Charakterisierung im Dialog: Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium im Kontext anderer frühchristlicher Darstellungen 9783666539879, 9783525539873, 9783727815874

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Charakterisierung im Dialog: Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium im Kontext anderer frühchristlicher Darstellungen
 9783666539879, 9783525539873, 9783727815874

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Novum Testamentum et Orbis Antiquus / Studien zur Umwelt des Neuen Testaments Herausgegeben im Auftrag des Departs für Biblische Studien der Universität Freiburg Schweiz von Max Küchler, Peter Lampe und Gerd Theißen

Band 64

Vandenhoeck & Ruprecht Academic Press Fribourg

Judith Hartenstein

Charakterisierung im Dialog Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium im Kontext anderer frühchristlicher Darstellungen

Vandenhoeck & Ruprecht Academic Press Fribourg

Meinen Eltern

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-53987-3 (Vandenhoeck & Ruprecht) ISBN 978-3-7278-1587-4 (Academic Press)

© 2007, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen und Academic Press / Paulusverlag Freiburg Schweiz. Internet: www.v-r.de und www.paulusedition.ch Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: b Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung 1. Ansatz und Absicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Methodische Grundlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Narratologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Kommunikationssituation und die Bedeutung der LeserInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Analyse von Charakteren in der Narratologie . . . . . . . . . . 3.4 Die historische Ausweitung des narratologischen Ansatzes . . 4. Erzählerische Grundstrukturen im JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Erzählsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Fokussierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 AdressatInnen und LeserInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das mögliche Vorwissen der LeserInnen – zur Rekonstruktion eines Diskussionskontextes für die Personendarstellungen im JohEv . . 5.1 Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Die wichtigsten Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Vom Nutzen und Effekt des Vergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zum weiteren Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Das Überblickskapitel (Kap. II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Analysen zu Einzelpersonen (Kap. III–VI) . . . . . . . . . . . . . . . II. Charakterisierung im JohEv: allgemeine Analyse 1. Vorkommende Personen und Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Wichtige Einzelpersonen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Gruppen als Handlungs- und Gesprächsträger . . . . . . . . . . . . . 2. Direkte Beschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Ausdrückliche Charakterisierung (ohne Jesus) . . . . . . . . . . . . 2.2 Gruppenzugehörigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Verwandtschaft und Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Einführung und Wiederauftritt von Personen: Namen und Bezeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3. Indirekte Präsentation: Handlungen (Zuordnung von Verben zu Personen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Verben der Bewegung (kommen, nachfolgen, bleiben) . . . . . 3.2 Verben der Wahrnehmung (sehen, hören) . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Glauben (pisteu/w) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Vertiefte Erkenntnis (wissen, erkennen, erinnern) . . . . . . . . . . 3.5 Beziehungsverben (lieben, hassen, senden) . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Handlungen nach außen (bezeugen, verkündigen) . . . . . . . . . 3.7 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen und -verhalten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Allgemeines zu Gesprächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Aufforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Bekenntnisaussagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Veranlassung zu Selbstaussagen Jesu – Offenbarung im Dialog? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Indirekte Präsentation: weitere Interaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Reaktionen auf Jesus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Handlungen mit Jesus als Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Dreiecksbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Ergebnis: Die Offenheit der Charakterisierung im JohEv . . . . 6.2 Die Personalstruktur des JohEv – Aktantenanalyse . . . . . . . . . 6.3 Die Position der LeserInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Maria Magdalena 1. Maria Magdalena im JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Überblick und Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Maria Magdalena beim Kreuz Jesu (Joh 19,25) . . . . . . . . . . . . 1.3 Maria Magdalena am Grab Jesu: Aufbau von Joh 20,1–18 . . 1.4 Die Rolle von Maria Magdalena in Joh 20,1–18 . . . . . . . . . . . 1.5 Maria Magdalena im JohEv: Offene Fragen und Anknüpfungspunkte für die LeserInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Frühchristliche Traditionen über Maria Magdalena . . . . . . . . . . . . 2.1 Maria Magdalena in frühchristlichen Schriften (Überblick) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Schwerpunkte und Entwicklungen der Traditionen zu Maria Magdalena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Vergleichstexte für die johanneische Darstellung . . . . . . . . . .

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Inhalt

3. Maria Magdalena als Jüngerin in ihrer Beziehung zu Jesus und den Jüngerinnen und Jüngern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Maria Magdalena und andere Jüngerinnen bei der Passion (Mk 15,40f par) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Maria Magdalena als Jüngerin während des Wirkens Jesu (Lk 8,1–3) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Maria Magdalena als bestätigte Jüngerin (EvThom 114) . . . . 3.4 Maria Magdalena als geliebte Gefährtin Jesu (EvPhil) . . . . . . 3.5 Maria Magdalena als Lieblingsjüngerin und Vertreterin Jesu (EvMar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6 Zusammenfassung: Maria Magdalena im JohEv als Person unabhängig von der Frauengruppe . . . . . . . . . . . . . 4. Maria Magdalenas Botschaft: Auferstehung, Aufstieg und Ort Jesu und der JüngerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Botschaft von der Auferstehung in Ostergeschichten . . . 4.2 Die Existenz der JüngerInnen (EvThom 21) . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Der Aufstieg der JüngerInnen (SJC, Dial) . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Der Aufstieg der Seele (EvMar) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zusammenfassung: Maria Magdalena als Botschafterin des Aufstiegs . . . . . . . . . . 5. Maria Magdalena als Autorität und das Verhältnis zu Petrus . . . . 5.1 Auferstehungs- und Erscheinungszeugin . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Maria Magdalena und Petrus in Lk 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Der Konflikt mit Petrus um eine Führungsrolle (EvMar) . . . . 5.4 Zusammenfassung: Maria Magdalena als ApostelIn im JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Charakterisierung von Maria Magdalena im JohEv . . . . . 6.2 Charakterisierung in der Kommunikation mit den LeserInnen 6.3 Das JohEv und die Entwicklung der Traditionen zu Maria Magdalena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Petrus 1. Petrus im JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Überblick und Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Berufung (Joh 1,40–42) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Bekenntnis (Joh 6,68f) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Abschiedsmahl und -reden (Joh 13,6–10.24.36–38) . . . . . . . . 1.5 Verhaftung und Verleugnung (Joh 18,10f.15–18.25–27) . . . . 1.6 Petrus und der geliebte Jünger – Ostern (Joh 20,2–10; 21) . . . 1.7 Petrus im JohEv: Offene Fragen und Anknüpfungspunkte für die LeserInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2. Frühchristliche Traditionen über Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Petrus in frühchristlichen Schriften (Überblick) . . . . . . . . . . . 2.2 Schwerpunkte und Entwicklungen der Traditionen zu Petrus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Vergleichstexte für die johanneische Darstellung . . . . . . . . . . 3. Petrus als Jünger und seine Beziehung zu Jesus und den anderen JüngerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Der Erstkontakt und der Name Kephas / Petrus . . . . . . . . . . . . 3.2 Das Bekenntnis des Petrus (synoptische Evangelien, EvThom 13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Die Ankündigung der Verleugnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Petrus und Jesu Weg ins Leiden (Verhaftung und Verleugnung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Zusammenfassung: Petrus als ein verlässlicher Jünger . . . . . . 4. Die Begründung der nachösterlichen Autorität des Petrus . . . . . . . 4.1 Petrus als Erscheinungszeuge bei Paulus und im LkEv . . . . . 4.2 Die Berufung des Petrus (Lk 5,1–11 und Joh 21,1–14) . . . . . 4.3 Die Berufung des Petrus (Mk 1,16f par und Joh 21,15–19) . . 4.4 Das Amt des Petrus in 1Petr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Kritik an der Autorität des Petrus in EvThom und EvMar . . . 4.6 Zusammenfassung: Petrus als Autorität neben anderen . . . . . 5. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Charakterisierung des Petrus im JohEv . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Charakterisierung in der Kommunikation mit den LeserInnen 5.3 Das Petrusbild des JohEv und die Entwicklung der Petrustraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Thomas 1. Thomas im JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Überblick und Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Thomas’ Aufforderung zum Mitsterben (Joh 11,16) . . . . . . . . 1.3 Die Frage nach dem Weg (Joh 14,5f) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Thomas und die Auferstehung Jesu (Joh 20,24–29) . . . . . . . . 1.5 Der nachösterliche Fischzug (Joh 21,2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6 Thomas im JohEv: Offene Fragen und Anknüpfungspunkte für die LeserInnen . . 2. Frühchristliche Traditionen über Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Thomas in frühchristlichen Schriften (Überblick) . . . . . . . . . . 2.2 Schwerpunkte und Entwicklungen der Traditionen zu Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Vergleichstexte für die johanneische Darstellung . . . . . . . . . .

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Inhalt

3. Der Name: Thomas – Didymos – Judas und die Beziehungen zu Jesus, den anderen JüngerInnen und den Späteren . . . . . . . . . . . 3.1 Thomas als Zwilling Jesu in ActThom und LibThom . . . . . . . 3.2 Der Befund im EvThom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Überlegungen zur Entstehung und Entwicklung der Tradition von Judas Thomas dem Zwilling Jesu . . . . . . . . . . . 3.4 Thomas als Zwilling im JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Das Bekenntnis des Thomas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Weg Jesu und der JüngerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Thomas und der Weg in Dial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Thomas und der Weg im JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Thomas und die Passion Jesu – Sterben, Leben, Leiblichkeit und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Thomas und die Auferstehung in EpAp und JohEv . . . . . . . . . 5.2 Sterben, Leben, Leiblichkeit und Glaube im EvThom . . . . . . 5.3 Leben und Sterben im JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Das Thomasbild im JohEv vor dem Hintergrund der Sicht von Leben und Tod im EvThom . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Charakterisierung des Thomas im JohEv . . . . . . . . . . . . . 6.2 Charakterisierung in der Kommunikation mit den LeserInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das JohEv und die Entwicklung der Thomastraditionen . . . . VI. Maria, die Mutter Jesu 1. Die Mutter Jesu im JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Überblick und Name . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Mutter Jesu beim Weinwunder in Kana (Joh 2,1–12) . . . 1.3 Die Erwähnung der Eltern Jesu (Joh 6,42) . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die Mutter beim Kreuz Jesu (Joh 19,25–27) . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Die Mutter Jesu im JohEv: Offene Fragen und Anknüpfungspunkte für die LeserInnen . . 2. Frühchristliche Traditionen über die Mutter Jesu . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Mutter Jesu in frühchristlichen Schriften (Überblick) . . . 2.2 Schwerpunkte und Entwicklungen der Traditionen zur Mutter Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Vergleichstexte für die johanneische Darstellung . . . . . . . . . . 3. Die Mutter Jesu als Jüngerin: ihre Beziehungen zu Jesus, seinen Geschwistern und JüngerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Die Familie Jesu (Mt 12,46–50 par) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die Seligpreisung der Mutter Jesu (Lk 11,27f par EvThom 79) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

3.3 Die Mutter Jesu und die Frauengruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Zusammenfassung: Maria als Jüngerin statt als Glied der Familie Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Mutter Jesu und ihre Mutterrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Die Verehrung der Mutter Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Ablehnung der Mutter Jesu im EvThom . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Mutter Jesu als Problem für die Christologie (Mk 6,3 par Joh 6,42) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Zusammenfassung: Das Muttersein Marias im JohEv . . . . . . 5. Auswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die Charakterisierung der Mutter Jesu im JohEv . . . . . . . . . . 5.2 Charakterisierung in der Kommunikation mit den LeserInnen 5.3 Das JohEv und die Entwicklung der Traditionen über die Mutter Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Ergebnis 1. Vorgehen und Ertrag: Die Darstellung von JüngerInnen im JohEv 1.1 Ansatz und Durchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Tendenzen der johanneischen Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Fortschritte gegenüber der bisherigen Forschung . . . . . . . . . . 1.4 Charakterisierung in der Kommunikation mit den LeserInnen 1.5 Das JohEv und die Entwicklung von frühchristlichen Traditionen über Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ausblicke: Weitere Personen und die historische Einordnung des JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur Problematik von Rückschlüssen auf die historische Situation des JohEv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Der geliebte Jünger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die I>oudai~oi und weitere Personen im JohEv . . . . . . . . . . . . .

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VIII. Literatur Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IX. Register 1. Stellenregister 1.1 Schriften des Alten Testaments und frühjüdische Schriften . . 1.2 Schriften des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Frühchristliche Schriften (Apokryphen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Frühchristliche Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Stichwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333 333 343 346 347

1. 2. 3. 4.

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Vorwort

Diese Untersuchung wurde im Sommersemester 2006 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als Habilitationsschrift angenommen und für den Druck geringfügig überarbeitet. Viele Menschen haben den Prozess der Entstehung der Arbeit begleitet und unterstützt, von denen ich nur wenigen ausdrücklich danken kann: Die Anfänge der Arbeit reichen an die Kirchliche Hochschule Wuppertal zurück, hier danke ich insbesondere Prof. Dr. Klaus Haacker, dessen Assistentin ich sein durfte. Prof. Dr. Angela Standhartinger hat mich als ihre Assistentin nach Marburg geholt und mir optimale Rahmenbedingungen für die Abfassung geboten. Ich danke ihr für viele Gespräche, die die Entwicklung der Arbeit inhaltlich gefördert und herausgefordert haben, und für die umfassende persönliche Unterstützung; ich hätte mir keine bessere Zusammenarbeit wünschen können. Prof. Dr. Friedrich Avemarie danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens mit vielen sehr hilfreichen Anregungen, für vielfältige Ermutigung und die schöne Zusammenarbeit im Fachgebiet Neues Testament. Ich danke den Mitgliedern der exegetischen Arbeitsgemeinschaft, mit denen ich die noch rohen Entwürfe und Ideen diskutieren konnte, für ihr weiterführendes Mitdenken. Friederike Oertelt und Timo Glaser aus diesem Kreis danke ich außerdem für die Mühe des Korrekturlesens. Und schließlich danke ich PD Dr. Silke Petersen für viele bei aller Arbeit vergnügliche Stunden, in denen wir gemeinsam um das Verständnis des Johannesevangeliums gerungen haben. Den Herausgebern von NTOA/StUNT, insbesondere Prof. Dr. Dr. Gerd Theißen, danke ich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe. Für die erhebliche Beteiligung an den Druckkosten danke ich der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Universitätsstiftung der Philipps-Universität Marburg. Widmen möchte ich diese Arbeit meinen Eltern, die an mich geglaubt und sich mit mir gefreut haben. Ohne sie wäre ich nicht hier. Marburg, im September 2007

Judith Hartenstein

I. Einleitung

1. Ansatz und Absicht Die vorliegende Arbeit fragt nach der Darstellung von JüngerInnen im JohEv. Ich will erheben, welches Bild das JohEv von ihnen – einigen Einzelpersonen und der ganzen Gruppe – entwirft. Dieses Bild entsteht in der Kommunikation mit den LeserInnen. Meine Arbeit ist deshalb auch ein Versuch, diese Kommunikation, die Deutung des Textes durch die LeserInnen und seine Wirkung auf sie, am konkreten Beispiel der Personendarstellung nachzuvollziehen. Mein eigener Zugang begann mit dem Interesse an den fünf wesentlichen Frauengestalten im JohEv: ihrer Rolle im Evangelium und ihrem Verhältnis zu den bekannten männlichen Jüngern. Diese Frauen bilden jedoch keine abgegrenzte Gruppe, eine Analyse der Einzelgestalten ohne Vergleich mit anderen Personen ist nicht sinnvoll. Vielmehr gehört die Frage nach ihrer Rolle und Funktion in den größeren Kontext der Analyse von JüngerInnen im engeren und weiteren Sinne.1 Methodisch bietet sich für diese Frage eine narratologisch orientierte Analyse an, also die Anwendung der von der Literaturwissenschaft z.B. für die Analyse von Romanen entwickelten Theorien auf das JohEv. Dies ist der grundlegende Ansatz meiner Arbeit, der auch das Herangehen an den Text, d.h. z.B. die Orientierung am (textkritisch gesicherten) vorliegenden Text bei Verzicht auf Literarkritik, bestimmt.2 Der narratologische Zugang 1 Es ist ein weitgehender Konsens der Forschung, dass im JohEv auch Frauen zu den AnhängerInnen Jesu gehören und ihre Funktion sich nicht grundlegend von den ausdrücklich als Jüngern bezeichneten Männern unterscheidet. Sie alle stehen in Kontakt zu Jesus, werden belehrt, glauben, bekennen, missverstehen und verkündigen anderen. Die Bezeichnung als Jüngerinnen und Jünger trifft deshalb ihre Rolle und ihr Verhältnis zu Jesus. Damit ist aber noch nicht impliziert, dass das JohEv mit dem Begriff machtai/ ebenfalls eine Gruppe von Frauen und Männern bezeichnet, aber dies ist zumindest möglich, weil die machtai/ eine offene Gruppe und nicht auf die Zwölf beschränkt sind. Zur genaueren Abgrenzung s.u., II.2.2; II.6.1. Deshalb schreibe ich von JüngerInnen. 2 Ich will nicht ausschließen, dass das JohEv seine Gestalt durch eine längere Entstehungsgeschichte gefunden hat. Aber sie liegt nicht im Blickfeld einer Untersuchung, die die Erzählung mit allen Spannungen und Brüchen als eine Erzählung begreift, die sich – bis zum Beweis des Gegenteils – als einheitlich und kohärent lesen lässt. Meine Textbasis ist deshalb das JohEv, so wie es sich textkritisch als frühester Text rekonstruieren lässt. D.h. die Perikope von der Ehebrecherin gehört nicht dazu, wohl aber Joh 21. M.E. bestätigt der Verlauf der Untersuchung, dass für die Darstellung der Personen (insbesondere des Petrus) die Einbeziehung von Joh 21 sinnvoll ist; vgl. V.1.5. Zur Zugehörigkeit von Joh 21 zum JohEv vgl. Bauckham, Beloved, 27f; Thyen, Johannesevangelium, 772f.

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Einleitung

stößt jedoch bei der Analyse von Charakteren und Charakterisierung im JohEv an Grenzen, die zu weitreichenden Veränderungen im Ansatz zwingen. Im Laufe der Arbeit hoffe ich, überzeugend darlegen zu können, was ich hier als These vorwegnehme: Die Darstellung von Personen im JohEv lässt sich nicht aus dem Text des Evangeliums allein erheben, es setzt ein Vorwissen der LeserInnen3 nicht nur voraus, sondern bezieht es als wesentliche Komponente in die eigene Darstellung mit ein. Viele der vorkommenden Personen sind schon bekannt und sollen auch bekannt sein – das JohEv entwickelt das eigene Profil der Darstellung im Dialog mit diesen schon vorhandenen Sichtweisen. Einleitung Um diesem Phänomen gerecht zu werden, ist ein Vergleich der johanneischen Darstellung mit anderen Positionen sinnvoll. Zu vielen Einzelpersonen existieren Zeugnisse aus dem 1.–2. Jahrhundert,4 die ähnliche oder auch andere Bilder derselben Personen entwerfen und die in eine fruchtbare Beziehung zu den Joh-Texten gebracht werden können. Ein Problem der Quellenlage ist jedoch, dass nur wenige dieser Zeugnisse eindeutig früher als das JohEv datiert werden können und in keinem Fall eine Kenntnis durch das JohEv schlüssig nachgewiesen werden kann.5 Aber unabhängig von der konkreten Datierung der einzelnen Schriften ist zu vermuten, dass die Darstellung von Personen in ihnen zumindest teilweise auf ältere Diskussionen zurückgreift. Die Verschriftlichung kann in vielen Fällen als ein Punkt eines längeren Überlieferungsprozesses angesehen werden.6 Zudem 3 Das JohEv versteht sich selbst als Buch (20,31), deshalb ist es naheliegend, als Gegenüber von den LeserInnen zu sprechen. Dieser Bezug Buch-LeserInnen ist aber modern gedacht, für die Antike gehören zum Buch vielleicht eher HörerInnen (vgl. Alexander, Ancient, 86), das JohEv hat HörerInnen im Blick (vgl. II.3.2). Ich schreibe im Folgenden trotzdem LeserInnen, weil für die LeserInnen meines Buches einschließlich mir selbst HörerInnen nur schwer als Gegenüber eines Buches erkennbar sind. 4 D.h. ungefähr zeitgleich mit dem JohEv. Ich gehe von einer Abfassung um 100 oder Anfang des 2. Jahrhunderts aus, vgl. Schnelle, Evangelium, 7f, der einen weitgehenden Konsens wiedergibt. Anders aber Berger, Anfang, 11 und passim. Meine Sicht beruht wesentlich darauf, dass ich das JohEv im Dialog mit anderen Evangelien oder Evangelientraditionen sehe und eben deshalb nicht in der Frühzeit der Entstehung von Evangelienschriften. Vgl. zur Klassifizierung von Evangelien nach ihrem Verhältnis zu anderen Hartenstein, Petrusevangelium, 176–181. 5 Das Verhältnis des JohEv zu den synoptischen Evangelien ist hoch umstritten. Auch wenn ich es für wahrscheinlich halte, dass das JohEv sie tatsächlich kennt, so ist ein konkreter Nachweis doch kaum zu erbringen. Deutlich ist, dass das JohEv andere Darstellungen der Geschichte Jesu voraussetzt, vgl. Wilckens, Evangelium, 4f; M. Davies, Rhetoric, 30.259 u.ö.; Smith, Prolegomena, 172f. Da die synoptischen Evangelien sich als Bezugsgröße des JohEv eignen und weil sie real existieren und auch schon zur Zeit der Abfassung des JohEv existiert haben, ergibt sich eine gewisse Plausibilität dieser Annahme. Vermutlich hat es aber auch noch weitere Evangelien oder Quellenschriften gegeben, die einfach nicht erhalten sind und (bis auf Q) auch kaum rekonstruiert werden können. Von mündlicher Überlieferung noch ganz zu schweigen. 6 Um noch einmal auf das Verhältnis von JohEv und synoptischen Evangelien zurückzukommen: Unbestritten ist, dass das JohEv auch synoptische Traditionen verarbeitet, ob sie nun schon

Ansatz und Absicht

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ist die Frage nach literarischer Kenntnis und Abhängigkeit vor allem dann entscheidend, wenn nach der Intention der AutorInnen gefragt wird. Meine Perspektive ist dagegen rezeptionsorientiert: Ich suche nach Möglichkeiten, den Text zu lesen und zu deuten, wobei dieser sein Sinnpotential bei den LeserInnen entfaltet. Eine solche Lektüre ist prinzipiell zwischen allen Arten von Texten und völlig unabhängig von der Entstehungszeit möglich. Es ist meine Vorentscheidung, die Vergleichstexte in zeitlicher und inhaltlicher Nähe zum JohEv zu suchen, so dass eine parallele Lektüre auch schon unter frühen LeserInnen des JohEv denkbar und plausibel ist. Ansatz und Absicht Auf diese Weise ergibt sich ein historisch erweiterter narratologischer Ansatz, der das JohEv in seinem literarisch-historischen Kontext liest. Trotzdem versuche ich nicht, eine original antike Lektüre zu rekonstruieren, denn das wäre nicht nur durch die Quellenlage (und die Schwierigkeiten bei Lokalisierung und Datierung) bedingt kaum machbar, sondern auch in der Art des Blicks auf die Texte schwer zu simulieren. Die Perspektive und die Fragen sind meine aus dem 21. Jahrhundert, auch wenn ich sie auf historische Texte anwende. Die Einbeziehung von weiteren Texten zusätzlich zum im Zentrum stehenden Evangelium nimmt auch ernst, dass weder das JohEv noch andere Evangelienschriften in sich geschlossene autonome Größen sind, die z.B. die Figuren neu und eigen entwerfen. Sie geben bei aller eigenständigen Verarbeitung auch vorhandene Traditionen wieder und richten sich an LeserInnen, für die gerade die vorkommenden Personen nicht unbekannt sind. Ein solcher ausführlicher Vergleich kann nicht für alle Personen gleichermaßen durchgeführt werden, sondern verlangt eine Auswahl. Ich habe mich für Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu entschieden, weil für diese Personen ausreichend Vergleichstexte aus ganz unterschiedlichen Bereichen erhalten sind. Zudem spielen sie alle im JohEv eine große Rolle (d.h. sie treten z.B. je mehrfach auf), gehören zu den JüngerInnen und bekleiden dabei durchaus unterschiedliche Positionen. Sie eignen sich so für einen einigermaßen repräsentativen Überblick über die Charakterisierung von Personen aus dem JüngerInnenkreis und ermöglichen auch ansatzweise einen Vergleich von Männer- und Frauenrollen. Zur Forschung

2. Zur Forschung Zum JohEv gibt es inzwischen einige zum Teil monographische Untersuchungen, die sich speziell mit Fragen der Charakterisierung beschäftigen. als Evangelien vorlagen oder eher mündlich umliefen oder in noch anderer Form. Schon deshalb kann ein Vergleich der Texte sinnvoll sein.

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Einleitung

Daneben existieren eine Vielzahl von Arbeiten zu einzelnen Personen – allen voran zum geliebten Jünger –, die teilweise auch narratologisch arbeiten. Sie sind in den jeweiligen Kapiteln einbezogen. Hier sollen zunächst die wichtigsten neueren Studien vorgestellt werden, die sich mit einer Mehrzahl von Personen befassen.7 An ihnen lassen sich Gemeinsamkeiten, aber auch bemerkenswerte Unterschiede in Vorgehen und Ergebnissen erkennen – ebenso wie Schwierigkeiten und offene Fragen, die ich in der Untersuchung durch meinen neuen Ansatz aufnehmen will. In vielerlei Hinsicht grundlegend für die literarische Analyse des JohEv ist R. Alan Culpeppers Buch „Anatomy of the Fourth Gospel“ (1983), eine umfassende konsequent narratologische Untersuchung.8 Es behandelt in Einzelkapiteln „narrator and point of view“, „narrative time“, „plot“, „characters“, „implicit commentary“ und „the implied reader“. Im Kapitel über Charaktere9 geht Culpepper zunächst auf die Hauptfiguren im Evangelium, Jesus und den Vater, ein, behandelt dann die Jünger (im engeren Sinne) als Gruppe und als einzelne, dann die I>oudai~oi und andere Gruppen und schließlich die übrigen „minor characters“. Die den einzelnen Abschnitten zugeordneten Personen und Gruppen bilden jedoch keine homogenen Gruppen, Culpepper stellt eher die Unterschiede, auch z.B. unter den Jüngern, heraus. Die Jesus begegnenden Personen spielen alle nur Nebenrollen, sie haben die Funktion, im Kontakt zu ihm die Identität Jesu für die LeserInnen sichtbar zu machen und je eigene Reaktionen auf ihn zu zeigen, mit denen sich die LeserInnen identifizieren können.10 Auf Letzterem liegt der Schwerpunkt der Untersuchung, die Charaktere beeinflussen in der Kommunikation mit den LeserInnen deren Verhalten. Eine Ordnung der Charaktere ergibt sich durch eine Skala von sieben möglichen Reaktionen auf Jesus. Diese Reihe reicht von Ablehnung (so die I>oudai~oi, evtl. auch die Geschwister Jesu) über heimliche, unverbindliche Zustimmung (Josef von Arimathäa, Nikodemus), Zustimmung zu Jesus als Wundertäter (evtl. der Geheilte, die Eltern des Blindgeborenen), Glaube an sein Wort (Samaritanerin, Basilikos, Blindgeborener), Bindung trotz Missverständnissen (die Jünger insgesamt, Nathanael, Petrus, Thomas, Philippus, Maria und Martha, Maria Magdalena) bis zu beispielhafter Jüngerschaft (die eben genannten, sofern sie die Missverständnisse überwinden, Lazarus, Johannes der Täufer, Andreas, der geliebte Jünger) und Abfall 7 Da ich in der Darstellung nicht rein chronologisch vorgehe, ist jeweils das Jahr des Erscheinens einer Arbeit angegeben. 8 Es ist nicht die erste Untersuchung zum JohEv aus literarischer Perspektive, aber die wichtigste für die folgende Wissenschaft bis heute. Vgl. Hallbäck, Gospel, 35 und passim zu Culpepper und weiteren literarischen Ansätzen. 9 Vgl. Culpepper, Anatomy, 99–148. 10 Vgl. Culpepper, Anatomy, 104.

Zur Forschung

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(Judas, die Jünger, die sich in 6,66 abwenden).11 Obwohl die Auflistung auf den ersten Blick den Eindruck einer klaren Zuordnung und Wertung erweckt, rechnet Culpepper selbst mit fließenden Übergängen und der Möglichkeit von Wechseln. Ich denke, dass die Zuordnung in einigen Fällen auch anders vorgenommen werden könnte. Hinzu kommt noch, dass die Kategorien teils auf innerer Haltung (Glaube aus verschiedenen Gründen), teils auf äußerem Verhalten (heimliche oder öffentliche Zustimmung) basieren und dadurch nur bedingt vergleichbar sind.12 In der Untersuchung von Culpepper lassen sich zwei Leitfragen erkennen, die für die Erfassung der Charakterisierung entscheidend sind. Culpepper beantwortet sie auf spezifische Weise, sodass hieran sowohl die Übereinstimmungen als auch die Unterschiede anderer Arbeiten zum Thema deutlich werden. Erstens ist dies die Frage nach der Funktion der Charaktere in der und für die Erzählung, also auf der Textebene. Und zweitens lässt sich nach der Funktion der Charaktere in der Beziehung zwischen Erzählung und realer Welt der LeserInnen fragen. Das Schwergewicht von Culpeppers Arbeit liegt auf der ersten Frage nach der Rolle der Charaktere in der Erzählung: Er sieht in ihnen vor allem beispielhaft Glaube bzw. Unglaube Jesus gegenüber dargestellt. Diese klare Deutung ist keineswegs selbstverständlich, Culpepper nennt als eine weitere Funktion der Charaktere, in der Interaktion mit Jesus dessen Identität zu erhellen.13 Aber diesen Punkt führt er nicht genauer aus. Nach Culpepper sind praktisch alle Personen neben Jesus auf diese Weise – gläubig oder ungläubig – auf ihn bezogen, nicht nur die aus dem JüngerInnenkreis im engeren oder weiteren Sinne. Die Sicht der Personen als potentiell Gläubige führt zu ihrer Bewertung, wobei aber nicht eindeutig ist, ob es um eine klare Alternative oder um eine differenzierte Abstufung geht: Culpepper beschreibt die Entscheidung als ein Entweder-Oder,14 aber seine Auflistung von möglichen Reaktionen ist wesentlich differenzierter und die Zuordnung von Personen nicht immer eindeutig. Es muss sich zeigen, wie andere Untersuchungen mit dieser Frage umgehen. Der narratologische Ansatz von Culpepper schließt eine historische Auswertung der Textanalyse etwa für die Situation der LeserInnen oder die Frage nach realen Ereignissen hinter der Erzählung JohEv aus. Aber er bietet in der Frage nach den impliziten LeserInnen eine Brücke in die Welt jenseits der Erzählung. Nach Culpepper gibt es eine enge Beziehung zwischen den Charakteren und den LeserInnen: Die Personen um Jesus in der 11

Vgl. Culpepper, Anatomy, 146–148. Außerdem ist auch die Stufung an sich hinterfragbar: Ist eine Bindung trotz Missverständnissen wie bei den meisten Jüngern ein Fortschritt gegenüber Glaube an Jesu Wort? 13 Vgl. Culpepper, Anatomy, 145. 14 Vgl. Culpepper, Anatomy, 104. 12

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Erzählung sind der Ansatzpunkt, an dem die LeserInnen in die Erzählung hineingenommen und durch sie beeinflusst werden. Allerdings führt er nicht im Einzelnen aus, wie dies funktioniert. Hier ist ebenfalls interessant, wie sich andere Arbeiten in dieser Frage verhalten. Auch schon die Arbeiten zu Personen im JohEv vor Culpepper und vor einem explizit literarischen Zugang lassen sich anhand der beiden Leitfragen beschreiben. So stellen nach Eva Krafft (1956) die Personen in der Erzählung je eine bestimmte Haltung Jesus gegenüber dar.15 Sie beschreibt für die einzelnen Personen die jeweilige Art des Glaubens: So verhält sich etwa Petrus im Bekenntnis angemessen, zeigt dann aber unvollkommene Erkenntnis gegenüber der Niedrigkeit und dem Leiden Jesu.16 Thomas dagegen versteht die Hoheit Jesu nicht, aber Martha verkörpert reinen Glauben und legt das umfassendste Bekenntnis ab.17 Krafft differenziert eher nach je individuellen Arten des Glaubens als zu gruppieren, und sie geht auch zu allegorischen Deutungen über, etwa wenn die Mutter Jesu für das Judentum steht und der geliebte Jünger für das junge Christentum.18 Dies schafft eine Verbindung von der Erzählung zur Welt der LeserInnen, aber anders als beim Modell der Identifikationsangebote bei Culpepper wirkt hier nicht die Erzählung beeinflussend nach außen, sondern Elemente der realen Welt werden in der Erzählung aufgenommen und abgebildet. Von Raymond F. Collins liegen verschiedene Aufsätze zu Charakteren im JohEv vor.19 Der erste Beitrag (1976) behandelt viele Einzelpersonen: Auch Collins sieht die Personen als Illustrationen für bestimmte Aspekte des Glaubens an Jesus; sie sind Individuen, die aber typisiert sind, um die LeserInnen über diesen Glauben zu belehren.20 Er behandelt 15 der Personen des JohEv (und außerdem Martha, die in der ersten Aufzählung nicht genannt ist) und den Typus, den sie jeweils repräsentieren: So entspricht z.B. Johannes der Täufer dem Typus des bekennenden Gläubigen; Nathanael ist der wahre Israelit, während Nikodemus für das offizielle, ungläubige Judentum steht.21 Martha repräsentiert Gläubige, die an die Auferstehung nach dem Tod glauben, Philippus hat verschiedene Rollen, nämlich als gläubiger Grieche und als missverstehender Jünger, aber die repräsentative Figur schlechthin ist der geliebte Jünger als Gläubiger, Jünger, Geliebter und Zeuge.22 Bei Collins stehen die Personen für Glaubenshaltungen, 15

Vgl. Krafft, Personen, 18.32. Vgl. Krafft, Personen, 23f. 17 Vgl. Krafft, Personen, 26f und 30. 18 Vgl. Krafft, Personen, 19 und 26. 19 Erstveröffentlichung in den Jahren 1976–1995. 20 Vgl. Collins, Representative, 7f. 21 Vgl. Collins, Representative, 10–15. 22 Vgl. Collins, Representative, 25.27.43–45. 16

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aber er betont auch, dass sich reale Individuen hinter der Typisierung verbergen – auch beim geliebten Jünger –, ohne diesen doppelten Bezug weiter auszuwerten.23 Auch die Gruppe der Zwölf repräsentiert nach Collins (1989) eine bestimmte Art des Glaubens: Sie sind zwar Jünger, aber nicht vorbildlich, und stehen für eine judenchristliche Gruppe, der die johanneische Gemeinde überlegen ist.24 Dies lässt sich an den ausdrücklich benannten Mitgliedern Judas und Thomas erkennen25 und auch am Fehlen einer Selbstoffenbarung nach dem Bekenntnis des Petrus.26 Eine charakteristisch andere Beziehung zwischen Erzählung und realer Welt sehen vor allem Studien, die speziell die Frauen im JohEv behandeln. Auch hier wird innerhalb der Erzählung die Darstellung des Glaubens und die Angemessenheit der Reaktion auf Jesus untersucht, aber die Personen werden dann vor allem als Ausdruck und Widerspiegelung von Gemeindeverhältnissen gesehen. So zeigt Raymond E. Brown (1978, englische Fassung 1975), dass die Frauen im JohEv als Jüngerinnen dargestellt werden, die beauftragt sind, verkündigen, bekennen, geliebt sind und zu den Seinen gehören – innerhalb des JohEv ist z.B. kein Vorrang des Petrus zu erkennen. Nach Brown spiegelt sich hierin die Praxis der johanneischen Gemeinde mit einer weitgehend gleichberechtigten Beteiligung von Frauen wider.27 Hier ist also das Verhältnis zwischen den Charakteren und der Welt der LeserInnen vor allem als Auswirkung der Welt in die Erzählung hinein bestimmt.28 Sandra Schneiders (1982) zeigt die positive, aktive und individuelle Rolle von Frauen als Glaubende und Jüngerinnen innerhalb des JohEv auf, auch im Vergleich zur Darstellung von Männern.29 Sie deutet den Befund dann im Einzelnen als Hinweis auf entsprechende Funktionen von Frauen in der Gemeinde, etwa in Leitungsämtern oder als aktive Mitglieder in der johanneischen Schule.30 Mary Rose D’Angelo (1999) hält die starke Rolle von Frauen im JohEv für durch die prophetische, dynamische Struktur in der Gemeinde begründet.31 Sie ist aber vorsichtiger als Schneiders mit kon23

Vgl. Collins, Representative, 45. Vgl. Collins, Twelve, 86. 25 Vgl. Collins, Twelve, 84f. 26 Vgl. Collins, Twelve, 83. 27 Vgl. Brown, Rolle, 147. 28 Dezidiert gegen einen solchen historischen Rückschluss wendet sich Jürgen Becker (vgl. Evangelium II, 731f), der eine bewusst gestaltete starke Rolle der Frauen im Evangelium gerade im Gegensatz zur Gemeinderealität erkennt. Sein Ansatz fordert sowohl zu einer vertieften Beschreibung ihrer Rolle in der erzählten Welt des JohEv als auch zur Suche nach einer Erklärung für dieses Phänomen heraus. 29 Vgl. Schneiders, Women, 129. 30 Vgl. Schneiders, Women, 136.138. 31 Vgl. D’Angelo, (Re)Presentations, 137. 24

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kreten Folgerungen für die Rolle von Frauen in der Gemeinde und sieht sie nicht ganz so positiv. Vor allem in der Nichtbeteiligung von Maria Magdalena in Joh 21 vermutet sie eine Zurücksetzung von Frauen in späterer Zeit.32 Zu einem inhaltlich anderen Ergebnis bei ähnlichem Vorgehen kommt die Studie von Adele Reinhartz (2003), die die Darstellung der Frauen im JohEv reflektiert und – mit Vorbehalten bzgl. der Möglichkeit eines solchen Verfahrens – auswertet.33 Im JohEv sieht sie die Rolle von Frauen aber anders als Brown und Schneiders eher als ambivalent. So ist beispielsweise nicht eindeutig zu belegen, ob wirklich Frauen zum Kreis der machtai/ gehören, also als Jüngerinnen gesehen werden – und eine entsprechende Ambivalenz vermutet Reinhartz auch in Bezug auf Frauen in Leitungsrollen in der johanneischen Gemeinde.34 Auch Robert Gordon Maccini (1996) bestätigt eine durchgehend starke Rolle von Frauen im JohEv nicht. Er untersucht, inwieweit Frauen im JohEv als Zeuginnen für Jesus fungieren und kommt dabei zu je nach Person unterschiedlichen Ergebnissen. S.E. sind die Frauen als Individuen gezeichnet, ein allgemeines Interesse an der Rolle von Frauen erkennt er gerade nicht.35 Anders als die zuvor genannten Arbeiten lehnt er eine Auswertung für die Verhältnisse in der johanneischen Gemeinde ausdrücklich ab, weil er die Darstellung eher als Wiedergabe von Ereignissen der Zeit Jesu sieht.36 Ingrid Rosa Kitzberger (1998) kommt ebenfalls zu einem differenzierten Bild: Neben einer starken und theologische bedeutsamen Rolle von Frauen37 erkennt sie auch Ambivalenzen und eine allgemeine Offenheit.38 Innerhalb der Forschung speziell zu Frauen im JohEv gibt es also eine deutliche Tendenz, ihre Darstellung als positiv und stark und den männlichen Jüngern weitgehend gleichberechtigt (oder sogar überlegen) anzusehen. Aber es gibt auch Widerspruch gegen diese Interpretation des Textes, der Befund scheint nicht völlig eindeutig zu sein. Von vielen wird der Text (in der jeweiligen Interpretation) als mehr oder weniger deutliches Abbild 32 Viele weitere Beiträge gehen in die gleiche Richtung: So vermutet Elisabeth Schüssler Fiorenza (1988) Leitungsämter für Frauen in der johanneischen Gemeinde (vgl. Gedächtnis, 397). Johannes Beutler (1998) sieht die Frauen im JohEv als exemplarische Jüngergestalten, insgesamt als positiv – bei den Männern reicht das Spektrum dagegen vom geliebten Jünger bis zu Judas – und mit gleicher Verkündigungsaufgabe wie die Männer (vgl. Frauen, 288–293). Dies könnte die Situation der Gemeinde spiegeln, sich aber auch gegen frauenfeindliche Tendenzen der Zeit richten. Vgl. auch Rena, Women; Link, Botschafterinnen. 33 Vgl. Reinhartz, Women, 15–18, zur Begründung ihres Vorgehens. 34 Vgl. Reinhartz, Women, 26–30. Ebenfalls von einer untergeordneten Position von Frauen in der Darstellung des JohEv geht Margaret Davies (vgl. Rhetoric, 227) aus. 35 Vgl. Maccini, Her Testimony, 243.250f. 36 Vgl. Maccini, Her Testimony, 240f. 37 Vgl. Kitzberger, How, 21–31. 38 Vgl. Kitzberger, How, 33–38. Diese Sicht ist eine Verschiebung ihrer eigenen früheren positiveren Sicht, vgl. How, 22.

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der historischen Wirklichkeit der Gemeinde gesehen, vereinzelt aber auch die gegenläufige Tendenz festgestellt, also gerade ein Widerspruch zwischen Darstellung und Gemeinderealität.39 Daneben stehen Untersuchungen, die auf der Textebene bleiben ohne eine direkte historische Auswertung vorzunehmen.40 Die monographischen Untersuchungen nach Culpepper vertiefen die Analyse in verschiedene Richtungen. Teilweise ist eine neue Bestimmung der Charaktere innerhalb der Erzählung in ihrer Bedeutung für die Charakterisierung Jesu zu beobachten, vor allem aber wird ihre Funktion für die LeserInnen spezifischer ausgewertet und ein detaillierterer Vergleich unter den Charakteren vorgenommen. Die Arbeit von Martin Scott (1992) behandelt die Rolle von Frauen im JohEv und zeigt, dass die Frauen besonders gut das johanneische Konzept von Jüngerschaft illustrieren, betrachtet sie also wie die eben genannten Arbeiten unter dem Blick der Reaktion auf Jesus.41 Der Schwerpunkt der Arbeit liegt aber auf der Person Jesu, dessen Identität sich s.E. besonders im Kontakt mit Frauen entfaltet, die an christologisch entscheidenden Stellen eine Rolle spielen.42 Scott stellt ausführlich die Verbindungen des johanneischen Jesus zur Gestalt der Weisheit (Sophia) dar, auch die Texte über Frauen sind mit Weisheitstradition durchsetzt.43 Die Frauen haben eine Funktion als Dienerinnen von Jesus-Sophia, dadurch sind sie gerade als Frauen zentral für das christologische Konzept des JohEv.44 Dass aber gerade die Frauengestalten – und nicht auch z.B. die männlichen Jünger – zur christologischen Entwicklung der Erzählung beitragen, weist Scott m.E. nicht nach. Ähnlich wie bei Culpepper bleibt der Ansatz zur Deutung der Funktion von Personen für die Charakterisierung Jesu mehr Postulat, als dass er sich in der Textanalyse bestätigte.45 39

So Becker, Evangelium II, 730; später deutet er die starken Frauen im JohEv aber als Hinweis auf Mitwirkungsmöglichkeiten für ortsgebundene Frauen in der Gemeinde, wenn auch nicht als Mitglieder der johanneischen Schule, vgl. Becker, Christentum, 18. 40 So lehnt Turid Karlsen Seim, Roles (1987), eine historische Auswertung ab und sieht die Frauen eher in repräsentativen JüngerInnenrollen. Sie betont dabei aber auch, dass das Geschlecht der Frauen ausdrücklich thematisiert wird, also im JohEv wichtig ist. Beate Kowalski, Jesus (1998) hält die wichtige und positive Stellung von Frauen auch gegenüber den Männern im JohEv fest und versteht sie als vorbildliche Glaubende mit Wirkung auf die AdressatInnen. 41 Vgl. Scott, Sophia, 235f. 42 Vgl. Scott, Sophia, 13f. 43 Vgl. Scott, Sophia, 237. 44 Vgl. Scott, Sophia, 238. 45 Auf die Frage der Beziehung zwischen Erzählung und realer Welt geht Scott kaum ein, sein Ansatz ist eher auf den Text des JohEv und intertextuell auf andere Texte bezogen. Er vermutet, dass die Frauenrollen im JohEv eine Gemeinderealität spiegeln, rechnet aber auch mit der Möglichkeit einer Korrektur anderer Texte in der johanneischen Darstellung (vgl. Scott, Sophia, 238). Ganz vorsichtig erwägt er, ob der Textbefund evtl. auf eine Frau als Autorin des JohEv hinweisen könnte (vgl. 239f) – auch dies betrifft die Beziehung zwischen Erzählung und Welt.

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Wie Scott sieht Adeline Fehribach (1998) in ihrer umfassenden Untersuchung zu Frauen im JohEv diese vor allem als notwendige Figuren in einer christologischen Konzeption: Sie tragen zur Porträtierung Jesu als messianischer Bräutigam bei, indem sie überwiegend als seine Bräute – so die Samaritanerin, Maria von Bethanien und Maria Magdalena – fungieren.46 Diese Sicht des JohEv ist z.B. in Bezug auf die Samaritanerin, wo eindeutig auf alttestamentliche Brautwerbungsszenen angespielt wird, und ansatzweise auch bei Maria Magdalena eine durchaus überzeugende Deutung des Textbefundes. Aber dies gilt nicht durchgehend, und vor allem bleibt Fehribach einen Nachweis schuldig, dass „messianischer Bräutigam“ tatsächlich eine zentrale christologische Konzeption des JohEv ist (und auch, wie sie genauer zu beschreiben wäre). Wie bei Scott ist es ein spannender, aber nicht vollständig gelungener Versuch, zumindest die weiblichen Charaktere in ihrer Funktion für die Charakterisierung Jesu zu erfassen. Von großer Bedeutung ist der methodische Ansatz von Fehribach, den sie selbst als historisch-literarisch beschreibt. Sie liest die johanneischen Texte rezeptionsorientiert im Vergleich mit anderer antiker Literatur, so mit dem AT, hellenistisch-jüdischen Schriften und populärer paganer Literatur (z.B. Liebesromanen), und im Kontext der kulturellen Vorstellungen des 1. Jahrhunderts. Sie sucht also nicht in erster Linie im Text nach den Strategien, die die LeserInnen einbeziehen (oder nach historisch auswertbaren Einzelheiten), sondern bringt die Vorbildung der LeserInnen als Ansatzpunkt ein und versucht so, eine Lektüre des JohEv im 1. Jahrhundert zu rekonstruieren.47 Ergänzt wird dieser Ansatz durch eine moderne feministische Perspektive.48 Diese Orientierung an den Erwartungen der historischen LeserInnen trägt zum inhaltlichen Verständnis des Textes bei, indem die Übereinstimmung und die Abweichungen vom Üblichen deutlich werden. Für die Position der Frauen zeigt der Vergleich dabei eher Einschränkungen und ihre Einbindung in vorgegebene Rollen, deren Bedeutung durch die besondere Rolle Jesu noch geschmälert wird. So handelt etwa die Mutter Jesu ähnlich wie die Mütter bedeutender Söhne im AT, entspricht so also vorgegebener (patriarchaler) Rollenerwartung. Ihre Funktion in Beziehung zu ihm wird aber durch die überragende Bedeutung seiner Beziehung zum Vater in den Schatten gestellt.49 Fehribach sieht die Frauen also nicht als direkte Identifikationsangebote für die LeserInnen, sondern innerhalb der Erzählung eher als Mittel zur Profilierung der Hauptfigur Jesus. In diesem Zusammenhang haben sie eine wichtige, aber auch wieder begrenzte Funk46 Vgl. Fehribach, Women, 169 und passim. Die Mutter Jesu als Mutter des Bräutigams und Martha als Schwester einer Braut haben ebenfalls Rollen in dieser Konzeption. 47 Vgl. Fehribach, Women, 7. 48 Vgl. Fehribach, Women, 8. 49 Vgl. Fehribach, Women, 33.36f.

