 begonnenen und noch nicht zu Ende geführten Hauptsatz, indem mit der Phrase αναξ δ’ ό πρέσβυς aus Ag. 184 ήγεμών ό πρέσβυς wieder aufgenommen wird: ,Und dann der Herrscher, keinen Seher tadelnd, in die gleiche Richtung wie das auf ihn einschlagende Schicksal blasend, als ...; und als ... da also sagte der Herrscher Das Partizip συμπνέων (Ag. 187) muß dem¬ nach als adverbiale Bestimmung faktisch auf τόδ’ είπε (Ag. 205) bezo¬ gen werden und charakterisiert somit Agamemnons Rede, die Ag.206ff. wiedergegeben wird, näher. Diese Rede läuft nach der Gegenüberstellung der beiden Handlungsoptionen auf die (implizite) Entscheidung zugunsten

'^^Fraenkel und Denniston-Page z. St. sprechen nach Denniston, GP 179 daher von einem ,apodotischen‘ δε; vgl. jedoch die übernächste Anmerkung. 166 jyiif Komma West (ed. 1990) 200. In diesem Sinne sollte man also vielleicht eher als von einem ,apodotischen‘ (s. vorletzte Anm.) von einem sog. ,resumptiven‘ δέ sprechen, bei dem nach einer langen Kette von Elementen, in denen sich der Fortgang des Satzes gleichsam verselbständigt hat, so daß ein Anakoluth zu entstehen droht, der Anfang durch Wiederholung eines tragenden Satzteils wieder aufgenommen wird (s. Denniston, GP 182f.). Insofern könnte man die Satzfolge so interpretieren, daß von Ag. 188 an der Satz in einer Reihe von εύτε/έπεί-Sätzen ziellos dahinzutreiben droht und erst mit δέ (Ag. 205) wieder an seinen Anfang herangeführt wird. - Die Erklärung des δέ als ,apodotischen‘ δέ im Anschluß an den έπεί-Satz läßt nicht nur die Funktion der Partikel uner¬ klärt, sondern hat auch das äußerst genüge Vorkommen dieses Phänomens in der Tragödie gegen sich (s. Denniston, GP 179).

112

II. Die Konstruktion der Handlung des Agamemnon'

der Opferung hinaus (Ag. 217: εύ γάρ είη)^^*. Die Phrase εμπαιοις τύχαισι συμττνέων selbst beschreibt Agamemnons Willenund setzt diesen Willen in Beziehung zur εμπρός τύχη, und zwar - wie das ,,συμ-“ anzeigt - in dem Sinne, daß Agamemnons Wille mit der τύχη konform geht. Was unter der εμπρός τύχη zu verstehen ist, wird durch die folgenden Temporalsätze expliziert: die von Artemis gesandten Winde und was sie bedeuten (Ag. 188ff.). Welche Haltung Agamemnons aber ist durch συμττνέων beschrieben? Diese Frage ist nach der Analyse der Syntax klar zu beantworten. Mit dem Vers 187 charakterisiert der Chor die Rede Agamemnons: ... συμττνέων ... είπε (Ag. 187/205). Die Quint¬ essenz dieser Rede bildet aber die implizite Aussage Agamemnons, daß er Iphigenie töten werde (Ag. 217: εύ γάρ ε’ίη). Dies bedeutet, daß der Chor die Entscheidung, die Agamemnon in seiner Rede trifft, in dem Sinne charakterisiert, daß sie im Einklang mit den Winden der Artemis steht: Er ,bläst‘ mit seiner Entscheidung (Ag. 217) in dieselbe Richtung wie Artemis (Ag. 187). Da also vom Chor klar konstatiert ist, daß ein Einklang zwischen der Entscheidung Agamemnons, die Tochter zu töten, und den Winden der Artemis besteht, können diese Winde nur die Forderung der Artemis implizieren, daß Iphigenie geopfert werden soll. Agamemnon entspricht dieser Forderung. Damit ist nicht nur die Position, daß Artemis den Feldzug durch die Winde verhindern möchte, und daß Agamemnon Iphigenie gegen den Willen der Göttin opfere, endgültig widerlegt'^®, sondern es dürfte ein für allemal klar sein, daß Agamemnon seine Tochter nicht gegen den Willen der Artemis getötet hat, sondern durchaus unter ihrem Druck bzw. dem Druck der Gesamtsituation, in der sich der König befindet. Die Frage, die sich nun unmittelbar daran anschließt, lautet: Wie groß und von welcher Art war dieser ,Druck‘ auf Agamemnon? Die Antworten, die die bisherige Forschung gegeben hat, reichen - wie oben gezeigt - von unentrinnbarer Notwendigkeit bis hin zu totaler Freiheit. Die Argumente, die zur Begründung der jeweiligen Position vorgebracht wurden, beziehen sich auf zwei zwar scheinbar

Zur genauen Interpretation s. u. S. 119ff. Zum ,πνεΐν' als Ausdruck des Wollens eines Menschen vgl. Becker (1937) 169ff. Neitzel (1979) 31 hatte Ag. 187 sogar in dem Sinne erklärt, daß Agamemnon hier zunächst noch bereit gewesen sei, den Feldzug aufzugeben; „denn die Winde der Artemis blasen ja gegen das Unternehmen.“ Erst als er von dem Mittel, mit dem der Krieg dennoch fortgesetzt werden könne, erfuhr (Ag. 198ff.), (und damit von der Chance, die Sache gleichwohl ,durchzuziehen‘), habe er sich (aus reiner Kriegslüstemheit) umentschieden (Ag. 221: μετέγνω). Ihm folgt vorbehaltlos Thiel (1993) 113.

§ 4: Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257}

113

miteinander verknüpfte, aber doch zunächst einmal durchaus verschiedene Probleme; (1) Wie unausweichlich ist für Agamemnon die Durchführung der unter dem Patronat des Zeus stehenden Strafexpedition? (2) In welchem Maße determiniert die Forderung der Artemis das Handeln Agamemnons? Da der Chor sich zunächst mit der Schilderung der Stürme dem zweiten Problemkomplex zuwendet, soll auch hier dieser Punkt vorgezogen werden. Die Situation in Aulis stellt sich den Beteiligten folgendermaßen dar: - Der Sturm bläst und hält die Schiffe fest (Ag. 194; κακόσχολοι/ δύσορμοι). - Mensch und Material leiden (Ag. 195-196: βροχών άλαι ... τιθεΐσαχ). - Eine Hungersnot bricht aus (Ag. 188: άπλοίαι κεναγγεΐ/Ag. 194; νήστιδες). - Die Griechen werden durch den Aufenthalt ,mürbe gemacht‘, d. h. lange halten sie nicht mehr durch (Ag. 197: τρίβωι κατέξαινον άνθος Άργείων). Wie ist diese Situation zu bewerten? Der Text scheint keinen Zweifel darüber zuzulassen, daß - wenn nichts geschieht - ,die Blüte der Argiver‘ dem sicheren Hungertod preisgegeben ist. Neitzel und Thiel empfehlen Agamemnon in dieser Situation, seinen Kriegsplan aufzugeben und die Flotte nach Hause zu schickenVon einer Entlassung des Heeres und einem Abbruch des Krieges ist als Möglichkeit, die Krisensituation zu beenden, jedoch nicht nur in der Schilderung des Chores nicht die Rede, sondern es ist vollkommen klar, daß diese Möglichkeit gar nicht existiert. Die Griechen sitzen fest, und die Weiterfahrt als solche ist verwehrt. Das bedeutet, daß auch eine Heimfahrt der Flotte als Möglichkeit nicht offensteht. Die Alternative besteht eindeutig nicht zwischen Heimfahrt und Weiterfahrt, sondern zwischen Festliegen (mit Todesfolge für das Heer) und Loskommen. Das einzige Mittel, sich aus der Notlage zu befreien, ist die Opferung Iphigenies: „und als auch noch der Seher gegen den bitteren Sturm etwas anderes, das noch schlimmer war, als Mittel den Anführern verkündete ...“i72. So Neitzel (1979) passim und Thiel (1993) 113ff. Mit dieser Übersetzung entscheide ich mich dafür, καί (Ag. 198) mit Fraenkel z. St. auf den ganzen Satz zu beziehen (vgl. Denniston, GP 326 mit Fraenkel zu Ag. 558 und Collard zu Eur. Suppl. 427f.); ,und als auch noch folgendes passierte - άλλο (Ag. 199) ist dagegen ,pleonastisch‘ gebraucht: das erste (Übel) ist der Sturm, das „andere“ (Übel) ist das Mittel (vgl. KG

114

11. Die Konstruktion der Handlung des .Agamemnon'

Schon allein ein genauer Blick auf den Text zeigt, daß die Situation, in der sich Agamemnon befindet, eine Entscheidung zwischen zwei schlim¬ men Übeln erfordert: das Heer dem Untergang zu überlassen oder seine eigene Tochter zu opfern. Eine Ausflucht im Sinne einer Aufgabe des Feldzuges ist durch die Konstellation ausgeschlossen, denn die todbrin¬ genden Winde werden nicht aufhören, bis Iphigenie geopfert ist. Aus dieser Feststellung ergibt sich nun aber, daß der Text selbst die Situation anders definiert als dies sowohl die Vertreter der Schicksalhaftigkeit der Opferung (A) als auch die der totalen Freiheit der Tat (B) tun. Im Kontext der Situation in Aulis ist mit keinem Wort davon die Rede, daß die schlimme Lage der Atriden darin bestünde, daß der von Zeus befohlene Feldzug nicht fortgesetzt werden könne. Die unmittelbare Notlage besteht in der Lebensgefahr für das Heer selbst (s. Ag. 188-198). Damit fällt die These, daß Agamemnons Tötung der Tochter notwendig aus dem Auftrag des Zeus folgt, Troia zu bestrafen. Denn Agamemnons Notlage resultiert ganz offensichtlich nicht aus einem unmittelbaren Kon¬ flikt zwischen der Forderung des Zeus und der Forderung der Artemis, sondern in der gegebenen Situation allein aus dem Blasen der todbringen¬ den Winde, also der Forderung der Artemis. Die Forderung des Zeus, die Strafexpedition gegen Paris durchzuführen, gehört nur mittelbar zur kausalen Vorgeschichte der Opferung Iphigenies. Die Atriden rücken aus, um Rache zu nehmen (= ,Zeus schickt sie‘); dies führt sie nach Aulis, wo Artemis’ Groll sie heimsuchen kann. Erst diese Heimsuchung schafft die Zwangslage, die mit der Forderung des Zeus unmittelbar nichts zu tun hat. Aus dieser Situation gibt es - wie schon gesagt - außer der Opferung keinen Ausweg. Genau dieser Notsituation entspricht nun Agamemnons Reaktion (Ag. 206-217). Vollkommen im Einklang mit der Schilderung der Lage durch den Chor stellt der König zunächst fest, daß er zwischen zwei Übeln zu wählen habe (Ag. 206f.: βαρεία μέν κήρ ... βαρεία δ’). Die erste Alternative lautet τό μή τπθέσθαι (,Ungehorsam*) (Ag. 206); da die zweite Alternative klar als Opferung Iphigenies bezeichnet ist (Ag. 207211), muß dieser ,Ungehorsam* in der Unterlassung der Opferung

I 275 Anm. 1, LSJ s. v. II. 8.: so richtig Denniston-Page, Rose. Thomson z. St.; Radt [1973] 117f.). Paley z. St., Fraenkel z. St. und Thiel (1993) 133 verbinden dagegen άλλο direkt mit μήχαρ und leiten daraus ab, daß die Opferung nur das letzte einer Reihe von möglichen Gegenmitteln darstelle. Solche werden jedoch vom Chor nicht erwähnt und sind auch aus dem Kontext nicht zu erschließen.

§ 4: Die Exposilion in der Parodos (Ag. 40-257}

115

bestehen, also Ungehorsam gegenüber der im Sturm impliziten Forderung der Artemis bedeuten Diese Konstatierung der Alternativen resümiert Agamemnon dann mit der rhetorischen Frage, die die Feststellung wiederholt, daß beide Alter¬ nativen ein Übel darstellen (Ag. 211), bis er schließlich nach einer Charakterisierung der ersten Alternative sich für die zweite entscheidet: Ag. 212f.: πώς λιπόναυς γένωμ^ ξυμμαχίας άμαρτών; Die Interpretation dieses Fragesatzes hat bis heute große Schwierigkeiten bereitet: Das Grundproblem liegt darin, daß die Wortbildung von λιπό¬ ναυς eine aktive Bedeutung nahelegt (,die Schiffe verlassend‘)'’'‘, αμαρτάνω c. gen. aber gewöhnlich ,verfehlen“, ,verlieren“ (LSJ s. v. I. 3.) bedeutet und ξυμμαχία entweder die ,Gruppe der zum Kampf verbündeten Kämpfer“ (LSJ s. v. II.) oder abstrakt das ,Bündnis“ (LSJ s. v. 1.) bezeichnet. Legt man diese Grundbedeutung zugrunde, ergibt sich die Konsequenz, daß das Verlassen der Truppe durch Agamemnon (Ag. 212) als koinzidierend mit seinem Verlust der Truppe (Ag. 213) dargestellt wäre. Dies ist allgemein als paradox empfunden worden. So hat man entweder λιπόναυς gegen den Sprachgebrauch passivisch (,verlassen von der Flotte“) gefaßt (,Wie kann ich schiffslos werden, meine Verbündeten verlierend?“)'’^; oder man hat im zweiten Teil (ebenfalls gegen den allgemeinen Sprachgebrauch) für ξυμμαχία duty as a σύμμαχος als Be¬ deutung festgelegt (Fraenkel z. St., übernommen von LSJ s. v. 1. 2.) und αμαρτάνω als ,es fehlen lassen an“ gedeutet*’*’. Daraus ergäbe sich die Deutung: ,Wie soll ich schiffsflüchtig werden, es an Bündnistreue fehlen lassend?“*” Beide Lösungen haben nicht nur jeweils die vorauszusetzenden Bedeutungssingularitäten gegen sich, sondern sind auch beide gleicher*’3 Neitzel (1979) 25 und Thiel (1993) 116f., die eine Forderung der Artemis nach dem Opfer leugnen, müssen τό μή τηθέσθαι (Ag. 206) mit λιπόναυς γένωμαι ... (Ag. 212f.) gleichsetzen, also ,(dem Heer) den Gehorsam verweigern* verstehen. Abgesehen davon, daß die zugrundegelegte Prämisse unzutreffend ist, könnte ein Zuhörer zudem unmöglich den Inhalt der späteren Stelle als Sinn der früheren supplieren. Vielmehr erläutert die spätere Stelle die frühere: „Der Artemis nicht zu folgen und die Opferung zu verweigern - das bedeutet: das Heer im Stich zu lassen ...“. *’** Siehe Schol. Tr. zu Ag. 212 p. 114 Smith: λιπόναυς | ήγουν πώς καταλείψω τάς ναΰς; mit Fraenkel zu Ag. 212; vgl. Zu.sammensetzungen mit λιπο- in militärischen Kontexten wie λιπόνεως, λιποναυτίου, λtπoστpατίoυ γραφή, λιποστρατέω, λιποστρατία etc. (LSJ s. νν.). *’5 So Hermann ζ. St. (= Ag. 199 bei H.); vgl. Fraenkel z. St. *’^ Vgl. Hom. II. 24, 68: έπει ού u φίλων ήμαρτε δώρων. Doch schon Fraenkel in Ag. 213 spricht von einem „unfamiliar use of the verb“. *” So z. B. Fraenkel, Thomson, Groeneboom z. St., Thiel (1993) 118-120; Denniston-Page dagegen halten die involvierten Singularitäten (insbesondere die vorausgesetzte Bedeutung von άμαρτών) für zu starke Gegengründe und lassen die Lösung offen.

116

II. Die Konstruktion der Handlung des Agamemnon ‘

maßen tautologisch und ergeben im Gesamtkontext keinen befriedigenden Sinn: Die erste Möglichkeit führt nicht auf eine Entscheidung Agamemnons hin (,Wie soll ich meine Truppe verlieren die zweite Möglichkeit stellt keinerlei Beziehung zur Situation her, in der die Entscheidung gefällt wird (d. h. die Lebensgefahr für das Heer), sondern läßt Agamemnon einzig über seine Soldatenpflichten raisonnieren. Die natürliche Möglichkeit, die rhetorische Frage zu verstehen, ist dagegen von der Forschung überhaupt noch nicht erwogen worden, nämlich es bei den Grundbedeutungen der Wörter zu belasseni’» und nur die Eigenart der griechischen Syntax zu beachten, daß häufig in einem Satzgefüge die sichtbare Aktion im verbum finitum, ihre Implikation(en) jedoch im Partizip ausgedrückt werden, während das Deutsche das logische Verhäl¬ tnis genau umdreht^’^. Agamemnon fragt also: ,Wie soll ich, indem ich meine Flotte im Stich lasse, die Bundesgenossen verlierenh. zu¬ lassen, daß sie zugrunde gehen)?* (Suggerierte Antwort: ,Das kann ich nicht.*) ,Denn ...*. Diese Lösung hätte den Vorteil, daß sie Agamemnons Erwägungen eng in die Notsituation einbindet, in der er und das Heer sich befinden. Der König raisonniert also nicht allein über seine Soldaten¬ pflicht - wie ihm gemeinhin unterstellt wird·**, sondern er wägt sorg-

*^* Nur Wecklein z. St. (= Ag. 222f. bei W.) verbindet die Standardbedeutungen; zu seiner Lösung s. u. Anm. 185. *^^ Vgl. Ag. 146-151: ... καλέω Παιώνα, μή τινας άντΐ7Γνόο·υς Δαναοΐς ... άπλοιας τεύξηι, σπεν)δομένα Orxjictv έτέραν ... ,Möge Artemis nicht, indem sie widrige Winde schickt, ein weiteres Opfer betreiben ...‘; vgl. Archilochos fr. 13, If. West κηδέα μεν στονόεντα Περίκλεες ούτέ τις αστών | μεμφόμενος θαλίηις τέρψεται ουδέ πόλις. .Keiner der Bürger und nicht die Stadt tadelt die stöhnende Trauer, Perikies, wenn er sich an Festesfreude ergötzen wird.'; ferner Ag. 1 If. **** Zu dieser Bedeutung von αμαρτάνω vgl. z. B. Ag. 535. *** Dies gilt - soweit ich sehe - bemerkenswerterweise für alle Interpreten, die sich zu dem Thema explizit äußern, also für Vertreter der Gruppen (A) und (B). Vgl. z. B. Fraenkel und Denniston-Page z. St.: λιπόναυς, „an ugly word, signifying a criminal act.“ So auch Denniston-Page p. XXVI. An dieser Stelle scheint jedoch nicht der Gedanke an Desertion als soldatisches Verbrechen im Vordergrund zu stehen, sondern an die schrecklichen Folgen eines solchen Verhaltens (Ag. 213). - Thiel (1993) 126f. faßt λιπόναυς γένοιμαι (Ag. 212) eng als ,zum Deserteur werden' und ξυμμαχίας άμαρτών (Ag. 213) als „Verletzung der (eidlich bekräftigten) Symmachie“, stellt dann aber fest, daß bei Aischylos von einer eidlichen Bindung Agamemnons an die Bundesgenossen nicht die Rede sei. Bestenfalls seien die Bundesgenossen ihm als Oberbefehlshaber verpflichtet. Er sei deshalb niemandem „Gehorsam" schuldig (Ag. 206). Eine Aufgabe eines Krieges, der vornehmlich den Interessen der Atriden diene, könne also gar nicht als „Desertion" oder „Bündnisverletzung" bezeichnet werden. Im Gegenteil: Der Heerführer habe durchaus das Recht, das Heer zu entlassen. Wäre Agamemnon anständig gewesen, hätte er das getan. Aus diesem Widerspruch schließt Thiel nicht etwa, daß seine eigenen Prämissen falsch sein könnten (vom Verständnis der Verse 212f. bis hin zur Verkennung der Situation, in der sich der Heerführer Agamemnon mit seiner Flotte befindet), sondern er unterstellt Agamemnon, daß er

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faltig die Folgen beider Handlungsaltemativen ab: Wenn er der Forderung der Artemis folgt, wird er sich als Vater mit dem Blut seiner Tochter beflecken (Ag. 208-211); wenn er sich weigert, d. h. seine Soldaten im Stich läßt, wird er sie verlieren (Ag. 212f.). Nachträglich wird nun auch klar, weshalb Agamemnon schon in Ag. 206f. beklagt hatte, daß sowohl der Ungehorsam gegen Artemis als auch die Tötung der Tochter eine βαρεία κήρ bedeuteten. Beide Optionen stellen in der Notsituation tatsächlich ein ,schweres Los* bzw. ein ,schweres Schicksal* dar; der Ungehorsam gegen Artemis (a) für die gesamte Flotte, der dann die Vernichtung durch den Sturm droht, die Opferung (b) für Agamemnon selbst, der seine Tochter verlieren würde. Das Wort κήρ, dessen Bedeutung von der Grundbedeutung ,Todeslos* bis hin zum ,schlimmen Schicksalsschlag* variieren kann, ist von Agamemnon also treffend gewählt: ,Ein schweres Los bedeutet es (sc. für die Flotte, nämlich den Untergang), nicht zu gehorchen (sc. der Artemis), schwer auch (sc. für mich), wenn ich die Tochter töte ...* (Ag. 206f.).‘*2 Damit ist die zweite Stufe der Entwicklung hin zur Opferung Iphigenies abgeschlossen. Nach dem Eintreten der vom Chor detailliert beschriebe¬ nen Notsituation hat Agamemnon die Handlungsaltemativen, die die Situa¬ tion ihm läßt, klar erkannt und - wie wir gesehen haben - richtig (d. h. für uns nachprüfbar mit der zuvor geschilderten Situation im Einklang) benannt. Der nächste Schritt, den man nun erwartet, ist die Entscheidung. Hier stößt man auf den heikelsten Punkt der gesamten Eorschungsdiskussion. Dies liegt daran, daß aus Agamemnons Mund eine Entscheidung explizit nicht formuliert ist. Dies läßt Raum für freie Spekulationen. Die Verfech¬ ter der ,Schicksalsposition* (A) zum Beispiel nehmen im Gmnde einzig und allein die Form der rhetorischen Frage, auf die keine explizite Antwort nötig ist, zum eigentlichen Ausgangspunkt ihrer Argumentation. Mit der Frage nach ,Desertion* sei der Fall gleichsam erledigt, bevor er von Agamemnon ,entschieden* werden müsse. Desertion sei keine für einen Griechen akzeptable Möglichkeit und daher keine ,real alternabewußt falsche Aussagen über die Notwendigkeit des Opfers mache, um - kriegslüstern wie er sei - den Krieg legitim fortsetzen zu können - „um jeden Preis“. 1*2 Die bisherigen Interpreten haben κήρ in Ag. 206 allgemein abgeschwächt als .(schlimmes) Schicksal* verstanden, (vgl. z. B. LSJ s. v. II. 2. „in a general sense ...’grievous ruin’“; Fraenkel z. St. ,jmin, grievous fate“; ders. I p. 103 „doom“, ebenso Lloyd-Jones (Übers. 1970) I 28; Rose z. St. „Visitation“) und auch für die erste Alternative, auf Agamemnon allein bezogen, so z. B. die Übersetzung von Werner [Übers. 1959] 20: .Schwer ist mein Los, wenn ich nicht gehorche ...‘, ebenso Mazon (ed. & trad. 1952) 17. - Zur Bedeutung von κήρ als ,Todeslos‘ siehe Malten, RE Suppl. IV (1924) s. v. ,Ker‘ 886-892.

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Π. Die Konstruktion der Handlung des Agamemnon"

tive‘'*3. Damit werde der König zum Werkzeug des Zeus, der einen Krieg befiehlt, von dem man nicht desertieren könne. Dieser Geschehensablauf involviere aber zwangsläufig die Opferung Iphigenies, die damit für Agamemnon zum schicksalhaften Verhängnis werde'^^. Die radikalen ,Freiheitsadvokaten‘ (B) sehen in der rhetorischen Frage dagegen nur einen Versuch Agamemnons, sein Verbrechen als Akt der Moral zu tarnen'*5. wird man jedoch mit diesen beiden Deutungen, die Agamemnons Haltung auf soldatische Tugend reduzieren, der Signifikanz der Stelle gerecht? Was der Zuhörer miterlebt hat, ist das Abwägen der Positionen durch Agamemnon. Mit Ag. 213 ist dieses Abwägen bis zum Punkt der Entscheidung getrieben. Die Form der rhetorischen Frage suggeriert nun keineswegs zwingend, daß keine Entscheidung mehr zu treffen ist, sondern macht vielmehr bereits im Abwägen der Positionen deutlich, welche Seite für Agamemnon schwerer wiegen wird; ,Wie soll ich meine Leute im Stich lassen und sie auf diese Weise verlieren?‘ ,Unmöglich!*. Genau in diesem unausgesprochenen ,Unmöglich!* ,Ich kann nicht!* liegt Agamemnons Entscheidung, in der er seine Verant¬ wortung als Oberbefehlshaber des Heeres höher einstuft als das Tabu, die eigene Tochter zu töten. Es ist aus der Schilderung der Handlungssituation und der Abwägung der Möglichkeiten durch Agamemnon nicht einzu¬ sehen, weshalb Agamemnon nicht grundsätzlich anders hätte entscheiden können. Die Konsequenzen einer anderen Entscheidung sind sogar vor¬ stellbar: Das Heer oder ein Großteil desselben wäre verhungert, es hätte eine Meuterei gegeben, Agamemnon wäre ihr möglicherweise zum Opfer gefallen, usw. Kurzum: Agamemnon hat sich (mit Gründen, die angreif¬ bar sein mögen, die sich aber unmittelbar aus der Situation ergeben) gegen die Verweigerung der Opferung entschieden*»^ Djg eingehende Analyse

*»3 So z. B. Denniston-Page zu Ag. 206 mit p. XXVI-XXVII (5) (6) (9). *»'* So Lloyd-Jones (1962) 191f., 199. *»5 Siehe neben den unter (B) Genannten auch schon ähnlich Wecklein z. St. (= Ag. 222f. bei W.): „Um sein Gewissen zu beruhigen, stellt sich Ag. mit der Sophistik der Leidenschaft die unehrenhafte Handlung eines λιπόναυς (desertor classis) vor Augen. Vor allem aber fürchtet er, seine Bundesgenossen zu verlieren, d. h. den Oberbefehl einzubüßen.“ *»6 Damit ist Peradottos (1969) Einwand (s. o. B. 3.) gegen Denniston-Page (A. 2.), die zur Entschuldigung Agamemnons behauptet hatten, Iphigenie wäre, wenn nicht von Agamemnon, so doch in jedem Fall vom Heer selbst geopfert worden, modifiziert. Daß der Gedanke nicht explizit im Text (Ag. 212ff.) steht, wie Peradotto meint, ist ein eher schwaches Argument. Viel schwerer wiegt, daß es um Agamemnons Entscheidung zu seiner Tat geht, nicht um das Schicksal Iphigenies. Mag sein, daß das Heer es in der äußersten Not getan hätte, aber Agamemnon hat es getan, und wenn er es nicht getan hätte, wäre er nicht der Mörder seiner Tochter, und eben darum geht es im folgenden Stück. Mit dem Argument von Denniston—Page, Iphigenie wäre sowieso

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der Rede Agamemnons hat somit gezeigt, daß die Tötung Iphigenies keineswegs nur ein in schicksalhafter Mechanik ablaufendes Ereignis der Notwendigkeit darstellt, in der Agamemnon bestenfalls als (den Willen des Schicksals/der Götter) ausführende Kraft agiert, wie es die Vertreter der Position (A) behaupten. Agamemnon selbst entscheidet nach reiflicher Überlegung und handelt danach. Die nicht ausgesprochene Entscheidung, die zwischen Ag. 213 und Ag. 214 zu denken ist, wird schließlich im folgenden (Ag. 214ff.) noch einmal im Detail begründet; πα\)σ(χνέμου γάρ 215

θυσίας παρθενίου θ’ αίματος όργάι περιόργίος

έπιθυμεΐν

θέμις. ευ γόφ εΐη.'*'^ „(Niemals!) Denn das sturmbeendende Opfer 215

und das Blut der Jungfrau mit Leidenschaft überaus leidenschaftlich zu begehren, ist Recht. - (SoU es also geschehen!) Denn (meine Hoffnung ist:) es möge gut sein.“'**

getötet worden, könnte sich jeder Mörder damit entschuldigen, daß das Opfer ohnehin irgendwann gestorben wäre. '*^ Überlieferung von V. 216: έτηθυμεΐν M I -äv M ante corr.?, -ä VF, αΰδάΐ M v. 1. adscr. - Ich folge mit der Beibehaltung des überlieferten Textes der Mehrzahl der maßgeblichen Herausgeber, u. a. Paley, Wilamowitz (ed. 1914), Fraenkel, Groeneboom. - Jüngst hat West, Studies (1990) 178-181 diesen textus fere receptus radikal verändert. Angeregt durch die Variante αύδάι (varia lectio in M, gemeine Lesart in T statt όργάι), sowie den bereits seit dem 16. Jh. häufig geäußerten Verdacht, daß έπιθυμειν eine Glosse für den in Ag. 215f. steckenden Gedanken des Begehrens sei, und eine generelle Abneigung gegen den sich ergebenden Sinn (die Opferung ist Recht!), hat West im Anschluß an Keck folgende Änderung vorgeschlagen und sogar in seiner Ausgabe (ed. 1990) in den Text gesetzt: ... όργάι περιόργως· άπό δ’ αύδάι Θέμις (,... und das Blut der Jungfrau begehrt sie leidenschaftlich (sc. Artemis). Doch Themis spricht dagegen'). Neben der Verwegenheit des Umgangs mit der Überlieferung und der Wirrheit der sich aus der Veränderung ergebenden Gedankenführung hat Wests Vorschlag in erster Linie ein klares sprachliches Argument gegen sich: εύ γάρ είη (Ag. 217) begründet eindeutig Agamemnons Aufbruch zur Tat (s. nächste Anmerkung). Als Begründung eines Gegengrundes gegen die Tat ist der Satz dagegen vollkommen sinnlos (vgl. dazu auch Thiel [1993] 121). '** Die Übersetzung folgt eng dem Vorschlag von Fraenkel (1 p. 103; II p. I23-I27), der aus folgenden Gründen plausibel scheint: (1) έταθυμεΐν θέμις ist in der Tat am besten unpersönlich und allgemein zu verstehen. Agamemnon begründet seine Weigerung, die Flotte im Stich zu lassen, mit dem Argument, daß das Begehren des Opfers (unter den gegebenen Umständen: παυσανέμου ... θυσίας) recht und billig sei. Artemis, die Bundesgenossen (vgl. Schoemanns Konjektur σφ’ έταθυμεΐν, aufgenommen von Denniston-Page) oder Agamemnon selbst (Wilamowitz) als Subjekt zu έταθυμεΐν anzusetzen, scheint überflüssig (vgl. Williams [1993] 209). (2) γάρ in Ag. 214 erhält so eine plausible Funktion: „Wie soll ich die Flotte verlassen und die Bundesgenossen auf diese Weise verlieren? (Das kann ich nicht tun:) Denn zur Beendigung des Sturmes (Ag. 214: παυσανέμου ...) ist es recht, das Opfer zu begehren ..." Eine bedenkenswerte

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II. Die Konstruktion der Handlung des Agamemnon'

Die Begründung der Weigerung Agamemnons, die Flotte im Stich zu lassen und so den Verlust der Bundesgenossen zu riskieren, ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Einerseits schließt sie sich mit παυσανεμου θυσίας ... έταθυμειν θέμtς plausibel an die Entscheidung, die Flotte nicht im Stich zu lassen, an: ,Denn es ist (nur) recht und billig, nach dem Opfer, das den Sturm besänftigt, zu verlangen*, (sc. in einer solchen Not¬ lage kann man nur leidenschaftlichst [όργαΐ τιεριόργοος] das Verlangen haben, sich aus der Not zu befreien)'*^. Andererseits entsteht dadurch, daß das befreiende Opfer ausgerechnet in der Opferung der Jungfrau Iphigenie besteht, ein geradezu perverser Gedanke, den viele Interpreten als Indiz für Agamemnons Ruchlosigkeit bewerten (Neitzel, Thiel) oder so unerträglich finden, daß sie ihn per Konjektur tilgen (Keck, West): ,Denn ... nach dem Blut der Jungfrau zu verlangen, ist recht*. Diese Aussage ist natürlich ,verkehrt*, d. h. eine Verkehrung sämtlicher gültiger Normen des menschlichen Zusammenlebens (vgl. schon oben Ag. 151: άνομον)>90. Wer nach dieser Maxime handelt, begeht ein schlimmes Ver¬ brechen gegen die Ordnung der Welt. Die Perversion der Aussage ergibt sich Jedoch erst durch die Koinzidenz der Forderung an den Heerführer, seine Truppe zu retten (wofür θέμις plausibel scheint), mit der konkreten Identität des Opfers (wofür θέμις geradezu blasphemisch scheint). Agamemnon selbst scheint die Ambivalenz (und die Gefahr), die in seinem Entschluß und vor allem in dessen Begründung steckt, zu spüren. Dies

Variante zu dieser Lösung bietet Williams (1993) 209; „A general Statement that θέμις enjoins a desire for the sacrifice can be taken to explain ... why refusing it would be a desertion.“ („Wie soll ich schiffsflüchtig werden, die BündnisUeue verletzend? [Und das wäre es: ein schlimmes Verbrechen]. Denn es ist Recht, das Opfer zu vollziehen [sc. es wäre rechtswidrig, es nicht zu tun]).“ Damit wäre die (unterdrückte) Entscheidung ganz nach hinten in den Vers Ag. 217 vor εύ γάρ εΐη verlegt. Dies scheint eine äußerst intelligente Möglichkeit zu sein, mit den zwei γάρSätzen umzugehen. Dagegen spricht jedoch, daß (a) der zu ergänzende Gedanke sich nicht unmittelbar aus Ag. 212f. ableiten ließe, sondern erst e negativo aus θέμις vorweggenommen werden müßte, (b) die Antwort auf die schon in sich vollkommen abgeschlossene und gleichsam ,entscheidungsreife“ rhetorische Frage Ag. 212f. noch für ganze vier Verse nach hinten vertagt werden müßte (der Zuhörer braucht die Erklärung nicht, um sofort ,Unmöglich!“ antworten zu können), (c) ξυμμαχίοις άμαρτών in einer m. E. unwahrscheinlichen Weise interpretiert werden müßte. (3) γάρ in Ag. 217 knüpft die abschließende Gebetsfloskel (s. Fraenkel z. St.) an eine endgültige (wiederum ausgefallene) innere Bestärkung in den Entschluß, die Tat auszuführen; Fraenkel (I p. 103): „(It shall be done;) for (my hope is;) may all be well.““ >*9 θέμις (sc. έστίν) unpersönlich: ,es ist recht und billig“, ,in Ordnung“ (LSJ s. v. I.) im Sinne von ,es entspricht der Ordnung der Welt, gegen die man nicht verstößt (verstoßen darf)“ (vgl. Vos [1956] 29f.; LfgrE s. v. θέμtς I. 1. abc); vgl. Ag. 98, Eum. 414. 471, Suppl. 39. 332. 190 Ygi Fraenkel zu Ag. 217: „He (sc. Ag.) knows that the task he has in hand may be necessary, but cannot possibly be θέμις.““

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zeigt die abschließende Gebetsformel·^': ,(Ich will es also tun:) Möge es denn gut sein.‘192 Halten wir wiederum für einen Moment inne: 1. Die Vorabinformation des Chores, daß Agamemnon in seiner Rede dem Sturm — d. h. der Forderung, die er signalisiert — gefolgt sei (Ag. 187), hat sich bestätigt: Er folgt tatsächlich der Forderung, die Tochter zu opfern (Ag. 214-217). Die Notsituation, in der sich Agamemnon befindet, besteht nicht wie im Grunde alle bisherigen Interpreten meinen - in einem Konflikt zwischen der Befolgung des Befehls des Zeus, Troia zu bestrafen, und der Achtung vor dem Leben der Tochter, sondern darin, entweder das Heer dem Untergang zu überlassen (Ag. 206: βαρεία κήρ) oder die eigene Tochter zu töten (Ag. 207ff.)'93. 2.

3. Agamemnon wägt beide Möglichkeiten im Hinblick auf ihre Folgen ab: Ungehorsam gegenüber Artemis hätte ein schweres Verhängnis (sc. die Vernichtung des Heeres) zur Folge (Ag. 206), ,Gehorsam' wird ihn zum grausamen Mörder der eigenen Tochter machen. Beide Möglichkeiten scheinen schlecht (Ag. 211). 4. Agamemnon fühlt sich außer Stande, dem Anspruch des Heeres auf Rettung in der Not nicht zu genügen (Ag. 212f.). Er hält ihn für berech¬ tigt (Ag. 214-217) und entscheidet sich deshalb für die Opferung Iphigenies (Ag. 213f. 217). 5. Im Zuge dieses Entscheidungsprozesses, der bei Agamemnon dazu führt, daß er die Opferung als Loyalität gegenüber dem Heer schließlich als berechtigt beurteilt, gerät eben diese Opferung als Tötung der Tochter ebenfalls unter dieses Urteil. Am Ende ist es für Agamemnon nicht nur recht, zur Flotte zu halten, sondern auch seine Tochter zu töten - eine Verkehrung des moralischen Urteils, die in der materiellen Koinzidenz beider Komponenten im Opfer Iphigenies ihre Wurzel hat.

^91 Siehe Fraenkel z. St.; „a regulär concluding formula from the language of prayer“ (Belege siehe dort). •92 Vgl. Fraenkel zu Ag. 217: . the ευ γάρ ειη ... may sound hopeful, but there is no real hope in it“. •93 Letzten Endes kreist die Diskussion über die ,Schicksalhaftigkeit‘ oder die .Freiheit* der Tat Agamemnons um die Bewertung eben dieser Frage: .Wie zwingend ist für Agamemnon die Durchführung des Zuges gegen Troia?“ Beide Parteien (A und B) legen der rhetorischen Frage Ag. 212f. dies als Prämisse zugrunde: kann Agamemnon den Zug abblasen oder nicht? Je nach ihrer Antwort auf diese Frage legen sich dann die Interpreten auf die Bewertung der Tat Agamemnons als einer Notwendigkeit oder als eines vermeidbaren Verbrechens fest, ohne zu überprüfen, ob ihre Prämisse über den Grundkonflikt überhaupt richtig ist.

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II. Die Konstruktion der Handlung des .Agamemnon'

Und damit kommen wir zur letzten Etappe der Darstellung der Szene durch den Chor: seine Deutung der Entscheidung Agamemnons und die Schilderung der Vorbereitungen zum Opfer (Ag. 218ff.). Die Entschei¬ dung selbst benennt der Chor mit den wohl umstrittensten Worten der gesamten Parodos: άνάγκας έδυ λέπαδνον (Ag. 218). Heißt dieser Satz ,Er tauchte unter das Jochband der Notwendigkeit* * in dem Sinne, daß Agamemnon sich der von Beginn an bestehenden Notwendigkeit nur fügt?‘9“* Oder meint der Chor, daß Agamemnon mit seiner freien Ent¬ scheidung, sobald er sie gefällt hat, keine Kontrolle mehr über die not¬ wendigen Konsequenzen seiner Tat (d. h. seinen eigenen Tod) hat?'^^ Wie läßt sich eine so scharfe Alternative in der Forschungsdiskussion ent¬ scheiden? Welche Kriterien zur Beurteilung des Problems sollten dabei angelegt werden? (1) Ein erstes Kriterium, das auf der Hand liegt, besteht darin, daß die Deutung des Vorgangs durch den Chor mit der Rede Agamemnons in der beschriebenen Situation kompatibel sein muß. (2) Zweitens ist die Bedeutung und Verwendung der Junktur άνάγκας λέπαδνον zu prüfen, die dann auf den Gesamtkontext der Aischylosstelle zu beziehen ist. (3) Und drittens muß dieses Ergebnis mit dem Folgenden vereinbar sein. Zu (1): Aus der Interpretation der Agamemnonrede hatte sich bereits ergeben, daß der König zwei Möglichkeiten abwägt und am Ende mit Gründen die zweite Möglichkeit in die Tat umzusetzen bereit ist. Es gibt prima facie keinen Grund, diesen Vorgang nicht als Entscheidung zu bewerten. Dieser Befund scheint durchaus kompatibel mit dem Verbum, das der Chor zur Bezeichnung der Handlung Agamemnons verwendet: έδυ (Ag. 218) [< δύ(ν)ομαι]. Wie es bei Homer vielfach für die Anlegung von Rüstungen, Kleidern etc. verwendet wird (so z. B. II. 16, 129: δύσεο τεύχεα; vgl. LSI s. v. δύω B. II. 1. mit weiteren Belegen sowie LfgrE s. V. δύνω/δύω I. 1. b. γ), so steht es hier passend für das ,Eintauchen* in

*94 So vor allem Denniston-Page z. St.; „(ανάγκη) is absolutely inconsistent with the idea that Ag. had any freedom of choice“. vgl. ebenda p. XXVI; ebenso Rivier (1968) 22f., der besonders die Passivität, die im Verbum 80eo0at liegen kann, betont; vgl. die Belege bei Rivier [1968] 22 Anm. 61. *95 So besonders klar Hammond (1965) 47f. mit Anm. 18: „The action comes first; the consequences follow ... We use a similar metaphor when we say that Ag. became the slave of his decision. He was now committed to necessary consequences of the kind which Aeschylus illustrates in the trilogy“; vgl. Dodds ([1960]/dt. 1977) 72, Winnington-Ingram (1974) 5, Thiel (1993) 131.

§ 4: Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257)

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ein ,Joch(band)‘'96, So wie bei Homer das Anlegen der Rüstung eine aktive, willentliche Handlung darstellt, so spricht auch hier nichts dagegen, das Anlegen des ,Jochs* als willentlichen Akt Agamemnons zu versteheni97. Den Advokaten der ,Schicksalsposition* ist damit ein Argu¬ ment zugunsten der Eigenständigkeit der Entscheidung Agamemnons entgegengestellt. Zu (2): ανάγκης λέπαδνον (,der Jochriemen der Notwendigkeit*) ist spätestens seit dem homerischen Demeterhymnus (Hom. Hymn. 2, 216f.) als Junktur im Sinne von ,Joch der Notwendigkeit* ein BegrifH^*: άλλα θεών μεν δώρα κα\ άχνύμενοί περ άνάγκηι | τέτλαμεν άνθροοποι· έτη γάρ ζυγός αύχένι κεΐται.'^^ Sowohl in der Chorlyrik als auch in der Tragödie ist die Metapher vom ,Joch* für das Notwendige und Unausweichliche, das den Menschen schicksalhaft trifft, schließlich fest etablierUoo. In Verbindung mit ανάγκη bezeichnet die Metapher in den frühen Belegen jedoch signifi¬ kanterweise nicht das (menschliche) Schicksal allgemein mit Blick auf die gesamte Lebensspanne, sondern ausschließlich die konkrete einzelne ,Notsituation*, die ,Zwangslage*, mit der das Individuum jeweils kon¬ frontiert wird^o·. Ganz konkret spricht z. B. Pindar (Pyth. 4, 234f.) vom Vgl. schon Paley z. St.: „... he had put on the hamess of necessity“. Ihm folgen LSJ s. v. δύω B. II. 1. in der Deutung von έδυ (Ag. 218) als Metapher für das ,Anlegen‘ einer Rüstung, eines Jochs, etc. Pace Rivier (1968), der darauf hinweist, daß (έν-)δύεσθαι selbst im Medium durchaus auch die Konnotation ,(passiv) in etwas hineinkommen* haben kann: vgl. z. B. Eur. Ale. 631: (Admetos weist den von Pheres mitgebrachten Totenschmuck für die verstorbene Alkestis zurück) κόσμον δε τον σόν ούποθ’ ήδε ένδύσεταε. Diese Stelle ist jedoch durch den Kontext so klar determiniert, daß der Hörer niemals auf die Idee käme, Alkestis könnte den Schmuck selbst anlegen. Die überwältigende Zahl von Belegen für rtansitives (έν-/έσ-/ΰπο-)δύεσθαι von ,(aktiv) in etwas schlüpfen, anlegen, anziehen*, die dagegensteht, entzieht Riviers Interpretation die sprachliche Grundlage (vgl. LfgrE s. v. δύνω, δύω I. 1. b. γ ,tauchen, schlüpfen*; I. 2. in einen Wirkungsbereich eindringen; Komposita: II. 4.; 5. 9.). - Zur gleichen Lösung kommt Peradotto (1969) 253. 198 Vorbereitend zur Prägung des Bildes vom ,Joch der Notwendigkeit* haben möglicherweise Wendungen wie Hom. II. 6, 458 (κρατερή δ’ έπικείσετ’ ανάγκη) und Hes. Erga 815 (έτα ζτχγόν αύχένι θειναι, vgl. 581) gewirkt: vgl. Richardson zu Hom. Hymn. 2, 216f. und Maehler zu Bacchylides c. 11,45f. 199 Vgl. im Anschluß daran Theognis 847f. 1023f. 1357f. 200 Sinngemäß vom ,Joch des Schicksals*, z. B. Pind. Pyth. 2, 93f.: φέρειν δ’ ελαφρώς έπαυχένιον λαβόντα ζυγόν | άρήγει. Nem. 7, 6: εΐργει δε πότμω ζυγένθ’ έτερον έτερα. Vgl. Eur. Hel. 255 (mit Kannicht z. St.), Hipp. 1389 (mit Barrett z. St.); für ,Leid‘, gegen das man kein Mittel weiß, allgemein; Aesch. Cho. 795; ζυγεντ εν αρμασιν πημάτων, Soph. Aias 24; τώιδ’ ΰπεζύγην πόνωι. 201 Siehe die wertvolle Aufarbeitung des Materials bei Schreckenberg (1964) 18 Anm. 16 (Zusammenstellung von Parallelen der Junktur ,Joch der Notwendigkeit*) und 36-44 passim (Interpretation von Passagen mit der Konnotation ,Zwangslage ). Wenngleich Schreckenbergs

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II. Die Konstruktion der Handlung des Agamemnon

Einspannen der Rinder in ein Joch: βοέους δήσαις (sc. lason) άνάγκας έντεσιν202 αυχένας. Die Rinder werden durch das Einspannen ins ,Zwangsjoch‘ mit dem Zwang belegt, den ein Joch qua Joch mit sich bringt, nämlich gefesselt pflügen zu müssen^oi. Auch in der Tragödie bezeichnet die Junktur die konkrete gegenwärtige ,Zwangslage‘; erst hier ist das Bild als Metapher voll ausgeführt. Nach der vorliegenden Agamemnon-Stelle siehe z. B. Eur. Or. 1330 (Elektra über das Todesurteil gegen sie und Orestes): ανάγκης ... ές ζυγόν κατέσταμεν (= ,es gibt keinen Ausweg aus dieser Zwangslage‘), lA 443 (Agamemnon klagt über die ,Zwangslage‘, aus der heraus er jetzt seine Tochter opfern muß): ές oi’ ανάγκης ζεύγματ’ έμπεπτώκαμεν^ο^. [Aesch.] Prom. 107f. (Prometheus beklagt seine Situation als Gefesselter): θνητοις γάρ γέρα | πορών άνάγκαις ταΐσδ’ ένέζευγμαι τάλας. Dieser Satz bedeutet nicht: ,Weil ich den Sterblichen die Gaben (sc. des Feuers) gebracht habe, hat mich Armen dieses Schicksal ereilt‘, sondern ganz konkret: ,... bin ich in diese Zwangslage (sc. der Fesselung) gejocht (d. h. gefesselt) worden‘.2®5 Wie sind diese Stellen im Blick auf Ag. 218 des aischyleischen ,Agamemnon‘ zu charakterisieren?206 An allen drei Stellen befinden sich die jeweiligen Personen bereits in der Situation, aus der sie nicht ausbrechen können (κατέσταμεν, έμτιεπτώκαμεν, ένέζευγμαι). Das Bild vom Joch der Notwendigkeit symbolisiert dabei jeweils den Zwangscharakter der Situation, in der sich die jeweiligen Personen befinden (Todesurteil; kein Zurück bei der Opferung;

Versuch, als Ur-Bedeutung des Wortes ανάγκη ,Joch‘, .Fessel“ zu erweisen (< semit. Lehnwort: hnk), von der Forschung nicht akzeptiert wurde (siehe z. B. LfgrE s. v. ανάγκη E + L; Richardson zu Hom. Hymn. 2,216f.), bleibt seine Untersuchung des Begriffs für die Interpretation der Einzelbelege grundlegend. 202 άνάγκας εντεσιν plerique codd. I έν -ας E^o^ £pc pqac? pjj, -ai [dat.] Schol. BDEGQ 417 b, II p. 155, 10 Dr. Zur Herstellung des Textes άνάγκας εντεσιν siehe jetzt Braswell z. St.; die Edition von Maehler (Pindari camiina I [1987]) bietet die nur im Scholion überlieferte Variante άνάγκαι, die die stehende Junktur vom ,Zwangsjoch“ unnötig zerstört (s. Braswell z. St.). 203 Bei Bacchylides, c. 11, 45f. ist die άνάγκη das Mittel das Jochens, also das Joch selbst: παραπλήγι φρένας (sc. der Proitostöchter) καρτεράι ζεύξασ’ (sc. Hera) άνάγκαι (siehe Maehler z. St.). 204 Siehe Stockert z. St.: „Konkret besteht die Zwangslage in der Notwendigkeit, die eigene Tochter zu opfern (und zwar auf Grund einer selbst angezettelten Intrige!).““ 205 Vgl. Griffith z. St.: „the image is not merely metaphorical““. 206 Die weiteren Belege, die sich für die Junktur ,Joch der Notwendigkeit“ beibringen lassen, ergeben, da sie entweder analog zu den drei aufgeführten interpretierbar oder zu fragmentarisch sind, keine neuen Gesichtspunkte zur Interpretation: Soph. Phil. 1025, fr. 591, 5f. Radt, Eur. fr. 475 N.^, spätere Belege bei Schreckenberg (1964) 18 Anm. 16.

§ 4: Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257)

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Fesselung)207. ανάγκης ζυγόν (ο. ä.) besagt also nicht, daß diese Situation selbst zum unausweichlichen (Lebens-)Schicksal der betreffenden Person in dem Sinne gehört, daß sie die notwendigen Konsequenzen aus irgendeiner vorherigen Handlung darstellt oder daß gar diese vorherige Handlung selbst als unausweichlich charakterisiert wird^o^. Der Begriff bezeichnet die konkrete Situation, die die Person, die sich in ihr befindet, in ihrer Handlungsfreiheit bis zur Handlungsunfähigkeit einengt. Halten wir nun die Belege gegen die Aussage der Parodos des aischyleischen ,Agamemnon', άνάγκας έδυ λέπαδνον (Ag. 218), so ergeben sich folgende Konsequenzen: (a) Das ,Joch der Notwendigkeit' läßt sich im Lichte des sonstigen Gebrauchs der Metapher nicht als ,das weitere (unausweichliche) Lebensschicksal Agamemnons'^o^ fassen, son¬ dern muß - diesem sonstigen Gebrauch entsprechend - die jetzige ,Zwangslage' bezeichnen, von der der Chor Ag. 187-204 berichtet und die Agamemnon selbst Ag. 205-217 scharfsinnig erfaßt hatte, (b) Im Unterschied zu den besprochenen Parallelstellen ist nun aber die betreffende Person nicht als ,Gefangener' der Zwangssituation dargestellt, sondern als aktiv Handelnder. Agamemnon ,schlüpft' selbst in die Zwangslage, mit der er konfrontiert ist, wie ein Stier in ein Joch (Ag. 218: έδυ). Schaut man nun von Ag. 218 zurück auf die Situationsbeschreibung des Chores und die Entscheidungsrede Agamemnons, so wird deutlich, daß der Chor mit dieser die Entscheidung zusammenfassenden, resümierenden Phrase dem Geschehen eine Deutung gibt, die die beiden Komponenten der Krisensituation (Zwangslage - freie Entscheidung Agamemnons) zueinander in Beziehung setzt und miteinander vermittelt. Agamemnons Entscheidung - die seine eigene freie Entscheidung ist (Ag. 206-217 = Ag. 218: έδυ) - erfolgt in einer Zwangslage (Ag. 188-202 = Ag. 218: άνάγκας λέπαδνον). Diese Zwangslage enthält als zentralen Bestandteil 207 Vgl. schon (ohne Belege) Wilamowitz (Übers. 1910) 26: „Ananke ist viel mehr der Zwang, der in konkreten Verhältnissen auf dem Menschen liegt, als die vorherbestimmte starre Notwendigkeit“; ihm folgt Fraenkel zu Ag. 218; vgl. Schreckenberg (1964) 36-44: .Zwangslage*. 208 Hammond (1965) 48 Anm. 18 deutet also das Bild vom ,Joch der Notwendigkeit* bei [Aesch.] Prom. 107f. falsch, wenn er es als „necessary consequences** übersetzt. Das Verhältnis von Ursache und Folge (Feuerdiebstahl - Fesselung) liegt einzig und allein im logischen Verhältnis zwischen dem Partizip τιορών und dem Verbum finitum ένέζευγμαι, nicht im Begriff der ανάγκη begründet. Richüg bleibt dagegen Hammonds Feststellung, daß der Satz nicht bedeutet, daß der Akt der Feuerübergabe notwendig oder erzwungen gewesen sei. 209 So Hammond (1965) 48 Anm. 18: „The acüon comes first; the consequences follow ... he put on the yoke of necessity. We use a similar metaphor when we say that Agamemnon became the slave of his decision. He was now committed to necessary consequences of the kind which Aeschylus illustrates in the trilogy.“ Ihm folgt Thiel (1993) 131.

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II. Die Konstruktion der Handlung des .Agamemnon'

die Forderung, die Tochter zu töten (oder nichts zu tun und alle elend umkommen zu lassen). Wenn sich also Agamemnon entscheidet, die Tochter zu töten, dann realisiert er einen von der Notsituation, die ja durch den Sturm verursacht wurde, vorgezeichneten Handlungsverlauf, d. h. er läßt ihn mit seiner Entscheidung Realität werden. Genau diesen Sachverhalt bezeichnet treffend die Metapher άνάγκας εδυ λεπαδνον (Ag. 218), womit der Chor in der Sache Ag. 187: έμπαίοις τύχαισι συμττνέων exakt aufnimmt. Eine äußere Zwangslage zeichnet einen Handlungsverlauf vor (έμπαίοις τύχαισι = άνάγκας λέπαδνον) - Agamemnon setzt ihn in freier Entscheidung in Realität um (συμττνέων = έδυ). Mit Ag. 218 hat der Chor also Agamemnons Entscheidung (zwischen Ag. 213 und Ag. 214) in dem gleichen Sinne rückblickend resümiert, in dem er sie in Ag. 187 vorausweisend angekündigt hatte. Artemis treibt Agamemnon in die Notlage, um ihre Forderung nach dem Opfer durchzusetzen Agamemnon entspricht der Forderung, indem er sich zur Opferung entschließt. Zu (3): Nach dieser Deutung von Agamemnons Entscheidung in der Situation der Not führt nun der Chor den Gedanken noch einen Schritt weiter, indem er den Moment der Entscheidung zusätzlich charakterisiert: Ag. 219: „seines Sinnes Wind in die Gegenrichtung blasend, unfrommen, unreinen, frevelhaften Wind“. Mit dem Auflegen des Jochs, d. h. mit der Entscheidung, vollzieht sich also ein Wandel in Agamemnon; πνέων τροπαίαν bezeichnet dabei unter Verwendung der schon Ag. 187 einge¬ setzten Metapher vom ,Wind des menschlichen Wollens und Sinnens ‘ einen Umschlag des Sinnes in die Gegenrichtung^io. Doch handelt es sich dabei nicht um die Charakterisierung des Vorgangs der Entscheidung selbst eine ,Um‘-Entscheidung liegt deshalb nicht vor, weil keine gegenteilige Entscheidung vorausgegangen isF" -, sondern um die „Deutung der

210 Zum ,Wehen* bzw. .Blasen* in den φρένες als Metapher für die .Richtung* des mensch¬ lichen Willens s. Becker (1937) 168, 172-174 (vgl. II. 3, 8; 21, 385f. etc.). - Zu τρόπαια (sc. αυρα/πνοή) als .Wind, der (nach einem Richtungswechsel) nun in die Gegenrichtung bläst* siehe Pearson zu Soph. fr. 1103, der als Parallelen Aesch. Cho. 771, Sept. 693 und Eur. El. 1147 im Kontext der .Wendung des Schicksals* anführt (vgl. auch Pind. Ol. 7,95; Pyth. 3, 104f.; Isth. 3/4, 23f.; Eur. HF 216; Ion 1506; Aristoph. Pax 944f.). 21' In diesem Sinne deuten Neitzel (1979) 31 und Thiel (1993) 113 τροπαίαν - μετέγνω (Ag. 219f.) als Umentscheidung gegenüber Ag. 187: συμπνέων (= Aufgabe des Feldzugs), obwohl aus Agamemnons Rede (Ag. 206-217) klar hervorgeht, daß er sich nicht von einer Ablehnung der Opferung hin zu einer Befürwortung ,um-*entscheidet, sondern daß er zunächst unentschieden schwankt und dann entscheidet.

§ 4; Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257)

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gefallenen Entscheidung“2i2_ jyiit Jer Entscheidung dreht sich der Wind und bläst in die andere Richtung (τροπαία)^’^. Der neue Zustand, der mit der Entscheidung eingetreten ist, trägt die Attribute δυσσεβής, άναγνος, ανίερος. Agamemnons Sinn wurde also mit seiner Entscheidung ,unfromm, unrein, ohne Achtung vor dem Heiligen*, kurz: religiös und moralisch verkehrt und verbrecherisch. Becker hat die Metapher φρενός ττνέων ... τροπαίαν (Ag. 219) für den Umschlag ins ,Verkehrte* plausibel als Beschreibung des ,Verlassens der natürlichen, richtigen und gesunden Bahn* gedeutet, vom Vernünftigen, Menschlichen hin zum Wahnsinnigen, Unmenschlichen2i4. Diese Deutung des έπεί-Satzes als der Protasis (Ag. 218-220) wird durch die Apodosis τόθεν ... (Ag. 220f.) zusätzlich untermauert: ,von dem Zeitpunkt an ...* (Ag. 220: τόθεν) (d. h. von der Entscheidung an) ,hatte er seinen Sinn dahingehend geändert, daß er (nun) das Alleswagende dachte*^!^. Der sich anschließende γάρSatz begründet und interpretiert schließlich mit einer Gnome den Zustand Agamemnons (Ag. 222f.): ,Agamemnon dachte das Alleswagende. Denn es macht die Menschen verwegen (sc. so daß sie das Alleswagende denken) der elende Wahnsinn, der Schändliches planende, der Anfang allen Leidens*. So richtig bereits Becker (1937) 174. 213 Man könnte also auch hier wieder das logische Verhältnis zwischen verbum finitum (έδυ als konkret .sichtbarer' Handlung) und Partizip (ττνέων als Bezeichnung der .inneren' Bedeutung des Geschehens) nach dem in Anm. 112 beschriebenen Verfahren im Deutschen andersherum fassen: .Indem er in das Jochband schlüpfte, blies er in die andere Richtung (= änderte sich sein Sinn) hin zum Ruchlosen ... .' 214 Becker (1937) 174 vergleicht hierzu Bacch. c. 11, 54: στήθεσσι παλίντροπον έμβαλεν νόημα (Hera schlägt die Proitostöchter mit Wahnsinn). - Zu Ag. 219 ebenda: „Damit gehört das Umbeschließen und sein Bild ... (Ag. 219) ... der Deutung der gefallenen Entscheidung an. Diese ... sieht der Dichter (richtiger: der Chor [L.K.]) als einen Akt des Wahnsinns. Der in Ag. aufkommende Willenssturm, der zu der Tat führt,... ist eine große Drehung der Richtung aus der bisherigen Bahn heraus, nicht weil der entgegengesetzte Entschluß vorher gefaßt worden wäre, sondern weil er der natürliche, richtige, gesunde wäre, weil das Geleis des natürlichen Wollens und Wesens verlassen wird. Hier ist das Menschliche ins Unmenschliche umgeschlagen." 2>5 Auch φρονενν μετέγνω bezeichnet also nicht einen Akt der Umentscheidung (so wiederum Neitzel und Thiel: s. o. Anm. 211), sondern den nach der Entscheidung veränderten Zustand des Sinnes. Dies legen folgende Indizien nahe: (1) τόθεν ,νοη da an' (Ag. 220) weist eindeutig auf den Zeitraum nach der Entscheidung. (2) μεταγιγνώσκειν bedeutet zwar später in der Regel ,seine Meinung ändern, sich umentscheiden, bereuen' (siehe LSI s. v. II. 1.-2.), doch haben Friis Johansen-Whittle (zu Aesch. Suppl. 1 lOf.) überzeugend dargelegt, daß für die beiden einzigen aischyleischen Belege (Suppl. llOf. und Ag. 221) ,to come to a new decision consisting in ...' als Grundbedeutung zugrunde zu legen ist. Mit dem folgenden Infinitiv (vgl. Thuk. 1, 44, 1: μετέγνοοσαν ... μή ποιήσασθαι von Classen-Steup z. St. paraphrasiert als τήν γνώμην μεταβαλόντες έγνοοσοίν) kommt es in der Bedeutung der Stelle Xen. Cyr. 5, 5, 40: μεταγιγνώσκειν ώς ,change one’s mind and think that...‘ nahe: „Von da an dachte er (im Gegensatz zu vorher) das Alleswagende" (vgl. LSJ s. v. II. 3. und Friis Johansen-Whittle a. a. O.).

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II. Die Konstruktion der Handlung des .Agamemnon ‘

Die Verwegenheit Agamemnons, das Alleswagende zu denken (d. h. seine Bereitschaft, die Tochter zu opfern) wird damit auf einen Zustand geistiger Verwirrung zurückgefiihrt. Daß geistige Verwirrung im Spiel ist, war bereits in der Metapher Ag. 219; φρενος ... τροπαιαν an¬ gedeutet, und in der begründenden Gnome Ag. 222f. wird es explizit. Faßt man die komplizierte Darstellung zusammen, die der Chor von dem Entscheidungsvorgang und der sich daran anschließenden Entwick¬ lung gibt, so erhält man folgenden Ablauf: 1. Agamemnon ist mit einer Zwangssituation konfrontiert (Ag. 218: άνάγκας λέπαδνον). 2. Er entscheidet sich und realisiert damit einen von der Zwangssituation vorgezeichneten Handlungsverlauf (Ag. 218; έδυ). 3. In diesem Moment wendet sich sein Denken von der gesunden in eine ungesunde Richtung (Ag. 219: φρενος πνέων ... τροπαιαν), die als un¬ fromm, verbrecherisch charakterisiert wird (Ag. 219: δυσσεβή). 4. Von da an war er (im Gegensatz zu vorher) bereit, alle Grenzen menschlicher Moral zu übertreten (Ag. 220f.; τόθεν τό παντότολμον φρονείV μετέγνω). 5. Der Grund (γάρ) für diese verwegene Geisteshaltung (θρασύνει): Wahnsinn, Verblendung (παρακοπά) (Ag. 222f.). 6. Also (Ag. 223: δ’ ουν): Er wagt es (Ag. 223; έτλα), Opferer der Tochter zu werden (Ag. 224ff.)2'6. 7. In seiner Verwegenheit nimmt Agamemnon schließlich das Opfer in Angriff, einerseits ,als Hilfe für den Krieg, der um der Frau willen Vergeltung übt‘ (Ag. 225f.), andererseits als ,Vor-Opfer‘2i7. Überprüfen wir diese Deutung des Entscheidungsvorgangs und seiner Folgen durch den Chor wiederum an Agamemnons Rede, so lassen sich die einzelnen Elemente ebenfalls wiedererkennen. In der Zwangslage (Ag. 206-213 = Chor 1.) entscheidet sich Agamemnon in dem von der Zwangslage vorgezeichneten Sinne (zwischen Ag. 213 und Ag. 214 = Chor 2.). Damit nimmt sein Denken eine Richtung, die als verbrecherische Die Partikelkombinaüon δ’ ούν führt nach der gnomischen Begründung Ag. 222f. zurück zum Hauptgedanken, dem verbrechensbereiten Geisteszustand Agamemnons (s. Denniston, GP 463f.). έτλα (Ag. 223) nimmt damit τό παντότολμον (Ag. 221) auf und ist daher mit ,wagen' zu übersetzen (nach LSJ s.v. *τλάω II.). προτέλεια (sc. ιερά): das Opfer vor einer wichtigen Unternehmung (i. d. Regel vor der Hochzeit: siehe LSJ s. v. 1.), also hier: das Opfer vor dem Krieg, um für die Flotte einen erfolgreichen Feldzug zu erbitten, άρωγάν ... προτέλεια steht als Satzapposition im Akkusativ zur Angabe der Absicht des handelnden Subjekts (s. KG 1, 284f. und Wilamowitz zu Eur. HF 59). Agamemnons Gedanken gehen also über den Moment der Rettung der Flotte hinaus zum bevorstehenden Krieg.

§ 4: Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257)

Haltung erkennbar ist (Ag. 215f.: παρθενίου

...

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έτπθυμειν = Chor

3.14.). Im nachträglichen Begründungs- bzw. Rechtfertigungskontext verkehrt sich Agamemnons Denken schließlich vollends ins Perverse, Wahnsinnige (Ag. 216: έτπθυμειν θέμις (!) = Chor 5.). Schließlich bricht Agamemnon das Rechtfertigungsraisonnement ab und macht sich an die Tat (Ag. 217 [So soll es also sein;] ευ γάρ είη = Chor 6.). Ob in der abschließenden Gebetsformel (Ag. 217) bereits der Gedanke an die erfolgreiche Fortsetzung des Feldzuges mitschwingt (= Chor 7.), oder ob Agamemnon im Wissen der Frevelhaftigkeit seiner Tat gleichwohl hofft, ungestraft davonzukommen, läßt sich kaum entscheiden^'«. In Agamemnons Begründungssatz Ag. 214-217 wird somit deutlich, was der Chor meint, wenn er sagt, Agamemnons Denken habe mit seiner Entscheidung eine Richtung hin zum Frevlerischen genommen und von da an (d. h. nach der Entscheidung) sei er bereit gewesen, jede Grenze zu überschreiten, und dies dann damit begründet, daß Wahnsinn solche Verwegenheit hervorbringe. Unter dem Druck zur Rechtfertigung nach der Entscheidung formuliert Agamemnon eine Aussage, die zugleich wahnsinnig ist (die Behauptung, es sei Recht, die Opferung der Tochter zu verlangen, ist absurd!) und von frevelhafter Gesinnung zeugt (Opferung der Tochter). Agamemnon hat eine Entscheidung getroffen, die im Hinblick auf Iphigenie in den Kategorien menschlicher Moral nicht zu rechtfertigen ist: ein Adynaton. Der Versuch, dieses Adynaton gleichwohl zu leisten, führt Agamemnon zwangsläufig in den Wahnsinn und läßt sein Denken nunmehr von dem schändlich-frevelhaften Gedanken an die Opferung der Tochter erfüllt sein. Der Chor hat also recht, wenn er betont, daß die frevlerische Haltung Agamemnons erst mit und nach seiner Entscheidung einsetzt. Als Kalchas die Fordemng der Artemis offenbart (Ag. 198-202), sind die Atriden (also auch Agamemnon) zunächst schockiert und verzweifelt (Ag. 202-204)2*9^ von frevelhafter oder wahnsinniger Entschlossenheit zur Opferung ist dort noch keine Spur. Diese entsteht erst aus dem Druck, die aus der Zwangslage heraus an und für sich folgerichtige Entscheidung zugunsten der Erfüllung der Forderung der Artemis auch unter der Perspektive der Tochteropferung zu rechtfertigen22o. 2'« Letzteres suggeriert Fraenkel z. St. 219 Vgl. Fraenkel zu Ag. 202ff.: „indications of overmastering emotions“; Denniston-Page zu Ag. 202f.: ,J^or this gesture, denoting distress, cf. Od. 2. 80“; 220 Vgl. schon Headlam-Thomson zu Ag. 218-21; „The parenthesis βροτούς ... πρωτοπήμων describes the process by which ανάγκη produces this state of mind. He is at his wit’s end; άμηχανίη drives him to distraction (παρακοπά); he abandons the restraint

130

II. Die Konstruktion der Handlung des Agamemnon ‘

Der Chor beschreibt demnach in seiner resümierenden Deutung Ag. 218ff. die Abfolge der Schritte, die schließlich zur Opferung Iphigenies geführt haben, in einer Weise, die präzise an der wörtlichen Rede Agamemnons (Ag. 206-217) und der zuvor vom Chor beschrie¬ benen Situation (Ag. 188-205) nachzuvollziehen ist. In den Versen 228-247 schildert der Chor schließlich die Vorbereitun¬ gen zur Opferung. Was sich in seiner Beschreibung der inneren Verän¬ derung Agamemnons angekündigt hatte, findet nunmehr seine Bestäti¬ gung. Während die Opferung in der Entscheidung noch das einzige Mittel gewesen war, die Zwangslage aufzuheben, wurde sie nach der Entschei¬ dung zum Mittel zur Fortsetzung des Krieges (Ag. 225-227). In eben diesem Geiste erfolgt die Opferung: - Die Anführer erscheinen in ihrer Entschlossenheit, die Entscheidung in die Tat umzusetzen, als φιλόμαχοι, ,kampfeslustig‘ (Ag. 230 ~ Ag. 225f.), nicht mehr als Verzweifelte, wie noch vor der Entscheidung (Ag. 202-204). - Die Tat erfolgt trotz Iphigenies Bitte um Schonung (Ag. 228-230), trotz der Vater-Tochterbeziehung (Ag. 228-230. 231. 243-247), trotz der mitleiderregenden Verzweiflung und Wehrlosigkeit des Mädchens (Ag. 240). - Sie erfolgt mit Gewalt und Brutalität (Ag. 232-238), sogar mit der berechnenden Vorsicht des Täters, der Vorkehrungen dagegen trifft, für die Tat hinterher büßen zu müssen (Knebel zur Verhinderung des Fluchs) (Ag. 235-238). Die Vorgänge im unmittelbaren Vorfeld der Opferung entsprechen also der zuvor vom Chor gegebenen Charakterisierung des Täters und der Tat als Verletzung aller religiösen und moralischen Regeln (s. o. Ag. 219: δυσσεβή, Ag. 220: άναγνον, Ag. 220: άνίερον, Ag. 222: αΐσχρό(ν), Ag. 221: τό παντότολμον - Ag. 222: θρασύνει). Damit ist der letzte Zweifel ausgeräumt. Die Opferung Iphigenies war ein Verbrechen, das vom Täter in verbrecherischer Weise verübt wurde. Mit diesem Ergebnis lassen sich eine Reihe von Forschungspositionen revidieren bzw. bestätigen: 1. Agamemnons Rede zeigt eindeutig, daß er sich selbst zur Opferung Iphigenies entscheidet. Grundsätzlich stehen ihm zwei Möglichkeiten des Handelns offen, die er selbst explizit nennt: entweder das Heer dem Untergang überlassen oder seine Tochter opfern. In Agamemnons Ent(σοΰφροσύνη) which has hitherto kept him in check, and gives himself up wholly to θράσος, the spirit of bad audacity, bold recklessness and sin.“

§ 4: Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257)

131

Scheidung spielt also die Tatsache, daß er Zeus als dem Initiator des Heereszugs gehorchen müsse, so daß die vollständige Durchführung des Zuges von vornherein unumgänglich ist, keine Rolle. Damit ist das erste Argument der ,Schicksalsadvokaten* (A. l.pi widerlegt. 2. Die Frage, was mit Iphigenie geschehen würde, wenn Agamemnon die Opferung nicht vollziehen würde, kommt nicht nur in Agamemnons Entscheidungsprozeß nicht vor, sie ist auch für Agamemnons Tat irre¬ levant (gegen das Argument A. 2., Iphigenie müsse in jedem Fall sterben, wenn nicht durch Agamemnon, dann durch die anderen Heerführer)222. 3. Auch der Chor spricht bei seiner Darstellung der Entscheidung in Ag. 218 mit έδυ durchaus von einer aktiven Handlung Agamemnons (gegen A. 3.>.223 4. Der Wahnsinn, von dem der Chor in Ag. 223 spricht, kann nicht die Ursache für Agamemnons Entscheidung sein, die Tochter zu opfern. Erst nach seiner Entscheidung wird der König zum rasend-wahnsinnigen Ver¬ brecher. Damit entfällt die Möglichkeit, daß Zeus Agamemnon mit Wahn¬ sinn geschlagen hat, um ihn schuldig werden zu lassen (was ihn dann wiederum als Täter entlasten würde) (gegen A. 4.).224 5. Zum Fluch und seiner Rolle im Geschehen (A. 5.) s. Kap. II § 9-10. 6. Die genaue Analyse des Textes hat somit die Grundposition der ,Freiheitsadvokaten* bestätigt: Agamemnon trifft eine (freie) Entscheidung (B.l.a.)225.

7. Allerdings hat sich die Interpretation des Begriffs άνάγκας λέπαδνον (Ag. 218) als der ,notwendigen Konsequenzen, die sich aus dem Entschluß ergeben* als problematisch herausgestellt, da die Metapher gemeinhin für verschiedene Formen von ,Zwangslagen* steht. In dem gegebenen Kontext kann dies nur die Zwangslage sein, mit der Aga¬ memnon durch den Sturm konfrontiert ist (gegen B. 1. b.)226. 8. Auch die Interpretationen, die Agamemnon als ruchlosen kriegs¬ lüsternen Verbrecher darstellen, der zur Durchführung ,seines* Krieges sogar bereit ist, über die Leiche seiner Tochter zu gehen, haben sich als aus dem Text nicht herleitbar erwiesen. Das Grundmißverständnis dieser Arbeiten liegt in einer falschen Auffassung von der Situation, in der sich Agamemnon befindet, und infolgedessen von den Handlungsalternativen,

221 222

223 224 225 226

Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe Siehe

oben oben oben oben oben oben

o. S. 99. S. 99f.; richtig also B. 3. S. 100. S. 100. S. 100. S. lOOf.

132

Π. Die Konstruktion der Handlung des .Agamemnon'

die ihm offenstehen. Darauf, daß Agamemnon nur Zeus hätte um Hilfe bitten müssen, um das Problem zu lösen (so B. 4. a.)^^^, deutet der Text in keiner Weise. Auch daß Agamemnon den Feldzug hätte abbrechen können und (nach dem Wunsch der Artemis [und des Zeus]) sogar hätte abbrechen sollen, setzt eine Alternative zur Opferung voraus, die es so nicht gibt. Agamemnon hat sich nicht zwischen dem Heimschicken der Soldaten und der Opferung zu entscheiden, sondern zwischen dem elenden Zugrundegehen des Heeres und der Befolgung der Forderung der Artemis, die nicht in einem Abbruch des Krieges, sondern in der Opferung Iphigenies besteht (gegen B. 4. b.)228. - Daß Agamemnon in der Darstellung des Chores nach der Entscheidung im mörderischen Wahnsinn auch an die Fortsetzung des Feldzuges als den Nutzen des Opfers denkt, spielt für die Entscheidung in der Zwangslage keine Rolle. Im Lichte der vorangegangenen Analyse des Textes stellt sich das Problem der Opferung Iphigenies durch Agamemnon, wie es von der bisherigen Forschung bislang diskutiert wurde, als so komplex dar, daß es nicht so leicht durch einen der bisherigen ,reinen‘ Lösungsvorschläge (,SchicksaT vs. ,Freiheit der Entscheidung*) zu erledigen ist. Die Schwie¬ rigkeit bei der Bewertung der Tat Agamemnons resultierte in der Vergan¬ genheit ganz offensichtlich daraus, daß die Interpreten zur Untermauerung ihrer jeweiligen Position sich mehr an einzelnen charakterisierenden Formulierungen des Chores - wie z. B. Ag. 218 - orientiert haben als an der Frage nach der (elementaren) Ereignisfolge und der Kausalverknüp¬ fung zwischen Ereignissen, wie sie der Zuschauer aus der Darstellung des Chores gewinnt. Der Text selbst - so schwierig er in diesem oder jenem Detail zu deuten sein mag - bietet insgesamt ein Zwar kompliziertes, aber doch sehr viel eindeutigeres Bild der Konstruktion der Handlung als die disparaten For¬ schungspositionen nahelegen. In der (Not-)lage in Aulis verknüpfen sich auf vertrackte Weise zwei Ereignis- und Wirkungsketten (s. Schema 9). Die erste Wirkungslinie ist von allen bisherigen Interpreten gesehen und benannt worden. Der Raub der Helena setzt den Zug der Atriden gegen Troia in Gang. Die Reaktion der Geschädigten ist plausibel und berechtigt; auf die Verletzung des Gastrechts folgt die natürliche For¬ derung nach Bestrafung, Wiedergutmachung etc., mit anderen Worten; Zeus Xenios „schickt“ die Atriden gegen Troia. Siehe oben S. lOlf. 228 Siehe oben S. lOlf.

§ 4: Die Exposition in der Parodos (Ag. 40-257)

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O cs -C Lloyd-Jones’ Ansatz, der Fluch, der seit dem Thyestesmahl auf dem Haus des Atreus liege, sei die Ursache der Opferung Iphigenies und letztlich des Todes Agamemnons (Lloyd-Jones [1962] 199; s. 0. S. lOlf.), wäre nach unserer Deutung also dahingehend zu korrigieren, daß das, was Lloyd-Jones den ,nuch‘ nennt, eben jenes ,pattem‘ der Wirklichkeit ist, das die Ereignisse ihrem Ziel zutreibt.

§ 5: Die Exposition im 1. Epeisodion und 1. Stasimon (Ag. 258^88)

137

minate oder ,long-term‘ oder ,deferred fatalism‘ belegen232. Ob und in welchem Sinne dies für die gesamte Trilogie gilt, muß sich in der noch folgenden Untersuchung zeigen. Mit dieser Analyse der Parodos des ,Agamemnon* ist das Informations¬ potential, das in dem Text liegt, bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Dies gilt vor allem für die Bedeutung der ambivalenten Natur des Troianischen Krieges. Einerseits stellt er eine gerechte, von Zeus geforderte Strafe des Paris und der Troianer dar (Ag. 60ff. 11 Off. 126ff. etc.). Andererseits hat er auch fragwürdige Aspekte: - Neben der Bestrafung ist mit der Rückführung Helenas auch ein persönliches Interesse der Atriden als Kriegsgrund benannt und vom Chor in Anbetracht der gewaltigen Kriegsverluste getadelt (Ag. 62. 225). - Auch die Griechen müssen durch den Krieg leiden (Ag. 66). Nur gestreift wurde ebenfalls der Zusammenhang zwischen Agamemnons verbrecherischer Tat und dem Schicksal, das ihn im Laufe des Stücks erei¬ len wird (Ag. 153f.). Beide Fäden werden im Laufe der weiteren Bespre¬ chung der Konstruktion der Handlung des Stücks aufgenommen werden, die nun in sehr viel großzügigeren Schritten durchgeführt werden soll.

§ 5

Die Vervollständigung der Exposition im ersten Epeisodion und im ersten Stasimon: Die Zerstömng Troias (Ag. 258-354. 355-488)

In diesem Paragraphen sollen nur noch die übrigen expositorischen Anga¬ ben bis zum Ende des ersten Stasimons gesammelt und benannt werden, so daß der gesamte Bestand an szenischen und expositorischen Informa¬ tionen, die innerhalb des ersten Handlungsbogens dem Zuschauer ver¬ mittelt werden, komplettiert wird. Neben der konstmktiven Anbindung des szenischen Handlungsimpulses des Stückes, des Fackelzeichens, an das jüngste Ereignis der Vorgeschich¬ te, den Fall Troias in der ersten Rede Klytaimestras (s. o. Kap. II § 3), leistet das erste Epeisodion auch noch ein weiteres Stück Exposition: In ihrer zweiten Rede bringt Klytaimestra imaginierend den konkreten Ablauf der Zerstörung Troias zur Sprache (Ag. 320-347)233. Sie führt

232 Williams (1993) 141; vgl. oben S. 103-105 233 Vgl. Fraenkel II p. 184: „She (Klytaimestra) does not know any more than anyone eise what is actually going on in the conquered city, but from careful Observation of human life, she

138

//. Die Konstruktion der Handlung des ,Agamemnon'

damit dieses schon mehrfach genannte Element des ,Plot‘ näher aus. Durch die Art der Darstellung greift sie einen Aspekt auf, der bislang nur einmal, und zwar in der Parodos, höchst implizit angeklungen war: • Die Grausamkeit der Zerstörung Troias (Ag.320-347). War in der Parodos dieser Aspekt im Rahmen des positiven Teils des Adlerzeichens (Adler fressen die Jungen der Häsin == Einnahme Troias mit Tötung der Einwohner [Ag. 126ff.]) nur implizit präsent, so stellt Klytaimestra hier die grausame Seite der Einnahme eindrucksvoll heraus (Ag. 320-337). Doch sie bleibt nicht dabei stehen. Die Möglichkeit, die Griechen könnten sich in ihrem Siegestaumel zusätzlich mit Schuld be¬ laden, wird in zwei Varianten vor Augen gestellt, (a) Als Bedingung: Wenn die Griechen sich gegen die Götter und ihre Tempel fromm verhal¬ ten, dann dürften sie als Eroberer nicht ihrerseits zu Opfern werden (Ag. 338-340). (b) Als Wunsch: Mögen sie sich nur nicht hinreißen lassen, aus Gewinnsucht die Grenzen des Erlaubten zu überschreiten (Ag. 341f.)! Denn dem Heer stehe die „rettende Heimkehr“ noch bevor (Ag. 343f.). „Wenn aber das Heer ohne Schuld gegen die Götter heimkehrt“, schließt Klytaimestra den Gedanken ab, „könnte das Leid der Gefallenen ... (be¬ sänftigt werden?) ..., wenn (sonst) kein unerwartetes Unglück sie trifft“ (Ag. 345-347)234. Die von Klytaimestra vorgebrachten Befürchtungen,

has present in her mind all the typical features of such a catastrophe ... Her suggestive imagination lends colour to what before were bare outlines 234 Ich folge damit der u. a. von Fraenkel zu Ag. 345-7, Headlam-Thomson zu Ag. 345-7 und zuletzt West (ed. 1990) eingeschlagenen Linie der Interpretation, die für die Apodosis Ag. 346ff. aus dem Kontext heraus die (geheuchelte) Hoffnung Klytaimestras auf einen günstigen Ausgang der gesamten Unternehmung postulieren. Denniston-Page z. St. verteidigen den über¬ lieferten Text (mit einer minimalen Änderung); Ag. 345-347: θεοις δ’ άναμπλάκητος εΐ μόλοι στρατός, | έγρηγορος (Askew: έγρήγορον codd.) τό πήμα των όλωλότων J γένοιτ’ άν, εΐ ... Dies zwingt (a) zu einer konzessiven Auffassung des ε’ι (Ag. 345) und (b) zu einer negativen Fassung der Apodosis: .Selbst wenn sie schuldlos bleiben, könnte das Leid der Toten wach werden, wenn An dieser Version, die auch in der Ausgabe von Page (ed. 1972) erscheint, stören die zwei εΙ-Sätze, sowie die Tatsache, daß im Kontext der heuchlerischen TrugRede Klytaimestras vor dem Chor eine unverhohlene Enthüllung der Gefahr fehl am Platz wäre. Alles Unglück, von dem sie sagt, es möge nicht einrieten, soll ja einrieten! Alles Positive (Schuldfreiheit, Schadensfreiheit) soll nicht einrieten. Die Lösungen, die die Interpreten zur Her¬ stellung des postulierten Sinns anbieten, bestehen darin, entweder έγρήγορον (Ag. 346) durch andere Ausdrücke zu ersetzen (παρηγορεΐν Headlam bei Headlam-Thomson, Fraenkel a. a. O. [zur Konstruktion vgl. Ag. 34f.] εΰήγορον Thomson a. a. O.: .wenn das Heer schuldlos bleibt, dann könnte es möglich sein, das Leid ... zu besänftigen ...‘ oder: .... könnte man von dem Leid ... in guter Weise sprechen ...‘) oder nach Ag. 346 eine Lücke anzusetzen (West e. g.: έγρήγορος τό πήμα ..) ] γένοιτ’ άν ...: ,... könntest du erfahren, daß das jetzt erwachte Leid ... dann schläft und kein Schaden mehr erfolgt'). Obwohl

§ 5: Die Exposition im 1. Epeisodion und 1. Stasimon (Ag. 258-488)

139

die Griechen könnten im Siegestaumel durch Hybris den Zorn der Götter auf sich ziehen, stellen in Wirklichkeit natürlich nur ihre geheimen Wün¬ sche dar oder sogar ihr aus der allgemeinen Lebenserfahrung, wie Stadt¬ eroberungen vor sich zu gehen pflegen, abgeleitetes Wissen, daß genau dies geschieht. Der Hinweis auf die Heimkehr als „Rettung“ (Ag. 343) verbirgt und offenbart zugleich den perfiden Plan, Agamemnon ent¬ sprechend zu empfangen. Wenn sich die Griechen tadellos verhalten, dann wird die Heimkehr die endgültige Rettung vor den Gefahren des Krieges bedeuten - wenn nicht (und davon geht Klytaimestra aus), dann ...! Außerdem dürfte wohl, wenn sonst nichts passiert, auch das Leid der Gefallenen den Eroberern keinen Schaden zufügen. Aber da die Prämissen nicht erfüllt sind, wird auch dies nicht so sein. Selbst wenn der Zuschauer aus seiner Kenntnis des troianischen Sagen¬ kreises nicht weiß, daß Klytaimestras geheuchelte Befürchtungen den Tat¬ sachen entsprechendes, ist ihm schon aus der Art, wie die Königin die Gefahren schildert, klar, daß die Griechen nicht die mit militärischen Siegen gemeinhin verbundene Hybris vermieden haben. Am deutlichsten wird schließlich der Doppelsinn von Klytaimestras Ausführungen in ihrem abschließenden Wunsch τό δ’ ευ κρατοίη ,das Gute aber soll siegen‘ (Ag. 349), mit dem sie vordergründig fast wörtlich den Wunsch des Chores wiederholt, die Bestrafung des Paris durch die Atriden solle erfolgreich sein (Ag. 121. 139. 159), aber in Wirklichkeit natürlich die Bestrafung Agamemnons durch sich selbst meint. Der Zuschauer wird also schon hier Klytaimestras Äußerungen als expositorische Information aufnehmen, und zwar für • die Einnahme Troias als Hybris ( A g . 3 3 8-3 4 7 ) . Wir können vorwegnehmen, daß diese Information, die der Zuschauer hier zunächst aufgrund seiner Deutung der Rede Klytaimestras als Hypo¬ these festhält, im Verlauf des Stückes mehrfach bestätigt wird. Am expli¬ zitesten geschieht dies einerseits vom Herold im 2. Epeisodion (Ag. 524528), der von der völligen Zerstörung Troias spricht:

textkritisch keine der Lösungen voll befriedigt, ist der eingeschlagene Weg aus sachlichen Gründen gegenüber der Verteidigung der Überlieferung vorzuziehen. 235 Man mag hier zunächst an Neoptolemos’ Ermordung des Priamos am Altar des Zeus (Procl. ehrest. 257 Severyns = PEG I p. 88, 13-14 Bemabe = EEG p. 62, 19-20 Davies) oder die Vergewaltigung Kassandras durch Aias im Tempel der Athene (Procl. Chrest. 261 Severyns = PEG I p. 89, 15-18 Bemabe = EEG p. 62, 23-27 Davies) denken. - Vgl. jedoch auch unten Ag. 524ff., die Ag. 338ff. konkret .bestätigen*.