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tion. Ihre Interpretation der Einzelfrauen ist dann eher allegorisch-typisierend, wenn etwa die Samaritanerin als Braut für die Einbeziehung Samariens in die Familie Gottes steht. Fehribach bietet gegenüber der übrigen Forschung einen neuen und überzeugenden Ansatzpunkt zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen der Erzählung und der Welt der LeserInnen, indem sie deren Vorbildung einbezieht. Dies scheint mir grundsätzlich vielversprechend zu sein, auch wenn die Rekonstruktion einer antiken Lektüre nur annäherungsweise möglich ist.50 Interessant ist auch ihre Auswertung des Befundes als eine Zurücksetzung der Frauen. Oft entsteht diese im Gegenüber zu Jesus, es ist also zu fragen, ob dies nicht eher an der Position Jesu im JohEv liegt und nicht nur Frauen, sondern auch Männer betrifft. Während Fehribach bei den LeserInnen und ihrem Vorwissen ansetzt, suchen andere Arbeiten im Text selbst die Strategien zur Einbindung der LeserInnen zu erfassen. David R. Beck (1997) beschäftigt sich vor allem mit den anonymen Charakteren im JohEv und geht davon aus, dass Anonymität die Identifikation der LeserInnen mit diesen Personen erleichtert.51 Gerade in namenlosen Charakteren (Jesu Mutter, die Samaritanerin, der Basilikos, der kranke Mensch, der Blindgeborene, die Ehebrecherin52 und der geliebte Jünger) findet Beck wahre Jüngerschaft (genuine discipleship) verwirklicht, die in einer „active faith response to Jesus’ word“ besteht, ohne auf Zeichen angewiesen zu sein.53 Wichtig ist dabei nicht ein Bekenntnis, sondern zu glauben und Zeugnis abzulegen.54 Diese anonymen Charaktere sollen als gute Beispiele für die LeserInnen wirken und zur Nachahmung anregen. Die wichtigste und allervorbildlichste Rolle kommt dem geliebten Jünger zu. Personen mit Namen haben mitunter auch eine positive Rolle, die dann aber historisch einmalig, nicht paradigmatisch für die LeserInnen ist (Johannes der Täufer, Maria von Bethanien). Viele andere, auch die bekannten Jünger, entsprechen dem Ideal dagegen nicht. So legt Thomas zwar ein Bekenntnis ab, aber aufgrund von Sehen; Martha bestätigt das Ich-bin-Wort Jesu nicht und zeigt in ihrem späteren Protest Mangel an Glauben; Petrus verleugnet und auch wenn sein Hirtenamt eine potentielle Zeugenfunktion bedeutet, wird es im JohEv selbst nicht ausgeführt.55 50

Dieses Problem sieht auch Fehribach, vgl. Women, 19. Vgl. Beck, Discipleship, 12; auch Beck, Narrative, 146f. 52 Beck behandelt diese Perikope, obwohl er sich über ihre Nichtzugehörigkeit zum ursprünglichen Text im Klaren ist, und findet in ihr eine ähnliches Muster wie in den anderen Geschichten (vgl. Discipleship, 101–107). 53 Beck, Discipleship, 137. 54 Vgl. Beck, Discipleship, 139f. 55 Vgl. Beck, Discipleship, 139–142. 51

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Die Anonymität wichtiger Gestalten der Erzählung ist im JohEv auffällig, aber ob genau darin die Verbindung zwischen Erzählung und LeserInnen liegt, scheint mir eher zweifelhaft. Beck begründet die Grundvoraussetzung, dass Anonymität die Identifikation der LeserInnen erleichtert, nicht überzeugend.56 Zudem muss Beck, um seinen Ansatz durchzuführen, nachweisen, dass die namenlosen Charaktere tatsächlich alle positiv und als gute Beispiele dargestellt werden, während Personen mit Namen weniger positiv sein sollen.57 Dies ist z.B. beim Kranken aus Joh 5, dem Culpepper höchstens Glaube aufgrund von Zeichen, fast direkte Ablehnung Jesu zuschreibt, wenig überzeugend.58 Auf der anderen Seite sieht Beck eine negative Darstellung z.B. von Martha – auch hier gibt es andere Deutungen des Textbefundes. Auf die auffälligen Differenzen in der Bewertung der einzelnen Charaktere durch ForscherInnen, d.h. die Antworten auf die Frage, ob die Personen aus der Sicht des Evangeliums eher positiv oder eher negativ zu sehen sind, ist später zurückzukommen. Beck löst das Problem der Unterschiedlichkeit der Personen, indem er zwischen den historisch-individuellen Darstellungen und den für die LeserInnen beispielhaften trennt und nur bei letzteren ein klares Schema an Verhalten erkennt. Auch Tobias Nicklas (2001) konzentriert sich auf die Wirkung der Darstellung auf die LeserInnen. Sein Interesse gilt der Gruppe der I>oudai~oi, die er im Vergleich mit einigen Jüngergestalten (Johannes der Täufer, Nikodemus, der geheilte Kranke, der Blindgeborene) analysiert.59 Während die I>oudai~oi als Charakter in der Erzählung nur eine begrenzte Zahl von Eigenschaften aufweisen und typisiert das Unverständnis gegenüber Jesus repräsentieren, sind die Einzelpersonen vielseitiger, auch individuell, dargestellt.60 Sie entwickeln sich, lösen sich aus der Gruppe der I>oudai~oi, die als Negativfolie wirkt, und können so einen analogen Prozess bei den LeserInnen in Gang setzen.61 Sie können dabei aber auch ambivalent bleiben wie der geheilte Kranke, der – wie im Vergleich mit dem Blindgeborenen er56 Beck beruft sich für seine Ausführungen (vgl. Discipleship, 10–12) auf Thomas Docherty. Dieser untersucht die besondere Form von Charakterisierung in modernen experimentellen Romanen, in denen die Namenlosigkeit von Charakteren mitunter Bestandteil ihrer Auflösung als einheitliche, konsistente Figuren ist (vgl. Docherty, Reading, 68). Dies kann zu einer besonderen Verbindung mit den LeserInnen führen, die keine andere Perspektive neben den Figuren einnehmen können (72f). Eine solche Art von Charakterisierung gilt jedoch keineswegs für die namenlosen Figuren im JohEv – auch ohne Namen handelt es sich um normale Charaktere, die beschrieben werden (Status, Krankheit) und klar ein Gegenüber zu den LeserInnen bilden, sich nicht mit ihnen mischen. Zur Kritik an diesem Ansatz von Beck vgl. auch Thibeaux, Reading, 221–223. 57 Beck (vgl. Discipleship, 139f) benennt seine Kriterien für eine positive Wertung: So gehört s.E. das Ablegen von Zeugnis zu einem angemessenen Verhalten, nicht aber ein Bekenntnis. 58 Vgl. Beck, Discipleship, 88–90. 59 Vgl. Nicklas, Ablösung, 72.75.91f. 60 Vgl. Nicklas, Ablösung, 399f. 61 Vgl. Nicklas, Ablösung, 403f.

Zur Forschung

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kennbar – nicht zu vollem Glauben kommt. Die Perspektive der Erzählung ist dabei durchgehend die des Glaubens an Jesus, was auch die Darstellung der I>oudai~oi bestimmt – ihre eigene Perspektive kommt nicht vor. Gerade dieser letzte Punkt ist wichtig für den (heutigen) Umgang mit der Darstellung der I>oudai~oi im JohEv. Nicklas gelingt es durch die Beachtung der Perspektive und die detaillierte Einbeziehung der LeserInnen bei der Textanalyse, die Wirkung auf die LeserInnen methodisch genauer zu erklären als die bisher dargestellten Studien. Auch die Erhebung der Charakterisierung innerhalb des JohEv durch einen Vergleich von Personen ist überzeugend. Fraglich erscheint mir dagegen, ob die I>oudai~oi wirklich so einheitlich und unambivalent dargestellt werden. Interessant ist bei seiner Analyse, dass gerade Einzelpersonen als Jüngergestalten eine Identifizierung der LeserInnen ermöglichen, die nicht zur üblichen JüngerInnengruppe gehören. Eine umfassende Untersuchung aller handelnden Einzelpersonen im Kontakt mit Jesus – insgesamt 21, Jesus selbst ist ebenso wie Gruppen und nur erwähnte Personen ausgenommen – legt Peter Dschulnigg vor (2000). Auch er sieht in den Personen unterschiedliche Reaktionen auf Jesus dargestellt, mit denen sich die LeserInnen identifizieren können.62 Dabei ist die Zeichnung der Charaktere eher typisiert als individuell, was aber die historische Verlässlichkeit auch von Einzelheiten der Darstellung nicht ausschließt.63 Die Charaktere bieten einen Einblick in die frühjüdische Welt Jesu und der Jesusbewegung sowie in die johanneischen Gemeinden und ermöglichen durch ihren unterschiedlichen Hintergrund die Identifizierung von verschiedenen LeserInnengruppen. Nur Judas, Hannas und Kaiphas sind s.E. eindeutig negativ gezeichnet, schon Pilatus ist zwiespältig, alle weiteren Personen sind im Grunde positiv, auch wenn sie Schattenseiten haben.64 In dieser Vielseitigkeit sind sie nicht nur Vorbild, sondern auch Mahnung und Trost für die LeserInnen, wie etwa das dargestellte Versagen des Petrus zeigt.65 Wie Culpepper und Beck fasst Dschulnigg die Personen um Jesus im JohEv als Illustrationen der Reaktion auf Jesus auf, aber anders als diese sieht er sie weitgehend positiv. Er bewertet die Darstellung nicht in ihren 62

Vgl. Dschulnigg, Jesus, 1f. Vgl. Dschulnigg, Jesus, 1f.307–309. 64 Vgl. Dschulnigg, Jesus, 320–327. 65 Ähnlich wie Dschulnigg versteht auch Alain Marchadour (2005) die Personen im JohEv als Angebote zur Identifizierung für die LeserInnen, die sich in den verschiedenen exemplarisch dargebotenen Kontakten zu Jesus, der Hauptfigur, wiederfinden können (vgl. Personnages, 16f). Die Personen, z.B. Petrus (vgl. Personnages, 56) und Thomas (vgl. Personnages, 131), weisen Ambivalenzen auf. Dadurch zeigen sie die Schwierigkeiten auf dem Weg zum Glauben, zu dem das JohEv ermuntern will (vgl. Personnages, 184f). 63

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Einzelheiten, sondern deutet die vorhandenen Ambivalenzen in ihrer Funktion für die LeserInnen, ein m.E. vielversprechender Ansatz. Etwas unklar bleibt aber das Verhältnis von historischer Wiedergabe und typisierender Darstellung, zumal ein historischer Bezug sowohl auf die Personen selbst (Einzelheiten als Erinnerung an historische Gestalten) als auch auf die Welt der LeserInnen (verschiedene Gemeindegruppen) vorliegen kann. Dschulniggs Arbeit zeigt hier m.E., dass eine historische Rückbindung der Erzählanalyse sinnvoll ist, aber seine Untersuchung setzt dies noch nicht befriedigend um. Anzufragen ist auch, ob sich die Sicht auf die Charakterisierung im JohEv ändert, wenn auch Gruppen einbezogen werden – denn gerade die I>oudai~oi sind einerseits eine zentrale Größe, andererseits passen sie nicht ohne weiteres in die weitgehend positive Sicht. Dschulnigg setzt eine negative Sicht der I>oudai~oi im JohEv voraus, so dass sich Charaktere positiv von ihnen abheben können.66 Zwei weitere Untersuchungen behandeln ebenfalls einen Großteil der Personen im JohEv auf der Textebene und wollen auf diese Weise der Bedeutung des Geschlechts der Personen nachgehen. Colleen M. Conway (1999) analysiert insgesamt fünf weibliche und fünf männliche Gestalten (nämlich die Mutter Jesu, Nikodemus, die Samaritanerin, den Blindgeborenen, Martha, Maria, Pilatus, Petrus, den geliebten Jünger und Maria Magdalena) literarisch unter der Frage, ob es einen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt.67 Sie kommt dabei zu dem Ergebnis, dass das Geschlecht der Frauen betont und sie gerade als Frauen positiv dargestellt werden.68 Bei den Männern ist dagegen zu differenzieren, einige erweisen sich gerade im Vergleich mit Frauen als negativ (Nikodemus, Pilatus, Petrus).69 Der geliebte Jünger ist positiv dargestellt, aber Maria Magdalena nachgeordnet. Trotz der positiven Frauenrollen kann jedoch nicht von einem grundsätzlichen Gender-Dualismus mit weiblicher Überlegenheit im JohEv geredet werden, denn die bemerkenswerteste Gestalt nach Jesus ist der Blindgeborene.70 Dennoch sieht Conway in der Darstellung nicht wie ein großer Teil der Forschung eine gleiche, sondern eine überlegene Jüngerschaft von Frauen und einigen Männern. Sie deutet diesen Befund vor-

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Vgl. Dschulnigg, Jesus, 15.108.111 u.ö. Vgl. Conway, Men, 1–4. 68 Vgl. Conway, Men, 203 und passim. 69 Die Gegenüberstellung von einzelnen Frauen und Männern (Nikodemus und die Samaritanerin, Martha und Petrus, Maria von Bethanien und Judas sowie Maria Magdalena, Petrus und der geliebte Jünger als Trio) führt sie in einem späteren Aufsatz (2003) noch weiter aus. Vgl. Conway, Gender, 81 (Durchführung im Einzelnen 81–99). In einem weiteren Beitrag (2002) betont sie eher die Ambivalenzen der Figuren, die eine klare Bewertung unmöglich macht, vgl. Conway, Speaking, 339. 70 Vgl. Conway, Gender, 98f. 67

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sichtig als Abwertung von Autoritätspersonen.71 Dieses Ergebnis ist aber nach Conway aus feministischer Sicht nicht rein positiv zu sehen, denn einerseits ist implizit vorausgesetzt, dass Frauen nicht in Autoritätspositionen zu finden sind. Andererseits sind auch die starken Frauen im JohEv immer auf den einen Mann Jesus (und Gott, ebenfalls männlich gefasst) bezogen – es gibt zwar eine soziale Aufhebung von Geschlechterrollen, nicht aber eine spirituelle.72 Vom Ansatz her ähnlich geht auch die Untersuchung von Margaret M. Beirne vor (2003), auch sie behandelt die literarische Darstellung eines Großteils der Personen im JohEv, um die Bedeutung ihres Geschlechts zu klären, kommt dabei aber zu anderen Ergebnissen. Beirne findet im JohEv insgesamt sechs geschlechtsgemischte Paare (gender-pairs): Die Mutter Jesu und der Basilikos, Nikodemus und die Samaritanerin, der Blindgeborene und Martha, Maria von Bethanien und Judas, die Mutter Jesu und der geliebte Jünger und Maria Magdalena und Thomas.73 In jedem dieser Paare erkennt sie eine unterschiedliche Variante authentischen Glaubens, den jeweils (mit Ausnahme des Paares Maria-Judas) beide gleichermaßen illustrieren. So befinden sich Nikodemus und die Samaritanerin auf dem Weg zu reifem Glauben, der Blindgeborene und Martha legen ein Bekenntnis ab, Maria Magdalena und Thomas zeigen die Entwicklung hin zum Glauben an die Auferstehung. Anders als Conway sieht sie keine oder nur eine minimale Überlegenheit des weiblichen Teils des Paares und schließt deshalb auf die Propagierung von Geschlechteregalität im JohEv. Ähnlich wie Dschulnigg hat sie also ein optimistisches Bild der Einzelpersonen im JohEv – und wie bei ihm gehört dazu auch eine ungeprüft sehr negative Sicht der I>oudai~oi.74 Die Analyse von verschiedenen Personen im Vergleich miteinander ist an sich überzeugend, weniger jedoch ihre Zuordnung der Personen zu Paaren. Es sind zwar alle vorkommenden Frauen jeweils Teil eines Paares, nicht aber alle Männer – es fehlt z.B. Petrus, Nathanael oder der geheilte Kranke. Auf die Bedeutung dieser Ungleichheit geht Beirne nicht weiter ein. Und auch die Zusammengehörigkeit ist nicht bei allen Paaren gleichermaßen einleuchtend und wird in vielen anderen Untersuchungen auch anders gesehen.75 Gerade die Grundvoraussetzung von geschlechtsgemischten Paaren ist angesichts von Beirnes Ergebnis, dass das Geschlecht im JohEv keine wesentliche Bedeutung hat, in Frage zu 71

Vgl. Conway, Men, 205. Vgl. Conway, Gender, 102f. 73 Sie bildet also zum Teil andere Paare als Conway, auf deren Arbeit sie sich nicht bezieht. 74 Vgl. Beirne, Women, 138f. 75 Vgl. außer Conway auch Nicklas (Ablösung, 363f) und Collins (John, 361), der neben Nikodemus und der Samaritanerin auch den Kranken und den Blindgeborenen sowie Petrus und den geliebten Jünger als Paare ansieht. 72

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stellen – und es ist auch mit Beziehungen zwischen mehr als zwei Personen zu rechnen. Das auffälligste Ergebnis dieses Forschungsüberblicks ist die Ähnlichkeit der Zugänge bei gleichzeitiger Unterschiedlichkeit der Ergebnisse. Die meisten dargestellten Untersuchungen betrachten die Charaktere innerhalb der Erzählung als Beispiele für verschiedene mögliche Reaktionen auf Jesus und seinen Anspruch und ordnen und bewerten sie entsprechend. Andere Möglichkeiten, die Funktion der Personen um Jesus für die Erzählung zu bestimmen, kommen nur am Rande vor und sind nicht wirklich überzeugend durchgeführt. Es ist Konsens, dass alle Personen um Jesus im JohEv in dieser Weise betrachtet werden können, auch wenn viele der Untersuchungen eine (meist unterschiedliche und selten begründete) Auswahl behandeln. Auffällig ist aber die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse bei der Bewertung: Obwohl alle im Grundsatz fragen, ob Personen eine im Sinne des JohEv angemessene Reaktion auf Jesus zeigen, besteht keineswegs Einigkeit, für welche Personen dies gilt und für welche nicht. Z.B. bei Nikodemus, dem geheilten Kranken und Martha gibt es grundsätzlich unterschiedliche Einschätzungen.76 Wie ist dies zu erklären – ist es eine Frage der Kriterien der Bewertung oder ist es vielleicht gar nicht die Absicht des Evangeliums, die Personen als gut oder schlecht darzustellen?77 In vielen Fällen werden gerade die Einzelpersonen, die im Zentrum der Untersuchung stehen, als besonders positiv angesehen (oder gerade positive Gestalten wurden für die Untersuchung ausgewählt?) – seien es nun Frauen, anonyme JüngerInnen oder andere. Dabei gibt es häufig eine Folie, von der sie sich abheben, z.B. die männlichen oder klassischen Jünger oder, vor allem wenn viele Einzelpersonen sehr positiv gesehen werden, die I>oudai~oi als ganz negative Größe. Diese Sicht wird z.T. begründet (Nicklas), mitunter aber auch einfach nur vorausgesetzt. Gerade angesichts der Vielfalt der Ergebnisse schon bei Einzelpersonen scheint mir eine Überprüfung nötig zu sein. Ob bestimmte Personen (z.B. durch ihr Geschlecht) eine Gruppe bilden und wie sich die Einzelpersonen zu den Gruppen (I>oudai~oi, JüngerInnen, ...) verhalten, ist erst ansatzweise geklärt. Unterschiedlich sind die Ansätze, wenn es um das Verhältnis zwischen der Erzählung und der Welt der LeserInnen geht. Vor allem in den früheren Untersuchungen, aber auch noch später, werden Personen als repräsentativ angesehen bzw. typologisch gedeutet. Auch eine historisch-kritische Auswertung des Textes als Abbildung der historischen Wirklichkeit der johanneischen Gemeinde wird vorgenommen. Die Frage nach der Verbindung zu 76

Vgl. Conway, Speaking, passim. Nach Conway (vgl. Speaking, 328–330.340) liegt gerade in der Ambivalenz der meisten Figuren ihr Sinn. 77

Methodische Grundlegung

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den LeserInnen kann aber auch narratologisch behandelt werden und erkennt dann Strategien zur Beeinflussung der LeserInnen in Richtung auf ein angemessenes Verhalten bzw. eine entsprechende Haltung Jesus gegenüber. Wie das genau funktioniert, ist aber m.E. noch nicht erschöpfend geklärt – und auch nicht, ob dies wirklich das vorrangige oder gar einzige Anliegen der johanneischen Darstellung ist. Für meine Arbeit legt die Forschungssituation nahe, mit einem allgemeinen Überblick über Charakterisierung im JohEv zu beginnen (Kap. II). Dieser soll nicht bei den Einzelpersonen ansetzen, sondern verschiedene Aspekte der Darstellung von Personen wie Beschreibungen, Handlungen oder Gesprächsverhalten im ganzen Evangelium erheben.78 Auf diese Weise kann geklärt werden, was eigentlich typisch für einzelne Figuren oder Gruppen ist und welche Rolle sie in der Geschichte spielen – und ob sich überhaupt klare Gruppen abgrenzen lassen bzw. durch was sie bestimmt sind und welches Verhältnis zwischen Einzelpersonen und Gruppen besteht. Damit wird dem Problem einer unterschiedlichen Auswahl und Zusammenordnung von Charakteren und auch Unschärfen bei der Bestimmung des Hintergrunds für Einzelanalysen begegnet. Dieser Überblick soll auch dazu beitragen, die Kriterien der Bewertung von Charakteren zu reflektieren. M.E. spricht der Befund in der Forschung, in der zahlreiche Personen deutlich unterschiedlich bewertet werden, für die Unangemessenheit der Frage – aber auch dies sollte noch näher erfasst werden. Eine zweite Folgerung betrifft die Beziehung zwischen der Darstellung im Text und den Wirkungen auf die LeserInnen. Hier zeigt die Forschung, dass die Wirkung des Textes auf einer methodisch soliden Grundlage erarbeitet werden sollte. Zugleich scheint es mir vielversprechend, dieses Kommunikationsgeschehen zwischen Text und LeserInnen nicht nur vom Text aus zu erfassen, sondern auch von der Seite der LeserInnen. Gerade das Vorwissen, das diese möglicherweise mitbringen, könnte ein Ansatzpunkt sein – hier ist der Versuch von Fehribach m.E. ausgesprochen anregend.

3. Methodische Grundlegung 3.1 Narratologie Methodische Grundlegung Die Analyse der Darstellung von Personen in einem Evangelium betrachtet diese zunächst unabhängig von allen historischen und theologischen Fragen als wesentliche Bestandteile einer Erzählung. Es ist deshalb angemessen, Theorien über Erzählungen – narratologische Entwürfe – zum Verständnis 78

Zur genaueren methodischen Fundierung s.u., I.3.

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des JohEv und im Besonderen für die Technik der Charakterisierung heranzuziehen. Grundsätzlich bezieht sich die Narratologie nach Mieke Bal auf alle „cultural artifacts that ‚tell a story‘“79 und hilft zu ihrem Verständnis. In eine solche breite Definition passt auch das JohEv. Der Gegenstand kann aber auch enger gefasst werden wie bei Shlomith Rimmon-Kenan, die „narrative fiction“ behandelt und als „the narration of a succession of fictional events“80 definiert. Sie beschränkt sich auf die verbale Kommunikation (Bal bezieht sich im Prinzip auch auf Filme oder Pantomime) und auf „fiktive“ Erzählungen, obwohl sie die Abgrenzung zu Gattungen mit einer anderen Realitätsbeziehung für schwierig hält.81 Auf die Besonderheiten des JohEv als Erzählung ist unten noch einzugehen (I.3.d). Die Narratologie unterscheidet grundlegend zwischen verschiedenen Aspekten in einer Erzählung, und zwar zwischen dem, was erzählt wird, und der Art, wie es erzählt wird.82 Dies ermöglicht, insbesondere die Technik der Darstellung (z.B. die zeitliche Anordnung) getrennt vom Inhalt (vor allem Ereignisse und Personen) zu analysieren. Eine umfassende Darstellung des Wie von Erzählung bietet Gérard Genette, dessen Ansatz von Bal und Rimmon-Kenan aufgenommen und modifiziert wird. Alle drei führen eine dritte Differenzierung ein: Zum Wie der Erzählung gehört der Text, der den Inhalt der Erzählung z.B. in einer bestimmten Anordnung bietet. Von ihm zu unterscheiden ist der Akt der Narration, also die aus der Erzählung erhebbare Situation des Erzählens. In der Begrifflichkeit von Rimmon-Kenan heißen diese Aspekte story, text und narration. Ich schließe mich ihrer Verwendung der Begriffe an und übersetze sie als Geschichte, Text und Narration. Greifbar und lesbar vorhanden ist der Text, der die Geschichte auf eine bestimmte Weise erzählt. Aus ihm lassen sich die einzelnen Ereignisse der Geschichte entnehmen und z.B. in eine chronologische Abfolge bringen. Der Akt des Erzählens, die Narration, lässt sich ebenfalls aus dem Text erheben und beschreiben.83 79

Bal, Narratology, 3. Rimmon-Kenan, Narrative, 2. 81 Vgl. Rimmon-Kenan, Narrative, 3. Rimmon-Kenan selbst verwendet auch biblische Beispiele, vgl. Narrative, 76. Die Behandlung von Bibeltexten wie fiktive Erzählungen impliziert jedenfalls kein Urteil über die Historizität der geschilderten Ereignisse, vgl. Frey, Leser, 276f. 82 So etwa Seymour Chatman, vgl. Story, 19, der die Ebenen als story und discourse bezeichnet. Zur story gehören events (actions, happenings) und existens (characters, setting). Ähnlich auch schon im russischen Formalismus und französischen Strukturalismus, vgl. Martinez/Scheffel, 22f. 83 Vgl. Rimmon-Kenan, Narrative, 3f. Ihre Definition der Ebenen entspricht weitgehend der von Genette, die in deutscher Übersetzung als Geschichte – Erzählung – Narration (französisches Original: histoire – récit – narration) bezeichnet werden. Vgl. Genette, Erzählung, 16. Eine etwas andere Aufteilung bietet Bal (vgl. Narratology, 5f), die die Ebenen fabula – story – text unterscheidet. Die Differenz der Bezeichnung hat inhaltliche Gründe: Bei ihr gehört der real vorhandene, greifbare Text zur dritten Ebene, denn in ihm wird in einem bestimmten Medium erzählt. 80

Methodische Grundlegung

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Wird eine Erzählung in diesen verschiedenen Aspekten betrachtet, so kommen jeweils verschiedene Phänomene bzw. einzelne Seiten an ihnen in den Blick und lassen sich analysieren. So gehört zur Narration vor allem die Frage nach den Ebenen des Erzählens, also nach den Stimmen, die erzählen, und ihrer Position im und zum Erzählten. Im Text lässt sich alles, was zur zeitlichen Anordnung gehört, die Art der Charakterisierung von Personen und die Fokussierung84 erfassen. Letztere beschreibt den Blickwinkel, den die Erzählung einnimmt, fragt also, mit wessen Augen die Ereignisse gesehen werden – dies ist nicht unbedingt identisch mit der Stimme, die erzählt!85 Die Geschichte besteht aus Ereignissen und Akteuren und ihrer Verknüpfung.86 3.2 Die Kommunikationssituation und die Bedeutung der LeserInnen Die Analyse auf der Ebene der Narration mit Erzählstimme und AdressatInnen ist in ein noch grundlegenderes Modell der Kommunikation einbezogen, das für alle Texte, nicht nur für Erzählungen gilt. Alle Texte sind von realen AutorInnen verfasst und werden von realen LeserInnen gelesen. Aus den Texten selbst erhebbar sind implizite AutorInnen und LeserInnen. Denn reale AutorInnen stehen außerhalb der Texte und spielen deshalb für die literarische Analyse keine Rolle. Aus Texten lassen sich aber Vorstellungen von den AutorInnen entwickeln, die möglicherweise Übereinstimmungen mit den realen Größen aufweisen, auch wenn sie nicht mit ihnen identisch sind.87 Sie sind allein von den Texten impliziert – deshalb die Bezeichnung als implizite AutorInnen –, werden also aus Textmerkmalen konstruiert und erschlossen. Implizite AutorInnen sind die Instanzen, die die Erzählung bestimmen, sie können als die Summe der in den Texten greifbaren Werte88 und als Zusammenfassung der Textstrategien89 beschrieben werden. Sie haben keine eigene Stimme und sind nicht an der Erzählung selbst beteiligt, aber doch in der Gesamtwirkung eines Textes sichtbar.90 Von den impliziten AutorInnen 84

Fokussierung ist m.E. die angemessene deutsche Entsprechung des englischen Begriffs focalization, vgl. Schmidt, Randfiguren, 29. Mitunter wird aber auch Fokalisierung verwendet. 85 Vgl. Rimmon-Kenan, Narrative, 72f. 86 So die grobe Wiedergabe der Aufteilung von Rimmon-Kenan. Aber auch Bal bietet im Wesentlichen die gleichen Phänomene in einer ähnlichen Anordnung. 87 Gerade bei einem Text wie dem JohEv, bei dem nicht einmal klar ist, ob er von einer oder mehreren Personen (gemeinsam oder nacheinander als Überarbeitungen) verfasst wurde, ist diese Unterscheidung wichtig: Aus dem vorliegenden Text lässt sich eine Größe „implizite AutorIn“ erheben – ohne zu behaupten, dass der Text auch real von einer Person verfasst wurde. 88 Diesen Aspekt betont Rimmon-Kenan, vgl. Narrative, 88. 89 So Staley, Print, 29. 90 Zum Konzept der impliziten AutorInnen vgl. Chatman, Story, 148f, der den ursprünglich von Wayne C. Booth (vgl. Rhetoric, 70–75) geprägten Begriff aufnimmt. Das Konzept hat sich weitgehend durchgesetzt, skeptisch bzgl. des Sinns der Kategorie ist jedoch Genette, vgl. Erzählung, 284–291.

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zu unterscheiden sind die personal mehr oder weniger greifbaren Erzählstimmen91 speziell in narrativen Texten. Einer Erzählstimme lassen sich konkret Aussagen zuordnen, sie bestimmt aber auch die Darbietung des Erzählten. Die Notwendigkeit zur Differenzierung zwischen Erzählstimme und impliziter AutorIn ist vor allem in modernen Erzählungen mit einer unzuverlässigen Erzählstimme gegeben.92 Sie ist aber m.E. auch bei einem antiken Text wie dem JohEv hilfreich, um die Wertungen und Intentionen des Textes getrennt von der Erzählsituation zu erheben.93 Das Gegenüber zur Erzählstimme sind die AdressatInnen94, die wie diese nur in narrativen Texten begegnen und in der Erzählung als Person(en) vorkommen oder angeredet werden können. Schwieriger zu greifen sind die impliziten LeserInnen, die wie die impliziten AutorInnen eine unpersönliche Struktur im Text bilden. Sie sind aber kein genaues Gegenüber zu ihnen, das zeigt schon die Vielzahl von variierenden Modellen, die LeserInnen als Hilfsmittel für die Textanalyse beschreiben.95 M.E. erklärt sich diese Asymmetrie durch die Notwendigkeit von empirischen LeserInnen für das Lesen und Verstehen eines Textes. Während die realen AutorInnen für die Lektüre irrelevant sind und die impliziten aus dem Text allein erhoben werden können, lässt sich bei den LeserInnen die Trennung nicht so scharf vornehmen – auch die theoretischste Lektüre kommt nicht ohne reales Lesen und d.h. reale LeserInnen aus.96 Wolfgang Iser bezeichnet diesen doppelten 91 Ich bezeichne mit dem Begriff Erzählstimme die Größe, die sonst meist Narrator oder Erzähler heißt. Diese Begriffswahl vermeidet nicht nur eine geschlechtliche Festlegung, sondern entspricht ihrem Charakter auch sehr gut: Sie kann mit einer Person in der Erzählung verbunden, aber auch quasi körperlos anwesend sein. 92 Ein klassisches Beispiel, an dem diese Differenz sehr schön deutlich wird, ist „The Murder of Roger Ackroyd“ von Agatha Christie. Die Erzählung hat durchgehend eine interne (an eine Figur der Erzählung gebundene) Erzählstimme und dieser Erzähler entpuppt sich am Ende als der Mörder. In der Darstellung werden aber die erzählten Ereignisse durchaus anders bewertet, als dies die Erzählstimme tut (besonders offensichtlich in der Frage der Berechtigung eines Mordes). So wird eine weitere Größe neben der Erzählstimme und ihr übergeordnet sichtbar, die die Erzählung und ihre Aussage prägt – eben die implizite AutorIn. Zur realen Autorin Agatha Christie bestehen vermutlich dichte Verbindungen, aber eine Identität kann schon deshalb nicht angenommen werden, weil Textmerkmale etwas anderes sind als eine reale Person (zudem ist auch mit absichtlichen oder unabsichtlichen Abweichungen zu rechnen). 93 So geht auch Rimmon-Kenan vor, vgl. Narrative, 87f. Bal klammert die Frage nach impliziten AutorInnen aus ihrer Untersuchung aus, weil sie nicht spezifisch für Erzähltexte sind (vgl. Narratology, 18). 94 Auch als Narratee bezeichnet, englisch oft audience. 95 Neben den impliziten auch Ideal-, Modell-, Erst-, intendierte, historische und viele weitere LeserInnen, vgl. die Auflistung bei Rimmon-Kenan, Narrative, 118f. Nach John A. Darr (vgl. Herod, 60) bewegen sich diese Konstruktionen im Spektrum zwischen einer Orientierung an wissenschaftlich-kritischen LeserInnen, an Textmerkmalen und am kulturellen und historischen Kontext. 96 Die streng symmetrische Darstellung bei Chatman, Story, 149f und 151 (Schaubild), ist deshalb m.E. nicht angemessen. Anders als Rimmon-Kenan (vgl. Narrative, 119) halte ich die implizierten LeserInnen nicht ausschließlich für eine Textstruktur, so auch Darr, Herod, 49.

Methodische Grundlegung

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Bezugspunkt der impliziten LeserInnen als Textstruktur und Aktstruktur: Sie sind einerseits in der Struktur des Textes selbst angelegt, die den LeserInnen einen bestimmten Ort (etwa durch die gemachten Voraussetzungen) und eine Perspektive auf das Geschehen zuweist. Andererseits erfüllt sich die Intention der Textstruktur erst durch die Vorstellungsakte der EmpfängerInnen, die vom Text selbst zwar angeregt werden, aber von den LeserInnen durchgeführt werden müssen (und sich dadurch auch der Kontrolle des Textes entziehen).97 Das Konzept der impliziten LeserInnen nach Iser hat also von vorneherein auch eine extratextuelle Komponente. Dadurch sind verschiedene Lektüren desselben Textes möglich, aber nicht willkürlich, da der Text die Rahmenbedingungen der Lektüre vorgibt.98 Eine Möglichkeit des Zusammenspiels von Textvorgaben und Aktualisierung durch LeserInnen ist die Besetzung von Leerstellen im Text mit Vorstellungen der LeserInnen.99 D.h. eine Offenheit des Textes begründet das Einbeziehen von extratextuellen Faktoren. Das Konzept der impliziten LeserInnen bildet m.E. eine sinnvolle Ausweitung der streng textzentrierten Narratologie und bietet eine methodische Basis für die Einbeziehung von Vergleichstexten als Bestandteil des Wissens der LeserInnen. Für die konkrete Mitwirkung der LeserInnen bei der Sinnkonstitution gibt es verschiedene Möglichkeiten, da nur die Ansatzpunkte vom Text vorgegeben sind. Es kann also schon rein theoretisch nicht die eine richtige Lektüre geben – das Zusammenspiel zwischen Text und LeserInnen ist eben nur zum Teil vom Text bestimmt. Für meine eigene praktische Umsetzung des Lesens, also diese Untersuchung, bringe ich einen bestimmten Ausschnitt des kulturellen Hintergrunds von antiken LeserInnen ein, nämlich frühchristliche Vergleichstexte über dieselben Personen.100 Dieses konkrete Vorgehen ist durch den Charakter des JohEv und den Gegenstand meiner Untersuchung begründet (s.u., I.3.d). Das Modell von Iser bildet den theoretischen Rahmen dafür, weil es eine Verbindung von narratologischer Textanalyse und extratextuellen Faktoren, in diesem Fall weiteren Texten, ermöglicht.

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Vgl. Iser, Akt, 60–63. Vgl. Iser, Akt 65f.156. Ich sehe bei Iser im theoretischen Konzept eine gleichberechtigte Verbindung von Vorgaben des Textes einerseits und Mitwirkung der LeserInnen andererseits – ob dies auch für seine eigene Durchführung gilt, ist eine andere Frage, vgl. dazu Schmitz, Literaturtheorie, 104f. Demgegenüber ist bei anderen Lesemodellen der Text allein entscheidender, vgl. z.B. Pellegrini, Elija, 53.67, zum Ansatz von Eco. 99 Vgl. Iser, Akt, 284. 100 So auch der Ansatz von Darr (vgl. Herod, 41 u.ö.), der ebenfalls auf Iser aufbaut. 98

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3.3 Die Analyse von Charakteren in der Narratologie Personen und ihre Darstellung in der Erzählung kommen in der narratologischen Analyse zweimal vor: Sie gehören zur Geschichte als diejenigen, die Ereignisse verursachen oder erleiden, sind also relevant für den Inhalt der Erzählung. Im Text lässt sich aber auch die Art ihrer Darstellung erkennen. Dabei steht die Charakterisierung meist nicht im Zentrum narratologischer Theorien. Genette etwa klammert die Analyse der Geschichte in seinem Entwurf völlig aus und mit ihr die Charaktere – auch die Frage, wie dann die Darstellung erfolgt, kommt bei ihm nicht vor.101 Die Weiterentwicklung seines Ansatzes durch Rimmon-Kenan und Bal bezieht jedoch sowohl die Analyse der Geschichte als auch die Charakterisierung im Text ein. Für meine Untersuchung der Charakterisierung im JohEv ist zuerst die Analyse der Darstellung der Personen auf der Ebene des Textes wesentlich. Zu ihr gehört auch die Fokussierung, die sich sowohl auf die Position von Charakteren im Rahmen der Erzählung auswirkt als auch maßgeblich die Sicht der LeserInnen beeinflusst.102 Als Voraussetzung für die Analyse der Charaktere ist jedoch auch eine Beschreibung der Erzählsituation (also die Ebene der Narration) im JohEv insgesamt nötig, um einzelne Aussagen zu Charakteren einordnen zu können. Die Frage nach der Rolle der Charaktere für die Geschichte wird erst danach ausgewertet. Die Art der Darstellung von Charakteren gehört zum Wie der Erzählung, zur Ebene des Textes. Durch sie wird aus einer strukturellen Position in der Geschichte ein komplexes, menschenähnliches Gebilde mit eigentlichen „Charakterzügen“.103 Rimmon-Kenan unterscheidet dabei grundlegend zwischen direkter Definition und indirekter Präsentation. Zur direkten Definition von Personen gehören ausdrückliche Zuschreibungen von Charakterzügen oder Eigenschaften, etwa durch Adjektive oder andere nominale Ausdrücke. Wichtig für die Interpretation ist dabei, ob sie von einer verlässlichen Instanz, z.B. der Erzählstimme, geäußert werden.104 Indirekt werden die Personen in der Erzählung durch ihre Handlungen, ihr Reden, ihr Aussehen und ihre Umgebung dargestellt.105 Die Handlungen können einmalig vorkommen oder als Gewohnheit fester mit der Person verbunden sein, beides trägt auf je eigene Weise zur Charakterisierung bei. Außerdem können sie getan, beabsichtigt oder unterlassen werden. Bei den Redebeiträgen sind der Inhalt und die Form zu unterscheiden. Auch die Beschrei101 Vgl. die Begründung dazu bei Genette, Erzählung, 283. Er behandelt Fragen der Zeit (Ordnung, Dauer, Frequenz) und des Modus (Distanz, Perspektive) der Erzählung und die Erzählsituation (Stimme). 102 Vgl. Schmidt, Randfiguren, 54. 103 Vgl. Bal, Narratology, 114f. 104 Vgl. Rimmon-Kenan, Narrative, 60f. 105 Vgl. Rimmon-Kenan, Narrative, 60–67.

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bung des Aussehens oder z.B. der Kleidung erlaubt Rückschlüsse auf die so dargestellte Person. Dies ist allerdings ein Punkt, der in ntl. Texten kaum jemals begegnet. Schließlich leistet auch die soziale und physische Umgebung, der Ort an dem sie sich jeweils befinden, einen Beitrag zur Charakterisierung. Neben diesen Möglichkeiten, jeweils eine Person darzustellen, dienen auch Analogien oder Gegensätze z.B. zu anderen Personen zur Verstärkung des Bildes.106 Weitgehend dieselben Punkte, wenn auch in anderer Anordnung, bietet Helmut Bonheim.107 Er verteilt die Aspekte der Charakterisierung auf vier Räder, die zwei Achsen bilden: Zur statischen Achse gehören auf der einen Seite die Beschreibung von Aussehen, Innerem und Biographischem, auf der anderen Seite die Bewertungen einer Figur durch andere, die Erzählstimme und sich selbst. Die dynamische Achse wird einerseits vom Bericht über Handlungen, andererseits vom Reden einschließlich Denken und Wahrnehmen gebildet. Mir leuchtet, gerade wenn es um die Technik des Darstellens geht, die Grundunterscheidung von Rimmon-Kenan zwischen direkter Definition und indirekter Präsentation mehr ein als die zwischen einer statischen und einer dynamischen Achse. Deutlich werden aber die Übereinstimmungen in der Frage, welche Aspekte für die Charakterisierung zu beachten sind. Bei Bonheim gehört zum Reden einer Figur auch ihre Wahrnehmung der Umgebung.108 Dieser Aspekt wird bei Rimmon-Kenan und Bal ausführlicher unter dem Stichwort der Fokussierung behandelt.109 Die Frage, aus wessen Sicht jeweils erzählt und worauf fokussiert wird, betrifft die Struktur der Erzählung insgesamt. Ähnlich wie bei der Erzählstimme kann auch die Fokussierung von außerhalb der Erzählung erfolgen, aber auch an eine Figur gebunden sein. Ein Wechsel der Fokussierung ist ebenso möglich wie eine Mehrschichtigkeit, wenn etwa von außen dargestellt wird, wie eine Figur eine andere fokussiert (wir sehen Johannes, der Jesus sieht; Joh 1,29).110 Für die Frage der Charakterisierung ist wichtig, ob eine Figur selber fokussiert (und wenn ja: auf wen oder auf was) und ob auf sie fokussiert wird (und wenn ja: von wem und ob nur äußerlich oder ins Innere durchdringend). Die Fokussierung ist entscheidend für die Machtverteilung zwi106

Vgl. Rimmon-Kenan, Narrative, 67–69. Zu diesem Bereich rechnet sie unter anderem sprechende Namen. 107 Vgl. Bonheim, Literary, 309–318. 108 Vgl. Bonheim, Literary, 311f. 109 Ich beziehe mich im Folgenden nur auf das von Bal ausführlich entwickelte und bei Rimmon-Kenan ähnlich verwendete Konzept von Fokussierung. Darin sind Elemente dessen, was oft unter dem Stichwort Perspektive bzw. point of view behandelt wird, aufgegriffen, weiterentwickelt, aber auch verändert. Auch von den Vorstellungen von Genette (vgl. Erzählung, 134–138 und 241–244) unterscheidet es sich wesentlich. 110 Vgl. Bal, Narratology, 156–160.

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Einleitung

schen den Figuren.111 Mit ihr lässt sich die Perspektive, Identifikation und Bewertung der LeserInnen112 stärker lenken als mit allen anderen Verfahren, da sie ganz konkret in eine Figur hineingenommen werden, wenn die Erzählung mit deren Augen sieht. Um die Funktion von Charakteren für die Geschichte zu bestimmen, arbeiten sowohl Rimmon-Kenan als auch Bal mit dem vom Algirdas Julien Greimas entwickelten Aktantenmodell. Dieses erkennt in allen Erzählungen sechs Grundpositionen – die Aktanten –, die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen und so das Gerüst der Handlung bilden. In konkreten Erzählungen sind diese Positionen jeweils mit bestimmten Charakteren (oder auch nichtpersonalen Größen) besetzt, wobei sowohl eine Figur mehrere Aktantenrollen übernehmen als auch ein Aktant mit mehreren Figuren gefüllt sein kann. Eine Aktantenanalyse ist hilfreich, um die Rolle einer Figur näher zu bestimmen, vor allem aber ermöglicht sie, die Personalstruktur der Geschichte zu erfassen. Ein bestimmtes Muster der Besetzung von Aktanten mit Charakteren kann typisch für eine literarische Gattung sein oder auch die spezifische Eigenart einer Erzählung hervorheben. Zur Beschreibung von Charakteren wird oft die Unterscheidung zwischen rund und flach verwendet, die allerdings nicht sehr aussagekräftig ist. Rimmon-Kenan differenziert hier stärker und erkennt bei Charakteren ein unterschiedlich hohes Maß an Komplexität, Entwicklung und Einsicht ins Innenleben.113 Denn es kommt vor, dass auch wenig komplex gezeichnete Figuren sich entwickeln oder Einsicht in ihr Innenleben gegeben wird, während auch komplexe, in sich widersprüchliche Charaktere mitunter statisch bleiben. 3.4 Die historische Ausweitung des narratologischen Ansatzes Bei einer narratologischen Untersuchung des JohEv müssen m.E. zwei Besonderheiten beachtet werden, die eine Modifizierung des Ansatzes sinnvoll machen. Zum einen ist das JohEv zwar eine Erzählung, aber nicht einfach eine frei erfundene; der eigene Anspruch des JohEv ist jedenfalls anders als der eines modernen Romans. Zum anderen ist durch den historischen Abstand zwischen Abfassung und heutiger Lektüre der Kontext der LeserInnen so anders, dass ein unmittelbares Verständnis des Textes nicht immer möglich ist. Im JohEv haben manche Personen und Ereignisse sicher eine historische Grundlage, und es erhebt selbst den Anspruch, im ganz umfassenden Sinne 111

So Bal, Narratology, 153f. M.E. beschreibt Iser (vgl. Akt 185f) dieses Phänomen in seiner Darstellung des „wandernden Blickpunktes“ der LeserInnen im Text. 113 Vgl. Rimmon-Kenan, Narrative, 40–42. 112

Methodische Grundlegung

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„wahr“ zu sein (21,24). Aber völlig ohne Wirklichkeitsbezug kommen selbst fiktive Erzählungen nie aus, sie sind immer irgendwie historisch und geographisch eingebunden.114 Und Wahrheit umfasst immer auch mehr als die oberflächlich korrekte Wiedergabe z.B. von Ereignissen – das lehrt gerade das JohEv. Der Unterschied zwischen historischem Bericht und fiktiver Erzählung scheint mir eher graduell als grundsätzlich zu sein.115 Auch das JohEv ist eine erzählende Darstellung von Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst; es verlangt von den LeserInnen wie jede Erzählung, sich auf die Darstellung einzulassen. Aber auch wenn eine grundsätzliche Einordnung des JohEv schwierig ist, ergibt sich aus dem nicht rein fiktionalen Charakter eine wesentliche praktische Konsequenz: Die Ereignisse und Personen existieren auch außerhalb des JohEv und sind den LeserInnen bekannt.116 Die Figuren der Erzählung sind nicht unbedingt neu entworfen, sondern sie sind historisch (oder literarisch) schon vorhanden. Das hat Konsequenzen für die Interpretation, weil die Wechselwirkungen zwischen der Darstellung im JohEv und den außerhalb vorhandenen Vorstellungen einbezogen werden müssen. Ein Zugang zu diesem Wissen über manche Personen zur Zeit des JohEv ist aber heute durch den historischen Abstand nicht mehr ohne weiteres vorhanden. Er lässt sich nur indirekt über andere Quellen gewinnen. Mein Ansatz, Vergleichstexte zu einzelnen Personen heranzuziehen, bedeutet also eine Rekonstruktion des historischen Kontextes des JohEv an dieser einen Stelle, bei den zu verschiedenen Personen vorhandenen Vorstellungen.117 Sinnvoll und notwendig ist dies nicht nur aus historischen, sondern auch aus literarischen Gründen, weil das JohEv nicht alle Figuren neu erfindet.

114 Dies gilt auch für eine extrem fiktive Erzählung wie „Der Herr der Ringe“! Eine erzählerische Verarbeitung (auch) von historischen Ereignissen und Personen bieten z.B. historische Romane. 115 Merenlahti/Hakola (vgl. 35f) betonen den Unterschied m.E. zu sehr. Nach Martinez/ Scheffel (vgl. 17–19) liegt der Unterschied zwischen faktualen und fiktionalen Texten in einer zusätzlichen Kommunikationsebene bei letzteren: Während in faktualen Texten die Aussagen als Behauptungen der realen AutorInnen verstanden werden, sind sie in fiktionalen Texten Behauptungen der imaginären Erzählstimme, die AutorInnen sind also nur indirekt verantwortlich für sie. Auch hier scheint das JohEv einen Grenzfall zu bilden! Ein sehr weites Verständnis von Fiktion hat Iser. Er versteht sie als Kommunikationsstruktur, die „Wirklichkeit so zu organisieren vermag, daß diese mitteilbar wird, weshalb sie das von ihr Organisierte selbst nicht sein kann.“ (Iser, Akt, 88). 116 Vgl. Merenlahti/Hakola, 39f; Bauckham, John, 167f. 117 Dass auch andere Zugänge zum historischen Kontext möglich sind, zeigt z.B. das Vorgehen von Fehribach, s.o., I.2.