II. Die Konstruktion der Handlung des Agamemnon'

140

άλλ' εΰ viv άσπάσασθε ... 525

Τροίαν

κατασκάψαντα

Διός μακέλληι,

τήι

τοϋ

δικηφόρου

κατείργασται

πέδον.

βωμοί δ’ άϊστοι και θεών ιδρύματα^^^ και σπέρμα πάσης έξαπόλλυτοα χθονός. „Doch begrüßt ihn (sc. Agamemnon) gut ... 525

ihn, der Troia untergegraben hat mit der Hacke des rechtbringenden Zeus. Sie hat den Boden durchgepflügt. Und die Altäre sind verschwunden und die Göttertempel, und gänzlich ausgerottet ist der Same des gesamten Landes.“

Das erste Stasimon arbeitet schließlich zwei Aspekte der Vorgeschichte, die beide schon angeklungen waren, gleichsam abschließend auf: Nachdem der Chor sich der Zerstörung Troias sicher glaubt, preist er im Über¬ schwang seiner Freude über die Nachricht vom Fall Troias - den versteckten Hintersinn der Worte Klytaimestras hat er offenbar nicht verstanden - Zeus als denjenigen, der mit der Vernichtung der Heimat¬ stadt des Paris dem Recht zum Sieg verhelfen hat (Ag. 255-384). Damit ist das Element: • die Zerstörung Troias als Akt der Dike eindrucksvoll entfaltet. Hat der Chor anfangs nur gehofft, daß der Krieg als gerechter Krieg unter dem Patronat des Zeus zum Erfolg führen wird (Ag. 40ff. 111. 124), so ist er sich jetzt sicher, daß dem so ist (Ag. 355ff.). Später werden noch einmal der Herold im 2. Epeisodion (Ag. 525ff.) und Agamemnon im 3. Epeisodion (Ag. 812ff.) dieses Hand¬ lungsmoment (zu ihrer eigenen Rechtfertigung) betonend hervorheben. Der Dank an Zeus für die Gerechtigkeit, die er hat walten lassen, lenkt den Gedanken des Chores schnell zum Täter, der seine gerechte Strafe er¬ halten hat: Paris (Ag. 363ff.). Wie immer man die korrupte Passage Ag. 374ff. fassen mag, ab Ag. 381 ist jedenfalls wiederum von einer Rechts¬ verletzung die Rede, womit nur die gemeint sein kann, die Paris beging: 381

οΰ γάρ έστιν έπαλξις πλότου προς κόρον άνδρί λακτίσαντι

μέγαν

Δίκας

βωμόν εις άφάνειαν. 236 Ag. 527 wurde von Sallmann athetiert. Ihm folgen u. a. Wilamowitz (ed. 1914), Fraenkel z. St. und West (ed. 1990) mit den Argumenten, daß der Vers (1) fast identisch mit Pers. 811 sei, (2) er die Metapher Ag. 526/8 unterbreche und (3) aus dem Mund des griechischen Herolds unplausibel sei (vgl. Fraenkel z. St.); Denniston-Page verteidigen den Vers mit dem Hinweis, daß er Klytaimestras Äußerungen Ag. 338ff. bestätige. In jedem Fall spricht der Herold von der völligen Zerstörung der Stadt, d. h. (implizit) auch ihrer Tempel.

§ 5: Die Exposition im 1. Epeisodion und 1. Slasimon (Ag. 258-^88)

381

141

„Denn Reichtum bietet keine Abwehr gegen Überdruß und Übermut für einen Mann, wenn er den großen Altar Dikes mit den Füßen tritt, so daß er unsichtbar wird“237

Auch ein reicher Mann ist also nicht vor κόρος, Übermut aus Überdruß, geschützt, wenn er das Recht nicht achtet. Er wird - so fährt der Chor in der Antistrophos Ag. 385ff. fort - durch ,Peitho‘, Überredung/Verfüh¬ rung, das Kind der ,vorherratenden* Ate (Ag. 384f.), gezwungen. Das bedeutet; Wenn ein Mann das Recht mit Füßen tritt, dann läuft er Gefahr - auch wenn er reich ist -, in Übermut zu verfallen und sich in Verblendung verführen zu lassen. Dann steht er unter Zwang (βιάται Ag. 385) und es hilft kein Mittel dagegen (Ag. 387ff.). Über kurz oder lang wird er als Verbrecher offenbar und bringt auch seine Stadt ins Unglück. Am Ende wird er bestraft (Ag. 387-399). Genauso erging es Paris (Ag. 400ff.). Damit ist der Raub der Helena nicht nur als Verbrechen des Paris beschrieben, sondern in subtiler Form auch in einen Handlungskontext eingeordnet: Peitho und Ate waren als zwingende (Ag. 385ff.: βιάται) Mächte im Spiel. Das Verhältnis von der ,Mißachtung der Dike* als dem verbrecherischen Akt des Paris und der ,Peitho*, die ihn ,verführt* hat, Helena zu entführen, ist von der Forschung wiederum - analog zum Problem der ,Entscheidung* Agamemnons, die Tochter zu opfern kontrovers diskutiert worden. Wird Paris zum Verbrecher durch Peitho und Ate?^^* Oder wird er nach der Mißachtung Dikes verführt/verführbar?239 Leider stellt der Text selbst keine Kausalverbindung zwischen den Elementen des ,Schuldig¬ werdens* (Ag. 383f.) und des ,Gezwungenwerdens durch Verblendung und Verführung* (Ag. 385f.) her. Es ist daher fraglich, ob man als Interpret dies in dem einen oder anderen Sinne supplieren sollte^-»«. Der Chor stellt vorab fest, daß Reichtum keinen Schutz vor ,Übermut* bietet. 237 Ich folge mit dieser Übersetzung Denniston-Page zu Ag. 381ff., die έπαλξις πλούτου zusammenziehen und übersetzen: „defence consisting in, or afforded by, wealth“. Anders Fraenkel zu Ag. 381^, der πλούτου προς κόρον zu λακτίσοχντι zieht: ,es gibt keinen Schutz für einen Mann, der im Überdruß an Reichtum den Altar Dikes tritt...‘ 23* So z. B. Denniston-Page zu Ag. 386ff. 239 So z. B. Thiel (1993) 161. 240 Gegen Thiels Auffassung (s. o. Anm. 239) ließe sich einwenden, daß allein in der Suk¬ zession, in der die Elemente präsentiert werden (Rechtsverletzung vor Verführung), noch keine Kausalfolge begründet ist; Denniston-Page (s. o. Anm. 238) müssen dagegen den Akt des Verbre¬ chens, das aktive ,Treten des Altars der Dike', niedriger bewerten, als der Text selbst es tut; von einer bloßen Opferrolle spricht er jedenfalls nicht.

II. Die Konstruktion der Handlung des .Agamemnon ‘

142

wenn der Betreffende das Recht mißachtet. In der Antistrophos wird dann begründend24i ausgeführt, wie er dem κόρος anheimfällt: Denn die Verführung zwingt ihn. Der κόρος beruht also auf zwei - nebeneinander genannten - Kom¬ ponenten: Mißachtung des Rechts und Zwang durch Verführung. Im Lichte der Interpretation der Entscheidung Agamemnons in der Parodos scheint es nicht unmöglich, wiederum beide Komponenten nicht als zwei kausal aufeinanderfolgende Handlungselemente zu verstehen, sondern als zwei Aspekte ein und desselben Ereignisses. Die Tat ist die (verant¬ wortliche) Tat des Täters (Paris raubt Helena: er könnte es unterlassen). Die Verführung stellt dazu den Handlungskontext dar, in dem die Hand¬ lung erfolgt (Aphrodite/Helena ,verführt‘ Paris)^'*^. Konsequenterweise geht der Chor damit zur Rolle Helenas über (Ag. 404-436). Ihr Handeln selbst wird jedoch nur kurz benannt (Ag. 404ff.: λιποΰσα ... άγουσα ... βεβάκει ... άτλητα τλάσα) und auf das nächste Stasimon vertagt. Stattdessen geht der Chor unmittelbar auf die Folgen des ,Raubes* (Ag. 402: κλοπαΐσι) bzw. der ,Flucht* (Ag. 404: λιποΰσα) über und kommt damit nach der insistieren¬ den Bewertung des Krieges als eines Aktes der Dike zum zweiten Thema des Stasimons: dem • Krieg als Leiden der Griechen ,um einer Frau willen* führt zur Kritik des Volkes an den Anführern. Dieses Thema war schon in der Parodos angeklungen (Ag. 62-67. 225f.), wird aber erst jetzt wirklich explizit. Vom Verbrechen des Paris (Ag. 399f.) wird der Gedanke über das Leid, das dieser mit seiner Tat den Atriden gebracht hat (Ag. 400-402), hin zu Helena gelenkt (Ag. 402) und von dort wiederum zu den Leiden, die diese den Spartanern (Ag. 403-405), allen voran Menelaos (Ag. 412ff.), und schließlich allen Griechen (Ag. 429-436) gebracht hat. Das Leid der Griechen im Krieg, insbesondere die (zu erwartenden) hohen Verluste des Heeres (Ag. 437ff.) und die Heldentode tapferer Männer (Ag. 445ff.) erscheinen vor dem Hintergrund des Kriegsgrundes (Ag. 448f.: άλλοτρίας δια'ι γυναικός

241 Zur begründenden Funktion der Partikel δέ siehe Denniston, GP 169f. (ό δε άντί τοΰ γάρ). 242

Ygj

Lloyd-Jones (Übers. 1970) I 38: „The meaning is not that the victim is ’persuaded'

by another person, but that he succumbs to the persuasive power of whatever temptation causes his undoing. In Paris case this was the power of love, and Persuasion ... is often represented as a minor deity attending upon Aphrodite ...“

§ 5: Die Exposilion im 1. Epeisodion und 1. Stasimon (Ag. 258^88}

143

,das Weib eines anderen Mannes*!) plötzlich ambivalent und sogar bedrohlich für die Atriden (Ag. 450f.): 450

φθονερόν δ’ ύπ’ άλγος έρπει προδίκοις

450

Άτρείδαις.

„Schmerz kriecht mit Mißgunst gegen die Atriden, die Hüter des Rechts“

Die Möglichkeit eines solchen Ressentiments gegen die Atriden ergreift schließlich vollkommen das Denken und Fühlen des Chores. Die Gefähr¬ dung des Siegers wird daher zum Thema der Verse 456^74: Schwer¬ wiegend sei das Gerede des Volkes, wenn es grolle. Denn wer viele Menschen getötet habe, stehe unter besonderer Obacht der Götter, und die Rachegöttinnen löschten mit der Zeit jeden aus, der ,Glück* habe ohne ,Recht*. Am Ende wünscht sich der Chor für sich selbst Segen ohne Mißgunst. Er möchte weder Städteeroberer noch Eroberter sein. Damit sagt der Chor zwar keineswegs - wie Thiel richtig hervorhebC« daß er Agamemnon für einen τυχηρόν άνευ δίκας, einen ,Glücklichen ohne Recht* (Ag. 464), hält. Er sieht nur - entsprechend der imaginierten Schilderung der Einnahme der Stadt durch Klytaimestra (Ag. 320-347) die große Gefahr, daß es so sein könnte. Gleichwohl darf man das, was der Chor über die Gefährdung Agamemnons durch den Groll des Volkes über die hohen Verluste angesichts des fragwürdigen, den rein persönlichen Zielen der Anführer dienenden Kriegsgrundes sagt, als ,wahre* Information an den Zuschauer betrachten. Der Sachverhalt wird im Laufe des Stückes in verschiedenen Varianten bestätigt. Der Herold berichtet als Augenzeuge von den Leiden des Griechenheeres vor Troia (Ag. 551-579). Seine Paränese, angesichts des Glücks des Sieges die Qualen des Krieges und das Los der Gefallenen aus dem Herzen zu ver¬ drängen (Ag. 567-571), muß auf den Zuschauer eher als Hinweis darauf wirken, daß diese Eaktoren Relevanz behalten und nur im Glücksgefühl verdrängt werden, als daß die Eurcht des Chores unbegründet war. Schließlich - dies sei hier schon vorweggenommen - wird auch die Aussage, die Loyalität des Volkes gegenüber Agamemnon sei durch das Mißverhältnis zwischen den Kriegsleiden und den hohen Verlusten auf der einen Seite und dem nichtigen Kriegsgrund auf der anderen Seite unter¬ graben, indirekt durch die Handlung eingelöst. Niemand - außer dem Chor, der sich außerstande zeigt (Ag. 1346-1370) - wird Agamemnon am Ende helfen. Auch der Vorwurf an Agamemnon, Helena sei ein fragwür243 Thiel (1993) 163.

144

II. Die Konstruktion der Handlung des Agamemnon'

diger Kriegsgrund gewesen, wird nicht nur vom Chor später noch einmal direkt vor dem König wiederholt (Ag. 799ff.), sondern sogar von ihm selbst bestätigt (Ag. 822ff.). Für die Konstruktion der Handlung sind somit alle relevanten Faktoren in der Bewertung des troianischen Krieges und der Zerstörung Troias entfaltet: (a) Die Zerstörung Troias als Akt der Dike. (b) Die Zerstörung Troias als Hybris. (c) Der Krieg als unangemessenes Leid für das Volk zur Durchsetzung persönlicher Interessen der Herrscher. Unter diesen drei Aspekten enthält allein (a) kein inneres Potential, die Handlung fortzuführen; (b) birgt dagegen die Gefahr der Aktivierung strafender Götter, und (c) provoziert den Widerstand oder zumindest den Verlust der Loyalität des Volkes.

§ 6 Der zweite Bogen der szenischen Handlung im zweiten Epeisodion: Der Auftritt des Herolds (Ag. 489-680) Mit dem Auftritt des Herolds beginnt der zweite Handlungsbogen des Dramas. Den Zuschauer muß dieser Auftritt, wenngleich er am Ende des vorhergehenden Stasimons durch den neu aufbrechenden Zweifel an der Zuverlässigkeit der Siegesnachricht dramatisch geschickt vorbereitet isF'·'*, verwunderndes; Agamemnon hatte ja bereits durch die Fackelstaffel den Sieg und damit seine baldige Rückkehr nach Hause gemeldet. Auf der expositorischen Ebene leistet die Eingangsrede - entsprechend der Erwartung des Chores - tatsächlich lediglich die definitive Bestäti¬ gung dessen, was dem Chor (und mit ihm dem Zuschauer) schon hypo¬ thetisch mitgeteilt worden war (vgl. oben Kap. II § 5): • Troia ist zerstört als Akt der Gerechtigkeit des Zeus ( Ag.5 2 6-53 7 ) . d'·“’ Der neuerliche Zweifel des Chores in der Epode des vorhergehenden Stasimons (Ag. 475ff.) ist m. E. als dramatische Technik, plausibel auf den Auftritt des Herolds vor¬ zubereiten, hinreichend erklärt. Der Chor war nach der Mitteilung Klytaimestras in seiner Freude zunächst spontan erfüllt von der Siegesnachricht, nach einiger Zeit erinnert er sich der unsicheren Grundlage der Nachricht (Feuerzeichen): Denniston-Page zu Ag. 475ff.; Taplin (1977) 298 mit Anm. 2. d'*^ So hat z. B. Wilamowitz (1914) 169-171 den Botenbericht künstlerisch als vollkommen mißraten verdammt (bes. 171 zum zweiten Teil); Reinhardt (1949) 80 hat den zweiten Teil als .entbehrlich für die Handlung* bezeichnet.

§ 6: Das 2. Epeisodion: Der Auftritt des Boten (Ag. 489-680)

145

• Der troianische Krieg bedeutete viel Leid für die Griechen ( Ag.5 5 1 -5 65 ). • Die hohen Verluste ( A g . 5 6 7 - 5 7 4). Auch verstärkt die Andeutung des Chores in der Stichomythie, daß nach der langen Abwesenheit des Heeres hier in Argos manches im Argen liege (Ag. 538-550), die Bedrohlichkeit der Atmosphäre vor der Ankunft Agamemnons (so schon oben der Wächter Ag. 18f. und Ag. 36-39). Insofern scheint der Auftritt des Herolds also in der Tat nichts Neues zu bringen. Er leistet Bestätigung und Sicherung des bislang für die Exposition Ge¬ leisteten. Auf der pragmatischen Ebene der szenischen Handlung hat er jedoch eine zwar subtile, aber doch konkret benennbare und für den Fortgang der Handlung unentbehrliche Funktion. Machen wir uns deshalb klar, was auf der Ebene der szenischen Handlung passiert: Der Herold - offenbar von Agamemnon geschickt - soll die Ankunft des Königs ankündigen. Der Zuschauer muß daraus schließen, daß der König das Meer bereits überquert hat und gelandet ist. Die dramatische Raffung der Zeit - zwischen dem Abgang Klytaimestras (Ag. 350) und der Ankunft des Herolds (Ag. 489ff.) müssen viele Tage und Wochen vergangen sein - wird dabei vom Zuschauer gar nicht bemerkE'*^. Der Herold soll also gar nicht in erster Linie die definitive Siegesnachricht bringen, sondern er ist geschickt, um die baldige Ankunft des Herrschers zu melden. Der Zweck dieser frühzeitigen Meldung wird zwar nicht genannt, doch geht implizit aus der ganzen Situation hervor, daß sie den Daheimgebliebenen ausreichend Zeit geben soll, sich auf einen würdigen Empfang des Ankömmlings vorzubereiten^'*’. In der zweiten Szene des Epeisodions wird das pragmatische Gewicht der Entscheidung Agamemnons, seine Ankunft vorab anzukündigen, deutlich: Bei Klytaimestras Auftritt (Ag. 587) kommt es gar nicht zur vorgesehenen Botenrede an die Gattin des Königs. Stattdessen richtet Klytaimestra ihrerseits sogleich das Wort an den Herold und signalisiert, daß sie der Nachricht vom Sieg nicht bedarf (Ag. 587-597) - ein Sach-

246 Grundlegend zu dieser .freien' Behandlung der Zeit bei Aischylos Fraenkel II p. 254 und Taplin (1977) 290-294. Auch an diesem Detail wird gut sichtbar, daß es Aischylos nicht um das (realistische) Ablaufen eines Geschehens auf der Bühne geht, sondern um die gezielte Darstellung des .Mythos', der Konstruktion von Handlung. 247 Vgl. das Gebet Ag. 518-524, das zwar in der unmittelbaren Situation der Ankunft des Herolds an den Königspalast und die Götterbilder gerichtet ist, aber sicher auch als Befehl an Klytaimestra vorgesehen war. Daß es zur Übermittlung dieses Auftrags nicht direkt kommt, liegt dann an der Initiative Klytaimestras (Ag. 587ff.).

146

II. Die Konstruktion der Handlung des .Agamemnon ‘

verhalt, der auch Agamemnon als Entsender des Fackelzeichens eigentlich klar gewesen sein mußte. Nach dem Hinweis darauf, daß sie die Details schließlich auch von ihrem Gatten erfahren könne (Ag. 598f.), kommt sie auf den pragmatisch relevanten Punkt; • Klytaimestra wird sich auf den würdigen Empfang Agamemnons vorbereiten (Ag.600-604). An diesem Punkt wird klar, eine wie wichtige pragmatische Funktion die rechtzeitige Ankündigung der Ankunft ihres Gatten für Klytaimestra hat. Agamemnon gibt ausreichend Zeit und damit auch erst die Möglichkeit, seinen ,Empfang“ praktisch zu planen - freilich in ganz anderem Sinne, als er selbst es beabsichtigt hatte. Ohne es zu wollen, hat Agamemnon Klytaimestra also mit der Entsendung des Herolds einen strategischen Vorsprung verschafft, ohne den sie die Tat nicht - oder jedenfalls nicht so leicht - ausführen könnte. Die Königin nimmt dieses ,Geschenk“ ihres Gatten nicht nur dankbar an, sondern sie nutzt die Gelegenheit sogar, um ihrerseits zusätzlich ihren taktischen Vorsprung noch zu vergrößern. Sie befiehlt dem Herold, zurückzumelden, daß der König sehnsüchtig von einer ihm treuen Ehefrau erwartet werde (Ag. 604-614). So doppeldeutig ihre Rede für den bereits wissenden Zuschauer ist - für den ahnungslosen Herold und ebenso ahnungslosen König muß die Meldung als beruhigende Bestätigung wirken, daß alles in Ordnung ist: • Die Ahnungslosigkeit des ins Auge gefaßten Opfers Agamemnon wird durch die trügerische Rede K ly tai me st r as erhöht. Als signifikant für die Konstruktion des ,Plot“ müssen wir dabei festhalten, daß Agamemnon selbst Klytaimestra mit der Entsendung des He¬ rolds diesen ,doppelten Vorsprung“ verschafft. Die dritte Szene des Epeisodions beschränkt sich wiederum - wie die erste - auf die geschickte Vermittlung expositorischer Informationen. Diese sind jedoch für den ,Plot“ der gesamten Trilogie absolut essentiell. In der Schilderung des Herolds über den Verlauf der Heimfahrt erfährt der Chor (und damit der Zuschauer) dreierlei: • Die Flotte wurde auf der Heimfahrt von einem gewaltigen Sturm zerschlagen ( Ag . 6 2 7-6 7 0 ) . Damit erweist sich Klytaimestras geheime Hoffnung, die Flotte möge infolge hybriden Verhaltens bei der Einnahme Troias während der Heim¬ fahrt zerschlagen werden (s. o. Ag. 338-344), als erfüllt.

§ 6: Das 2. Epeisodion: Der Auftritt des Boten (Ag. 489-680)

147

Men e 1 a 0 s ist mit seinen Schiffen während des Stur m s V on Agamemnon getrennt worden. gilt al s V er sc hollen und kehi■ t nicht z u s am m en m i t sein e m B rüder heim (Ag .6 1 7 -6 25..671-679) Es ist evident, daß mit diesem Ereignis eine der wesentlichen Bedingungen eingetreten ist, unter denen die folgenden Katastrophen überhaupt mög¬ lich sind; Agamemnon wird nicht nur Klytaimestra als wohl vorbereitete Täterin bei seiner Ankunft antreffen, er wird auch ohne jeglichen Schutz durch seinen Bruder sein. Klytaimestra hätte ihre Tat niemals verüben können, wenn die Atriden zusammen heimgekehrt wären. Das Signifikante an der Konstruktion der Handlung bei Aischylos liegt in diesem Zusam¬ menhang darin, daß nicht - wie es in der epischen Tradition dargestellt war^“*» — ein Streit zwischen den Atriden zu ihrer Trennung führt, sondern ein Sturm während der Heimfahrt, den man - nimmt man Klytaimestras geheime Wünsche als Folie des Botenberichts (Ag. 338ff.) - legi¬ tim als Strafe der Götter für Hybris bei der Einnahme Troias interpre¬ tieren darf. Der troianische Krieg in seiner Qualität als Hybris der Sieger rückt damit direkt und unmittelbar in die kausale Vorgeschichte der Ermordung Agamemnons ein: Wenn die Verbrechen bei der Zerstörung Troias unterblieben wären, dann hätte Menelaos seinem Bruder bei der Ankunft zur Seite gestanden und seine Ermordung verhindert. In der wei¬ teren Perspektive der Trilogie insgesamt wäre es Menelaos gewesen wenn es Klytaimestra dennoch irgendwie geschafft hätte, ihren Gatten zu ermorden -, der die Rache an Klytaimestra vollzogen hätte; dann wäre Orest nicht zum Mörder seiner Mutter geworden!^^^ Die Verschlagung des Menelaos ist also ein absolut zentrales Moment in der Konstruktion des ,Plot‘ der gesamten Trilogie. Wie wichtig seine Anwesenheit gewesen

248 So Hom. Od. 3, 136ff.; Procl. Nostoi 279ff. Severyns = PEG I p. 94, 3ff. Bemabe = EGF p. 67, 3ff. Davies; dazu siehe Fraenkel zu Ag. 626ff. und Denniston-Page zu Ag. 626ff. - Auch Menelaos und Agamemnon geraten in den ,Nosten‘ jeweils in einen Sturm (a. a. O.). Gleichwohl sind diese Stürme nicht die Ursache für die Trennung der Brüder. Aischylos war es offenbar wichtig, die Verschlagung des Menelaos auf einen Sturm als Strafe der Götter für hybrides Verhalten bei der Einnahme Troias zurückzuführen. Schneidewins und Fraenkels Erklärung für die aischyleische Version („Apparently Aeschylus wished to avoid anything that might seem inconsistent with ξύμφρων ταγά of the Atridae“ [Fraenkel z. St.]) verkennt die eminente Wichtigkeit dieses Handlungselementes für die Konstruktion des ,Plot‘ (s. das Folgende). 249 Vgl. unten Cho. 1040ff., wo Orestes auf den .eigentlich' zuständigen Rächer indirekt hindeutet.

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0 So richtig z. B. Lloyd-Jones (Übers. 1970) II 15: „Here the Coryphaeus gradually convinces Electra to accompany the libation with a prayer very different from that which Clytaimnestra would have wished. For the original audience, who believed strongly in the efficacy of prayer and in the power of the dead to influence events on earth, the matter had real importance“. Vgl. auch Conacher (1987) 105. - Ganz übersehen ist dieser wichtige Aspekt von Lesky (1972) 119. Die Passage Cho. 205-211, die die Identifizierung der Fußabdrücke Orests durch Identität mit denen seiner Schwester Elektra enthält (so insbesondere Cho. 209f.), ist seit der Antike Objekt rationalistischer Kritik: Eur. El. 518-544 darf als erste rationalistische .Verspottung' der aischyleischen Passage gelten (vgl. auch Soph. El. 892-912). Die moderne Diskussion ist hoffnungslos disparat. Sie reicht von der radikalen Athetese der Verse 205-211 und 228f. (so maßgeblich Fraenkel III p. 815-826 nach Schütz [205-210] und anderen) bis zur .Entschuldigung' des .törichten Arguments' der Schuhgröße für Verwandtschaft mit der noch unterentwickelten oder naiven dramatischen Phantasie des Aischylos (so z. B. Lloyd-Jones [1961] 171-184. Garvie zu Cho. 164-245). Einen guten Überblick über die bisherigen Forschungspositionen bei Garvie a. a. O.; neuerdings hinzuzufügen: Conacher (1987) 106 mit 128f. Anm. 8. Konishi (1990) 149-

202

III. Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren ‘ und den .Eumeniden ‘

Moment wirkt nun wieder die von Elektra bestimmte Handlungslinie auf Orest: Er weiß durch das Gespräch zwischen dem Chor und seiner Schwester, daß er es mit Gleichgesinnten zu tun hat, und kann nun, nachdem Elektras Erregung ihren Höhepunkt erreicht hat, aus dem Versteck hervorkommen (Cho. 211/212). Nach einigem Zögern ist Elektra schließlich bereit, Orests Identität zu akzeptieren, der Anagnorismos kommt zu seiner Vollendung, und die Geschwister sind endgültig vereint (Cho. 212-245). Von nun an können sie gemeinsam ihre Kräfte auf die Rache konzentrieren. Orestes übernimmt zunächst die Initiative mit einem Gebet an Zeus (Cho. 246-263) und einer Bekräftigung seines Racheanspruchs, den er mit dem konkreten Befehl Apollons, Rache zu nehmen (Cho. 269-297), und eigenen Ansprüchen auf das Erbe (Cho. 298-304) legitimiert. Damit ist der erste Handlungsbogen der szenischen Handlung abgeschlossen. Die Konstruktion dieses ersten Bogens hat sich wiederum als komplex, aber klar gestaltet erwiesen. Wichtig für das Verständnis der Handlung des gesamten Stückes ist dabei vor allem, daß es zwei Haupt-Impulse sind, die die Handlung der ,Choephoren ‘ antreiben und zwei Handlungsstränge generieren, die sich schließlich zu einem Strang vereinigender

152. - Zu den (bislang ungelösten) textkritischen Problemen, insbesondere Cho. 206-208, siehe Garvie z. St. de Die Verszahlen der Passagen, aus denen das Konstruktionsschema rekonstruiert ist, sind dem Handlungsschema II vollständig zu entnehmen.

§ 2: Orests Rückkehr und Wiedererkennung (Cho. 1-305)

203

Schema 22: Die Wiedererkennung der Geschwister;

Orest ab Orest aus Wiedererins --► dem —► kennung — Versteck Versteck Orest Orest kehrt _^ opfert am heim Grab (a) zur Über¬ nahme der Heirschaft (b) zur Rache Ag.s Tod

Aig. und Klyt. Herrscher in Argos Klyt.’s Traum

Klyt.’s Befehl, Opfer zu bringen

El. und Chor am Grab

El. erkennt _ Locke und Fußspuren

; ; ; ; ■’

Zögern Um Elektras * funktionierung des Opfers durch den Chor

i Tod Klyt.s und Aig.s

Apolls Befehl zur Rache ^ Orest im Exil

Beide Impulse gehen vom Tod Agamemnons aus: Apollon treibt Orestes nach Argos zur Rache für den Vater (siehe bes. Cho. 269ff.). Der Geist Agamemnons schickt Klytaimestra einen Traum, der diese veranlaßt, Elektra und den Chor zum Grab zu schicken. Dort treffen beide nach einem subtilen Wechselspiel ihrer Handlungsfolgen aufeinander. Orestes geht ins Versteck, als Elektra mit dem Chor kommt; diese findet die Locke und die Fußspuren, nachdem jener sie zuvor zurückgelassen hatte; als die Loyalität der Frauen offenbar geworden ist, verläßt Orestes das Versteck. Vorläufig bleibt festzustellen, daß neben der Apollon-Orest-Linie als dem ,Impuls‘ der Handlung der ,Choephoren‘, der nicht nur im vorher-

204

III. Die Konstruktion der Handlung in den . Choephoren ‘ und den .Eumeniden ‘

gehenden Stück angekündigt war, sondern auch gemeinhin von den Inter¬ preten in den Vordergrund gestellt wird, eine zweite Handlungslinie über Klytaimestra führt, ohne die schon die erste Handlungssequenz gar nicht möglich wäre: Elektra wäre nicht in dem Moment am Grab eingetroffen, als Orestes gerade sein Opfer beendet hat, und Orestes hätte sich nicht gleich bei seiner Ankunft mit den Gegnern des Herrscherpaares verbinden können; er wäre ferner nicht so klar über die Macht- und LoyalitätsVer¬ hältnisse in Argos aufgeklärt worden - ein Faktor, der für die Ausfüh¬ rung der Tat wichtig sein wird und schließlich wäre Orests Opfer und Gebet an Hermes und Agamemnon nicht noch um ein weiteres Opfer an den Gott und den Geist des toten Königs vermehrt worden, das um die Mitwirkung an der Bestrafung und Beseitigung der Mörder bittet. Alle es¬ sentiellen Handlungsmomente der ersten Handlungsphase werden indirekt über die zweite Handlungslinie herbeigeführt: Der Geist Agamemnons bringt Klytaimestra über den Traum dazu, mit der Anordnung der Opfer¬ spende gegen ihre Intention der Realisierung ihrer eigenen Bestrafung zu¬ zuarbeiten. Elektras Opfer ist am Ende gegen sie selbst gerichtet, und sie schafft selbst erst die Gelegenheit zum frühzeitigen Zusammentreffen und zur Verbindung ihrer Feinde. Klytaimestras Traum und ihre Opferan¬ weisung sind integraler Bestandteil der kausalen Vorgeschichte ihrer eigenen Ermordung.

§ 3

Der zweite Handlungsbogen: Der ,Kommos‘ (Cho. 306-478/-509)

Die zweite Phase des Stückes wird vollständig von dem sog. ,Kommos‘ der Geschwister am Grab Agamemnons eingenommen (Cho. 306-478). Die mittlerweile nicht mehr überschaubare Forschung zu diesem Ab¬ schnitt des Stückes'3 hat sich im wesentlichen darauf konzentriert, die innere Haltung Orests während des Kommos zu bestimmen. Gegeneinan¬ der stehen vor allem zwei Positionen: Albin Lesky vertritt die Ansicht - ganz auf der Linie seines Konzeptes aischyleischer Tragik, das schon im Zusammenhang mit der Entscheidung Agamemnons zur Opferung Iphigenies vorgestellt worden war^^ - daß

•3 Die neuesten Forschungsüberblicke mit umfangreichen bibliographischen Angaben bei Garvie zu Cho. 306-478, Conacher (1987) 108-110, Sier p. 68-77. So Kap. III § 4.

§ 3: Der ,Kommas' (Cho. 306^781-509)

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Orestes im Laufe des Kommos die ,Entscheidung‘ zu einer Tat auch ,persönlich‘ trifft, oder besser gesagt: auf sich nimmt, die er aus Notwendig¬ keit von vornherein tun muß^^. Vor dem Kommos sei Orestes nur ein vom Schicksal (= Apollon?) zur Tat unentrinnbar Getriebener, danach ist die Tat seine eigene. An dieser Interpretation, die hier nicht im einzelnen am Text des Kommos nachvollzogen werden kann, ist jedoch, wie wir bereits gesehen haben, die Eingangsprämisse falsch: Von einem unaus¬ weichlichen Schicksalszwang, die Tat zu vollbringen, ist nirgends die Rede. Apollons Befehl mit dem ,Schicksar zu identifizieren, ist eine interpretatorische Gewaltsamkeit, deren mangelnde Berechtigung insbesondere dann deutlich wird, wenn man sich Apollons Rolle in den ,Eumeniden‘ vor Augen stellt'^. Daß Apollons Rachebefehl (Cho. 269ff.) unausweich¬ lich ist, ist außerdem schon dadurch widerlegt, daß der Gott mit seinen Strafankündigungen (Cho. 27If. 275-296) die Nichtbefolgung des Befehls als tatsächlich gegebene Möglichkeit selbst konstatiert. Wenn Orestes die Rache nicht vollzieht, dann drohen furchtbare Qualen, wie er dem Chor und Elektra berichtet: ούτοι προδίόσεν Λοξίου μεγασθενής 270

χρησμός, κελευων τόνδε κίνδυνον περόΝ κάξορθιάζων πολλά κοα δυσχειμέρους άτοχς ύφ’ ήπαρ θερμόν έξαυδώμενος εΐ μή μέτειμι τοϋ πατρός τούς οάτίους τρόπον τον αυτόν άνταποκτεΐναι λέγων ,js[icht wird trügerisch der machtvolle Orakelspruch

270

des Loxias sein, der aufträgt, diese Gefahr hier durchzustehen, wobei er viele frostig-schlimme Verderben in die warme Leber laut ausmft und benennt, wenn ich nicht verfolge die Schuldigen am Tod des Vaters, wobei er sagte, ich solle sie auf dieselbe Art und Weise töten ...“ (es folgt ApoUons Androhung der schlimmen Qualen für den Fall der Nichtbefolgung des Racheauftrags).

Von schicksalhafter Unausweichlichkeit ist also gerade nicht die Rede. Der Gott ruft Orestes zur Bestrafung der Schuldigen auf und muß ihm offenbar, damit er den Aufruf erfüllt, mit der Ankündigung von unerLesky (1943). Siehe insbesondere seine prägnante Zusammenfassung; „Möglich wird die tragische Antinomie, in der Orestes steht, erst dadurch, daß er aus der Passivität des vom Gotte Gesandten heraustritt und im Verlaufe des Kommos die Tat aus eigenem Willen erstehen läßt. Hier begegnet die Aktivität des handelnden Menschen dem, was ihm vom Schicksal verhängt wurde ...“ (Lesky [1943] 126). Siehe Kap. III § 7.

206

III■ Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren ‘ und den .Eumeniden'

meßlichen Leiden für den Fall der Unterlassung (Cho. 273: εΐ μή ...) Nachdruck verleihen'^ Damit steht Orestes in der gleichen Entschei¬ dungssituation, die wir oben bereits für Agamemnon vor der Opferung Iphigenies herausgearbeitet hatten: Eine Gottheit (Artemis ~ Apollo) for¬ dert eine Tat (Opferung Iphigenies == Tötung der Mörder des Agamem¬ non), deren Unterlassung schlimme Folgen hätte (Verhungern des Heeres « Verfolgung durch die Erinyen [Cho. 283] und sonstige Qualen). Um diese Folgen zu vermeiden, entscheidet sich der Bedrängte (Agamemnon = Orestes) zur Tat'*. Hier wie dort handelt es sich also um eine Entschei¬ dung für eine Tat, deren Unterlassung furchtbare Folgen hätte. Doch im Unterschied zu Agamemnon betont Orestes im Anschluß an seinen Bericht vom Orakel Apollons ausdrücklich, daß er auch ohne die Aufforderung des Gottes - die zweifellos ein Motiv für die Tat darstellt gehandelt hätte: τοιοΐσδε χρησμοΤς άρα χρή πεποιθέναι; κεί μή πέποιθα, τοϋργόν έστ’ έργαστέον. πολλοί γάρ ε’ις εν ξυμπίτνουσιν 'ίμεροι, 300

θεοϋ τ’ έφετμαί, και πατρός πένθος μέγα, και προς πιέζει χρημάτων άχηνία, το μή πολίτας ευκλεέστατους βροτών, Τροίας άναστατήρας εύδόξωι φρενί, δυοΐν γυναικοΐν ώδ’ υπηκόους πέλειν

300

„Ist es nicht nötig, solchen Orakeln zu vertrauen? Selbst wenn ich ihnen nicht vertraute - die Tat muß getan werden. Denn viele Begehren fallen in ein Ziel zusammen: Die Gebote des Gottes, die große Trauer um den Vater, und obendrein bedrückt mich Mangel an Gütern und Besitz, so daß die berühmtesten Bürger unter den Menschen, die Zerstörer Troias mit hochberühmtem (?) Sinn, auf diese Weise zwei Weibern untertänig sind.“

Garvie zu Cho. 269-2% hat auf die Eigentümlichkeit des Orakels hingewiesen, daß hier die spezifischen Sanktionen, die Orestes treffen, wenn er der Racheforderung nicht folgt (Cho. 269277), mit den generellen Folgen vermischt werden, die jeden treffen, der die Rache für einen Verwandten versäumt (Cho. 278-296). Das bedeutet, daß Apollons Orakel einerseits durchaus als konkreter Befehl an Orestes formuliert war (Cho. 270; κελεύων), andererseits aber auch nur die generelle Rachepflicht artikulierte, die auch für Orestes gilt. '* Vor dem Hintergrund des in der vorhergehenden Anmerkung angesprochenen Sachverhaltes erscheint Orests Fall auch der Situation der Atriden nach dem Raub der Helena vergleichbar: Die Rechtsverletzung des Paris erfordert die Reaktion der Atriden (Ag. 61f.: πέμπει ξένιος Ζεύς, vgl. 111. 125), wie die Ermordung Agamemnons die Reaktion Orests erfordert (Cho. 269f.: Λοξίου ... χρησμός, κελεύων). In beiden Fällen stehen jeweils Götter für die Realisierung des Vergeltungsprinzips.

§ 3: Der ,Kommos‘ (Cho. 306-4781-509)

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Mit diesen Worten hat Orestes klar das Nebeneinander von allgemeinen und persönlichen Gründen herausgestellt, aus denen er sich für die Tat bereits vor dem Kommos entschieden hat'^. Orestes ist nach Argos gekommen, um die Mörder seines Vaters zu töten: (a) weil ein Sohn seinen Vater rächen muß ( reicht keineswegs aus, Orests ,Besessenheit‘ vom Rachedaimon Agamemnons zu vermuten. Im Gegenteil: Wie wir sehen werden, sind Orests Planungen und Aktionen, die er zur Durch¬ führung der Tat aufnehmen wird, keineswegs von der Art, daß man das Wirken eines zielstrebigen Rachegeistes vermuten möchte. Aus diesem doppelten Befund - einerseits dem Textbefund, daß die Bitte an Agamemnon, aufzusteigen und zu helfen, zunächst nicht der Erwartung des Zuschauers entsprechend erfüllt wird, und andererseits dem Befund der bisherigen Forschung, deren Lösungen von der Ausklammerung des Kommos aus der Handlung (Wilamowitz u. a.) über die Entschlußfassung im Kommos (Lesky) bis hin zur , Besessenheit* Orests (Lebeck, Garvie, Sier) allesamt nicht überzeugen können - aus diesen

So z. B. Snell (1928) 129: „Die Beschwörungsszene ist nicht so sehr eine Bitte an den Vater als vielmehr ein Zauber, der dem Orest Mut gibt.“ Ähnlich Garvie zu Cho. 512-13: „The clear implication is that this resolve of Orestes’ to act is the result of the kommos.“ So Lebeck (1971) 114: „As invocation hymn the commos has a double purpose: to awaken the wrath of the dead king and simultanously, that of his living avenger. The two are really one: the μήνις of Agamemnon becomes incamate in his son, its human agent.“ Vgl. auch ebd. 121: „... the second part of the commos resembles the ritual of an anakletikos hymnus; however, the old form is put to new purpose. Motifs associated wdth invocation to the dead are used here to rouse the living ... the spirit of wrath has been conjured up within Orestes.“ Ähnlich bereits Thomson 1 p. 35; zustimmend auch Sier p. 76 mit Anm. 11. 36 So deutet z. B. Garvie zu Cho. p. XXXIII den Racheaspekt der Tat Orests: „Orestes is merely the agent of his father“.

§ 4: Die Tat (Cho. 510-869. 870-930)

215

beiden Befunden ergibt sich mit größter Dringlichkeit die Frage nach dem pragmatischen Zusammenhang des Kommos mit der Handlung des Stückes, oder konkret formuliert: Entspricht denn nun der Geist Agamemnons der Bitte seiner Kinder, „zu erscheinen“ und die Rache zu realisieren, oder nicht? Eine Antwort auf diese elementare, für das Verständnis des Stückes vitale Frage soll nun im folgenden durch die weitere Analyse des ,Plot‘ gegeben werden.

§ 4

Der dritte Handlungsbogen: Die Planung der Tat, die Durchkreuzung des Plans und das ungeplante Gelingen (Cho. 510-869. 870-930)

Orests Reaktion auf die Aufforderung des Chors, zur Tat zu schreiten, ist nun höchst verwunderlich. Er folgt ihr keineswegs sofort, sondern stellt den Frauen erst einmal eine in Anbetracht der Situation und der Größe der bevorstehenden Tat scheinbar lächerliche Frage: Wieso sie (sc. Klytaimestra) überhaupt diese Opfergaben hierher schicke und aus welchem Grund sie das tue, viel zu spät mit ihrer Ehrung für das Leid, das man ohnehin nicht wiedergutmachen könne (Cho. 515f.). Die Unangemessen¬ heit seiner Frage scheint auch er selbst zu empfinden, wenn er betont, daß sie ,keineswegs außerhalb der Bahn‘ (Cho. 514: πυθέσθαι δ’ ούδεν έστ’ έξω δρόμου) liege, d. h. außerhalb der Folge der jetzt zu ergrei¬ fenden, direkt zur Rachetat führenden Maßnahmen. In der Tat scheint diese Frage vom direkten Ziel abzuführen. Sonder¬ bar ist sie auch insofern, als Orestes bereits aus seiner Lauschposition weiß, daß Klytaimestra die Frauen zum Opfer aufgrund beängstigender Träume geschickt hat, um Unheil abzuwenden (Cho. 22ff. 31 ff. 43). Was soll also diese Frage? Gewiß, Orests Verwirrung darüber, daß Klytaime¬ stra als Mörderin überhaupt Opfer schickt (Cho. 517-522), mag auch trotz seines umfangreichen Vorwissens plausibel sein. Doch weshalb kommt ihm diese Frage gerade jetzt in den Sinn? Es scheint, als falle sie ihm gerade ein, nachdem er Agamemnon um Hilfe gebeten hat und bevor er konkrete Schritte zur Tat unternehmen will. Und die Antwort auf seine Frage liefert in der Tat ein essentielles Moment des ,Plot‘, das den Geist Agamemnons, d. h. als Ereignis: den Tod Agamemnons, und die Rache miteinander in Beziehung setzt. Orestes hat um die Hilfe Agamemnons gebeten und erfährt nun, daß dieser bereits signalisiert hat, daß die Rache

216

///. Die Konstruktion der Handlung in den .Choephoren ‘ und den ,Eumeniden ‘

gelingen wird^’. Der Traum zeigte Klytaimestra eine Schlange, die sie wie ein Kind in Windeln gewickelt habe und die ihr Blutklumpen aus der Brust gesaugt habe (Cho. 526-533). Orestes deutet das Traumbild plausi¬ bel als Ankündigung des Gelingens der eigenen Tat (Cho. 540-550). Doch nicht die Entsendung des Traumes mit der Prophezeihung als solcher ist es, in der allein schon das Gelingen der Tat gegeben ist - Orestes muß die Tat schon noch selbst durchführen -, dem Zuschauer wird vielmehr ganz schleichend - ohne daß die beteiligten Personen es merken - dramatisch demonstriert, wie Agamemnon konkret aus dem Grab heraus agiert. Es ist Klytaimestra, derer er sich bedient, ohne daß sie selbst und auch alle übrigen an der Handlung Beteiligten es merken. Der Traum treibt die Königin zu der Maßnahme (Opfer), ohne die die Geschwister und der Chor sich nicht getroffen, verständigt und zur Tat vereinigt hätten, ein Vorgang, ohne den die Tat - wie wir noch sehen werden - gescheitert wäre. Nicht Orestes ist also offenbar die Person, über die Agamemnon hier das Geschehen beeinflußt, sondern Klytaimestra! Sie wird veranlaßt, eine Handlungskette einzuleiten, die schließlich mit ihrem eigenen Tod enden wird. Doch wie steht es mit Orestes? Wird sich die Vermutung einiger Inter¬ preten bestätigen, daß er während des Kommos zu einem vom Geist des Vaters getriebenen ,Agenten‘ wird, oder bleibt er der von Apollon ge¬ drängte und aus eigenem Antrieb agierende Rächer seines Vaters, der er auch schon vor dem Kommos gewesen ist? Eine Antwort auf diese Frage kann nur die Analyse des weiteren Ganges der Handlung geben. Nach der vollen Enthüllung des Traumes der Klytaimestra und seiner Deutung durch Orestes beginnt die eigentliche Rachehandlung. Sie zerfällt in drei Phasen: Zunächst entwirft Orestes einen listigen Plan (Cho. 554584). Daran schließt sich die Handlungs- und Ereignisfolge bis zum Tod des Aigisthos an (Cho. 652-874). Die dritte Phase bildet die Handlungs¬ und Ereignisfolge bis zum Tod Klytaimestras (Cho. 875-930). Wenden wir uns zunächst Orests Plan zu: (0) Beide Mörder (d. h. Aigisthos und Klytaimestra) sollen ,in der gleichen Schlinge‘ wie Agamemnon (d. h. metaphorisch gesprochen: auch durch List^*) gefangen und getötet werden, wie Apollon es prophezeit hat (Cho. 556-559). Diese List bedarf der persönlichen Planung Orests: So bereits richtig Garvie zu Cho. 479-584; „(2) 514-50: ... Orestes has appealed for his father’s help, and immediately he leams that it is already given ...“; vgl. auch Conacher (1987) 114. 38 Zur metaphorischen Bedeutung von βρόχος (Cho. 557) siehe Garvie zu Cho. 556-8; da¬ neben denkt der Hörer an das ,Netz‘, in dem Agamemnon gefangen worden war (vgl. Ag. 1116.

§ 4: Die Tat (Cho. 510-869. 870-930)

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(1) Elektra soll ins Haus gehen (Cho. 554). (2) Der Chor soll den listigen Plan nicht weitererzählen (Cho. 555). (3) Orestes und Pylades erscheinen als Fremdlinge in Reisetracht vor dem Tor und begehren, sich durch ihre Sprache als Leute vom Parnaß bzw. als Phoker ausgebend, Einlaß (Cho. 560-564). (4) Für den Fall, daß sie nicht eingelassen werden sollten - ein Fall, den Orestes aufgrund des Umstandes für möglich hält, daß das Haus von ,Übeln‘ besessen ist - warten sie vor dem Tor, bis das Gerede der Leute Aigisthos zwingt, sie einzulassen (Cho. 565-570). (5) Wenn Orestes dann eingelassen wird, stürzt er sofort auf Aigisthos auf dem Thron Agamemnons zu und tötet ihn (Cho. 571-578). (6) Nochmalige Aufforderung an Elektra, ins Haus zu gehen (Cho. 579f.). (7) Nochmalige ausdrückliche Ermahnung an den Chor, den Mund zu halten und zu schweigen, wenn es nötig ist, und zu sprechen, wenn es angezeigt ist (Cho.581f.). So einfach pragmatisch und erfolgversprechend dieser Plan auf den ersten Blick sein mag, so defizitär und unüberlegt muß er dem Zuschauer bei nur kurzem Nachdenken erscheinen. Orestes hat ihn ohne konkrete Vorkehrungen für Klytaimestra gemacht. Zwar hatte er eingangs von beiden Mördern als geplanten Opfern gesprochen (Cho. 556-559), doch kommt Klytaimestra im konkreten Aktionsplan nicht mehr vor. Er scheint sie entweder vergessen oder als vorab zu berücksichtigenden Faktor der Rachehandlung für irrelevant gehalten zu haben; als bedürfe die Tötung einer Frau keiner Planung. Dieses Versäumnis Orests liegt durchaus in der Konsequenz der bislang bei ihm bezüglich der Rache zu beobachtenden Bewußtseinslage. Ihm ist zwar - wie dem Chor und Elektra - bekannt, daß Aigisthos und Klytaimestra den Mord begangen haben und damit beide gleichermaßen bestraft werden müssen^^. Doch war der Gesichtspunkt, daß der Vollzug der Rache die Tötung der Mutter durch Orestes bedeutete, in signifikanter Weise außer Acht geblieben^o. 1382). Er wird also in Gedanken zu ταΰτφ ,wie Agamemnon* ergänzen, nicht daß beide Mörder .zusammen* sterben (s. Garvie a. a. O.). Vgl. Cho. 273. 304f. (τούς αιτίους, δυοιν γυναικοιν: Täter anonym im Plural); 384 (τοκεΰσι verschleiernd für die Mutter); 435 (τείσει ohne Subjekt, gemeint ist Klytaimestra). Nicht nur Orestes unterdrückt den Gedanken, daß ein Muttermord bevorsteht, sondern auch Elektra und der Chor; Siehe das Gespräch zwischen Chor und Elektra, in dem - nach der unver¬ hohlenen Artikulation vollkommener Abneigung gegen Klytaimestra als Täterin (Cho. 45; δύσθεος γυνά [Chor]; 89f.; παρά φίλης φίλωι ... γυναικός άνδρί [Elektra; sarka¬ stisch]; s. u. 430; πάντολμε μάτερ [El.]; 440 [Chor]) - der Gedanke der Rache nur pauschal auf ,die Täter* bezogen ist: Cho. 115: τούς αιτίους, 144: τούς κτανόντας mit 146: κείνοις, 367: τούς κτοινόντας.

218

in. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren‘ und den .Eumeniden'

Dies trägt zweifellos zur Erhöhung der Spannung für den Zuschauer bei, da dieser ja weiß, daß die Pointe der Handlung am Ende die Tatsache sein wird, daß Orestes zur Rächung seines Vaters einen Muttermord begehen muß. Auf der Ebene des Bewußtseins des Orestes bedeutet der Befund jedoch etwas viel Fundamentaleres. Orestes kommt nach Argos, um seinen Vater an dessen Mördern zu rächen, und hat, obwohl er die Identität der Mörder kennt, bis kurz vor der Tat (Cho. 899) nicht die eigentliche Problematik der geplanten Tat reflektiert - psychologisch gesprochen: Er hat in Anbetracht der dringenden Notwendigkeit der Rache verdrängt, daß er, wenn Klytaimestra von ihm für den Mord am Vater bestraft wird, selbst zum Muttermörder wird·* *!, Zuge dieses Verdrängungsprozesses liegt es nun auch, daß Orestes die konkrete Durchführung der Tötung der Mutter in seinem Plan schlicht vergißt, ein Versäumnis, das für den tatsächlichen Ablauf der Rache von entscheidender Bedeutung sein wird. Und damit sind wir bei der frappierenden Diskrepanz zwischen dem Plan Orests und seiner Ausführung. Es wird alles anders kommen. Von der Forschung ist diese Diskrepanz bislang, von zwei Ausnahmen abgesehen, vollkommen mißachtet worden, als habe diese - immerhin den zentralen Handlungsteil des Stückes bestimmende - Handlungssequenz für das ,eigentliche‘ Verständnis des Stückes keinerlei Bedeutung'*^. Und selbst die beiden Gelehrten, die diese Diskrepanz überhaupt als Problem erkannt haben, sprechen ihm jegliche Signifikanz für die inhaltliche Bedeutung des dargestellten Geschehens ab. So wertet Dawe'*^ der erste Interpret, der sich explizit dem Problem zugewandt hat, die Diskrepanz als Beleg für seine These, daß es Aischylos - wie es Tycho von Wilamowitz-Moellendorff für Sophokles behauptet hatte** - nicht auf die Einheit der Handlungsführung oder Charakter¬ zeichnung ankomme, sondern lediglich auf den Effekt der Einzelszene:

** Zuerst klar benannt von Reinhardt (1949) 120: „Im ganzen ersten Teil wird ohne Unterlaß etwas verdeckt, was hinterher erst offenbar wird. Und zwar nicht nur irgendein begleitendes Motiv, das man erwartet hätte: etwas ganz Zentrales, ja die kardinalste aller Fragen bleibt unausgesjtrochen ... Es ergibt sich, daß die Frage des Orest (sc. Cho. 899) ... ein erstes plötzliches Erwachen (ist) ..., das ... durch alles, was den Muttermord als unausweichlich und gerechtfertigt erscheinen läßt, verdeckt und überschwemmt wird.“ In der Tat spricht Orestes bis zu Cho. 899 über seine Tat niemals als Muttermord. - In der neueren Forschung allgemein akzeptiert: s. Garvie zu Cho 479584 (p. 175). *2 Vgl. die entschiedene Konstatierung des Defizits im Kommentar von Sier p. XIX Anm. 13: „Die zahlreichen Divergenzen zwischen Plan und Realisierung, die darauf hinauslaufen, daß fast alles anders als geplant eintritt, verdienen eine neue Untersuchung.“ *3 Dawe ([1963J/1974) 236-240. ** T. von Wilamowitz-Moellendorff (1917).

§ 4: Die Tat (Cho. 510-869. 870-930)

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viele ... Einzelheiten in dem Racheplan, den Orestes in V. 554ff. beschreibt, bestärken die Zuschauer in Erwartungen, die tatsächlich enttäuscht werden. Das ist der gewichtigste Widerspruch in der Handlungsführung der ,Choephoren‘ ... Es ist unmöglich, die beiden skizzierten Übersichten auf einen Nenner zu bringen, und es wäre sogar falsch, das zu versuchen, ln Wirklichkeit hat der Plan sein Eigenleben und ist um seiner selbst willen entworfen.*“·^

Der zweite Interpret, der der Frage nach der Diskrepanz von Plan und Ausführung nachgegangen ist, ist A. F. Garvie'*^. Er ist zwar seinem Vorgänger Dawe nicht darin gefolgt, daß „Aeschylus was not worried about consistency“'*’, doch auch er sieht die Diskrepanz vornehmlich als Mittel des Aischylos, eine bestimmte Wirkung auf den Zuschauer zu errei¬ chen, sowie als Mittel, Orests Verdrängung der Muttermordproblematik offenzulegen: „It seems surprising that Orestes’ detailed arrangements prove unnecessary in the event ... His (sc. Aeschylus’) purpose is to keep the audience in suspense by suggesting ... various ways in which the plot may develop. More important, the details of Orestes’ planning show us that he is now once more ... preoccupied entirely with Aegisthus, and Clytaimnestra is forgotten.“'** „ln all this Aeschylus’ manipulation of our expectation could hardly be clearer. It leads up most effectively to the tremendous moment when the door finaUy opens, and it is after all not Aegisthus but Qytaimnestra who appears.“'*^

Garvies Behauptung, daß eine der dramatischen Pointen das anhaltende Verdrängen des Gedankens an den Muttermord bis zu seiner schreckli¬ chen Offenlegung darstellt, also letzten Endes der Erzeugung von Span¬ nung beim Zuschauer dient, trifft zweifellos etwas Richtiges. Erwartun¬ gen werden erzeugt und enttäuscht - die unausgesetzte Frage lautet; Wann wird Orestes vor seiner Mutter stehen und endlich wirklich begreifen, welch eine ungeheuerliche Tat er sich vorgenommen hat? Gleichwohl wäre damit der Konstruktion der Handlung, die sich bislang während des gesamten Verlaufs der Trilogie als sinntragendes Moment und pragmati¬ sches Grundgerüst erwiesen hatte, mit der bloßen Zuschauersteuerung eine Funktion gleichsam an der ,Oberfläche“ des Dramas zugewiesen^o. In 45 Dawe ([1%3]/1974) 236f. und 240. 46 Garvie (1978) 78-79 sowie Garvie zu Cho. 479-584 (p. 175). 47Garvie(1978)78. 4* Garvie zu Cho. 479-584 (p. 175). 49 Garvie (1978) 79. 50 Gänzlich ausschließen möchte ich hier den Gedanken, daß es sich bei der Diskrepanz zwi¬ schen Plan und Ausführung um das Nebeneinander einer früheren Version des Mythos (= Plan) und ihrer Fortentwicklung durch Aischylos (= Ausführung) handelt (so vermutungsweise Garvie zu Cho. 479-584 [p. 175] und Sier p. XIX Anm. 13). Zwar exisüert eine ikonographische Tradition,

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III. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren‘ und den .Eumeniden'

Anbetracht der unbefriedigenden Forschungslage lohnt also ein frischer Blick auf die Konstruktion der Handlung, die auf den Plan folgt, und ein Vergleich von Plan und Ausführung. Nach einer ,Pause‘ der Handlung, in der der Chor mit einem Lied des Abscheus gegen ,ungeheure* Frauengestalten atmosphärisch auf den be¬ vorstehenden Muttermord vorbereitet (Cho. 585-651), nimmt Orestes die Ausführung seines Planes in Angriff; (Elektra war schon ins Haus abgegangen [= Plan (1)] (Cho. 584).) • Orestes und Pylades, als Wanderer verkleidet, klopfen am Tor und bitten um Einlaß [= Plan (3)] ( C h o . 6 5 2-6 5 6 ) si. • Ein Diener öffnet und fragt nach der Identi¬ tät der Ankömmlinge [= erste Durchkreuzung des Plans: Plan (4) entfällt damit, also Über¬ gang zu Plan (5)] (Cho.6 57 ). • Bitte um Einlaß unter dem Vorwand, eine Nachricht zu überbringen. Lapidarer Wunsch, Klytaimestr a, oder besser; Aigisthos solle herauskommen [= Plan (5), mit der leichten Abweichung, daß Orestes nicht vor den Thron des Aigisthos gelassen werden möchte, son¬ dern darum bittet, daß dieser heraus kommt (Cho.663 )] (Cho.65 8-667). • Erste große Durchkreuzung des Plans: Überraschend erscheint Kl y t a im es t r a , begrüßt die Fremden, fragt nach ihrem Anliegen, gewährt ihnen Gastfreundschaft (Cho.6 68in der Aigisthos - auf dem Thron sitzend (vgl. Cho. 572: έν Gpövototv) - von Orestes ermordet wird (vgl. die Beispiele bei Prag [1985] C 1-4. C 5. C 6 [alle 6(X)-575], C 11 [510-5(X)], C 12 [500-490], C 18 [475^70], C 19 [ca. 470], C 20 [ca. 470], C 21 [470-465], C 22 [470-465], C 23 [470^65] mit den entsprechenden ,plates‘; Katalog bei Prag [1985] 136-143, eingehende Interpretation ebenda 10-34). Literarische Zeugnisse für eine Sagenversion, die Orestes’ ,Plan‘ entspräche, liegen uns jedoch nicht vor (s. Garvie zu Cho. p. IX-XXVI). Selbst wenn in der ikonographischen Tradition Aigisthos auf einem Thron zu Tode kommt, darf man gleichwohl Orestes’ Plan (ohne explizite Ermordung Klytaimestras) nicht für eine ,frühere Version* halten, da dieser Plan ja handgreiflich defizitär ist. Eine Rache ohne die Ermordung Klytaimestras ist undenkbar und hat es als Sagenversion sicher nie gegeben (vgl. Lesky [1967] 5-21; Hölscher, Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman [1988] 300-305). Daß zwar die Wandererkleidung (Cho. 560/661), nicht aber der fremde Dialekt (Cho. 563f.) vom Plan in die Ausführung realiter umgesetzt ist, ist wohl keine Nachlässigkeit des Aischylos, sondern es widerstrebt der Konvention der Tragödie, nicht-attische Dialekte im Sprechvers zu verwenden (so Garvie zu Cho. 563-4).

§ 4: Die Tat (Cho. 510-869. 870-930}

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67 3 ), und schlägt vor, alles weitere mit Aigisthos zu besprechen. Von jetzt an versagt Orests Plan völlig. Das überraschende Erscheinen Klytaimestras, mit dem Orestes überhaupt nicht gerechnet hatte, macht den letzten Teil des Plans zur Makulatur. Orestes muß - will er die gesamte Aktion nicht einfach abbrechen - rasch umdisponieren und von nun an, so gut es eben geht, jeden neuen Schritt ad hoc entscheiden, ohne so recht zu wissen, wohin der Gang der Ereignisse eigentlich gehen wird. In dieser Überraschungssituation reagiert er dann ganz spontan. Er greift zwar zurück auf seinen Plan, sich als Phoker auszugeben [= Plan (3)], läßt es dabei aber vor Klytaimestra bewenden, obwohl sie ihm sogar angeboren hatte, sein sachliches Anliegen mit Aigisthos zu besprechen (Cho. 672f.), und greift zu einer vermeintlichen List: • Er berichtet (incognito) seiner Mutter, er habe von Strophios den Auftrag, in Argos den Verwandten den Tod Orests zu melden und nach dem gewünschten Be stat tu ng s or t zu fragen ( C h o . 6 74-6 90 ) . Mit diesem spontanen Schachzug hat sich Orestes, ohne daß der weitere Gang der Ereignisse schon absehbar wäre, eine günstige Ausgangsposition verschafft. Er untermauert überzeugend sein Incognito und schafft sich nachdem die Dinge nun schon einmal schiefgelaufen sind - mit der Nachricht von seinem Tod einen möglichen strategischen Vorteil, von dem zwar noch nicht absehbar ist, wie er sich auswirken wird, der ihm aber auf keinen Fall zum Nachteil gereichen wird. Orestes hat sich also erst einmal Luft verschafft. Klytaimestra reagiert, wie man es von einer Mutter erwarten konnte: • Die Mutter beklagt ihren Sohn (Cho.69169 9)52.

Klytaimestras Worte im Einzelnen geben keinen Anlaß, zu bezweifeln, daß ihre Klage als erste Reaktion durchaus aufrichtig ist. Sie vermutet sofort, daß nun auch Orestes das Opfer des Fluches geworden sei, der auf der Familie liege (Cho. 692-695), und bedauert, daß nicht einmal das Exil ihn hat bewahren können (Cho. 696-699).

52 Ich stimme mit Lloyd-Jones (Übers. 1970) II 48 und Garvie zu Cho. 691-9 darin überein, Klytaimestras Reaktion trotz ihrer Gefaßtheit ab Ag. 707ff. und dem Vorwurf der Amme, sie freue sich über die Nachricht (Ag. 737f.), nicht für .scheinheilig zu halten: Als Mutter ist sie zunächst schockiert - in tragischer Ironie sieht sie sogar den Fluch des Hauses am Werk später mag sie auch Erleichterung über das Ereignis empfinden.

222

III. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren‘ und den ,Eumeniden‘

Von jetzt an jedoch gerät Orestes in einen Ereignissog, den er gar nicht selbst kontrollieren kann: • Klytaimestra bittet Orestes und Pylades ins Haus und befiehlt einem Diener, sie in die Män n e r g em äc he r zu führen ( Ch o . 70 7-7 1 5 ) . • Zugleich faßt sie den Entschluß, die Nach¬ richt den Herrschenden (sc. Aigisthos: Cho.716) zu überbringen und, da sie keinen Mangel an Ereunden (sc. Aigisthos) habe, über das schicksalhafte Ereignis mit diesen zu beraten ( Cho.716-7 1 9 ). Damit sitzt Orestes nun zunächst einmal in einer Art von Falle. Er ist zwar weiterhin incognito, doch die Initiative, die in seinem Plan ausschließlich auf seiner Seite gelegen hatte, ist nun vollständig auf seine Gegner übergegangen. Klytaimestra hat ihn und Pylades ins Haus befördert, wird sich mit Aigisthos kurzschließen, und behält sich nun ihrerseits die weiteren Maßnahmen vor, während die beiden Ankömm¬ linge nur erwarten können, was auf sie zukommt. Besonders der Hinweis Klytaimestras auf die ,Herrschenden‘ im Haus und ihre ,Freunde‘ (Cho. 716-718) führt dem Zuschauer schlagartig vor Augen, daß sich die beiden jungen Männer in einem Palast, in dem ihre Gegner die Macht haben, in einer gefährlichen, wenn nicht aussichtslosen Defensive befin¬ den. Das Überraschungsmoment, das im Plan eine wichtige Rolle gespielt hatte, ist vollkommen verpufft. Doch die Handlung nimmt eine weitere, unverhoffte Wendung: Die Amme Orests tritt auf, die sich im Laufe ihrer Rede als loyale Freundin Orests und erbitterte Gegnerin Klytaimestras erweist. Sie hat vom Tod Orests gehört und klagt eindringlich um ihren Ziehsohn (Cho. 737-765). Die Ursache ihres Erscheinens gibt sie selbst gleich zu Beginn ihres Auftritts präzise an: •

Klytaimestra hatte die Amme geschickt, um Aigisthos, den sie offenbar nicht selbst erreicht hat, holen zu lassen, damit er die Nachricht ,von Mann zu Mann‘ entgegen¬ nehmen könne (Cho.734-738). Die Nachfragen des Chors enthüllen eine große Gefahr für Orestes, die sich in Cho. 716-718 bereits angedeutet hatte:

§4: Die Tat (Cho. 510-S69. 870-930) *

Aigisthos soll

223

mit einer Gruppe von

Speerträgern (als Leibwache) erscheinen (Cho.7 66-7 69 ). Bei dieser Mitteilung greift der Chor in einer für die griechische Tragödie ganz unerhörten Weise in die Handlung ein: •

Die Amme erhält vom Chor den veränderten Auftrag, Aigisthos solle allein, ohne Speerträger, kommen, um den Boten bei der Mel¬ dung keine Angst einzuflößen ( Ch o. 7 7 0-7 7 3 ). Nach kurzem Wortwechsel, im Zuge dessen der Chor die Trauer der Amme mit der Andeutung, Orestes sei noch nicht tot, zerstreut, willigt diese ein, den Auftrag des Chores auszuführen, und geht ab (Cho. 774782)53.

An diesem Punkt ist nun endgültig klar, daß die ihrem Ziel zustrebende Rachehandlung vollkommen an Orestes vorbeiläuft. Sein ursprünglicher Plan hat sich als wenig vorausschauend und reichlich naiv erwiesen. Darauf, daß Klytaimestra ihm entgegentritt, war er nicht eingestellt. Daß Aigisthos ständig von einer Leibwache von Speerträgern geschützt wird, hatte er überhaupt nicht bedacht. Selbst wenn sein Plan nicht von Klytaimestra durchkreuzt worden wäre, wäre er mit dem Problem der Leibwächter schwerlich fertiggeworden. Es war naiv von Orestes, zu glauben, er könne auf Aigisthos einfach zustürzen und ihn mit einem Handstreich erschlagen [Plan (5): Cho. 571-578]. Orests Problem ist nicht - wie er erwartet hatte - daß man ihn vor der Tür würde stehenlassen [Plan (3): Cho. 560-564], sondern im Gegenteil: es besteht jetzt darin, daß er plötzlich im Palast sitzt und eine Truppe Schwerbewaffneter im Begriff ist, sich auf den Weg zu ihm zu begeben. Gründlicher hätte Orests Plan nicht mißlingen können, und zwar nicht etwa, weil er von unvorhersehbaren Ereignissen überrollt worden wäre, sondern weil er in seinem Plan zwei naheliegende und vor allem entscheidende Parameter nicht bedacht hatte: die Existenz Klytaimestras und die Tatsache, daß 53 Die grundlegende Behandlung des Auftritts Kilissas hat Seidensticker (1982) 71-75 unter dem Horizont der Fragestellung geliefert, ob die Amme als Angehörige der .niederen Lebenswelt‘ eine (tragi-)komische Figur sei; er verneint dies zu Recht. Seine Darstellung wird jedoch der prag¬ matischen Einbindung des Auftritts nicht ganz gerecht, wenn er die Situation nach dem Eintritt des Orestes und des Pylades ins Haus folgendermaßen benennt: „Orests Plan ist gelungen“ (71), und die Abänderung der Botschaft als Abwendung der „plötzliche(n) Gefährdung des Racheplans“ (72) versteht. Der Plan ist mit dem Auftritt Klytaimestras längst gescheitert. Orestes hat sich in eine gefährliche Situation gebracht. Da werden der Chor und die Amme zu den alleinigen Trägern der Rachehandlung. Die pragmatische Rolle der Amme ist damit höher zu bewerten, als Seidensticker dies tut.

224

III. Die Konstruktion der Handlung in den .Choephoren' und den ,Eumeniden‘

Aigisthos als Herrscher durch seine Leibwache für ihn als Einzelperson praktisch unangreifbar ist^'·. Doch jetzt wird plötzlich eine Handlungsbewegung sichtbar, die die Rachehandlung auf einem ganz anderen Weg als dem von Orestes geplanten ihrem Ziel zuzuführen verheißt. Dadurch, daß Klytaimestra ihm als erste entgegengetreten war, hatte sich eine Situation ergeben, die das Herbeirufen des Aigisthos nötig machte. Dies wiederum ist erst die Ursache dafür, daß die Amme losgeschickt wird, ihn zu holen. Und dieser Umstand bietet schließlich erst die Gelegenheit für den Chor, Aigisthos durch die Manipulation des Auftrags an ihn so entscheidend zu schwächen, daß er von Orestes bezwingbar wird. Und genauso kommt es auch: • Aigisthos eilt allein herbei, will von den Boten mehr erfahren, wird vom Chor ins Haus geschickt und schließlich von Orestes im Innern des Hauses wehrlos getötet (Cho.838-854.869-871). Die Handlungsfolge, die zum Gelingen der ersten Etappe der Rache geführt hat, läßt sich also keineswegs als eine von Orestes konsequent vorangetriebene und zielstrebig durchgeführte Racheaktion beschreiben. Vielmehr wird dem Sohn Agamemnons ausgerechnet mit dem Auftritt Klytaimestras die Rolle als handlungstreibende Kraft genommen. Stattdessen wird Klytaimestra selbst zum Handlungsimpuls, der die folgenden Ereignisse in Gang setzt:

Eine Gruppe von Leibwächtern gehört offenbar zur normalen Ausstattung eines Herrschers; daß Orestes ohne Begleiter kommt, zeigt Cho. 675 (vgl. Garvies ausführliche Note z. St.).

§ 4: Die Tat (Cho. 510-869. 870-930)

225

SCHEMA 23: Die DURCHKREUZUNG VON ORESTS RACHEPLAN:

Orest faßt Racheplan_^ (V.554-584 Klyt. und Aig.’s Leib¬ wache unbe¬ rücksichtigt)

Orest klopft und verlangt nach Aigisthos (1. Schritt des Plans) (V. 653ff.)

Klytaimestra erscheint (gegen den Plan) (V. 668ff.]

Orest berichtet Klytaimestra vom Tod Orests (V. 680ff.) (statt Aig.)

Klytaimestra nimmt Orestes ins Haus auf (V. 712ff.)

I_

Unterbrechung des Handlungs¬ ganges

Klytaimestra Veränderung der schickt Amme Nachricht durch den zu Aigisthos, Chor (V. 766f.) um ihn zu holen (V. 732ff.)

Aigisthos geht ohne Leibwache ins Haus (V. 835ff.)

Aigisths Tod (V. 896ff.)

Wäre Klytaimestra Orestes nicht als erste entgegengetreten, hätte sie nicht die Amme schicken müssen, um Aigisthos zu holen; der Chor hätte nicht die Möglichkeit gehabt, Aigisthos zu ,entwaffnen‘; und dieser wäre schließlich nicht ungeschützt in den Tod gelaufen. Mit dieser Handlungskonstruktion ist ganz offensichtlich ein Muster wiederholt, das schon am Anfang des Stückes die erste Handlungssequenz bestimmt hatte: Klytaimestra schickt Spenden zur Besänftigung Agamemnons; dies gibt den Kindern erst die Gelegenheit, sich zu vereinigen; der Chor überredet außerdem Elektra, die Opfer für die Beschwörung Agamemnons gegen Klytaimestra umzuwidmen (s.o. Kap. III § 2). Das Ergebnis ist schließlich, daß das Opfer für das Gelingen der Rache an Klytaimestra und Aigisthos dargebracht wird und die Geschwister, die sich ohne Klytaimestras Befehl zum Opfern nicht von Anfang an hätten vereinigen können, gemeinsam mit dem Chor den Rachegeist Agamemnons gegen Klytaimestra und Aigisthos beschwören. Beide Male leitet Klytaimestra die Handlungskette ein, die sich am Ende gegen sie selbst wendet. Denn mit dem Tod des Aigisthos ist sie selbst nun ohne Schutz (vgl. Ag. 1434-1437, wo sie ausdrücklich Aigisthos als die unabdingbare Bedingung ihrer eigenen Sicherheit herausgestellt hatte). Und tatsächlich

226

///. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren‘ und den .Eumeniden'

Steht der Tötung Klytaimestras durch Orestes kein pragmatisches Hindernis mehr im Wege. Ein Diener alarmiert die Königin (Cho. 875884), sie erscheint, begreift sofort die Situation und verlangt nach einem Beil (Cho. 885-891). Orestes kommt ihr jedoch zuvor, stellt sie und bedroht sie als die Geliebte des Aigisthos ebenfalls mit dem Tod (Cho. 882-895). In diesem Moment greift Klytaimestra zu ihrer schärfsten Verteidigungswaffe; 896 έπίσχες ώ παΐ, τόνδε δ’ αΐδεσοα, τέκνον, μαστόν, προς ών σύ πολλά δή βριζών άμα ούλοισιν έξήμελξας εύτραφες γάλα. 896

„Halt ein, Sohn! Scheue, Kind, diese Brust, an der du oftmals einschlummemd mit deinem Zahnfleisch die wohlnährende Milch gesaugt hast!“

Klytaimestra appelliert damit an Orestes als Sohn und verweist mit dem Appell an Orests ,Aidos‘ (Cho. 896) gezielt auf das allgemein menschliche Tabu des Muttermords. Dem Sohn Orestes enthüllt sich nun - endlich! -, daß sein gesamter Racheplan darauf zulief, seine Mutter zu töten. Plötzlich wird ihm klar, daß er, ohne sich dem Problem zuvor wirklich gestellt zu haben, auf einen Muttermord zugearbeitet hat. Es folgt der berühmte ,Entscheidungsmoment‘ mit Orests Erage an seinen Gefährten Pylades: 899

Πυλάδη, τι δράσω; μητέρ’ αΙδεσθώ κτανεΐν; ,Pylades, was soll ich tun? SoU ich aus Scheu die Ermordung meiner Mutter unterlassen?“

Wiederum stellt sich den Interpreten die Problematik der Freiheit der Entscheidung. Ist Orests Scheu vor der Tat und seine Ratlosigkeit ein Indiz dafür, daß er vor einer ,echten* Entscheidung steht, die so oder so ausfallen könnte (τί δράσω;)?^^ Oder macht Pylades’ Antwort deutlich, daß es für Orestes - auch wenn er jetzt kurz vor der Tat zögert - keine Alternative zum Muttermord gibt?^^ 900

ποΰ δαι τα λοιπά Λοξίου μαντεύματα τά πυθόχρηστα, πτστά τ’ εύορκώματα; άπ(χντας εχθρούς των θεών ήγοΰ πλέον.

55 Prominente Vertreter dieser Deutung des Verses: Snell (1928), Garvie zu Cho. 899. 56 So z. B. V. Fritz (1962) 8-11, Rosenmeyer (1978) 13, Lesky (1972) 125 wiederum mit ,Doppellösung* (s. o. Kap. I § 1).

§ 4: Die Tal (Cho. 510-869. 870-930)

900

227

„Wo bleiben dann in Zukunft die pythischen Orakelsprüche und die Treue von Eiden? Alle halte eher für Feinde als die Götter!“

Ein unbefangener Blick auf die isolierte ,Etttscheidungsszene‘ scheint unmittelbar die erste Position nahezulegen. Orestes steht zwischen zwei Ansprüchen: Den Vater zu rächen oder die Mutter zu schonen. Er weiß, daß die Tötung der Mutter die Verletzung eines hohen Tabus bedeutet, Pylades weist ihn auf die hohe Autorität des delphischen Orakels hin. Doch wie wir bereits aus Orests Darstellung der Form des Orakels ge¬ sehen hatten, handelte es sich bei Apollons Orakel nicht um eine Vorher¬ sage der Zukunft, sondern um einen Befehl, für dessen Nichtbeachtung schlimme Strafen angedroht waren (s. o. Kap. III § 2). Schon damit war eigentlich klar, daß die Entscheidung bei Orestes lag. Auch Pylades’ Ant¬ wort enthält die gedachte Bedingung: ,Wenn du die Mutter schonst, wo bleiben dann ...?‘ Kurzum: Es existieren zwei Möglichkeiten, und im Entscheidungsprozeß wird die Autorität Apollons schließlich höher bewertet als die des Muttermordtabus. Damit ist die Entscheidung zugunsten des Muttermords gefallen. Der Entscheidungsvorgang, den wir hier bei Orestes miterleben konnten, entspricht damit vollkommen dem Entscheidungsvorgang, den wir an Agamemnon vor der Opferung Iphigenies beobachten konnten. Beide standen in Situationen mit konkurrierenden Ansprüchen, beide stellen explizit die Entscheidungs¬ frage (Ag. 211: xt τώνδ’ άνευ κακών; Cho. 899: τί δράσω;). Es ist ganz eindeutig: Die Entscheidung liegt bei ihnen. Beide könnten - zwar mit entsprechenden (furchtbaren) Konsequenzen - ihre Tat im Prinzip auch lassen. Doch hier wie dort fällt die Entscheidung nicht ohne Handlungskontext im luftleeren Raum. Im Falle der Opferung Iphigenies war leicht zu beob¬ achten, wie die Dynamik der Ereignisse insgesamt über den Mechanismus der Fortpflanzung der Qualität einer Handlung von Ursache und Wirkung ein Muster erzeugte, das auf die Tat zulief und das Agamemnon mit seiner Entscheidung weiterrealisierte (,deferred fatalism‘). Liegt ein solches Handlungs- und Ereignispattern auch über dem Geschehen der ,Choephoren‘? Blicken wir noch einmal zurück (vgl. zu den folgenden Ausführungen das beiliegende Handlungsschema II): Der erste Handlungsbogen nahm seinen Ausgang unmittelbar vom Tod Agamemnons. Orestes kommt, um seinen Vater zu rächen (Motive: Befehl Apollons; Rachepflicht des Sohnes; persönlicher Griff nach dem Erbe). Zu ihrem eigentlichen Ziel,

228

ίΙΙ Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren ‘ und den .Eumeniden ‘

der Vereinigung der Gegner der Mörder Agamemnons, gelangt die Handlung jedoch nur durch Initiierung einer zweiten Handlungslinie: Der tote Agamemnon selbst leitet über die Entsendung eines Traumes zu Klytaimestra eine Entwicklung ein, in der Klytaimestra gegen ihre Inten¬ tion und gegen ihre eigenen genuinen Interessen der Gegenseite zuarbeitet und damit selbst zum Instrument ihrer eigenen Vernichtung wird. Ihr Handeln führt natürlich nicht nur dazu, daß das Opfer nicht für, sondern gegen sie erfolgt, sondern auch, daß die ,Beschwörungsszene‘ der drei ,Verschwörer‘ überhaupt stattfindet. Die pragmatische Wirkung dieser Beschwörungsszene hatten wir bislang offenlassen müssen. Scheinbar war die Wirkung vollkommen ausgeblieben. Orestes, Elektra und der Chor machen sich mit frischer Entschlossenheit ans Werk - einer Entschlossen¬ heit, die sie zwar allesamt auch vor der Beschwörung schon hatten, die aber durch den Ritus durchaus eine gewisse Festigung erfahren haben muß (vgl. Cho. 512). Man ist zuversichtlich, daß die Rache gelingen wird. Der ,Versuch des Daimon‘ hat Aussicht auf Erfolg (Cho. 513). Doch worin gründet sich diese Zuversicht? Agamemnon erscheint nicht. Folgt er überhaupt der Bitte des Kommos und wirkt an der Durchführung der Rache mit? - Eine Antwort auf diese Frage gibt nun in der Tat die Struktur der Handlung, die auf den Entscheidungsmoment (Cho. 899) zuläuft. Wir haben bereits gesehen, daß der Plan, den Orestes aus eigener Kraft und nach seiner eigenen Einschätzung der Situation schmiedet, der wirklichen Lage nicht im geringsten Rechnung trägt. Der Plan ist zu einer erfolgreichen, umfassenden Durchführung der Rache ungeeignet. Wäre alles nach Orests Plan verlaufen, wäre die Aktion spätestens an der Leibwache des Aigisthos gescheitert. Doch es kommt anders. Ausgerech¬ net Klytaimestra durchkreuzt den geplanten Racheverlauf und setzt damit eine Entwicklung in Gang, die den Erfolg der Rache und letzten Endes ihren eigenen Untergang erst ermöglicht. Damit liegt nun aber der dramatische Sinn der Diskrepanz zwischen dem Plan Orests und dem realen Ablauf der Rache endgültig offen. Die Gesamthandlung folgt einem Muster, das auf die Rache an den Mördern zuläuft. Das Frappierende dabei ist, daß Orestes nicht die intentional treibende Kraft in der Handlung ist, die in die Rache mündet. Es scheint, als geriete ausgerechnet durch Klytaimestra (als das vom Fluch gleichsam ,ausersehene‘ Opfer) mit ihrem Auftritt (Cho. 668) - auch ohne daß sie es selbst intendiert hätte - die Handlung auf die ,richtige' Bahn zum Ziel, das ansonsten verfehlt worden wäre.