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Einleitung

4. Erzählerische Grundstrukturen im JohEv 4.1 Die Erzählsituation Erzählerische Grundstrukturen im JohEv Das JohEv wird von einer Stimme erzählt, die selbst außerhalb der Erzählung steht. An ganz wenigen Stellen wird die Erzählstimme etwas stärker greifbar, wenn sie „wir“ (Joh 1,14.16; 21,24) oder „ich“ (21,25) sagt.118 Analog hierzu werden auch die AdressatInnen in der zweiten Person Plural angesprochen (19,35; 20,31). Aber beide sind im Akt des Erzählens nicht mit Charakteren in der Erzählung identifiziert. Die Erzählstimme ist, wie in der Regel in antiker Literatur, allwissend.119 Sie hat den Überblick über alle Ereignisse der im JohEv erzählten Zeit, auch wenn sie an verschiedenen Orten gleichzeitig spielen, weiß aber auch über die Zeit davor (von Anfang an; Joh 1,1!) und danach Bescheid. Sie durchdringt die Charaktere, kennt ihre Gedanken und Gefühle und verfügt auch über breites sprachliches und kulturelles Wissen. Ausdrücklich kommt die Erzählstimme in einer Vielzahl von Kommentaren zu Wort, in denen die erzählten Ereignisse erläutert und gedeutet werden.120 Z.B. gibt sie Übersetzungen fremdsprachlicher (d.h. nicht griechischer) Worte, erklärt Gebräuche und ergänzt weitere Informationen, die nicht direkt zur Erzählung gehören. Häufig und inhaltlich besonders wichtig sind Ausblicke auf eine spätere Zeit, in die hinein sich die erzählten Ereignisse auswirken (z.B. 2,22), und direkte Interpretationen von Worten Jesu (z.B. 2,21). Gerade an diesen Stellen wird die Allwissenheit der Erzählstimme praktisch angewandt. Die Erzählstimme teilt den AdressatInnen ihr Wissen mit und erweist sich so als verlässlich.121 Insgesamt entspricht das JohEv hierin den Konventionen der Zeit, mit vielleicht einem stärkeren Gewicht der Erzählkommentare als z.B. in anderen Evangelien.122 Zwei Auffälligkeiten lassen sich jedoch in Bezug auf die Erzählstimme beobachten: Zum einen tritt Jesus als Hauptfigur in der Erzählung in eine gewisse Konkurrenz zur Erzählstimme, ohne selbst diese Rolle zu übernehmen. Er hat einen hohen Anteil an wörtlicher Rede, ist damit also, ein118

Unklar ist die Funktion der von Jesus verwendeten 1. Person Plural (3,11; 4,22) und die analoge Anrede in der 2. Person Plural (3,12). Von den Erzählebenen her handelt es sich aber eindeutig um Figurenrede, diese Aussagen können nicht der Erzählstimme zugeschrieben werden. Eine mögliche Deutung wäre aber, hier einen weiteren Beleg für eine Verwischung der Grenze zwischen Jesus und der Erzählstimme zu sehen. 119 Vgl. ausführlicher zur Erzählstimme im JohEv Culpepper, Anatomy, 18–49; M. Davies, Rhetoric, 31–37. 120 Auflistung bei Hedrick, Authorial, 77–82. 121 Vgl. Culpepper, Anatomy, 32; Staley, Print, 82f; M. Davies, Rhetoric, 369. Hedrick (vgl. Authorial, 92f) sieht dagegen in manchem Kommentar eine Korrektur der Erzählstimme, die dadurch als unverlässlich erscheint. 122 Vgl. O’Day, Word, 72.

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geordnet in die Gesamterzählung, selber Erzähler auf der zweiten Ebene.123 Das ist an sich unproblematisch und kommt in jeder Erzählung vor, in der Charaktere ihrerseits erzählen. Eine Konkurrenz entsteht jedoch, weil auch Jesus allwissend ist:124 Auch er kennt die Vergangenheit (z.B. 8,56) und die Zukunft sowie die Gedanken und Gefühle seiner Gegenüber (4,17f; 6,61.64 u.ö.; als allgemeine Aussage: 2,24f). Jesus redet auch ohne klar erkennbares Gegenüber (z.B. 12,44–50) und oft von sich in der dritten Person. An manchen Stellen ist deshalb nicht deutlich erkennbar, wo eigentlich die Jesusrede aufhört und die Erzählstimme wieder einsetzt (z.B. 3,14–21).125 Jesus und die Erzählstimme stehen sehr nahe beieinander.126 Dieses Phänomen zeigt m.E. die besondere Rolle Jesu im JohEv, er ist nicht nur eine Figur wie andere der erzählten Welt, sondern hat auch erzähltechnisch eine autoritative Position. Prinzipiell hat jeweils die übergeordnete Erzählinstanz Macht über die unteren, also z.B. die externe Erzählstimme über die Charaktere, die ihrerseits zu ErzählerInnen werden.127 Im JohEv ist das nicht so eindeutig: Die Erzählstimme wirkt mitunter eher wie eine Vermittlungsinstanz zwischen Jesus und den LeserInnen. Die Nähe der Rolle Jesu zur Erzählstimme lässt jedenfalls vermuten, dass beide als verlässlich gelten können.128 Dies ist insbesondere bei der Interpretation von Worten Jesu in Erzählkommentaren wesentlich. Eine zweite Auffälligkeit: Die Erzählstimme steht im JohEv außerhalb der Erzählung. In Joh 21,24 wird jedoch eine Figur in ihr, nämlich der geliebte Jünger, ausdrücklich als Autor identifiziert.129 Er ist es, der dieses – also wohl die Schrift bis dahin – bezeugt und geschrieben hat. Trotzdem ist er nicht selbst die Erzählstimme, jedenfalls wird von ihm genau wie von anderen Personen in der dritten Person berichtet. Selbst an der Stelle, wo er identifiziert wird (21,24), besteht ein klares Gegenüber zwischen ihm, der alles bezeugt und aufgeschrieben hat, und der Erzählstimme, die „wir“ sagt und die Wahrheit seines Zeugnisses verbürgt.130 Er tritt auch nur in einem 123

Vgl. Bal, Narratology, 52f. Vgl. M. Davies, Rhetoric, 38f. 125 Dies gilt auch für Johannes den Täufer, der in der Art seines Redens eine große Nähe zur Erzählstimme und zu Jesus aufweist. Insgesamt tritt er jedoch nicht so kontinuierlich auf, dass dem große Bedeutung zukommt. 126 Zu diesem Schluss kommt auch Culpepper, Anatomy, 36–43, und zeigt dies auch an parallelen Formulierungen von Jesusreden und Erzählaussagen. 127 Vgl. Bal, Narratology, 52ff; Schmidt, Randfiguren, 49. 128 So auch Culpepper, Anatomy, 41.43. 129 So auch schon 19,35, vgl. Bauckham, Beloved, 40 und passim. M. Davies (vgl. Rhetoric, 345) deutet Joh 21,24 nicht als Anspruch auf Autorenschaft des geliebten Jüngers für die ganze Schrift, sondern sieht nur Joh 21,22f verbürgt. 130 Anders aber die Deutung dieser Stelle bei Staley, vgl. Print, 40. Etwas weniger eindeutiger ist die Darstellung in Joh 19,35, wo ebenfalls das Bezeugen vermutlich des geliebten Jüngers und die Wahrheit dieses Zeugnisses festgehalten wird. Hier ist es dieselbe Person, die gesehen hat, 124

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kleinen Teil der Szenen des JohEv auf und zeigt zwar eine besondere Nähe zu Jesus, aber keine Allwissenheit. Deuten lässt sich dieser Befund vielleicht durch den zeitlichen Abstand, der zwischen der Handlung im Evangelium und dem späteren Aufschreiben besteht. Die Funktion des Erzählers hat nicht der geliebte Jünger, wie er im Evangelium selbst auftritt, sondern dieselbe Person in einer späteren Zeit. Diese spätere Zeit ist durch Belehrung durch den Parakleten (15,26; 16,13) und eine erweiterte Kenntnis der Schrift (20,9) bestimmt. Sachlich ist ein solches Modell denkbar, es bleibt aber festzuhalten, dass der geliebte Jünger zwar eine Funktion als Erzählinstanz bekommt, diese Verknüpfung aber nicht konsequent durchgeführt wird.131 Culpepper versteht den geliebten Jünger als den in die Erzählung selbst eingeschriebenen Autor, als impliziten Autor.132 Diese Idee ist zunächst bestechend, weil genau dies seine Funktion zu sein scheint: Der geliebte Jünger wird in der Erzählung JohEv als Autor vorgestellt, ohne dass er damit identisch mit den realen AutorInnen sein müsste. Aber das Modell der Unterscheidung von Erzählstimmen, impliziten AutorInnen und realen AutorInnen sieht keine direkte Beteiligung von impliziten AutorInnen in der Erzählung vor.133 Zudem werden die impliziten AutorInnen nicht als Personen, sondern als Summe von Normen und Werten aufgefasst.134 Culpepper knüpft hier an, wenn er den geliebten Jünger als impliziten Autor im Sinne eines Idealbildes des realen Autors versteht.135 Der geliebte Jünger verkörpert dann die Werte des JohEv. M.E. funktioniert es eher umgekehrt: Auf den geliebten Jünger werden von den LeserInnen die Werte des JohEv, also sozusagen der implizite Autor, projiziert – dafür bietet er sich gerade wegen der Zuschreibung der Autorenschaft an ihn an. Die Rolle des geliebten Jüngers für die Erzählung JohEv ist also nicht nur historisch schwer auszuwerten, sondern fügt sich auch nur schlecht in bezeugt und weiß, dass das Zeugnis wahr ist. Von ihr wird in der dritten Person gesprochen, während ihr eine direkt angesprochene Gruppe („ihr“, 2. Person Plural) gegenübersteht. Das ist zwar keine übliche Erzählsituation mit Erzählstimme und AdressatInnen, schließt eine solche Deutung aber auch nicht gänzlich aus. 131 Dass eine Figur in Evangelien die Rolle der Erzählstimme übernehmen kann, zeigen z.B. das EvPetr, AJ, EpAp oder UBE. Das AJ zeichnet sich dabei auch durch einen Wechsel zwischen Erzählen in der 1. und 3. Person aus – auch das wäre also möglich. In den genannten Schriften hat die interne Erzählstimme nur ein beschränktes Wissen und baut es erst im Laufe der Erzählung aus; dies dient als Mittel der Darstellung. Im JohEv lässt sich dies gerade nicht feststellen – allerdings gibt es viele Hinweise auf ein späteres Wissen, was einen ähnlichen Prozess andeutet. 132 Vgl. Culpepper, Anatomy 47f; ähnlich auch Tovey, Narrative Art, 138f. 133 Rimmon-Kenan schließt ausdrücklich aus, dass implizite AutorInnen an der Erzählkommunikation direkt beteiligt sein können, vgl. Narrative, 88. 134 Vgl. Bal, Narratology, 18; Rimmon-Kenan, Narrative, 87f. M.E. ist es dem Konzept von impliziten AutorInnen auch unangemessen, diese Größe sehr zu personifizieren, wie es Staley und Tovey tun. 135 Vgl. Anatomy, 47f.

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theoretische Modelle von Erzählungen ein. Festzuhalten ist aber, dass er eine Funktion beim „Senden“ der Erzählung hat, zusätzlich zu seiner Rolle als Figur in der Erzählung. Möglicherweise bereitet die genaue Einordnung auch deshalb Probleme, weil das JohEv nicht vollständig als Erzählung erfassbar ist. Die nächste Parallele zum Phänomen scheint mir nämlich die Rolle des Thomas im EvThom zu sein: Dort wird am Anfang der Schrift das Folgende als „Worte, die der lebendige Jesus sprach“, eingeführt und Thomas als derjenige, der sie aufschrieb. Später im EvThom tritt er dann normal wie andere Figuren auf – wie der geliebte Jünger im JohEv. Auch im EvThom steht Jesus der Erzählstimme sehr nahe, ist aber nicht völlig identisch mit ihr, weil seine Redebeiträge zumindest minimal in Erzählung eingebettet sind. Die Funktion des Thomas ist dagegen das Aufschreiben, was dem Sprechen der Worte deutlich nachgeordnet ist. Er ist also eher für die Überlieferung der Erzählung verantwortlich als am Erzählen selbst beteiligt. Seine Funktion ist es ausdrücklich nicht, AutorIn im Sinne moderner Erzähltheorie zu sein – und trotzdem füllt er diesen Platz bis zu einem gewissen Grade aus. Das JohEv ist stärker durch erzählende Abschnitte geprägt als das auf Einzelworte konzentrierte EvThom. Trotzdem ist der geliebte Jünger im JohEv als Zeuge und Schreiber nur Autor mit einer stark eingeschränkten Kompetenz, die mit den narratologischen Modellen nicht richtig erfasst werden kann. 4.2 Fokussierung Auch die Fokussierung im JohEv ist wie die Erzählstimme überwiegend extern, d.h. das Evangelium übernimmt im Ganzen nicht die Perspektive einer der auftretenden Figuren, sondern es wird von außen auf das Geschehen geblickt. Objekt der Fokussierung ist in erster Linie Jesus, aber auch die Personen, mit denen er interagiert. Dies entspricht der Grundanlage des Evangeliums mit Jesus als Hauptfigur. Mitunter gibt es aber auch interne Subjekte der Fokussierung, die Erzählung folgt dann dem Blick eines der Charaktere auf die anderen Personen bzw. die Handlung. Auch diese Funktion hat in erster Linie Jesus, sie kommt aber auch zwischen anderen Personen vor, wenn Jesus nicht an der Szene beteiligt ist. Jesus selbst ist dagegen nur sehr selten Objekt interner Fokussierung: Johannes der Täufer fokussiert Jesus, wobei er seinen Blick auf Jesus gleich deutet (Joh 1,29–36). In der Passionsgeschichte wird Jesus an einigen Stellen (auch) intern fokussiert (19,2–5.33–35), ist daneben aber auch Subjekt der Fokussierung (z.B. 19,26f). Der Blick der JüngerInnen auf Jesus wird aber kaum je geschildert.136 136 Eine Ausnahme bildet der Seewandel, m.E. die einzige Szene, die einigermaßen durchgehend aus der Sicht der JüngerInnen erzählt wird, obwohl auch Jesus beteiligt ist. Auch die Er-

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Die Fokussierung erfasst vor allem die äußerlich erkennbaren Dinge, Handlungen etc., erstreckt sich mitunter aber auf Nichtsichtbares wie die Gedanken oder Motive der Personen. Insgesamt ist dieser Einblick ins Innenleben weder sehr umfassend noch sehr tief gehend und dient vor allem dem Aufbau der Erzählung.137 Die meisten inhaltlich bedeutsamen Informationen werden über Jesus gegeben. Von ihm werden nicht nur Wissen und Absichten, sondern auch erstaunlich viele Emotionen geschildert.138 Dies ist auffällig, passt aber gut zu seiner Funktion als Subjekt der Fokussierung. Es wird nicht nur mit seinen Augen gesehen, sondern auch mit ihm gefühlt und gedacht. Insgesamt steht also Jesus nicht nur als Hauptfigur im Mittelpunkt des JohEv und redet am meisten, sondern prägt auch die Gesamtperspektive des Evangeliums. Personen und Ereignisse werden, wenn nicht ganz von außen, dann häufig mit seinen Augen gesehen. Die LeserInnen werden so eher angeleitet, Jesu Sicht zu übernehmen als eine bestimmte Sicht auf ihn, denn die kommt nicht häufig vor. M.E. ist dies eine Lenkung der LeserInnen, die sich so leichter mit Jesus als mit den JüngerInnen identifizieren können.139 4.3 AdressatInnen und LeserInnen Wie die Erzählstimme sind auch die AdressatInnen im JohEv extern, nicht mit Charakteren der Erzählung identifiziert. Sie werden aber zweimal direkt in der 2. Person Plural angesprochen (19,35; 20,31). Es handelt sich also um ein Kollektiv, möglicherweise sogar um eine feste Gruppe. Es ist deshalb auch möglich, dass das Wir der Erzählstimme (1,14.16; 21,24)140 die AdressatInnen einschließt. Auch die Kommentare der Erzählstimme gehören zur Kommunikation mit den AdressatInnen. Sie zeigen an vielen Stellen eine inhaltliche Übereinstimmung zwischen beiden, aber auch einen zeitlichen Abstand der AdressatInnen zu den erzählten Ereignissen. Ein „noch nicht“ der Erzählstimme kann implizieren, dass die AdressatInnen „schon“ so weit sind – und z.B. die Auferstehung Jesu aus der Schrift herleiten (20,9). Außerdem gibt es verschiedene Stellen, an denen sich eine wörtliche Rede Jesu nicht nur an die Charaktere in der Erzählung, sondern auch an die AdressatInnen der Erzählsituation insgesamt zu richten scheint; dies gilt scheinungsgeschichten in Joh 20 beginnen aus der JüngerInnenperspektive, wechseln dann aber mit dem Auftreten Jesu in eine externe Fokussierung oder in eine Fokussierung mit Subjekt Jesus. In Joh 21 gibt es vereinzelt eine Fokussierung durch die JüngerInnen (21,9). 137 Vgl. die Auflistung von Culpepper, Anatomy, 22ff. 138 Er ist müde (4,6); liebt (11,5; 13,1.3); ist erschüttert / ergrimmt (11,33.38; 13,21). 139 Nicklas (vgl. Ablösung, 404) hält die Identifikation der LeserInnen mit Jesus wegen seiner Besonderheit prinzipiell nicht für möglich. M.E. schließt die Besonderheit Jesu eine teilweise Identifikation mit ihm nicht aus, denn die LeserInnen werden angeleitet, mit ihm zu fühlen und seine Sicht zu übernehmen – auch im Gegenüber zu den JüngerInnen. 140 Unklar ist der Bezug des Wir in Joh 3,11, das zu einer wörtlichen Rede Jesu gehört.

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vor allem für viele allgemeine Aussagen, die auffordern oder verheißen.141 Dies ist analog zum Phänomen, dass Jesus und die Erzählstimme ineinander übergehen – umgekehrt rutschen auch die AdressatInnen in die Erzählung hinein.142 Oft sind gerade Ansagen für die Zukunft der JüngerInnen sehr offen für die AdressatInnen, denn auch für die JüngerInnen wird z.B. ein zukünftiges Schriftverständnis angesagt (2,22). Zugleich wird aber auch ein Unterschied zu den JüngerInnen festgehalten (20,29, falls sich die allgemeine Aussage auf die AdressatInnen bezieht). Die AdressatInnen sind ein Anknüpfungspunkt für die LeserInnen im Text, sie bilden m.E. einen Teil der Textstruktur der impliziten LeserInnen, durch die Vorgaben gemacht werden, die aktualisiert werden können. Aber die impliziten LeserInnen sind nicht identisch mit den AdressatInnen, es gibt auch andere Textstrukturen, an denen sie teilhaben, z.B. die Fokussierung durch Jesus. Trotzdem sind beide eng verbunden, z.B. was ihr Vorwissen angeht – hier lässt sich keine inhaltliche Trennlinie zwischen beiden ziehen.143 Über die Verbindung zu den AdressatInnen entsteht auch eine Beziehung zur Erzählstimme, die an vielen Stellen Erklärungen gibt, insbesondere Worte Jesu deutet und Einblick in seine Absichten gewährt, durch die die LeserInnen (wie die AdressatInnen) den Charakteren in der Erzählung selbst ganz grundsätzlich überlegen sind.144 Obwohl beide über weite Strecken Reden Jesu hören, liegt das Verständnis der LeserInnen von Anfang an auf einer anderen Ebene. Und diese Überlegenheit bleibt und wird durch die Erzählkommentare fortlaufend neu genährt. Diese Grundspannung bewirkt m.E. eine gewisse Distanz zu den Figuren der Erzählung, insbesondere zu den JüngerInnen.145 Das Verhältnis zwischen LeserInnen und Erzählstimme ist aber nicht völlig ungetrübt. Jeffrey Staley zeigt auf, dass der Text146 einerseits Nähe 141 So richtet sich etwa in 7,37–39 die Aufforderung zu trinken an „einen Durstigen“ (V37), „der Glaubende“ bekommt die Verheißung der Ströme lebendigen Wassers (V38). Der Erzählkommentar in V39 bezieht dies auf die spätere Ausgießung des heiligen Geistes. D.h. hier ist explizit eine spätere Zeit im Blick. 142 Zur Vermischung der Textebenen und ihrer doppelten Lesbarkeit, die nicht einseitig aufgelöst werden kann, vgl. Frey, Eschatologie II, 275–278. 143 Culpeppers ausführliche Bestandsaufnahme über Voraussetzungen und Wissen der LeserInnen, die das JohEv annimmt (vgl. Anatomy, 211–227), gilt auch für die AdressatInnen. M. Davies (vgl. Rhetoric, 359f; 354–359 zu den Voraussetzungen im Einzelnen) verbindet beide, Kieffer (Implied, 50) differenziert gar nicht. Dieses allgemeine Bild der Erwartungen des JohEv an die LeserInnen soll nicht als Eingrenzung verstanden werden. Das JohEv ist ein relativ offener Text, der mit verschiedenen LeserInnen rechnet, vgl. Bauckham, For Whom, 48; Culpepper, Spectrum, 9–11.18f. 144 Eine Ausnahme ist evtl. Johannes der Täufer – s.u., II.2.1 und 5. 145 Vgl. Staley, Print, 47f. René Kieffer (vgl. Implied, 58f) zeigt die Überlegenheit der LeserInnen gegenüber den Charakteren besonders anschaulich am Beispiel der Missverständnisse. Vgl. auch Frey, Eschatologie II, 264. 146 Staley spricht vom implied author, m.E. könnte aber auch die Erzählstimme gemeint sein.

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und Vertrautheit herstellt, sie aber andererseits auch wieder bricht. Ein Beispiel hierfür ist Joh 13,21–24: Hier sind LeserInnen wie AdressatInnen zunächst den JüngerInnen deutlich überlegen, weil sie anders als jene vom Verrat und der Identität des Verräters schon aus mehreren Erzählkommentaren wissen. Dann aber wird unvermittelt der geliebte Jünger als eine den Charakteren in der Erzählung bekannte Person eingeführt. Nach Staley ist er den LeserInnen unbekannt (und soll ihnen auch unbekannt sein), deren überlegene Position so erschüttert wird.147

5. Das mögliche Vorwissen der LeserInnen – zur Rekonstruktion eines Diskussionskontextes für die Personendarstellungen im JohEv 5.1 Problemstellung Das mögliche Vorwissen der LeserInnen Bei meinem methodischen Ansatz beziehe ich die Mitarbeit der LeserInnen ein, die die Textvorgaben aktualisieren und dabei auch extratextuelles Wissen einbringen. Konkrete Bedeutung bekommt dieses Modell, weil das JohEv bei manchen Personen der Erzählung schon vorhandenes Wissen voraussetzt.148 Dieses Wissen lässt sich ansatzweise rekonstruieren, indem weitere Quellen zu denselben Personen herangezogen werden. Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt des ganzen historischen Kontextes, der aber über die Personen gut erfassbar und eingrenzbar ist. Die Durchführung des Vergleichs wirft jedoch einige Probleme auf. Das Wissen zu einzelnen Personen, auf das das JohEv sich bezieht und das die LeserInnen gehabt haben können, lässt sich kaum im Einzelnen erfassen. Was wir haben, sind verschiedene Schriften, in denen viele Personen des JohEv ebenfalls auftreten: kanonische und nichtkanonische Evangelien, Apostelgeschichten und vergleichbare Literatur sowie einzelne Hinweise bei Kirchenvätern. Auch wenn etwa die synoptischen Evangelien vor dem JohEv verfasst sind, besteht kein Konsens, ob das JohEv sie voraussetzt. Viele andere Schriften sind erst nach dem JohEv entstanden. Auch ist mit regional unterschiedlichen Traditionen zu rechnen, die aber durch die große Unsicherheit bei der Lokalisierung der meisten Schriften – ganz besonders des JohEv! – nicht genauer bestimmt werden können. Und schließlich ist ein wesentlicher Teil des Wissens über bestimmte Personen im Umfeld Jesu zur Zeit der Entstehung des JohEv vermutlich mündlich umgelaufen. Trotzdem ist die Lage nicht hoffnungslos. Bei allen Differenzen zu Fragen literarischer Abhängigkeit, zur Datierung und Lokalisierung von 147 Vgl. Staley, Print, 108–110. Nach Culpepper, Irony, 195, sind LeserInnen und Erzählstimme nie Opfer von Ironie. 148 Vgl. Staley, Print, 45, speziell zu Personen; Bauckham, John, 167f und passim.

Das mögliche Vorwissen der LeserInnen

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Schriften und zur Gewichtung insbesondere von nichtkanonischen Schriften ist zumindest eindeutig, dass das JohEv Traditionen, wie sie in den synoptischen Evangelien vorliegen, kennt und Kenntnis voraussetzt – auch wenn diese synoptische Tradition vielleicht nicht die Form der uns bekannten Evangelien hatte. Bei vielen Schriften, insbesondere dem EvThom, ist zu vermuten, dass sie zumindest stellenweise auf andere (mündliche) Traditionen zurückgreifen. Auf jeden Fall haben wir Zeugnisse über im JohEv vorkommende Personen aus ähnlicher Zeit und ähnlichem Kontext. Die vorhandenen schriftlichen Quellen bieten also einen Zugang zu im Kontext des JohEv vorhandenen Vorstellungen und Traditionen, zum möglichen – nicht sicheren! – Vorwissen von LeserInnen. Dies ist eindeutig bei den Schriften, die vor dem JohEv abgefasst wurden (synoptische Evangelien) oder ungefähr zeitgleich und ohne direkte Kenntnis des JohEv (EvThom). Aber auch Schriften, die deutlich nach dem JohEv entstanden sind und möglicherweise (Dial) oder sogar mit einiger (EvMar) oder großer (EpAp) Wahrscheinlichkeit das JohEv voraussetzen, erlauben Rückschlüsse auf ältere Vorstellungen. Die dort sichtbaren Differenzen gegenüber dem JohEv können durch unabhängig aufgenommene Traditionen entstanden sein, oder sie verweisen zumindest auf die Möglichkeit anderer Meinungen und Sichtweisen. In einzelnen Fällen ist es sinnvoll, aus den erhaltenen Quellen ältere Traditionen zu rekonstruieren. Dies gilt vor allem dann, wenn sie Hinweise auf eine breitere evtl. mündliche Tradition geben, die in den Texten selbst zwar gespiegelt, aber nicht direkt ausgeführt wird.149 In der Regel ist der Versuch einer Rekonstruktion von älteren Gestalten der Tradition aus jüngeren Schriften aber mit zu großen Unsicherheiten belastet. Ein Vergleich der real vorhandenen Texte mit dem Text des JohEv ist deshalb vorzuziehen – immer in dem Bewusstsein, dass damit nicht genau der Wissenshintergrund der konkreten antiken LeserInnen (oder gar der AutorInnen des JohEv) getroffen wird. Aber aus heutiger Perspektive ist es ein Zugang zum damaligen kulturellen Kontext. Sehr viel einfacher ist die Auswahl der zu vergleichenden Textabschnitte. Meine Untersuchung ist an einzelnen Personen orientiert und der Name (oder eine andere Identifizierung wie bei der Mutter Jesu) bietet ein klares Merkmal zur Zuordnung.150 In einigen Fällen gibt es auch deutlich parallele Erzählungen, die in verschiedenen Quellen von verschiedenen Personen handeln; auch dies lässt sich heranziehen und auswerten. Mit dem Namen ist nur eine von vielen möglichen Verbindungen zwischen Texten 149 Solche Überlegungen habe ich für die qualifizierenden Bezeichnungen von Simon als Petrus und Thomas als Didymus / Zwilling sowie zur Sicht der Mutter Jesu angestellt, s.u. IV.3.1; V.3.3; VI.4.1. 150 Unschärfen entstehen nur, wenn z.B. bei Maria Magdalena umstritten ist, ob eine als Maria bezeichnete Frau sie meint oder nicht. Vgl. dazu den Sammelband Jones, Which Mary.

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gewählt – viele weitere können ebenfalls zur Interpretation beitragen.151 Der Name stellt aber eine unbestreitbare und eindeutige Beziehung zwischen Texten her. 5.2 Die wichtigsten Schriften152 Die für den Vergleich wichtigsten Schriften sollen hier kurz vorgestellt werden, da nicht alle gleichermaßen bekannt und vor allem bei Apokryphen viele Fragen umstritten sind. Insbesondere ist es wichtig, vorab meine Sicht der jeweiligen Beziehung zum JohEv zu nennen, da sie für den Vergleich berücksichtigt werden muss. Am bedeutendsten sind die synoptischen Evangelien und das EvThom. Sie bieten insgesamt die meisten und auch die klarsten Parallelen weitgehend zu allen Personen.153 Erstere heranzuziehen braucht keine weitere Begründung, denn sie sind eindeutig älter als das JohEv, so dass sie schon zur Zeit der Abfassung des JohEv ein mögliches Vorwissen der LeserInnen bilden. Bei einer rezeptionsorientierten Perspektive kann die umstrittene Frage offen bleiben, ob das JohEv literarisch von ihnen abhängig ist.154 Die Datierung des EvThom155 und sein Verhältnis einerseits zu den synoptischen Evangelien, andererseits zum JohEv wird intensiv diskutiert. Zwischen den beiden radikalen Positionen einer sehr frühen Datierung und völligen Unabhängigkeit156 und einer späten Datierung bei vorausgesetzter Abhängigkeit von den kanonischen Evangelien157 gehe ich einen Mittelweg. Ich vermute eine Abfassung des EvThom um 100 oder im frühen zweiten Jahrhundert, also zeitgleich mit dem JohEv.158 Es basiert m.E. im Wesentlichen auf eigener Tradition, was aber eine gewisse Beeinflussung durch die 151

Vgl. Kitzberger, Transcending, passim. Erläutert sind diejenigen Schriften, die später in mehreren Kapiteln eine Rolle spielen. 153 Nur zu Thomas beschränkt sich der Befund in den synoptischen Evangelien auf eine einfache Nennung des Namens. Im EvThom kommen zwar alle untersuchten Personen vor, allerdings weniger in direkt parallelen Geschichten. 154 Die Frage der Abhängigkeit lässt sich m.E. nur schwer schlüssig beweisen oder widerlegen. Ein wichtiges Argument in der Debatte ist aber, dass erstens das JohEv Vorwissen bei seinen LeserInnen voraussetzt und zweitens sich die synoptischen Evangelien (oder manche, je nach Sicht) als mögliches Vorwissen eignen – das macht eine Kenntnis plausibel und naheliegend. So die Argumentation von Thyen, Johannes, passim. Richard Bauckham (vgl. John passim) argumentiert überzeugend für eine Annahme der Kenntnis des MkEv bei den meisten LeserInnen des JohEv. Anders aber Dunderberg (vgl. Johannine, 120–125), der zwar einen Einfluss der synoptischen Evangelien bei der Entstehung des JohEv annimmt, aber nicht, dass ihre Kenntnis bei den LeserInnen erwartet wird und nötig ist. 155 Text und Übersetzung im Anhang von Aland, Synopsis. Einführung Schröter/Bethge, 151– 181. 156 So Koester, Introduction II, 157; S. Davies, Gospel, 3. 157 So z.B. Tuckett, Thomasevangelium, 199f und passim; in neuester Zeit Wood, New Testament, 593f und passim. 158 So Uro, Thomas, 134f; Dunderberg, Thomas, 87f; Dunderberg, Beloved 2006, 204. 152

Das mögliche Vorwissen der LeserInnen

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synoptischen Evangelien nicht ausschließt.159 Mit Sicherheit gibt es eine mündliche Vorgeschichte der im EvThom niedergeschrieben Überlieferung, diese Traditionen reichen also in die Zeit vor der Abfassung des JohEv zurück und es sind einige Verbindungen zu johanneischen Traditionen erkennbar.160 Das EvThom bietet somit ebenfalls einen direkten Zugang zu möglichem Vorwissen der LeserInnen. Der Dialog des Erlösers (Dial, NHC III,5)161 besteht aus kurzen Gesprächszenen und stärker mythologischen und visionären Stücken, die – allerdings ohne klar erkennbaren Aufbau und ohne Rahmenerzählung – in einen Dialog zwischen Jesus und seinen JüngerInnen Judas, Matthäus und Maria integriert sind. Es werden dabei bekannte Spruchtraditionen aufgenommen und weiterverarbeitet; insbesondere zum EvThom bestehen enge Beziehungen.162 Dial verarbeitet verschiedene Traditionen, vermutlich sogar in schriftlicher Form.163 Koester/Pagels versuchen eine Abgrenzung möglicher Quellenschriften vor allem nach Kriterien der Form (Dialog, monologische Stücke zum Thema Schöpfung, Visionsschilderung),164 die sicher in Einzelheiten diskutiert werden kann und auch nicht alle Textprobleme erklärt, aber im Ganzen den widersprüchlichen Charakter der Schrift zu verstehen hilft. Schwierig ist zu entscheiden, ob Dial andere bekannte frühchristliche Schriften voraussetzt.165 Insgesamt zeigt Dial eine eigenständige Verarbeitung unterschiedlicher Traditionen, die nicht in allen Punkten in159 Die Bestimmung des Verhältnisses wird noch komplizierter, weil vom EvThom nur eine vollständige Handschrift in koptischer Übersetzung vorliegt – die erhaltenen griechischen Fragmente weichen aber in einigen Punkten von ihr ab, d.h. es muss mit Überarbeitungen im Laufe der textlichen Überlieferung gerechnet werden. Vgl. Lührmann, Evangelien, 175f. 160 Vgl. Attridge, Seeking, 301f; Johnson, Gospel, 321–324. Ich gehe weder davon aus, dass das JohEv das fertige EvThom voraussetzt (so Pagels, Geheimnis, 45; Riley, Resurrection, 178), noch dass das JohEv als Schrift durch das EvThom vorausgesetzt wird (so Brown, Gospel I, LIII; Popkes, Ich, 671f, mit Vorbehalt bzgl. der griechischen Fassung des EvThom). Das EvThom ist aber deutlicher aus mündlicher Tradition geschöpft als das JohEv und insgesamt ist der Bezug des JohEv auf diese Tradition wahrscheinlicher als umgekehrt ein Bezug des EvThom auf eine (schwer zu greifende) johannneische Tradition; vgl. S. Davies, Gospel, 114–116. Trotz ungefähr gleicher Abfassungszeit ist das EvThom also traditionsgeschichtlich älter, vgl. Koester, Ancient, 122f; Johnson, Gospel, 325. 161 Einleitung und Übersetzung: Petersen/Bethge, 381–397; koptischer Text: Emmel, Dialogue, 40–95. 162 Vgl. Koester/Pagels, 2; Koester, Introduction 2, 160; Heldermann, Herrenworte, 69f. Nach de Conick (vgl. Dialogue, 184 u.ö.) setzt Dial das EvThom voraus und sich mit dessen präsentischer Vorstellung von Aufstieg / Gottesschau kritisch auseinander. 163 Vgl. die Auflistung von Spannungen im Text bei Petersen/Bethge, 384. 164 Vgl. Koester/Pagels, 2–15. 165 Koester/Pagels (vgl. 15) verneinen eine literarische Abhängigkeit und kommen zu einer entsprechend frühen Datierung der Schrift Anfang des 2. Jahrhunderts; de Conick (vgl. Dialogue, 178 und passim) sieht Dial als Neuinterpretation von Vorstellungen des EvThom, das als Schrift vorausgesetzt wird. Petersen (vgl. Zitate, 518–521 und passim) findet in einem Abschnitt Zitate aus dem MtEv und sieht Parallelen zum EvÄg und datiert Dial eher später ins 2. Jahrhundert.

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haltlich vereinheitlicht werden. Es ist deshalb möglich, dass Dial einerseits alte Überlieferung bewahrt, andererseits zumindest stellenweise durch andere Schriften beeinflusst ist. Vor allem die vermutlich jüngeren Teile haben ein durchaus johanneisches Gepräge, das auf direkten oder indirekten Einfluss des JohEv zurückgehen könnte.166 Die Schrift in der vorliegenden Fassung ist wahrscheinlich erst in die zweite Hälfte des zweiten Jahrhunderts zu datieren, aber die aufgenommenen Traditionen sind sicher deutlich älter. Auch Dial bietet also evtl. einen Zugang zu möglichem Vorwissen der LeserInnen, aber dies ist mit wesentlich größeren Unsicherheiten belastet als bei EvThom. Die Epistula Apostolorum (EpAp)167 ist gestaltet als ein Brief der Apostel, den diese zur Abwehr der Irrlehren von Simon (Magus) und Kerinth schreiben. Nach einem bekenntnisartigen Abschnitt und einigen knapp berichteten Ereignissen aus dem Leben Jesu werden die Ereignisse des Ostertages mit einer Erscheinung Jesu vor einigen Frauen am Grab und dann vor den Jüngern ausführlicher beschrieben. Den Großteil der Schrift macht ein Gespräch Jesu mit ihnen aus; den Abschluss bildet die Himmelfahrt Jesu. Beim Gespräch ist stets die ganze Gruppe beteiligt bzw. stellt Fragen, zu Anfang werden jedoch einmal die Namen der Jünger aufgelistet (EpAp 2)168 und bei der Erscheinung Jesu sind Petrus, Thomas und Andreas direkt angesprochen, sich von der Realität und Leibhaftigkeit des Auferstandenen zu überzeugen. Die EpAp lehnt sich in Einzelheiten, aber auch im Aufriss insgesamt an das JohEv an.169 Sie gehört also eindeutig in die Wirkungsgeschichte des JohEv und ist um die Mitte oder in die zweite Hälfte des zweiten Jahrhunderts zu datieren. Interessant für den Vergleich mit dem JohEv ist die EpAp weniger als Zugang zu älterer Tradition denn als Beispiel, wie johanneischer Stoff rezipiert werden konnte. Das nur teilweise erhaltene Evangelium nach Maria (EvMar BG,1)170 enthält zunächst ein Gespräch zwischen den JüngerInnen und Jesus, möglicherweise mit einer Erscheinung des Auferstandenen als Rahmenerzählung 166

schaft.

Koester, Introduction II, 159, sieht die Nähe dagegen als traditionsgeschichtliche Verwandt-

167 Einleitung und Übersetzung: Müller, Epistula Apostolorum (NTApo I6), 205–233. Erhalten sind eine unvollständige koptische sowie zahlreiche junge äthiopische Handschriften (und lateinische Fragmente). 168 Die Liste der Apostel führt Johannes an, an zweiter Stelle folgt Thomas noch vor Petrus und Andreas sowie weiteren üblichen Namen. Ungewöhnlich ist aber, dass auch Nathanael vorkommt sowie die Nennung von Kephas am Ende. Wenn die Spitzenstellung des Johannes auf einer Hochschätzung des JohEv beruht, dann ist die EpAp ein früher Beleg für eine Zuschreibung des JohEv an Johannes! Vgl. Culpepper, John, 327. 169 Vgl. Nagel, Rezeption, 156. 170 Übersetzung und Einleitung Hartenstein, Evangelium, 833–844; Text und Übersetzung der griechischen Fragmente bei Lührmann, Fragmente, 62–71; koptischer Text Pasquier, Évangile.

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auf den fehlenden ersten Seiten. Die zweite Hälfte der Schrift besteht nach Jesu Weggang aus ausführlichen Belehrungen durch Maria, die ein Gespräch mit Jesus, das sie im Zusammenhang mit einer Vision geführt hat, wiedergibt. Dies umfasst auch die Schilderung eines Aufstiegs der Seele, die dabei feindliche Mächte überwindet. Das EvMar endet mit einem Streit um Marias Worte und ihre Person, der von Maria und Levi auf der einen und Petrus und Andreas auf der anderen Seite geführt wird. Auch beim EvMar sind Datierung und Beziehung besonders zum JohEv umstritten – ich datiere in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts und vermute eine Kenntnis des JohEv und anderer Evangelien und eine Neuinterpretation aufgenommener Tradition mit gnostischer Tendenz.171 Gerade in der Position von Maria (Magdalena) steht das EvMar m.E. deutlich in der Wirkungsgeschichte des JohEv und zeigt so eine mögliche Position seiner LeserInnen. Das Evangelium nach Philippus (EvPhil NHC II,3)172 ist eine eher unzusammenhängende Sammlung von kurzen Gedanken und theologischen Überlegungen, möglicherweise auch von Exzerpten. Inhaltlich geht es vor allem um Sakramente und Ethik. Die Schrift ist der valentinianischen Gnosis zuzurechnen, Schenke datiert sie in die zweite Hälfte des zweiten Jahrhunderts. Auch in ihr ist johanneischer Einfluss zu erkennen. 5.3 Vom Nutzen und Effekt des Vergleichs Der Vergleich der Darstellung von Personen im JohEv mit der Darstellung in anderen frühchristlichen Texten bietet einen Zugang zum historischen Kontext des JohEv, konkret zu möglichen bei den LeserInnen vorhandenen Vorstellungen und Meinungen zu bestimmten Personen. Trotzdem ist dies keine Rekonstruktion einer antiken Lektüre des JohEv, sondern weiterhin zumindest teilweise meine moderne Lektüre, z.B. mit meinen Fragestellungen und einer Durchführung von schriftlichen Textvergleichen, die auch eher der Moderne als der Antike entspricht. Aber diese modern-kritische Lektüre hat einen wesentlichen historischen Anteil.173 M.E. ist das Bewusstsein für diese doppelte Bezogenheit der Untersuchung angemessen. 171 Vgl. zur Begründung Hartenstein, Lehre, 132–135; auch Lührmann, Evangelien, 122f. Karen L. King (vgl. Gospel, 170f.183f) und Esther de Boer (vgl. Gospel, 58f) rechnen dagegen mit einer Abfassung in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts und mit einem nichtgnostischen Kontext, die Übereinstimmungen werden eher durch Kenntnis johanneischer Traditionen als durch das JohEv selbst erklärt. 172 Übersetzung und Einleitung von Schenke, Evangelium, 183–213. 173 Einen ähnlichen Ansatz entwickelt auch Darr (vgl. Character, 26), der von einem hybridreader spricht, der Anteile des wissenschaftlich-kritischen Lesers (Darr selbst), aber auch historische Elemente enthält. Darr sucht dann für die Charakterisierung des Herodes Antipas in Lk/Apg ebenfalls nach antiken Vergleichstexten, um so die Darstellung zu verstehen (vgl. Darr, Herod, 92–136). Weniger historisch orientiert ist Kitzberger, vgl. Transcending, 179f.

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Ich vergleiche also Texte über bestimmte Personen miteinander, lese sie zusammen. Durch ein solches dialogisches Lesen ergeben sich neue Perspektiven für die Interpretation des JohEv. Zum einen wird das Profil der johanneischen Darstellung klarer erkennbar, wenn Texte verglichen werden, die zeigen, wie sonst noch von denselben Personen gesprochen werden konnte. Der Vergleich schärft zunächst den Blick der LeserInnen. Er ermöglicht aber auch, offene und unklare Punkte im Text durch das Wissen um sonst übliche Darstellungsweisen zu füllen. Solche Leerstellen sind auf jeden Fall ein Ansatzpunkt für die Mitarbeit der LeserInnen z.B. durch den Rückgriff auf eigenes Wissen. Das Fehlen von bekannten Elementen in der Erzählung kann aber auch als ein eigener Akzent der Darstellung wahrgenommen werden. Die vergleichende Lektüre führt so zur Profilierung und Ergänzung der johanneischen Darstellung. Zum anderen entstehen durch ein dialogisches Lesen aber auch zusätzliche Bedeutungen, wenn nicht nur der eine Text etwas aussagt, sondern eine Aussage gerade im Miteinander und aus der Spannung zwischen verschiedenen Texten entsteht.174 Im JohEv lässt sich m.E. die grundsätzliche Absicht erkennen, das eigene Profil gerade im Dialog mit anderen Darstellungen zur Geltung zu bringen, also nicht die eigene Sicht allein durchzusetzen, sondern sie dauerhaft auf andere zu beziehen. Auch hier geht es um einen Beitrag der LeserInnen zur Sinnfindung durch deren eigenständige Aktualisierung von Möglichkeiten im Text. Dies ist besonders überzeugend, wenn konkrete Textstrukturen zu solchem Weiterdenken anregen. Ich denke aber – und gehe hier über Iser hinaus –, dass die Rolle der LeserInnen im Leseprozess stark genug ist, um auch ohne direkte Veranlassung durch den Text eigenes Wissen auf ihn zu beziehen.175 Der Vergleich erfasst also auch den Bezug der johanneischen Darstellung auf andere Positionen. Dadurch erschließt sich eine andere Ebene der Bedeutung des JohEv – nicht als Einzeltext, sondern in der Kommunikation. 174

Mein Lieblingsbeispiel hierzu ist die Fußwaschung in Joh 13. Diese Geschichte lässt sich in ihrem Zusammenhang und im Kontext des JohEv interpretieren. Durch die Stellung der Geschichte im Ablauf der Ereignisse gibt es aber auch eine Verbindung zur Abendmahlseinsetzung in den synoptischen Evangelien. Die Fußwaschung kann so als eine Interpretation des Abendmahls gelesen werden, als eine inhaltliche Akzentsetzung zum Verständnis der Abendmahlsfeier. Dieses Beispiel zeigt auch wichtige Grundentscheidungen dieser Lesart: Die aufeinander bezogenen Texte bleiben beide in einer produktiven Spannung zueinander erhalten, das Miteinander wird nicht etwa als ein Versuch, das Abendmahl durch die Fußwaschung zu ersetzen, interpretiert. Und es zeigt sich auch, dass der Ablauf der Traditionsentwicklung nicht völlig beliebig ist, die Fußwaschung interpretiert das Abendmahl, nicht umgekehrt. 175 In der praktischen Durchführung heißt dies vor allen, dass nicht immer ein zweifelsfreier Nachweis einer Textstruktur, die die Mitarbeit der LeserInnen einfordert, nötig ist. Die Möglichkeit dazu reicht aus – und die ergibt sich nicht nur aus dem Text allein, sondern auch aus dem vorhandenen Extratext.

Zum weiteren Vorgehen

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6. Zum weiteren Vorgehen Die Ergebnisse des Forschungsüberblicks und die methodischen Überlegungen sprechen für einen zweistufigen Aufbau der weiteren Untersuchung: Zunächst soll ein allgemeiner Überblick über Charakterisierung im JohEv geboten werden, der sich an den von der Narratologie erfassten Techniken der Charakterisierung orientiert. Danach erfolgt eine Vertiefung und weitergehende Analyse anhand von insgesamt vier Einzelpersonen, bei der Vergleichstexte als mögliches extratextuelles Wissen der LeserInnen einbezogen werden. Zum weiteren Vorgehen 6.1 Das Überblickskapitel (Kap. II) Ziel dieses Kapitels ist es, durch einen Überblick über die Charakterisierung die Personenstruktur im JohEv, also die Konstellation der vorkommenden Personen, zu erheben. Angesichts der Forschung, in der fast alle Personen (wenn auch nicht immer von allen ForscherInnen) als JüngerInnen bestimmt werden können, ist dies vor allem eine Frage nach der Bestimmung und Abgrenzung von JüngerInnen im JohEv. Die unterschiedliche Einschätzung und Einordnung von einzelnen Personen zeigt die Notwendigkeit dieser Fragestellung, aber auch die Schwierigkeiten beim Erfassen dieser Gruppe. Ich setze deshalb anders als bisherige Untersuchungen nicht bei einzelnen Personen oder einer Gruppe an, sondern bei der Technik der Charakterisierung: D.h. ich suche nach direkten Beschreibungen, nach Handlungen und Reden und analysiere dann, wie sie sich auf Charaktere verteilen. Allerdings können weder Handlungen noch Reden erschöpfend erfasst werden, hier ist eine Auswahl nötig. Ich konzentriere mich auf Elemente, die „jüngertypisch“ sein könnten, sich also zur Bestimmung dieser Gruppe anbieten. Dabei werden sowohl zentrale Begriffe des JohEv erfasst als auch allgemein mit JüngerInnen verbundene Verhaltensweisen auf ihre johanneische Verwendung geprüft. Wenn ich das Konzept von Rimmon-Kenan mit leichten Modifikationen auf das JohEv anwende,176 ergeben sich folgende Schritte: – Als erstes ist nach den direkten Beschreibungen zu suchen, wozu ich Namen177 und andere Bezeichnungen, Bemerkungen über Herkunft und Verwandtschaft sowie ausdrückliche Charakterisierungen rechne. Hierbei können sowohl die Erzählkommentare als auch direkte Reden Jesu 176 Eine antike religiöse Schrift wie ein Evangelium unterscheidet sich natürlich von moderner Literatur, so dass nicht alle Punkte der Analyse einfach übernommen werden können. (Auffallend ist z.B., dass das Aussehen von Personen nie beschrieben wird, das in moderner Literatur eine große Rolle spielt und wichtig für die Charakterisierung ist.) Aber trotz dieser Einschränkung ist m.E. das moderne Analyseinstrumentarium sinnvoll anzuwenden. 177 Bei Rimmon-Kenan gehören Namen zur indirekten Beschreibung.

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als verlässlich angesehen werden. Dagegen sind die Aussagen anderer Personen mit Vorsicht zu behandeln! Als nächstes sollen Handlungen analysiert werden, und zwar zunächst auf der Einzelwortebene. Welche Verben sind mit welchen Personen verbunden? Welches Bild von Personen und Gruppe ergibt sich so? Zur indirekten Präsentation durch Handlungen gehören auch weitere Interaktionen, insbesondere Reaktionen auf Jesus und andere auf ihn bezogene Handlungen. Ein weiterer Schritt beschäftigt sich mit dem Reden von Personen. Die Aussagen von Charakteren sowie ihre Einbindung in Gesprächsstrukturen sollen für die Charakterisierung ausgewertet werden. Dabei scheinen mir die Kommunikation mit Jesus (z.B. Fragen, Aufforderungen) und ganz besonders bekenntnisartige Aussagen über ihn relevant zu sein. Schließlich sollen noch Beziehungen und Vergleiche zwischen Charakteren erhoben werden. Zur Auswertung des Befundes lassen sich die vorkommenden Personen und ihre Rolle in der Erzählung mit Hilfe der Aktantenanalyse beschreiben.