§ 4: Die Tat (Cho. 510-869. 870-930)

229

Dieser Befund legt nun eine Deutung der Handlung der ,Choephoren‘ nahe, die zahlreiche Probleme der Forschung bei der ,Choephoren‘Interpretation zugleich löst: (1) In welchem Zusammenhang steht die Beschwörung Agamemnons im ,Kommos‘ zum folgenden Geschehen? Reagiert Agamemnon oder anders ausgedrückt: Hat die Beschwörung eine pragmatische Konsequenz? (2) Welche pragmatische Bedeutung hat die Diskrepanz zwischen dem Racheplan und seiner Ausführung? (3) Welche Stellung nimmt Orests Verhalten - von der Planung bis hin zu der ,Entscheidung‘, seine Mutter zu töten - im pragmatischen Gesamtkon¬ text der Rachehandlung ein? Welche pragmatische Qualität hat seine Ent¬ scheidung? Es dürfte in der Analyse der Handlungsstruktur der ,Choephoren‘ deutlich geworden sein, daß das Stück selbst im Medium seines ,Plot‘ eine geschlossene Antwort auf alle drei Eragen gibt: Orestes ist von Beginn des Stückes an bis zu seiner ,Entscheidung‘ (Cho. 899) konstant derjenige, der - von Apollon gedrängt und seinem eigenen Antrieb folgend - Schritt für Schritt alle ihm richtig erscheinen¬ den Maßnahmen zur Durchführung der Rache ergreift (Gebet an Hermes: Cho. 1 ff; Beschwörung des Geistes Agamemnons mit der Bitte um Hilfe: Cho. 306-509; Planung der Tat: Cho. 554-582; Beginn der Ausführung: Cho. 652ff.). Noch am Ende seiner Planungen hatte Orest seine Ma߬ nahmenliste mit dem Wunsch geschlossen: 583

τά δ’ άλλα τούτωι δεϋρ’ έποπτεϋσαι λέγω ξιφηφόρους αγώνας όρθώσίχντί μοι.

583

„Was das übrige betrifft, so sage ich diesem hier, hierher seinen behütenden Blick zu richten und für den Schwertkampf mir Erfolg zu geben.“

Die Forschung ist sich uneinig darüber, wer mit τούτωι „diesem hier“ gemeint isP"^. Mir scheint es im Lichte des Kommos jedoch sinnvoll, daß Orestes sich noch ein letztes Mal im Sinne des Kommos an seinen Vater wendet (indem er auf das Grab zeigt und mit τούτωι auf den Geist in ihm verweist). Wenn dies richtig ist, hätte Orestes zum Abschluß der Exposition seines Planes das Gelingen desselben explizit seinem Vater Eine vollständige Liste aller gemachten Vorschläge (Pylades, Apollon, Hermes, Agamem¬ non) mit Argumenten pro und contea bei Garvie zu Cho. 583^. Nach kritischer Durchmusterung der Möglichkeiten bleiben nur Hermes, der durch eine Statue am Palast repräsentiert wäre, auf die Orestes hier verweisen könnte (so u. a. Garvie selbst), und Agamemnon, der durch das Grab repräsentiert wäre (so u. a. Blass, Mazon z. St., Fraenkel III p. 491 Anm. 1; Taplin [1977] 339 Anm. 3; Lloyd-Jones [Übers. 1970] II p. 42).

230

III. Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren ‘ und den ,Eumeniden ‘

anempfohlen. Nun gelingt die Rache am Ende - wie wir gesehen haben aber nur dadurch, daß der Plan mißlingt, d. h. obwohl Orestes seine Operation nach einem schlechten, zur Erreichung des Ziels untauglichen Plan in Angriff nimmt, kommt es zu dem erstrebten Ergebnis. Dies liegt offensichtlich daran, daß das Geschehen dem handelnden Orestes entgleitet und plötzlich seine eigene Dynamik entwickelt. Mit dem Auftritt Klytaimestras (Cho. 668) verläßt die Handlung das von Orestes im Plan autorita¬ tiv vorgegebene Muster und degradiert ihn vom agierenden, die Handlung allein bestimmenden Akteur, zum reagierenden Mitspieler in einem kom¬ plexen Geschehen. Denn Orests zweiter Schritt, die Fingierung der Todesnachricht (Cho. 674-690), ist nur noch seine spontane Reaktion auf die überraschende Durchkreuzung des ursprünglichen Planes, die durch das Erscheinen Klytaimestras erfolgt. Diese Reaktion stellt zwar auch einen Beitrag am Geschehen bei, der mit dazu führt, daß die Rache gelingt. Doch Orests Handeln ist nur noch ein Faktor unter vielen Faktoren, die der Kontrolle des ursprünglich scheinbar so autonomen und selbstbestimmten jungen Mannes entzogen sind. Es sind ganz andere ,Handlungen‘, die dem Rächer schließlich die Mörder seines Vaters zuführen; Klytaimestra schickt die Amme, um Aigisthos zu holen (Cho. 734ff.), und gibt so dem Chor die Gelegenheit, Aigisthos seiner Leibwache zu entledigen (Cho. 770-773), was schließlich ihn (Cho. 869-871) und auch sie selbst zu Fall bringt (Cho. 930/973). Von der Erfindung der Todesnachricht (Cho. 674) bis hin zum Eintritt des Aigisthos ins Haus (Cho. 854) - also über fast 200 Verse - läuft die Handlung, die schließlich zum Erfolg führen wird, dabei vollkommen an Orestes vorbei. Sämtliche Beteiligten - allen voran Klytaimestra - ,weben‘ mit ihren jeweiligen Handlungen an einem Gesamtgeschehen, das sein gleichsam natürliches Ziel im Gelingen der Rache an den Mördern Agamemnons findet, ohne daß das Gesamtgeschehen als Ganzes der Wirkungsmacht des/der Einzelnen mit seiner/ihrer Handlung zugänglich wäre. Daß die Mörder am Ende zu Tode kommen, ist ironischerweise offensichtlich ebenso das Werk Klytaimestras (und der Amme und des Chores) wie das Orests. Erst das Handeln aller Beteiligten zusammen erzeugt jene Gesamtstruktur der Handlung, die vom Tod Agamemnons zum Tod seiner Mörder führt. Die einzelnen Elemente dieser Gesamthandlung sind durchaus Handlungen freier Individuen, die jeweils auch anders hätten handeln können (Orestes hätte den Befehl Apollons ignorieren können, Klytaimestra hätte sich an ihre Rolle als Frau halten und die Begrüßung

§ 4: Die Tat (Cho. 510-869. 870-930)

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von Fremden anderen überlassen können, usw.). Doch das UrsacheWirkungsgeflecht, das entsteht, wenn sie miteinander in Wechselwirkung treten, organisiert sich zu einem Muster, das eine überindividuelle Wirkungsmacht entfaltet, die ihre eigenen Ziele setzt und - vor allem findet. Mit dieser Analyse ist nun nicht nur Licht auf die pragmatischen Gründe und das Wesen der Diskrepanz zwischen Plan und Ausführung geworfen, sondern zugleich auch die Frage nach den pragmatischen Folgen des Kommos beantwortet. Es ist offensichtlich, daß das GesamtHandlungsmuster, das zum Tod der Mörder geführt hatte, trotz der grundsätzlichen ,Freiheit‘ jeder Einzelhandlung jenseits des Zugriffs des einzelnen Handelnden gelegen hatte. Und es war Klytaimestra, die zweimal im Stück gerade jene Handlungsketten angestoßen hatte, die ihren eigenen Untergang eingeleitet hatten. Im ersten Fall kam der Impuls in der Form des Traumes direkt von Agamemnons Geist (Cho. 41 ff. etc.). Doch auch die Rachehandlung selbst wird von ihr angestoßen (Cho. 668ff.). Was liegt da näher, als daß sich in eben dieser Rachehandlung das Wirken des Rachegeistes Agamemnons offenbart. Der Geist Agamem¬ nons, den Orestes noch nach der Aufstellung seines Racheplanes um Hilfe beim Gelingen der Tat gebeten hatte (Cho. 583f.), hat gute Arbeit geleistet. Dabei ist es jedesmal Klytaimestra, die die unheilvollen Ereignis¬ ketten in Gang setzt. Es scheint deutlich. In ihr wirkt der Rachegeist! Dies entspricht überraschenderweise voll und ganz der offen ausgesprochenen Rolle, die sie bereits im ,Agamemnon‘ gespielt hatte. Auch dort war sie schon als ,Agentin‘ des Fluches im Hause der Atriden bei der Ermordung Agamemnons aufgetreten (Ag. 1497ff. 1508f.). Diese Rolle behält sie auch jetzt bei - diesmal zu ihrem eigenen Verderben^«. Gleichwohl hoffe ich, gezeigt zu haben, daß das Wirken des Rachegeistes bzw. - wenn wir den Blick auf den Gesamtzusammenhang der Ereignisse vom Thyestesmahl bis zum Tod Klytaimestras richten des Fluches nicht allein in der Rekrutierung einzelner ,Agenten‘ liegt, sondern in der Erzeugung eines individuellem Handeln entzogenen Ge¬ schehenszusammenhanges, der im Medium menschlichen Agierens eine eigene Sinnstruktur stiftet, die - wie gesagt - ihr Ziel sucht und findet. Es ist nicht ohne (tragische) Ironie, daß es Klytaimestra ist, die bei der Nachricht von Orests Tod den Fluch des Hauses am Werke sieht (Cho. 692).

58 Zu ihrem Wirken in den ,Eumeniden‘ (Eum. 93ff.) s. u. Kap. III § 7.

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III. Die Konstruktion der Handlung in den .Choephoren ‘ und den ,Eumeniden ‘

Mit dieser Interpretation ist nun auch das Wesen der Tat des Orestes geklärt. Er ist nicht ein Agent des Rachegeistes. Sein Handeln steht zwar unter gewissen Zwängen wie dem Befehl Apollons, ist aber grundsätzlich frei. Von der Vorbereitung der Tat bis hin zu seiner Entscheidung gegen den Ungehorsam gegenüber Apollon und für den Muttermord. Als solches wird dieses Handeln sehr bald auch gravierende Konsequenzen für ihn haben. Gleichwohl ist es - wie das Handeln Agamemnons - Teil eines Ge¬ samtzusammenhangs, der mit einer gleichsam immanenten pragmatischen Dynamik eigenen Zielen zustrebt. Der Fluch des Hauses, dessen Wirken Aischylos dem Zuschauer als Logik dramatischer Ereigniszusammenhänge vorführt, ist eine starke Macht.

§ 5

Die Wurzeln des ,Plot‘ der ,Eumeniden‘ in den ,Choephoren'

Wie im Übergang vom ersten Stück der Trilogie, dem ,Agamemnon', zum zweiten, den ,Choephoren', hat auch das dritte Stück die Wurzeln seines ,Plot' im vorhergehenden. Dies gilt nicht nur in dem selbstver¬ ständlichen Sinne, daß die Ermordung Klytaimestras durch Orestes in den ,Choephoren' die Ursache für die Verfolgung Orests in den ,Eumeniden' darstellt, sondern auch deshalb, weil das folgende Stück bereits in nuce im vorhergehenden präfiguriert ist. In derselben Weise, in der im ,Agamem¬ non' unmittelbar vor der Katastrophe bereits die Rache für Agamemnon und Kassandra an Klyaimestra und Aigisthos durch Orestes, und damit die Katastrophe der ,Choephoren', als zukünftige, also absehbare und notwendige Folge der bevorstehenden Tat vorausschauend herausgestri¬ chen wird59, so erscheint auch - nach eben diesem Muster - gleichsam das gesamte Themenarsenal der ,Eumeniden' unmittelbar vor der Ermordung Klytaimestras im letzten stichomythischen Wortgeflecht zwischen Mutter und Sohn: 1) Das Problem der Schicksalhaftigkeit der Vorgänge (Cho. 910f.: ή Μοίρα τούτων ... παραιτία). 2) a) Ehebruch der Frau vs. Ehebruch des Mannes (Cho. 917f.). b) Los der Frau vs. Los des Mannes im Krieg (Cho. 919-921). 3) Muttermord vs. Rache für den Vater (Cho. 922f.).

s.

0.

Nämlich durch Kassandra: Ag. 1279-1284; später vom Chor aufgegriffen Ag. 1646. 1667; Kap. III § 1.

§ 5: Die Wurzeln des ,Plot' der ,Eumeniden‘ in den .Choephoren'

233

Dieser Katalog von Themen (Frage der persönlichen Schuld; das Ge¬ schlechtsproblem ,Frau VS. Mann‘; die Frage des schlimmeren Ver¬ brechens: Muttermord oder Rache für den Vater) wird das Leitmotiv aller Auseinandersetzungen in den ,Eumeniden‘ bilden (s. u. Kap. III § 8). Schließlich aber kommt auch die unmittelbare pragmatische Folge der Tötung Klytaimestras bereits vor ihrer Ausführung zur Sprache: 924

ΚΛ.

δρα, φύλ(χξαι μητρός έγκότους κύνας. „Sieh, hüte dich vor den grollerfüllten Hunden der Mutter^®!“

Auch hier ist also bereits vor der Tat klar, was aus ihr folgen wird, oder — anders ausgedrückt - daß die Tat vorhersehbar die Ursache eines bestimmten weiteren Geschehens sein wird, nämlich der Handlung des folgenden Stückes: der Verfolgung Orests durch die Erinyen. Die Antwort Orests nimmt dann auch noch die zweite Handlungs¬ komponente der ,Eumeniden‘ vorweg: 925

OP.

τάς τού πατρός δε πώς φύγω πάρεις τάδε; „Und wie entkomme ich denen des Vaters, wenn ich diese Tat hier unterlasse?“

In diesen beiden Versen (Cho. 924f.) ist nicht nur ,die Tragik des Orestes zusammengefaßt‘^‘, sondern sie verweisen zudem direkt auf ein wesent¬ liches Handlungsmoment des nächsten Stückes. Orestes wurden nämlich die Qualen, die ihm bei Nichtbefolgung der Rachepflicht gedroht hätten^^ und die er hier als τάς τοΰ πατρός (sc. κύνας) benennt, in einem Orakel Apollons lebhaft vor Augen geführt. Eben dieser Apollon hatte auch aus den drohenden Konsequenzen einer Unterlassung der Rache seinen Befehl an Orestes, die Mörder des Vaters zu töten, abgeleitet (Cho. 269ff.)^L Und genau dieser Befehl ist es, der den Gott in den ,Eumeniden‘ zum Gegenspieler der Erinyen Klytaimestras machen wird. Er wird die Verantwortung, die er mit seinem Befehl übernommen hat.

^ D. h. den Erinyen als den Rachegeistem. Daß mit den ,Hunden der Mutter' die Erinyen als die Rachegeister Klytaimestras gemeint sind, muß jedem Zuschauer sofort klar sein. Als Hunde werden die Erinyen nicht nur im folgenden bezeichnet (Cho. 1054. Eum. 131f. 231. 246; vgl. schon Ag. 135, als Jagende Eum. 111-113. 147f.), sondern die Metapher ist auch allgemein verwendet: neben Wüst, RE Suppl. VIll (1956) s. v. ,Erinys‘ Sp. 127; vgl. auch Visser (1980) 152f. - Vom κότος der Erinyen s. u. S. 269 (mit Belegstellen). So stellvertretend für viele Garvie zu Cho. 925. Cho. 269-297, bes. 283ff. - Neben Cho. 273: εΐ μή μέτειμι ... und Cho. 298: κεί μή πέποιθα ... ist Cho. 925: πάρεις τάδε somit eine weitere Stelle (siehe auch unten Cho. 1032: παρέντα), aus der klar hervorgeht, daß Orestes seine Tat auch unterlassen könnte. Siehe Kap. II § 2.

234

in. Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren' und den .Eumeniden'

für Orestes wahmehmen^'*. Insofern ist also das stichomythische Verspaar Cho. 924f. nicht nur ein letztes Beharren der Kontrahenten der , Choephoren ‘ vor der Katastrophe, sondern gibt in nuce auch die beiden Handlungsimpulse vor, die die Handlung von der Katastrophe der ,Choephoren' aus in den Konflikt der ,Eumeniden' hineintreiben wird. Beide Impulse werden noch in den ,Choephoren' realisiert. Nach der selbstbewußten Legitimierung der eigenen Tat (Cho. 973-1006), der bangen Ahnung des Chores, daß auf die Tat Unheil folgen werde, (Cho. 1009: εέ· μίμνοντι δε και πάθος άνθει ,für den Überleben¬ den aber blüht auch Leid') und nochmaligem trotzigem Beharren Orests auf der Rechtmäßigkeit der Rache (Cho. 1010: OP. έδρασεν ή οΰκ έδρασε; ,Hat sie es nun getan oder hat sie es nicht getan?')65 folgt bereits schnell die erste, von Klytaimestra schon angedrohte Konsequenz: Orestes wird von Wahnsinn ergriffen (Cho. 1021 ff.). Daß dies das einsetzende Wirken der Erinyen Klytaimestras signalisiert, ist klar^^. Damit ist der erste, aus dem Muttermord folgende Handlungsimpuls für das nächste Stück gegeben: • Die Erinyen bedrängen Orestes ( Cho.102 1 ff.) . In einer kurzen ,Wahnsinnspause' wiederholt Orestes noch einmal die Rechtmäßigkeit seiner Rache und beruft sich auf Apollon. Mit dieser Berufung ist nun das Eeld für den zweiten Impuls geebnet: • Apollon hat Orestes befohlen, als αλήτης nach Delphi zu fliehen, um sich dort durch ihn von der Blutschuld reinigen zu lassen (Cho.10291043 ). Schließlich wird Orestes vollends von den Erinyen ergriffen (Cho. 1048ff.). Nur er kann sie sehen (Cho. 105If.). Das verleitet den Chor zu der Vermutung, das Blut der Mutter habe Orestes in Wahnsinn versetzt (Cho. 1055ff.). Orestes wird weiter bedrängt und stürzt zur Entsühnung nach Delphi davon (Cho. 1057ff.).

^ Vgl. Eum. 199f. zur Schuldfrage, die von den Erinyen signifikanterweise als Urheber- bzw. Ursachen-Problem formuliert ist: Apollon ist an allem schuld (αΐ'Π,ος)! Ich schließe mich der Position der jüngeren Interpreten an, daß Orestes hier nicht an der Täterschaft Klytaimestras zweifelt (so u. a. Wilamowitz [1914] 215), sondern selbstbewußt die Rechtmäßigkeit der eigenen Tat mit dem Argument der objektiven Täterschaft Klytaimestras bekräftigt (so nach Brown [1983] 16, zuletzt auch Garvie zu Cho. 1010). Zum Wahnsinn als Wirkungsart der Erinyen s. o. Cho. 288 mit Wüst, RE Suppl. VllI (1956) s. V. ,Erinys‘ Sp. 89, 17ff. 27ff. (zu Λύσσα und Μανία als verwandten Wirkungs¬ kräften) sowie Sp. 113, 57ff.

§ 5: Die Wurzeln des ,Plot‘ der ,Eumeniden‘ in den ,Choephoren‘

255

Die Sichtbarkeit der Erinyen für Orestes einerseits und ihre Unsichtbarkeit für den Chor und den Zuschauer andererseits^’, stellt als Übergang von den ersten beiden Stücken der Trilogie zum letzten sowohl rückblickend als auch vorausschauend ein deutliches Signal der Ver¬ änderung dar. Wenn man die rein psychologische Deutung der Erinyen als der im Wahnsinn sich äußernden Gewissensbisse des Täters beiseite läßU*, so ergibt sich im Spektrum der Erscheinungsformen der Erinyen in der gesamten Orestie ein interessanter Übergang^^: Wenn von den Erinyen (oder der Erinys) als Rachegöttinnen im ,Agamemnon* die Rede ist, so strafen diese Göttinnen — mit einer Ausnahme — niemals in personis den Übeltäter mit Wahnsinn, sondern sie sind als Rächerinnen von Unrecht gleichsam ,Chiffren* für den weit- und handlungsimmanenten Vollzug der Rache durch die Geschädigten oder ihre Stellvertreter selbst™. Dasselbe gilt für die ,Choephoren*’k An zwei Stellen wird dieses Chiffre-Muster verlassen, und die Erinyen treten als personenhafte Gestalten vor das geistige Auge des Zuschauers. Kassandra ist die erste, die im ,Agamemnon* die Erinyen im Zuge ihrer seherischen Enthüllung

Ich folge der jetzt allgemein anerkannten Prämisse, daß weder ein weiterer Chor auftritt, den nur der Chor der Dienerinnen nicht sieht (so zuerst Müller [1833] 73, zuletzt Whallon [1980] 91), noch Orestes den Chor für Erinyen hält (so Verrall zu Cho. 1048), sondern Orestes tatsächlich die Erinyen gleichsam als .Wahnvorstellung“ sieht. Der Chor hält sie für δόξαι (Cho. 1051), Orestes besteht auf ihrer Realität (Cho. 1053f.). Zum ersten Mal deutlich als Problem erkannt und behandelt von Brown (1983) 18f. So u. a. Wilamowitz (1914) 251; von Brown (1983) 19 mit dem überzeugenden Argument zurückgewiesen, daß Orestes bei Aischylos weder vor noch nach der Tat irgendwann ein Schuld¬ bewußtsein oder Reue für seine Tat empfinde. Die .Erinyen“ als Metapher für das schlechte Gewissen sind erst seit Eur. Or., bes. 395ff. belegt (s. Garvie zu Cho. 973-1076 p. 318). Für die Untersuchung der Fortführung des ,Plot“ des .Agamemnon“ und der .Choephoren“ genügt es vorläufig, von den Erinyen als .Rachegöttinnen“ allgemein zu sprechen. Für die Frage der Konstruktion der Handlung ist die nähere Charakterisierung der Erinyen, die die Religions¬ wissenschaft nuancenreich geleistet hat, zunächst hier nicht relevant. Dazu siehe neben den Standard-Informationsquellen wie Wüst, RE Suppl. VllI (1956) s. v. .Erinys“ Sp. 82-166; Visser (1980); Brown (1984) 260-281; Podlecki p. 6-8; Sommerstein p. 6-12; zur Ikonographie: LIMC III 1 p. 825-843. III 2 p. 595-606 s. v. .Erinys“; neuerdings vor allem Lloyd-Jones (1990) 203211; Henrichs (1991) 161-201; ders. (1994) 27-58. -Näheres s. u. S. 251f. 270f. Die Erwähnung von Erinyen in verschiedenen Verbindungen im .Agamemnon“ erfolgt als Chiffre für .Rache“ eines Geschädigten an seinem Schädiger: Ag. 59: Rache der Geier an den Nesträubern = Rache der Atriden an Paris (s. o. Kap. II § 4); Ag. 645: Rache der Griechen an Troia; Ag. 749: Rache der Griechen an den Priamiden; Ag. 993: Ahnung des Chors von der baldigen Rache Klytaimestras an Agamemnon; Ag. 1433; Rache Klytaimestras an Agamemnon; Ag. 1579; Rache des Aigisthos an Agamemnon. Insignifikant im Sinne eines Rächer-VerbrecherMusters sind Ag. 465 und 1119. So Cho. 402 allgemein, gemeint ist aber Orests Rache an Klytaimestra für den Tod Agamemnons; Cho. 577: Orests Rache an Aigisthos; Cho. 652; Orests Rache an den Mördern des Vaters.

236

///. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren‘ und den .Eumeniden'

der unheilvollen Ereignisse im Haus des Atreus als personale Gestalten faßt. Sie wollen nicht aus dem Haus weichen, berauschen sich wie ein Komos am Blut (der Opfer), singen vom Ehebruch des Thyestes und speien auf den Ehebrecher aus (Ag. 1186-1193). Kassandra meint damit wie der Chor und auch jeder Zuschauer sogleich versteht -, daß seit dem Ehebruch die Vergeltung eingesetzt hat: Atreus tötet die Thyesteskinder, Agamemnon tötet Iphigenie, Aigisthos und Klytaimestra töten Agamemnon^2 Die religiöse Sprache der Seherin faßt in ihrer Beschreibung die konkreten, bislang als reale Handlungen von Menschen in der mensch¬ lichen Erfahrungswelt zu erlebende Verbrechen als ,Fest der bluttrinken¬ den Erinyen*. Ebenso beschreibt auch der Sehergott Apollon in den ,Choephoren‘ die Gefahr, die auf Orestes wartet, wenn er die Rachetat unterläßt, als konkrete Bedrohung der Erinyen als leibhaftiger Wesen und nicht etwa als Gefahr, seinerseits aus Rache von einem Menschen getötet zu werden (Cho. 269ff., bes. 283ff.)^3 Es scheint, als existierten bereits in den ersten beiden Stücken konkurrierende Vorstellungen vom Wirken der Rachegöttinnen: im immanenten Weltgeschehen als menschlicher Handlungszusammenhang einerseits und andererseits als eigene göttliche Kraft, die direkt auf das betreffende Opfer wirkt. In Anbetracht der beiden ,Gewährsleute* für die personale Beschreibung der Erinyen liegt es nahe, mit Brown zu vermuten, daß die Seherin und der Gott die Fähigkeit besitzen, einen ,anderen* Blick auf die Wirklichkeit zu tun als die ,normalen* Menschen, die nur den Ablauf des Weltgeschehens in ihrer Faktizität sehen können^“*. Daß ein Gott dies vermag, ist selbstverständlich. Der Seherin öffnet sich der Blick im mantischen ,Wahnsinn* (vgl. Ag. 1140: φρενομανής). Und ,Wahnsinn* ist es auch, was Orestes einen Blick öffnet, den der Zuschauer und der Chor (noch) nicht haben (Cho. 1021 ff.). Ich würde dieses Phänomen nicht als Überdeterminierung von Ereig¬ nissen, die ihre eigenen (natürlichen) Ursachen haben, durch zusätzliche

In diesem Sinne ist es auch nicht verwunderlich, daß die Erinyen seit dem Ehebruch des Thyestes im Hause sitzen. Mit dem Mord an den Thyesteskindem begann die blutige Vergeltungs¬ kette (vgl. Ag. 1188f.); von da an waren die Erinyen da (s. o. Kap. II § 4 Anm. 125). Was in Orests Eall im übrigen auch widersinnig wäre: Apoll droht die Verfolgung durch die Erinyen für den Fall der Ignorierung der Rachepflicht an. Sonst befallen die Erinyen gemeinhin die Mörder (vgl. die pointierte Gegenüberstellung Cho. 924/925). Harmonisieren läßt sich dieser scheinbare Widerspruch mit der Vorstellung, daß die Erinyen häufig - und vor allem in der Orestie - als die Flüche der Ermordeten gedacht sind, die um jeden Preis nach Vergeltung streben (vgl. Eum. 417 mit Sommerstein und Podlecki z. St.; vgl. auch Wüst, RE Suppl. VIII [1956] s. v. ,Erinys‘ Sp. 116, 53ff.). ^4 Brown (1983) 14.

§ 5: Die Wurzeln des ,Plot‘ der .Eumeniden' in den ,Choephoren‘

237

übernatürliche Intervention beschreiben, wie Brown es tut^^, sondern als Überlagerung zweier verschiedener Blickweisen auf die Realität. Der ,Fluch , wie wir ihn als rein ,strukturelles‘ Moment der Wirklichkeit im , Agamemnon ‘ und den ,Choephoren‘ bestimmt hatten, ist als überindividu¬ elle Wirkkraft in den Handlungen von Individuen für den normalen Men¬ schen nicht wahrnehmbar. Als Beteiligtem oder als unmittelbarem Zuschauer (auch als ,miterlebendem‘ Zuschauer im Theater) wird einem jede Handlung als aus ihrer unmittelbaren, weltimmanenten Ursache sich ergebend und gemeinhin als frei erscheinen (s. o. Kap. II § 4 und Kap. III § 3/4). Erst im abstrakten Muster des Gesamtpatterns erkennt der analysierende Betrachter eine überindividuelle Wirkungsmacht. Der geöffnete Blick der im Wahn befindlichen Seherin und erst recht der Gott vermögen diese Macht auch im Einzelereignis zu erkennen. Diese Einsicht in die die Welt treibenden Kräfte erfährt als erstes ,Opfer‘ Orestes, indem diese Kräfte unmittelbar auf ihn wirken (Wahnsinn) und sich so zugleich ihm offenbaren (Cho. 1021ff.). Diese Sichtbarwerdung wird zu Beginn der ,Eumeniden‘ sukzessive fortgesetzt^^. Zunächst ist es wiederum eine Seherin, die die Erinyen als konkrete Wesen gesehen hat und die sie nach ihrem Wiederauftritt monologisierend beschreibt (Eum. 34ff.). Doch dann geschieht der ent¬ scheidende Wechsel: Auch der Zuschauer kann sie plötzlich sehen, nach¬ dem der Blick auf das Innere des Tempels freigegeben ist. Es geht also offenbar im letzten Stück der Trilogie nicht um die dramatische Darstel¬ lung der Wirkungen dieser Mächte im Geschehenszusammenhang der Welt, wie es in den beiden ersten Stücke der Fall gewesen war, sondern um eine Dramatisierung einer hinter oder über den Erscheinungen liegenden WirklichkeiF^. Die Vorbereitung des ,Plot‘ der ,Eumeniden* in den ,Choephoren‘ läßt sich somit folgendermaßen schematisch zusammen¬ fassen:

Brown (1983) 14ff. Den Übergangscharakter von Kassandras Beschreibung (Ag. 1186-1193) über Apollons Ausmalung (Cho. 283ff.), Orests Wahnsinn (Cho. 1021 ff.), Pythias Beschreibung (Eum. 34ff.) bis zur Offenbarung der Erinyen für den Zuschauer (Eum. 63/64) hat Brown grundlegend entdeckt und beschrieben; ihm folge ich in der Bewertung der Signifikanz des Wechsels vom Unsichtbaren zum Sichtbaren: Brown (1983) 22-24. Ich hoffe, daß bereits diese wenigen Bemerkungen genügen, um deutlich zu machen, daß es sich bei den .Eumeniden* nicht um eine .innere Vision* des Ore.stes handelt (so zuletzt immer noch Konishi [1990] 207. 210ff. passim), sondern um die in handelnde Charaktere umgesetzten Mechanismen, die in realweltlichen Ereigniszusammenhängen wirken.

2S8

UI. Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren ‘ und den .Eumeniden ‘

SCHEMA 24: Der Keim der Handlung der ,Eumeniden‘ in den , Choephoren

als Rache für den ^Vater (Cho. 909/ /^925 etc.) Klytaimestras Tod als Muttermord (Cho. 912/924)

Orestes von Apollon ■>· nach Delphi zur Ent¬ sühnung geschickt (Cho. 1034ff.)

Orestes stürzt davon (Cho. 1063)

Orestes von den Erinyen gejagt (Cho. 1021ff.)

§ 6 Die neue Qualität der ,Eumeniden‘ Mit dem Wechsel der soeben beschriebenen ,Repräsentationsebenen‘ weg von der Darstellung von Handlung und Handelnden in dem allerengsten Sinne, d. h. von zum Mythos verdichteter menschlicher Handlung, in den ersten beiden Stücken hin zur dramatischen Darstellung von in der Welt wirkenden (gemeinhin im menschlichen Handeln wirksamen, aber unsicht¬ baren) Mächten im letzten Stück gewinnt auch die Problematik des ,Plot‘ eine neue Qualität. Wenn jetzt die Erinyen im Übergang von den ,Choe¬ phoren' zu den ,Eumeniden' als personale Mächte zu selbständig Handeln¬ den werden, so bedeutet dies nicht weniger, als daß ein zuvor lediglich strukturell dem menschlichen Handlungs- und Geschehenszusammenhang immanentes Moment zu einem aktiven und selbständigen Handlungsträger wird. Einen solchen Ebenenwechsel hatte es bislang lediglich im visio¬ nären Bericht Kassandras (Ag. 1186-1193) gegeben. Was die Seherin dort als blutiges ,Fest der Erinyen' beschreibt, ist handgreiflich die religiöse Formulierung für die vielen Vergeltungsmorde im Hause der Pelopiden: das Ausspeien der Erinyen auf den Ehebrecher Thyestes (Ag. 1192f.) ist in concreto nichts anderes als der Mord des Atreus an den Kindern des Thyestes zur Vergeltung des Ehebruchs’*, und die Fortsetzung der Ver¬ geltungskette macht dann die Erinyen zu Dauergästen, die praktisch ,zur Familie' gehören (vgl. Ag. 1190: σύμφυτον)’^. Ebenjener Vergeltungs¬ akt für den Ehebruch des Thyestes hatte jedoch - wie sich aus der Inter¬ pretation der ersten beiden Stücke ergeben hatte - eine Handlungskette, ’* Siehe Kap. III § 5. Siehe Kap. II § 4 Anm. 125.

§ 6: Die neue Qualität der ,Eumeniden'

239

oder besser gesagt: ein Handlungssystem hervorgetrieben, das nach dem Prinzip der ,Vererbung* von der Ursache zur Folge^·^ homogene Hand¬ lungsmuster hatte entstehen lassen, die im Medium der individuellen Handlungen von Einzelpersonen das ,pattem* gebildet hatte, das über die individuellen Einzeltaten hinweg die Ereignisse von Verbrechen zu Verbrechen geführt hatte: vom Thyestesmahl bis hin zum Muttermord des Orestes. Die Gesamtstmktur dieses geschlossenen Kausalsystems bzw. des¬ sen immanente Dynamik hatten wir als ,Fluch* des Atridenhauses be¬ stimmt. Diese innere Dynamik trieb die Ereignisse von Katastrophe zu Katastrophe sogar über Zwischenglieder menschlicher Handlungen hin¬ weg, die am Ende sogar gegen die Intentionen derer, die sie ausführten, zum jeweiligen Ziel der Gesamtdynamik der Ereignisse führte. Das in diesem Gesamtsystem wirkende Moment, das die Handlung von Kata¬ strophe zu Katastrophe trieb, ist jene Macht, die Kassandra und Apollon als ,Erinyen* bezeichnen (Ag. 1190, Cho. 283) und die auch Orestes schließlich heimsucht (Cho. 1021 ff.) und nach Delphi treibt. Wenn nun diese Macht im letzten Stück als eigenständig Handelnde erscheint, so belegt dies nachträglich zunächst einmal die These der zu¬ rückliegenden Interpretation des ,Plot* der beiden ersten Stücke, daß über den Einzelhandlungen eine überindividuelle Macht am Werk ist. Anderer¬ seits bildet es ein Signal, daß sich die Aussageweise des letzten Stückes verändert. Das Handeln bzw. das Schicksal der Erinyen im letzten Stück der Trilogie ist im Kontext der ersten beiden Stücke offenbar nicht einfach als bloße ,Fortsetzung* der Geschichte vom Hause der Atriden zu lesen, sondern auch und gerade als Aussage über jene Handlungsstruk¬ turen, die die Ereignisse bestimmten und vorantrieben. Die Erinyen ver¬ körpern als religiöse bzw. dichterische Repräsentationen das im Ge¬ schlechterfluch wirkende ,Kausalprinzip*. Die ,Eumeniden* sind - anders als die ersten beiden Stücke - ein Drama, das die altertumswissenschaftliche Forschung in vielerlei Hinsicht untersucht und als Quelle ausgewertet hat. Die Themenpalette reicht von der theaterwissenschaftlichen Perspektive der Inszenierung bestimmter Szenen des Stückes«' über die religionswissenschaftliche Perspektive, die vornehmlich die religionsgeschichtliche Bedeutung der Götter des Stückes, insbesondere der Erinyen/Eumeniden, in den Blick genommen

«" Siehe Kap. II § 10. «' Taplin (1977) 362^15; Hammond (1972) 435ff., bes. 438^41; ders. (1988) 5-9, bes. 22ff.; Brown (1982) 26-30; Rehm (1988) 290-301; Scullion (1994) 77-86.

240

III. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren‘ und den ,Eumeniden‘

hat* *2, die rechtshistorische, die das juristische Procedere der Gerichts¬ szene erforscht hat, bis hin zur politisch-historischen Perspektive, die die politische Aussage des letzten Stückes der Orestie zu ergründen versucht hat*3. In jüngerer Zeit sind feministische und dekronstruktivistische For¬ schungsperspektiven hinzugekommen^“*. Die Vielfältigkeit des For¬ schungsinteresses gerade der Altertumswissenschaften in Bezug auf die ,Eumeniden‘ scheint nicht zufällig. Es sind in der Tat mehr ,Themen‘, die im letzten Stück ,abgehandelt‘ werden, als daß ein wirklich stringenter dramatischer ,Plot‘ entfaltet wird wie in den ersten beiden Stücken. Diese ,Themen* führen allesamt direkt die religiöse und politische Lebens¬ wirklichkeit Athens im 5. Jh. v. Chr. vor Augen. Doch eine Verfolgung dieser Themen würde von dem Gegenstand der vorliegenden Unter¬ suchung ablenken: der Konstruktion der Handlung als eines ,Sinnträgers‘ der dramatischen Fiktion. Wir wollen uns daher - wie bisher - auf die Frage konzentrieren, in welcher Form der ,Plot‘ im letzten Stück entfaltet (und zu einem Ende geführt) wird. Zum Abschluß soll dann im Lichte der Ergebnisse einiger dieser Eorschungsansätze nach dem Sinn der Struktur des ,Plot‘ gefragt werden, um so schließlich einer Beantwortung der Frage näherzukommen, was die Konstruktion der Handlung der Trilogie insgesamt als ästhetisches Mittel leistet.

§ 7 Die Handlung in Delphi (Eum. 1-234) Mit dem Wechsel von den ,Choephoren‘ zu den ,Eumeniden‘ findet der erste Ortswechsel der Trilogie statt. Beim Auftritt der Seherin von Delphi (Eum. 29) wird dem Zuschauer schnell klar, daß die neue Szene in Delphi

*2 An neuerer Literatur siehe unter anderem Wüst (1956); Dietrich (1962); Brown (1984); Henrichs (1984); Sarian (1986); Heubeck (1986); Lloyd-Jones (1990); Henrichs (1991); Henrichs (1994); Sommerstein p. 6-12; Podlecki p. 6-9. *2 Als Meilensteine der Forschung auf diesem Gebiet sind zu nennen: Müller (ed. 1833) 115123; Wilamowitz (1893) 186-200. 329-342; Dover (1957); Dodds (1960); Gülke (1969); Podlecki (1966) 74-100; Meier (1980) 144-246; ders. (1988) 117-156; Macleod (1982); Buben (1990) 6795; Bowie (1993); vgl. Sommerstein p. 13-17. 25-32; Podlecki p. 38-50. 203-210. Zur .feministischen Interpretationsrichtung grundlegend: F. 1. Zeitlin, The Dynamics of Misogyny: Myth and Mythmaking in Aeschylus’ Orestia, Arethusa 11 (1978) 149-184, jetzt in: F. I. Zeitlin, Playing the Other. Gender and Society in Classical Greek Literature (1996) 87-119; zur dekonstruktivistischen Interpretationsrichtung Goldhill, Language, sexuality, narrative: the Oresteia (1984); dazu siehe die vernichtende Rezension von C. Clarke-E. Czapo Phoenix 45 (1991) 95-125.

§ 7; Die Handlung in Delphi (Eum. 1-234)

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lokalisiert ist (Eum. Iff., spätestens 8ff.); das in Cho. 1034ff. 1059f. angekündigte Ziel ist somit erreicht. Die Seherin betritt nach einem Gebet mit einer langen Genealogie der Besitzer des Ortes den Tempel (Eum. 33/34), kommt, auf allen Vieren kriechend (Eum. 36f.), entsetzt wieder heraus und schildert den gräßlichen Anblick im Innern. Ein Schutzflehender (προστρόπ^ος) sitzt am Omphalos, dem heiligen Stein im άδυτον des Tempels, mit blut¬ befleckten Händen und einem Schwert, das von frischem Blut trieft, aus¬ gestattet mit den Insignien der Schutzflehenden, dem mit Wolle um¬ wickelten Ölzweig (Eum. 40-45). Bei ihm schläft eine Gruppe gräßlicher, weiblicher, Gorgonen-ähnlicher Gestalten von einer Art, wie sie die Seherin noch nie gesehen hat (Eum. 46-59). Der Zuschauer weiß selbst¬ verständlich sofort, um wen es sich handelt. Der blutbefleckte Mann mit dem Ölzweig kann nur Orestes (vgl. Cho. 1035), die Gruppe der gräßli¬ chen weiblichen Gestalten können nur die Erinyen sein (vgl. Cho. 1048ff.). Wenn die Seherin daraufhin mit dem Hinweis, Apollon solle den Mißstand in seinem Hause beseitigen, die Bühne verläßt, hat sie ihre dramatische Aufgabe erfüllt, und es ist gleichsam der ,point of attack“ des letzten Stückes bezeichnet: • Orestes hat sich, der Weisung Apollons entsprechend, nach Delphi geflüchtet. • An Orests Händen klebt Blut (E u m . 4 1 f . ) •

Die Erinyen haben ihn eingeholt und fest¬ gesetzt, sind aber eingeschlafen (Eum.47). Dramatisch effektvoll wird dem Zuschauer diese Ausgangskonstellation des Stückes gleichsam als eingefrorenes ,Standbild* plötzlich und unerwar¬ tet enthüllt. Ob sich nun die große Mitteltür der Skene so weit öffnet, daß der Blick ins Tempelinnere frei wird*^ oder ob die gesamte Gruppe auf Daß das Blut an Orests Händen das Blut des Opfertieres sein könnte, mit dem die in Cho. 1059 angekündigte Reinigung vollzogen wurde (das heißt, daß Orestes bereits entsühnt ist, bevor die Handlung des Stückes beginnt) vermuten Verrall zu Eum. 40-45 (p. 11); Blass zu Eum. 39ff.; Groeneboom zu Eum. 39^3; Thomson zu Eum. 42; Lloyd-Jones (Übers. 1970) 111 14 Anm. 41. Dagegen scheint jedoch zu sprechen, daß die Seherin den Mann als θεομυσής und προστρόπαιος (Eum. 40f.) bezeichnet, also seine Reinigung noch nicht vollzogen zu sein scheint. Dies hat viele Interpreten veranlaßt, mit dem Vorwissen aus den ,Choephoren‘ (vgl. Cho. 1055) in einem blutbesudelten Mann mit Schwert eher den Mörder Orestes als den Opferer Orestes zu assoziieren (so nach dem Scholion M zu Eum. 42 a; στάζοντα] έμφατικώς τούτου νε(ύστΙ ηύθεντηκότα παρίστησιν auch Brown [1982] 30, Sommerstein zu Eum. 41-43 und Podlecki zu Eum. 41^2). - Zur richtigen Interpretation des Eingangs der ,Eumeniden‘ siehe jedoch unten Kap. 111 § 5 und 6. So z. B. Wilamowitz (1914) 217; Pickard-Cambridge (1946) 107f.; zuletzt Lloyd-Jones (Übers. 1970) III p. 15f. - Das gewichtigste Argument gegen diese Lösung besteht freilich darin.

Ul. Die Konstruktion der Handlung in den .Choephoren' und den ,Eumeniden‘

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einer großen Plattform auf Rädern, dem Ekkyklema, herausgerollt wurde*^ oder ob sich gar bisher alles hinter einem großen Vorhang abge¬ spielt hat, der jetzt nur fallengelassen wird^* - der Blick des Zuschauers auf die Gruppe im Tempel ist plötzlich frei»^ Apollon tritt (aus dem In¬ neren des Tempels heraus) auf die Gruppe zu. Orestes spricht ihn an^o; 85

άναξ “Απολλον, οίσθα μέν τό μή άδικενν έπει δ’ έτάσται, και τό μή άμελεΐν μάθε, σθένος δε ποιεΐν ευ φερέγγυον τό σόν.

daß das bloße Öffnen der Tür den Zuschauern keine ausreichende Sicht ins Tempelinnere gestatten würde (so treffend zuletzt West, Studies [ 1990] 266f.). Dies ist die in der Forschung am weitesten verbreitete Auffassung. Schon das Scholion M zu Eum. 64 b bietet diese Inszenierungsmöglichkeit: ... στραφέντα γάρ μηχανήματα ένδηλα ποιεί τά κατά τό μαντεΐον ώς έχει ... An maßgeblichen modernen Forschern schließen sich - mit von der Evidenz des Scholions unabhängigen Argumenten - an: Brown (1982) 28f.; Sommerstein zu Eum. 64-93 (p. 93 mit p. 33); Podlecki zu Eum. 64ff. (p. 134 mit p. 12f.). Gegen diese Inszenierungsmöglichkeit spricht vor allem, daß ein Ekkyklema von einer mutmaßlichen Größe von ca. 2 m x 3,50 m (s. Brown [1982] 28) kaum eine Gruppe von 12 Choreuten mit Stühlen (Eum. 47), Orestes und den Omphalos befördern kann. Dale ([1956]/1969) 123f. läßt deshalb nur drei Erinyen und (1%9) 270 sogar nur ein bis zwei Erinyen mitfahren und den Rest später auftreten. - Zum Ekkyklema siehe Taplin (1977) 442; Melchinger (1974) 191194; Blume (1978) 66-72. So zuerst Müller (ed. 1833) 114f.; wiederbelebt von West, Studies (1990) 264—271. Zuvor erwogen, aber verworfen von Brown (1982) 27f. (,curtained jx)rch‘) nach Pickard-Cambridge (1946) 128-130. Diese Lösung ist zweifellos die effektivste und in Anbetracht der großen Gruppe (12 Choreuten + 1 Schauspieler) auch praktikabelste, hat aber leider gegen sich, daß die Verwen¬ dung eines Vorhangs für die griechische Tragödie des 5. Jh. v. Chr. nicht bezeugt ist. Taplin (1977) 369-374 schlägt dagegen vor, die Erinyen erst Eum. 140ff. durch die Tür der Skene auftreten zu lassen und in Eum. 64 nur Apollon und Orestes durch eben diese Tür kommen zu lassen. Diese Lösung läßt Eum. 67: τάσδε ... όράις ohne optischen Bezugspunkt und Klytaimestras Geist Eum. 94 ohne sichtbaren Adressaten. Außerdem würde ein solcher ,sukzessiver* Auftritt nach der eindringlichen Beschreibung der Szene durch die Seherin den optischen Effekt einer plötzlichen Präsentation der Gesamtgruppe verhindern. - Wenig plausibel scheint mir der Vorschlag von Hammond (1972) 439, daß Orestes und die Erinyen schlicht im Sinne eines ,cancelled entry* (Eum. 64ff.) aus dem Tempel kommen und ihre Positionen in der Orchestra einnehmen, während Bühnenarbeiter den Omphalos und die ,Sitze* (Eum. 47) aufstellen. Nicht überzeugender ist die Modifikation von Hammond (1988) 24f.: Eum. 64ff. stürzen die Erinyen aus dem Tempel; Orestes folgt ihnen mit dem Omphalos unter dem Arm, setzt ihn ab und nimmt Platz; die Erinyen erblicken ihn, stürzen auf ihn zu; Apollon erscheint und versetzt sie in Schlaf. Beide Vorschläge zerstören die Dramatik der Szene, die zweite hat sogar den Text gegen sich; Die Seherin sieht die Erinyen schlafen (Eum. 94ff.), erst Klytaimestras Geist weckt sie (Eum. 94ff.). Sie können also zwischendurch nicht wach sein. - Die originellste Inszenierungsidee hat zweifellos Rehm (1988) 290-301, wenn er die Orchestra zum Tempelinneren erklärt, in dem die Erinyen und Orestes immer sichtbar sind, während die Seherin Eum. 33/34 aus der Skene in den Tempel (= Orchestra) eintritt, auf die Knie fällt und zurück in die Skene kriecht. ^ Ich folge der Umstellung der Verse 85-87 an den Anfang des Dialogs zwischen Orestes und Apollon, die nach Burges die meisten Herausgeber vornehmen (zuletzt auch West [ed. 1990]).

§ 7: Die Handlung in Delphi (Eum. 1-234)

85

243

„Herr Apollon, du weißt um das Nicht-Unrechttun. Da du dich darauf verstehst, lerne auch das Nicht-Vemachlässigen. Deine Kraft ist Bürgin für gutes Handeln.“

Apollon erwidert ihm:

65

ooTot προδώσω, 5ta τέλους δέ σοι φύλαξ έγγυς ποφεστώς, και πρόσω δ’ αποστατών, exGpoiat τοΐς σοΐς ού yevTiaopat πέπων.

65

„Ich werde dich nicht preisgeben, und als dein Beschützer bis zum Ende werde ich nahe bei dir und auch weit von dir entfernt deinen Feinden nicht müde werden.“

und weist triumphierend auf seine Bezwingung der Erinyen hin: • Apollon hat die Erinyen eingeschläfert (Eum.67f.; vgl.47). Doch die Einschläferung wird offensichtlich nicht ewig wirken. Deshalb gibt der Gott noch einen weiteren Handlungsimpuls: • Apollon schickt Orestes als S ch u t z f 1 e he nd en nach Athen, damit er sich dort einem Gericht stelle (Eum.74-80 ). Schließlich stellt Apollon seinen Schützling unter die Obhut des Hermes, beide gehen nach Athen ab (Eum. 89-93), Apollon selbst verschwindet wieder in den Tiefen seines Tempels^'. Diese erste Handlungssequenz offenbart einen signifikanten Unterschied zu der Form der Handlungsführung der ersten beiden Stücke. In diesen war der ,Plot‘ ein bis hin zu den Anfangsereignissen (Thyestes’ Ehe¬ bruch/Raub der Helena) geschlossenes System von Ursachen und Wirkun¬ gen. Jedes Ereignis bzw. jede Handlung einer Person ließ sich als Folge einer Ursache beschreiben (vgl. Handlungsschema I -i- II). Sogar Apollons Befehl an Orestes, den Vater zu rächen, war im Kontext der ,Choephoren‘ (Cho. 269ff.) durchaus als Folge des Todes Agamemnons zu verstehen. Doch schon die Aufforderung, sich in Delphi entsühnen zu lassen (Cho. 1029ff.), läßt sich aus dem Handlungsverlauf als einem kausalen Ereignis¬ fluß nicht wirklich erklären. Zwar könnte man sagen, daß die Verfolgung

Dem Zuschauer offenbart sich in dem dritten Stück damit noch in einem weiteren Sinne der Bereich der in den ersten beiden Stücken nur .strukturell' bzw. latent in der uns vertrauten, natürlich-menschlichen Welt wirkenden Mächte. Waren die Erinyen zuvor als umfassende Handlungsstruktur des menschlich-weltlichen Geschehens präsent, so erscheint jetzt auch in ApoUon eine dramatis persona, die vorher als .göttliche Macht' nur im Orakel prä.sent war (Cho. 269: Λοξίου

... χρησμός). - Zum gleichen Phänomen des .Umschlags' vom strukturel¬

len/latenten zum direkt Darstellenden s. u. Anm. 109.

244

///. Die Konstruktion der Handlung in den .Choephoren' und den .Eumeniden'

durch die Erinyen die ,Ursache* für den Befehl darstellt. Doch dann stellt sich die Frage, weshalb Apollon Orestes bei der Verfolgung durch die Rachegeister überhaupt beisteht. Endgültig verschärft zeigt sich das Problem bei Apollons Befehl an Orestes, sich in Athen einem Gericht zu stellen. Auch hierbei könnte man wiederum den Umstand, daß die Erinyen ihre Verfolgung noch nicht aufgeben werden (Eum. 75: έλώσι γάρ σε ... ,denn sie werden dich treiben ...‘), als ,Ursache* benennen. Doch auch in diesem Fall ergibt sich das Motiv Apollons nicht aus dem immanenten Handlungsfluß in dem Sinne, in dem die gleichsam eigengesetzliche Handlungsdynamik die Ereignisse in den ersten beiden Stücken vorangetrieben hatte. Apollon ist offenbar die erste ,Person* der Trilogie, die vollkommen aus eigenem Antrieb in das Geschehen eingreift, ohne daß ihr Handeln in der immanenten Kausallogik des Dramas aufgehoben wäre^^ Man könnte die Frage stellen, weshalb sich Apollon überhaupt in die ganze Sache einmischt. Er hatte Orestes auf seine Rachepflicht (Cho. 269ff.) und auf die Konsequenzen eines Ver¬ säumnisses hingewiesen (Cho. 273ff.). Die Verfolgung durch die Erinyen des Vaters (Cho. 925) hätten eigentlich als Impuls für Orestes ausgereicht. Wozu also die Vermittlungsaktivitäten Apollons? Die Antwort darauf kann nur lauten, daß sich Apollon gleichsam als Vermittler ,einschaltet*, um dem Geschehen ,von außen* eine Richtung zu geben, die es von allein nicht nehmen würde. Apollon nimmt sich mit seinem Orakel (Cho. 269ff.) des Orestes an und macht ihn gewissermaßen zu seinem Schützling. Zum Mord an den Mördern des Vaters hätte gewiß allein die Dynamik der Ereignisse den Orestes getrieben (Cho. 925). Erst indem Apollon ins Geschehen (zunächst - scheinbar redundant - zusätzlich zu den Erinyen Agamemnons) tritt^\ kommt eine Macht in die Handlung, die von diesem Zeitpunkt an von außen Handlungsimpulse zu geben vermag, die das Geschehen lenken, und zwar im Sinne des Schützlings, dessen der Gott sich angenommen hat. Denn über dem reinen Rachebefehl liegt in Apollons Orakel offenbar auch ein unausgesprochenes Solidaritäts¬ versprechen, wenn Orestes die Tat ausführt. Mit οΰτοι προδοόσει ... Der naheliegende Einwand, daß mit Apollon schließlich ein Gott ins Geschehen eingreift, verfängt in diesem Fall nicht, ln den ersten beiden Stücken ist sogar das Verhalten der olympischen Götter von der weltimmanenten Ereigniskette von Aktion und Reaktion bestimmt (z. B. Zeus, Apollon und Pan [Ag. 55-59]; Zeus [Ag. 61f. 111 etc.]; Artemis [Ag. 131ff.]). Diese scheinbare Redundanz der Antriebe zur Tat hat bereits Garvie zu Cho. 269-96 bemerkt, aber handgreiflich nicht in ihrer pragmatischen Signifikanz im Hinblick auf den ,Plot‘ der ,Eumeniden‘ verstanden, wenn er schreibt; „The difficulty in this account of Apollo’s Oracle is that the god couches his command in terms both of what will happen to Orestes if he disobeys and also of what does in general happen to all who fail to avenge their kin.“

§ 7; Die Handlung in Delphi (Eum. 1-234}

245

χρησμός

(Cho. 269f.) ist nicht nur der Wahrheitsanspruch des Orakels gemeint, sondern auch, daß Orestes sich Apollon ,anvertrauen‘ kann^“*. Dies wird am Ende des Berichtes nochmals deutlich: Cho. 297: „Muß man auf solche Orakel nicht vertrauen?“^^ Das Vertrauen richtet sich darauf, am Ende - durch die Hilfe des Gottes - straffrei auszugehen (Cho. 10301032). Und ebendieses ,Patronat‘ über Orests Tat führt im folgenden zu ständigen Eingriffen des Gottes in den ,natürlichen* Gang der Handlung von außen: zur Entsendung nach Delphi und zur Weitersendung nach Athen^»^. Das Bemerkenswerte dabei ist, daß die in den ersten beiden Stücken allein wirksame, die Ereignisse immanent treibende Kraft, die in den ,Eumeniden‘ als die ,Erinyen‘ verkörpert wird, im Prinzip weiterhin wirksam bleibt. Die Erinyen sind nur für einen Moment durch den Gott ,aufgehalten*. Bald werden sie wieder aktiv sein (Eum. 74ff.). Aus der Perspektive der ,Konstruktion der Handlung* bedeutet dies, daß die Handlung sich nicht mehr allein immanent selbst ,fortpflanzt*, sondern in ihrer (weiterbestehenden) Vorwärtsbewegung von außen abge¬ lenkt und damit gesteuert wird: Schema 25: Dm Steuerung des ,ρεοτ* der ,eumeniden‘ durch Apollon:

Apollon (Cho. 1035f.)

(Eum. 75ff.)

1 Apollons Orakel

tritt nicht ein: ^ [Erinyen töten ΓOrestes] 1

1

j-

i 1

—^ Reinigung in j Tod—JTod ->· Erinyen Delphi unter VerKlyt.’s Klyt.’s Ag.’s folgung der verfolgen Erinyen Orestes (Cho. 924/ 102 Iff.)

tritt nicht ein: [Erinyen töten Orestes] Athen

Vgl. Garvie z. St.: „Only at 1030-2 is it made clear thal Orestes’ confidence is justified by Apollo’s promise.“ 95 Vgl. Lebeck (1971) 111: „Can I rely on the oracle for protection, confident that it will not abandon me ...?“ Ebenso Roberts (1984) 40-42; Garvie zu Cho. 297. 96 Vgl. auch die wörtlichere Aufnahme der Solidaritätszusage in Eum. 64: οΰτοι προδώσω = Cho. 269: οΰτοι προδοόσει. Was in den ,Choephoren‘ noch als bloße Annahme des Orestes formuliert war, hat sich somit in den ,Eumeniden‘ endgültig eingelöst. - Vgl. schließlich unten Eum. 232-234.

246

III. Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren ‘ und den .Eumeniden ‘

Ein elementares ,Handlungsproblem‘ bleibt jedoch die Flucht Orests nach Athen. Apollon hatte die Reinigung Orests von der Blutschuld verspro¬ chen (Cho. 1035ff.: vgl. 1059f.), doch noch die Seherin hatte Orestes als anscheinend ungereinigten Bittflehenden am Omphalos angesehen (Eum. 40-45) und Apollon als καθάρσιος um Beseitigung des Skandalons gebeten (Eum. 63). Schließlich flieht aber Orestes aus Delphi nach Athen, ohne daß sich während der szenischen Handlung inzwischen eine Reini¬ gung von der Blutschuld ereignet hätte. In Athen angekommen, wird er jedoch mehrfach versichern, daß er gereinigt sei; 0) Vorausweisend: Cho. 1039f. 1059f.: Reinigung in Delphi; 1) Eum. 235-243: Entsühnung durch den langen Weg im Exil; 2) Eum. 280-285: Entsühnung mit Ferkelblut durch Apollon in Delphi; 3) Eum. 448^52: Reinigung durch Tierblut in anderen Häusern; 4) Eum. 577f.: Entsühnung durch Apollon (von Apollon bestätigt). In diesem Befund liegen zwei Grundprobleme. Erstens: Wie kommt es zu den unterschiedlichen Angaben über den Entsühnungsort? Erfolgte die Entsühnung in Delphi (0-I-2+4) oder sukzessive auf der Wanderschaft im Exil (1+3)7 Zweitens: Wenn eine Entsühnung in Delphi stattgefunden hat, weshalb ist sie dann nicht szenisch dargestellt? Zunächst zur ersten Frage: Wenn man eine ungeschickte dramatische Kontamination zweier früherer Sagenversionen (Entsühnung in Delphi und Beseitigung der Befleckung durch lange Wanderungen), in der der erste Teil gleichsam unvollständig geblieben ist^^, von vornherein ausschließen und auch von Textathetesen^* absehen möchte, dann bleibt nur die Möglichkeit einer bewußt doppelten Reinigungsprozedur. Dies hat Taplin überzeugend herausgearbeitet; „Orestes is very insistent that he is no longer polluted. ... there are three explanations of his purity: 237^2, 276-87,443-53. At 473-5 Athena accepts this. Yet how can he be pure when he still trails his mother’s blood? Immediately after the murder Orestes has blood on his hands (see esp. Cho 1055f., 1059f.); when the Pythia sees Orestes the blood is still dripping (Eum 41f.); and, of course, the Erinyes follow the blood. ... But if we are to accept Athena’s judgement at 473-5 ..., then when and where was he purified? Apparently at Delphi: that is why he goes there (Cho 1038f., 1059f.), Apollo is καθάρσιος (Eum 63), and he had told Orestes προστραπέσθαι τούσδε δόμους (205 cf. 234). Orestes does not ^ Diese Lösung favorisieren z. B. Lesky (1931) 209f. = Ges. Sehr. (1966) 106f. und Dirksen (1965)20f. So z. B. Brown (1983) 30-32, der die Verse Eum. 282f. und 578 athetiert, um alle Hinweise auf die (nicht vollzogene) Reinigung in Delphi zu tilgen. Übersehen hat er dabei m. E. die eindeutige Vorausweisung auf die Reinigung in Cho. 1059f. (nur unzureichend als ,unfulfilled‘

§ 7: Die Handlung in Delphi (Eum. 1-234)

247

make this point in each of his three Speeches, but he does evidenüy say at 282f. that he was purified at Delphi, and Apollo confimis this at 577-8. ... It seems that Orestes’ wanderings have wom away his pollution, and by repeated purifications duplicated or made doubly sure his Delphic purification. Aeschylus seems to be deUberately complicated and unclear on the matter of purification. Orestes is purified at Delphi and yet also on his wanderings. The Pythia sees blood on his hands; it is wom and washed from them and yet the Erinyes still track him by it. Perhaps there is a simple explanation which reconciles these features; but it seems more likely that they are meant to co-exist without this kind of dose scrutiny.“^

Ihm ist Parker in allen Punkten gefolgt^oo. Wenn nun aber aus allen Vorund Rückverweisen hervorgeht, daß Orestes zuerst in Delphi gereinigt wurde und dann durch seine Wanderungen im Exil weitere Reinigung erfahren hat, so daß Athene ihn später an ihrem Heiligtum wird akzeptieren können (Eum. 473^75), führt dies zunächst auf die zweite eingangs gestellte Frage, ob und - wenn ja - wann die Entsühnung in Delphi stattgefunden hat. Versuchen wir den Zeitpunkt einzugrenzen. Nach der in Eum. 448^50 von Orestes selbst formulierten Regel darf ein προστρόπ^ος vor seiner Entsühnung nicht sprechen: άφθογγον είναι έστ’ CCV 450

σφαγαΙ

τον

παλαμναΐον νόμος,

προς άνδρός οαματος καθαρσίου καθαιμάξαχη νοθηλοΰ02, heißt das, daß sich die Reinigung voll¬ zogen haben muß, bevor die Gruppe der schlafenden Erinyen mit Orestes dem Zuschauer sichtbar geworden ist. Da aber die Seherin von einem

abgetan). Dyer (1969) 38ff., bes. 55f. lehnt ebenfalls eine Reinigung in Delphi ab, zieht aber nicht Browns textkritische Konsequenzen (statt dessen bezieht er Eum. 232f. nicht auf Delphi). 99 Taplin (1977) 381-383. 190 Parker (1983) 386-388, bes. 387; „There is nothing unusual in the combination of purification and purificatory exile“; vgl. auch Sommerstein zu Eum. 237. 101 Siehe z. B. Apoll. Rhod. Arg. 4, 693f.; vgl. Parker (1983) 371. 102 Dazu siehe S. 240f. mit Anm. 90.

248

III. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren ‘ und den ,Eumeniden ‘

blutbefleckten'^^ Orestes unter schlafenden Erinyen berichtet hatte (Eum. 40-45. 46f. u. ö.), nahmen viele Interpreten an, daß sich die Reini¬ gung nach ihrem Verlassen des Tempels (Eum. 34) und vor der Öffnung des Tempelinneren vollzogen haben könnte, so daß Orestes nicht mehr blutbefleckt ist, wenn die Zuschauer ihn plötzlich erblicken (Eum. 64ff.)‘oi Dagegen hat jedoch Sidwell mit einer intelligenten Gegenthese Ein¬ spruch erhoben^'’^. Er hat mit gutem Grund darauf hingewiesen, daß die Erinyen sowohl in Delphi als auch in Athen konsequent behaupten, Orestes sei blutbefleckt: Eum. 166-170. 230f. 244-254. 261-266. 316f. Ihre Behauptung erfährt sogar eine Bestätigung aus der Handlung selbst. Denn ihre Verfolgung des Opfers ist nur möglich, indem sie wie Jagd¬ hunde die Fährte ihrer Opfers aufnehmen. Diese aber ist gekennzeichnet durch die ,Blutspur‘ des Mörders (Eum. 244-254). Dadurch entsteht folgende Diskrepanz: Orestes und Apollon behaupten, daß der Reinigungs¬ ritus vollzogen wurde und Orestes eine ,Entsühnungswanderschaft‘ hinter sich habe (Eum. 235-243. 280-285. 448-452. 577f.), während die Erinyen diese Behauptung durch den Erfolg ihrer dem Blut an den Händen des Mörders nachspürenden Verfolgung nach Athen Lügen stra¬ fen. Selbst die ,Wanderungen‘ im Exil haben die Blutspur nicht ver¬ wischen und die Rachegeister nicht abschütteln können. Vor diesem Hintergrund ist nun zu fragen, weshalb die Erinyen im Apollontempel eigentlich schlafen (Eum. 47. 67f.). Der Text gibt auf diese Frage keine direkte Antwort**’^. Doch in diesem Punkt hat Sidwell den entscheidenden Hinweis gegeben: Die Erinyen schlafen, weil die Entsühnung vollzogen worden ist. Das Schlafen der Erinyen ist die Wir¬ kung einer Entsühnungi^L Andererseits paßt der Befund, daß Orestes mit den blutigen Händen (d. h. als unentsühnter Mörder) dargestellt ist, gut zu der Behauptung der Erinyen, an Orestes klebe noch das Blut seiner Mutter, ein Makel, der sie überhaupt erst in den Stand setzt, ihn zu Siehe Anm. 85. So Neitzel (1991) 69-89, bes. 74. - Dagegen spricht freilich, daß davon an keiner Stelle im Text die Rede ist und auch Eum. 176 und 234 vorauszusetzen scheinen, daß Orestes noch προστρόπαιος, also nicht entsühnt ist. Zur Lösung, Eum. 85-87 nicht vor Eum. 64 zu stellen, sondern vor Eum. 64 eine Lücke für den Vollzug des Ritus anzusetzen: siehe Taplin (1977) 383 Anm. 3. 105 Sidwell (1996) 44-57. 106 Neitzels (1991) 75 Vermutung, Apollon habe Hermes die Erinyen mit seinem Zauberstab einschläfem lassen, um die Reinigung zwischen Eum. 34 und 64 in Ruhe vollziehen zu können, überzeugt nicht, da sie nicht aus Textsignalen gewonnen ist. ■07 Sidwell (1996) 54; unbewußt vorweggenommen von Brown (1982) 31 Anm. 32.

§ 7: Die Handlung in Delphi (Eum. 1-234)

249

verfolgen und zu finden. Was die Seherin also im Inneren des Tempels sieht und anschließend beschreibt, ist nichts anderes als eben jener Konflikt, der sich bis zur Entscheidung des Gerichtes in Athen zwischen den Parteien fortsetzen wird. Orestes und Apollon beteuern die ,Reinheit‘ des Schutzflehenden, denn der Reinigungsritus wurde vollzogen (und zwar vor Beginn des Stückes). Der sichtbare Effekt war, daß die Erinyen zunächst einmal schlafen. Doch das Blut des Mordes klebt dennoch an den Händen Orests. Deshalb ist die Wirkung der Entsühnung nur temporär. Die Erinyen können auch wieder erwachen*’’^. Und eben diese Diskrepanz wird nun mit dem Auftritt von Klytaimestras Schatten in Handlung umgesetzt. Denn nach dem schon aus dem vorhergehenden Stück bekannten Muster geht wiederum ein Impuls von dem nach Rache dürstenden Opfer aus. Wie in den ,Choephoren‘ der Geist Agamemnons Klytaimestra den Traum geschickt hatte, der schließlich die Rache an ihr eingeleitet hatte (Cho. 31-42. 523-550), so gibt nun auch der Geist Klytaimestras einen Impuls zur Verfolgung des Mörders: •

Klytaimestra erscheint den schlafenden Erinyen im Traum, weckt sie und treibt sie Orestes nach ( E u m . 9 3 - 1 7 7 ) ^^9

Wie also in den ,Choephoren‘ der schlafende Agamemnon von seinen Kindern ,geweckt' wurde (Cho. 494), so ,erwachen' jetzt Klytaimestras Rachegeister (Eum. 94ff. 140-142). Im Lichte des bereits hinlänglich

Ein solcher Vorgang ist ansonsten in der griechischen Religion offenbar nicht belegt. Auch Parker (1983) 107 rechnet mit einer „exceptional poetical conception“; vgl. auch Parker (1983) 387: „It is perhaps not impossible that a killer could be purified more than once, but such a repetition is unattested; if we reject this possibility, it will be necessary, in order to keep Eumenides consistent with Athenian practice, either to postulate a change between the time of the play and of Demosthenes, or to suppose that the killer already cleansed abroad was exempt from purification on retum (cf. perhaps Eum. 235-43). There are irresoluble uncertainties here; but on any view of them, it does not emerge that Aeschylus is concemed, as is often supposed, to dispute the importance of ritual purification or deny its efficacy.“ Bemerkenswert ist dabei wiederum, daß sich als Handlung von dramatis personae wiederholt, was im vorhergehenden Stück als ,natürlicher* Vorgang der menschlichen Lebenswelt dargestellt war. In den ,Choephoren‘ hatte Klytaimestra einen Traum, der sie veranlaßte, Elektra und die Dienerinnen zum Opfer zu schicken. Dies erwies sich als Wirken des Rachegeistes Agamemnons. Klytaimestra wirkt zu ihrem eigenen Verderben (ebenso nach dem Kommos der überraschende Auftritt der Königin, der eine Handlungskette einleitet, der zu ihrem Tod, d. h. der Rache für Agamemnon, führt). In den ,Eumeniden‘ sind dagegen die vormals latent wirkenden Mächte als dramatis personae sichtbar auf der Bühne: Klytaimestras Geist treibt die Rachegeister an. Beide Male handelt es sich um denselben Vorgang (vgl. auch die Korrespondenz zwischen dem latenten und direkten Wirken Apollons: s. o. Anm. 91).

250

UI. Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren ‘ und den .Eumeniden ‘

bekannten Geschehensmusters setzt sich hiermit offensichtlich die schon in der gesamten Trilogie wirkende Dynamik fort. Eigentlich könnten die Erinyen nach dieser Aufforderung Klytaimestras mit der Verfolgung beginnen. Doch wieder greift Apollon in das Geschehen ein"^; • Apollon vertreibt die Erinyen aus dem Tempel ( E u m . 1 7 9f f. ) . Als Handlungsschritt im Sinne einer dramatischen Pragmatik ist diese Aktion Apollons eigentlich überflüssig. Denn erstens wollten die Erinyen ohnehin gerade ihre Verfolgung fortsetzen, und zweitens jagt Apollon sie auf diese Weise seinem Schützling geradezu hinterher. Spätestens an dieser Stelle der Handlung wird offenbar, daß das Handlungs- und Ereignispattern der ersten beiden Stücke endgültig ver¬ loren ist. Das zuvor in sich geschlossene, gleichsam autarke UrsacheWirkungs-System mit seiner immanenten Zielstrebigkeit erhält Impulse, die durch die Eingriffe Apollons von außen ins System erfolgen. Diese Eingriffe wirken steuernd auf den ,Gang der Dinge*, indem die durch die Erinyen repräsentierte immanente Zielstrebigkeit zwar nicht gebrochen, aber doch in eine nicht vom Muster des Systems selbst, sondern von Apollon vorgegebene Richtung gelenkt wird (Delphi, Athen). Mit der letzten Szene vor dem Ortswechsel (Eum. 179-234) wird schließlich klar, daß Apollon mit diesem Verhalten die Kontrolle über die Handlung übernommen hat. Seine Vertreibung der Erinyen aus dem Tempel erfolgt nicht, weil er nicht bedacht hätte, daß er damit die Erinyen Orestes hinterherhetzt. Er steht außerhalb des Ereigniszusammenhanges. Dies zeigt sich nicht nur in seiner Ankündigung an Orestes, daß die Erinyen ihn verfolgen werden (Eum. 74ff.), sondern auch an seiner selbstsicheren Ermunterung an die Erinyen, daß sie es ruhig tun sollen (Eum. 226). Der Gott weiß, daß er es ist, der den Lauf der Ereignisse steuert. Er weiß, daß es der Gerichtsverhandlung in Athen bedarf, um Orestes endgültig vom ,Fluch* zu befreien (Eum. 224)'". "" Vgl. Taplin (1977) 375: „The Erinyes are doubly motivated to depart: they have to pursue Orestes ..., and also Apollo threatens violence to drive them from his sanctuary.“ Ich habe mich hier auf die Konstruktion des ,Plot‘, d. h. auf die reine pragmatische Struktur des Handlungszusammenhangs in Delphi beschränkt. Daß Aischylos im Rahmen dieser elementaren Handlungskonstruktion als Dichter vornehmlich Ziele der szenischen Darstellung verfolgte, hat die Forschung klar herausgearbeitet und soll hier nicht verschwiegen werden. Der gesamte Delpi-Teil des Dramas ist darauf angelegt, nach dem Prolog der Seherin (Eum. 1-63) das folgende Stück in drei Szenen in dem Sinne zu exponieren, daß die beiden aufeinandertreffenden ,Parteien' zunächst jeweils separat präsentiert werden; 1. Apollon und Orestes (Eum. 64-93); 2. Klytaimestra und die Erinyen (Eum. 94-177; incl. ,Parodos' 140-177). Schließlich treffen mit

§ 7: Die Handlung in Delphi (Eum. 1-234)

251

Zur systematischen Zusammenfassung sei abschließend auf den ersten Teil des separaten Handlungsschemas III verwiesen. Die Handlungslinien dokumentieren sinnfällig das in abstracto Beschriebene. Der kontinuier¬ liche Handlungsfluß ist zerstört. Stringent verläuft allein die Handlungs¬ linie, die vom Tod Klytaimestras als dem Mord Orests an seiner Mutter ausgeht. Die Erinyen verfolgen konsequent den Muttermörder (siehe die ,Grundlinie‘, die von ,Klytaimestras Tod als Muttermord' ausgeht). In diese Linie greift Apollon immer wieder aus eigenem Antrieb ein (siehe die von außerhalb zulaufenden Impulse, die von keinem Ereignis ,verur¬ sacht' sind, sondern allein der Grundlinie ,Apollon als Mentor Orests' entspringen). Doch die Eingriffe sind zunächst nur temporär wirkungs¬ voll; Apollon entsühnt Orestes und schläfert die Erinyen ein (vor Beginn der ,Eumeniden'; vgl. Eum. 47. 67f.). Dies schafft Orestes zwar eine Verfolgungspause und gibt ihm einen Vorsprung für die Elucht nach Athen (Eum. 93ff.). Doch das Blut klebt noch an den Händen (Eum. 4042), Klytaimestra kann deshalb die Erinyen wecken (Eum. 94ff.), und diese sind imstande, die Blutspur aufzunehmen (s. u. Eum. 244-254). Damit ist hinreichend deutlich, daß die Erinyen als personale Gestalten mit ihrem Verhalten das Handlungsprinzip der ersten beiden Stücke fortsetzen, das zur Entfaltung des gigantischen Geschlechterfluches im Hause des Atreus geführt hatte. Mit Apollon gibt nun eine Macht von außen immer wieder Impulse, die den konsequenten Weiterlauf der wir¬ kenden Dynamik stören und damit ,umlenken'. Die Entsühnung Orests versetzt die Erinyen in Schlaf, seine Fortsendung nach Athen entzieht ihnen (zunächst) das Opfer, auch nachdem sie wieder erwacht sind. Diese Handlungssequenz führt jedoch nicht nur die in den ersten beiden Stücken latent wirkenden Mächte dramatisch konkret als Handlung vor Augen, sie visualisiert zugleich poetisch-dramatisch religiöse Vorstellun¬ gen, die auch sonst in der griechischen Religion mit den Erinyen ver¬ bunden sind. Von besonders großem Zeugniswert ist dabei die erst kürz¬ lich bekannt gewordene Inschrift auf einer Bleitafel aus Selinous im Südwesten Siziliens, die aus der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. oder sogar kurz davor stammt und eine Lex sacra enthält, welche verschiedene Riten für den Kult des Zeus Eumenes, die Eumeniden und Zeus Meilichios (col. A)

Apollon und den Erinyen erstmals jene Parteien aufeinander, die auch später den Streit um Orestes vor dem Gericht in Athen ausfechten werden: 3. Apollon und die Erinyen (Eum. 178-234). Diese Konfrontation nimmt gleichsam exemplarisch mit ihren Argumenten die Gerichtsverhandlung vorweg (Eum. 202f.: Muttermord vs. Rache für den Vater; Eum. 211ff.: Blutsverwandtschaft vs. Ehe). Zu dieser .Ökonomie“ der Vier- bzw. Dreiteilung des Delphi-Teils siehe Taplin (1977) 368f.

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Π! Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren' und den .Eumeniden ‘

sowie einen Reinigungsritus gegen sog. έλάστεροι zur Reinigung von Mördern (col. B) anführt“^. Jener έλάστερος darf - wie die Herausgeber überzeugend dargelegt haben - als Äquivalent zu den gemeinhin im Griechischen ,Erinyen‘ ge¬ nannten Wesen angesehen werden, insofern sie die Seele des Ermordeten repräsentieren, die wütend Vergeltung am Mörder oder seinen Nachkom¬ men fordertii3. Um sie ,abzuschütteln*, bedarf es verschiedener Reini¬ gungsriten, und zwar je nach dem, ob es sich um einen ,einfachen* Mörder oder um einen Mörder an einem Gastfreund oder einem Ver-

Editio princeps mit Einleitung, Übersetzung und ausführlichem Kommentar durch Jameson-Jordan-Kotansky (1993). Der Text von col. B lautet: 1 [2-3]..άνθροποο [6-7]..τ.[.(?)έλ]οκ;τέρον άτιοκαίθαίρεοθ)2 [αι], προειπόν Λόπο κα λεν και τδ /^έ[τ]εοο Λόπο κα λέι και [τδ μενόο] 3 Λοπείο κα λει και άμεραι Λοπείαι κα λι, π{ο)ροειπόν Λόττυι κα λέι, καθαιρέοθο, [3^ ? Λυ]4 ποδεκόμενοο άπονίψαοθαι δότο κάκρατίξαεθαι και Λάλα τδι αΰ[τδι] 5 [κ]αι θύοαο τδι Δι χοίρον έξ αΰτδ ΐτο καΐ περιοτ{ι)ραφέοθο vacat 6 και ποταγορέοθο και cixov Λαιρέοθο και καθευδέτο Λόπε κ7 α λέι. αι tic κα λέι ξενικόν έ πατρδιον, έ ’πακουοτόν έ ’φορατόν 8 έ και χδντινα καθαίρεοθαι, τον αυτόν τρόπον καθαιρέοθο 9 Λόνπερ Λούτορέκταο έπε'ι κ’ έλαοτέρο άποκαθάρεται. vacat 10 Λιαρεΐον τέλεον έπχ τδι βομδι τδ δαμαοίοι Oixoc καθαρό11 C έοτο. διορίξαε Λαλι καΐ χριχδι άπορανάμενοο άπίτο. 12 Λόκα τδι έλαοτέροι χρέζει θύεν, θύεν Λόοπερ xolc vacat 13 άθανάτοιοι. αφαζέτο δ’ ec γαν. vacat (10 Zeilen leer) „1 [If a ...] man [wishes] to be purified from elasteroi, having made a proclamation from wherever he wishes and whenever in the year he wishes and whatever [month] he wishes and on whatever day he wishes, having made the proclamation whithersoever {i.e., to whatever directions) he wishes, let him purify himself. [And on] receiving (him, i.e. the elasteros), let him give (water) to wash with and a meal and salt to this same one, and having sacrificed a piglet to Zeus, let him go out from it, and let him tum around; and let him be addressed, and take food for himself and sleep wherever he wishes. If anyone wishes to purify himself, with respect to a foreign or ancesUal one {sc. elasteros), either one that has been heard or one that has been seen, or anyone at all, let him purify himself in the same way as the autorrektas (homicide?) does when he is purified of an elasteros. Having sacrificed a full-grown (sheep) on the public altar, let him be pure. Having marked a boundary with salt and having performed aspersion with a golden (vessel), let him go away. Whenever one needs to sacrifice to the elasteros, sacrifice as to the immortals. But let him slaughter (the victim so that the blood flows) into the earth.“ Jameson-Jordan-Kotansky (1993) 16f. - Dazu vgl. jetzt auch die Rezension: Clinton (19%). Jameson-Jordan-Kotansky (1993) 116-120; verbreiteter ist die Form άλάστωρ (ebenda 118); vgl. insbesondere die von Jameson-Jordan-Kotansky nicht genannten Parallelen Aesch. Ag. 1501. 1508, die signifikanterweise auf den Geschlechterfluch verweisen (s. o. Kap. II § 9). Daß das Wort nicht nur den/die Verfolger, sondern auch den Verfolgten bezeichnen kann, zeigt Aesch. Eum. 236. - Zu den Rachegeistem (Erinyen/elastor/alastor) als den Seelen der Getöteten siehe Henrichs (1984) 261-266; Lloyd-Jones (1990) 205f.; Henrichs (1991) 168f. 199; ders. (1994) 27f., 55f., jeweils mit älterer Literatur.

§ 8: Die Handlung in Athen (Eum. 235-777)

253

wandten handelt'i“*. Die Opferung eines Ferkels ist ein fester Bestandteil des Ritus (B 5 ~ Eum. 283), erst nach dem Ritus darf mit dem Gereinigten gesprochen werden (B 6 - Eum. 448^50)"5. Auch daß man den Rachegeist hören und/oder sehen kann, scheint eine gängige religiöse Vorstellung zu sein (B 7 = [Cho. 1048ff.] Eum. 40ff., direkt 64ff.). In dieser Eigenschaft gewinnen die Rachegeister bereits in der religiösen Vorstellung jene personale Qualität, die sie für das Drama als handelnde Figuren geeignet macht. Doch während der Vorgang der Reinigung als religiöser Ritus in seiner genauen Wirkungsweise nicht offengelegt wird, gibt das Drama eine Umsetzung der ,dämonischen' Vorgänge in dem beschriebenen Sinne.