6.2 Analysen zu Einzelpersonen (Kap. III–VI) Das Überblickskapitel bietet einige grundsätzliche Ergebnisse zur Frage der Charakterisierung im JohEv. Es stellt aber auch die Grundlage für vertiefende Analysen dar, indem es die Rückbindung an den Gesamtkontext bei der Interpretation von Einzelheiten ermöglicht. Im Überblick zeigen bzw. bestätigen sich schließlich die Grenzen einer Analyse rein auf der johanneischen Textebene. In den dann folgenden Kapiteln steht deshalb jeweils eine Person im Zentrum, zu deren Analyse in der johanneischen Darstellung ein Vergleich mit anderen Texten zur selben Person als mögliches Vorwissen der LeserInnen tritt. Für diese exemplarische Durchführung des Vergleichs der johanneischen Darstellung mit anderer Tradition habe ich vier Personen ausgewählt: Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu. Maßgeblich für diese Auswahl war zunächst, dass alle im JohEv als schon bekannte Personen eingeführt werden. Das zweite wichtige Kriterium ist, dass zu allen ausreichend Vergleichsmaterial erhalten ist. Und schließlich decken sie ein relativ breites Spektrum von johanneischen JüngerInnen ab, es sind z.B. gleichermaßen Frauen wie Männer. Am Anfang der Kapitel zu den Einzelpersonen steht jeweils eine Analyse der Darstellung der Person im JohEv, in der meine Sicht des Textes deutlich wird, aber auch offene Fragen und strittige Punkte festgehalten werden. Ein zweiter Abschnitt gibt einen Überblick über die frühchristlichen Traditionen zur Person mit ihren Schwerpunkten und Tendenzen, der

Zum weiteren Vorgehen

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zur Auswahl konkreter Vergleichstexte führt und die inhaltlichen Schwerpunkte dafür festlegt. Der eigentliche Vergleich ist dann entsprechend thematisch in zwei oder drei Abschnitten durchgeführt und erlaubt am Ende ein Profil der Person zusammenzufassen, wie es jetzt im Dialog zwischen JohEv und anderen Texten sichtbar wird. Schließlich ergibt sich durch diesen Vergleich auch noch ein historischer Nebeneffekt neben der literarischen Interpretation des Joh-Textes: Durch ihn lässt sich eine Entwicklung von Vorstellungen zu bestimmten Personen nachzeichnen, in die das JohEv eingeordnet werden kann. Das JohEv bekommt so einen Ort im Kontext frühchristlicher Literatur.

II. Charakterisierung im JohEv: allgemeine Analyse

1. Vorkommende Personen und Gruppen Zunächst soll ein Überblick über die im JohEv vorkommenden Charaktere geboten werden. Genannt werden in einer ersten Liste die Personen, die auf der Erzählebene in mindestens einer Szene eine Rolle spielen, also z.B. sprechen oder etwas tun. Die mit Abstand wichtigste Figur ist dabei Jesus, der in der großen Mehrheit aller Szenen beteiligt ist, so dass eine Auflistung nicht sinnvoll ist. Nicht einbezogen sind diejenigen, die nicht persönlich auftreten, sondern nur als Bild, Beispiel, in Erinnerung oder als Verweis vorkommen, z.B. atl. Personen bzw. Autoren. Ein Grenzfall sind himmlische Gestalten wie Gott oder der Teufel, die vereinzelt handelnd oder redend an Szenen beteiligt sind.1 Sie lassen sich zwar narratologisch wie andere Charaktere auch analysieren,2 sind aber deutlich nichtmenschliche Größen, so dass sie hier nicht aufgeführt werden. Eine zweite Liste bietet Personengruppen, denn sie können mitunter wie Einzelpersonen in einer Szene fungieren. Schwierig ist jedoch oft der Wechsel der Benennung in einer Szene, bei dem unklar ist, ob dadurch auch ein Wechsel der Personen angezeigt wird (dazu s.u.). 1.1 Wichtige Einzelpersonen3 Johannes der Täufer 1,6–8.15; 1,19–28; 1,29–34; 1,35; 3,23–30; (4,1); 5,33–36; (10,40f) Andreas 1,35–42; (1,44); 6,1–15; 12,22–26 Petrus 1,40–42; (1,44); (6,8); 6,60–71; 13,1–30.36–38; 18,10f.15–18.25–27; 20,2–10; 21,1–25 Philippus 1,43–51; 6,1–15; 12,21–26; 14,8–10 Nathanael 1,43–51; 21,2 Jesu Mutter 2,1–12; (6,42); 19,25–27 Speisemeister 2,8–10 1

Gott bzw. eine „Stimme vom Himmel“ spricht in 12,28; der Teufel fährt in Judas ein (13,27). Vgl. Thompson, God’s Voice. 3 Ohne Jesus, in der Reihenfolge ihres Auftretens. Durch Kursivdruck sind die wichtigeren Personen hervorgehoben, d.h. diejenigen, die ausführlich und aktiv handelnd oder redend vorkommen; eingeklammerte Stellenangaben sind Erwähnungen ohne Auftritt. Eine ganz ähnliche Einschätzung hat auch Dschulnigg, dessen Personenauswahl bis auf Hannas den hier kursiv gesetzten entspricht. 2

Vorkommende Personen und Gruppen

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Bräutigam 2,9f Nikodemus 3,1–12; 7,45–52; 19,38–42 Samaritanerin 4,4–42 Basilikos4 4,46–53 Kranker 5,5–16 Judas Iskariot (6,71); 12,1–11; (13,2); 13,26–31; (17,12); 18,1–11 Blindgeborener 9,1–38; (10,21); (11,37) Eltern 9,(2f).18–23 Maria 11,1–46; 12,1–8 Martha 11,1–46; 12,1–8 Lazarus5 11,1–46; 12,1f.9f.17 Thomas 11,16; 14,5f; 20,24–31; 21,2 Kaiphas 11,47–53; (18,13f.)24.28 der geliebte Jünger 13,23–25; 19,26f; 19,35;6 20,2–10; 21,1–14.15–25 Judas (nicht Iskariot) 14,22–24 Malchus 18,10f; (18,26) Hannas 18,13.19–24 anderer Jünger 18,15f Türhüterin 18,16f Sklave des Hohepriesters (Verwandter des Malchus) 18,26 Pilatus 18,28–19,37; 19,38 Maria Magdalena 19,25; 20,1–18 Josef von Arimathäa 19,38–42 Charakterisierung im JohEv Eine erste Auffälligkeit bei der Betrachtung der Einzelpersonen ist der hohe Anteil an Personen, die mehrfach vorkommen. Dies gilt nicht nur für diejenigen, von denen z.B. eine Berufung erzählt wird und die später dann mit einzelnen Fragen in Erscheinung treten (z.B. Andreas, Philippus, Petrus). Auch Personen, die zunächst an eine eigene, spezifische Szene gebunden sind, begegnen später in anderem Zusammenhang wieder – z.B. Nikodemus oder Martha, Maria und Lazarus oder Kaiphas. Wichtige Personen, die wirklich nur in einer (meist dann eher längeren und mehrteiligen) Geschichte vorkommen, sind die Samaritanerin, der Basilikos, der Kranke, der Blindgeborene (auf ihn wird aber später zumindest verwiesen). 4 Dies ist einfach die Transkribierung der johanneischen Bezeichnung der Person; basiliko/j bezeichnet den „zum König Gehörenden“. Dies kann ein Verwandtschafts- oder Dienstverhältnis bedeuten (vgl. Wengst, Johannesevangelium I, 176f), ich will eine Festlegung durch einen deutschen Ausdruck vermeiden. 5 Lazarus wird relativ häufig und in verschiedenen Zusammenhängen erwähnt. Deshalb rechne ich ihn zu den wichtigen Personen, obwohl er nicht selber aktiv handelt oder redet. 6 Ich halte auch diese Stelle für eine Beschreibung des geliebten Jüngers; nicht aber den „anderen Jünger“ in 18,15f. Vgl. Kügler, Jünger, 426f.

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Charakterisierung im JohEv

Das erneute Vorkommen ist mitunter überraschend oder steht zumindest nicht eindeutig in Kontinuität mit der früheren Szene. Dass Jesu Mutter nach ihrer Funktion beim Weinwunder schließlich unter dem Kreuz Jesu steht, ist ebenso wenig zu erwarten gewesen wie die Beteiligung von Nikodemus am Begräbnis Jesu oder Lazarus’ Anwesenheit beim Mahl nach seiner Auferweckung. Hier zeigt sich möglicherweise eine Entwicklung bzw. wird die Vielschichtigkeit der Charaktere deutlich. Es scheint möglich, dass sie verschiedene, auch gegensätzliche Aspekte vereinen. Die mehrfachen Auftritte verschiedener Personen zeigen aber auch, dass nicht nur die Jünger im engeren Sinne Jesus begleiten, also mehr oder weniger kontinuierlich in der Erzählung anwesend sind. 1.2 Gruppen als Handlungs- und Gesprächsträger7 Die Seinen (i]dioi) 1,11; 13,1 Priester und Leviten 1,19–28 Vorkommende Personen und Gruppen Geschwister (a>delfoi/) 2,12; 7,3–10, auch 20,17; 21,24?8 Jüdinnen und Juden (I>oudai~oi)9 2,18–20; 5,10–47; 6,41–58; 7,15–19; 8,22–59; 9,18–34; 10,19–39; 18,31–40; 19,7–14 PharisäerInnen 4,1; 7,32.45–52; 8,13–19; 9,13–17; 9,40–10,18; 11,46– 53.57; 12,19.(42) JüngerInnen (Jesu) (machtai/´) 4,27.31–38; 6,3–12; 6,16–21; 6,60–71; 9,2– 5; 11,7–16; 13–16; 20,19–26; 21,1–14 SamaritanerInnen 4,39–42 Volksmenge 6,22–40; 7,20–24.31f.40–44; 12,12–18; 12,29–40 Zwölf 6,67–71; (20,24) einige aus Jerusalem 7,25–30 Hohepriester 7,32.45–52; 11,47–53.57; 12,10; 18,35; 19,6.15–22 Knechte (uoudai~oi 18,12; der Hohepriester 18,18.22; evtl. 19,6 SklavInnen (dou~loi) des Basilikos 4,51f 7

Ohne die Stellen, wo eine Gruppe nur erwähnt oder nur als Nebenfigur präsent ist, und auch ohne die Erwähnungen, die eine spätere Reflexion bedeuten und so aus der eigentlichen Erzählung herausfallen (z.B. von den JüngerInnen 2,17.22; 12,16). 8 An den beiden letzten Stellen ist wahrscheinlich, dass es sich um andere Gruppen als die zuerst genannten handelt – auch wenn sie gleich bezeichnet werden. 9 Zur Bezeichnung dieser Gruppe verwende ich das griechische Wort auch im deutschen Text. Dadurch soll schon äußerlich der historische Abstand zum JohEv deutlich werden – die I>oudai~oi in der Welt des JohEv entsprechen nicht ohne weiteres Jüdinnen und Juden in unserer Welt, vgl. Petersen, Brot, 45. Dieser Sprachgebrauch ist ein Hinweis auf die Problematik, noch nicht ihre Lösung!

Vorkommende Personen und Gruppen

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der Hohepriester 18,18.26 Obere (7,26.48); 12,42f Soldaten 19,23f; 19,32–34 Während die Einzelpersonen klare Identifizierungen ermöglichen,10 wechseln bei den Gruppen die Bezeichnungen auch innerhalb einer Szene. Es wird nicht immer deutlich, ob damit verschiedene, Unter- oder konkurrierende, Gruppen gemeint sind, also ein Wechsel der GesprächspartnerInnen vorliegt, oder ob die gleiche Gruppe nur verschieden benannt wird. Ein Wechsel in den am Gespräch beteiligten Personen liegt wohl in 6,22–71 vor, wo zunächst die Menge (6,24f), dann die I>oudai~oi (6,41f.52), dann die JüngerInnen (6,60) und schließlich die Zwölf (6,67) mit Jesus diskutieren. Hier liegen auch in 6,59 (Nennung des Ortes) und in 6,66 (Weggehen vieler JüngerInnen) Signale für eine Unterbrechung vor, die für die letzten beiden Fälle eine Unterschiedlichkeit der Gruppe unterstützen. Für einen Wechsel der Personen, die als die Menge bzw. die I>oudai~oi bezeichnet werden, gibt es jedoch kein solches Indiz, hier liegt eher eine Identität nahe.11 Andererseits gibt es auch einige Stellen, an denen einigermaßen eindeutig zwischen den I>oudai~oi und bestimmten jüdischen Gruppen die Bezeichnung wechselt, z.B. in 1,19.24.12 Dies hängt vermutlich mit der Vieldeutigkeit des Begriffes I>oudai~oi zusammen, der ebenso die gesamte Volksmenge wie eine führende Schicht bezeichnen kann (direkt hintereinander: 7,11–13). Eine gewisse Offenheit und Unschärfe ist festzuhalten, vermutlich ist eine klare Abgrenzung nicht immer möglich.13 D.h. die jeweils gewählten Begriffe sollten nicht überinterpretiert werden, tendenziell gehe ich eher von einer Fortsetzung der Gespräche als von wechselnden PartnerInnen aus.14 Etwas leichter ist die präzise Bestimmung der Gruppenbezeichnungen für die AnhängerInnen Jesu. Häufig begegnet die Gruppe der machtai/, 10 Abgesehen von einer Unklarheit, dass sowohl Kaiphas als auch Hannas als Hohepriester bezeichnet werden (18,13.19–24). Nach Wengst (vgl. Johannesevangelium II, 205) ist es jedoch plausibel, dass auch der ehemalige Hohepriester Hannas noch mit diesem Titel bezeichnet wird. Trotzdem bleibt auffällig, dass die Szene eines Verhörs vor Kaiphas fehlt – Hannas sendet Jesus zwar zu ihm (18,24), aber direkt danach (nach dem letzten Teil der Verleugnung) wird Jesus von Kaiphas zu Pilatus (ins Prätorium) gebracht (18,28). 11 So auch beim Bezeichnungswechsel 7,15.20. 12 Auch 8,13.22; 9,13.18; 10,18; 18,3.12. 13 Vgl. auch die Stelle 19,15–18, in der streng genommen die Hohepriester die Kreuzigung vornehmen – in 19,23 sind es allerdings die Soldaten. 14 Inhaltlich spannend ist die Unterscheidung der Gruppen in Joh 8, wo die I>oudai~oi mit Jesus diskutieren, er aber in 8,31 „die an ihn glaubenden I>oudai~oi“ anspricht – ohne dass dadurch die Auseinandersetzung weniger scharf würde. Hunn (vgl. Who, 397f) sieht in 8,33 eine andere Gruppe antworten, das Personalpronomen wird i.E. erst später gefüllt. Aber die inhaltliche Verbindung von 8,31f und 8,33 spricht gegen diesen Versuch, die Problematik zu lösen.

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Charakterisierung im JohEv

zumindest in 13,1 könnte dieselbe Gruppe als „die Seinen“ (i]dioi) bezeichnet sein.15 Die Zwölf scheinen dagegen eine Unter- oder Kerngruppe zu sein, die nicht mit den machtai/ identisch ist, aber sie werden nur erwähnt und einmal angesprochen, sind nie selber Handlungsträger.16 Die JüngerInnen treten innerhalb der Erzählung ohne größere Unschärfen als eine einheitliche Figur auf, auch wenn ihre genaue Zusammensetzung nicht festgelegt ist.17 Das Problem der Behandlung von Gruppen wird noch dadurch verschärft, dass häufig Meinungsverschiedenheiten innerhalb von Gruppen ausgetragen werden. D.h. auch wenn eine Gruppe als eine Gesprächspartnerin Jesu auftritt, ist damit noch keine interne Einheitlichkeit gegeben. Diese Spannung zwischen Einheitlichkeit der Position und internen Widersprüchen besteht nicht nur im Handeln von, sondern auch in pauschalen Aussagen über Gruppen: Häufig begegnen im Erzählkommentar oder im Mund Jesu allgemeine Aussagen über eine Gruppe (häufig negative), die allerdings mitunter schon im unmittelbaren Kontext widerlegt werden.18 Obwohl ich Erzählkommentare und Jesu Worte als zuverlässig ansehe, treffen sie also nicht immer wörtlich zu.19 Ich vermute deshalb, dass diese Pauschalaussagen immer als Mehrheitsaussagen zu verstehen sind, also Ausnahmen zulassen. Und dies gilt auch in den Fällen, wo sich diese Deutung nicht direkt nachweisen lässt.20 Direkte Beschreibung

2. Direkte Beschreibung Eine direkte Beschreibung liegt vor, wenn einer Figur in der Erzählung unmittelbar Charakterzüge oder Eigenschaften zugeschrieben werden. Dies erfolgt z.B. durch Beilegung von Adjektiven oder substantivischen Ausdrücken und kann sowohl von der Erzählstimme als auch von anderen Charakteren vorgenommen werden.21 Solche direkte Charakterisierung gibt es im JohEv – wie auch in anderen biblischen oder überhaupt antiken Texten – nur relativ selten, die Personen werden vor allem indirekt durch ihr Handeln 15

So Scholtissek, Kinder, 196. In 6,66 verlassen viele JüngerInnen Jesus, während die Zwölf noch da sind (6,67). Daraus lässt sich aber nicht folgern, dass die Gruppe auf die Zwölf zusammengeschmolzen sei, vielmehr zeigt die ausdrückliche Erwähnung der Zugehörigkeit zu den Zwölf bei Judas (6,71) und Thomas (20,24), dass auch später noch andere JüngerInnen nicht zu den Zwölf gehören. 17 Zur Offenheit der JüngerInnen s.u., II.2.2; 3.3; 6.1. 18 Z.B. in Joh 1,11f: die Seinen nahmen ihn nicht auf – die ihn aufnahmen ... 19 Auf Variationen und Widersprüche in Aussagen des JohEv macht Freed, Variations, 189 und passim aufmerksam. 20 Vgl. Petersen, Brot, 40–42. 21 Vgl. Rimmon-Kenan, Narrative, 60. 16

Direkte Beschreibung

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und Reden dargestellt.22 Insbesondere personenbeschreibende Adjektive fehlen weitgehend, Charakterisierungen durch Substantive und verbale Umschreibungen (z.B. in Nebensätzen) sind häufiger. Hier ist die Abgrenzung zwischen direkter Beschreibung und indirekter Präsentation durch Handlungen nicht immer klar zu ziehen. Ich beziehe knappe, an die Person gebundene Informationen hier ein. Sie entsprechen Merkmalen oder Charakterzügen, die die Person beschreiben, und sind oft nicht in der Erzählung selbst ausgeführt, sondern ihr vorausgestellt. 2.1 Ausdrückliche Charakterisierung (ohne Jesus)23 Es gibt einige direkte Aussagen über Personen von der Erzählstimme bzw. von Jesus. Die meisten von ihnen beziehen sich auf Johannes den Täufer und Judas: Johannes der Täufer wird schon zu Anfang als von Gott gesandt und mit seiner Aufgabe, das Licht zu bezeugen, eingeführt (1,6–8). Zugleich wird festgehalten, dass er nicht das Licht ist (1,8). Als Aussage über sich selbst lehnt er ab, Christus, Elia oder der Prophet zu sein, und bezeichnet sich als Stimme (1,20–23; 3,28). Später sagt Jesus über ihn, dass sein Zeugnis wahr ist (5,33), was auch den Selbstaussagen Verlässlichkeit verleiht. Sowohl diese Bestätigung durch Jesus als auch die grundlegende Sendung durch Gott positionieren Johannes klar auf der Seite Jesu und Gottes. Ganz anders dagegen Judas: Er wird eingeführt als ein Teufel im Zwölferkreis (6,70f). Auch später steht er in Beziehung zum Teufel (13,2.27). Außerdem wird schon bei der ersten Erwähnung und später bei jedem Auftreten festgehalten, dass er Jesus ausliefert (6,71; 12,4; 13,2; 13,26–31; 18,2.5). Schließlich wird er noch als Dieb beschrieben (12,6). Sowohl die Zuordnung zum Teufel als auch der im Ausliefern implizierte Gegensatz zu Jesus stellt ihn auf die Gegenseite. Allerdings wird er trotzdem als einer der Zwölf (6,71) und als Jünger (12,4) bezeichnet. Explizite Charakterisierungen von anderen Personen sind nicht nur weniger ausführlich, sondern auch unklarer in ihrer Bedeutung. Dass Nathanael von Jesus als wahrer Israelit (a>lhcw~j I>srahli/thj) ohne Falschheit bezeichnet wird (1,47), drückt zumindest eine positive Wertung aus. Aber was damit genau ausgesagt ist, ist sehr viel schwerer zu bestimmen, zumal hier auch die Einbettung dieser Aussage in eine Interaktion eine Rolle spielen könnte. Ähnliches gilt für Nikodemus, der als Pharisäer und jüdischer Oberer (a]rxwn tw~n I>oudai/wn) eingeführt und von Jesus als Lehrer Israels angesprochen wird (3,1.10). Hier fehlen zudem wertende Adjektive. Positiv ist die Benennung von Lazarus als Freund (fi/loj) durch Jesus (11,11).24 22

Vgl. Burnett, Characterization, 13f. Zur Darstellung Jesu vgl. Culpepper, Anatomy, 106–112; Du Rand, Characterization, 28. 24 Vgl. außerdem die Liebe Jesu zu Martha, Maria und ihm (11,5). 23

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Charakterisierung im JohEv

In eine ähnliche Richtung scheint auch die Beschreibung des „Jüngers, den Jesus liebte“, zu gehen (13,23; 19,26; 20,2; 21,7.20), für den diese Beziehung zu Jesus das identifizierende Merkmal ist. Weitere Aussagen sind noch offener: Simon (Petrus) bekommt als Erstes von Jesus den Beinamen Kephas / Petrus (1,42) – die Namengebung wird nicht erklärt, so dass nicht sicher ist, ob hier die in der synoptischen Tradition begegnende Deutung aufgenommen wird. Ähnlich unklar ist auch die Funktion des Beinamens Didymos / Zwilling bei Thomas (11,16; 20,24; 21,2). Möglicherweise können auch die Männer der Samaritanerin (4,17f) als eine Charakterisierung angesehen werden, aber auch hier ist die Bedeutung nicht unmittelbar einsichtig.25 Über die ganze Gruppe der JüngerInnen macht Jesus einige Aussagen: Sie sind rein (13,10 – allerdings mit Ausnahme zumindest von Judas), sie sind FreundInnen (15,14f) und Geschwister Jesu (20,17). Dagegen sagt er von der Welt, dass ihre Werke böse sind (7,7) und sie den Geist nicht empfangen kann (14,17). Die (glaubenden) I>oudai~oi bezeichnet Jesus als „von unten“, als Kinder des Teufels und nicht von Gott (8,23.44.47), aber auch als JüngerInnen (8,31 – unter der Bedingung des Bleibens an seinem Wort). Die Charakterisierungen (jedenfalls die verständlichen) drücken oft eine Position im Spektrum Gott – Jesus – Teufel (oder Himmel – Erde) aus, bedeuten also vor allem eine Verortung im Raum und in Beziehung zu anderen Personen, nicht eine moralische Wertung. Begriffe wie gut / gerecht oder schlecht / böse sind sehr selten. Nur bei Judas entsteht durch die Beschreibungen eine klar negative moralische Bewertung.26 2.2 Gruppenzugehörigkeiten Neben der direkten Zuschreibung von Charakterzügen ist auch die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen wesentlich. Die Übergänge sind hier fließend – die Bezeichnung Nathanaels als wahrer Israelit ist formal eine direkte Charakterisierung, während die Einführung von Nikodemus als Pharisäer ihn mehr indirekt durch den Bezug zu dieser Gruppe darstellt, aber der Unterschied ist graduell. Jedenfalls haben die Gruppen eine Auswirkung auf das Bild der Personen, die ihnen angehören, die Zugehörigkeit ist nicht einfach eine neutrale Information. Schwierig ist jedoch, dass auch die Bedeutung der Gruppe im JohEv erst erhoben werden muss und dann auch unklar ist, ob eher die Gruppe das Bild der Einzelperson oder die Darstellung der Einzelperson die Sicht der Gruppe bestimmt oder ob beide Darstellungen womöglich gegenläufig zueinander sind. 25 26

Vgl. Haacker, Art. Mensch, 1348 (Deutung als tragisches Schicksal). Vgl. Thatcher, Jesus, 448.

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Etliche Personen haben eine je eigene Zugehörigkeit: Gerade schon genannt wurden Nathanael und Nikodemus als Israelit bzw. Pharisäer und jüdischer Oberer. Kaiphas gehört zum Synhedrion und ist Hohepriester (11,49; 18,13.24). Die Samaritanerin ist eine Frau aus Samarien (gunh\ e>k th~j Samarei/aj bzw. h< gunh\ h< Samari~tij, 4,7.9). In der weiteren Erzählung wird sie dann einfach als Frau bezeichnet (4,11.15.17.19.21.25.27f. 39.42) – auch dies könnte eine Gruppenzugehörigkeit bedeuten, da auch Jesu Mutter (2,4; 19,26) und Maria Magdalena (20,13.15) so angesprochen werden. Dagegen spricht allerdings, dass keine auftretende Gruppe als „Frauen“ bezeichnet wird. Schließlich wird auch der Basilikos durch seine Benennung (4,46.49) als irgendwie dem König zugehörig identifiziert – auch dies ist ein Merkmal der Person, aber auch hier steht keine im JohEv selbst aktive Gruppe dahinter. Die mit Abstand wichtigste Gruppe mit den meisten ausdrücklich zugeordneten Personen ist die der JüngerInnen (machtai/).27 Im JohEv gibt es aber keine Auflistung von Jüngern / der Zwölf wie in den synoptischen Evangelien. Ausdrücklich als Jünger bezeichnet bzw. durch den Kontext Jüngergruppe klar als solche bestimmt werden Philippus (6,3 und 5), Andreas (6,8), Petrus (6,67–70),28 Thomas (11,16), Judas Iskariot (12,4), der geliebte Jünger (13,23 u.ö.), Judas (nicht der Iskariot) (14,22), ein anderer Jünger (18,15), Nathanael (21,2), die Zebedaiden (21,2). Unter diesen befinden sich alle benannten Personen, die in Joh 1 berufen bzw. deren Kontaktaufnahme mit Jesus dort berichtet wird. Die Namen decken sich weitgehend – bis auf Nathanael und natürlich die anonymen Jünger – mit den aus der synoptischen Überlieferung bekannten Jüngerlisten. Von Judas (6,71) und Thomas (20,24) wird zusätzlich noch die Zugehörigkeit zu den Zwölf erwähnt, bei Petrus kann sie erschlossen werden, weil er für den Kreis antwortet (6,67f). Ausdrücklich und namentlich werden nur Männer als Jünger bezeichnet. Neben dieser klaren Erfassung bestimmter Jünger gibt es aber auch etliche Zuschreibungen, die sich nicht so ohne weiteres einfügen. So wird Josef von Arimathäa als ein „heimlicher Jünger“ (19,38) bezeichnet. Er gehört offensichtlich nicht zum Gefolge Jesu wie die zuvor Genannten, sondern scheint eine Sonderrolle zu haben, heißt aber trotzdem Jünger.29 Viele JüngerInnen wenden sich in 6,66 von Jesus ab. In 8,31 spricht Jesu die I>oudai~oi, die an ihn glauben, in einem Bedingungssatz als JüngerInnen an – 27 In der Regel handelt es sich um JüngerInnen Jesu. Die ersten beiden treten jedoch zunächst als machtai/ von Johannes dem Täufer auf (1,35.37), der auch später noch JüngerInnen hat (3,25). Von machtai/ des Mose ist in 9,28 die Rede. 28 In 18,17.25 bestreitet er allerdings als Selbstaussage das Jüngersein. 29 Josef wird auch in Mt 27,57 (gegen Mk 15,43) als Jünger bezeichnet, wenn auch nicht als machth/j sondern verbal umschrieben mit machteu/omai.

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das ist keine ganz klare Zuschreibung dieser Bezeichnung, aber doch eine potentielle. Sie betrifft eine Gruppe, die im folgenden Gespräch als vom Teufel abstammend (8,44) bezeichnet wird, ohne dass dazwischen eine Änderung der Beteiligten oder ein Themenwechsel ersichtlich wäre. In 15,8 werden dann die JüngerInnen in einer ähnlich offenen Formulierung darauf angesprochen, JüngerInnen zu werden – auch hier liegt also keine sichere Zuschreibung vor, obwohl die eindeutig als JüngerInnen Bezeichneten versammelt sind.30 In 18,17.25 bestreitet Petrus ausdrücklich, ein Jünger zu sein. Eine andere Art von Unklarheit entsteht in 9,27f, wo sich der Blindgeborene und die I>oudai~oi gegenseitig vorwerfen, JüngerInnen Jesu werden zu wollen bzw. zu sein. D.h. neben einer klaren Festlegung auf übliche Personen werden auch an verschiedenen Seiten unscharfe Ränder dieser wichtigsten Gruppe im JohEv deutlich.31 Es gibt viele Aussagen, die nicht zum Bild einer klar abgrenzbaren Gruppe von JüngerInnen (oder Jüngern) als Begleitung Jesu passen.32 Schon die Verwendung des Begriffs zeigt die Möglichkeit von Veränderungen und Wechseln an und sieht Jüngersein als Aufgabe. 2.3 Verwandtschaft und Herkunft Ähnlich wie die Gruppenzugehörigkeit trägt auch Verwandtschaft und geographische Verortung zur Beschreibung von Personen bei. Bei relativ vielen im Evangelium genannten Personen werden verwandtschaftliche Beziehungen zu anderen vorkommenden Personen festgestellt;33 zudem werden häufig auch Herkunftsorte genannt. Ich vermute, dass beides bedeutsam ist für die jeweiligen Personen, da die Frage, „woher“ jemand ist, in theologischen Dialogen eine große Rolle spielt (z.B. Joh 8,14.37–47). Ort und Beziehung erwiesen sich auch schon bei der ausdrücklichen Charakterisierung als entscheidend. Auf Jesus bezogen wird sowohl die Rolle seines himmlischen Vaters (auch im Verhältnis zu Josef als irdischem Vater) diskutiert als auch seine Herkunft aus Nazareth bzw. „von oben“ und die Bedeutung, die dies für die Einschätzung seiner Person hat. Er selbst betont durchgehend seine Beziehung zum Vater mit ihren Folgen und bezieht am Ende des Evangeliums auch die JüngerInnen in familiäre Bande mit ein (19,26f sowie die Bezeichnung als Geschwister 20,17). Die meisten Beziehungen unter den JüngerInnen sind die von Geschwistern: Dies gilt für Andreas und Petrus; Maria, Martha und Lazarus; die Schwester der Mutter Jesu (19,25). Evtl. dient auch bei den Söhnen des 30

Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 143. Vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium III, 236. 32 Die Annahme einer doppelten Verwendung des Begriffs im JohEv (so Reinhartz, Befriending, 120f) ist m.E. keine Lösung des Problems. 33 Weniger relevant sind Nennungen von Vater (Simon, Sohn des Johannes) oder Mann (Maria des Klopas), wenn die Bezugspersonen im Evangelium nicht eigens vorkommen. 31

Direkte Beschreibung

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Zebedäus der gemeinsame Vater dazu, sie als Brüder zu bestimmen (21,2). Daneben gibt es die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Jesus und seiner Mutter bzw. die erst gestiftete zwischen ihr und dem geliebten Jünger. Beim Blindgeborenen treten noch die Eltern auf und Hannas wird als Schwiegervater des Kaiphas eingeführt (18,13). Reale Väter treten jedoch nicht auf: Jesu Vater (Josef) wird ebenso wie die von Petrus oder Judas nur erwähnt.34 Dafür wird die Vaterfrage grundsätzlich diskutiert, z.B. in Joh 8, wo Abraham, Gott und der Teufel als Väter der I>oudai~oi in Betracht kommen. An Herkunftsorten wird für Philippus mehrfach Bethsaida genannt (1,44; 12,21), das auch als Heimatort von Andreas und Petrus festgehalten wird (1,44). Nathanael kommt aus Kana, was aber erst in 21,2 festgestellt wird. Die Samaritanerin stammt aus Samarien, genauer aus Sychar, der Basilikos aus Kapernaum. Martha, Maria und Lazarus wohnen in Bethanien. Bei Maria Magdalena ist die Herkunft im Namen enthalten, aber nicht ausdrücklich thematisiert. Den bemerkenswertesten Ort hat aber der geliebte Jünger: den Schoß Jesu (13,23; 21,20). Angesichts von 1,18 ist dies eine für das Bild dieses Jüngers sehr aussagekräftige Ortsangabe. Auffällig ist, dass die expliziten Jünger alle aus Galiläa stammen (sofern es zu ihnen Angaben gibt) und dass über die gemeinsame Herkunftsstadt eine Beziehung zwischen Philippus und den Brüdern Andreas und Petrus geschaffen wird. Das meiste Gewicht liegt wohl bei der Ortsangabe von Philippus. 2.4 Einführung und Wiederauftritt von Personen: Namen und Bezeichnungen Etliche Personen im JohEv sind mit Eigennamen bezeichnet. Viele davon sind auch aus der Zeitgeschichte (Pilatus, Kaiphas, Hannas, Johannes der Täufer) oder anderer christlicher Überlieferung (Jünger aus Jüngerlisten, Maria und Martha, Maria Magdalena, Josef von Arimathäa) bekannt. Von anderen wissen wir primär aus dem JohEv (Nathanael, Nikodemus, Lazarus, Malchus), was aber nicht heißt, dass nicht auch sie einmal in inzwischen verschollener Überlieferung vorgekommen sein könnten. Andere Personen haben im JohEv keinen Namen, auch wenn sie nicht nur StatistInnen sind, sondern eine große Rolle spielen. Sie sind aber jeweils durch einen besonders charakteristischen Zug eingeführt, der auch ein Wiederauftreten ermöglicht.35 Eben als die Mutter Jesu, als Frau aus Samarien, als „zum König Gehörender“ (Basilikos), als Kranker, als Blindgeborener oder als geliebter Jünger. Das entscheidende Merkmal wird im Laufe der Erzählung dann wieder aufgegriffen – einfach wiederholt oder in Variationen (z.B. der ehemals Blinde 9,13.24). 34

Auch Ehepaare fehlen. Es ist deshalb auch kein Problem, für diese Personen namenähnliche Bezeichnungen zu finden, die sie eindeutig identifizieren. 35

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In einigen Fällen zeigt die Art der Einführung von Personen in die Erzählung, dass sie als den LeserInnen bekannt vorausgesetzt werden. Dies gilt vor allem für Personen mit Namen (z.B. Petrus, Thomas, Martha und Maria, Maria Magdalena), aber auch für die Mutter Jesu als eine Figur ohne Namensnennung.36 Umgekehrt werden aber auch Personen mit Namen ohne erkennbare Voraussetzungen neu eingeführt, so z.B. Nikodemus (3,1). Die Verwendung von Namen ist also nicht unbedingt durch die Bekanntheit begründet, sie scheint in vielen Fällen eher erzählpraktische Gründe zu haben, da sie ein einfaches erneutes Auftreten ermöglicht. In den längeren zusammenhängenden Abschnitten z.B. bei Heilungen oder im Gespräch mit der Samaritanerin, ist für eine Bezeichnung der gemeinten Person eine Namensnennung nicht unbedingt nötig. Auch bei Personen mit Namen, selbst wenn sie bekannt zu sein scheinen, gehört zur Einführung oft eine weitere kurze Charakterisierung. Dies kann ein Beiname sein, eine Bezeichnung von Herkunft oder Verwandtschaft, oder auch ein bestimmtes Handeln wie bei Maria ihr Salben, bei Judas sein Ausliefern. Dies ist einerseits eine Näherbestimmung zur genaueren Identifizierung, andererseits entsteht so auch bei Personen mit Namen schon beim Eintritt in die Erzählung ein Bild der Person, in dem ein bestimmter Zug (oder einige wenige Züge) hervorgehoben ist. Dieser besondere Zug wird oft später zusätzlich zum Namen wieder aufgegriffen. Zum Teil wird schon am Anfang auf spätere Ereignisse verwiesen: Maria wird in 11,2 als diejenige eingeführt, die Jesus gesalbt hat, und Judas in 6,71; 12,4; 18,2 als der Verräter. Bei Maria ist diese Nennung nötig, denn auch wenn sie als Schwester der Martha eine bekannte Gestalt in christlicher Tradition ist, so ist ihr Name doch nicht – oder zumindest nicht eindeutig – mit der Salbung verbunden.37 Bei Judas dagegen liegt mit dem Namen und der Bezeichnung als der, der ausliefert, eine Redundanz vor, die durch die mehrfache Wiederholung verstärkt wird und eine besondere Betonung bewirkt.38 Umgekehrt kann auch bei späteren Auftritten auf früher erzählte Ereignisse Bezug genommen werden: Lazarus wird zunächst mit dem Namen (und als Bruder von Maria und Martha) eingeführt, aber später wird nur 36

Den geliebten Jünger rechne ich hier nicht zu, dazu s.u., VII.2.2. Vgl. Bauckham, John, 165. Zumindest in der synoptischen Überlieferung bleibt die salbende Frau – oder die salbenden Frauen, falls die Lk-Fassung als eigene Geschichte gegenüber Mk angesehen wird – namenlos. Ich vermute, dass ihre Identifizierung mit Maria auf das JohEv zurückgeht, obwohl natürlich die Verbindung des Namens mit der Geschichte auch schon zuvor erfolgt sein kann. Vgl. Bauckham, John, 163f, der in Joh 11,2 eine Identifikation der anonymen Salbenden aus Mk 14 erkennt, aber anders als ich die Namen Maria und Martha nicht für bekannt hält. 38 Sonst scheint das Evangelium eher sparsam in der Charakterisierung zu sein und Doppelungen zu vermeiden. So fehlt z.B. der Name der Mutter Jesu, die nur durch ihre familiäre Stellung eingeführt wird. 37

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noch mit der Näherbestimmung als Auferweckter auf ihn Bezug genommen (12,1.9.17). Bei Nikodemus ist es sein Kommen zu Jesus, auf das später zurückgegriffen wird (7,50; 19,39); bei Kaiphas wird die in 11,50 gemacht Prophezeiung in 18,14 wieder erwähnt; und auch beim geliebten Jünger wird nicht nur dieser Zug beim weiteren Auftreten, sondern in 21,20 auch seine Frage nach dem Verräter wiederholt.39 Auch wenn diese Rückbezüge vermutlich in erster Linie zur Schaffung von Querverbindungen im Evangelium dienen, so ist es doch bedeutsam, welche Züge auf diese Weise wiederholt werden. In dieser Hinsicht gleichen die Charaktere mit Namen den anonymen, bei denen ja ebenfalls ein bestimmter Zug zur Einführung der Person genutzt wird. Trotz der inhaltlichen Unterschiede in der Beschreibung und trotz der Differenz Namen / Namenlosigkeit werden also alle Charaktere mit einer ziemlich eindimensionalen Ausgangsbeschreibung in die Erzählung gestellt. Die weiteren Ereignisse bauen dann hierauf auf. Charakterisierung scheint im JohEv im Spannungsfeld zwischen Ausgangs-Charakterzug und weiterer Entfaltung zu erfolgen. In diesem Zusammenhang kann einem Namen m.E. noch eine weitere Bedeutung neben der Organisierung der Figur zukommen: Mit dem Namen kann ein schon bekanntes Bild der Person aufgerufen werden, das dann als Teil der einführenden Beschreibung anzusehen ist.40 2.5 Ergebnis Dieser Überblick über im weiten Sinne direkte Beschreibungen von Personen im JohEv ergibt ein ambivalentes Bild. Auffällig ist die ausführliche Beschreibung von Johannes dem Täufer und von Judas, die zusammen mit dem geliebten Jünger als einzige im Wertesystem des JohEv einigermaßen eindeutig festgelegt sind.41 Ersterer hat klare Verbindungen zu Gott, sozusagen nach oben, obwohl viele weitere Charakterisierungen ihn eher negativ abgrenzen (nicht das Licht, nicht Elia, ...). Judas bildet den Gegenpol in der Beziehung zum Teufel. Der geliebte Jünger ist knapper beschrieben, aber in seiner Bezeichnung und räumlich durch die Beziehung zu Jesus definiert. Bei den anderen Personen lassen sich zwar auch Charakterisierungen erkennen, aber die inhaltliche Bedeutung der den Personen zugeschriebenen Merkmale ist nicht unmittelbar deutlich. Aber sie scheinen wichtig zu sein, denn praktisch alle Personen mit größerer Rolle sind auf irgendeine Weise näher bestimmt, als Charakterisierung bei der Einführung und / oder bei 39 Vgl. auch die Erwähnung, dass Philippus aus Bethsaida stammt (neben 1,44 auch 12,21) und evtl. auch der Namenszusatz Petrus. 40 Dazu passt, dass gerade vermutlich bekannte Personen nur sehr knapp oder gar nicht weiter beschrieben werden. 41 Vgl. Conway, Speaking, 330f – allerdings macht sie schon bei Judas eine Einschränkung, weil er zu den Zwölf gehört, also von Jesus erwählt ist.

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jedem Auftreten wiederholt. Bei manchen der Personen steht ein solches Merkmal sogar anstelle eines eigenen Namens, aber das Phänomen gilt auch mit Namen. Dieser Befund fordert zum einen dazu heraus, das Verhältnis des Basismerkmals zur weiteren Darstellung der Person in der Erzählung herauszuarbeiten. Schon beim flüchtigen Blick ist zu vermuten, dass die Personen jedenfalls nicht eindimensional bleiben, sondern ein Spannungsverhältnis besteht. Zum anderen legt das Problem der unklaren Bedeutung vieler Merkmale nahe, neben der Erklärung aus dem Text auch nach Voraussetzungen der LeserInnen zu fragen. Möglicherweise deutet das JohEv manche Beschreibungen nicht selbst, sondern arbeitet mit einer schon vorhandenen (und den LeserInnen bewussten) Deutung. Schließlich zeigt schon die simple Frage, welche Personen eigentlich als JüngerInnen benannt werden, wie schwierig die Abgrenzung dieser Gruppe ist und wie wenig sie als eine klar bestimmte und abgeschlossene Größe vorausgesetzt werden kann. Indirekte Präsentation: Handlungen (Verben)

3. Indirekte Präsentation: Handlungen (Zuordnung von Verben zu Personen) Die folgende Analyse bezieht sich auf die Handlungen der Charaktere. Ich suche zunächst nach einzelnen Verben und den dazugehörigen Subjekten. Auf diese Weise lässt sich klären, welche Tätigkeiten von welchen Personen oder Gruppen ausgesagt werden, und so ein Muster der Zuordnung beschreiben. Insbesondere ist interessant, ob eine Abgrenzung der Gruppe der JüngerInnen durch ein spezifisches Verhalten erkennbar ist und ob sich die Zugehörigkeit von Einzelpersonen nahe legt. Es geht also um eine Bestandsaufnahme des Gebrauchs von Verben und ihrer Zuordnung zu Personen, die den Hintergrund der genaueren Analyse von Einzelstellen, also Tätigkeiten einzelner Personen, bilden soll. Dieser Ansatz ermöglicht jedenfalls eine breite Vergleichbarkeit. Auch bei einer Beschränkung der Untersuchung in diesem Abschnitt auf Einzelverben muss eine Auswahl getroffen werden. Für meine Frage nach der Abgrenzung der Gruppe der JüngerInnen sind diejenigen Ausdrücke, die das Verhalten und Sein von JüngerInnen beschreiben können, besonders relevant. Maßstab für mögliches „jüngertypisches“ Handeln sind dabei sowohl allgemeine Überlegungen als auch der Befund speziell im JohEv. Für das JohEv zu beachten ist dabei die mögliche Mehrdeutigkeit und theologische Relevanz von profanen Begriffen.42 So ergeben sich folgende Bereiche 42

Vgl. Hengel, Frage, 265f; auch Schenke, Johannes, 411.

Indirekte Präsentation: Handlungen (Verben)

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der Wortuntersuchung: Als Erstes sind Verben der Bewegung einschließlich „nachfolgen“ und „bleiben“ zu nennen, die Jüngerschaft als konkreten Anschluss und Mitwandern beschreiben. Verben der Wahrnehmung wie „hören“ und „sehen“ sind wichtig, weil sie einen Kontakt bezeichnen und im johanneischen Kontext auch tiefergehende Aussagen über ein Verhältnis machen können. Speziell im JohEv ist es naheliegend, nach „wissen“ bzw. „erkennen“ als Tätigkeit der JüngerInnen zu fragen. In diesen Zusammenhang lässt sich auch „erinnern“ einordnen. Ganz allgemein steht „glauben“ im Zusammenhang mit Jüngerschaft. Schließlich ist noch einerseits nach Begriffen zu suchen, die über die schon genannten hinaus eine Beziehung zu Jesus ausdrücken können, wie „lieben“, „hassen“, „senden“, und andererseits nach Tätigkeiten mit Außenwirkung wie „bezeugen“ und „verkündigen“.43 Bei der Analyse der Verwendung dieser Verben ist auch zu beachten, auf welcher Ebene der Erzählung die Aussage liegt, d.h. ob sie von der Erzählstimme gemacht wird oder in der Rede von Personen, und wenn letzteres von wem. Außerdem ist relevant, ob das Verb in einem Aussagesatz vorkommt oder z.B. als Aufforderung, in einem Bedingungs- oder Finalsatz (wenn ihr glaubt, dann ...; dies geschieht, damit ihr glaubt ...) oder als Ansage oder Verheißung für die Zukunft. Wie sind solche Aussagen jeweils in ihrem Realitätsgehalt einzuschätzen, d.h. kann die entsprechende Handlung dem Subjekt „angerechnet“ werden, wenn es sie (noch?) nicht durchgeführt hat? 3.1 Verben der Bewegung (kommen, nachfolgen, bleiben) Ein großer Teil der Verben im JohEv sind Verben der Bewegung (vor allem e]rxomai und Komposita), die oft einfach räumlich gemeint sind, aber mitunter theologische Obertöne haben. Meistens ist Jesus das Subjekt, auch wenn er z.B. zusammen mit der JüngerInnengruppe unterwegs ist. Diese sind entweder im Satz zum Subjekt ergänzt (z.B. 3,22) oder zunächst gar nicht erwähnt, treten aber später auf (z.B. 4,5.8; 6,1.3). Neben diesem irdischen Kommen / Gehen gibt es auch viele Aussagen über Jesu Kommen von oben, in die Welt etc. Für die JüngerInnen und andere Personen ist das Kommen zu Jesus ein wichtiger Schritt, der schon den Anschluss an ihn ausdrücken kann oder zumindest Voraussetzung für diesen ist. Die ersten beiden, die von Johannes d.T. zu Jesus wechseln, werden von Jesus zum Kommen aufgefordert und tun dies auch (1,39). Gleiches gilt auch für Nathanael (1,46f – Aufforderung durch Philippus). Auch später kommen einzelne Personen und 43 Verben des Sagens sind im Zusammenhang der indirekten Präsentation durch Reden (II.5.) eingeschlossen.

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Gruppen zu Jesus.44 Eine theologische Deutung der zunächst profan-räumlichen Feststellungen legen allgemeine Aussagen Jesu nahe, die das Kommen zu Jesus mit Heilszusagen verbinden (5,40; 6,35.37; 7,37) oder sogar als Folge von vertieftem Verständnis sehen (6,45).45 Diese Worte Jesu mit aufforderndem Charakter richten sich jeweils an breite Gruppen. Es gibt aber auch eine Einschränkung der Zielgruppe, wenn die Möglichkeit des Kommens vom Ziehen des Vaters abhängig gemacht wird (6,44).46 Für die Zukunft kündigt Jesus die Unmöglichkeit des Kommens an, und zwar sowohl an die I>oudai~oi gerichtet (7,34) als auch (mit ausdrücklichem Rückbezug auf die Aussage in 7,34) an die JüngerInnen (13,33). Weder die Einladungen Jesu noch die Aussagen über das tatsächliche Kommen bestimmter Personen zu ihm sind also auf bestimmte Kreise beschränkt, die JüngerInnen sind eher weniger beteiligt als andere Gruppen. Aber eine theologische Bedeutung liegt keineswegs immer vor bzw. sie ist nicht immer einfach zu erfassen. Dies zeigt nicht nur die unterschiedliche Gestaltung der weiteren Begegnungen mit Personen, die zu Jesus kommen, sondern auch die Verwendung von „weggehen“ (a>pe/rxomai): Dies kann eine Trennung und Abwendung von Jesus und der Jüngerschaft ausdrücken (6,66.68), aber auch dazu dienen, Kunde von Jesus zu verbreiten (4,28; 11,28). Die Person, deren Kommen zu Jesus am stärksten betont wird, ist Nikodemus, denn von ihm wird das Kommen nicht nur einmal berichtet (3,2), sondern bei jedem weiteren Auftreten als Rückbezug erneut erwähnt (7,50; 19,39).47 Auch „nachfolgen“ (a>kolouce/w) bezeichnet eine räumliche Bewegung, ist aber auch ein spezifischer Begriff zur Charakterisierung von Jüngerschaft.48 Dies gilt nicht nur in den synoptischen Evangelien, sondern auch im JohEv: Schon von den ersten beiden JüngerInnen, die von Johannes dem Täufer zu Jesus wechseln, wird der Anschluss an Jesus mit diesem Verb bezeichnet (1,37f.40). Als nächstes fordert Jesus Philippus zum Nachfolgen auf (1,43). Später ist das Verb vor allem mit Petrus verbunden: In 13,36f wird im Zusammenhang der Ankündigung der Verleugnung seine Nachfolge problematisiert. In 18,15 folgen er und ein anderer Jünger Jesus – der Beginn der Szene, die zur Verleugnung führt. Und schließlich finden sich in 44

Nikodemus 3,2; SamaritanerInnen 4,40; der Basilikos in 4,47; eine große Menge 6,5; viele 10,41; Maria von Bethanien 11,29. Die PharisäerInnen stellen in 12,19 sogar fest, dass „die Welt“ hinter ihm geht – angesichts der anderen Aussagen scheint diese Figurenrede weitgehend zutreffend zu sein, die Perspektive der PharisäerInnen kommt jedoch in der Verwendung von a>pe/rxomai (weggehen – „von uns“ ist mitzudenken) zum Ausdruck. 45 Vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium I, 514. 46 In 5,40 scheint das Kommen an mangelndem Willen zu scheitern. 47 Auf sein früheres Kommen wird an beiden Stellen Bezug genommen, während nur in 19,39 die Nachtzeit und nur in 7,50 seine Gruppenzugehörigkeit wieder aufgegriffen wird. 48 Vgl. Blendinger/Studemund, 1365f.