§ 8

Die Handlung in Athen: Von der Ankunft Orests in Athen bis zu seinem Freispruch (Eum. 235-777)

Genau diese Entwicklung wird sich im weiteren Verlauf des Stückes fortsetzen. Die Bühne ist nach dem Davoneilen des Chores leer (nach Eum. 234). • Als erster trifft Orestes in Athen ein (Eum.235ff.). Der Befehl Apollons an seinen Schützling, nach Athen zu flüchten (Eum. 78ff.), und sein andeutender Hinweis an die Erinyen (Eum. 224) haben den Zuschauer bereits auf einen Ortswechsel nach Athen disponiert. Die leere Bühne vermittelt ihm zudem die Illusion eines Zeitsprungsin dessen Zwischenraum

B 1-7a: .einfacher' Mörder; B 7a-13: Mörder an einem Gastfreund oder Verwandten. Jameson-Jordan-Kotansky (1993) 40-45 und 73-76 mit zahlreichen Parallelen. Die Flexibilität, mit der Aischylos Zeit dramatisch darstellt, hatte sich bereits im Zeit¬ sprung vor dem Eintreffen des Herolds im .Agamemnon' (Ag. 489) gezeigt. Dort war die dargestellte (hinterszenische) Zeit zwischen der Einnahme Troias (Ag. 21/22) und der Ankunft der Flotte (Ag. 489) in der szenischen Darstellung extrem komprimiert worden. Der Unterschied zur .Zeitlücke' in den .Eumeniden' besteht darin, daß im .Agamemnon' die Zeitraffung durch einen zeitlich kontinuierlichen szenischen Handlungsfortgang und nicht zuletzt durch die ununterbrochene Präsenz des Chores von Ag. 40ff. an verschleiert wird (s. o. Kap. 11 § 6 mit Taplin [1977] 290294), während in den .Eumeniden' die Zeitlücke, in der die Wanderungen Orests zu denken sind, durch den Einschnitt des Verlassens der Bühne aller dramalis personae und des Chores stark betont wird (s. Taplin [1977] 377-379: „... unique in surviving tragedy“). Die Stücke der griechischen Tragödie, in denen der Chor sonst noch die Bühne verläßt und erst später wieder auftritt (Soph. Aias 814-866, Eur. Ale. 746-861, Eur. Hel. 385-515, Rhes. 564-674; vgl. Ae.sch. Aitnaiai TrGF III p. 126-127 Radt mit Taplin [1977] 416-418), unterscheiden sich in ihrer dramatischen

254

in. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren‘ und den ,Eumeniden‘

• Orests , Wa n de r u ng en ‘ (Eum.74-77) vorzustellen sind. Wenn dieser dann bei seinem Auftritt (Eum. 235) mit άνασσ’ Άθάνα das Kultbild der Göttin (vgl. Eum. 80. 242. 409) an¬ spricht, ist die Ankündigung Apollons eingelöst. • Der Ortswechsel von Delphi nach Athen ist vollzogen. Die weitere Konstruktion der Handlung stellt sich nun abermals nicht als natürlich und plausibel sich entfaltendes Handlungskontinuum dar, in dem jedes Ereignis aus einem vorhergehenden folgt, so daß die Handlung gleichsam von einem inneren ,Motor‘ vorangetrieben wird. Vielmehr erhält sie auch im zweiten Teil Schritt für Schritt ihre jeweiligen Impulse von außen. Zunächst verläuft die Handlung zwar wie erwartet: • Orestes trifft in Athen ein (Eum.235) und • betet zu Athene ( E u m . 2 3 5 f f. ) . Der Zuschauer sieht das Standbild der Göttin vermutlich durch eine Öffnung (die geöffnete Tür) der Skene, die sich auf diese Weise aus dem delphischen Apollontempel in den athenischen Athenetempel verwan¬ delt“^ -, nähert sich in einer zweiten Hikesie und • wartet auf die von Apollon versprochene Gerichtsverhandlung (Eum.8 1/243). Sein Hinweis, daß er kein προστρόπαιος (Eum. 237) mehr, also ent¬ sühnt sei und sich deshalb dem Tempel Athenes nähern dürfe (Eum. 242), wirft das schon für die vorhergehende Handlungssequenz aufgeworfene

Technik erheblich (vgl. Kannicht zu Eur. Hel. 385 und 515-527). Die engste Parallele bietet Soph. Aias a. a. O. als sog. Suchszene: vgl. Pöhlmann (1986) 20-32 = (1995) 107-116; ders. (1989) 41-61 = (1995) 117-132. Gegen einen Ortswechsel im Aias tritt neuerdings Scullion (1994) 89-128 ein. Es ergibt sich an dieser Stelle das gleiche Inszenierungsproblem wie schon oben Eum. 64ff. Wie dort der Omphalos im Tempel (Eum. 40 mit 30 und 179) dem Zuschauer sichtbar gemacht werden mußte (s. o. S. 24If. mit Anm. 87-89), so spielt die gesamte Szene Eum. 234ff. offenbar am (sichtbaren) Bild Athenes, d. h. ebenfalls im (für den Zuschauer sichtbaren) Tempelinnern. Wilamowitz (1914) rechnet um der Praktikabilität der Inszenierung willen mit einer ,Ungenauigkeit' der dramatischen Fiktion: „Dies Bild müßte eigentlich das hochheilige Schnitzbild sein, das im alten Tempel stand ... die ganze Szene (müßte eigentlich) wieder im Innern spielen. Um das zu vermeiden, hat sich der Dichter erlaubt, Bild und Tempel zu trennen“ (also ein Bild in der Orchestra aufstellen zu lassen) (Wilamowitz [1914] 180; ihm folgt Taplin [1977]). Analog zu seiner Delphi-Inszenierung schlägt Rehm (1988) 297 vor, die Orchestra als das Tempelinnere, die Skenewand mit ihrer Tür als Ausgang nach draußen zu behandeln. Sommerstein plädiert für eine abermalige Verwendung des Ekkyklemas (zu Eum. 235-98 p. 123). Am praktikabelsten wäre freilich auch hier Wests (Studies [1990] 264-271) .Vorhangtheorie'; Mit dem Ende der Delphi-Szene (Eum. 233) verhüllt der Vorhang wiederum den Omphalos. Während die Orchestra leer ist, wird dieses gegen das βρέτας Athenes ausgetauscht, und mit Eum. 234 fällt der Vorhang und gibt den Blick ins .Innere' des Athenetempels frei.

§ 8: Die Handlung in Athen (Eum. 235-777)

255

Problem abermals auf. Orestes betrachtet sich als gereinigt, und zwar jetzt nicht durch einen Entsühnungsakt in Delphi, sondern άλλotσιv ο’ίκοις και πορεύμασιν βροχών (Eum. 239: ,durch andere Häuser und Reisen der Sterblichen‘), d. h. durch einen andauernden Reinigungsprozeß durch Wanderungen im Exil'>8. Doch wie schon nach dem Auftreten der Erinyen durch Klytaimestra zeigt sich, daß auch diese Reinigungsprozedur noch nicht gereicht hat, um die Erinyen abzuschütteln, d. h. die Blutschuld loszuwerden; • Die Erinyen können Orestes nach wie vor anhand der Eährte seiner Blutspur verfolgen (E um. 244-2 54 ; vgl. schon 40-42.1 66- 170. 23 0f .2 6 1 -2 66. 3 1 6f .). So kommt es, daß •

Orestes alsbald von den Erinyen eingeholt (Eum.244ff.).

ist. Sogleich wird das in der Delphi-Szene latente ,Problem* der Reinigung zum Konfliktstoff. Die Erinyen behaupten die Beflecktheit Orests (Eum. 261-276), Orestes verweist dagegen auf seine Reinigung in Delphi durch Ferkelblut^i^ (Eum. 276-285). Doch diesmal ist er der Meute der Erinyen ausgeliefert. • Orests zweiter Hilferuf an Athene (E um. 28 7f f . ) verhallt (zunächst) ungehört, und die Erinyen können sich ans Werk machen und ihr Opfer festsetzen. Die wenden dabei eine bemerkenswerte Methode an; 306

ύμνον δ’ άκούσηι τόνδε δέσμιον σέθεν. „Höre nun folgenden Gesang, der dich in Fesseln schlägt.“

Es folgt der berühmte • , B i n d e h y m n u s ‘ ( E u m . 3 0 7 - 3 9 7 ), mit dem die Erinyen Orestes fesseln. Damit wiederholt sich in den ,Eumeniden‘ realiter ein Vorgang, der in den ersten beiden Stücken als Metapher für jene Heimsuchungen stand, die als Vergeltungsakte im Zuge des Geschlechterfluches an Agamemnon vollzogen worden waren: die Verstrickung des Opfers in ein Netz. Agamemnons Tod durch Klytai-

”8 Zur Reinigungsproblematik insgesamt s. o. Kap. III § 2. Vgl. die Lex Sacra aus Selinous (Mitte 5. Jh. v. Chr.) Col. B 5 zum Ferkelopfer als Befreiung von einem Rachegeist (άλάστωρ) (= Entsühnung eines Mörders) mit Jameson-JordanKotansky (1993) 42f. 73-76. (s. o. Anm. 112).

25(5

III. Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren ‘ und den .Eumeniden ‘

mestra war als Fangleistung eines Jägers, der sein Opfer mit einem Netz fesselt, beschrieben gewesen (Ag. 1375. 1382f. Cho. 981. 998ff.). Klytaimestra, die ,Hiindin‘ (Ag. 607. 1228), hatte ihr Beutetier auf diese Weise gestellt'20. Jetzt sind es die Erinyen, die als ,Hunde‘ (Eum. 132. 246) ihr Opfer so fesseln wie Klytaimestra ihren Gatten. Orestes droht durch die Erinyen der Rache zu verfallen wie vor ihm Agamemnon durch Klytaimestra. Daß das Wirken der Erinyen tatsächlich ein ,Gesang‘ ist (Eum. 306: ύμνος), weiß der Zuschauer nicht nur aus der Bemerkung Orests am Ende der ,Choephoren‘, der das Befallenwerden durch die Erinyen als Singen und Tanzen seines wahnsinnigen Herzens dargestellt hatte (Cho. 1024f.), sondern insbesondere aus der Vision Kassandras im ,Agamemnon‘, die das unausgesetzte vergeltende Morden im Haus des Atreus ebenfalls als ,Gesang' der Erinyen beschrieben hatte (Ag. 1191: ύμνοΰσι δ’ ύμνον ...). Was dort dichterische Metapher bzw. seherische Vision für den realen Vorgang des Mordes von Menschen aneinander gewesen war, wird hier zu szenischer Realität. Wollte man die phantastische Vision der ,Eumeniden' von den singenden Erinyen, die ihr Opfer mit Gesang fesselni2i, in die reale menschliche Lebenswelt übersetzen, müßte man sich nur die Vorbereitung und Durchführung der Ermordung Agamemnons durch Klytaimestra vorstellen. Die Motivbrücken ,Hund' - ,Netz' ,Gesang' machen dem Zuschauer unmißverständlich klar, daß an Orestes eben jener Akt der Vergeltung eingeleitet wird, dem schon Agamemnon zum Opfer gefallen ist. Die Erfahrung der ersten beiden Stücke läßt also für Orestes nichts Gutes erwarten. Doch wiederum wird der ,natürliche' Fortgang der Handlung, wie ihn der Zuschauer aus den beiden ersten Stücken kennt, gestört. War für die Opfer Agamemnon und Klytaimestra der Tod noch unentrinnbar gewe¬ sen, so tritt jetzt eine neue Macht in die Handlung ein: • Athene erscheint auf den Hilferuf Orests hin (Eum.397ff.). Ihr Auftritt ist zwar durch den zweimaligen Hilferuf Orests inner¬ dramatisch motiviert, doch daß sie gleichwohl ,von außen' in das dramatisch sich zuspitzende Geschehen eintritt, wird von ihr selbst bei ihrem Auftritt gleich zu Beginn pointiert gesagt: *20 Vgl. Lebeck (1971) 63-68, allerdings ohne Betonung der Beziehung zwischen dem Tod Agamemnons und dem ,Bindehymnus' der .Eumeniden', sondern mit Her/orhebung der Beziehung zwischen der Zerstörung Troias (Ag. 355-361) und dem Tod des Zerstörers. *21 Zum Tanzlied der Erinyen als Mittel .chorischer Selbstdefinition' siehe auch Henrichs (1994/5)60-65.

§ 8: Die Handlung in Athen (Eum. 235-777)

397

257

πρόσωθεν έξήκουσα κληδόνος βοήν ... „Von ferne habe ich den Ruf einer Stimme gehört“

Anders als die Götter des , Agamemnonallen voran Artemis und Zeus, agiert Athene also nicht als in den Ereignisfluß der Welt involvierte Macht, sondern sie kommt - wie gesagt - „von ferne“. Die Handlung steht nun erst einmal still. Athene erweist sich als unwissend und muß sich zunächst über die Sachlage informieren. Beide Konfliktparteien werden zu ihrer Identität und ihrer Position befragt (Erinyen: Eum. 406^35; Orestes: Eum. 436^69). Hatte Apollon mit seinen Interventionen in den natürlichen Gang der Dinge nur Störungen, Verzögerungen und steuernde Ablenkungen des Geschehens bewirken können, so gelingt Athene gleichsam schleichend und für den Zuschauer kaum wahrnehmbar die erste entscheidende Unterbrechung des Handlungskontinuums. Im Zuge ihrer Befragung der Erinyen kommt sie, nachdem sie den Vorwurf der Erinyen an Orestes, die Mutter getötet zu haben, vernommen hat, direkt auf die seit Beginn der Trilogie zentrale Frage; 426

ΑΘ.

άδμής^^^ ανάγκης, ή τίνος τρέων κότον; „(Hat er es getan:) Unbezwungen durch Notwendigkeit (also aus eigenem Impuls) oder aus Furcht vor irgendjemandes GroU?“

Die Erinyen weichen der Frage scheinbar aus. Sie wissen, daß Orestes nicht aus vollkommen autarkem Impuls, sondern durchaus auch unter äußerem Druck gehandelt hat>23. Deshalb geben sie eine Antwort, mit der sie sich gleichsam der Falle, die für sie in der Frage liegt, entwinden: 427

XO.

ποΰ γάρ τοιοΰτο κέντρον ώς μητροκτονεΐν; „Wo gibt es einen so großen Stachel, daß man seine Mutter tötet?“

Mit dieser Antwort haben sich die Erinyen nicht nur vorläufig aus einer möglichen Schwachstelle ihrer Position befreit, sondern bestätigen nebenbei auch indirekt unsere Analysen der Freiheit oder Bedingtheit der in den ersten beiden Stücken Handelnden. Ihr Handeln war vorgezeichnet •22 So hergestellt von West (ed. 1990) 366. Die Hss. überliefern das sinnlose άλλης ανάγκης, was bisherige Editoren zu άλλαις άνάγκαις (Bothe) oder άλούς άνάγκαις (Naber) oder άλλ’ έξ ανάγκης (Schmidt) verbessert haben. Wests Konjektur (begründet in West, Studies [1990] 279f.) scheint eine elegante, der Überlieferung paläographisch möglichst nahe kommende (ΑΛΛΗΣ < ΑΛΜΗΣ) Lösung zu sein. *23 Vgl. ihre Beschuldigungen gegen Apollon, er sei mitschuldig, wenn nicht allein schuldig am Tod Klytaimestras: Eum. 198-200; vgl. später Eum. 595. 623-625. In ihrer Gegenwart betonen die Urheberschaft auch Orestes (Eum. 465. 596) und Apollon (Eum. 578f.).

25S

///. Die Konstruktion der Handlung in den .Choephoren' und den ,Eumeniden‘

(κένχρον), aber gleichwohl frei. Sie hätten es lassen können. Und auf eben dieses ,Er hätte es lassen können* berufen sich jetzt die Erinyeni^l De facto ziehen sie sich jedoch damit auch auf die schlichte Tatsachenfeststellung zurück. Dies zeigt jedenfalls ihre Reaktion auf Athenes Vorschlag, auch die Gegenseite anzuhören:

430

435

430

435

XO.

άλλ’ öpKOv ού δέξαιτ’ άν, οΰ δούναι θέλ£ν.

ΑΘ. ΧΟ.

κλυεΐν δικαίως μάλλον ή πράξαι θέλεις. πώς δή; δίδαξον των σοφών γάρ οΰ πένη.

ΑΘ. ΧΟ. ΑΘ. ΧΟ.

δρκοις τα μή δίκοαα μή vikccv λέγω. άλλ’ έξέλεγχε· κρίνε δ’ ευθείαν δίκην. ή κάπ’ έμοι τρέποιτ’ άν αιτίας τέλος; πώς δ’ ού, σεβούσηι γ’ άξι’ άντ’ έπαξίων;

Ch.:

Doch einen Eid wird er wohl nicht akzeptieren und auch nicht geben wollen!

Ath.: Ch.; Ath.:

Gerecht gelten willst du eher als handeln. Wie das? Belehre mich! Denn du bist nicht arm an klugen Einsichten. Ich sage, daß man in einer Sache, die nicht gerecht ist, nicht mit Eiden siegen darf.

Ch.; Ath.:

So führe denn die Untersuchung! Und fälle ein gerechtes Urteil. Ihr übertragt mir auch wirklich die Entscheidung über die Anklage?

Ch.:

Selbstverständlich, wenn du die Achtung (uns) entgegenbringst, die unser würdig ist, im Gegenzug für unsere Achtung deiner Würde. *^5

Mit der unvorsichtigen Bemerkung, daß es Orestes wohl nicht darauf ankommen lassen werde, einen Eid auf seine (faktische) Unschuld abzulegen'26, provozieren die Erinyen eine Erwiderung Athenes, die das Unverständlich ist mir Sommersteins Paraphrase von Eum. 427: ,what an absurd idea‘. 125 Die Hss. überliefern σέβουσαι M I σέβομαι τ I σέβοιμεν codd. varii für den Anfang des zweiten Halbverses und αξίαν τ’ έπαξίων Μ für das Ende des zweiten Halbverses (Portus stellt άξί(χν κάπ’ άξίων her, geschlossen aus dem [verfehlten] Hinweis des Schol. M 435: ] άξίων ούσαν γονέων). Aus diesem Befund hat die überwiegende Mehrzahl der Herausgeber mit der veränderten Wortabtrennung von Hermann folgenden Text gedruckt: σέβουσαι άξι’ άντ’ έπαξίων. Dies würde bedeuten, daß die Erinyen ihre Zustimmung mit ihrer Wertschätzung Athenes aufgrund der würdevollen Behandlung, die sie durch die Göttin Eum. 406ff. erfahren haben, begründen; „..denn wir haben vor dir die Achtung, die deiner würdig ist, als Gegenleistung für die, die du uns entgegengebracht hast.' Die Erinyen würden dann Athene den Prozeß als Belohnung für gute Behandlung übertragen. Die hier bevorzugte Konjektur des sog. Anonymus Nr. 3 (s. West [ed. 1990] p. XXIV/LVIII), (in den Text aufgenommen von West [ed. 1990]) entspricht sehr viel besser der Mentalität der Erinyen: Sie binden ihre Zustimmung an die Bedingung, daß - nachdem Athene mit der Übertragung der Untersuchung die Achtung entgegen¬ gebracht worden sei, die ihrer würdig ist (έπαξίων) - diese im Gegenzug nun auch die Erinyen entsprechend behandelt, mit anderen Worten: wenn Athene fair zu ümen ist. *26 Die Erinyen nehmen mit diesem Hinweis offenbar auf eine alte athenische Rechtspraxis Bezug, den sog. „Evidenz-Eid“. Harrison (1971) beschreibt das Verfahren im Anschluß an spätere

§ 8: Die Handlung in Athen (Eum. 235-777)

259

Selbstverständnis der Erinyen als Garantinnen des Rechts in Zweifel zieht (Eum. 430), und auf Nachfrage der Erinyen stellt die Göttin das von den Erinyen fraglos akzeptierte Verfahren grundsätzlich in Frage, indem sie die traditionelle Prozedur als ungeeignetes Mittel, den wahren Sachverhalt zu enthüllen, entlarvt (Eum. 432). Hier sollen nicht die juristischen und rechtsgeschichtlichen Probleme diskutiert werden, die diese Passage enthält'^^, sondern es soll das Augenmerk auf die Bedeutung, die die Stichomythie für die Konstruktion der Handlung hat, gelenkt werden. Denn es ist überraschend, daß die Erinyen als unerbittliche Verfolgerinnen von Unrecht die Untersuchung des Falls so plötzlich und widerstandslos an Athene abgeben. Ein bloßer Hinweis Athenes, daß die Eidespraxis von ihr (Eum. 432: λέγω) nicht anerkannt wird, genügt, um die Erinyen dazu zu bringen, von ihrer Verfolgung abzulassen und sich dem Urteil Athenes zu unterwerfen (Eum. 433). Weshalb lassen sich die Erinyen die Handlungsinitiative so schnell aus der Hand nehmen? Denn immerhin hatten sie noch wenige Verse zuvor stolz verkündet, daß es ihr Amt sei, Mörder zu jagen (Eum. 419/421). Darüber gibt der Text explizit keine Auskunft. Es scheint jedoch, daß Athenes Verhalten beim ersten Zusammentreffen mit den Erinyen diesen einen Eindruck vermittelt hat, der es ihnen schließlich leicht macht, die Entscheidungsgewalt abzutreten: Anders als Apollon (Eum. 179ff.) hatte die Göttin die Erinyen nicht vertrieben, sondern sich respektvoll nach ihrer Identität erkundigt (Eum. 410-414) und sie anschließend geduldig ihre Aufgabe bei der Verfolgung von Mördern allgemein und in dem vorliegenden Fall erklären lassen (Eum. 415-425). Dadurch, daß Athene die Erinyen und ihre Tätigkeit respektvoll akzeptiert, sowie dadurch, daß sie sich anschließend in der Diskussion über Rechtsverfahren als kompetent erweist (Eum. 426-432), hat sie offenbar ein Bild von sich vermittelt, das die Erinyen einerseits als σοφία (Eum. 431) anerkennen müssen, das aber andererseits in ihnen auch das Vertrauen weckt, Athene werde ihnen als Richterin die gebührende Ach¬ tung entgegenbringen (Eum. 435: σέβειν άξια). Die Aussage, Athene erhalte die Entscheidungsgewalt, wenn sie sich entsprechend verhalte

Quellen (Harrison [1971] 99 Anm. 3) folgendermaßen: „One or both parties would swear to the truth of their contentions; if one did not swear, Üie issue was decided in favour of the other, if both swore, it was clear that one was perjured, but it was left to the gods to adjust any wrong which resulted if his cause prevailed“ (so auch Podlecki zu Eum. 429 und Appendix 1 p. 205f.); unscharf hierzu Sommerstein zu Eum. 429; Gagarin (1976) 75; Conacher (1987) 154; Meier (1980) 180f. 127 Dazu siehe nach Müller (1833) 159f.; Sommerstein zu Eum. 429 mit p. 15f.; Podlecki zu Eum. 429 mit p. 205f.; Meier (1980) 180f.

260

UL Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren ‘ und den .Eumeniden ‘

(Eum. 435; σεβούσηι ...), bedeutet vor dem Hintergrund, daß die Erinyen ihr bereits die Entscheidungsgewalt übertragen haben (Eum. 433), daß sie auch Vertrauen haben. Da sie allerdings von der Berech¬ tigung ihrer Position fest überzeugt sind (Eum. 427), liegt in diesem Vertrauen in Athene auch das feste Vertrauen darauf, daß die Göttin den Fall in ihrem Sinne entscheiden wird. Die Erinyen stellen sich und ihren Anspruch auf Rache also keineswegs zur Disposition. Sie sind sich vielmehr sicher, daß eine genaue Untersuchung nur zu einer Entscheidung zu ihren Gunsten führen kann. Verfahrensfragen sind ihnen im Grunde gleichgültig. Deshalb soll Athene ruhig die Untersuchung führen (Eum. 433). Dies bringt auch die Göttin dazu, noch einmal ausdrücklich zu fragen, ob sie „auch wirklich die Entscheidungsgewalt bei dieser Anklage ihr übertragen wollten“Die Erinyen haben die Tragweite dieser Frage offenbar gar nicht verstanden. Sie antworten mit einem lapidaren πώς δ’ ού; ,Selbstverständlich!‘>29 (Eum. 435) (sc. ,Wenn du dich uns gegenüber so verhältst wie wir dir gegenüber, indem wir dir die Entscheidungs¬ gewalt übertragen‘.) Die Erinyen setzen offenbar wie selbstverständlich voraus, daß Athene zu ihren Gunsten entscheiden wird. Auf diese Weise merken sie gar nicht, daß sie einen folgenschweren Schritt dahin getan haben, daß ihre Macht über Orestes am Ende gebrochen sein wird. Sie geben - ohne es zu merken - ihre τιμή ab, auf die sie eingangs noch so stolz verwiesen hatten'^o. Als Ergebnis bleibt also festzuhalten: Der ,Plot‘ der Orestie erfährt mit dem Zusammentreffen von Athene und den Erinyen die erste entscheidende qualitative Veränderung. Hatte Apollon durch seine Eingriffe von außen die Handlungslinie lediglich ablenken und damit steuern können, gelingt es Athene erstmals, die Handlungs- und Entscheidungsgewalt von den Erinyen und der immanenten Ereignis¬ dynamik, die sie verkörpern, auf sich als frei entscheidendes, nicht vom innerweltlichen Lauf der Dinge beeinflußtes, Individuum zu übertragen. Das Mittel, mit dem ihr das gelingt, besteht darin, daß sie - anders als Apollon - die Erinyen in ihrer Wirksamkeit zunächst einmal akzeptiert. *2* Die pointierte Eindringlichkeit der Frage Athenes wird durch die Kombinaüon der die Frage einleitenden Partikel besonders deutlich; vgl. Denniston, GP 285: „Sometimes ή καί inquires with a certain eagemess“, mit einer Fülle von Belegen. >29 πώς δ’ οΰ; bedeutet als Antwort auf eine Frage nicht nur „Ja“, sondern zeigt energische Zustimmung an: siehe KG II 541 Anm. 4. >3» Sommerstein zu Eum. 434 nennt diese Übergabe .implizit', was m. E. die Pointe der Stelle nicht voll trifft. Sowohl für Athene als auch für den Zuschauer ist die Übergabe der Entscheidungsgewalt höchst explizit (vgl. Eum. 434). Was Sommerstein meint, ist, daß es die Erinyen nicht merken.

§ 8: Die Handlung in Athen (Eum. 235-777)

261

Doch nur indem Athene die Erinyen und ihre Ansprüche annimmt, eröffnet sich ihr die Möglichkeit, in ihren Machtbereich einzutreten und in diesem dann eigenständig zu handeln. Von jetzt an sind die Erinyen — ohne daß sie es bereits realisiert haben — nicht mehr die alleinigen Motoren des Eortschreitens der Handlung, die im , Agamemnon' und den ,Choephoren‘ implizit und in den ,Eumeniden‘ explizit den ,Ptot‘ der Stücke in ihrer Makrostruktur bestimmt haben. Vielmehr sind sie nun endgültig zu normalen ,Mitspielern' geworden. Der Ausgang der Gesamthandlung ist ihrer alleinigen Wirkungsmacht entzo¬ gen. Dies wird ihnen selbst nach Orests Darstellung seiner Position (Eum. 443^69) schlagartig klar. Denn Athene erkennt auch Orests Ansprüche an. Sie erkennt schließlich die Tragweite des Problems, das ihr aufge¬ tragen ist: 470

470

τό πράγμα μεΐζον ή τνς οΐεται τόδε βροτός δικάζειν ουδέ μην έμοι θέμις φόνου διαιρεϊν όξυμηνίτου δίκας. „Die Sache ist zu groß, als daß ein Sterblicher glauben kann, hier zu richten. Und auch für mich ist es nicht recht, den Prozeß um einen Mord zu entscheiden, der scharfem GroU entspringt.“

Athene hat sich also mit der Übernahme der Entscheidung eine scheinbar unauflösliche Aporie geschaffen. Einerseits erkennt sie offenbar Orests Argumente an, daß die Tat als Rache für den Vater berechtigt und als Befehl Apollons gleichsam eine gemeinsame Tat von Gott und Mensch gewesen sei (Eum. 462^67, bes. 465: μεταίτιος); sie akzeptiert auch seine Behauptung, daß er entsühnt sei (Eum. 443^53 > 473^75). Ande¬ rerseits erkennt sie auch den Anspruch der Erinyen an (Eum. 476). Ein letztes starkes Argument, den Fall nicht zu entscheiden, ist für Athene schließlich die Konstellation, unter der ihre Rolle als Richterin steht. Die Erinyen hatten sich auf Athenes Mitwirkung als Richterin überhaupt nur unter der Bedingung eingelassen, daß ihr Anspruch respektiert würde (Eum. 435). Bei einer Niederlage drohen damit dem Land, dessen Schutzpatronin dann die natürliche Strafe für den Übeltäter vereitelt hätte, eben jene grausamen Strafen, die einst den Übeltätern galten (Eum. 477479)131.

•31 Eum. 478f.: ... χώραν μεταΰθις Ιός έκ φρονημάτων | πέδοι πεσών άφερτος αίανής νόσος ,... dann fällt Gift zu Boden hinterher aus ihrem (üblen) Sinn auf dieses Land und unerträgliche, schmerzliche Krankheit.'. Sonst übertragen die Erinyen (giftige) Körpersäfte und Krankheit auf den von ihnen verfolgten Übeltäter: vgl. Ag. 1192: άπέπτυσαν (sc. auf Thyestes); Cho. 279-281: νόσους ... (sc. für Orestes, wenn er den Vater nicht rächt: diese

262

III. Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren ‘ und den .Eumeniden ‘

Athene befindet sich also tatsächlich in vollkommener Aporie. Weder kann sie den Schutzflehenden Orestes, da er ihr als entsühnt gelten muß, zurückweisen und den Erinyen preisgeben, noch darf sie den Zorn der Erinyen provozieren. In dieser Situation ist damit das latente Ineinander von freier Entscheidung und Schicksalsbestimmtheit des Handelns bzw. von schuldhaftem Vergehen und Geschlechterfluch, das schon als das unausgesetzte Problem menschlichen Handelns schlechthin die ersten beiden Stücke bestimmt hatte, nun im dritten Stück zur dramatischen Handlungsalternative zugespitzt. Orestes beruft sich zur Rechtfertigung des Muttermordes auf den Mord der Mutter am Vater (Eum. 458^64) sowie die Mit-Urheberschaft Apollons (Eum. 465) und bezieht sich damit auf zwei Faktoren, die der Zuschauer in der Entfaltung des ,Plot‘ der ,Choephoren* als Element des Geschlechterfluches erkannt hatte. Orestes versucht also, seinen Muttermord, den er als Faktum ja nicht leugnet (Eum. 464), im Kontext der Gesamtereignisse verständlich zu machen und sich so zu entlasten. Die Erinyen hingegen beziehen sich in ihrer Strafforderung auf die Freiheit der Tat des Orestes (Eum. 427: που γάρ τοιοΰτο κέντρον ώς μητροκτονεΐν;) und betonen damit die Schuldhaftigkeit seines Handelns. Dabei ist besonders bemerkenswert, daß Orestes den Aspekt des eigenen Antriebs zur Tat, den er vor Elektra und dem Chor der Choephoren noch so betont hatte (Cho. 298-304), jetzt in der Situation der Verfolgung so konsequent verschweigt. Die Erinyen betonen dagegen mit ihrer Zurückweisung äußerer Zwänge als eines schuldmindernden Faktors die Verantwortlichkeit Orests, obwohl sie genau wissen (vgl. Eum. 199f.), daß Apollon mit seinem Orakel bezeich¬ nenderweise für die Unterlassung der Tat eine Bestrafung durch Erinyen angekündigt hatte (Cho. 269-296). Dadurch, daß die Parteien des Streits also nicht nur konträre Positionen beziehen, die vom Zuschauer gleicher¬ maßen aus der zurückliegenden Handlung bestätigt werden können, sondern sogar im Vorfeld des Streites jeweils selbst die Sachposition des Gegners artikulieren (Orestes: Cho. 298-304; Erinyen: Eum. 199f.) und damit explizit anerkennen, stellt sich der Konflikt als echter Sachkonflikt dar. Es ist offenbar nicht so, daß eine Partei recht und die andere unrecht Wirkung ginge also von den Erinyen des Vaters aus [Cho. 925]); Cho. 1058: κάξ όμμάτων στάζουσιν αίμα (Μ 1 νάμα Burges) δυσφιλές; Eum. 54: έκ δ’ όμμάτων λείβο\χη δυσφιλή λίβα. Erst die befleckende Wirkung der Erinyen macht offenbar die Vorstellung plausibel, man könne sich von ihnen als einer Befleckung reinigen (vgl. die Inschrift von Selinous [Anm. 112] B 1). Eine parallele Vorstellung scheint der Mord als Befleckung des Mörders zu sein, dem die Erinyen als die empörten Seelen der Getöteten auf diese Weise nachjagen können (s. o.Kap. III § 7 mit Parker [1983] 107).

§ 8: Die Handlung in Athen (Eum. 235-777)

263

in dem Sinne hat, daß die eine Position der ,Realität‘ bzw. der ,Wahrheit' entspricht und die andere nicht. Beide Parteien sind sich über den Tatbestand und die äußeren Einflüsse, die die Tat herbeigeführt haben, vollkommen einig. Was sie unterscheidet, ist die unterschiedliche Priorität, die sie jeweils der Verantwortung des Einzelnen für seine Tat (Erinyen: bes. Eum. 426f.) oder dem Handlungskontext, der zur Tat geführt hat (Orestes; bes. Eum. 464/465), zuweisen. Paradoxerweise berufen sich die Erinyen, die die Dynamik des Eluches in Gang gehalten hatten, auf die Schuld Orests, während sich Orestes indirekt mit dem Verweis auf seine Rolle als Rächer zu entlasten sucht. Damit ist die Grundantinomie der ersten beiden Stücke zwischen Schicksal und Schuld bzw. Fluch und Freiheit zur totalen Aporie der dramatischen Handlung zugespitzt. Athene kann nur noch konstatieren, daß diese — jedenfalls für einen Menschen — unentscheidbar ist (Eum. 470f.). Daß auch die Göttin nicht entscheiden darf, hat offenbar keine sachlichen, sondern pragmatische Gründe, die sich unmittelbar aus der vorhergehenden Handlung ergeben: Orestes darf als entsühnbar Schutzflehender nicht abgewiesen werden (Eum. 473-475), und die Erinyen könnten, da sie nur unter der Bedingung ,mitspielen', daß sie gewinnen (Eum. 435), als Verliererinnen zu einer Gefahr für Athen werden (Eum. 4ΊΊ—ΑΊ9). Mit der Einbeziehung der Erinyen einerseits und der Gewährung von Schutz für Orestes andererseits hat Athene die Handlung zunächst zum Stillstand gebracht und damit beiden Parteien die Möglichkeit zur Handlungsinitiative genommen und auf sich übertragen. Dies gibt ihr nun die Gelegenheit zu einer eigenen Initiative: • Athene geht ab, um athenische Bürger auszu¬ wählen, die einen Gerichtshof bilden sollen, der den vorliegenden Fall und alle zukünfti¬ gen Fälle entscheiden wird (E u m . 4 8 2-4 8 8 ). Mit diesem Schachzug sind nun die Erinyen endgültig ihrer Wirkungs¬ macht beraubt. Sie hatten im Vertrauen auf Athene dieser ihre unerbitt¬ liche Rachekompetenz abgetreten. Jetzt müssen sie erfahren, daß Athene ihre Kompetenz ihrerseits anderen übertragen wird, und zwar einem Gremium von Menschen. Vom Gesichtspunkt der Konstruktion der Handlung aus betrachtet, könnte man sagen, daß - mit dem Eingreifen Apollons in die innerweltliche Dynamik des Geschehens und dem Eintreten Athenes in die Handlung - die ,Dinge' gegen die Erinyen zu ,laufen' beginnen. Erst nach der Ankündigung Athenes, ein Gericht zu bestellen, haben die Erinyen richtig verstanden, was ihnen eigentlich

264

III. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren‘ und den ,Eumeniden‘

widerfahren ist. Ein entsetzter Aufschrei bildet den Beginn des folgenden Liedes: Ein Umsturz durch neue Gesetze drohe, wenn die zerstörerische Rechtsposition des Muttermörders siegen werde (Eum. 490ff.). Die Erinyen befürchten - wenn auf die Untat keine Strafe mehr folge daß in Zukunft Kinder ihre Eltern ermorden werden (Eum. 494-497). Zwei Selbstcharakteristiken der Erinyen in diesem Chorlied sind dabei für unsere Untersuchungsperspektive interessant. Die erste betrifft den Zusammenhang zwischen Verbrechen und Strafe:

500

500

ούτε γάρ βροτοσκόπων μαινάδων τώνδ’ έφέρψει κότος τις έργμάτων „(Denn) nicht wird solchen Taten (sc. Eltemmorden) nachkriechen ein Groll dieser menschenaufsuchenden Mänaden (d. h. der Erinyen) ..."

Dies bedeutet, daß in Zukunft jede Untat begangen werden wird (s. o. Eum. 496f.), da auf das Vergehen nicht mehr notwendig die Strafe durch die Erinyen folgen wird. Die Erinyen garantieren also durch das Prinzip automatischer Vergeltung im Sinne eines Ursache-Eolge-Prinzips eine Abschreckung, die Straftaten verhindert (vgl. unten Eum. 516-520). Wenig später wenden sie den gleichen Gedanken ins Positive und sprechen auch hier von einem Ursache-Wirkungszusammenhang: 550

έκών δ’ άνάγκας άτερ δίκαιος ών ούκ άνολβος έσταιπιχνώλεθρος ούποτ’ άν γένοιτο.

550

„Wer ohne Zwang gerecht ist, der wird nicht ohne Segen sein, und niemals dürfte er wohl gänzlich zugrunde gehen“.

Damit ist nun auch ein Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und ,Segen' hergestellt, und zwar in dem gleichen Sinne wie zuvor zwischen Verbrechen und Verderben. Hiermit deutet sich an, daß die Erinyen die Ordnung der Welt bzw. die immanente Gesetzlichkeit des Ablaufs ihrer Ereignisse in einem umfassenderen Sinne repräsentieren als nur durch die Vergeltung von Straftaten. Sie garantieren die innere Konsistenz zwischen dem Verhalten von Menschen und den Folgen dieses Verhaltens, und zwar im Schlechten und im Guten. Mit dem entsetzten Aufschrei der Erinyen über den Verlust ihrer Wirkungskompetenz artikuliert sich also nicht nur der Schmerz über die persönliche Zurücksetzung, sondern auch eine durchaus nachvollziehbare Furcht vor einer chaotischen Welt, in der es

§ 8: Die Handlung in Athen (Eum. 235-777)

265

den Straftätern gut geht und die Gerechten ins Verderben geraten. Die Erinyen stehen dagegen für eine Ordnung, in der die Folge der Ursache entspricht, und zwar im Guten wie im Schlechten. Was nun folgt, ist der • Prozeß um Orestes (E u m. 5 6 6-6 8 0 ), der hier nicht im Einzelnen besprochen werden muß, da sein inhaltlicher Verlauf als solcher keine unmittelbaren pragmatischen Folgen im Stück hat‘^-. Athene erscheint — wie sie Eum. 482-489 angekündigt hatte — mit einer Gruppe von Richtern und erklärt den Prozeß für eröffnet (Eum. 566-573). Dann tragen die Parteien (Apollon als Anwalt Orests der Chor der Erinyen als Ankläger) ihre — z. T. schon bekannten — Argumente vor (Eum. 576-680). Nachdem dies beendet ist, ereignet sich die erste dauerhafte Konsequenz der Handlung der Orestie: • Athene gründet, bevor es zur Abstimmung kommt, den Areopag in einer feierlichen Ein¬ setzungsrede als dasjenige Gericht, das in Zukunft die B 1 u t ge r i c h t s ba r k ei t in Athen ausüben wird ( E u m . 6 8 1-7 1 0 ). Dieses Gericht nimmt die Abstimmung vor (parallel dazu liefern sich Apollon und die Erinyen ein letztes Rededuell) (Eum. 711-753), bis schließlich Athene ihre Stimme für Orestes abgibt (Eum. 734-743). • Das Ergebnis ist Stimmengleichheit, was Orestes aufgrund der von Athene vorab getroffenen (E u m . 7 44-7 5 3 ) Verfahrensregel (Eum.741) die Freiheit sichert. • Dankbar für die Rettung, gelobt Orestes ewige Bündnistreue zwischen Athen und Argos (Eum.75 4-7 77 ). Uns sollen in diesem Zusammenhang nicht die historischen Institutionen, juristischen Verfahrensregeln und tagespolitischen Anspielungen beschäf¬ tigen, sondern wir wollen - streng der Fragestellung folgend - vielmehr auf die Konstruktion der Handlung und insbesondere auf das weitere Schicksal der Erinyen schauen.

*32 Dies ist mit Blick auf den Ausgang des Prozesses gesagt. Rein argumentativ hat keine der beiden Seiten gewinnen können. Die (anonyme) Stimmabgabe der Juroren gibt am Ende auch nicht den Ausschlag für Orests Befreiung vom Vorwurf, sondern nur die eine Stimme Athenes, die ihre Motivation obendrein nicht aus den während des Prozesses vorgetragenen Argumenten bezieht.

in. Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren ‘ und den ,Eurrteniden ‘

266

Die Befreiung Orests von der Mechanik der Rache war durch drei Eingriffe Athenes in den ,natürlichen Gang der Ereignisse' zustande gekommen: (a) ihr Erscheinen überhaupt mit Übernahme der Entschei¬ dungsgewalt (Eum. 397^35), (b) die Einberufung und Gründung des Areopags als eines Blutgerichts von attischen Bürgern (Eum. 470488/681-710) und (c) ihre persönliche Stimmabgabe für Orestes, die ihm die Ereiheit vor weiterer Verfolgung schenkt (Eum. 734-743). Alle drei Maßnahmen sind nicht Teil der immanenten pragmatischen Konsistenz der Konstruktion der Handlung, sondern stellen als ,freie' Impulse des Willens der Göttin Eingriffe in den ,natürlichen' Lauf der Dinge von außen dar. In deren Abfolge vollzieht Athene eine wohldosierte Steigerung. Denn als starke und gefährliche Mächte mit einem großen Potential und vor allem mit dem Willen, im Falle einer Niederlage dem Land und der Stadt Athen zu schaden, können die Erinyen nicht einfach wirkungslos gemacht werden. Ihre Macht muß langsam und allmählich entzogen werden. Zunächst werden die Erinyen dazu verführt, ihre alleinige Wir¬ kungsmacht aufzugeben und die Entscheidungsgewalt Athene zu über¬ tragen; diese Entscheidungsgewalt überträgt Athene dann aber einem menschlichen Gericht - eine Eigenmächtigkeit der Göttin, die die Erinyen zwar in Furcht vor einer Niederlage versetzt (Eum. 490ff.), die aber nicht so gravierend ist, daß sie ihrerseits der Göttin die Leitung des Ver¬ fahrens wieder entziehen und selbst ans Werk gehen. Denn immerhin bleibt ihnen im Prozeß noch die Chance, durch überzeugende Argumente den Fall für sich zu entscheiden; die Erinyen betonen nämlich, daß nicht der Prozeß als solcher einen Umsturz bedeute, sondern nur der Fall ihrer möglichen Niederlage'^^ Dieser Fall der Niederlage wird nun ausgerech¬ net von Athene herbeigeführt, der die Erinyen im Vertrauen auf ihre Klugheit und Achtung die Entscheidung übertragen hatten. Denn Athene ist es, die überraschend als letzte ihre Stimme (öffentlich) abgibt (Eum. 734-743), nachdem die Juroren des Areopag (geheim) abgestimmt haben (Eum. 710-733). Dabei spielt es keine Rolle, ob Athenes Stimme die Stimmengleichheit, die zur Verschonung Orests führt, mit ihrer Stimme in ein ,Plus' für Orestes verwandelt, oder ob sie die Stimmengleichheit erst herstellt. Beide Möglichkeiten werden von der Forschung erwogen. Die eine Gruppe von Gelehrten schlägt vor, daß die Juroren in Eum. 711733 mit Stimmengleichheit abgestimmt haben (d. h. die Anzahl der Stimmsteine der Juroren in der Urne [vgl. Eum. 709] bei der Auszählung [Eum. 751/2] gleich ist) und Athene ihre Präferenz für Orestes nur nennt. 133 Eum. 491f.: καταστροφά ... εΐ κρατήσει δίκα ... ματροκτόνου.