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21,19.22 ausdrücklich Aufforderungen zur Nachfolge an ihn. In dieser Szene wird auch von der Nachfolge des geliebten Jüngers geredet (21,20). Auffällig ist, dass Petrus aber nicht nur Jesus, sondern in 20,6 auch dem geliebten Jünger folgt. Die weiteren Vorkommen des Begriffs sind nicht klar auf die JüngerInnen bezogen. In der Bildrede vom guten Hirten spricht Jesus von seinen Schafen, die ihm (10,4.27), nicht aber einem Fremden (10,5) folgen. Hier ist wohl ein weiterer Kreis angesprochen, der neben den JüngerInnen auch die LeserInnen einbeziehen könnte. An zwei weiteren Stellen fordert Jesus in einer Rede eine breite Zuhörerschaft indirekt zum Nachfolgen auf: In 8,12 ist Nachfolge mit einer Verheißung verbunden und vom Kontext her wohl an die PharisäerInnen gerichtet. In 12,26 stellt er gegenüber der Menge, zu der auch GriechInnen gehören, Nachfolge als Aspekt von Dienen dar, das ebenfalls mit Verheißung belegt ist. Schließlich gibt es noch zwei Aussagen über Gruppen, die nachfolgen: In 6,2 ist es eine große Menschenmenge, die Jesus folgt. Am erstaunlichsten ist aber 11,31, wo die im Trauerhaus in Bethanien anwesenden I>oudai~oi Maria folgen. Beide Fälle könnten natürlich auch einfach im profanen Sinn verstanden werden. Da aber an allen anderen Stellen von Nachfolge mit theologischer Bedeutung oder zumindest mit solchen Obertönen die Rede ist,49 halte ich ein nur räumliches Verständnis nicht für ausreichend. D.h. aber, dass Nachfolge nicht speziell auf die JüngerInnen begrenzt ist – dafür sprechen auch die allgemeinen Aufforderungen Jesu. Es scheint eine Möglichkeit für breite Kreise zu sein, aber nicht unbedingt eine eindeutige Festlegung zu implizieren. Auf der anderen Seite wird nicht von allen JüngerInnen (auch nicht von allen expliziten Jüngern oder der Gruppe) Nachfolge festgestellt. Das Verb ist in dieser Gruppe nur mit einigen Namen verbunden, am häufigsten mit Petrus. Ein typisch johanneischer Begriff mit deutlicher theologischer Relevanz ist „bleiben“ (me/nw).50 Auch dieses Wort begegnet schon beim ersten Zusammentreffen Jesu mit seinen ersten neuen Jüngern; zunächst in einer Frage, die diese an Jesus richten (Wo bleibst du? 1,38), und dann in einer Aussage über sie: sie bleiben den Tag bei Jesus (1,39). Im Folgenden wird das Verb in rein geografisch-zeitlichen Angaben (mit Jesus als Subjekt) sowie in vielen allgemeinen theologischen Aussagen verwendet, wobei das Subjekt oft nicht menschlich ist (Geist, Wort Gottes, Speise, Zorn Gottes, Sünde). Eine ausdrückliche Verbindung zum Jüngersein liegt in 8,31 vor, 49 Die Nachfolge des Petrus auf dem Weg zur Verleugnung ist angesichts der Problematisierung dieser Nachfolge bei der Ankündigung jedenfalls kein einfaches Hinterhergehen. Und auch dass Petrus dem geliebten Jünger auf dem Weg zum Grab folgt, gewinnt durch die Verstrickung der Nachfolge beider in Joh 21 tiefere Bedeutung. 50 Vgl. Heise, Bleiben, 46.

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Charakterisierung im JohEv

wo Jesus das Bleiben in seinem Wort mit wahrer Jüngerschaft gleichsetzt – die Aussage richtet sich an die glaubenden I>oudai~oi. Die verschiedenen Formulierungen über das Bleiben im Wort, in der Liebe oder in Jesus unterscheiden sich wohl nur graduell, wichtig ist aber die Gegenseitigkeit des Bleibens ineinander, die zwischen Jesus und den JüngerInnen und zwischen Jesus und Gott (14,10; 15,10) besteht. Eine ausführliche Aufforderung zu solchem Bleiben richtet Jesus in 15,4–10 an die JüngerInnen, implizit werden in 6,56 die I>oudai~oi dazu aufgefordert.51 Neben den ersten beiden Jüngern in 1,39 ist in 21,22f noch der geliebte Jünger Subjekt des Bleibens. Auch wenn also der Sache nach das Bleiben bei Jesus ein Kennzeichen von Jüngerschaft ist, so ist die Verwendung des Wortes dennoch nicht charakteristisch für die JüngerInnen.52 Die meisten Aussagen haben einen auffordernden Charakter, der auch nicht auf die JüngerInnen beschränkt ist, und weisen so in eine Zeit jenseits der im Evangelium erzählten.53 3.2 Verben der Wahrnehmung (sehen, hören) Vor allem Verben des Sehens (ble/pw, cea/omai, cewre/w, okou/w) spielen im JohEv eine große Rolle und schillern in ihrer Bedeutung insgesamt zwischen dem alltäglichen, körperlichen Wahrnehmen und einer tieferen theologischen Ebene, auf der mit dem Sehen und Hören ein Verstehen, Annehmen und Glauben impliziert ist. So bezeichnen die Ausdrücke einerseits einen Schritt bzw. eine Voraussetzung auf dem Weg zu einer Kontaktaufnahme zwischen Personen (meistens zwischen Jesus und anderen) oder mit einer himmlischen Realität, andererseits aber auch schon diesen Kontakt selbst. Die verschiedenen Verben des Sehens sind nicht konsequent und eindeutig unterschieden in ihrer Verwendung, weisen aber m.E. doch jeweils gewisse Tendenzen auf.54 So hat ble/pw die körperlichste Ausrichtung, es ist das Verb, das im Zusammenhang der Blindenheilung den Gegensatz zum Blindsein bildet (9,7.19–21).55 Seine Objekte sind immer physikalisch sichtbar – eine Ausnahme ist nur die einzige Stelle, an der Jesus Subjekt ist und das Objekt das, was der Vater macht (5,19). 51 Vgl. auch 8,31. In 5,38 stellt Jesus dagegen negativ und pauschal über die I>oudai~oi fest, dass sie das Wort Gottes nicht in sich bleibend haben. 52 Außer den genannten Stellen wird von ihnen nur noch das Bleiben in Kapernaum (2,12) ausgesagt, bei dem Jesus, seine Mutter und Geschwister und seine JüngerInnen gemeinsam Subjekt sind. 53 Auch das Bleiben des geliebten Jüngers in 21,22f wird nicht mehr selbst berichtet, sondern angekündigt! 54 So Michaelis, Art. onable/pw für die neue Fähigkeit zum Sehen des Blindgeborenen verwendet (9,11.15.18). Vgl. auch Hergenröder, Wir, 66.

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cea/omai hat dagegen eine theologischere Bedeutung,56 steht mitunter im

Zusammenhang mit Glauben (11,45) und hat als Objekt eher unkörperliche Größen wie Herrlichkeit oder Geist (1,14.32). Mit Jesus als Subjekt ist es auf andere Menschen bezogen (1,38; 6,5). Bei cewre/w begegnet nie Jesus als Subjekt; er oder die Zeichen, die er tut, bilden jedoch häufig das Objekt. Gerade wenn es um Jesu Zeichen geht, ist das Sehen jedoch durchaus nicht unproblematisch. Es bedeutet nicht notwendig ein ungetrübt positives Verhältnis zu Jesus (2,23f; 6,2.14f). Dieses Verb wird auch wieder für gewöhnliches Sehen verwendet. Die verschiedenen Formen von ooudai~oi: 8,30f; 11,45; 12,11; jenseits des Jordan: 10,42; im samaritanischen Dorf: 4,39.41f; Obere: 12,42. Für diese Kreise wird jedoch auch Unglaube konstatiert: für die Oberen / PharisäerInnen: 7,48; für die I>oudai~oi 8,45f; 10,25f; eine ganz allgemeine Aussage: 12,37. Ausschließlich Unglaube wird den Geschwistern Jesu zugeschrieben (7,5).69 Insgesamt lässt sich feststellen, dass Glaube von den JüngerInnen erwartet wird, denn wo er fehlt, stellt dies ein Problem dar, das irgendwie überwunden werden muss. Bei Thomas geschieht dies durch eine Entwicklung hin zum Glauben. In 6,64 ist die Konsequenz des Unglaubens die Trennung von Jesus und so wohl das Aufgeben von Jüngerschaft. In diesen beiden Zusammenhängen wird danach jeweils ausdrücklich durch Petrus 66

5,46f; 10,37f; 12,44; 14,11. Hierzu gehört die erste und die letzte Aussage über Glauben im JohEv: 1,7; 20,31; außerdem: 6,29f; 11,15.42; 13,19; 14,29; 17,20f; 19,35. 68 So 3,15.36; 5,24; 6,40.47; 11,25f (leben, nicht sterben); außerdem: 1,12 (Kinder Gottes zu werden); 3,16 (nicht verloren); 3,18 (nicht gerichtet); 6,35 (nicht dürsten); 7,38 (Ströme); 7,39 (Geist); 11,40 (Herrlichkeit Gottes sehen); 12,36 (Kinder des Lichts werden); 12,46 (nicht Finsternis); 14,12 (Werke tun); 20,29 (selig). 69 Außerdem wird auch von Jesus selbst gesagt, dass er nicht glaubt, d.h. sich den Menschen nicht anvertraut (2,24) – das Verb ist hier reflexiv konstruiert (ou>k e>pi/steuen au>to\n au>toi~j), anders als an allen anderen Stellen, aber der Befund ist trotzdem auffällig! 67

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Charakterisierung im JohEv

bzw. über Thomas das Vorhandensein von Glauben gesichert. Ansonsten betreffen Glaubensaussagen kaum die expliziten Jünger,70 viel häufiger Personen aus dem weiteren Kreis. Ich deute diesen Befund so, dass es zwar ein Kennzeichen der JüngerInnen ist zu glauben (2,11), dass dieser Glaube jedoch gerade beim engen und eindeutigen Jüngerkreis (den expliziten Jüngern) mehr oder weniger als selbstverständlich vorausgesetzt wird.71 Ausdrücklich thematisiert wird Glaube hier vor allem dann, wenn er gefährdet ist.72 Trotzdem werden auch die JüngerInnen häufig zum Glauben aufgefordert. Sowohl die im Zusammenhang mit Glauben stehenden Personen als auch die Variationen von Aussagen über schon vorhandenen oder noch angestrebten oder erwarteten Glauben sind ungeheuer vielfältig. Diese Vielfalt lässt sich m.E. am besten dadurch erklären, dass Glaube in der Sicht des JohEv nicht statisch vorhanden, sondern im Fluss ist, nicht klar vorhergesagt werden kann und prinzipiell überall und bei allen möglich ist – einschließlich der häufig feindlichen Führungsschicht!73 Auch die weiteren heilvollen Konsequenzen von Glauben geben dem Phänomen etwas Unabgeschlossenes. Als Abgrenzungsinstrument zwischen Personen innerhalb der Erzählung eignet sich „glauben“ jedenfalls nicht. Die Fluchtlinie der Unterscheidung liegt jenseits des Evangeliums in der Zukunft. 3.4 Vertiefte Erkenntnis (wissen, erkennen, erinnern) Um die Beziehung zu Jesus und dem in ihm verkörperten Heil zu beschreiben spielen im JohEv neben (räumlicher) Nachfolge und Glaube auch „wissen“ (oi}da) und „erkennen“ (ginw/skw) eine große Rolle. Die Verben werden mitunter synonym gebraucht, d.h. in parallelen Aussagen ausgetauscht.74 Sie haben aber an manchen Stellen auch unterschiedliche Nuancen. So drückt ginw/skw häufiger den Akt oder Prozess des Erkennens aus,75 weshalb Zukunftsansagen meist mit diesem Verb gebildet werden. Bei oi}da ist das Wissen dagegen schon erlangt, was dem Charakter dieses Wortes entspricht.76 Zum Glauben besteht aus johanneischer Sicht eine enge Verbindung, „glauben“ und „erkennen“ bedingen sich gegenseitig (4,53; 70

Aber der geliebte Jünger in 20,8! Ist es ein Zufall, dass nur von Nathanael im Zusammenhang mit seiner Berufung von seinem Glauben geredet wird? Es passt gut, weil nur er von den in Joh 1 berufenen Jüngern nicht aus breiter christlicher Tradition als Jünger bekannt ist! 72 Vgl. Schnackenburg, Johannesevangelium I, 516, der die Bezeichnung als Jünger als fast identisch mit Glauben an Jesus ansieht. 73 Anders Stimpfle (vgl. Rätsel, 164), der die Feststellung von Glauben in der jüdischen Führungsschicht nicht als Zeichen von Offenheit, sondern als Witz ansieht – es kann einfach nicht sein. 74 Z.B. in 8,55; 13,7; 21,17. 75 Vgl. de la Potterie, oi}da, 725. 76 Vgl. Frey, Eschatologie II, 106f. 71

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8,31f; 10,38; 14,9f)77 und werden auch parallel miteinander z.B. zur Formulierung von Bekenntnisaussagen verwendet (4,42; 6,69; 16,30).78 Wissen und Erkennen sind wichtige Tätigkeiten der JüngerInnen, wobei allerdings vor allem oi}da häufig verneint ist, wenn JüngerInnen Subjekt sind (11 positive und 13 verneinte Aussagen), bei ginw/skw überwiegen dagegen die positiven Belege (10 zu 3). Objekt ist häufig Jesus ohne weitere Erläuterung (im Akkusativ), aber auch sein Handeln und Geschick. Viele positive Aussagen (fast immer mit ginw/skw) sind Ansagen für die Zukunft: Während das gegenwärtige Wissen der JüngerInnen offensichtlich zwiespältig ist, wird es besser werden. Ausdrücklich sagt z.B. in 13,7 Jesus zu Petrus, dass er die Bedeutung der Fußwaschung jetzt noch nicht, aber später verstehen wird.79 Dass diese Zukunft bis in die Gegenwart hineinreicht, wird besonders gut in 14,7 sichtbar. Hier wird eine Kenntnis Jesu festgestellt (e>gnw/kate Perfekt) und eine des Vaters angekündigt (gnw/sesce Futur), dann aber festgestellt, dass diese Kenntnis von jetzt an (a>p' a]rti) besteht (ginw/skete Präsens) und ein Sehen Gottes auch schon erfolgt ist (egapa/w, file/w) hat in erster Linie Jesus und Gott als Subjekt. Gott liebt den Sohn / Jesus, die JüngerInnen (16,27; 17,23; indirekt 14,21.23) und die Welt (3,16). Von Jesus aus richtet sich Liebe auf die Seinen (13,1) sowie die ganze Gruppe (13,34; 15,9.12), aber auch auf Einzelpersonen: Neben dem geliebten Jünger sind das Martha, Maria und Lazarus (11,5; auch 11,3.36). Von den JüngerInnen insgesamt wird gesagt, dass sie Jesus lieben (16,27 – in Verbindung mit „glauben“). In 14,15.23 wird solche Liebe vorausgesetzt, weil aus ihr die Aufforderung zum Halten von Jesu Wort / Geboten gefolgert wird (Bedingungssatz). Zudem gibt es die Aufforderung, dass sie sich untereinander lieben sollen (13,34; 15,12). Schließlich ist in 21,15–17 ausdrücklich die Liebe von Petrus zu Jesus Thema. Liebe ist also nur mit wenigen Einzelpersonen verbunden, für diese aber ist sie ein wichtiges Merkmal – ganz besonders beim geliebten Jünger: Der wichtigste und stets wiederholte Zug dieser Figur ist die Liebe Jesu zu ihr. Auch die ganze Gruppe der JüngerInnen ist durch die Liebe Jesu cha83 Außerdem uposte/llw, pe/mpw) geht; ein insgesamt im JohEv zentrales Konzept.85 Die große Mehrheit dieser Aussagen bezieht sich allerdings auf Jesu Sendung durch Gott. An einzelnen Stellen werden die JüngerInnen ihrerseits von Jesus gesandt – ausdrücklich zugesprochen wird die Sendung in 20,21, an weiteren Stellen wird sie vorausgesetzt (17,18; 4,38; 13,20). Nur Johannes der Täufer ist wie Jesus direkt von Gott gesandt (1,6.33). Auch das Senden weist über das Evangelium selbst hinaus in eine spätere Zeit, ist aber aufgrund der Konzentration auf Jesus nicht bestimmend für die Darstellung der JüngerInnen.86 3.6 Handlungen nach außen (bezeugen, verkündigen) Schließlich gibt es noch einige Ausdrücke, bei denen es um eine Vermittlung von Wissen über Jesus an Dritte geht. „Bezeugen“ (marture/w bzw. Ausdrücke mit marturi/a) bestimmt wesentlich das Wirken Johannes des Täufers (1,7f.15.32.34; 3,26; 5,32f). Aber auch von Jesus (4,44; 5,31; 7,7; 8,13f.18;13,21), Gott (5,37; 8,18), dem Parakleten (15,26), der Schrift (5,39), Jesu Werken (5,36; 10,25) etc. wird gesagt, dass sie Zeugnis ablegen. Die JüngerInnen werden als Gruppe in 15,27 dazu aufgefordert, wobei ihr Tun neben dem Bezeugen des Parakleten steht. Hier ist eine spätere Zeit im Blick.87 An Einzelpersonen aus dem weiteren Kreis der JüngerInnen wird Bezeugen nur mit der Samaritanerin (4,39) und dem geliebten Jünger (21,24) verbunden sowie mit der rätselhaften Gestalt, die „gesehen hat“, in 19,35.88 In 12,17 ist es jedoch die Menge, die bezeugt, und zwar in positivem Sinn. D.h. auch an diesem Begriff wird eine breite Streuung sichtbar. Bezeugen scheint nicht zu den primären Aufgaben der JüngerInnen zu gehören, kommt dort aber ebenso im engeren (geliebter Jünger) wie weiteren (Samaritanerin) Kreis vor und ist auch keineswegs auf sie beschränkt. In der Er85

Vgl. Merwe, Towards, 346 und passim. Vgl. Haacker/Studemund, 1662. 87 Vgl. Beutler, Martyria, 275. 88 Vermutlich handelt es sich um eine Umschreibung des geliebten Jüngers. Die parallele Formulierung in 3,32 bezieht sich allerdings wohl auf Jesus. 86

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zählung selbst berichtet wird ein Bezeugen nur von Johannes, der Samaritanerin und der Menge. Die JüngerInnen scheinen diese Aufgabe erst in späterer Zeit zu übernehmen. Eine Sonderrolle kann jedoch für Johannes den Täufer festgestellt werden, der mit diesem Begriff besonders intensiv verbunden ist. Die Begriffe „bekennen“ (orne/omai) begegnen nur selten im JohEv und sind nicht spezifisch für die JüngerInnen. In positiver Kombination (bekennen, nicht leugnen) charakterisieren sie eine Aussage von Johannes d.T. (1,20). Bei den übrigen Vorkommen von a>rne/omai ist Petrus das Subjekt, seine Verleugnung wird angekündigt und erzählt (13,38; 18,25.27). Von vielen Oberen ist auf der anderen Seite gesagt, dass sie zwar glauben, aber nicht bekennen (12,42). Da beide Verben wohl als Gegenbegriffe dienen und schon in 1,20 die Verneinung des einen eine parallele Aussage zum anderen bildet, sind hier wohl Petrus und die Oberen recht ähnlich dargestellt, zumal auch von Petrus eine Aussage über Glauben gemacht wird. Schließlich gibt es noch eine allgemeine Aussage mit Zukunftsbezug, in der die Folgen des Bekennens (von Jesus als dem Christus) festgestellt werden (9,22). Auch Verben des Verkündigens (a>gge/llw, a>nagge/llw, a>pagge/llw) begegnen insgesamt nicht häufig im JohEv. Subjekt kann der Geist (16,13–15), Jesus (16,25) oder der Messias (4,25) sein. Maria Magdalena berichtet von der Erscheinung Jesu vor ihr (20,18 – einziges textkritisch gesichertes Vorkommen des Simplex). Außerdem berichten die SklavInnen des Basilikos von der erfolgten Heilung (4,51) und der geheilte Kranke den I>oudai~oi von Jesus (5,15). In allen Fällen geht es also um die Person Jesu und seine Taten. Im Falle des Basilikos ist die Reaktion Glaube und bei Maria kann von einer apostolischen Verkündigung geredet werden. Im Fall des Geheilten hat jedoch der (fast) gleiche Ausdruck und ein ganz ähnlicher Vorgang (Weggehen von Jesus, Bericht an Dritte über ihn) eine gegenteilige Wirkung, er führt zur Verfolgung Jesu. M.E. werden hier nicht Wörter des gleichen Stammes teils im Sinne von angemessener Verkündigung, teils für Anzeigen oder Verraten verwendet,89 sondern auch im Falle des Geheilten wird mit der Bedeutung von Verkündigung gespielt – unabhängig von der Absicht der verkündigenden Person und der erzielten Reaktion. 3.7 Ergebnis Dieser Überblick zeigt zunächst eine breite Streuung von verschiedenen Handlungsmöglichkeiten. Es lassen sich kaum Tätigkeiten finden, die eine 89 Metzer (vgl. Geheilte, 186) rechnet beim geheilten Kranken mit der einfachen Wortbedeutung „mitteilen“. Dagegen betonen Becker/Müller, 1753, die theologische Bedeutung der Wortgruppe a>gge/llw durchgehend im JohEv.

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klar umgrenzte JüngerInnengruppe kennzeichnen, von allen ausgesagt werden und auf diese Gruppe beschränkt sind. Eine Vielzahl von Verben, mit denen ein Anschluss an Jesus ausgedrückt werden kann, wird auf die JüngerInnen angewendet, aber nicht nur auf sie und nicht immer positiv. Es liegt also ein ganzes Spektrum von Aussagen vor, in dem die expliziten Jünger, die weitere JüngerInnengruppe und die große Menge bzw. die I>oudai~oi immer wieder unterschiedlich, aber nicht klar voneinander abgegrenzt vorkommen. D.h. es ist nicht so, dass z.B. die I>oudai~oi Jesus prinzipiell nicht verstehen oder glauben (obwohl es auch Aussagen gibt, die genau dies pauschal feststellen!),90 während die JüngerInnen dies tun. Stattdessen scheint im Evangelium die Möglichkeit immer und für alle offen zu stehen. Dies zeigen auch die vielen an die Allgemeinheit gerichteten auffordernden und verheißenden Anreden Jesu. Indizien für eine klarere Abgrenzung liegen am ehesten in den Aussagen vor, die über die im Evangelium erzählte Zeit hinausweisen. Für diese Zeit sind es die JüngerInnen, die sich z.B. erinnern, und sie sollen dann auch verstehen. D.h. die Gruppe der JüngerInnen oder „der Seinen“ bekommt erst jenseits der Erzählung ein deutlicheres Profil, ist dann aber nicht mehr unbedingt mit den in ihr agierenden Figuren identisch. Die Kehrseite dieser breiten Streuung und geringen Abgrenzung zwischen möglichen Gruppen ist eine hohe Individualität bei der Darstellung von Einzelpersonen. Es ist nicht nur so, dass bestimmte Personen zu einer Geschichte gehören und so mit spezifischen Handlungen verknüpft werden. Auch die allgemeineren Begriffe konzentrieren sich auf Individuen. So ist etwa bei Petrus Nachfolge ein wesentliches Thema; Johannes der Täufer und die Samaritanerin sind diejenigen, die Zeugnis ablegen. Schließlich wird deutlich, dass das Evangelium vieles voraussetzt, wie etwa den Glauben der expliziten Jünger. Wichtige Tätigkeiten bzw. Beschreibungen liegen für einige Personen nicht im Evangelium selbst vor, sondern können evtl. als schon bekannt erschlossen werden und dienen dann als Folie für die ausdrücklich gemachten Aussagen. Schon von Anfang an vorhandene oder im Laufe der Erzählung geprägte Erwartungen werden allerdings oft enttäuscht. Es gibt Überraschungen in Bezug auf Personen und Verhalten, wie z.B. die Nachfolge der I>oudai~oi hinter Maria oder das Glauben der jüdischen Führungsschicht, die nicht ohne weiteres zu erklären sind. Eine ähnliche Spannung zwischen Erwartung aus der Wortbedeutung und Einbindung in den erzählerischen Kontext besteht auch, wenn z.B. der Geheilte Jesus Dritten verkündigt, was im Zusammenhang eher einer Anzeige als einer missionarischen Aktivität entspricht. Im Fol90

Zum Problem der Pauschalaussagen s.o., II.1.2.

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genden ist zu überprüfen, ob sich diese Beobachtungen auf anderen Ebenen der Darstellung bestätigen lassen.

4. Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen und -verhalten) 4.1 Allgemeines zu Gesprächen Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen) Die wichtigste Funktion der Charaktere im JohEv ist das Gespräch mit Jesus (manchmal auch über ihn). Alle ausgeführten Szenen im Evangelium enthalten ein Gespräch oder bestehen aus einem; nur wenige kurze, überleitende Notizen kommen ohne direkte Rede aus.91 Obwohl es auch einige längere, nicht unterbrochene Redeabschnitte Jesu gibt (3,10–21; 5,19–47; 10,7–18; 14,9–21; 14,23–16,16; 17,1–26), sind die Gespräche meistens wirkliche Wechselgespräche und auch die Monologe sind auf Fragen der ZuhörerInnen bezogen und führen zu Reaktionen. Dabei kann das Gespräch von Jesus ausgehen oder von seinem Gegenüber, und zwar durch eine Handlung ebenso wie durch eine Frage, eine Aussage oder eine Aufforderung. Dabei kommen alle möglichen Kombinationen vor, d.h. sowohl Jesus als auch andere (Einzelne oder Gruppen) lösen Gespräche sowohl durch Handlungen wie durch verbale Äußerungen (Fragen, Aussagen, Aufforderungen) aus. Während der Anfang der Gespräche also sehr vielfältig ist, gibt es am Ende eigentlich nur zwei Varianten: Bei gut einem Viertel der Gespräche hat am Ende Jesus das letzte Wort. Mit einem oft längeren, belehrenden Beitrag von ihm endet das Gespräch (d.h. danach wird ein Neueinsatz deutlich), ohne dass von Reaktionen berichtet würde. Die Mehrzahl der Gesprächsszenen schließt jedoch mit einer Reaktion der ZuhörerInnen. Sie kann in einem Erzählkommentar festgestellt werden (etwa wenn vom Glauben der Personen die Rede ist), sie kann in einer Handlung bestehen, durch die die Meinung zum Gesagten deutlich wird (z.B. Aufheben von Steinen in 8,59), oder kann verbal erfolgen. In diesem letzten Fall ist sie jedoch meistens räumlich oder zeitlich vom Gespräch abgetrennt – z.B. berichtet die Samaritanerin in ihrem Dorf über Jesus (4,29) oder es wird die spätere Sicht von JüngerInnen geschildert (2,22). Häufig ist auch eine Spaltung oder Auseinandersetzung innerhalb der zuhörenden Gruppe, die untereinander unterschiedliche Meinungen äußern.92 An einigen wenigen Stellen entzieht sich Jesus am Ende des Gesprächs (6,15; 12,36). 91 M.E. gibt es rund 40 abgrenzbare Gesprächsszenen, wobei an 6 von ihnen Jesus nicht beteiligt ist. Die Abgrenzung – von mir vor allem anhand von räumlichen und zeitlichen Textsignalen vorgenommen – ist im Einzelfall jedoch nicht immer eindeutig. 92 Es ist auffällig, dass abschließende Worte, die nicht von Jesus stammen, nicht an ihn, sondern an andere gerichtet sind. Solche Gespräche untereinander oder auch nicht laut ausgespro-

Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen)

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Angesichts der Bedeutung der Person Jesu im JohEv kann erwartet werden, dass die entscheidenden Aussagen im Gespräch von ihm selbst gemacht und die Beiträge anderer von ihm bestätigt oder zurückgewiesen werden. Tatsächlich werden durch Jesus oder die Erzählstimme die Aussagen anderer in der Regel zurückgewiesen und kritisiert bzw. erweisen sich als unangemessen. Dies gilt durchgehend für alle Personen, egal ob JüngerInnen, Volksmenge oder Verhörleiter; auch unabhängig davon, wie Jesus seine ZuhörerInnen sieht oder anspricht und welches Verhältnis dadurch deutlich wird. Sogar wenn die GesprächspartnerInnen einer Aussage Jesu zustimmen, folgt danach meist eine Relativierung bis hin zum Widerspruch. Diese Tendenz zum Widerspruch geht aber nicht nur von Jesus aus: Aussagen oder Handlungen Jesu werden ebenfalls angefragt oder direkt kritisiert, auch von den JüngerInnen (z.B. Philippus 6,7; Gruppe 11,8; Petrus 13,6.8.37; Thomas 14,5). Und auch in Gesprächen ohne Beteiligung Jesu gibt es solche Gegensätze. Unverständnis und Nicht-Zustimmung in mehr oder weniger aggressiver Form prägen den Charakter der johanneischen Dialoge. Zu den verschiedenen möglichen Reaktionen im Laufe eines Gesprächs mit Jesus gehören nicht nur (unverständige) Nachfragen und Widersprüche, sondern es gibt auch Fälle von falsch motivierter Zustimmung. Die Samaritanerin bittet Jesus in 4,15 um Wasser und kommt so Jesu Aufforderung aus 4,10, dies zu tun, nach. Thomas äußert in 11,16 die Bereitschaft, mit Jesus zu gehen, nachdem zuvor die JüngerInnen seiner Absicht widersprochen haben. Die jeweils dazu genannte Begründung macht jedoch deutlich, dass beide ohne Verständnis, aus falschen Motiven handeln.93 Dieses Phänomen erschwert die Erhebung und Bewertung des Verhaltens der verschiedenen Personen zusätzlich und grundsätzlich, da hierdurch auch ein im Kontext angemessenes Verhalten fragwürdig wird. Verschiedene Aspekte des Gesprächsverhaltens scheinen mir besonders aufschlussreich hinsichtlich der Charakterisierung der beteiligten Personen zu sein. Einen wichtigen Beitrag leisten Aussagen über die Person Jesu. Dazu gehören Bekenntnisse im engeren Sinne, aber auch ein weiteres Feld strukturell verwandter Aussagen. Sie zeigen ein bestimmtes Verhältnis zu Jesus, was wiederum die aussagende Person charakterisiert. Anhand der Reaktion Jesu und durch einen inhaltlichen Vergleich mit anderen Textstellen lässt sich erheben, wie angemessen die jeweilige Aussage im Rahmen des JohEv ist. chene Worte begegnen jedoch auch im Gesprächsablauf, wo sie wie ganz normale Gesprächsbeiträge behandelt werden, d.h. Jesus beantwortet sie. 93 Auch in 6,26 hinterfragt Jesus die Gründe, die zu einem bestimmten – durchaus angemessenen – Verhalten geführt haben.

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Charakterisierung im JohEv

Zuvor sollen aber zwei stärker strukturell erfassbare Phänomene im Gespräch untersucht werden: Fragen und Aufforderungen, und zwar insbesondere die an Jesus gerichteten.94 Sowohl die Frage, wer welche Art von Fragen oder Aufforderungen formuliert, als auch die jeweilige Einbettung in die Dialoge und die Reaktionen auf sie können für die Charakterisierung der Figuren ausgewertet werden. 4.2 Fragen Viele Fragen im JohEv sind zwar grammatisch Fragen, aber inhaltlich eher Aussagen, weil die Antwort (vor allem ja oder nein) implizit schon klar ist. So können Fragen Bekenntnisse enthalten, die auch entsprechend verstanden werden (z.B. 4,29). Sie können aber auch Kritik und Widerspruch oder allgemeiner Unverständnis zu anderen Gesprächsaussagen oder Handlungen (13,6) ausdrücken. Mitunter haben sie auffordernden Beiklang (2,18; 6,30). Besonders deutlich wird dieser uneigentliche Charakter mancher Fragen, wenn innerhalb des Evangeliums auf frühere Aussagen verwiesen wird („habe ich dir nicht gesagt ...“ 11,40).95 Dieser formalen Vielfalt entspricht auch eine in Inhalt und Verteilung auf die vorkommenden Personen. Aus der Fülle der Möglichkeiten sollen hier nur zwei Phänomene in den Blick genommen werden, die die Gruppe der JüngerInnen schärfer profilieren: Zum einen gibt es eine inhaltlich zusammengehörige Gruppe von Fragen, die von verschiedenen Personen auf Jesu Ankündigung seines Weggehens hin erfolgen, und zum andern Fragen, von denen ausdrücklich gesagt wird, dass sie nicht gestellt werden.96 Viele Fragen machen im größeren Kontext das Unverständnis der fragenden Person deutlich. Wie wenig hier ein Verständnisvorsprung etwa der JüngerInnen gegenüber der Menge oder den I>oudai~oi festzumachen ist, sollen beispielhaft die verschiedenen Rückfragen zum Thema „Weggehen Jesu“ zeigen. Jesus kündigt an verschiedenen Stellen sein Weggehen an und löst damit an mindestens fünf Stellen kritische Rückfragen aus: 94

Ein grundsätzliches Problem stellt sich dabei: Ich habe die verschiedenen Aspekte unter anderem anhand der Satzart (Frage, Aufforderung, Aussage) differenziert. Allerdings stimmt im JohEv an vielen Stellen die grammatische Analyse der Satzart nicht mit der inhaltlichen Interpretation der Stelle als Frage, Aufforderung oder Aussage überein. Es gibt eine Vielzahl von (sprachlich-grammatischen) Fragen, die im Kontext eindeutig als Aussagen zu verstehen sind – als Widersprüche, Kritik oder auch als Bekenntnisaussagen. Auch Aufforderungen begegnen indirekt formuliert. Ich werde zu den einzelnen Punkten möglichst genau definieren, welche Gesprächsbeiträge aus welchen Gründen zusammengeordnet werden. Dieses Verfließen klarer Grenzen bzw. die Widersprüche zwischen grammatischer und inhaltlicher Bestimmung von Sätzen scheinen mir jedoch auch insgesamt ein wesentlicher Aspekt johanneischer Dialoge zu sein. 95 Verweis auf Aussagen, die nicht im Evangelium gemacht werden: 4,35. 96 Allgemein zu Fragen vgl. Neyrey, Sociology, 90–92.

Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen) 7,33f

Jesus

7,36

I>oudai~oi

8,21

Jesus

8,22

I>oudai~oi

13,33

Jesus

13,36 13,36

Petrus Jesus

13,37

Petrus

14,3f

Jesus

14,5

Thomas

16,16

Jesus

16,17f

JüngerInnen

83

Ich bin noch kurze Zeit bei euch und ich gehe zu dem, der mich gesandt hat. Ihr werdet mich suchen und nicht finden und wo ich bin könnt ihr nicht hingehen. Wo will dieser hingehen, dass wir ihn nicht finden können? Will er etwa in die Diaspora der Griechen gehen und die Griechen lehren? Was ist dieses Wort, das er sagte: Ihr werdet mich suchen und nicht finden und wo ich bin, könnt ihr nicht hingehen.97 Ich gehe und ihr werdet mich suchen und in eurer Sünde sterben. Wo ich hingehe, könnt ihr nicht hingehen. Will er sich etwa töten, dass er sagt: Wo ich hingehe, könnt ihr nicht hingehen? Kinder, ich bin noch kurze Zeit bei euch. Ihr werdet mich suchen und wie ich zu den Juden sagte: Wo ich hingehe, könnt ihr nicht hingehen, sage ich jetzt auch euch. (13,34f: neues Gebot: Liebe) Herr, wo gehst du hin? Wo ich hingehe, kannst du mir jetzt nicht folgen, du wirst mir aber später folgen. Herr, weshalb kann ich dir jetzt nicht folgen? Ich werde mein Leben für dich geben. Und wenn ich gehe und euch einen Ort vorbereite, werde ich wieder kommen und euch zu mir nehmen, damit, wo ich bin, auch ihr seid. Und wo ich hingehe, ihr wisst den Weg Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst. Wie können wir den Weg wissen? Noch kurze Zeit und ihr werdet mich nicht mehr sehen und wieder kurze Zeit und ihr werdet mich sehen. Was ist dies, was er uns sagt: Noch kurze Zeit und ihr werdet mich nicht sehen und wieder kurze Zeit und ihr werdet mich sehen? Und: Ich gehe zum Vater? (16,10) ... Wir wissen nicht, was er sagt.

Die thematische Verwandtschaft dieser Stellen ist deutlich. Jesus kündigt in nur leicht variierenden Formulierungen sein baldiges Weggehen an, das eine Trennung von den jeweiligen ZuhörerInnen bedeutet. In 13,33 wird sogar ausdrücklich eine Verbindung zwischen den an die I>oudai~oi und den an die JüngerInnen gerichteten Ansagen hergestellt. Ebenfalls parallel sind die Reaktionen bzw. Rückfragen der Angesprochenen: Sie verstehen die Worte Jesu nicht und sagen dies auch ausdrücklich, oftmals unter Wieder97 Kursiv gedruckt sind die Stellen, an denen der Text ausdrücklich auf frühere Aussagen Bezug nimmt.

84

Charakterisierung im JohEv

holung der Formulierung Jesu. Hinzu kommen Ideen zur Deutung bzw. Widersprüche gegen die Aussagen, die gleichfalls Unverständnis ausdrücken. Die Vermutung, Jesus würde zu den GriechInnen ziehen wollen, ist dabei auf der Oberfläche zunächst genauso falsch wie die Bereitschaft des Petrus, für Jesus zu sterben.98 Trotzdem sind die Dialogabschnitte nicht völlig gleich. Der Unterschied liegt aber nicht im Verständnis oder Verhalten der GesprächspartnerInnen Jesu, sondern in dem, was Jesus zu ihnen sagt.99 Den JüngerInnen gegenüber bringt er eine zusätzliche Zeitebene ein: Einerseits kündigt er ihnen wie den I>oudai~oi die Trennung an und stellt fest, dass sie ihm nicht folgen können. Andererseits stellt er für eine spätere Zeit eine Aufhebung der Trennung in Aussicht. Petrus kann zwar nicht jetzt, wohl aber später folgen (13,36). Der kurzen Zeit bis zur Trennung folgt eine weitere Zeitspanne bis zu einem Wiedersehen (16,16). Dieses „Später“ liegt bei Petrus eindeutig jenseits der im Evangelium erzählten Zeit.100 Außerdem setzt Jesus ein Verständnis der JüngerInnen voraus, was aber im unmittelbaren Kontext unberechtigt ist. Auch diese Diskrepanz kann als Verweis auf die Zukunft, in der das von Jesus erwartete Wissen tatsächlich vorhanden ist, verstanden werden. D.h. an diesem Beispiel wird deutlich, dass weder im Verhalten noch im Verständnis grundlegende Unterschiede zwischen verschiedenen GesprächspartnerInnen Jesu bestehen. Eine Differenz wird von Jesus gesetzt – und sie liegt vor allem in der Zukunft. Nicht in den im Evangelium erzählten Ereignissen, sondern erst jenseits davon wird also die Besonderheit der Gruppe der JüngerInnen greifbar. An insgesamt drei Stellen im Evangelium wird ausdrücklich eine Frage erwähnt, die nicht gestellt wird. Subjekt des Fragens sind immer die JüngerInnen. Festgestellt wird dieser Umstand teils durch die Erzählstimme, teils durch Jesus selbst. In 4,27 wundern sich die JüngerInnen über Jesu Gespräch mit der Samaritanerin, fragen aber nicht, was er sucht oder warum er mit ihr redet. In 16,5 stellt Jesus fest, dass er zum Vater (zu dem, der ihn gesandt hat) geht, aber niemand ihn fragt, wo er hingeht. Und in 21,12 schließlich wagen die JüngerInnen nach dem Fischzug nicht, den mit ihnen 98 Auf einer tieferen Ebene enthält aber beides durchaus auch Wahrheit. Das Evangelium setzt voraus, dass Petrus für Jesus sterben wird (21,19) und dass Jesus auch für andere „Schafe“ zuständig ist (10,16). Und auch, dass Jesus sich tötet, in dem Sinn, dass er sein Leben selbst gibt (10,18), hat richtige Aspekte. 99 Vgl. Kelber, Metaphysics, 149. Conway (vgl. Gender, 85) sieht die Unterschiede beim Vergleich der Gespräche mit Nikodemus und mit der Samaritanerin ebenfalls im Verhalten Jesu. 100 Ob das in 16,16 angekündigte Wiedersehen in den Ostererscheinungen erfüllt ist oder über sie hinausweist, ist strittig – ich denke, dass zumindest in der Hauptsache eine spätere Zeit, jenseits des Evangeliums, gemeint ist.

Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen)

85

Mahl haltenden Jesus zu fragen, wer er ist. Aufschlussreich für dieses Phänomen ist der weitere Kontext in Joh 16: Dort erkennt Jesus in 16,19 eine beabsichtigte Frage der JüngerInnen, die sie zuvor untereinander gestellt haben (16,17f). In 16,23 kündigt er an, dass sie ihn an einem zukünftigen Tag nicht mehr fragen bzw. bitten werden – an dieser Stelle ist unklar, ob e>rwta/w im Sinne von fragen oder, was wahrscheinlicher ist, von bitten gemeint ist.101 In 16,30 schließlich stellen die JüngerInnen fest, dass Jesus alles weiß und deshalb nicht gefragt werden muss. Insbesondere 16,19 und 16,30 zeigen also, dass für die Kommunikation zwischen Jesus und den JüngerInnen nicht entscheidend ist, ob die Fragen auch gestellt werden. Eine Beantwortung ist trotzdem möglich.102 In 4,27 wird die Frage nicht explizit aufgegriffen, aber indirekt beantwortet: Das Verhalten der Frau in 4,28–30, die in ihrem Dorf von Jesus erzählt und dadurch die Leute zu Jesus bringt, kann als Motivation der Haltung Jesu ihr gegenüber verstanden werden. Sie verhält sich wie Andreas und Philippus in Joh 1, die weitere JüngerInnen gewinnen – die Zuwendung Jesu zu ihr ist also ähnlich fruchtbar wie die zu Andreas und Philippus. Außerdem wird im Folgenden (4,35–38) eine Konkurrenzsituation zwischen den JüngerInnen und anderen thematisiert (Säende und Erntende). Auch dies kann als Eingehen auf die unausgesprochene Frage verstanden werden. Auch in 21,12 wird die nicht gestellte Frage, wer der Erschienene ist, durch den Kontext beantwortet. Einerseits geben sich die JüngerInnen selbst eine Antwort, andererseits tritt Jesus als Herr auf, der Brot und Fisch verteilt (21,13), und schließlich leitet das ganze Wunder zu dieser Erkenntnis hin, die der geliebte Jünger schon in 21,7 ausspricht. Was aber ist dann die Funktion der nicht gestellten Fragen, warum werden sie nicht entweder ausgesprochen oder einfach weggelassen? Die LeserInnen erhalten durch diese Fragen Einblick in das Innenleben der Figuren, die Fokussierung rückt näher an die JüngerInnen heran. Dadurch entsteht m.E. eine engere Verbindung mit den LeserInnen als da, wo die JüngerInnen eher distanziert dargestellt werden.103 Inhaltlich bieten die Fragen eine zusätzliche Perspektive auf die Situation. Die JüngerInnen können an der konkreten Stelle verschieden reagieren, sie können gleich verstehen oder nachfragen – es wird aber auf alle Fälle deutlich, dass die Reaktion nicht ganz einfach und glatt erfolgt, es ist ein Hinweis auf eine 101 Der Satz kann auf den vorausgehenden Kontext (16,19) bezogen werden, dann ginge es um Fragen. Die direkt folgenden Sätze (16,23b.24) handeln jedoch vom Bitten. 102 Allerdings ist in 16,5 nicht ganz klar, ob auch hier eine vorhandene Frage aufgegriffen oder eher zu einer aufgefordert wird. Im Folgenden behandelt Jesus eher das Schicksal der JüngerInnen, als dass er sein eigenes Weggehen näher ausführt. 103 Auch Martinus C. de Boer (vgl. John 4:27, 228) sieht in Joh 4,27 eine Nähe zu den LeserInnen, allerdings aufgrund von inhaltlich-historischen Überlegungen.

86

Charakterisierung im JohEv

Schwierigkeit. Aus dem Kontext wird nicht ohne weiteres deutlich, ob es besser gewesen wäre, die Frage zu stellen – aber in der Tendenz hätten die JüngerInnen sich dadurch eher als unverständig erwiesen. Die LeserInnen werden durch die unausgesprochenen Fragen einerseits auf Probleme aufmerksam gemacht; es wird ihnen vergegenwärtigt, dass solche Fragen möglich sind. Zugleich aber wird durch das Nichtstellen der Inhalt der Fragen problematisiert; es entsteht ein stärkeres Signal zum Innehalten und eigenem Nachdenken, als wenn die Fragen einfach Bestandteil des Gesprächs wären. Wenn also Meinungen der LeserInnen aufgegriffen werden, dann werden sie zu einer Revision dieser Meinung aufgefordert, die sie aus eigener Erkenntnis durchführen können. Wenn die LeserInnen die Fragen aus dem Kontext des Evangeliums beantworten können, entsteht eine Verbindung, aber auch eine Distanz zu den JüngerInnen. Die LeserInnen haben bereits mehr verstanden als die JüngerInnen in der Erzählwelt des Evangeliums.104 Die unausgesprochenen Fragen sind also nicht nur ein Signal, das zur Beantwortung einlädt, sondern sie weisen auch in der Erzählzeit des Evangeliums über diese hinaus und auf die Zeit und Personen hin, die das Stellen der Fragen nicht brauchen. 4.3 Aufforderungen Aufforderungen sind zunächst die grammatisch identifizierbaren Imperative. Diese bilden den Kern der untersuchten Stellen, da nur sie wirklich eindeutig bestimmbar sind. Andere Äußerungen, die auffordernden Charakter haben, obwohl die grammatische Form dies nicht festlegt, beziehe ich nur sehr sparsam ein und nur dann, wenn eine solche Deutung durch den Kontext dringend nahe gelegt wird.105 Insbesondere viele Sätze mit einer doppelten Ausrichtung, z.B. Verheißungen für Glaubende, die natürlich auch zum Glauben auffordern, oder Fragen nach Zeichen Jesu (2,18; 6,30), die mit der Frage auch eine Forderung beinhalten, sind um der Übersichtlichkeit willen ausgeklammert. Für die Charakterisierung besonders interessant sind einerseits die Imperative, die von einzelnen Personen oder Gruppen an Jesus gerichtet werden, und andererseits die Aufforderungen Jesu an andere, jeweils mit den Reaktionen der Angesprochenen. Die Mehrzahl aller Imperative wird von Jesus ausgesprochen.106 Weniger relevant für die Untersuchung sind die Imperative ohne direkte Beteiligung von Jesus. Sie kommen in Interaktionen zwischen JüngerInnen und weiteren Personen vor (1,46; 2,5; 4,29; 11,16), die 104 Ähnlich verweist auch die Feststellung von Nichtwissen bei den JüngerInnen auf diejenigen, die es wissen. 105 Es handelt sich in 2,3 und 11,3 um Aussagen, die eine Aufforderung zum Handeln (Wunder) implizieren. 106 Sie richten sich in den verschiedensten Kontexten an andere Menschen, aber auch an Gott.

Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen)

87

PharisäerInnen sind beteiligt (7,52; 9,21.24; 12,19) sowie Pilatus und die I>oudai~oi im Zusammenhang des Prozesses Jesu.

Der folgende Überblick erfasst die an Jesus gerichteten Aufforderungen, darunter auch einige wenige, die nicht ausdrücklich Imperative enthalten.107

Reaktion Ablehnung (Wunsch später erfüllt) 4,15 Aufforderung zur Gegenaufforderung: Bitte in 4,10 Mann holen 4,31 Ablehnung: Ich habe andere Speise 4,49 Basilikos Herr, komm herab, Gegenaufforderung: bevor mein Kind Geh, dein Kind lebt stirbt (also Wunsch erfüllt) 6,34 Menge Herr, gib uns solches Jesus sieht sich Selbstaussage: Ich Brot als Geber in 6,27 bin das Brot 7,3f Geschwister Geh hinab, zieh nach Kritik an Geschwistern Judäa ... Ablehnung (7,8) offenbare dich der (später Wunsch Welt erfüllt) 10,24 I>oudai~oi Wenn du der Christus Ablehnung: habe es bist, sage es offen gesagt, ihr glaubt nicht (Wunsch ist also schon erfüllt) 11,3 Maria, indirekt: Herr, siehe, Feststellung: KrankMartha der, den du liebst, ist heit nicht zum Tod krank Bleibt noch 2 Tage (später Wunsch erfüllt) 11,34 I>oudai~oi Herr, komm und sieh Frage Jesu: Wo Jesus weint, habt ihr ihn kommt zum Grab hingelegt? (11,38) 13,8 Petrus Du sollst mir niemals Absicht Jesu Ablehnung: wenn die Füße waschen Erklärung in 13,7 nicht ... hast du keinen Anteil an mir 13,9 Petrus Herr, nicht nur die Erklärung in Ablehnung: Nur Füße Füße, sondern auch 13,8b nötig Hände und Kopf 2,3

Person Mutter

Aufforderung indirekt: sie haben keinen Wein SamaritaHerr, gib mir solches nerin Wasser JüngerInnen Rabbi, iss

Veranlassung

107 Neben dem abgekürzten Satz des Petrus in 13,9 (das Verb muss aus dem Kontext ergänzt werden, eindeutig als Imperativ) sind es zweimal Frauen, die auf diese indirekte Weise Jesus zu einem Wunder auffordern (die Mutter Jesu in 2,3 und Maria und Martha in 11,3). Dies ist bestimmt kein Zufall, vgl. Schmidt, Randfiguren, 76f.97f.211 zur indirekten Kommunikation von Frauen im AT (Königebücher); auch Spencer, You, 45f und passim, zum typischen Gesprächsverhalten von Frauen im JohEv.

88

Charakterisierung im JohEv

14,8

Person Philippus

20,15 Maria Magdalena

Aufforderung Herr, zeige uns den Vater

Veranlassung

Herr, wenn ... sage mir, wohin du ihn gelegt hast

Frage: Warum weinst du, wen suchst du?

Reaktion Ablehnung: Vorwurf von Unkenntnis und Unglauben (Wunsch ist also schon erfüllt) Namensanrede (Wunsch erfüllt und wieder entzogen)

Aufforderungen an Jesus richten die JüngerInnen als Gruppe sowie einzelne JüngerInnen (Jesu Mutter, die Samaritanerin, der Basilikos, Maria und Martha, Philippus, Petrus, Maria Magdalena), aber auch die Menge, die Geschwister Jesu und die I>oudai~oi (als Gruppe im Gespräch mit Jesus oder näher bestimmt als die Trauergesellschaft in Bethanien). Dieses Verhalten ist also nicht spezifisch. Auffällig ist, dass einige dieser an Jesus gerichteten Imperative von ihm selbst vorbereitet bzw. gefordert sind. D.h. Jesus fordert die Samaritanerin ausdrücklich auf, ihn um Wasser zu bitten (4,10), und das tut sie dann auch (4,15). Ähnlich vorbereitet ist auch die Bitte der Menge um Brot (6,27.34). Wieder andere Aufforderungen sind durch eine Frage Jesu (nach dem Ort des Leichnams des Lazarus in 11,34 oder nach der Suche von Maria Magdalena in 20,15) veranlasst. Andere Imperative an Jesus gehen auf eigene Initiative zurück: In 4,31 fordern die JüngerInnen Jesus auf zu essen; in 4,49 bittet der Basilikos Jesus zu ihm zu kommen; in 7,3 fordern die Geschwister Jesus zum Gehen nach Judäa auf; in 10,24 wollen die Juden von Jesus eine klare Aussage, ob er der Christus ist; in 14,8 will Philippus, dass Jesus den Vater zeigt. Motiviert durch das Verhalten Jesu im Kontext, aber als Protest gegen dieses gerichtet ist 13,8f, wo Petrus das Waschen seiner Füße durch Jesus zunächst ablehnt, dann auch das Waschen des Kopfes fordert. Die Reaktionen Jesu sind entweder verzögernd oder ablehnend, er kommt den Aufforderungen jedenfalls nicht einfach nach. Ausdrücklichen Widerspruch äußert er in 4,32; 7,8;108 13,8–10. Auch in 10,25 und 14,9f wehrt er ab, macht aber zugleich deutlich, dass der Wunsch eigentlich schon erfüllt ist. Dem Basilikos wird seine Bitte der Sache nach erfüllt (der Sohn wird geheilt), auch wenn Jesus nicht zu ihm kommt, sondern ihn wegschickt (4,50). Ebenfalls im Zusammenhang mit einem Wunder stehen auch die beiden indirekten Aufforderungen an Jesus. In 2,2 weist Jesu Mutter ihn auf den fehlenden Wein hin und in 11,3 teilen Maria und Martha die Krankheit ihres Bruders mit.109 Wie bei der Heilung des Sohnes des Basilikos lässt sich auch hier feststellen, dass Jesus die Bitten erfüllt, obwohl er 108 109

In 7,10 kommt er der Aufforderung aber doch nach. Auch 11,22 kann als indirekte Aufforderung zum Wunder verstanden werden.

Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen)

89

zunächst abwehrend reagiert.110 Auch in 20,16 wird Marias Bitte in gewisser Weise erfüllt, allerdings nicht ihrer Vorstellung entsprechend – Jesus ignoriert hier die Aufforderung. Selbst in 11,34–38, der am wenigsten abwehrenden Reaktion Jesu auf eine Aufforderung, folgt zunächst ein Zwischenspiel (Jesus weint – Bedeutung unklar), bevor er der Aufforderung entspricht. Auch an den Stellen, an denen Jesus selbst die Aufforderung vorbereitet hat, wehrt er den konkreten Wunsch ab oder modifiziert ihn: In 4,16 schickt er die Samaritanerin weg, statt ihr Wasser zu geben; in 6,35 offenbart er sich selbst als Brot. Von den Kontexten her betrachtet, finden sich die freundlichsten Reaktionen im Zusammenhang mit Wundern: Jesus erfüllt die an ihn herangetragenen Wünsche zumindest in wesentlichen Teilen, aber auch hier nicht ohne weiteres. Dieser Überblick zeigt zunächst die Souveränität Jesu gegenüber Aufforderungen.111 Wenn Jesus seinerseits Aufforderungen an andere richtet, wird ihm zwar manchmal widersprochen, aber im Normalfall werden seine Worte akzeptiert und befolgt. Für diejenigen, die Jesus um etwas bitten, ist die Darstellung ambivalent: Einerseits kommt Jesus der Aufforderung oft nach, insbesondere in Form von Wundern. Andererseits äußert sich Jesus auch oft kritisch und weist so auf Unverständnis auf Seiten der Bittenden hin. Am schärfsten erscheint mir diese Kritik gegenüber Petrus, Philippus und den Geschwistern. Petrus ist der einzige, bei dem die doppelte Aufforderung nicht einmal ansatzweise erfüllt wird. Von den Aufforderungen, die Jesus an andere richtet, ist eine große Zahl in eine längere Rede eingebettet, so dass keine direkte Reaktion, also eine Umsetzung der Aufforderung oder ein Widerspruch, erfolgt. Oft ist dies auch sachlich schwer möglich, weil die Aufforderungen sehr allgemein (nicht wundern, glauben, ...) oder in die Zukunft gerichtet sind (nicht sündigen, erinnern, ...). Klare Aufforderungen, deren Umsetzung ausdrücklich erwähnt ist, begegnen vor allem im Zusammenhang mit Wundern: In 2,7f an die DienerInnen gerichtet, in 4,50 an den Basilikos, in 5,8 an den Kranken, in 6,10.12 an die JüngerInnen im Zusammenhang der Speisung, in 9,7 an den Blindgeborenen, in 11,39 an die vor dem Grab des Lazarus Anwesenden, in 11,43 an Lazarus und in 21,6.10 beim Fischfang. Bemerkenswert ist hier vor allem der Basilikos, der der Aufforderung Jesu nachkommt, obwohl sie seinem eigenen ausdrücklichen Wunsch widerspricht. Noch an einigen 110 Giblin (vgl. Suggestion, 197) erkennt in diesen drei Wundergeschichten sowie in der Aufforderung der Geschwister Jesu zum Festbesuch ein Muster von Aufforderung, negativer Reaktion und positiver Handlung Jesu. 111 Vgl. Giblin, Suggestion, 210.

90

Charakterisierung im JohEv

wenigen, aber wichtigen Stellen wird die Ausführung berichtet: bei den in 1,39 zum Kommen und Sehen aufgeforderten Jüngern; bei den Geschwistern Jesu, die nach Jerusalem gehen sollen (7,8); bei Maria Magdalena, die ihren in 20,17 erhaltenen Auftrag ausrichtet; auch das Bekenntnis des Thomas ist eine Erfüllung der Forderung zu glauben (20,27); und schließlich kommen die JüngerInnen der Aufforderung zum Mahl in 21,12 nach. Die Aufforderung zur Verherrlichung an den Vater in 12,27f wird durch eine Stimme bestätigt. An weiteren Stellen kann eine Umsetzung der Aufforderung aus dem Kontext erschlossen werden.112 Eine gespaltene Reaktion einer größeren Gruppe gibt es als Reaktion auf die Aufforderung Jesu, zu kommen und zu trinken, in 7,37. Sie bezieht sich allerdings weniger auf die konkrete Aufforderung als auf die Person Jesu insgesamt, zu der verschiedene Meinungen geäußert werden.113 Ausdrücklich abgelehnt werden Aufforderungen Jesu nur an wenigen Stellen: Die Samaritanerin weist sowohl die Bitte Jesu um Wasser (4,7) als auch die Aufforderung, ihren Mann zu rufen (4,16), zurück – und wird im zweiten Fall von Jesus in ihrer Haltung bestätigt. Martha protestiert gegen den Wunsch, den Stein vom Grab des Lazarus zu entfernen (11,39). Auch die Rückfrage der I>oudai~oi auf Jesu Aufforderung hin, den Tempel abzubrechen (2,19), kann als Ablehnung verstanden werden. Gleiches gilt für den Versuch, Jesus zu ergreifen, der seine Aufforderung zu glauben in 10,38 beantwortet. Und schließlich kritisiert ein Knecht des Hohepriesters Jesu Aufforderung, diejenigen zu befragen, die seine Lehre gehört haben (18,21). Es lässt sich also festhalten, dass eine ausdrückliche Befolgung von Aufforderungen Jesu von vielen verschiedenen Menschen berichtet wird. Es fehlt jedoch – abgesehen von der Wegnahme des Steines vom Grab des Lazarus – eine solche Feststellung für die Menge oder die I>oudai~oi. Werden die mit Wundern verbundenen Stellen ausgeklammert, dann erscheint das Erfüllen von Aufforderungen vor allem als typisch für die JüngerInnen.114 Bei den ausdrücklichen Ablehnungen von Forderungen Jesu ist je112 Z.B. bei der Aufforderung an Judas in 13,27, sein Vorhaben bald durchzuführen. In 6,20 sollen die JüngerInnen sich nicht fürchten – ihre Absicht, Jesus ins Boot zu nehmen, spricht für den Erfolg. Die Aufforderung zur Nachfolge an Philippus in 1,43 führt dazu, dass er seinerseits Nathanael findet. Auch die Nachfrage nach Handlungsmöglichkeiten durch die Menge kann als Eingehen auf die Forderung, sich Speise zu schaffen (6,27), verstanden werden. Die weiteren Ereignisse zeigen, dass die Kohorte bei der Verhaftung Jesu seinem Wunsch entsprechend (18,8) die Übrigen gehen ließ. Die Nachfolge des Petrus, zu der er in 21,19.22 aufgefordert wird, ist durch die Art seines Todes belegt. Unklar ist, ob das Verhalten des geheilten Kranken der Forderung, nicht zu sündigen (5,14), entspricht. 113 Dazu s.u., II.4.4. 114 Das Ziehen der Geschwister Jesu nach Jerusalem ist hier die deutlichste Ausnahme – allerdings ist es keine ganz direkte Reaktion auf den Befehl Jesu in 7,8 und sie wird auch eher indirekt festgestellt.

Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen)

91

doch keine vergleichbare Verteilung festzustellen: So reagieren sowohl die JüngerInnen (ganz dezidiert die Samaritanerin, Martha) als auch die I>oudai~oi und der Knecht des Hohepriesters. Wie offen hier die Situation ist, zeigt auch die Reaktion Jesu auf die Ablehnung der Samaritanerin in 4,17 – ihr Verhalten wird ausdrücklich als richtig gelobt. 4.4 Bekenntnisaussagen Für die Charakterisierung von Personen im JohEv ist ihr Verhältnis zu und ihre Sicht von Jesus von entscheidender Bedeutung. Im Dialog äußern Personen oft ganz direkt, was sie von Jesus halten. Dies sind Aussagen, die als bekenntnisartig bezeichnet werden können, wenn sie sowohl eine Einschätzung der Person Jesu enthalten als auch ein Verhältnis der aussagenden Person zu ihm implizieren. Das JohEv insgesamt ist nach 20,31 dazu geschrieben, um zu einer bestimmten Sicht Jesu zu führen bzw. Glauben an den so Verstandenen zu bewirken. Aussagen über Jesus können inhaltlich sehr unterschiedlich gefüllt sein. Um sie für die Charakterisierung der aussprechenden Personen auszuwerten, ist es nötig zu klären, ob der Inhalt innerhalb des JohEv als angemessen anzusehen ist. Zum Vergleich wichtig sind dabei vor allem Aussagen der Erzählstimme und Selbstaussagen Jesu. Wenn in 20,31 als Ziel des Evangeliums formuliert wird, Glauben an Jesus als den Christus und Gottes Sohn zu bewirken, dann kann eine entsprechende Aussage von Martha in 11,27 als angemessen eingeschätzt werden. Ein anderer Zugang zur Auswertung der Aussagen ergibt sich über die durch sie ausgelöste Reaktion, insbesondere wenn Jesus selbst sie kommentiert. Aber wie ist nun eine Bekenntnisaussage formal zu bestimmen? Als Musterbeispiel kann zunächst von der oben genannten Aussage von Martha in 11,27 ausgegangen werden, denn sie hat besondere Bedeutung durch die inhaltliche Beziehung zu 20,31 und wird allgemein als Bekenntnis anerkannt. Sie hat folgende formale Merkmale:115 – sie macht eine betonte Ich-Aussage: ich glaube;116 – als dass-Satz angeschlossen ist eine Aussage über Jesus, die ihn durch Verwendung von Titeln oder auf andere Weise beschreibt: du bist der Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. 115 Vgl. zu den formalen Merkmalen eines Bekenntnisses auch Hoegen-Rohls, Johannes, 256. Für sie ist allerdings auch ein auf die Zeit nach Ostern verweisender Inhalt der Aussagen wesentlich, dadurch sieht sie nur in 6,68f und 11,22.27 Bekenntnisse. 116 Hier kann als Verb „glauben“, aber auch „wissen“, „erkennen“, „sehen“, „finden“, ... Verwendung finden – sie alle können im JohEv eine tiefere theologische Einsicht bezeichnen. Das Perfekt drückt wohl eher die Intensität als einen zeitlichen Ablauf aus, vgl. Frey, Eschatologie II, 103–105.

92

Charakterisierung im JohEv

Eine entsprechende Struktur hat etwa auch das Bekenntnis des Petrus in 6,69, interessanterweise aber auch die Aussage der I>oudai~oi in 8,52 („wir haben erkannt, dass du einen Dämon hast“). Nicht jede von der Form her bekenntnisartige Aussage enthält also ein inhaltlich positives Bekenntnis zu Jesus. Auch negativ erscheinende Aussagen sollten einbezogen werden, denn bei allen Aussagen muss erst erhoben werden, ob sie inhaltlich angemessen sind. Viele weitere Aussagen entsprechen jedoch der formalen Struktur nicht oder nicht ganz, obwohl sie inhaltlich und in der Funktion sehr ähnlich sind. M.E. müssen auch sie einbezogen werden. Es gibt zunächst die Abweichung, dass nicht immer Jesus angesprochen wird, sondern mitunter Dritte, z.B. in 1,41 (Andreas zu Petrus: „Wir haben den Messias gefunden“). Auch die einleitende Ich-Aussage kann fehlen, z.B. sagt Nathanael in 1,49 direkt zu Jesus: „du bist der Sohn Gottes“; dass er dies glaubt bzw. erkannt hat, ist jedoch impliziert. Auch die Aussage über Jesus kann formal (nicht nur inhaltlich) variieren. Sie kann Jesus z.B. mit einem christologischen Titel identifizieren, aber auch beschreiben. So liegt in 1,45 eine Umschreibung des Messiastitels vor („der, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben“) und in 16,30 sagen die JüngerInnen: „Wir glauben, dass du von Gott ausgegangen bist“. Ein Extremfall ist hier 9,38, wo der Blindgeborene nur „ich glaube“ sagt, eine Aussage über Jesus, nämlich seine Identifizierung mit dem Menschensohn, aber aus dem Kontext erschlossen werden kann. Schwer einzuordnen sind die Fälle, wo allein eine Anrede an Jesus eine Bekenntnisaussage sein könnte – z.B. „mein Herr und mein Gott“ von Thomas in 20,28 oder „Rabbuni“ von Maria Magdalena in 20,16. Ich beziehe sie ein, wenn sie allein stehen (es folgt keine weitere Aussage) und außerdem im Kontext veranlasst sind. Als Grenzfall kann auch 19,3, der verspottende Gruß als „König der I>oudai~oi“ durch die Soldaten, einbezogen werden. Denn auch hier liegt eine klare Identifizierung Jesu vor – schwierig ist dabei nicht der ironische Charakter der Szene, sondern eher, dass der Bezug zu den sprechenden Soldaten unklar bleibt. Auch die Aussagen, die mit „siehe“ (i]de, i>dou/) eingeleitet werden, bedeuten eine an Dritte gerichtete Aussage über Jesus. Auf diese Weise bezeichnet Johannes der Täufer Jesus als Lamm Gottes (1,29.35) und Pilatus stellt Jesus als „der Mensch“ und „euer König“ vor (19,5.14). Schließlich sind nicht alle Bekenntnisaussagen Aussagen im grammatischen Sinne, sie können auch in Frageform vorliegen: z.B. formuliert die Samaritanerin in 4,29 eine (rhetorische) Frage, „ob er der Christus sei“. Dies wird aber als ein Bekenntnis aufgenommen. Eine weitere Besonderheit sind Bekenntnisaussagen, in denen die Meinung von Personen über Jesus nicht selbst geäußert, sondern von anderen referiert wird.

Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen)

93

Im Folgenden soll ein Überblick über die möglichen Aussagen gegeben werden. Sie sind sortiert nach der Gesprächsituation (an Jesus gerichtet, an Dritte, von anderen Personen ausgesprochen). Auch die Grenzfälle sind aufgenommen, wenn aus ihnen direkt eine Aussage über Jesus abgeleitet werden kann. An Jesus gerichtete Bekenntnisaussagen: Person

Einleitung

1,49

Nathanael

3,2

Nikodemus oi]damen

4,9

6,68

Samaritanerin Samaritanerin Petrus

6,69

Petrus

7,20

Menge

8,48

I>oudai~oi

sagen wir nicht richtig

8,52

I>oudai~oi

nu~n e>gnw/kamen

9,38

Blindgebo- pisteu/w rener

4,19

cewrw~

hgnw/kamen

Aussage über Jesus

Veranlassung

Fortsetzung / Reaktion du bist der Sohn Aussage Jesu: Ich Rückfrage nach Gottes, du bist der sah dich ... Glauben / König von Israel Relativierung Jesu (Größeres sehen) von Gott kommt zu Jesus Relativierung Jesu: gekommener Lehrer Neugeburt nötig du bist Jude Bitte Jesu um Selbstaussage Jesu Wasser du bist ein Prophet Aussage Jesu theol. Frage an über ihre Männer Jesus Fortsetzung der Du hast Worte des Frage Jesu, ob ewigen Lebens Zwölf weggehen Rede des Petrus wollen du bist der Heilige s.o. Jesus: Zwölf Gottes erwählt, einer ist Teufel du hast einen Dämon

10,33 I>oudai~oi

11,22 Martha

oi}da

11,27 Martha

e>gw\ pepi/steuka

Frage Jesu: Warum versucht ihr mich zu töten? du bist Samaritaner, Vorwurf Jesu (ihr hast einen Dämon hört nicht, weil nicht von Gott) du hast einen Amen-Wort Jesu Dämon (Jesus als Frage und SelbstMenschensohn) aussage Jesu du bist ein Mensch, Erklärung für machst dich zu Gott Steinigungsabsicht was du bittest, wird Bruder gestorben Gott geben (?) du bist der Christus, Selbstoffenbarung der Sohn Gottes, der und Frage Jesu in die Welt gekommen ist

weitere Diskussion

direkter Widerspruch, weitere Diskussion Fortsetzung Rede der I>oudai~oi Proskynese Fortsetzung der Rede Jesu Diskussionsbeitrag Jesu Zusage Jesu (Bruder wird auferstehen)

94

Charakterisierung im JohEv Person

Einleitung

16,30 JüngerInnen

oi]damen pisteu/omen

19,3

sei gegrüßt

Soldaten

20,16 Maria Magdalena 20,28 Thomas

Aussage über Jesus

Veranlassung

Fortsetzung / Reaktion du weißt alles offene Worte Jesu Rückfrage nach bist von Gott Glauben, gekommen Widerspruch (ihr verlasst mich) König der Juden Dornenkrone, ... Fortsetzung Schläge Rabbi Namensanrede Jesus: Lass mich durch Jesus los mein Herr und mein Aufforderung Kritik (?) am Gott Jesu zum Glauben Glauben, Relativierung durch Seligpreisung

An Dritte gerichtete Bekenntnisaussagen: Person

Einleitung

1,29f

Johannes d.T.

i]de

1,34

Johannes d.T.

1,36

Johannes d.T.

eoudai~oi i]de er hat ihn geliebt hätte er nicht einige von machen können, ihnen dass ... 12,13 Menge gelobt sei der kommt im Namen des Herrn, der König von Israel 19,5 Pilatus (an i>dou/ der Mensch I>oudai~oi) 19,14 Pilatus an euer König i]de

Veranlassung Hören von Worten Jesu

Heilung am Sabbat

Fortsetzung / Reaktion eigenes Gegenargument, interner Streit interner Widerspruch, Spaltung

direkte Frage der (Nichtglauben der PharisäerInnen I>oudai~oi bezogen auf Heilung) Gott Ehre geben! Widerspruch des Aufforderung an Blindgeborenen Blindgeborenen Spaltung wegen interner Worten Jesu Widerspruch kommen zu Jesus

glauben

Weinen Jesu

Erregung Jesu, Wunder

hören, Jesus kommt

Jesus reitet auf Esel

Kreuzigen! Weg, kreuzigen

I>oudai~oi

19,19

Pilatus

(Aufschrift)

20,18

Maria Magdalena an JüngerInnen JüngerInnen an Thomas geliebter Jünger an Petrus

eoudai~oi den Herrn

eprofh/teusen

21,12 Erzählstimme über JüngerInnen

ei>do/tej

Aussage über Jesus dieser ist der Christus

Jesus sollte sterben für das Volk upi/steusan

von dir gekommen du hast mich gesandt es ist der Herr

Veranlassung

Fortsetzung / Reaktion Jesus redet offen eigenes Gegenargument, Diskussion mit Jesus Diskussion Todesbeschluss Synhedrium Bestätigung der Richtigkeit Jesus hat Worte gegeben

Fürbitte Jesu

Mahl Einladung zum Mahl, nicht wagen zu fragen

Diese Übersicht zeigt die Vielfalt der Bekenntnisaussagen in Inhalt und Form. Beides korrespondiert nicht, vielmehr existiert eine erhebliche Variationsbreite in beiden Bereichen unabhängig voneinander. In ganz ähnlicher Formulierung finden sich „richtige“ Bekenntnisse ebenso wie sehr fragwürdige Aussagen (9,24). Die Abgrenzung der Bekenntnisaussagen hin zu allgemeineren Beschreibungen und Gesprächsbeiträgen sowie zu Titeln bei der Anrede ist nicht klar möglich. Weiterhin ist auffällig, dass ein hoher Anteil der Aussagen nicht an Jesus selbst gerichtet ist, sondern entweder an konkret benannte Dritte oder an eine eher unbestimmte Allgemeinheit bzw. innerhalb einer Gruppe geäußert werden. Im Aufbau des Evangeliums erfolgen sie sogar zuerst, und zwar auch, wenn Johannes der Täufer unbeachtet bleibt: Bei der Berufung der ersten JüngerInnen werden von Andreas und Philippus zwei Bekenntnisse an Dritte formuliert (1,41.45), bevor das erste sich direkt an Jesus richtet (Nathanael 1,49). Die Mehrzahl der Bekenntnisaussagen identifiziert Jesus mit einem nominalen Ausdruck. Hierzu gehören die klassischen christologischen Titel, aber auch spezifische sowie alltägliche Ausdrücke. Aufgelistet in der Reihenfolge des Vorkommens: Lamm Gottes; Sohn Gottes; Messias / Christus; König von Israel / der I>oudai~oi; Lehrer (von Gott) / Rabbi; Jude; Prophet; Retter (swth/r) der Welt; Jesus, Sohn Josefs; Heiliger Gottes; Samaritaner; Sünder; Mensch; Herr; Herr und Gott. 9,38 kann als Bekenntnis zu Jesus als dem Menschensohn verstanden werden. Von diesen sind etliche im Kontext des Evangeliums eindeutig als angemessen anzusehen, weil sie durch Jesus selbst oder die Erzählstimme bestätigt werden. Messias / Christus117 und Sohn Gottes sind in 20,31 ge117

Beide Begriffe werden in 1,41 als äquivalent eingeführt.

Indirekte Präsentation: Reden (Gesprächsstrukturen)

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nannt. Als Lehrer / Rabbi118 und Herr bezeichnet sich Jesus in 13,13f ausdrücklich selber und erklärt die Benennung als angemessen. Auch andere Titel lassen sich innerhalb des JohEv als angemessen bestätigen. Der „Heilige Gottes“ (6,69) entspricht der Selbstaussage Jesu in 10,36, dass der Vater ihn geheiligt hat; als „Retter der Welt“ wird Jesus nicht nur in 4,42 bezeichnet, sondern auch in 3,16f beschrieben. Als Menschensohn stellt sich Jesus selber vor (9,35–37). König von Israel / der I>oudai~oi119 wird Jesus an verschiedenen Stellen genannt, und zwar sowohl im Kontext anderer angemessener Zuschreibungen (1,49) als auch bei Prozess, Verspottung und Kreuzigung. Beim Einzug nach Jerusalem wird diese Bezeichnung aber durch das Verhalten Jesu (er reitet auf einem Esel) mit der Deutung durch die Schrift ausdrücklich bestätigt (12,14f). Auch in 18,36f spricht Jesus von seinem Königreich und bestätigt, ein König zu sein. Die Bezeichnung ist also als sachlich angemessen zu sehen – und dies gilt unabhängig vom Kontext und den Personen, die sie äußern.120 Hoch rätselhaft ist ausgerechnet die erste titelartige Bezeichnung Jesu als Lamm Gottes (1,29.36). Sie wird inhaltlich im JohEv nicht ausdrücklich wieder aufgegriffen und so bestätigt, aber sie kann als angemessen gelten, weil Johannes der Täufer in direkter Verbindung mit Gott steht (1,6f) und Jesus sein Zeugnis insgesamt bestätigt (5,32f).121 Eindeutig unangemessen ist die Bezeichnung als Sünder (denn Gott erhört Sünder nicht, 9,31). Weniger ausdrücklich wird die Benennung als Samaritaner zurückgewiesen. Aber z.B. in 4,22 setzt Jesus sein Judesein gerade im Gegensatz zur Samaritanerin voraus. Zudem steht diese Aussage in direkter Verbindung mit dem Vorwurf der Besessenheit, dem Jesus in 8,49 ausdrücklich widerspricht. Unklar ist die Deutung der Bezeichnung als Sohn Josefs, was im Kontext gerade als Gegenteil zur Herkunft von Gott eingebracht wird (6,42), während Jesus Gott als seinen Vater betont. Aber beides kann auch eine Spannung statt einen Widerspruch ausdrücken.122 118

Auch diese Ausdrücke sind nach 1,38 gleichbedeutend. Der Unterschied zwischen König von Israel / der Juden bedeutet m.E. keine inhaltliche Verschiebung, sondern erklärt sich durch innerjüdischen (Nathanael, Menge) und außerjüdischen (Soldaten, Pilatus) Sprachgebrauch. 120 Aber in 6,14 entzieht sich Jesus, um nicht zum König gemacht zu werden! 121 Eine Verbindung des Titels zur Passion (so Wengst, Johannesevangelium I, 84; Wilckens, Evangelium, 40; dagegen Schröter, Sterben, 286f) wäre nur eine sehr indirekte Wiederaufnahme; und es gibt auch erhebliche Zweifel, ob im Lamm Gottes auf das Pessach angespielt ist, vgl. Schlund, Knochen, 173f. Im JohEv spricht also gleich zu Anfang eine autorisierte Person ein Bekenntnis aus, das wie ein christologischer Titel klingt, aber vermutlich eine Neuentwicklung aus verschiedenen Vorstellungen und den LeserInnen unbekannt ist. Dies bringt eine Spannung in die Kommunikation, die LeserInnen werden zum Mitdenken aufgefordert und auf weitere unerwartete Wendungen vorbereitet. 122 S.u., VI.1.3. 119

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Charakterisierung im JohEv

Eine eher zwiespältige Bezeichnung scheint mir der Begriff Prophet zu sein. An zwei Stellen wird er von Personen verwendet, die in der weiteren Begegnung mit Jesus noch andere Bekenntnisse äußern (4,19; 9,17).123 In 7,40 aber ist die Bezeichnung als Prophet der Sicht von Jesus als Christus gegenübergestellt. Solche internen Meinungsverschiedenheiten sind sonst eindeutig gegensätzlich (7,12). In 6,14 ist die Aussage durch das Sehen von Zeichen veranlasst und Jesus entzieht sich als Reaktion, was wohl als Widerspruch gewertet werden sollte (entweder auf den Titel Prophet hin oder auf die daraus folgende Absicht, ihn zum König zu machen). Die Sicht Jesu als Prophet erscheint also nur bedingt als angemessen.124 Eine weitere Schwierigkeit liegt in der Bezeichnung Jesu als „mein Gott“ durch Thomas (20,28). Diese Aussage ist nicht klar durch andere Aussagen im Evangelium gedeckt, aber sie ist durchaus vorbereitet. In 10,30 stellt Jesus sein Einssein mit dem Vater fest und auf den Vorwurf hin, er mache sich selbst zu Gott (10,33; auch 5,18), argumentiert er mit der Schrift, um eine Bezeichnung als Gott zu rechtfertigen (10,34f). Am Ende erhebt er aber diesen Anspruch gerade nicht (10,36), sondern bleibt beim Titel Gottes Sohn. Auch auf 20,28 folgt in 20,31 durch die Erzählstimme wieder nur der Titel als Sohn Gottes, d.h. die Aussage des Thomas wird eher zurückgenommen als bestätigt.125 Der Prolog beginnt mit der Göttlichkeit des Logos, der aber nicht unmittelbar mit Jesus gleichzusetzen ist.126 Veranlasst sind die Bekenntnisaussagen an einigen Stellen durch eine direkte Aufforderung durch Jesus oder andere Personen. Häufiger ist es aber ein bestimmtes Reden oder Verhalten Jesu, dass zu ihnen führt. Insbesondere wird oft neben konkreten Aussagen Jesu auch allgemein das Hören von Worten Jesu genannt. Auch dies ist unabhängig vom Inhalt der Aussage – das Hören kann verschiedene Bekenntnisaussagen als Reaktion zur Folge haben. Die Reaktionen auf die Bekenntnisaussagen sind vor allem von Seiten Jesu erstaunlich negativ, d.h. sie bestätigen nicht, sondern widersprechen eher. Dies gilt unabhängig davon, ob die Aussage angemessen ist oder 123

Hier könnte eine Entwicklung zu tieferer Einsicht vorliegen, aber es muss nicht so verstanden werden. 124 Als wesentliche und angemessene Beschreibung sehen Prophet aber Schnackenburg, Johannesevangelium I, 322; M. Davies, Rhetoric, 167.218. 125 Dazu s.u., V.1.4 und 3.5. 126 Vgl. M. Davies, Rhetoric, 17. Nach Davies ist Jesus im JohEv nicht Gott, nur Gottes Sohn, beim Thomas-Bekenntnis bezieht sie „mein Gott“ auf Gott, nicht auf Jesus (vgl. Rhetoric, 125f). Als Höhepunkt der christologischen Aussagen im JohEv und als Rückbindung an den Prolog sehen das Bekenntnis aber viele, vgl. Bultmann, Evangelium, 538f; Schnackenburg, Johannesevangelium III, 317; Brown, Gospel II, 1047f; Dietzfelbinger, Johannesevangelium II, 344f; Schnelle, Evangelium, 332; Thyen, Johannesevangelium, 769; Athikalam, St. Thomas, 338f. Vorsichtiger ist Wengst, Johannesevangelium II, 298f.

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nicht! Bei den unangemessenen Aussagen geht die Diskussion mit ihren gegensätzlichen Positionen weiter. Nur in 8,49 lehnt Jesus die Annahme, er sei besessen, ausdrücklich ab, an anderen Stellen wird der Widerspruch auf anderen Ebenen weitergeführt. Aber auch bei den sachlich angemessenen Bekenntnissen erfolgt im Anschluss eine Rückfrage, Relativierung oder ein mehr oder weniger deutlicher Widerspruch. Insbesondere hinterfragt Jesus den Glauben der Sprechenden (1,49; 16,31; 20,29). Mitunter wird das Bekenntnis relativiert und erscheint als unvollkommen durch eine weiterführend-überbietende Reaktion (1,50f; 11,23ff; 20,29). An anderen Stellen erfolgt ein Neueinsatz, der eine deutlich kritische Tendenz gegenüber der Bekenntnisaussage hat (3,3; 4,21; 20,17). Am schärfsten ist der Widerspruch ausgerechnet an den beiden Stellen, die Bekenntnisse der Jüngergruppe bzw. des Petrus stellvertretend für sie betreffen: In 6,70 stellt Jesus fest, dass einer der Zwölf ein Teufel ist, und in 16,32 kündigt er an, dass die Gruppe sich zerstreut und ihn verlässt. In beiden Fällen ist das eine grundsätzliche Infragestellung von Jüngerschaft. Unwidersprochen akzeptiert werden nur die Aussagen von Martha in 11,27 und des Blindgeborenen in 9,38.127 Evtl. lässt sich 21,12 als ein unausgesprochenes und auch unwidersprochenes Bekenntnis der JüngerInnen verstehen. Wenn die Bekenntnisaussage nicht an Jesus direkt, sondern an Dritte gerichtet ist, so sind einige positive Reaktionen zu verzeichnen. Sie führen dazu, dass die Angesprochenen zu Jesus kommen (1,37; 1,42; 1,47; 4,30;128 21,7) bzw. sie bleiben einfach als Glaubensaussage stehen (4,42; 9,17; 10,41f; 12,13; 20,18). An anderen Stellen wird dagegen Widerspruch von Einzelnen oder Streit in der Gruppe ausgelöst. Dies betrifft auch die JüngerInnen: Nathanael widerspricht dem Bekenntnis des Philippus (1,46) und Thomas dem der ganzen Gruppe (20,25). Insgesamt lässt sich nicht nur eine große Vielfalt bei den Aussagen und Reaktionen feststellen, sondern auch ihre breite Verteilung über die Personengruppen. Zwar werden eindeutig unangemessene Aussagen nicht von JüngerInnen gemacht, wohl aber positive auch von anderen (4,42; 10,41). Dies kann auch nur ein Teil einer Gruppe sein, der einem anderen gegenübersteht. Außerdem gibt es auch unabsichtlich wahre Aussagen, am deutlichsten markiert von Kaiphas (11,50f). 127 Hier könnte der Folgesatz in 9,39 sogar als eine Bestätigung der Aussage aufgefasst werden. Ich sehe ihn aber als den Auftakt für den nächsten Gesprächsgang, also eher auf die folgende Diskussion als auf die vorausgegangene Bekenntnisaussage bezogen. Ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass hierbei die „klassischen“ Jünger schlechter wegkommen als Personen aus dem weiteren JüngerInnenumfeld. Es gehört zur Offenheit der Gruppe: Je bekannter eine Person als JüngerIn ist, desto weniger muss dies durch die ausdrückliche Feststellung von Glauben oder Ähnlichem betont werden. 128 Weitere Reaktion: Glauben in 4,39.

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Charakterisierung im JohEv

Ein weiterer wesentlicher Punkt ist, dass sich keine Entwicklung innerhalb des Evangeliums feststellen lässt. Weder gewinnen die JüngerInnen oder andere Gruppen allmählich an Einsicht noch lässt sich eine Zäsur oder ein Umschwung feststellen. Vielmehr ist vom Anfang bis zum Ende das Spektrum an Möglichkeiten ebenso vorhanden wie die kritischen Reaktionen darauf. 4.5 Veranlassung zu Selbstaussagen Jesu – Offenbarung im Dialog? Schließlich ist noch zu fragen, gegenüber welchen Personen Jesus besonders wichtige Aussagen über sich selbst macht. Wie weit veranlassen Charaktere Jesus zu einer Selbstoffenbarung oder werden mit einer solchen gewürdigt und leisten so einen Beitrag zur inhaltlichen Entwicklung im Evangelium?129 Tatsächlich gibt es einige Fälle, wo ein Gesprächsbeitrag einer Person dazu führt, dass Jesus eine dezidiert theologische Aussage über sich selbst macht, d.h. formal mit „ich bin ...“ ansetzt. Eine solche Art von Selbstaussage macht Jesus gegenüber der Samaritanerin auf deren Messiasaussage hin (4,25f). Die Bitte der Menge um Brot veranlasst Jesus, sich selbst als Brot des Lebens zu bezeichnen (6,34f). Marthas Aussage über die Auferstehung führt Jesus zur Selbstidentifizierung als Auferstehung (11,24f). Und schließlich bewirkt die Rückfrage des Thomas nach Jesu Weggehen dessen Offenbarung als Weg (14,5f). Abgesehen davon, dass hier stärker Einzelpersonen als Gruppen beteiligt sind (die letzte Aussage wird allerdings in einem Gespräch mit allen JüngerInnen gemacht), ist die Verteilung eher breit. Auch die Veranlassung ist unterschiedlich: durch Aussage, Aufforderung oder Frage. Aber immerhin sind es gerade zwei Frauen, die durch theologische Argumentation Offenbarungen motivieren. Allerdings sind Offenbarungen Jesu nicht auf diese Vorarbeit angewiesen – die meisten Ich-bin-Aussagen werden von ihm ohne direkte Veranlassung gegeben, und zwar in ganz verschiedenen Kontexten. Hinzu kommt noch, dass sich die relevanten Offenbarungen (auch die Selbstaussagen) kaum nur auf Aussagen der Struktur „ich bin ...“ beschränken lassen. Dieser Befund legt es m.E. nicht nahe, bestimmten Personen eine besondere Rolle bei der Veranlassung von Selbstaussagen zuzuschreiben, die Auswahl ist wohl eher zufällig, es sind nicht nur JüngerInnen. 4.6 Ergebnis Wie schon die Untersuchung der direkten Beschreibungen und der Handlungen, so zeigt auch die Analyse des Gesprächsverhaltens keinen fundamentalen Unterschied zwischen JüngerInnen im engeren und weiteren Sinne und anderen Gruppen. Was die JüngerInnen tun, kommt auch bei 129

So die Idee von Scott, Sophia, 174f.

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anderen vor, sei es nun unverständiges Fragen, Aufforderungen an Jesus oder bekennende Zustimmung. Inhaltliche Nuancen sind nur schwer zu erfassen. Allen gemeinsam ist das Gegenüber zu Jesus, dessen Souveränität durchgehend betont wird. Er lässt sich von anderen Menschen nicht ergreifen: Er kommt Wünschen nicht einfach nach und entzieht sich auch fast jedem Versuch, ihn begrifflich zu erfassen – auch eine noch so angemessene Aussage über ihn bedarf weiterer Klärung und bleibt nicht einfach stehen. In einem Punkt unterscheiden sich die JüngerInnen aber doch von den anderen: Sie machen keine eindeutig unangemessenen Bekenntnisaussagen. Dies gilt nur für konkrete Aussagen über Jesus; unverständige Fragen oder abwegige Aufforderungen sind bei den JüngerInnen ebenso zu finden wie bei anderen. Dies zeigt m.E. wieder, dass ein bestimmtes Verständnis Jesu bei den JüngerInnen vorausgesetzt werden kann, auch wenn dies keineswegs mit tieferer Einsicht verbunden sein muss.130 Der zweite Unterschied liegt im Verhalten Jesu, der JüngerInnen anders anspricht, indem er für die Zukunft etwas von ihnen erwartet. Einladungen und Aufforderungen für die Zukunft ergehen an alle, aber nur bei den JüngerInnen wird ein zuversichtlicher Ausblick geboten. Er wird in der Erzählung selbst weder begründet noch ausgeführt, sondern einfach gesetzt. Vermutlich entspricht genau dies den Vorstellungen der LeserInnen.

5. Indirekte Präsentation: weitere Interaktionen 5.1 Reaktionen auf Jesus Indirekte Präsentation: weitere Interaktionen Als Reaktionen bezeichne ich von der Erzählstimme festgestellte Handlungen von Personen, die sich vor allem auf Worte, aber auch auf Handlungen Jesu beziehen. Als Beschreibung von Handlungen (im weiten Sinne) liegen sie auf einer anderen Ebene als ein normaler Gesprächsbeitrag. Sie haben deshalb oft einen zusammenfassenden oder abschließenden Charakter, ziehen eine Art Fazit aus der vorausgegangenen Interaktion. Auch wenn sie mitten in einem Gespräch erfolgen oder sogar den Auftakt für eine Interaktion bilden, betreffen sie die Person Jesu insgesamt. Dies gilt ganz besonders für kurze, summarische Notizen, die nicht Einzelereignisse berichten, sondern zusammenfassend das Wirken Jesu und die Reaktion darauf darstellen. Die Reaktionen können eine Zustimmung ausdrücken, am häufig130 Diese Aussage ist vor allem für die ausdrücklich als machtai/ bezeichneten Personen wichtig. Bei vielen weiteren Einzelpersonen entscheiden ja erst die LeserInnen, ob sie überhaupt zu den JüngerInnen zu rechnen sind, und zwar aufgrund des bei JüngerInnen zu erwartenden Verhaltens. Hier gibt es zwar etliche ambivalente Figuren, aber eindeutig ablehnende Aussagen über Jesus (du bist besessen, ein Sünder) gibt es nur von Gruppen, die nicht mit den JüngerInnen identisch sind.

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Charakterisierung im JohEv

sten ist dies Glaube. Daneben gibt es aber auch ablehnende Reaktionen, etwa nicht vorhandener Glaube oder feindselige Handlungen und Absichten. Häufig sind auch zwiespältige Reaktionen innerhalb einer Gruppe feststellbar. Schon im Prolog wird deutlich, dass die Sendung Jesu unterschiedlich aufgenommen wird. 1,9–14 bildet sozusagen eine Zusammenfassung dessen, was später im Einzelnen ausgeführt wird. Das Muster von widersprüchlichen Reaktionen, die direkt nebeneinander stehen, begegnet im Folgenden sowohl als ein Nacheinander von verschiedenen Personen wie als Wandlung oder Spaltung innerhalb einer Gruppe oder bei einer Person. Außerdem ist eine Flexibilität in der Wortwahl in diesem Abschnitt zu beobachten: Eine positive Reaktion ist hier als „aufnehmen“ und „glauben“ bezeichnet, zudem noch als „Sehen der Herrlichkeit“. Dem gegenüber steht „nicht erkennen“ und „nicht aufnehmen“. Später sind vor allem noch die Versuche zu „ergreifen“, zu „töten“, zu „steinigen“ als ablehnende Reaktionen zu verstehen. Es gibt aber etliche singuläre Formulierungen sowie Reaktionen, die nicht eindeutig bewertet werden können, wie „sich wundern“ oder „fürchten“. Am wichtigsten sind Aussagen über den Glauben meist von Gruppen, aber auch von Einzelpersonen.131 Der Glaube ist zu einem großen Teil durch Zeichen Jesu veranlasst, daneben durch seine Worte oder z.B. das Zeugnis Johannes des Täufers. Die positiven Reaktionen umfassen die meisten Gruppen, mit denen Jesus zu tun hat, oft sind es „viele“ von ihnen, die jeweils glauben. Zudem lässt sich eine weite geographische Verbreitung feststellen: Neben den JüngerInnen und nicht genauer bestimmten „vielen“ sind es SamaritanerInnen, GaliläerInnen,132 Leute jenseits des Jordan sowie insgesamt viele I>oudai~oi und schließlich noch viele Obere. Auch Pilatus lässt sich noch anfügen, dessen Absicht Jesus freizulassen (19,12) als Gegensatz zum feindlichen Ergreifen zu werten ist. Viele dieser Aussagen haben summarischen Charakter. Diesem umfassenden Erfolg stehen aber ablehnende Reaktionen gegenüber, die ebenso breit verteilt, aber geographisch weniger festgelegt sind. Auch Nichtglaube und feindliche Handlungen wie Ergreifen oder das Aufheben von Steinen sind sowohl durch Zeichen wie durch Worte Jesu veranlasst. Diese verschiedenen Reaktionen sind auch im Laufe eines Dialogs möglich, z.B. in 8,21–59, wo die Stimmung von Glauben zur offenen Ablehnung wechselt. Häufiger als solche Veränderungen sind jedoch gleichzeitige gegensätzliche Reaktionen aus einer Gruppe von ZuhörerInnen. Es können verschiedene nonverbale Reaktionen sein, etwa zwischen „ergreifen“ und „glauben“ 131 132

Zu den Einzelheiten s.u., II.3.3. Das Aufnehmen in 4,45 kann als dem Glauben analoge Reaktion verstanden werden.

Indirekte Präsentation: weitere Interaktionen

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in 7,30f oder zwischen „glauben“ und „gehen zu den PharisäerInnen“ in 11,45f.133 Die Unterschiede können sich aber auch an verschiedenen geäußerten Meinungen festmachen, wobei mitunter ausdrücklich eine Spaltung festgestellt wird. So wird in 7,40–43 diskutiert, ob Jesus der Prophet oder der Christus sei oder nicht.134 In 10,20f entsteht die Spaltung an der Frage, ob er einen bösen Geist hat. Auch in Abwesenheit Jesu werden solche gegensätzlichen Meinungen über ihn geäußert, so in 7,12 auf die Frage, ob er gut ist oder verführt, und in 9,16f unter den PharisäerInnen auf die Frage, ob er von Gott oder ein sündiger Mensch ist. Ebenfalls zu den Spaltungen können die Stellen gerechnet werden, an denen „einige“ eine abweichende Haltung gegenüber einer größeren Gruppe zeigen. Unter den JüngerInnen löst die Aufforderung Jesu an Judas unterschiedliche Deutungen aus (13,29). Auch die Kombination einer festgestellten Reaktion und einer geäußerten Meinung gibt es, und zwar in 6,66.68, wo einige JüngerInnen sich abwenden, während Petrus stellvertretend für die Zwölf ein Bekenntnis zu Jesus formuliert. Insgesamt entsteht durch diese vielen verschiedenen Darstellungen von Spaltungen und gegensätzlichen Meinungen der Eindruck großer Strittigkeit hinsichtlich der Person Jesu.135 Er wird weder einhellig abgelehnt noch findet er uneingeschränkte Zustimmung. Dieses Bild kann je nach den vorherrschenden Erfahrungen der LeserInnen eher warnend (es gibt auch Widerspruch) oder – wahrscheinlicher – tröstend (es gibt überall auch positive Stimmen) sein. Die Vielfalt der möglichen Reaktionen fordert auch die LeserInnen zur eigenen Positionierung heraus und bereitet sie zugleich auf Widerspruch vor. Für die Charakterisierung ist festzuhalten, dass die Spaltungen verschiedene vorkommende Gruppen treffen, nicht nur die Menge oder die I>oudai~oi, sondern auch die PharisäerInnen (9,16f)136 als Führungsschicht. Auch von den Oberen heißt es sowohl, dass sie glauben, als auch, dass sie es nicht tun. Selbst eine feindliche Gesinnung der Obrigkeit wird also nicht durchgehalten, obwohl ein Gegensatz zwischen ihr und dem Volk auch behauptet wird (7,31f.48f). Von der Gruppe der JüngerInnen wird allerdings nur eine einzige echte Spaltung mit gegensätzlichen Meinungen geschildert (6,64–70). Sie führt zu einer Trennung. Das Abwenden und Aufgeben des Wanderns mit Jesus ist in diesem Zusammenhang als eine Auflösung des Jüngerverhältnisses zu interpretieren. D.h. diese Spaltung und die unterschiedlichen Meinungen und Handlungen bleiben nicht wie in anderen 133

In 7,48f steht der in Frage gestellte Glaube der Oberen dem Glauben der Menge gegenüber. In 7,26f wird ebenfalls über Jesus als Christus diskutiert, wobei aber eine zusätzliche Ebene hinzukommt, weil die Redenden Vermutungen über die Meinung anderer anstellen. 135 Vgl. Dokka, Irony, 100. 136 Vgl. auch die Diskussion unter Hohepriestern und PharisäerInnen in 7,45–52. 134

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Charakterisierung im JohEv

Gruppen bestehen, sondern die Gruppenzugehörigkeit wandelt sich, so dass wieder von einer einigermaßen einheitlichen Meinung in ihr ausgegangen werden kann. Unbeschadet von Unverständnis, internen Diskussionen und Rückfragen sind die JüngerInnen eine Gruppe, in der eine bestimmte Sicht Jesu Voraussetzung ist. Zu verschiedenen Zeitpunkten können ihr unterschiedliche Personen angehören, aber die Ausrichtung der Gruppe bleibt konstant.137 5.2 Handlungen mit Jesus als Objekt Neben den Handlungen, die als Reaktion auf ein Gespräch bezogen sind oder einfach für sich stehen, gibt es auch einige, die die Erzählstücke im insgesamt ja redenlastigen JohEv bilden. In vielen Fällen ist Jesus das Subjekt der Handlungen, z.B. bei Wundergeschichten, in denen er entweder selbst handelt oder die Handlung direkt und ausdrücklich befiehlt.138 In der Passionsgeschichte liegt dagegen, nachdem Jesus seine Verhaftung noch weitgehend selbst initiiert hat, die Handlungsmacht bei anderen: Fesseln und überführen (18,12), schlagen im Verhör und weitersenden (18,22–24), Geißelung (19,1–3) und Kreuzigung sind Handlungen an Jesus, meist sogar ohne Reaktion von ihm. Handlungsträger sind Soldaten (18,3.12; 19,2f.23f.32–34) und Knechte der I>oudai~oi (18,12) bzw. des Hohenpriesters (18,22; 18,3 auch der PharisäerInnen) sowie Hannas (18,24; 18,19: der Hohepriester) und Pilatus (19,1.19). Auch das Verteilen der Kleider unter den Soldaten (19,23f) kann hier mehr oder weniger als Handeln an Jesus eingeordnet werden. Entsprechend sind auch die Szenen nach Jesu Tod, der Lanzenstich (19,32–34) und die Grablegung (19,38–42) anzusehen. An einzelnen Punkten ist jedoch wieder Jesus Subjekt des Handelns, nicht nur durch viele Redebeiträge, sondern auch durch die Verweigerung einer Antwort (19,9), beim Tragen des Kreuzes (19,17) und in der Sterbeszene (19,28–30). Auf den ersten Blick bringen die Handlungen an Jesus in der Passion die Subjekte in einen klaren Gegensatz zu ihm, während das Begräbnis durch 137

Dies ist nur die Seite der Definition der Gruppe der JüngerInnen. Die andere ist durch die Erwählung Jesu bestimmt, was dazu führt, dass auch Judas, der „Teufel“, zu ihr gehört. Diese beiden Konzepte widersprechen sich eigentlich und müssten zu unterschiedlichen Gruppen führen. Aus der Sicht der normalen JüngerInnen bzw. derer, die sich in ihrer Nachfolge sehen, passt es jedoch: Bei ihnen fallen die eigene Sicht auf Jesus und die Erwählung durch ihn zusammen, zugleich aber ist sowohl eine bewusste Abwendung möglich wie die Existenz von „Teufeln“ in den eigenen Reihen. Die Perspektive des Judas spielt im Evangelium keine Rolle, es ist unwichtig, wie er sein Verhältnis zu Jesus und die Erwählung durch ihn verbinden konnte. Dietzfelbinger (vgl. Evangelium I, 187) betont, dass zur Erwählung auch die Verwirklichung gehört. 138 Dies gilt für die Durchführung und Bestätigung des Wunders, die erste Kontaktaufnahme kann auch auf Initiative von anderen erfolgen. Es ist auch möglich, dass ein Wunder praktisch ohne Handlung, nur mit Reden auskommt (4,46–53).