§ 8: Die Handlung in Athen (Eum. 235-777)

267

ohne ihren Stein in die Urne zu werfen, und damit das Prinzip des ,Freispruchs bei Stimmengleichheit* (Eum. 741) begründet'^'·. Die andere Gruppe folgt streng den Indizien des Textes’^^: Athene gibt als letzte einen Stimmstein für Orestes (Eum. 734ff.), verkündet dann das Prinzip ,Freispruch bei Stimmengleichheit*. Erst am Ende ergibt sich eine Stimmengleichheit (Eum. 752f.), die nur durch die Abgabe der Stimme Athenes zustande gekommen ist, so daß Athene gleichsam zweifach Orestes zur Verschonung vor der Strafe verhelfen hätte: durch ihre vorab verkündete Verfahrensregel und durch ihre eigene Stimme*^^. Athenes Motiv für ihre Stimmabgabe ist dabei ganz subjektiv. Sie könne als mutterlose Göttin (Eum. 736; vgl. Eum. 738: κάρτα είμ'ι τοΰ πατρος)ΐ37 nur dem Männlichen den Vorrang geben und bewerte deshalb den Mord des Sohnes an der Mutter nicht höher als den der Gattin an ihrem Ehemann. Mit dieser Begründung stellt sich die Göttin dezidiert subjektiv in ihrer Entscheidung dar. Den Sachkonflikt hat also auch sie nicht endgültig entschieden. Sie sagt nur, sie bewerte (aus dem genannten persönlichen Grund) den Muttermord nicht höher (Eum. 739: οΰ προ¬ τιμήσω) als den Gattenmord. Das bedeutet, daß auch sie die Sachaltemative zwischen Verantwortlichkeit und Relevanz der Handlungsumstände

So Müller (1833) 161: „Denn verworren und lächerlich ist doch gewiß die ... Vorstellung, daß Athena dem Orestes einen Stimmstein zulege, und erst darnach die Stimmen gleich gefunden werden, und Orestes wegen dieser Gleichheit losgesprochen werde; indem ja grade Das die Idee des im Alterthum oft erwähnten calculus Minervae ist, daß er bei gleicher Stimmenzahl als ein weißer, lossprechender hinzugedacht wird ... Athena (sagt), indem sie ebenfalls einen Stimmstein vom Altar nimmt... - dadurch solle Orestes siegen ... - ohne jedoch etwa diesen Stein sogleich in eine der Urnen hineinzuwerfen ...“; vgl. Schoemann p. 77-95, Blass zu Eum. 734-743, Thomson zu Eum. 734-43, Hester (1981) 265-275 und Conacher (1987) 164-166. So nach Hermann (1835) 189-199; vgl. Hermann zu Eum. 734 (= 726 bei H.); vor allem Wilamowitz (1914) 183-185; Gagarin (1975); Lesky (1972) 130 Anm. 95; Meier (1980) 191f.; Sommerstein zu Eum. 711-53; unentschieden bleibt Podlecki zu Eum. 735 und App. II p. 211213. Die zweite Möglichkeit scheint mir mit dem Text leichter vereinbar als die erste; Während der Abstimmung Eum. 71 Iff. liefern sich die Erinyen und Apollon ein letztes Redegefecht, in dem sie bis Eum. 730 je 5 Verspaare im Wechsel sprechen. Es scheint plausibel, sich parallel zu jedem Verspaar die Stimmabgabe eines Jurors zu denken. Schließlich sprechen die Erinyen nochmals drei Verse, während derer nochmals ein Juror einen Stimmstein in die Urne wirft (Eum. 731-733). Dann stimmt Athene (Eum. 735ff.; προσθήσομαι) und gibt die Verfahrensregel für Stim¬ mengleichheit bekannt (Eum. 741). Bei der Auszählung ergibt sich dann Stimmengleichheit (Eum. 752f.), also 6;6 Stimmen. ‘37 Abwegig scheint mir Sommersteins (zu Eum. 736^0) Meinung, in κάρτα τοΰ πατρός sei darauf hingewie.sen, daß Athene 2;eus’ Standpunkt in der Sache vertrete. Der Text gibt darauf keinen Hinweis; vielmehr scheint es natürlicher, Eum. 736-738 als drei Varianten desselben Gedankens zu interpretieren; vgl. richtig zuletzt Podlecki zu Eum. 736 mit der Übersetzung „(I) am very much my father’s child“.

268

in. Die Konstruktion der Handlung in den , Choephoren' und den .Eumeniden ‘

abermals in der Schwebe läßt. Nur durch die Verfahrensregel der Stim¬ mengleichheit entkommt Orestes. Der Ablauf und der Ausgang der Abstimmung über Orestes wird damit zu einem sprechenden Interpretament der Qualität der Tat Orests zwi¬ schen Recht und Unrecht, Unschuld und Schuld, Schicksal und Freiheit im speziellen sowie - da die Tat Orests grundsätzlich den Taten der anderen Figuren (Agamemnon, Klytaimestra) strukturell vergleichbar war - dem in der Orestie vorgeführten Handeln in der menschlichen Handlungswelt insgesamt. Es scheint, als bestätige der Ausgang des Prozesses genau jene Simultanität von Fluch und freier Handlung, die im Verlauf der gesamten Orestie in vielen Varianten zu beobachten war. Jeder Versuch, die Sachalteraative zwischen Schuld und Unschuld zu entscheiden, muß zwangs¬ läufig in die Aporie führen. Auch für Orestes bleibt die Sachkontroverse in der Schwebe. Welches sind nun aber die Folgen des Sieges Orests im Prozeß? Die erste Folge besteht in einer positiven Wirkung des Geschehens auf Athen bis in die Gegenwart: • Orestes gelobt ewige Bündnistreue zwischen Argos und Athen ( E um.76 2-777). Dieses Gelübde stellt nach der Gründung des Areopags durch Athene die zweite Hauptaitiologie des Stückes dar. Mit Orests Versprechen ewiger Bündnistreue zwischen Athen und Argos wird das historische, 462/1 V. Chr. zwischen den beiden Städten geschlossene Bündnis^^* aitiologisch im Atriden-Mythos verankert. Über diese wie über die weiteren Aitiologien wird abschließend noch kurz zu sprechen sein.

§ 9 Die Versöhnung der Erinyen (Eum. 778-1047) Handlungsimmanent wird nun jedoch zunächst einmal jene Gefahr akut, die die Erinyen für den Eall einer Niederlage angedroht hatten (Eum. 477-179). • Die Erinyen grollen und schicken sich Land zu vergiften und unfruchtbar zu

an, das machen

(Eum.778-792.808-8 23.837-847.87 0-880). *3* Zum 462/1 v. Chr. im Zuge der politischen Reformen des Ephialtes geschlossenen Bündnis zwischen Athen und Argos siehe neben Sommerstein p. 26-30; Podlecki p. 19f.; am instruktivsten Macleod (1982) 126f.

§ 9: Die Versöhnung der Erinyen (Eum. 778-1047)

269

Der ,Groll‘ (κότος) der Erinyen (Eum. 800. 840. 873. 889. 900) war nicht nur durchgängig als das Charakteristikum ihrer Wirksamkeit genannt (vgl. Cho. 1025, Eum. 220. 500), sondern das Wort stand auch immer wieder für eines der Wirkungsmomente des Geschlechterfluches im ganzen, prominent in der in Kap. II § 10 ausführlich besprochenen Kardinal-Passage zum Geschlechterfluch: Ag. 758-772 (hier Ag. 767; vgl. auch Cho. 33. 924. 952, Eum. 426 zu κόχος in allgemeineren Ver¬ geltungszusammenhängen). Die Erinyen sind also dadurch, daß Orestes ihnen entkommen ist, keineswegs ihrer Wirkungsmacht beraubt. Sie wollen (und können) ihren ,Groll‘ gegen Athen richten. In diesem Fall, in dem keine Person mehr direkt zu verfolgen ist und - durch den Gang der dramatischen Ereignisse herbeigeführt - eine ganze Stadt Objekt der Verfolgung der Erinyen zu werden droht, klingt nun ein anderer Aspekt ihrer Wirkung an: der auf alles Lebendige und Fruchtbare. Mit ihrer Drohung, das Land unfruchtbar zu machen, wechseln sie die Wirkungsebene von der Vergeltung von Rechtsverletzungen auf die Ebene der Fruchtbarkeit. Ihre Fähigkeit, gleichsam als Verkörperungen der ,Befleckung‘ ihrerseits ein Land zu ,beflecken‘ und damit ,unfruchtbar* und ,krank* zu machen (Eum. 808-823), eröffnet die Möglichkeit zu diesem Ebenenwechsel und damit zur Lösung dieses letzten Konfliktes der Trilogie. Denn Athene schafft es, sie durch das Angebot zahlreicher ,Ehren* in Athen allmählich zu versöhnen. Sie verspricht: (a) eine Wohnstätte (Höhle) (Eum. 804ff.), (b) Opfer bei Geburten und Hochzeiten (Eum. 833ff.), (c) Wohnsitze nahe dem Haus des Erechtheus (Eum. 854ff.) und (d) eine Wohnung und Macht über Fruchtbarkeit und Wohlstand (Eum. 892ff.). Mit diesen Versprechungen und Athenes Bürgschaft für ihre Gültigkeit ist schließlich der Groll der Erinyen endgültig beendet: • Die Erinyen geben ihren Groll auf •

(Eum.900). Als Garanten von Wohlstand, Fruchtbarkeit und Recht werden die Erinyen in Zukunft als ,Semnai Theai* (siehe Eum.1041) bzw. ,Eumeniden* in Athen ihre Wohnstatt haben (E um. 90 1 ff . )'39.

Aus Eum. 1041: Ιτε σεμναί und dem in der Hypothesis überlieferten Titel des Stückes (Hypoth. Eum. p. 341 West) hat man zu Recht geschlossen, daß Athene mit ihrer Überredung der Erinyen hier den Kult der Semnai Theai Eumeniden gründet. Zu ihrer Identität und zu ihrer religionsgeschichtlichen Bedeutung siehe die Literatur in der folgenden Anmerkung.

270

III. Die Konstruktion der Handlung in den ,Choephoren ‘ und den .Eumeniden'

In einer großen Schlußprozession ziehen sie in ihre Wohnstätten am Fuße des Areopags ein (Eum. 1003ff.). Damit ist der ,Fluch‘, dessen Entstehung und Fortpflanzung in den ersten beiden Stücken die Zuschauer im Medium der dramatischen Handlung beobachten konnten, von Athene in ein segensreiches Wirken eben jener Mächte verwandelt worden. Die Religionswissenschaft hat materialreich herausarbeiten können, daß Aischylos bei der Gestaltung der ,Umwandlung* der Erinyen in die in Athen segensreich wirkenden Gottheiten der Eumeniden (= Semnai Theai) auf die weitgehende Identität beider Gottheiten in der kultischen Realität zurückgreifen konnte'^o. Im Wesen der Erinyen = Eumeniden = Semnai Theai liegt bereits Jene ,Ambivalenz*, die in dem letzten Stück der aischyleischen Orestie als ,Verwandlung* gestaltet wird·'". A. Henrichs hat jene ,Ambivalenz* im Wesen der Erinyen-Eumeniden-Semnai Theai treffend zusammengefaßt: „Die beiden konträren Seiten der Göttinnen schließen sich ... nicht etwa gegenseitig aus, wie häufig angenommen wird, sondern verbinden sich gerade erst in ihrer Polarität zu derselben ambivalenten Grundkonzeption, die vor allem im chthonischen Bereich mit besonderer Prägnanz formuliert ist. Sie läßt sich am treffendsten mit Gegensatzpaaren wie Zom/Güte, Ruch/Segen, Gedeihen/Verderben, Hungersnot/ Nahrungsfülle umschreiben, die begrifflich und funktionell aufs engste Zusammen¬ hängen. ... Die ausdrückliche Zuordnung von Erinyen und Eumeniden ist vor Aischylos nicht nachweisbar. Sie war aber in der verbreiteten Vorstellung von der Doppelwertigkeit der Chthonioi vorgegeben und lag bereits in den beiden gegensätz¬ lichen Namen, die ihm im Falle der Erinyen die mythische Tradition und im Falle der Eumeniden der attische Kult an die Hand gaben.“

Gleichsam das ,Ergebnis* der gesamten Trilogie bildet also eine große Aitiologie für die innen- und außenpolitischen sowie religiösen histo¬ rischen Institutionen Athens: • •

das außenpolitische Bündnis in Argos (Eum.762ff.; vgl. 2 89 ff . 66 7f f. ), den Areopag ( E u m . 6 8 1-7 1 0)

Vgl. jetzt auch die Inschrift aus Selinous, in deren erster Kolumne (A) Kultvorschriften für Opfer an Zeus Eumenes und die Eumeniden festgehalten sind (A 8-9). Zusammen mit den Vorschriften zur Reinigung von έλάστεροι aus Kolumne B bietet die Inschrift einen schönen Beleg für die große Nähe zwischen Rachegöttinnen und Eumeniden, obwohl die Erinyen selbst keinen Kult im strengen Sinne genießen; vgl. Jameson-Jordan-Kotansky (1993) 77-81. Lloyd-Jones (1990), Henrichs (1991) 162-169; ders. (1994) 46-54 (gegen Brown [1984]); vgl. bes. auch Jameson-Jordan-Kotansky (1993) 79-81. *'*2 Henrichs (1991) 166f. Zur Institution des Areopags grundlegend Wallace (1985), zur Behandlung in der Orestie bes. 87-93; vgl. auch Macleod (1982) 127-129 und Meier (1980) 144-246.

§ 9: Die Versöhnung der Erinyen (Eum. 778-1047)

271

• den Kult der Eumeniden ( E u m . 90 1 f f Die historische und religionsgeschichtliche Bedeutung dieses aitiologischen Schlusses zu behandeln, ist in einer Arbeit über den ,Plot‘ der Orestie nicht der Ort. Daher soll aus der Perspektive unserer Fragestel¬ lung nur noch abschließend die Frage gestellt werden, weshalb Aischylos das historische Gedeihen Athens ausgerechnet mit einem Mythos begrün¬ det, der einen Fluch darstellt. Die Antwort liegt nach unserer Analyse klar auf der Hand: Athenes Geschick im Umgang mit den beiden Streitparteien hat es vermocht, Athen nicht nur zwei wertvolle politische Vorteile zu verschaffen: (a) ein Blutgericht (Areopag) und (b) ein außenpolitisches Bündnis (Argos), sondern die Göttin verschafft ihrer Stadt den Schutz und das Wohlwollen jener Mächte, die nicht nur dafür sorgen, daß auf ein Verbrechen die Strafe folgt, sondern die über diesen Mechanismus überhaupt ,den Lauf der Dinge in Gang halten*. Im schlimmsten Fall entsteht aus diesem Wirken ein Fluch. Im günstigsten Fall, d. h. wenn nicht mehr Verbrechen sich ,fortpflanzen*, sondern Gerechtigkeit die Grundlage bildet, ist dieser Mechanismus geeignet, jene ebenfalls ,fortpflanzend* in Segen zu ver¬ wandeln (Eum. 550-557). Athene stellt sicher, daß das in der Welt herr¬ schende (und von ihr auch nicht beseitigte, weil nicht zu beseitigende) Kausalprinzip in Athen sich als ,Segen* zum Guten in die Zukunft , fortpflanzt*.

Zum Kult der Eumeniden/Semnai Theai siehe die Literatur in Anm. 141 mit Wallace (1985) 217 zum Ort der Kultstätte.

IV. SYNTHESE

Die vorangegangene Analyse der Konstruktion der Handlung der Orestie hat den ,Plot‘ aller drei Stücke als ein hochkompliziertes, aber wohlüber¬ legtes Konstrukt erwiesen, das der aufmerksame Zuschauer im Fortgang der szenischen Handlung teils aus der szenisch präsentierten Handlung selbst, teils aus den expositorischen Informationen, die ihm der Chor oder einzelne dramatis personae liefern, Stück für Stück rekonstruieren kann. Wie sich gezeigt hat, ist dabei der Anteil der szenischen Handlung im ,Agamemnon‘ noch vergleichsweise klein, der Anteil der durch expositorische Informationen vermittelten Handlung dagegen ausgesprochen groß (s. Handlungsschema I): Der schmale Streifen der szenischen Handlung vom Erscheinen des Fackelzeichens über die Ermordung Agamemnons bis zum Auftritt der siegreichen Mörder am Ende ist handgreiflich nicht hinreichend für das Verständnis des Stückes als der Darstellung einer Handlung im Sinne der aristotelischen Definition*. In den ,Choephoren‘ als dem zweiten Stück der Trilogie ist der Anteil direkter expositorischer Information verständlicherweise geringer, wenn auch nicht vollkommen abwesend (s. Handlungsschema II). Es ist evident, daß die Kenntnis des ,Agamemnon‘ beim Zuschauer vorausgesetzt ist; Rückverweise auf den , Agamemnon‘ sind selten (dazu s. u.); neue expositorische Informationen betreffen die Zeitlücke zwischen dem Ende des ,Agamemnon* und dem Beginn der szenischen Handlung in den ,Choephoren‘. Die ,Eumeniden‘ schließlich enthalten gar keine expositorischen Informationen über Hand¬ lung vor dem Beginn des Stückes, die nicht Teil der Handlung der ersten beiden Stücke wäre. Bevor wir jedoch die Gesamtkonstruktion der Trilogie ins Auge fassen, seien noch einmal kurz die ,Plots* der drei Stücke je für sich im Lichte der vorangegangenen Interpretation charakterisiert und auf ihre Sinnhaltigkeit befragt. Zunächst zum ,Agamemnon*; Das erste Stück der Trilogie präsentiert die Handlung als lückenloses Netz von Kausalbeziehungen im Sinne des in Kap. I § 3 entwickelten Kausalbegriffs. Mit zwei Ausnahmen (Orestes im Exil/Menelaos verschollen) sind alle Handlungen und Ereignisse, die entweder szenisch präsentiert oder expositorisch genannt sind, in dieses * Siehe Kap. I § 2.

IV. Synthese

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Netz in der Weise eingewoben, daß sie Teil einer Kausallinie sind, die in die Metabole des Stückes, den Tod Agamemnons, münden. Diese Kausal¬ linien führen jedoch keineswegs geradlinig jeweils von einem Ereignis der Vergangenheit bis zur Metabole, sondern sind ihrerseits so subtil mit¬ einander verwoben, daß sie nur als Gesamtkonstrukt bis zur Metabole des Stückes, dem Tod Agamemnons, führen. Um mit Aristoteles zu sprechen: Die Konstruktion der Handlung bis zur Metabole stellt sich dem nach¬ vollziehenden Zuschauer wahrhaft als ,Desis‘ dar. Die Verschlingung der Kausallinien vom Thyestesmahl zur Rache des Aigisthos, von der Opfe¬ rung Iphigenies bis zur Rache Klytaimestras, vom Troianischen Krieg, der die Gelegenheit zur Verbindung des ehebrecherischen Paares schafft, bis zum Fall Agamemnons, vom Ehebruch Agamemnons bis zum ehe¬ brecherischen Leben seiner Mörder, von Kassandras Vergehen gegen Apollon bis zum Versagen des Chores, von der Hybris des Troianischen Kneges über die Verschlagung des Menelaos bis zur Schutzlosigkeit des Königs, von der Fragwürdigkeit des Kriegszieles (Helena) bis zum Verlust der Solidarität im entscheidenden Moment, usw. Es ist oben eingehend ausgeführt worden, daß erst das Zusammenspiel der Kausal¬ linien die Ermordung ,gelingen' läßt (Kap. II § 9/10). Dies ist ein klarer Hinweis darauf, daß die Tötung Agamemnons nicht die Rachehandlung einer Einzelperson sein konnte, sondern offenbar von einem Handlungs¬ gemenge vorangetrieben worden war, das nur als solches die Ereignisse dem Tod Agamemnons zutreiben konnte. Dieses Gemenge setzt sich zwar aus (freien) Handlungen von Individuen zusammen, gewinnt aber seine finale Wirkungsmacht nur als überindividuelle Struktur. Der Zuschauer erlebt während des ,Agamemnon' in der Darstellung der Handlung mit, was ein Fluch ist, wie er entsteht und wohin er führt. Das Konstruktions¬ muster des ,Gesamtplot' des ,Agamemnon' läßt sich gut mit den aristotelischen Kategorien von ,Desis' und ,Lysis' beschreiben: (1) Desis (Ag. 1-1330), (2) Metabole (Ag. 1331-1341), (3) Lysis (Ag. 1342-1673). In den ,Choephoren' kann der Zuschauer dann mitverfolgen, wie der Fluch sich fortpflanzt (s. Handlungsschema II, dort auch alle Versangaben). Aus dem ,Agamemnon' nimmt das Stück drei Handlungslinien auf: zwei Linien, die im ,Agamemnon' vorbereitend offengeblieben waren (Orestes im Exil/Menelaos verschollen) sowie die Hauptlinie, die von Agamemnons Tod ausgeht. Die Entfaltung des ,Plot' in den ,Choephoren' vollzieht sich wiederum nach dem im ,Agamemnon' begonnenen Prinzip: Ein Gemenge von ,freien' Handlungen organisiert sich zu einem Muster, das die Handlung von einem Ereignis (Agamemnons Tod) zu einem

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anderen (Klytaimestras und Aigisths Tod) treibt, ohne daß ein einzelnes Individuum das Ziel der eigenen Intention nach hätte erreichen wollen (Klytaimestra) oder aus eigenem Vermögen hätte erreichen können (Orestes). Wie im ,Agamemnon‘ Artemis mit der Sendung der Winde in Aulis der Handlung einen entscheidenden (handlungsimmanenten) Impuls gegeben hatte, so ist es in den ,Choephoren‘ der Geist Agamemnons selbst: Er schickt Klytaimestra den Traum, der Elektra und den Chor frühzeitig mit Orestes Zusammentreffen und gemeinsame Opfer und Gebete gegen die Mörder Agamemnons durchführen läßt. Diese Opfer, Gebete und Beschwörungen (= ,Kommos‘) führen zwar zu keinem sichtbaren Erge¬ bnis, doch zeigt wiederum der Handlungsablauf im folgenden, daß hier höhere Mächte am Werk sein müssen. Der menschlich-unvollkommene Plan Orests, der niemals zum Erfolg geführt hätte, wird durch den unvorhergesehenen Gang der Ereignisse korrigiert und zu seinem Ziel geführt. Wiederum ist es Klytaimestra, die maßgeblich auf ihren eigenen Untergang zuarbeitet. Mit ihrem unvorhergesehenen Auftreten am Tor und der Aussendung der Amme zu Aigisthos hat sie die entscheidenden Weichen zum Erfolg Orests gestellt. Wie beim , Agamemnon ‘ mußte der Zuschauer den Gang der Handlung abermals als Wirken eines Fluches interpretieren (Klytaimestra (v)erkennt ihn sogar selbst in tragischer Ironie bei der Meldung von Orests Tod [Cho. 692]). Auch die ästhetische Gesamtstruktur des ,Plot‘ läßt sich mit Aristoteles wiederum als Abfolge von (1) Desis (Cho. 1-930), (2) Metabole (Cho. 931-973) und (3) Lysis (Cho. 974-1076)2 interpretieren. Die Überleitung zu den ,Eumeniden‘ erfolgt dann fließender. Schon am Ende der ,Choephoren‘ fällt Orestes in Wahnsinn, ein Zustand, der sich schnell als Wirkung der Erinyen als der schon in den ersten beiden Stücken latent wirkenden Rachegeister erweist. In den ,Eumeniden‘ selbst wird dann eben dieser zuvor latent wirkende Mechanismus selbst als handelnder Chor zum Akteur der Handlung. Zunächst verläuft die Hand¬ lung scheinbar analog zu den ersten beiden Stücken: Der Mörder Orestes wird gnadenlos gejagt und schließlich zur endgültigen Bestrafung ,gefes¬ selt* (Eum. 307ff.). Zuvor war jedoch die bis dahin rein handlungsimma¬ nent sich fortpflanzende Handlungskette zwar nicht unterbrochen, aber doch durch Eingriffe von außen gezielt abgelenkt worden: Apollon, der zunächst ganz im Sinne eines welt-immanenten Rachegedankens Orestes zur Rache getrieben hatte (Cho. 269ff.), erweist sich schon am Ende der ,Choephoren‘ als Schutzgott Orests, der aus eigenem Impuls heraus (d. h. 2 ,Lysis* hier als Lösung des zentralen .Problems* des Stückes, der Rache an Klytaimestra.

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ohne daß ein Ereignis vorausliegt, das ihn zu dieser Handlung veranlaßt), seinen Schützling nach Delphi schickt (Cho. 1034ff.), dort entsühnt (vor Eum. 1) und anschließend nach Athen sendet (Eum. 79ff.). Diese ,Steue¬ rung der Handlung nach Athen gibt dann in einem zweiten Schritt Athene die Möglichkeit, ebenfalls aus eigenem Impuls von außen eingreifend (Eum. 398ff.), den Erinyen in subtil gestaffelten Schritten die Macht über Orestes zu entreißen und damit den Fluch des Hauses, der die Familie seit dem Streit zwischen Thyestes und Atreus heimgesucht hatte, von seinem jüngsten Sproß zu nehmen (Eum. 752f.). An dieser Stelle könnte man wiederum die erste Metabole des Stückes ansetzen; Bis zum Entkommen Orests vor den Erinyen erfolgt die ,Schürzung* des Handlungsknotens (Desis), der in der Metabole mit der Befreiung Orests in den andauernden Zustand seiner Freiheit umschlägt. Doch das Stück ist an dieser Stelle nicht zu Ende: Die Gefahr, daß die Erinyen Athen vergiften und verwüsten, wird akut (Eum 778ff.). Die Lage wird gefährlich, bis Athene es schafft, auch dieses Problem zu lösen und die vormals den Fluch des Hauses vorantreibenden Rachegöttinnen in Segensspenderinnen zu verwandeln (Eum. 900). Am Ende sind alle Probleme gelöst, und das Stück klingt mit der Gewißheit andauernder Segnung durch die als Eumeniden/Semnai Theai für das Gemeinwesen gewonnenen ehemaligen Erinyen aus. Offenbar wiederholt sich hier im letzten Stück ein zweites Mal die Sequenz der Desis (bis Eum. 899), Metabole (Eum. 900) bis zur endgültigen Lysis (Eum. 901ff.). Mit diesem Überblick ist die Makrostruktur der ,Plots* der drei einzelnen Stücke der Orestie benannt und ihr möglicher Sinn angedeutet. Die Frage, die bezüglich der Konstruktion der Handlung noch offen ist, ist die nach der Verknüpfung der ,Plots* der Einzelstücke zu einem ,Gesamtplot* der Orestie als einer Trilogie. Wie hängen die drei Stücke auf der Ebene der Konstruktion der Handlung zusammen? Beginnt das jeweils folgende Stück nur dort, wo das vorhergehende endete? Dann stünde die Frage im Raum, woher die jeweils folgenden Stücke eigentlich ihr dramatisches Anfangspotential beziehen, wenn doch das jeweils vor¬ hergehende Stück mit einem Zustand ohne dramatische Komplikation endete (Lysis: Agamemnon ist tot und die Mörder herrschen in Argos [Ag.] bzw. Klytaimestra und Aigisthos sind tot [Cho.]). Doch schon die Analyse der ,Plots* der Stücke hat gezeigt, daß - wie der ,Plot* des ,Agamemnon* weit in die Vorgeschichte der gesamten Trilogie ausgreift (s. Handlungsschema I) - auch die Konstruktion der Handlung der ,Choephoren* und der ,Eumeniden* weit in die vorhergehenden Stücke

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hineinreicht (s. o. Kap. III § 1 und § 5). Die Handlung setzt jeweils exakt an der Metabole des vorhergehenden Stückes an: Der Tod Agamemnons (Ag. 1331-1371) bildet den kausalen Motor der Handlung der ,Choephoren‘ und der Tod Klytaimestras (Cho. 931ff.) den der ,Eumeniden‘, wobei innerhalb der ,Eumeniden‘ mit der Befreiung Orests (Eum. 752f.) noch eine weitere Handlungskomplikation geschaffen wird, die schließlich mit der Versöhnung der Erinyen (Eum. 900) endgültig gelöst wird. Diese kausale ,Verzahnung* der Stücke ineinander, in der die Metabole des vorhergehenden Stückes jeweils zum Keim der dramatischen Komplikation des folgenden Stückes wird (s. Handlungsschema II-III: ,Choephoren‘ und ,Eumeniden‘ nehmen ihren Ausgangspunkt vom Tod Agamemnons bzw. Klytaimestras), wird jedoch nicht nur als Rückbezug eines jeden Stückes auf das vorhergehende realisiert, sondern auch von jedem einzelnen Stück aus vorbereitend und vorausweisend. Dies lehrt eine Aufstellung aller Informationen, die im Laufe der Orestie vergeben werden (s. die Appendix). Stellt man nämlich parallel zur szenisch präsentierten Handlung (mittlere Spalte) sämtliche Informationen zusammen, die der Zuschauer sukzessive im Verlauf des Stückes über Ereignisse erhält, die entweder vor dem Beginn der szenisch präsentierten Handlung (= expositorische Information) oder nach dessen Ende (also im nächsten Stück) im Handlungskonstrukt des Stückes liegen, so zeigt sich, daß vorausweisende Informationen in allen Stücken exakt vor der Metabole des jeweiligen Stückes einsetzen und auf diese Weise die Metabole des Stückes vorab in das Handlungskonstrukt do-s folgenden Stückes eingliedem. Der Befund ist tatsächlich erstaunlich: Im ,Agamemnon* ist zum ersten Mal vorausweisend von einem Folge¬ ereignis nicht eher als unmittelbar vor der Ermordung Agamemnons die Rede. Kassandra weist andeutend auf die vorhersehbare Folge der drohen¬ den Katastrophe hin: die Rache durch Orestes (Ag. 1279ff. 1318f. 1322ff.). Dann folgt als Metabole/Katastrophe des Stückes die Ermordung Agamemnons (und Kassandras) (Ag. 1343/45). Danach häufen sich dann vorausweisende Bemerkungen, die auf die drohende Gefahr im nächsten Stück vorbereiten (Ag. 1534. 1567ff. 1646ff. 1667: je nach Sprecher als Hoffnung auf oder Furcht vor Rache)L Mit dem seherischen Voraus wissen der Handlung des folgenden Stückes durch Kassandra wird also der Faden der Handlung der ,Choephoren* noch im ,Agamemnon*

3 Siehe die unterstrichenen Einträge in der letzten Spalte der Agamemnon-Tabelle in der Appendix.

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angesponnen. Der ,Plot‘ der ,Choephoren‘ hakt kurz vor der Metabole des ,Agamemnon‘ ein. Die gleiche Technik der gleichzeitigen Rückbindung und der voraus¬ weisenden Verankerung des ,Plot‘ wird in der konstruktiven Verbindung der ,Plots‘ der ,Choephoren‘ und der ,Eumeniden‘ angewendet. Wiederum erst unmittelbar vor der Metabole/Katastrophe der ,Choephoren‘ beginnen die vorausweisenden Informationen: Im Gespräch zwischen Klytaimestra und Orestes kommen erstmals das Problem des Muttermordes, das von Orestes so lange verdrängt worden war, und die Gefahr, von den Erinyen Klytaimestras anschließend verfolgt zu werden, zur Sprache (Cho. 896930, bes. 924). Dann folgt die Ermordung Klytaimestras (Cho. 931-934), und von da an enthüllen sich sukzessive die Folgen der Tat für Orestes und sein zukünftiges Schicksal (Cho. 987. 1009. bes. 1021ff. etc.). Auch der ,Plot‘ der ,Eumeniden‘ klinkt sich also durch die Vergabe vor¬ ausweisender Informationen unmittelbar vor der Metabole/Katastrophe des vorhergehenden Stückes in die Handlung ein und holt somit diese Katastrophe des vorhergehenden Stückes als pragmatischen Keim in den ,Plot‘ des folgenden Stückes hinüber. Innerhalb der ,Eumeniden‘ wird dieses Verfahren gleich doppelt ange¬ wandt. Wie wir gesehen haben, erfährt die Handlung der ,Eumeniden‘ gleich zwei Metabolai: eine bei der Befreiung Orests (Eum. 752f.) und eine bei der Umstimmung der Erinyen (Eum. 900). Das schafft für die Konstruktion der Handlung - wie beim Übergang zwischen den Stücken abermals das Problem, an die ,Lösung‘ einer Handlungs-Komplikation (hier: Freiheit Orests) eine neue dramatische Komplikation anzubinden, die dann ihrerseits ihrer Metabole zutreibt. Das Problem ist auch inner¬ halb der ,Eumeniden‘ wie bei der Verknüpfung der ,Plots‘ von ,Agamem¬ non*/,Choephoren* und ,Choephoren‘/,Eumeniden‘ gelöst: Vor der Pro¬ zeßhandlung, die in die Befreiung Orests mündet, stellt Athene die Gefahr vor Augen, die eintreten wird, wenn Orestes gewinnt bzw. die Erinyen unterliegen (Eum. 477-479). Nach der Erlösung Orests (Eum. 752f.) wird die Gefahr akut (Eum. 778ff.), strebt auf eine letzte Metabole zu und erfährt dann ihre endgültige Lösung. Auch hier liegt dieselbe Technik vor: Der letzte Handlungsabschnitt klinkt sich vor der vorhergehenden Metabole ein und macht sie zum Motor seiner eigenen inneren Dynamik. Damit sind die Ereignisse des zweiten und dritten Stücks im ersten und zweiten Stück gleichsam präfiguriert. Dies führt schon im jeweils vorhergehenden Stück vor Augen, daß zum nächsten Stück ein UrsacheWirkungszusammenhang besteht, der die Handlung dynamisch voran-

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treibt. Die Folgen eines Ereignisses sind bereits vor dessen Eintreten präsent. Diese Technik, die dramatischen Handlungssequenzen miteinander zu verknüpfen, verleiht der Konstruktion der Handlung eine einzigartige Homogenität, Kompaktheit und Geschlossenheit. Sie garantiert die ,Einheit* der Handlung der gesamten Trilogie. Das Handlungsschema IV zur Orestie insgesamt führt dies sinnfällig vor Augen. Jedes Stück folgt der Sequenz Desis - Metabole - Lysis. Jedes folgende Stück knüpft die Desis-Phase seines ,Plot‘ an einen Punkt (im Schema durch einen Kreis dargestellt) kurz vor der Metabole des Vorgängers (in den ,Eumeniden‘ doppelt) (im Schema ein schwarzes Quadrat). Die Handlung jedes Stückes wird auf diese Weise früh im vorhergehenden Sück angesponnen und reicht weit in dieses hinein. Der Rhythmus von ,Desis und Lysis* wird kürzer von Metabole zu Metabole, so daß in den ,Eumeniden* sogar zwei von ihnen zu finden sind. Die Komplexität des Handlungsgemenges erreicht im Mord Orests an Klytaimestra ihren höchsten Grad. Die gesamte Geschichte des Hauses, aufgeladen mit der komplexen Struktur seiner immanenten Kausalitäten, und damit der lange in ihm wütende Fluch ist - wie die Analyse der Stücke gezeigt hat - in dieser Tat präsent. Nicht zufällig kommentiert der Chor im Moment der Katastrophe die Tat mit den Worten (Cho. 932f.): πολλών αιμάτων έπήκρισεν τλήμων Όρέστης. „Den höchsten Punkt der Bluttaten hat der Dulder Orestes erreicht.“

Damit läßt sich der Mord Orests an Klytaimestra in den ,Choephoren* als Haupt-Metabole der gesamten Orestie verstehen: vorbereitet durch eine unendlich komplexe Handlungsstruktur als ,Gesamt-Desis*, aufgelöst in einer in kleinen Schritten sich vollziehenden ,Gesamt-Lysis*. Diese Makrostruktur des ,Plot* der Orestie bildet somit gleichsam das innere Geschehen der Orestie formal ab: die Akkumulation des Fluches und sein sukzessives, kaskadenartigens Abklingen durch gezielte göttliche Eingriffe von außen. Sie wird damit zum zentralen Sinnträger der Trilogie. Was noch bleibt, ist die Erage nach dem bemerkenswerten Ergebnis der Handlung der Orestie: Sämtliche Handlungslinien der Trilogie münden schließlich in die Begründung und Stiftung zentraler historischer Bünd¬ nisse und Institutionen Athens: (a) Athene stiftet den Areopag als zentrale Institution der Blutsgerichtsbarkeit für den Prozeß gegen Orestes und für

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die Zukunft (Eum. 683: ές τό λοιπόν) (Eum. 681 ff.), (b) Orestes gelobt nach seiner Befreiung ewige (Eum. 763: τό λοιπόν ές άπαντα πλειστήρη χρόνον) Bundesgenossenschaft zwischen Argos und Athen (Eum. 762ff.; vgl. 289ff. 667ff.): ein Bündnis, das Athen im Jahre 462/1 V. Chr. mit Argos geschlossen hatte“*, (c) Athene begründet mit ihrer Umstimmung der Erinyen den Kult der Semnai Theai (= Eumeniden) in Athen (Eum. 881 ff. 916ff.)5. Am Ende erweist sich die gesamte Orestie als riesige dramatische Aitiologie der politisch-religiösen historischen Verhältnisse Athens. In einer Untersuchung über den ,Plot‘ der Orestie ist nicht der Ort, die politischen, rechtsgeschichtlichen und religionswissenschaftlichen Proble¬ me aufzuarbeiten, die die drei genannten historischen Bezüge aufwerfen. Dies müßte das Thema vieler weiterer Arbeiten sein. Daher sei hier nur aus der Perspektive der in der vorliegenden Analyse des ,Plot‘ ge¬ wonnenen Ergebnisse eine Vermutung gewagt, weshalb Aischylos ausgerechnet einen Geschlechterfluch verwendet, um schließlich Athens Sicherheit, Gerechtigkeit und Gedeihen aitiologisch zu feiern. Die Ant¬ wort könnte darin liegen, daß sich im Geschlechterfluch des argivischen Königshauses eine Struktur von Wirklichkeit offenbart hat, die nicht nur in der desaströsen Geschichte einer mythischen Familie vorhanden ist, sondern die Struktur menschlicher Geschichte überhaupt offenbart. Bereits der Chor im ,Agamemnon* hatte von der ,Fortpflanzung* der Qualität einer Tat in ihre Folge gesprochen (Ag. 758-772)**. In diesen Versen ist nicht allein von der Fortpflanzung von Verbrechen die Rede, sondern auch von der Fortpflanzung von Recht, das zu Segen und Gedeihen führt. Bis zu ihrer Umstimmung durch Athene in Eum. 900 haben die Erinyen die gesamte Orestie hindurch das Fortpflanzungs¬ prinzip des Verbrechens verkörpert. Doch ist es offenbar die Beschaffen¬ heit der Ausgangstat, die die Folge in ihrer Qualität determiniert. Die Erinyen wirken dabei lediglich als reines Fortpflanzungsprmzip, denn aus guten Taten erwachsen wiederum gute Taten und garantieren dem Haus (oder der Stadt, dem Land) ,Segen*. Aus dieser frühen Äußerung des Chores des ,Agamemnon* wird deutlich, weshalb Athene die Erinyen nicht vernichtet. Sie könnte es gar nicht, denn sie repräsentieren das in der Welt allenthalben wirkende Fortpflanzungs- oder modern ausge¬ drückt: das Kausalitätsprinzip komplexer Handlungs- und Ereignis-

^ Siehe Kap. III § 9. 5 Siehe Kap. III § 9. 6 Text und Übersetzung siehe Kap. II § 10, S. 187f.

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gemenge, und zwar in allen Lebensbereichen: im menschlichen Zusam¬ menleben wie in der Natur, in den Rechtsbeziehungen der Menschen wie in der Fruchtbarkeit der Felder, im innen- und außenpolitischen Gedeihen einer Polis wie in der Gesundheit von Mensch, Vieh und Ernte. Ist einmal ein guter Anfang gemacht, ,pflanzt‘ er sich fort. Gesundes gebiert Gesundes, Krankes gebiert Krankes. Als ein solches Grundprinzip von Wirklichkeit kann die Göttin die Erinyen nicht vernichten, sondern sie kann sie nur gewinnen und zum Guten wenden. Denn das gleiche Prinzip vermag - ist die Verbindung zum Bösen einmal gelöst, d. h. der Fluch gebrochen -, segensreich zu wirken. Athene hat Orestes den Erinyen subtil entwunden und kann somit einen neuen Anfang machen. Die Erinyen können durch ihr Wirken Unrecht bekämpfen und Segen schaffen (vgl. Eum. 950-955). In diesem Vermögen sind sie ,Eumeniden‘. In dieser Darstellung der Struktur der Wirklichkeit liegt freilich auch ein mahnender Appell an die Bürger der Stadt: Die Orestie hat eindrücklich vor Augen geführt, wie schnell ein Unrecht eine Dynamik im Fortgang der Ereignisse entwickelt, die von niemandem mehr kontrolliert werden kann, und die schießlich jeden mitreißt und in Un¬ recht verstrickt. Im Bewußtsein dieser Grundgegebenheit aller Lebens¬ wirklichkeit gilt es, auf der Hut zu sein und einen ,Fluch‘ wie den im Hause des Atreus gar nicht erst entstehen zu lassen. Die Göttin Athene hat mit der Gewinnung der Erinyen als Eumeniden für ihre Stadt eine gute Voraussetzung dazu geschaffen. Jetzt liegt es an den Bürgern, dafür zu sorgen, daß aus ihrem Handeln ,Segen‘ entsteht.

Appendix: Der Verlauf der Orestie des Aischylos: Die Sukzession von szenischer Handlung und expositorischer Informationsvergabe

1. , Agamemnon ‘

Die Übersicht präsentiert die Sukzession (a) der Auf- und Abtritte der dramatis personae im Wechsel mit den Chorpartien, (b) der Haupt-Handlungsschritte der szenischen Handlung, (c) der Vergabe von expositorischen (d. h. in die Vergangenheit ver¬ weisenden) und vorausweisenden Informationen. In Spalte (b) ist die jeweilige Metabole/Katastrophe des Stückes fett gedruckt; in Spalte (c) bedeutet unterstrichen: Information, die auf in der Trilogie dargestellte Ereig¬ nisse vorausweist, und kursiv. Information, die aus der Trilogie heraus in die historische Realität Athens verweist (Aitiologie).

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