Indirekte Präsentation: weitere Interaktionen

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Josef von Arimathäa und Nikodemus ein positives Verhältnis zu ihm auszudrücken scheint. Letzteres wird durch die ehrenvolle Art der Beerdigung und auch durch die Einführung der handelnden Personen nahe gelegt. Josef wird dabei als heimlicher Jünger bezeichnet, bei Nikodemus auf den früheren nächtlichen Besuch bei Jesus verwiesen – d.h. die beiden sind hier vielleicht nicht völlig unproblematisch in ihrer Beziehung zu Jesus, aber es ist jedenfalls eher eine freundliche und angemessene Handlung zu erwarten. Aber handeln die Soldaten und Knechte auf der anderen Seite wirklich im Gegensatz zu Jesus? Auffällig ist zumindest, dass das Würfeln um die Kleider Jesu (19,23f) und der Lanzenstich (19,34.36f) als Erfüllung der Schrift dargestellt werden. Ebenso wird auch Jesu Äußerung von Durst (19,28) motiviert. Auch wenn dies nicht in der Absicht der Soldaten lag, erscheinen aus der Sicht des Evangeliums ihre Taten als gleichermaßen unabwendbar und nötig und im Einklang mit Jesu eigenem Tun bzw. seiner Sendung. Auch die Verspottung durch die Soldaten hat eine solche zusätzliche Ebene, wenn dabei ein durchaus angemessener Titel verwendet wird.139 Und auch insgesamt erscheint die Kreuzigung Jesu als gottgewollt und sinnvoll. D.h. die daran Beteiligten erfüllen Gottes Plan, wie besonders in 11,50–52 ausdrücklich festgehalten wird. Die Handlungen werden so im Gesamtwertesystem des JohEv verortet. Es bleibt also eine Ambivalenz zwischen einem oberflächlich gegen Jesus gerichteten Verhalten und bei tieferem Verständnis einer Beteiligung an Gottes Plan, ob nun gewollt oder ungewollt. Dabei gewinnen weniger die Soldaten, wohl aber Pilatus und der Hohepriester durchaus differenzierte Züge. Wirklich klar auf der anderen Seite steht nur Judas durch seine Verbindung mit dem Teufel.140 D.h. es wäre durchaus möglich gewesen, auch Pilatus oder Hannas und Kaiphas entsprechend eindeutig negativ festzulegen – aber genau das passiert nicht. Die wichtigste Handlung an Jesu aus dem JüngerInnenkreis liegt in der Fußsalbung durch Maria vor.141 Auch diese Handlung wird im Wertesystem des JohEv klar verortet: direkt durch die negative Reaktion des Judas und 139

S.u., II.4.4. In 17,12 liegt eine Anspielung auf Judas vor, die ebenfalls mit der Feststellung der Schrifterfüllung verbunden ist. Jesus sagt, dass er die Seinen alle bewahrt hat, außer den „Sohn des Verderbens“, damit die Schrift erfüllt wird. Hier liegt wohl eine Anspielung auf Spr 24,22a LXX vor, wo „der das Wort meidende Sohn des Verderbens außerhalb sein“ wird. Hier bezieht sich die Schrifterfüllung also nicht wie bei den Soldaten auf das Tun, sondern auf das Geschick, eben sein Verlorengehen. Positiv gestützt wird so Jesu Verhalten, der ihn verloren hat. Auch in 13,18 gibt es eine Schrifterfüllung, die auf Judas bezogen ist, aber wieder scheint damit mehr Jesu Erwählen als das Verhalten des Judas gerechtfertigt. 141 Daneben ist nur die Grablegung zu nennen. 140

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Charakterisierung im JohEv

die Verteidigung durch Jesus, indirekt durch die Parallelität zur Fußwaschung als (ausdrücklich beispielhafte!) Handlung Jesu.142 5.3 Dreiecksbeziehungen Im JohEv bestehen zwischen den einzelnen Personen vielfältige Beziehungen, die durch Unterschiede und Ähnlichkeiten zur Schärfung des Profils der einzelnen Charaktere beitragen. Ein Spezialfall ist dabei das Phänomen von „Dreiecksbeziehungen“, der Interaktion zwischen Jesus und mindestens zwei weiteren Personen oder Gruppen, das im JohEv vielfach und in verschiedenen Ausprägungen begegnet. Ein typisches Muster ist die Weitervermittlung von Kontakt: Nach einem Kontakt zu Jesus wendet sich eine beteiligte Person einer dritten Person oder Gruppe zu und bringt so diese wiederum in Kontakt zu ihm. Dieses Schema der Weitervermittlung geht meist von dem Zusammentreffen mit Jesus aus, z.B. als Abschluss eines Gespräches; die GesprächspartnerInnen Jesu verabschieden sich auf diese Weise. Die Weitervermittlung kann dann der Auftakt einer weiteren Interaktion zwischen Jesus und den Dritten sein. So berichten in 1,41 Andreas seinem Bruder Petrus und in 1,45 Philippus dem Nathanael und bringen sie zu Jesus als Reaktion auf das erste Gespräch und Zusammensein mit Jesus. In 2,5 wendet sich die Mutter Jesu nach dem Wortwechsel mit ihm an die DienerInnen. In 4,28f erzählt die Samaritanerin in ihrem Dorf und in 5,15 der geheilte Kranke den I>oudai~oi von Jesus. Ungewöhnlich ist die Bestätigung der Worte Jesu in seiner Anwesenheit durch Thomas (11,16). In 11,28 ruft Martha ihre Schwester Maria zu Jesus. Einige von denen, die die Auferweckung des Lazarus erlebt haben, gehen in 11,46 zu den PharisäerInnen. In 20,18 wendet sich Maria Magdalena nach ihrem Dialog mit Jesus an die JüngerInnen und in 20,25 die JüngerInnen an Thomas. Es gibt aber auch den umgekehrten Fall, dass Außenstehende sich über eine Vermittlungsinstanz an Jesus wenden: So sprechen einige GriechInnen in 12,20–23 zunächst Philippus an, der sich wiederum an Andreas wendet und beide zusammen dann an Jesus. Auf diese Weise wird ein Kontakt hergestellt, der aber sofort in eine allgemeine Rede übergeht.143 Eine weitere mögliche Konstellation besteht in einer Interaktion zwischen zwei Beteiligten, der eine Reaktion von Dritten folgt. So reagieren die JüngerInnen in 2,13–22 auf die Diskussion Jesu mit den I>oudai~oi, an der sie selbst nicht beteiligt sind.144 Umgekehrt findet in 6,1–15 Gespräch und Handlung fast ausschließlich zwischen Jesus und seinen JüngerInnen 142

Vgl. Kitzberger, Transcending, 186. Vgl. auch 3,25–36, eine Kontaktaufnahme mit Johannes dem Täufer. 144 Schon zur Tempelreinigung im ersten Teil dieser Szene wird ihre Meinung geschildert. Ähnlich auch beim Einzug 12,12–19. 143

Indirekte Präsentation: weitere Interaktionen

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statt, aber am Ende reagieren die Gespeisten, die zuvor nichts anderes getan haben, als sich zu setzen, mit Äußerung und Handlungsabsicht.145 Spannend für die Charakterisierung sind vor allem die Fälle, in denen eine parallele oder gegenläufige Interaktion zwischen Jesus und zwei weiteren Parteien stattfindet. Diese Struktur eignet sich, um verschiedene Gruppen oder Einzelpersonen gegeneinander zu profilieren. Allerdings gibt es relativ viele Fälle, in denen gar nicht Jesus im Zentrum steht, sondern vielmehr eine Person zwischen ihm und einer anderen Partei steht bzw. hinund herwandert und nacheinander spricht. Dies gilt z.B. von der Verhandlung vor Pilatus, der zwischen Jesus und den I>oudai~oi schwankt (18,28– 19,16). Ähnlich stehen auch der geheilte Kranke (5,1–16) und der Blindgeborene (9,1–38) abwechselnd mit Jesus und den I>oudai~oi bzw. den PharisäerInnen mit ihren gegensätzlichen Aussagen in Kontakt. Dieses Muster muss allerdings nicht unbedingt einen Gegensatz beinhalten. Beim Basilikos (4,46–54) werden Jesu Aussagen über die Heilung durch die SklavInnen, denen er später begegnet, bestätigt. Ein deutliches Gegenüber mit Jesus im Zentrum liegt jedoch in 4,4–42 vor, wo erst die Samaritanerin, dann die JüngerInnen mit Jesus sprechen (das am Ende einbezogene Dorf fällt in das Schema Weiterleitung des Kontaktes). Diese Geschichte soll exemplarisch etwas näher betrachtet werden, denn sie ist nicht nur die erste Darstellung einer Interaktion Jesu mit zwei Parteien im JohEv, sondern thematisiert diese Frage auch ausdrücklich (4,37f). Es ist also zu vermuten, dass auch die Darstellung typisch ist. Zunächst ist festzustellen, dass die Gespräche Jesu mit der Samaritanerin und mit den JüngerInnen jeweils einzeln, in Abwesenheit der anderen Partei stattfinden. In 4,27–30 sind beide aber durch gleichzeitige Anwesenheit verschränkt, ein Effekt, der auch durch die verspätete Feststellung der Abwesenheit der JüngerInnen in 4,8 erreicht wird.146 Schon von der Anlage her sind beide gegenläufig aufeinander bezogen: Die Samaritanerin kommt zum Brunnen, um Wasser zu holen – die JüngerInnen sind ins Dorf gegangen, um Essen zu kaufen. Das Gespräch beginnt jeweils mit einem Imperativ: Jesus bittet die Frau, dass sie ihm zu trinken gibt – die JüngerInnen fordern Jesus zum Essen auf. Diese Anlage zeigt aber auch schon eine Parallelität, zumal beide Bildfelder, sowohl Wasser als auch Speise, später im JohEv zur Darstellung von Jesu Handeln wieder aufgegriffen werden. Die Gespräche sind jeweils unterschiedlich und am Ende fehlt eine Reaktion der Jün145 Ähnlich auch die Reaktion der Geschwister auf das Wort über den geliebten Jünger (Joh 21,20–23). Joh 12,37–43 ist eine Art Reaktion von Jesaja. 146 Vgl. zur Zusammengehörigkeit dieser Verse auch M. de Boer, John 4:27, 218f. Allerdings sehe ich gerade im Nebeneinander der GesprächspartnerInnen Jesu einen erzählerischen Sinn, nicht die Störung einer ohne diese Verse besseren Erzählung.

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Charakterisierung im JohEv

gerInnen. Eine Bewertung oder auch nur ein Gegeneinander der Beteiligten lässt sich jedenfalls nicht festmachen. Inhaltlich ist vor allem das Gespräch Jesu mit den JüngerInnen zur Deutung relevant. Jesus spricht das Problem des Miteinanders verschiedener Gruppen ausdrücklich im Bild der Säenden und Erntenden an. Beide haben ihre Aufgaben, und beide sollen sich freuen. D.h. hier ist gegenseitige Akzeptanz gefordert, eine Abwertung einer Partei zugunsten der anderen ist ebenso unangemessen wie das Ignorieren der Aufgabe der anderen. Die JüngerInnen sind als Erntende angesprochen und die Samaritanerin kann leicht als Säende identifiziert werden – sie ist während des Gesprächs mit der Verkündigung von Jesu Worten im Dorf beschäftigt. Diese Frage wird aber nur im Gespräch mit den JüngerInnen thematisiert. M.E. zeigt sich an dieser Stelle die grundsätzliche Perspektive des JohEv: Die Aufgabe der JüngerInnen ist unstrittig, weshalb sie selber auch nicht weiter aktiv werden. Anerkennen müssen sie aber die Arbeit anderer, dafür wird argumentiert. Der Blick der LeserInnen geht mit den JüngerInnen (und auch mit Jesus) auf die Samaritanerin, deren Perspektive trotz ihrer Aktivität nicht zentral ist. Die Struktur fördert und fordert eine Akzeptanz der Samaritanerin gegen eine mögliche Abwertung.147 In ihrem Verhalten erweist sich die Samaritanerin als Jüngerin. Trotzdem erscheint sie im Gegenüber zur Gruppe, der die LeserInnen näher stehen. Beziehungen, bei denen durch die Fokussierung der Blick der LeserInnen gelenkt wird, gibt es aber auch im engeren Kreis, und zwar zwischen Petrus und dem geliebten Jünger. In 21,20f geht der Blick eindeutig von Petrus auf den geliebten Jünger, Petrus ist also das Subjekt der Fokussierung. Dadurch kommen die LeserInnen ihm nahe. Wie Jesus in Joh 4 die Arbeit der Samaritanerin für die JüngerInnen deutet, so erklärt er Petrus die Funktion des geliebten Jüngers. Eine ganz ähnliche Beziehung wird auch schon beim ersten gemeinsamen Auftreten in 13,23f deutlich, wo Petrus ebenfalls auf den geliebten Jünger blickt, auch wenn nicht ausdrücklich vom Sehen die Rede ist. Die Beziehung zwischen beiden wird dort aber nicht weiter ausgeführt, sondern geht in die Verwunderung der ganzen Gruppe über, die die Interaktion zwischen Jesus und Judas zu deuten versucht.

147 Von der Anlage der Erzählung her ist es unangemessen, die Tendenz zu einer Abwertung der JüngerInnen auszuwerten!

Auswertung

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6. Auswertung 6.1 Ergebnis: Die Offenheit der Charakterisierung im JohEv Auswertung Die umfassende Erhebung der Charakterisierung quer durch das JohEv hat vor allem eine große Offenheit ergeben. Diese Offenheit hat verschiedene Aspekte: Erstens lässt sich eine klare Abgrenzung von Gruppen nicht vornehmen, alle Arten von Handeln und Reden sind breit über die vorkommenden Personen verteilt. D.h. weder bei Einzelpersonen noch bei Gruppen lässt sich sagen, dass gerade sie glauben, verstehen oder sich zu Jesus bekennen – oder genau dies nicht tun. Vielmehr gibt es im Laufe der Erzählung ständig Überraschungen, sowohl gegenüber den Vorerwartungen z.B. an die JüngerInnen als auch gegenüber schon erzähltem Verhalten. Zweitens entsteht die Offenheit aber auch dadurch, dass an vielen Stellen die Bedeutung einer Beschreibung, eines Handelns oder Redens nicht ohne weiteres einsichtig ist, sondern erst gewonnen werden muss – und dabei sind unterschiedliche Ergebnisse möglich bzw. eine Vieldeutigkeit ist schon von vorneherein angelegt.148 Auch die Formulierungen sind sehr flexibel. Ein dritter Aspekt von Offenheit liegt in der Zeitstruktur des JohEv. An vielen Stellen wird über die erzählte Zeit hinaus verwiesen und insbesondere die Gruppe der JüngerInnen ist in der Zukunft jenseits der eigentlichen Erzählung klarer fassbar. Viele Einzelheiten der Darstellung von Personen haben ihren Fluchtpunkt außerhalb des JohEv selbst. Diese zeitliche Offenheit wird in Vorausverweisen greifbar, wirkt sich aber auch schon als Voraussetzung auf die Darstellung aus. Die JüngerInnen bilden innerhalb der Erzählung eine Gruppe, die deutlich zusammengeschlossen ist und als Handlungsträger auch im Gegenüber zu anderen Gruppen fungiert und eine bestimmte Position in der Erzählung einnimmt. Die Zusammengehörigkeit und Grundausrichtung der Gruppe lässt sich aber nicht am berichteten Verhalten verifizieren, in der Erzählung selbst sind die JüngerInnen nicht wesentlich anders als andere, erst für die Zukunft jenseits der Erzählung wird die Gruppe besser fassbar und abgrenzbar. Die Zusammengehörigkeit und der Status der Gruppe erscheint deshalb als schon gesetzt: Es gibt eine bestimmte Haltung Jesu ihr gegenüber, die nicht begründet wird. Auch umgekehrt wird für die JüngerInnen eine bestimmte Beziehung zu Jesus vorausgesetzt, auch wenn sie an einigen Stellen gefährdet ist. Variabel ist aber die Zugehörigkeit von einzelnen Personen zur Gruppe der JüngerInnen, es ist sowohl ein Aus- als auch ein Einstieg jederzeit 148 Fast kein Verhalten ist wirklich eindeutig, die besten Bekenntnisse können in Frage gestellt werden und so offensichtlich negative Handlungen wie die Kreuzigung mit ihren Umständen bieten auch andere Deutungsmöglichkeiten.

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Charakterisierung im JohEv

möglich, d.h. auch wenn die Gruppe als ganze stabil ist, gibt es keine Sicherheit bezüglich einzelner Personen.149 Eine Aufzählung von Namen ist deshalb m.E. grundsätzlich nicht angemessen, denn die Offenheit der einzelnen Personen widerspricht einer Festlegung. Allerdings wird, so wie die Gruppe als ganze mit ihrer Ausrichtung schon vorgegeben ist, auch bei manchen Personen selbstverständlich von einer Zugehörigkeit ausgegangen – vor allem bei Personen, die vom JohEv als bekannt vorausgesetzt werden und dies auch aus anderer Tradition sind. D.h. die Verwendung der Bezeichnung „JüngerInnen“ ist mehrdeutig und bezieht sich sowohl auf eine vorgegebene Größe – deshalb auch die traditionellen Männernamen150 – als auch auf eine ideelle und erst in der Zukunft zu verwirklichende. Die grundsätzliche Offenheit der Darstellung der Personen macht eine Bewertung schwierig bis unmöglich. Nicht einmal die Frage der Zugehörigkeit zu den JüngerInnen lässt sich klar entscheiden, noch viel weniger eine weitere Differenzierung. Die Personen sind nicht festgelegt, sondern können bei jedem neuen Auftreten neue und überraschende Züge zeigen. Und diese Züge können jeweils unterschiedlich gedeutet werden.151 Das JohEv widersetzt sich ganz prinzipiell allen Versuchen der klaren, statischen Einordnung und entwickelt stattdessen eine Dynamik, an der auch die LeserInnen beteiligt sind.152 6.2 Die Personalstruktur des JohEv – Aktantenanalyse Um die Offenheit in der Darstellung der Personen im JohEv noch einmal aus einem anderen Blickwinkel zu erfassen und zu verstehen, ist eine Analyse der inhaltlichen Funktion der Charaktere für die Erzählung sinnvoll. Bisher ging es um das Wie der Darstellung der Figuren, also um die Ebene des Textes. Jetzt soll aber der Befund auch für den Inhalt der Erzählung, auf der Ebene der Geschichte, ausgewertet werden. Um die Personalstruktur einer Erzählung und die Rolle der darin beteiligten Personen zu erfassen, 149

Bei anderen Gruppen im JohEv ist das anders: Sie sind klarer festgelegt, weder bei den

I>oudai~oi noch bei den PharisäerInnen z.B. ist ein Wechsel der Zugehörigkeit vorgesehen. Statt-

dessen sind interne Spaltungen durch unterschiedliche Reaktionen auf Jesus häufig. Die feste Gruppe im Zusammenhang mit den JüngerInnen sind die Zwölf – auch sie ist vermutlich als bekannt vorgegeben. 150 Sogar Judas wird an einer Stelle als Jünger bezeichnet (12,4) – dies ist eine gewisse Inkonsequenz, aber durch Voraussetzungen erklärbar. Nach meiner Sicht sachlich angemessener ist seine Definition als Mitglied der Zwölf (6,71; indirekt durch die Bezeichnung als erwählt 13,18). 151 Vgl. Kitzberger, How, 38. Sie kommt zu diesem Ergebnis für die Frauen im JohEv, aber es gilt auch für die Männer. 152 Anders Stimpfle (vgl. Rätsel, passim), der die Widersprüche ebenfalls sieht, sie aber als Aufforderung zur eindeutigen Auflösung begreift, die s.E. im Kontext eines dualistisch-prädestinatianischen Weltbildes der LeserInnen möglich ist.

Auswertung

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bietet sich das Aktantenmodell von Greimas an.153 Ausgehend von Arbeiten von Propp und Souriau entwickelt Greimas ein Modell, in dem alle in einer Erzählung vorkommenden Personen oder handlungstragenden Elemente aufgrund ihrer Funktion erfasst werden können: Die Grundstruktur jeder Erzählung lässt sich mit sechs Aktanten beschreiben. Die Aktanten sind dabei nicht identisch mit vorkommenden Akteuren, sondern mehrere Personen können ebenso gemeinsam einen Aktanten bilden wie eine Person mehrere Aktanten ausfüllen kann – zudem können die Aktanten auch durch andere, nichtpersonale Größen gebildet werden. Die Aktanten sind in drei Paaren geordnet: Subjekt – Objekt, SpenderIn (Macht) – EmpfängerIn,154 GegnerIn – Hilfe. Die Handlung wird in Bewegung gebracht, weil ein Subjekt ein Objekt begehrt. Das Subjekt hat also eine Absicht, strebt willentlich etwas an und hat eine aktiv handelnde Rolle – eine Analogie zur Bezeichnung von Subjekt und Objekt auf der Satzebene ist durchaus beabsichtigt. Beide lassen sich durch ein Verb verbinden, das auch ein negatives Handeln, ein Verhindern, bezeichnen kann. Eine zweite Ebene kommt durch die Macht und die EmpfängerInnen ins Spiel, die beide auf das Objekt bezogen sind: Die Macht kann und muss das Objekt letztlich gewähren, auch wenn aktive Beteiligung und Absicht nicht nötig sind. Die EmpfängerInnen erlangen das Objekt. Oft sind sie mit dem Subjekt identisch. Für die Struktur der Erzählung von geringerer Relevanz, aber meist für einen Großteil der ablaufenden Ereignisse verantwortlich, ist die dritte Ebene aus GegnerIn und Hilfe. Sie sind dem Subjekt bzw. besser dem Tun, das Subjekt und Objekt verbindet, zuzuordnen. Sie fördern oder behindern das Handeln des Subjektes und sorgen so für den Fortgang der Erzählung. Dieses sehr pauschale und allgemein gültige Modell ist zu grob für eine in die Einzelheiten gehende Analyse, dennoch lässt sich damit die grundlegende Besonderheit einer Schrift wie des JohEv beschreiben.155 Auf den ersten Blick ist die Zuordnung einfach und deutlich zu erkennen: Jesus ist das Subjekt, sein Objekt, das er bringt, Leben (Heil im umfassenden Sinne).156 Die Macht, die wirkende Ursache im Hintergrund, ist Gott und 153 Vgl. Greimas, Strukturale Semantik, 157–177. Sowohl Rimmon-Kenan als auch Bal verwenden dieses Modell. 154 Bal (Narratology, 198) verwendet den Ausdruck „Power“ statt des geläufigeren „Spender“. Mir leuchtet diese Wortwahl sehr ein, deshalb spreche ich im Folgenden von Macht. In der Übersetzung von Greimas sind anstelle von Macht und EmpfängerInnen die Ausdrücke Adressant und Adressat verwendet. 155 Nach Greimas (vgl. Strukturale Semantik, 169; auch 159) sind bestimmte Aktantenkonstellationen – z.B. die Besetzung von zwei Aktanten mit einer Figur – typisch für Gattungen. Dies lässt sich auch auf Evangelien anwenden. 156 Im Text werden verschiedene Begriffe verwendet, am häufigsten Leben, manchmal näherbestimmt als ewiges Leben (3,15f; 5,25–29; 20,30f; 6,68 und 12,50 [Worte des ewigen

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Charakterisierung im JohEv

EmpfängerInnen sind die Personen, denen Jesus begegnet, z.B. die JüngerInnen oder Kranke, die er heilt.157 Darüber hinaus lassen sich nun einige Besonderheiten bei der Aktantenverteilung feststellen: Erstens sind die Positionen von Hilfe und GegnerIn nur sehr schwach besetzt. Dem korrespondiert zweitens, dass praktisch alle übrigen vorkommenden Personen in der Rolle von EmpfängerInnen sind. Drittens ist auffällig, dass die Erzählung im JohEv nicht zu einem Ende kommt, es gibt keinen Punkt, an dem die EmpfängerInnen das Objekt bekommen hätten oder die Übergabe gescheitert wäre. Und schließlich gibt es viertens eine Tendenz zur Verschiebung in der Aktantenstruktur, durch die die EmpfängerInnen in die Position des Subjekts kommen. Im Einzelnen: Als Hilfe kommt im JohEv eigentlich nur Johannes der Täufer in Frage, der Jesus unterstützt ohne dabei direkt mit ihm zu interagieren.158 Er ist auch als Einziger nicht auf Jesus und sein Heil angewiesen, weil er eine eigene Verbindung zu Gott hat. Dagegen kann Judas als Gegner angesehen werden, obwohl durch seine Zugehörigkeit zum Jüngerkreis eigentlich eine Rolle als Empfänger nahe läge. Auch seine Interaktion mit Jesus ist wie bei Johannes nicht auf das „Objekt“ bezogen, es geht nicht um das Heil, auch nicht im negativen, ablehnenden Sinne. Evtl. könnte auch der Teufel als Gegner in Betracht kommen, er ist ohnehin eng mit Judas verbunden.159 Alle anderen im JohEv vorkommenden Personen können als EmpfängerInnen bestimmt werden: Die JüngerInnen, diejenigen, die Jesus heilt, die Einzelnen oder vielen, zu denen er spricht. Ihnen allen bietet Jesus als Subjekt sein Heil an, das JohEv handelt nur davon, wie die EmpfängerInnen dies annehmen oder nicht.160 Das gilt auch für Personen wie Pilatus oder die Lebens]; 8,12 [Licht des Lebens]), das er in die Welt und zu den Menschen bringt. Mit leicht anderer Zielrichtung begegnen auch Ausdrücke wie Werke (Gottes) (4,34; 9,4) oder Herrlichkeit (do/qa) Gottes (5,44; 7,18; 11,4.40; 12,43); daneben auch Rettung und Wahrheit / Freiheit. Diese Objekte oder eher die verschiedenen Konkretisierungen des Objekts haben also teilweise eine Tendenz hin zu den EmpfängerInnen, teilweise mehr zur Macht. An einigen Stellen sind auch Subjekt und Objekt so eng verbunden, dass sich fast sagen lässt, dass Jesus (als Subjekt) sich selbst (als Objekt) bringt – das Heil ist von seiner Person nicht zu trennen. Für die Aktantenanalyse ist das kein Problem. 157 Anders aber Du Rand, Characterization, 25. 158 Evtl. hat auch Mose ein ähnliche Funktion. Obwohl er nicht direkt in der Erzählung auftritt, ist er erstaunlich aktiv und wirksam (1,45; 5,45–47). 159 Auch nichtpersonale Größen können als Hilfe oder GegnerIn gefasst werden: In 20,30f ist der Glaube ein Mittel zur Erlangung des Lebens, das von Jesus ausgeht, kann also als Hilfe eingeordnet werden. Auch Gott hat neben der Funktion als Macht mitunter die Position der Hilfe, so z.B. 6,44.65. Dies kann hier aber aufgrund des Interesses an den Personen außer Acht bleiben. 160 Ganz ähnlich sieht m.E. Scholtissek (vgl. In ihm, 180–182) die Frage von Aufnahme oder Nichtaufnahme in Joh 1,11–13 als semantische Achse des JohEv, also als Grundstruktur, der sich alle anderen Aussagen zuordnen lassen. Vgl. auch die Beschreibung des Plot bei Du Rand, Reading, 14f, bei der aber Gott stärker im Vordergrund steht als Jesus.

Auswertung

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Knechte der Hohepriester!161 Eine Übermittlung von „Heil“ ist auf verschiedenen Wegen möglich und beabsichtigt. Schwierigkeiten, dies zu erreichen, entstehen vor allem durch Verweigerungen der potentiellen EmpfängerInnen, die z.B. Jesus als Überbringer ablehnen oder auch das Objekt nicht für erstrebenswert halten – so z.B. in Joh 8, wo Jesus und die I>oudai~oi darüber diskutieren, ob Freiheit überhaupt notwendig ist. Die erzählerische Grundstruktur des JohEv endet nicht mit dem Ende der Erzählung, sondern reicht über sie hinaus. Das Angebot des Heils richtet sich auch an die AdressatInnen, die JüngerInnen erlangen es noch nicht wirklich. Dadurch gehören manche EmpfängerInnen nicht zur Erzählung im engeren Sinne: In 20,30f sind Jesu Taten als der Inhalt des Buches und Leben für die Lesenden als das Ziel genannt. Damit sind die LeserInnen direkt angesprochen, und zwar als EmpfängerInnen des Lebens. D.h. hier – wie auch an anderen Stellen im Evangelium – sind Personen, die nicht im engeren Sinne zur Erzählung gehören, in diese einbezogen. Das JohEv ist keine in sich abgeschlossene Erzählung, sondern auf Ausweitung angelegt. Obwohl Jesus eindeutig die Hauptperson im Evangelium ist,162 ist er nicht in allen Szenen das Subjekt des Handelns. Schon ganz am Anfang bei der Sammlung der ersten Jünger sieht es eher so aus, als seien Andreas und Philippus (Subjekt) auf der Suche nach dem Messias (Objekt), während Jesus zunächst eher als Macht wirkt.163 Erst im Laufe der Erzählung geht die Initiative auf ihn über und er spricht Petrus und Nathanael etwas zu. Auch beim ersten Wunder ist zunächst Jesu Mutter das Subjekt, die den Weinmangel (Objekt) beseitigen will; wieder wirkt Jesus als Macht, die zum Subjekt wird. Hier lässt sich also eine auffällige Doppelstruktur feststellen, wobei die verschiedenen Subjekte mit ihren Absichten und Zielen konvergieren, so dass ein Rollenwechsel möglich ist. Auch an anderen Stellen lassen sich zwei Subjekte ausmachen: In Joh 5 strebt Jesus die Heilung des Kranken an. Die I>oudai~oi, mit denen er daraufhin in Auseinandersetzung gerät, erscheinen jedoch nicht als GegnerInnen, die ihn hindern wollen, sondern eher als eigene Subjekte, deren Objekt der Wille Gottes ist. In diesem Fall passen die Ziele der verschiedenen Subjekte nicht zusammen, sondern prallen gegeneinander – obwohl für 161 Nur bei den Hohepriestern gibt es keine direkten Versuche der Übermittlung von Heil, d.h. Jesus belehrt sie nicht. Indirekt ist seine Bedeutung aber Thema. 162 Dies zeigt sich schon darin, dass er in den allermeisten Szenen auftritt; wo nicht, ist er in der Regel trotzdem indirekt dabei, weil über ihn geredet wird. Ausnahme: Die erste Szene von Johannes dem Täufer 1,19–23. Aber um mehrere Ecken (die durch Johannes abgelehnten Titel) ist Jesus hier trotzdem präsent! 163 Dieser Befund ist um so auffälliger, da gerade eine „Jüngerberufung“ die Initiative von Seiten Jesu nahe legt.

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beide Gott als Macht im Hintergrund steht.164 Das JohEv scheint einerseits darauf zu zielen, aus allen Personen EmpfängerInnen zu machen – in 4,10 ist dieses Problem sogar direkt thematisiert, d.h. Jesus fordert die Samaritanerin dazu auf, sich als eine Empfängerin zu verhalten. Andererseits werden die EmpfängerInnen dann aber auch schnell zu eigenen Subjekten, die die Aufgabe Jesu weiterführen.165 In den vielen Auseinandersetzungen im JohEv sind die beteiligten Personen also meist als Subjekte mit eigenen Interessen oder als EmpfängerInnen, die diese Rolle verweigern, zu bestimmen. Dadurch ist die Erzählung sehr offen in den Möglichkeiten für die beteiligten Personen, sie sind nicht auf eine bestimmte, negative Rolle als GegnerInnen festgelegt, sondern alle haben mehr oder weniger gleiche Möglichkeiten als EmpfängerInnen des „Heils“. Da aber die Handlung normalerweise durch die Einwirkung von GegnerInnen und Hilfe voran getrieben wird, zeigt sich schon hier, dass im JohEv relativ wenig Handlung mit Fortschritten vorliegt. Es lässt sich nicht einmal sagen, dass das Subjekt sein Objekt wirklich erreicht (oder dabei scheitert). Obwohl das JohEv am Geschick Jesu entlang einen mehr oder weniger abgeschlossenen Vorgang erzählt, gibt es auf der Aktanten-Ebene betrachtet eigentlich keine Entwicklung. Der Versuch, das „Heil“ zu den EmpfängerInnen zu bringen, besteht durch die ganze Erzählung hindurch – und auch darüber hinaus, wenn die LeserInnen einbezogen sind. M.E. gibt es darin weder wirkliche Fort- noch Rückschritte. 6.3 Die Position der LeserInnen Welche Position haben nun die LeserInnen zur Erzählung und den darin vorkommenden Personen? Gibt es Hinweise, dass sie sich – wie oft angenommen – mit den JüngerInnen oder einzelnen Charakteren identifizieren sollen? Und an welchen Stellen wird vom Text eine Mitarbeit der LeserInnen gefordert? Am Ende dieses ersten Überblicks über Personen und ihre Charakterisierung im JohEv lässt sich ein Zwischenfazit ziehen: Die LeserInnen des JohEv stehen vor allem den zukünftigen JüngerInnen nahe, ohne mit ihnen identisch sein zu müssen.166 Die Zukunftsansagen der Erzählung sind zumindest teilweise Bestandteil der realen Welt der LeserInnen, sie können also Aussagen bestätigen und wiedererkennen. Aber gerade durch ihren Bezug zur Zukunft bilden sie ein Gegenüber zu den 164 Nach Bal (Narratology, 203) liegt der Unterschied zwischen GegnerIn und weiterem Subjekt darin, dass ein zweites Subjekt eigene Ziele verfolgt und damit dem Haupt-Subjekt ins Gehege kommen kann (aber nicht muss!), während GegnerInnen an einzelnen Stellen direkt gegen das Handeln des Subjektes opponieren. 165 So z.B. schon ganz am Anfang Andreas und Philippus, später die Samaritanerin. 166 Vgl. O’Day, Word, 73f, zu Joh 2,22 als Aussage über die JüngerInnen und Leseanweisung für die LeserInnen.

Auswertung

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JüngerInnen im Evangelium selbst. Die Differenzen zwischen der Schilderung im JohEv und den Zukunftsansagen betonen sogar eher die Veränderung als eine Kontinuität. D.h. die JüngerInnen im JohEv sind nicht ein Abbild der LeserInnen, sondern höchstens ihre (mit Distanz betrachtete) Vergangenheit.167 Durch die Offenheit in der Darstellung der Personen ist an vielen Stellen die Mitarbeit der LeserInnen gefordert, die die Aspekte der Darstellung auch in ihrer Vielschichtigkeit deuten müssen. Darüber hinaus macht das JohEv aber auch Setzungen wie die grundsätzliche Position der JüngerInnen oder die Zugehörigkeit von einzelnen Personen zu ihnen, die ein entsprechendes Vorwissen nötig machen. Die Voraussetzungen, die der Text macht, müssen ansatzweise auch bei den LeserInnen vorhanden sein, sonst bleibt der Text unverständlich. Wie dieses Vorwissen aber konkret aussieht, ist nicht festgelegt, sondern der Text lässt den LeserInnen verschiedene Möglichkeiten, die zu unterschiedlichen Deutungen der Charakterisierung führen.168 Ein Bild der Person entsteht in der Spannung zwischen diesem Ausgangswissen und dem weiteren Verhalten. Dass die LeserInnen bei vielen Personen aber Vorwissen einbringen können, schafft ebenso wie die Zeitstruktur eine gewisse Distanz zu den Figuren der Erzählung. Die LeserInnen kennen sie schon als von ihnen getrennte Personen. Zugleich gibt aber gerade das Vorwissen auch eine Nähe vor, weil die LeserInnen zu bestimmten Personen schon eine Beziehung haben und die JüngerInnen vermutlich von vorneherein als die ihnen am ehesten entsprechende Gruppe wahrnehmen. Eine Identifizierung mit den JüngerInnen, nicht mit anderen Gruppen, ergibt sich dann, wenn die LeserInnen sich in ihrer Traditionslinie sehen.169 Vom Text wird dies unterstützt, indem es bei den JüngerInnen einzelne Einblicke in ihr Innenleben gibt, die zusätzlich Nähe schaffen. Außerdem sind die JüngerInnen zumindest für die Zukunft in eine Verständnisgemeinschaft eingeschlossen, zu der die LeserInnen schon gehören, andere Gruppen aber nicht.170 Und sie sind das zentrale Objekt der Zuwendung Jesu; auch dies bewirkt eine Verbindung zu den LeserInnen, wenn diese ein ähnliches Verhältnis zu Jesus anstreben. Das JohEv bietet den LeserInnen die JüngerInnen einerseits zur Identifikation an, schafft aber andererseits auch Distanz. Eine einfache Übernahme 167 Die Differenz ist m.E. in anderen Evangelien nicht so deutlich, z.B. haben im MtEv die Jünger als Gruppe Züge der Gemeinde, d.h. die spätere Zeit ist so schon in der Erzählung selbst präsent, vgl. Luz, Evangelium I, 45. 168 Vgl. Koester, Spectrum, 18f. 169 Vgl. Reinhartz, Befriending, 26–31, zu den unterschiedlichen Möglichkeiten je nach Standpunkt den Text zu lesen. 170 Vgl. Kelber, Metaphysics, 146–152, zu der ausgrenzenden Funktion vieler doppelbödiger Aussagen im JohEv.

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dieser Position in der Erzählung ist also nicht möglich, die LeserInnen sind auch ein Gegenüber mit eigenen Voraussetzungen. Wie sich dies im Einzelnen auf das Verständnis von Personen auswirken kann, soll in den nächsten Kapiteln genauer ausgeführt werden.

III. Maria Magdalena

1. Maria Magdalena im JohEv 1.1 Überblick und Name Maria Magdalena kommt im JohEv an zwei Stellen vor: Sie wird erstmalig in Joh 19,25 in einer Gruppe von Frauen beim Kreuz Jesu genannt, begegnet also erst relativ spät im JohEv. In Joh 20,1–18 ist sie dann die Hauptperson bei den Ereignissen am Grab Jesu am Ostermorgen. Sie findet das Grab leer, benachrichtigt Petrus und den geliebten Jünger, sieht zwei Engel im Grab und hat schließlich eine Begegnung mit dem auferstandenen Jesus, der sie mit einer Botschaft zu den JüngerInnen sendet, die sie übermittelt. Sie wird in Joh 19,25 sowie in 20,1 als „Maria die Magdalenerin“ (Mari/a h< Magdalhnh/) und in 20,18 leicht variiert als „Mariam die Magdalenerin“ (Mari/am h< Magdalhnh/) benannt. In 20,11 heißt sie einfach Maria (Mari/a), von Jesus wird sie in 20,16 als Mariam (Mari/am) angesprochen.1 Der Beiname Magdalenerin verweist auf ihre Heimatstadt Magdala und unterscheidet sie so von anderen Marien. Die eindeutige Identifizierung ist in 19,25 nötig, wo vor ihr schon eine Maria (und die Mutter Jesu ohne Namensnennung) aufgeführt wurde, und entsprechend auch zur Einführung einer neuen Episode in 20,1. Die Verwendung des ausführlichen Namens in 20,18 ist dagegen erzählerisch nicht zwingend. 1.2 Maria Magdalena beim Kreuz Jesu (Joh 19,25) Die erste Stelle, an der Maria Magdalena im JohEv erwähnt wird, ist 19,25. Sie ist als letzte in einer Auflistung von Frauen genannt, die beim Kreuz Jesu stehen. Vermutlich handelt es sich um vier Frauen: die Mutter Jesu, die Schwester der Mutter, Maria des Klopas und Maria Magdalena. Für die Vierzahl spricht das Gegenüber zu den vier Soldaten2 sowie die Symmetrie der Benennung, da dann die ersten beiden Frauen durch ihre Verwandt1 Die Namensformen Mari/a/Mari/am wechseln innerhalb der Textüberlieferung, an allen Stellen begegnet die jeweils andere Form als textkritische Variante. Diesem Wechsel kommt vermutlich keine große Bedeutung zu, aber es ist auffällig, dass innerhalb des vermutlich ursprünglichsten Joh-Textes beide Namensformen begegnen, während Maria von Bethanien konsequent als Mariam bezeichnet wird. 2 Am Ende von 19,24 ist das Tun der Soldaten zusammengefasst während in 19,25 das Stehen der Frauen erwähnt wird – beide Sätze sind mit me/n – de/ aufeinander bezogen, vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 256.

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Maria Magdalena

schaftsbeziehung zu Jesus, die letzten beiden durch Namen bezeichnet sind.3 Die Mutter Jesu ist zuvor schon in Joh 2,1–12 in wichtiger Funktion aufgetreten und in 6,42 erwähnt worden. Sie wird auch in der folgenden Szene 19,26f zusammen mit dem geliebten Jünger angesprochen.4 Die übrigen drei Frauen werden hier erstmals genannt und nur Maria Magdalena begegnet in 20,1–18 nochmals. Maria Magdalena Eine Tätigkeit der Frauen ist nur angedeutet: Sie stehen beim Kreuz. Dieses Faktum ist weder begründet noch näher ausgewertet, seine Bedeutung kann nur indirekt erschlossen werden. Jedenfalls sind sie mit dem Kreuz Jesu verbunden und das heißt, mit dem zentralen Ereignis der Offenbarung Jesu, auf das das JohEv zusteuert. Die Verbindung besteht im Stehen. Dies ist eine erstaunlich geringe Funktion, aber immerhin sind die Frauen an entscheidender Stelle präsent.5 Aussagen über das Stehen von Personen verbinden diese mitunter mit einem besonders typischen Kontext, etwa wenn Judas bei der Verhaftung Jesu dabeisteht (18,5) oder im Zusammenhang der Verleugnung dreimal von einem Stehen des Petrus die Rede ist (18,16.18.25). Bei Johannes dem Täufer bedeutet sein Stehen einen Bezug zu Jesus und leitet ein wichtiges Zeugnis ein (1,35, vgl. auch 3,29). Von daher kann das Stehen der Frauen als Verbindung mit der Kreuzigung Jesu aufgefasst werden. Gerade sie haben einen Bezug zur Stunde der Verherrlichung Jesu. Von Maria Magdalena wird in 20,11 nochmals ein Stehen festgestellt, und zwar beim Grab Jesu (eico/nia kai\ souda/rion ...)

und glaubte zwei Engel sitzen Jesus stehen (unerkannt) den Herrn

S.o., II.5.2. Anders Ruschmann, Maria, 108ff, die nur Joh 20,1f.11–18 der Analyse zugrunde legt. 8 Dass Maria in Joh 20,2 den Plural benutzt („wir wissen nicht ...“), schließt sie m.E. mit den beiden Jüngern zusammen. So auch Skamp, Mary, 26; Conway, Men, 187. Skamp sieht sogar eine Entwicklung von einer gemeinsamen Suche (V2) zu einer von Maria allein (V13). Anders Brock, Mary, 57, die hier einen Hinweis auf Tradition findet. 7

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Dieses siebenmalige Sehen im Abschnitt nähert sich stetig dem Höhepunkt in V18, wo Maria ihr Sehen des nun erkannten Auferstandenen feststellt. Auch der Gebrauch der Verben steigert sich hin zu einem theologisch qualifizierteren Sehen.9 Aus dem Rahmen fällt nur das Sehen des geliebten Jüngers in V8, das kein Objekt hat, mit Glauben verbunden ist und schon wie in V18 durch eine Form von oj to\ mnhmei~on V1.3.4.6.8), eine Gegenbewegung vom Grab weg wird in 20,1f vom Stein und vom Herrn ausgesagt (e>k tou~ mnhmei/ou). In 20,10 wenden sich die beiden Jünger wieder ab (a>ph~lcon), während Maria in 20,11 beim Grab steht (pro\j tw|~ mnhmei/w)| um sich dann hineinzubücken (ei>j to\ mnhmei~on). Vom Grab weg (ei>j ta\ o>pi/sw) dreht sie sich dann in 20,14, wodurch das Gespräch mit Jesus ermöglicht wird. In ihm wird eine neue Ebene der Bewegungen eröffnet, indem Jesus seinen Aufstieg zum Vater ankündigt und Maria zu den Geschwistern sendet (20,17). Auch hier umgreift der Aufbau also die verschiedenen Subjekte und bietet den entscheidenden Wendepunkt für die ganze Szene in Marias Wendung vom Grab und zu Jesus. Das Weggehen der beiden Jünger vom Grab (20,10) hat keine entsprechenden Auswirkungen bzw. sie sind in 20,8f schon vorweggenommen, so dass eine Art Spiegelung entsteht: Maria führt die verschiedenen Stufen des Sehens und das Gehen zum Grab in der gesamten Szene zum Ziel, indem sie sich vom Grab wegwendet und so Jesus begegnet (20,14). Verzögert noch durch ihr Nichterkennen Jesu (20,14f) kann sie schließlich ihr Sehen des Auferstandenen feststellen (20,18). Der geliebte Jünger dagegen kommt schon in 20,8 zu einem solchen qualifizierten Sehen, das in 20,9 durch das Nichtkennen der Schrift begründet wird und schließlich in 20,10 zum Weggehen vom Grab führt. Hier sind die Elemente Wegwenden, Nichtkennen und (qualifiziertes) Sehen also in genau umgekehrter Reihenfolge verwendet. Dies zeigt einen besonderen Status des geliebten Jüngers.11 Petrus dagegen ist zwar am Nichtkennen und am Weggehen beteiligt, nicht aber am qualifizierten Sehen – bei ihm bleibt dieser Punkt offen. Gegen eine Kohärenz des Abschnitts 20,1–18 spricht nur, dass Maria in 20,11 wieder am Grab steht, ohne dass ihr erneutes Gehen dorthin nach ihrem Bericht an die Jünger in 20,2 erzählt würde. Ihr Stehen dort kann aber 9

Vgl. Hergenröder, Wir, 482 und s.o., II.3.2. Vgl. Skamp, Mary, 27. 11 Hearon, Mary, 164f, sieht die Funktion des geliebten Jüngers hier ambivalenter. 10

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durchaus als Wiederaufnahme und Anknüpfung an ihr Kommen in 20,1 aufgefasst werden; erst im zweiten Teil von 20,11 macht sie Fortschritte in der Bewegung auf das Grab hin.12 Die Verwicklung von verschiedenen Personen in eine Szene, die nur an wenigen Punkten interagieren, spricht für die Aufnahme und Verarbeitung von verschiedenen Traditionen.13 Sie sind aber auf der Ebene des vorliegenden Textes tatsächlich zu einer Einheit verwoben. Für die Charakterisierung von Maria Magdalena ist deshalb der ganze Zusammenhang zu beachten.14 1.4 Die Rolle von Maria Magdalena in Joh 20,1–18 In der Szene ist Maria Magdalena die Hauptperson. Sie handelt und bewegt auch andere zum Handeln; außerdem steht sie im Dialog mit verschiedenen Personen. Für ihre Handlungen ist vorrangig festzuhalten, dass sie in verschiedenen Stufen zu einem theologisch qualifizierten Sehen (20,18) kommt. Es bildet den Zielpunkt der Darstellung. In diesem Sehen wird ein vorher mehrfach geäußertes Nichtwissen bezüglich der Person Jesu (20,2.13.14) aufgehoben und es basiert auf den Bewegungen zum und vom Grab, die so ihre tiefere Bedeutung bekommen. Sie ist damit eine, die das „kommt und seht“ aus Joh 1,39 erfüllt, und wird als eine Jüngerin analog zu den am Anfang des Evangeliums Berufenen gezeichnet.15 Eine weitere in dieser Szene wichtige Tätigkeit von Maria ist ihr Weinen (klai/w). Es wird in 20,11 berichtet und sowohl die Engel als auch Jesus nehmen in 20,13.15 darauf Bezug. Im JohEv ist dies ein Rückbezug auf 16,20, wo Jesus den JüngerInnen zunächst eine Zeit des Weinen und Trauerns (klau/sete kai\ crhnh/sete uoudai~oi (11,33), aber auch Jesus selbst (11,35, nur hier der Ausdruck dakru/w). Diese Handlung Jesu wird als Zeichen seiner Liebe zu Lazarus gedeutet (11,36) und diese Deutung ist vermutlich im Sinn des Evangeliums angemessen, da schon vorher Jesu Liebe zu Lazarus (und seinen Schwestern) festgestellt wurde (11,3.5). Das Weinen von Maria Magdalena kann hier also auch als Zeichen ihrer Liebe zu Jesus verstanden werden.18 Dies verbindet sich gut mit ihrer Darstellung als Jüngerin, bringt aber auch einen besonderen Akzent in ihre Beziehung zu Jesus.19 In diesem Zusammenhang der Beziehung zwischen beiden lassen sich auch weitere Tätigkeiten von Maria interpretieren: Ihr Wunsch, den Leib Jesu zu holen (20,15), und das Verbot Jesu, ihn zu berühren bzw. festzuhalten. Maria Magdalena spricht mit allen übrigen in der Szene auftretenden Personen und am Ende noch mit den JüngerInnen; alle sprechen ausschließlich mit ihr. Dieser Schwerpunkt auf dem Reden von und mit Maria fällt besonders auf, weil Petrus und der geliebte Jünger gar nicht sprechen. Der Inhalt ihrer Redebeiträge ist jedoch zunächst nicht bedeutend, sie drückt in ihnen immer wieder ein Nichtwissen aus (20,2.13.15). Erst in 20,16.18 zeigt sie in der Anrede an Jesus und der Verkündigung an die JüngerInnen ihr nunmehr erlangtes Verständnis, allerdings in größtmöglicher Knappheit. Wichtiger noch als diese Entwicklung bei Maria ist jedoch, was Jesus zu ihr sagt, und zwar schon deshalb, weil ganz am Ende nochmals darauf hingewiesen wird (20,18 kai\ tau~ta ei}pen au>th~|).20 Inhaltlich gibt er ihr eine Botschaft, die einerseits gut johanneisch seinen Aufstieg zum Vater ankündigt, andererseits Parallelen im Gottesverhältnis von Jesus und den JüngerInnen formuliert, die singulär im JohEv sind. Auch die Titulierung als „meine Geschwister“ kommt weder in der Wortwahl noch der Sache nach zuvor im Evangelium vor.21 Maria bekommt diese Belehrung Jesu ausdrücklich dafür, sie weiterzusagen. Dies gibt den Worten Jesu, aber auch und vor allem Maria selbst eine zusätzliche Ge18

Vgl. Fehribach, Women, 154f. Auch weitere Elemente charakterisieren die ganze Szene als eine Liebesszene. Dies zeigen Fehribach (vgl. Women, 147–150 und 155–159) anhand von Parallelen zu antiken Liebesromanen und Ruschmann (vgl. Maria, 201–207) vor allem durch Bezüge zum Hohelied. 20 In diesem Vers liegt ein Wechsel zwischen direkter Rede von Maria („ich habe ...“) und Bericht der Erzählstimme („dieses hat er ...“) vor, wodurch m.E. beide Elemente als jeweils bedeutend betont werden. Vgl. Schneiders, John 20:1–18, 167; sie sieht allerdings primär das Zeugnis von Maria hervorgehoben, weil sie die 1. Person als Veränderung gegenüber der Tradition ansieht. 21 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 287f. Ich gehe davon aus, dass hier die JüngerInnen als Geschwister bezeichnet werden, nicht die leiblichen Geschwister Jesu gemeint sind. Dies passt zur Ausführung des Auftrags durch Maria (20,18) und entspricht auch dem ausgesprochenen Gottesverhältnis, so dass die ungewöhnliche Bezeichnung dadurch erklärt werden kann. Vorbereitet ist der Gedanke schon seit Joh 1,12. 19

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wichtigkeit. Im JohEv ist sie die einzige, die Jesus direkt zum Reden beauftragt.22 Maria Magdalena wird von den Engeln und Jesus in 20,13.15 jeweils als Frau (gu/nai) angesprochen; dann von Jesus mit ihrem Namen (20,16). Im JohEv verwendet Jesus die Anrede Frau auch für seine Mutter (2,4; 19,26) und die Samaritanerin (4,21), die Formulierung ist also nicht ungewöhnlich. Diese Anrede scheint mir nicht ihr Frausein zu betonen,23 sondern hebt die persönliche Namensanrede hervor. In 20,17 lehnt Jesus eine Berührung bzw. ein Festhalten durch Maria ab. Im Text steht nicht ausdrücklich, dass sie ihn berührt oder berühren will, aber dies kann aus dem Verbot geschlossen werden.24 Die erneute und nach der ersten Wendung in 20,14 eigentlich sinnlose Wendung in 20,16 kann als weitere Zuwendung zu ihm aufgefasst werden.25 Die genaue Deutung der Ablehnung Jesu und ihrer Begründung ist hoch umstritten.26 Festzuhalten ist aber, dass die Begründung von Jesus handelt, nicht von Maria; möglicherweise liegt es also an seinem Zustand zwischen Auferstehung und Aufstieg.27 Auffällig ist auch, dass hier nach 20,9 schon zum zweitenmal im Abschnitt ein noch-nicht-Satz einen etwas unverständlichen Zusammenhang mit dem Satz bildet, den er begründen soll (Anschluss mit ga/r) – das warnt zumindest vor einer Überinterpretation.28 Im Ablauf der Erzählung ist das Verbot die Stelle, an der die Bewegung zum Grab und dann vom Grab weg auf Jesus zu gestoppt wird und eine andere Bewegungsebene ins Spiel kommt: Jesu Aufstieg und Marias Sendung zu den JüngerInnen.29 Als ein Bruch ist die Stelle auch vor dem Hintergrund der Analogie der Szene zu Liebesszenen zu sehen; das Verbot verhindert die Umarmung der sich gefunden habenden Liebenden.30 Auch dies lässt sich als ein Wechsel der Ebene interpretieren: Die menschliche Begegnung wird verlassen und der 22 Es gib aber die Auforderung zum Bezeugen an die JüngerInnen in 15,27. Vgl. Kap. II.4.3 und II.5.3 zu Imperativen Jesu und zum Phänomen des Weiterleitens von Nachrichten über Jesus. Maria Magdalena nimmt in 20,17f die in 20,21 erfolgende Sendung der JüngerInnen schon vorweg. 23 So Conway, Gender, 92. 24 Vgl. Hearon, Mary, 155. 25 So Bultmann, Evangelium, 532. Hearon, Mary, 154f, deutet das doppelte Wenden in Verbindung mit Joh 1,38 und 12,40 als treue und verständige Nachfolge. 26 Vgl. zu möglichen Deutungen Brown, Gospel II, 992f, und zur neueren feministischen Diskussion Attridge, Don’t, passim. 27 So D’Angelo, Critical, 532 und passim mit Verweis auf einen Vergleichstext aus ApkMos. Gegen eine solche Möglichkeit wendet sich Schneiders, John 20:1–18,165. Sie versteht dafür den ga/r-Satz als rhetorische Frage, die so deutlich macht, dass Jesus schon aufgestiegen ist. 28 Vgl. zur Deutung des ga/r als antizipatorisch McGhee, Less, 199f. 29 Vgl. Hearon, Mary, 156, die betont, dass Maria Jesus nicht folgen kann, aber seine Präsenz zu den JüngerInnen bringt. 30 Vgl. Fehribach, Women, 160f.

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Blick auf eine andere Art von Gemeinschaft (mit Gott) gelenkt. Für eine Ablehnung oder Herabsetzung von Maria durch das Verbot finden sich jedenfalls keine Hinweise. Im Aufbau der Szene ist Maria die Hauptfigur. Während die Engel und dann vor allem Jesus ein Gegenüber für sie bilden, gibt es zu Petrus und dem geliebten Jünger gewisse Parallelen, beide sind ihr im Ablauf aber deutlich untergeordnet, weil die ganze Szene auf ihr Erkennen und ihre Beauftragung hinläuft.31 Der geliebte Jünger nimmt das Ende in gewisser Weise schon vorweg, da auch er zu einen theologisch qualifizierten Sehen kommt. Dies hat aber keine Konsequenzen für den Ablauf. Er ist nicht die Hauptfigur und auch kein Handlungsträger, der mit anderen interagiert wie Maria,32 zeigt sich durch seinen „verfrühten“ Glauben jedoch hier wie in anderen Szenen als den anderen durch seine besondere Einsicht überlegen. Petrus dagegen ist an dieser Besonderheit nicht beteiligt. Dies bringt eine deutlich unterlegene Position dem geliebten Jünger, aber auch Maria gegenüber zum Ausdruck. 1.5 Maria Magdalena im JohEv: Offene Fragen und Anknüpfungspunkte für die LeserInnen Die Darstellung von Maria Magdalena im JohEv ist im Ganzen schlüssig und kohärent. Sie wird als eine Jüngerin gezeichnet, die im Zusammenhang mit Kreuz und Grab ihre Verbundenheit mit Jesus erweist und auch von ihm entsprechend angesprochen und beauftragt wird.33 Wie andere JüngerInnen auch übermittelt sie die Verbindung zu Jesus weiter. Ihre Darstellung hat durch den thematischen Kontext (Auferstehung), die Anzeichen für ihre besondere Liebe sowie durch die ausdrückliche Beauftragung eine spezifische Ausprägung. Sie bleibt aber insgesamt im Rahmen der Darstellung anderer Personen, die ebenfalls je individuelle Züge aufweisen. Maria ist Teil einer Frauengruppe und steht in Beziehung zur Gruppe der JüngerInnen. Maria Magdalena wird ohne weitere Erläuterung in 19,25 einfach genannt, sie scheint als bekannt vorausgesetzt zu sein. Die Funktion von Maria in der Gruppe von Frauen beim Kreuz bleibt aber innerhalb des JohEv allein etwas unklar – wieso ist sie dort überhaupt und in diesem Zusammenhang genannt? Der Abschnitt Joh 20,1–18 bietet eine Vielzahl vom Problemen für die Interpretation. Insgesamt scheint das Verhältnis von Maria zu Petrus und dem geliebten Jünger unklar zu sein, denn die häufige literarkritische Unterteilung des Abschnitts zeigt, dass der Zusammenhang 31

Anders Mohri, Maria, 150. Vgl. Hearon, Mary, 166. 33 Vgl. Hearon, Mary, 159f u.ö.; Ruschmann, Maria, 237 u.ö. 32

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trotz der m.E. deutlichen Hinweise auf Kohärenz offensichtlich nicht problemlos ist.34 In 20,17 ist die Bedeutung des Berührungsverbots und seine Begründung umstritten. Eine besondere, nicht in jeder Hinsicht sofort einsichtige Position hat schließlich 20,18: Der Vers scheint mehr Gewicht und Bedeutung zu haben als nur die Ausrichtung des Auftrags, nennt Maria Magdalena nochmals mit vollem Namen und bringt sie in eine Beziehung zur ganzen Gruppe der JüngerInnen, die nicht weiter ausgeführt wird.

2. Frühchristliche Traditionen über Maria Magdalena 2.1 Maria Magdalena in frühchristlichen Schriften (Überblick)35 Maria Magdalena wird in allen synoptischen Evangelien genannt, und zwar besonders häufig zusammen mit einer Gruppe von Frauen bei der Kreuzigung (so Mk 15,40f; Mt 27,55f) und Grablegung (Mk 15,47; Mt 27,61) sowie beim Grabbesuch mit Verkündigung der Auferweckung am Ostermorgen (Mk 16,1–8; Lk 24,1–11), die bei Mt auch eine Begegnung mit dem Auferstandenen umfasst (Mt 28,1–10). Außerdem erwähnt Lk (8,1–3) sie im Gefolge Jesu als eine, die von ihm geheilt wurde. Von einem Grabbesuch von Maria Magdalena und anderen Frauen berichtet auch EvPetr 12,50–13,57; in EpAp 9–11 schließt dies auch eine Erscheinung Jesu ein. Als Zeugin der ersten Erscheinung Jesu ist sie im sekundären Schluss des MkEv (Mk 16,9–11) aufgeführt. Sie wird dabei stets mit dem Doppelnamen Mari/a h< Magdalhnh/ bezeichnet.36 Damit wird sie über ihren Herkunftsort, nicht über einen männlichen Verwandten definiert, und von anderen oft mit ihr auftretenden Marien unterschieden. Frühchristliche Traditionen über Maria Magdalena Im EvThom kommt Maria an zwei Stellen vor: In 21 stellt sie eine Frage an Jesus, die er mit einem Gleichnis beantwortet, und in 114, dem abschließenden Spruch des EvThom, findet ein Gespräch über sie und ihre Zugehörigkeit als Frau zum JüngerInnenkreis statt. Maria gehört damit zu den wenigen ausdrücklich genannten und aktiven JüngerInnen im EvThom.37 In mehreren weiteren Schriften ist sie Gesprächspartnerin Jesu, so in Dial zusammen mit Judas und Matthäus und in SJC als eine namentlich genannte Jüngerin aus einer größeren Gruppe von Frauen und 34 Vgl. Hearon, Mary, 161.169: Die Einbeziehung von Petrus und dem geliebten Jünger ist ein erzählerisches Problem. 35 Die Gestalt der Maria Magdalena ist umfassend erforscht, vgl. dazu Petersen, Werke; Mohri, Maria; Marjanen, Woman; E. de Boer, Mary 1997 und Gospel; Schaberg, Resurrection, Ruschmann, Maria (zu Joh); Brock, Mary; Hearon, Mary. 36 Leicht variiert in Lk 8,2; die Namensformen Maria und Mariam wechseln oft. 37 Außer Maria sind das noch Salome, Thomas, Petrus und Matthäus.

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Männern.38 In PistSoph hat sie hat sie unter den beteiligten Frauen und Männern mit Abstand die größten Redeanteile und eine hervorgehobene Rolle. Im EvPhil gehört sie mit anderen Frauen zu Jesu Begleitung und wird von ihm besonders geliebt. Eine außerordentlich hervorgehobene Rolle hat Maria Magdalena im EvMar, das nicht nur nach ihr benannt ist, sondern in dem sie nach dem Weggang Jesu seine Worte weitervermittelt – etwa die Hälfte der Schrift ist direkte Rede von ihr.39 Von diesen Schriften tritt sie nur in PistSoph und EvPhil unter dem Namen Maria Magdalena auf, und nur in diesen werden auch andere Marien erwähnt. In den anderen Zeugnissen heißt sie einfach Maria,40 ist aber als Maria Magdalena zu identifizieren.41 Schließlich wird sie bei Hippolyt (haer. V 7,1; X 9,3) als Traditionsübermittlerin gnostischer (naassenischer) Gruppen genannt.42 2.2 Schwerpunkte und Entwicklungen der Traditionen zu Maria Magdalena Die Überlieferung zu Maria Magdalena zeigt mehrere Schwerpunkte: Zum einen ist sie mit den Passions- und Ostererzählungen verbunden, insbesondere mit der Auffindung des Grabes am Ostermorgen und der Verkündigung der Auferweckung Jesu. Mit den Geschichten rund um das Grab ist ihr Name fest verbunden, während die Namen der anderen Frauen variabler sind. Zum anderen ist sie Jüngerin und oft Gesprächspartnerin Jesu schon vor der Passion oder in nachösterlichem Setting.43 Sie gehört dabei in gnostischen Dialogen zu den häufig vorkommenden JüngerInnen, begegnet aber keineswegs in allen Schriften, da viele nur männliche Jünger nennen.44 Wenn eine oder mehrere Frauen einbezogen sind, dann ist Maria Magdalena dabei; sie ist eindeutig die wichtigste Jüngerin.45 Dabei erscheint an verschiedenen Stellen ihr Frausein als ein Problem, das in verschiedener Weise diskutiert wird. Schließlich hat sie in einigen Schriften eine Bedeu38 Am Anfang sind zwölf Jünger und sieben Jüngerinnen als anwesend erwähnt, neben Maria stellen vier Männer (Philippus, Thomas, Matthäus und Bartholomäus) als einzelne Fragen. 39 Soweit sich dies bei der nur fragmentarisch erhaltenen Schrift bestimmen lässt. 40 Zu den Namensformen vgl. Marjanen, Woman, 63–65. 41 Die Argumente von Shoemaker (vgl. Case passim), dass eine nicht genauer identifizierte Maria in vielen Fällen nicht als Maria Magdalena, sondern als die Mutter Jesu anzusehen sei, überzeugen mich nicht. Mein wichtigster Grund ist dabei die eindeutige und gleichberechtigte Zugehörigkeit von Maria zum Kreis der JüngerInnen in SJC, Dial und EvMar – im EvMar reden sie und Petrus sich als Schwester und Bruder an! Vgl. dazu auch Marjanen, Mother, passim; Brock, Setting, passim; King, Why, 56–58. 42 Vgl. auch Origines (Cels V 62) und zur genaueren Aufarbeitung Petersen, Werke, 157–162. 43 Von der Gesprächssituation her vorösterlich ist EvThom; nachösterlich sind SJC und PistSoph. Nicht klar festgelegt ist die Situation in Dial, EvMar bietet verschiedene Zeitebenen. 44 Mit Auflistung der Namen: 1Jeû und PistSoph Buch IV, außerdem ist in EpJac und EpPt als Gruppe nur der wohl traditionell männlich definierte Zwölferkreis beteiligt. AJ, LibThom und 1ApcJac haben nur einen männlichen Gesprächspartner. 45 Vgl. Petersen, Werke, 102f.

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tung, die die der anderen JüngerInnen übertrifft – in der PistSoph ist sie quantitativ die wichtigste Gesprächspartnerin, im EvMar erhält sie alleine Offenbarungen, die sie weitervermittelt, wodurch sie in die Rolle einer Vertreterin Jesu kommt. Eine Sonderrolle als besonders geliebte Gefährtin Jesu hat sie aber auch im EvPhil unabhängig von einer Gesprächssituation und ohne dass sie dies in eine Beziehung zu den anderen JüngerInnen setzen würde. Wird dieser Befund historisch geordnet, dann zeigt sich eine alte Traditionslinie, die Maria Magdalena mit der Kreuzigung und Grablegung Jesu sowie mit der am Grab am Ostermorgen erfahrenen Auferweckung Jesu verbindet. Für erstere Ereignisse ist sie vor allem Zeugin, für die Geschehnisse am Ostermorgen gibt es breitere Variationen in der Darstellung und in Bezug auf ihre Aufgabe: Sie erfährt die Auferweckung Jesu durch Engel oder durch eine Begegnung mit dem Auferweckten selbst. Die Erscheinung ist in der ältesten Fassung und auch später meist mit einem Auftrag zur Verkündigung verbunden, die Ausführung erfolgt jedoch oft gar nicht (Mk) oder ohne Ergebnis (Lk, EpAp) oder wird nicht berichtet (Mt). In diesem Passions- und Osterzusammenhang ist Maria Magdalena in der Regel die erste und wichtigste einer Gruppe von Frauen. Schon bei Mk impliziert die erste Erwähnung von Maria Magdalena bei der Kreuzigung, dass sie vorher eine Jüngerin Jesu war. Dementsprechend zeigt eine zweite Traditionslinie Maria als eine Jüngerin Jesu ohne Bezug zur Passion (Lk, EvThom, SJC, Dial, EvPhil).46 Alle Zeugnisse über Maria Magdalena beinhalten ihr Jüngerin-Sein, d.h. sie gehört überall zur Begleitung Jesu, oft zusammen mit anderen bekannten Personen. Spezifisch ausgeprägt wird dies jedoch in verschiedene Richtungen: Maria repräsentiert den JüngerInnenkreis und trägt zu seiner Definition bei, indem sie nach ihm fragt und als Frau sowohl beispielhaft zugehörig als auch umstritten ist. Sodann ist Maria Gesprächspartnerin und Gefährtin Jesu, die zu einer kleinen Gruppe besonderer JüngerInnen gehört, aber mitunter auch von ihnen nochmals ausgezeichnet wird. Besonders in gnostischem Kontext kann sie eine hervorgehobene Position haben. Ein solcher Status von Maria wird im EvMar deutlich, die Schrift geht aber über das bisher Gesagte hinaus, weil Maria nicht nur hervorgehoben und graduell überlegen ist, sondern eine einzigartige Position als Vertreterin Jesu im Gegenüber zu den anderen JüngerInnen bekommt.

46 Im Falle von Lk 8,2f ist eine redaktionelle Umgestaltung von Mk 15,40f möglich, vgl. Bieberstein, Jüngerinnen, 31f. Aber unabhängig davon kann es auch eine ältere Tradition von Maria als Jüngerin gegeben haben, die sich in Mk 15,40f, aber z.B. auch im EvThom ganz unterschiedlich niedergeschlagen hat.

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2.3 Vergleichstexte für die johanneische Darstellung Zu beiden Szenen, in denen Maria Magdalena im JohEv vorkommt, gibt es Paralleltexte in anderen Evangelien, die im Wesentlichen dieselben Ereignisse schildern und in denen Maria Magdalena ebenfalls beteiligt ist. Zu Joh 19,25 ist dies Mk 15,40f par Mt 27,55f. Die nächste Parallele zu Joh 20,1– 18 bietet Mt 28,1–10, wo ebenfalls von Grabbesuch, Engelerscheinung und Begegnung mit Jesus erzählt wird; ähnlich ist auch EpAp 9–11. Aber auch die Geschichten, die nur von einer Engelerscheinung im Grab (Mk 16,1–8; Lk 24,1–12; EvPetr 12,50–13,57) oder nur von einer Erscheinung Jesu (Mk 16,9–11) berichten, bieten Parallelen zu jeweils einem Teil des JohTextes. Neben diesen Varianten der Erzählung bestehen weitere thematische Anknüpfungspunkte in den Traditionen zu Maria Magdalena. Sie wird stets als Jüngerin Jesu dargestellt, aber diese Jüngerschaft wird sehr unterschiedlich definiert und ihre Position kann sowohl angefochten (EvThom 114) als auch auf verschiedene Weise hervorgehoben (EvMar, EvPhil) sein. Die Darstellung im JohEv lässt sich im Kontext dieser unterschiedlichen Vorstellungen noch genauer profilieren. Dazu gehört auch ihre Beziehung zu Jesus und ihre Einbindung einerseits in eine Gruppe von Frauen, andererseits in die Gesamtgruppe von JüngerInnen und zu einzelnen männlichen Jüngern. Der auffällige Befund der Verbindung von Maria mit verschiedenen Gruppen im JohEv lässt sich so erhellen. Auch die Thematisierung ihres Frauseins in verschiedenen Zeugnissen könnte in diesem Zusammenhang wichtig sein. Oft hat Maria Magdalena eine bestimmte Botschaft bzw. erhält eine Belehrung. In den Ostergeschichten geht es thematisch um die Auferstehung Jesu und die Ankündigung von Erscheinungen. Aber darüber hinaus lassen sich in vielen Zeugnissen weitere thematische Schwerpunkte erkennen, auch wenn nicht alles dazu passt: Maria steht oft in Verbindung mit Vorstellungen vom Aufstieg Jesu und der JüngerInnen (SJC, Dial, EvMar) und – separat oder damit verbunden – vom Geschick der JüngerInnen (EvThom 21). Von diesem Hintergrund aus lassen sich Verbindungen zu Joh 20,17 ziehen. Auch in ihm geht es um Aufstieg und er macht eine Aussage über die JüngerInnen. Schließlich ist auffällig, dass Maria Magdalena immer wieder im Konflikt mit Petrus dargestellt wird (EvThom, EvMar, PistSoph). Auch im JohEv steht sie mit ihm in Verbindung – und das Verhältnis in 20,1–18 ist nicht ganz leicht zu erfassen. M.E. ist das Thema hier die Autorität von Maria Magdalena. Das Verhältnis zu Petrus betrifft sowohl ihre Einbindung in den JüngerInnenkreis als auch ihre Rolle als Auferstehungszeugin. Ein relevanter Vergleichstext neben den ausdrücklichen Konflikttexten könnte dabei auch Lk 24 sein, in dem beide Personen ebenfalls zusammen auftre-

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ten.47 Insgesamt lässt sich im Zusammenhang der Frage nach Petrus und der Autorität von Maria Licht auf die Funktion von Joh 20,18 werfen. Auch bei diesem Vers erschließt sich die Bedeutung innerhalb des JohEv nicht völlig. Für das weitere Vorgehen ergeben sich so drei thematische Einheiten: Als Erstes soll die Frage nach der Rolle von Maria Magdalena als Jüngerin in ihrer Beziehung zu Jesus und anderen Jüngerinnen und Jüngern behandelt werden. Dies schließt die direkten Paralleltexte zu Joh 19,25 ein und kann vor allem zur Erläuterung der Bedeutung dieses Verses beitragen. Auch andere Stellen, an denen Maria Magdalena als Teil einer Gruppe erscheint und ihr Status thematisiert wird, gehören dazu. Als zweites geht es um Marias Botschaft als Auferstehungszeugin und über den Aufstieg sowie das Geschick der JüngerInnen. Hier sind die Paralleltexte vom Ostermorgen relevant, aber auch weitere Zeugnisse, in denen Maria Belehrungen erhält. Im JohEv trägt dies besonders zur inhaltlichen Einordnung von 20,17 bei. Und drittens soll schließlich das Verhältnis von Maria zu Petrus und ihre mögliche Autoritätsposition untersucht werden, was zum Verständnis des Aufbaus von 20,1–18 und insbesondere von 20,18 helfen kann.

3. Maria Magdalena als Jüngerin in ihrer Beziehung zu Jesus und den Jüngerinnen und Jüngern 3.1 Maria Magdalena und andere Jüngerinnen bei der Passion (Mk 15,40f par) Im JohEv steht Maria Magdalena als eine einer Gruppe von Frauen beim Kreuz Jesu (19,25). Hierin entspricht das JohEv den synoptischen Evangelien (Mk 15,40f par). Allerdings bestehen sowohl in den Einzelheiten als auch und insbesondere in der Position von Maria Magdalena einige wesentliche Unterschiede. Maria Magdalena als Jüngerin Im MkEv wird die Gruppe von Frauen an drei Stellen genannt (Mk 15,40f.47; 16,1–8). Jeweils ist Maria Magdalena die erstgenannte, die anderen Namen und die Anzahl variieren. Die Gruppe handelt gemeinsam, Maria Magdalena ist Teil von ihr, sie hat keine Sonderrolle in dem Sinne, dass sie allein etwas erlebt oder tut. Deutlich wird aber ihre Spitzenposition bei der Auflistung, sie ist klar die wichtigste Frau der Gruppe. Analog zur Funktion des ebenfalls stets erstgenannten Petrus im Zwölferkreis bzw. in der kleineren Gruppe mit Jakobus und Johannes und teilweise Andreas könnte sie auch als die Repräsentantin der Frauen angesehen werden. Im MkEv enthält das erste Auftreten der Frauen bei der Kreuzigung einen Rückblick auf ihre Beziehung zu Jesus, der ihre Anwesenheit erklärt 47

Vgl. Brock, Mary, 17.40f.

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(Mk 15,41): Maria Magdalena und die anderen namentlich aufgeführten Frauen sind Jesus, als er in Galiläa war, nachgefolgt (a>kolouce/w) und haben ihm gedient (diakone/w) – das verwendete Imperfekt drückt eine andauernde Tätigkeit aus. Hinzu kommen noch viele weitere Frauen, die mit ihm nach Jerusalem gezogen sind. Obwohl die Frauen bisher im MkEv nicht erwähnt wurden, wird also ihre Zugehörigkeit zum Kreis um Jesus auch schon in seiner Zeit in Galiläa vorausgesetzt. Hier treten sie in den Vordergrund, weil die übrigen geflohen sind (Mk 14,50) und sie allein durchhalten.48 Die Beschreibung ihrer Tätigkeit kennzeichnet sie als Jüngerinnen, zudem sind die Begriffe Nachfolge und Dienen im MkEv theologisch bedeutsame Ausdrücke zur Beschreibung von Jüngerschaft.49 Die Frauengruppe bildet eine Art Ersatz für die männlichen Jünger, eine Parallele zu diesen liegt in ihrer Flucht am Ende des Grabbesuchs am Ostermorgen mit der Erscheinung des Engels (Mk 16,8); damit endet das MkEv. Auch die Frauen sind also JüngerInnen, die versagen. Auch sie haben Verantwortung für das Ganze und implizit durchzieht das MkEv die Hoffnung, dass ihr Versagen wie das der Zwölf nicht das letzte Wort haben wird.50 Zeitweise stehen die Frauen aber treu und vorbildlich in der Nachfolge. Diese Funktion einer Frauengruppe begegnet auch in anderen Evangelien mit Passionsgeschichte. Fast immer steht Maria Magdalena an der Spitze der Gruppe, die ein gewisses Gegenüber zu den übrigen Jüngern bildet. Die übrigen Namen sind dagegen variabler. Das MtEv folgt weitgehend der Darstellung des MkEv. Die Ereignisse am Ostermorgen, an denen neben Maria Magdalena nur noch eine weitere Maria beteiligt ist, sind allerdings um eine Begegnung mit Jesus erweitert. Auch im MtEv werden die Frauen bei der Kreuzigung als Nachfolgerinnen Jesu eingeführt, festgehalten wird aber nur die Begleitung Jesu von Galiläa nach Jerusalem, nicht schon in Galiläa. Sie sind so weniger betont als im MkEv als Jüngerinnen charakterisiert. Einen eigenen Akzent setzt das LkEv, in dem die Frauengruppe nicht bei der Kreuzigung, sondern schon zu Zeiten des Wirkens Jesu angeführt wird. Im EvPetr ist bei der Kreuzigung keine Frauengruppe – und überhaupt keine Person aus dem JüngerInnenkreis – erwähnt, wohl aber beim Grabbe48 Im MkEv übernehmen, weil die Jünger / die Zwölf zunehmend versagen, andere, unerwartete Personen ihre Aufgabe der Nachfolge und des Bekenntnisses, so der geheilte Bartimäus (10,52) und der Hauptmann bei der Kreuzigung (15,39). Vgl. Tannehill, Jünger, 65f. 49 Vgl. Schottroff, Befreiungserfahrungen, 142–144. 50 Ob das MkEv allerdings Maria und die anderen Frauen immer bei der Erwähnung der machtai/ mitdenkt, ist nicht so eindeutig. Es ist auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass das MkEv inkonsequent verfährt, sie also mal einbezieht, mal von einer engeren Gruppe ausgeht. Das Interesse der Erzählung ziehen die Frauen jedenfalls erst auf sich, als die männlichen Jünger ausfallen.

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such am Ostermorgen (EvPetr 12,50f). Maria Magdalena wird hier ausdrücklich als Jüngerin (mach/tria) eingeführt. Ihre Rolle als bedeutendste Frau unter anderen Frauen ist noch gesteigert, denn sie ist als einzige namentlich genannt, die anderen Frauen werden als ihre Freundinnen (fi/lai) eingeführt und Maria ist es, die sie mit sich nimmt. Ihre Vorrangstellung geht also so weit, dass sie teilweise allein handelndes Subjekt ist und die anderen Frauen durch ihre Beziehung zu ihr definiert werden, aber ihre Einbindung in die Gruppe bleibt erhalten. Eine andere Tendenz zeigt die EpAp, in der von einem Grabbesuch von drei Frauen am Ostermorgen, einer Erscheinung Jesu und dem mehrfachen vergeblichen Versuch, die Jünger von seiner Auferweckung zu überzeugen, berichtet wird (EpAp 9–11). Maria Magdalena ist bei der Auflistung der Namen als letzte genannt, die anderen Namen variieren in der Textüberlieferung. Einzelne Frauen werden mit der Übermittlung der Botschaft der Auferweckung betraut; auch hier differieren die Textzeugen, eine klare Vorrangstellung von Maria Magdalena ist aber nicht erkennbar. Sie ist in dieser Darstellung einfach Teil der Gruppe. Außer im JohEv hat Maria Magdalena nur in Mk 16,9–11 allein eine Erscheinung Jesu, von der sie den übrigen berichtet. 3.2 Maria Magdalena als Jüngerin während des Wirkens Jesu (Lk 8,1–3) Im LkEv wird Maria Magdalena anders als bei Mk und Mt schon während der galiläischen Wirksamkeit Jesu genannt (8,2f). Sie erscheint so als selbstverständlich zur Gruppe um Jesus gehörig.51 In Lk 8,2f werden einige Informationen über die Frauen gegeben, an deren Spitze Maria Magdalena steht: Sie sind – wie die Zwölf (8,1) – bei Jesus (su\n au>tw|~), während er predigend umherzieht. Weiterhin ist gesagt, dass er sie geheilt hat (8,2) und dass sie ihm52 „mit ihrem Vermögen“ (e>k tw~n utai~j) dienten. Wie dieser Ausdruck genau zu verstehen ist – ob als materielle Unterstützung oder als Einsatz ihrer Möglichkeiten im umfassenden Sinne – ist umstritten.53 Deutlich scheint mir aber, dass das Dienen der Frauen irgendwie spezifiziert wird, was eine umfassende und theologische Deutung etwa 51 Eine weite Fassung der Gruppe, die bei Lk eindeutig nicht auf die Zwölf beschränkt ist, zeigt sich auch an anderen Stellen, etwa bei den Ostergeschichten, wo die Elf und die übrigen versammelt sind (24,9.22.33). 52 Ob in 8,3 als Empfänger des Dienens Singular (au>tw|)~ oder Plural (au>toi~j, so der Text von Aland) zu lesen ist, ist textkritisch umstritten. Die Bezeugung der Varianten ist ziemlich gleichwertig. M.E. ist es plausibler, dass im Laufe der Überlieferung ein direkter Bezug des Dienens der Frauen auf Jesus zugunsten einer allgemeineren Unterordnung der Frauen unter die Gruppe von Jesus und den Zwölf getilgt wurde als eine spätere Aufwertung der Frauengruppe. Denkbar ist allerdings auch die Absicht einer Konzentration auf Jesus (und die Angleichung an Mk 15,40f par). Vgl. Bieberstein, Jüngerinnen, 32–35. 53 Vgl. Bieberstein, Jüngerinnen, 53–67.

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von Mk 10,43–45 (vgl. Lk 22,26f) her erschwert. Als allgemeine Beschreibung von Jüngerschaft taugt die Formulierung nicht. Und auch der Hinweis auf die Heilungen trennt die Frauengruppe von den Zwölf, für die eine Berufung, nicht eine Heilung zur Nachfolge führt.54 Innerhalb dieser Frauengruppe hat Maria aber die Spitzenposition und von ihr wird am ausführlichsten berichtet.55 Bei Kreuzigung und Grablegung sind im LkEv keine Namen aufgelistet, aber nach dem Grabbesuch am Ostermorgen ist Maria Magdalena wieder die erstgenannte der Frauengruppe (Lk 24,10). Bei beiden Auflistungen im LkEv umfasst die Gruppe weitere Frauen neben den namentlich genannten. Es scheint jeweils die Gesamtheit der Frauen im Gefolge Jesu gemeint zu sein. So entsteht ein Gegenüber zwischen Frauengruppe und Männergruppe, wenn Maria Magdalena und die übrigen Frauen (ai< loipai/ Lk 24,10) den Elf und allen übrigen – vermutlich also den männlichen Jüngern – verkündigen (pa~sin toi~j loipoi~j Lk 24,9).56 Maria Magdalena ist im LkEv eine Jüngerin, sie steht an der Spitze der Frauengruppe in der Begleitung Jesu. Die Frauengruppe gehört zum Gesamtkreis, hat aber eine von den Zwölf unterschiedene Funktion. Ein Einspringen für die ausfallenden Jünger wie im MkEv kommt bei Lk nicht vor. 3.3 Maria Magdalena als bestätigte Jüngerin (EvThom 114) Im EvThom gehört Maria wie im LkEv zum Kreis um Jesus während seines Wirkens; sie steht wie andere JüngerInnen im Dialog mit ihm (EvThom 21). Sie wird dabei nicht besonders eingeführt, es gibt keine zusammenfassende Beschreibung ihres Verhältnisses zu Jesus. Aber ihre Zugehörigkeit zum Kreis wird am Ende in Frage gestellt und verteidigt (EvThom 114). EvThom 114 (NHC II p.51,18–26)57 1)

peJe simwn petros nau Je

mare mariHam ei ebol NHhtN Je NsHiome MpSa an MpwnH

54

1) Simon Petrus sagte zu ihnen: „Maria soll von uns weggehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht würdig.“

Vgl. D’Angelo, Reconstructing, 117. Dass bei Lk die Begleitung Jesu zwar eine große Gruppe von Männern und Frauen umfasst, Jüngerschaft im vollen Sinne aber möglicherweise nur einer engeren und männlichen Gruppe zugesprochen wird, dafür gibt es weitere Indizien: In Lk 18,29 wird gegen Mk 10,29f auch das Verlassen einer Ehefrau, nicht aber eines Ehemanns als Kennzeichen einer Gruppe, für die Petrus spricht, genannt. In Apg 1,21 wird ausdrücklich ein Mann für die Nachfolge des Judas im Zwölferkreis gesucht. 55 Vgl. Ricci, Mary, 140. 56 Aber dass die Frauen sich am Ostermorgen an Jesu Ankündigungen seines Leidens und Auferstehens erinnern können, bestätigt ihre Zugehörigkeit zum Kreis um Jesus. Die Leidensankündigungen werden bei Lk an die machtai/ (9,18.43) bzw. an die Zwölf (18,31) gerichtet, die Zielgruppe ist jeweils ausdrücklich genannt und in 9,18 beschränkt. 57 Text Aland, Synopsis; Übersetzung von mir.

Maria Magdalena als Jüngerin 2)

peJe \i\s Je eisHhhte anok

Tnaswk Mmos Jekaas eeinaas NHoout Sina esnaSwpe Hwws Nou!p!na eFonH eFeine MmwtN

133

2) Jesus sagte: „Siehe, ich werde sie ziehen, so dass ich sie männlich mache, damit auch sie ein lebendiger, euch gleichender, männlicher Geist werde.

NHoout

3)

Je sHime nim esnaas NHoout

snabwk eHoun etm!ntero nMphue

3) Denn jede Frau, die sich männlich machen wird, wird in das Königreich der Himmel eingehen.“

Diese Szene bildet den Abschluss des EvThom. Am Beispiel von Maria wird die Zugehörigkeit von Frauen zum JüngerInnenkreis58 diskutiert, d.h. es geht hier auch grundsätzlich um die Frage, ob die Ausführungen des EvThom sich gleichermaßen an Frauen richten wie an Männer. Beteiligt als Gesprächsführende sind Petrus und Jesus, Petrus wendet sich aber an eine Mehrzahl, also vermutlich die JüngerInnen, und fordert Maria zum Weggehen auf. Maria selbst antwortet nicht. Auf die Aufforderung des Petrus hin bezieht Jesus klar Stellung und spricht Maria und grundsätzlich allen „männlichen“ Frauen Eingehen ins Reich, also Würdigkeit des Lebens, zu.59 Maria wird hier ausdrücklich sowohl von Petrus als auch von Jesus als Repräsentantin für alle Frauen angesprochen. Petrus begründet seine Aufforderung zum Weggehen mit der grundsätzlichen Unwürdigkeit von Frauen. Die Entgegnung von Jesus bezieht sich zunächst nur auf Maria, wird aber auf alle Frauen ausgeweitet. Von daher kann die Szene mit anderen Zeugnissen verbunden werden, in denen Maria Magdalena die wichtigste Jüngerin ist. Sie sagt aber auch etwas aus über ihre Beziehung zu Jesus und darin über das Wesen von JüngerInnenschaft allgemein. Jesus ermöglicht Maria die Zugehörigkeit, weil er sie „männlich“ machen wird. Diese Formulierung vom Männlichwerden beschreibt das Ideal einer geschlechtslosen Geistigkeit, einer Existenz jenseits von Geschlechtsdifferenzierung.60 Auch wenn hier eine andere (und aus heutiger Sicht irritierende) Ausdrucksweise verwendet wird, ist der Sache nach das gleiche gemeint wie im Bild vom kleinen Kind in EvThom 21f.61 Jesus bürgt hier dafür, dass Maria dieses Ideal erreichen kann, was für die männlichen Jünger nicht in 58 Von JüngerInnen ist nicht ausdrücklich die Rede, aber das Wir, das Petrus einschließt, und der Wunsch, dass Maria weggehen soll, verweist auf einen begrenzten, auch örtlich zusammengehörenden Kreis. Das passt eher zur Gruppe der JüngerInnen als zu einem umfassenderen Kreis. 59 Das V3 einleitende Je kann auch als Neueinsatz einer weiteren wörtlichen Rede, etwa einer kommentierenden Äußerung, aufgefasst werden. M.E. ist aber eine kausale Deutung plausibler, da dann die Antwort Jesu parallel zur Frage eine Aussage über Maria macht, die durch eine allgemeine Aussage über Frauen begründet wird. 60 Vgl. dazu Petersen, Werke, 176f. In der Antike bezeichnet „männlich“ nicht nur ein Geschlecht gegenüber einem anderen (dem Weiblichen), sondern auch ein geistiges, geschlechtsloses Sein gegenüber (weiblicher) Geschlechtlichkeit. 61 S.u., III.4.2.

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Maria Magdalena

Frage steht. Die Aussage weist in die Zukunft, gerade hier am Ende der Schrift also auch über das in ihr Berichtete hinaus. Dadurch wird eine Perspektive für eine weiterführende Praxis entwickelt. Für Maria ist ihre Würdigkeit gesichert, für andere Frauen ist sie eine Möglichkeit, die sie selbst ergreifen können – auch dies weist über die im Evangelium erzählte Zeit hinaus. Das EvThom führt also nicht wie das MkEv erst im nachhinein Maria und andere Frauen als Jüngerinnen ein, sondern problematisiert am Ende die zuvor selbstverständliche Beteiligung. Die Existenz von Jüngerinnen ist der Ausgangspunkt, der am Ende ausdrücklich durch Jesus bestätigt und so festgeschrieben wird. Obwohl Maria dabei nicht zusammen mit einer Gruppe von Frauen auftritt, ist sie in einem noch umfassenderen Sinne repräsentativ für alle Frauen. 3.4 Maria Magdalena als geliebte Gefährtin Jesu (EvPhil) In EvPhil 32 sind drei Frauen genannt, die mit Jesus „gehen“ (mooSe) und alle drei Maria heißen: seine Mutter, seine Schwester und Maria Magdalena.62 Maria Magdalena wird dabei als seine Gefährtin (teFkoinwnos und teFHwtre) bezeichnet, die beiden anderen werden durch ihre Verwandtschaft näher definiert. Das Mitgehen drückt vermutlich ein Verhältnis als Jüngerinnen aus,63 aber es wird nicht genauer inhaltlich-theologisch beschrieben. Stattdessen wird die Beziehung zu Jesus näher bestimmt, und zwar in je spezifischer Weise. Maria Magdalena als Gefährtin bildet sozusagen den weiblichen Gegenpart zu Jesus, ist also in einmaliger Weise auf ihn bezogen und ihm besonders nah.64 An einer weiteren Stelle wird das Verhältnis Jesu zu ihr auch im Vergleich zu den anderen JüngerInnen genauer beschrieben: EvPhil 55b (NHC II p.63,33–64,5)65 Ma]ria tmag?[da]lhnh nere ps?[w thr me] M?mo?[s N]Houo aMmaqht[hs throu auw neF]aspaze Mmos

Der Hei[land lieb]te [Ma]ria Mag[da]lena mehr als [alle] Jüng[er, und er] küss[te] sie [oft]mals auf ihren [Mund].

ates?[tapro NHaH] Nsop apkeseepe M? [maqhths ero 62

(p.64) ...]

Die übrigen [Jünger (p.64) ...].

[...]ma

Zum Text s.u., VI.3.3. So Petersen, Werke, 276–278. Schenke (vgl. Philippus-Evangelium, 269) deutet das Verb als „ständigen Umgang haben“, sieht es also gerade nicht als Beschreibung eines JüngerInnenverhältnisses. 64 Vgl. Schenke, Philippus-Evangelium 270. Klauck, Maria, 2355, stellt fest, dass Maria Magdalena in der Fassung von EvPhil gegenüber Joh 19,25 in ihrer Bedeutung verstärkt wird, denn ihr Name wird durch eine inhaltliche Beschreibung ergänzt. 65 Text und Übersetzung Schenke, Philippus-Evangelium. 63

Maria Magdalena als Jüngerin peJau naF Je etbe ou kme Mmos pararon thrN aFouwSB NGi pswthr peJaF nau

{peJaF

nau} Je etbe ou Tme

MmwtN an NtesHe

135

Sie sagten zu ihm: „Weswegen liebst du sie mehr als uns alle?“ Der Heiland antwortete und sprach zu ihnen {}: „Weswegen liebe ich euch nicht so wie sie?“

In EvPhil 55b spricht Jesus ausdrücklich von seiner besonderen Liebe zu Maria Magdalena, die er den anderen gegenüber bevorzugt. Sie wird dabei mit den anderen JüngerInnen verglichen, was ihren Status in diesem Kreis bestätigt.66 Eine besondere Qualität von Maria scheint die Ursache zu sein, ohne dass dies weiter ausgeführt würde. Kennzeichen für diese Liebe ist, dass Jesus sie oftmals küsst, also eine körperliche Berührung, auch wenn diese im Kontext des EvPhil wohl vor allem eine geistige Verbindung impliziert.67 Eine Tätigkeit von Maria (außer dem Gehen in EvPhil 32) oder eine Beziehung zu den anderen JüngerInnen und eine Aufgabe ihnen gegenüber wird jedoch nicht geschildert. Das EvPhil zeigt eine besondere Hervorhebung von Maria Magdalena, verleiht ihr einen einzigartigen Status der Nähe zu Jesus, wodurch sie allerdings fast ihre Funktion als Jüngerin verliert.68 Sie ist jedenfalls nicht ein normales Mitglied der Gruppe der JüngerInnen wie im EvThom, sondern gehört mit den durch die Verwandtschaft besonderen Frauen zusammen. 3.5 Maria Magdalena als Lieblingsjüngerin und Vertreterin Jesu (EvMar) Spezifisch ausgeprägt ist die Rolle von Maria als Jüngerin im EvMar. Hier vertritt Maria Jesus und übernimmt seine Rolle. Dies zeigt sich in einigen Parallelen der Darstellung und in ihrer Funktion als Gegenüber zu den übrigen JüngerInnen, deren Fragen und Probleme sie aufnimmt und die sie belehrt. Sie ist dabei aber weiterhin seine Vertreterin, die nicht eigene Worte einbringt, sondern die Lehre Jesu unterstützt und bestätigt und Jesu Worte weitervermittelt. Als Person bleibt sie auf der Ebene der anderen JüngerInnen, die sich gegenseitig als Bruder und Schwester ansprechen. Sie kann angegriffen und in Frage gestellt werden, wobei das EvMar sie bestätigt, ohne sie aus der Debatte herauszunehmen und unangreifbar zu machen. Diese Doppelung der Rolle gleichzeitig als den anderen überlegene Lehrerin und als ihnen gleichberechtigtes Mitglied der Gemeinschaft erklärt sich durch das besondere Verhältnis zu Jesus. Maria ist seine Lieblingsjüngerin, d.h. sie ist und bleibt seine Jüngerin, wird aber in besonderem Maße, mehr als die anderen, von ihm geliebt und hat so eine herausgehobene 66 Nach Schenke (vgl. Philippus-Evangelium, 335f) ist sie die Lieblingsjüngerin, aber die einzige Frau im Jüngerkreis. Letzteres leuchtet mir nicht ein. 67 Vgl. Schenke, Philippus-Evangelium, 336. 68 Noch deutlicher sieht dies Mohri, Maria, 249.

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Maria Magdalena

Stellung. Diese besondere Liebe Jesu zu Maria wird von Petrus zunächst nur in Bezug auf die anderen Frauen zugestanden (p.10,1–3),69 am Ende aber von Levi grundsätzlich und allgemein bestätigt (p.18,12–15).70 Dieser Liebe korrespondiert eine besondere Qualität von Maria, sie wird von Jesus selig gepriesen, weil sie bei seinem Anblick nicht wankt (p.10,13–16).71 Die Sonderstellung führt zum Empfang von Belehrungen, auf die die anderen angewiesen sind. Im EvMar ist Maria also Teil der Gruppe der JüngerInnen, hat aber eine Leitungsfunktion den anderen gegenüber, die sie aktiv ausübt und die auf der Bevorzugung und Würdigung durch Jesus beruht. Anders als im EvPhil ist sie nicht als eine besondere Frau hervorgehoben, für deren Status Weiblichkeit Voraussetzung ist.72 Vielmehr ist sie unabhängig von ihrem Geschlecht ausgezeichnet im Kreis, der auch und vor allem aus Männern besteht.73 Angegriffen wird sie aber aufgrund ihres Frauseins, Petrus stellt ihre Autoritätsposition in Frage. Das EvMar bestätigt sie als eine einzelne herausragende Frau, repräsentativ für andere Frauen ist sie dagegen anders als im EvThom nicht. 3.6 Zusammenfassung: Maria Magdalena im JohEv als Person unabhängig von der Frauengruppe Im JohEv fehlt eine einführende Charakterisierung bei der ersten Nennung von Maria Magdalena. Vermutlich werden hier für Maria Magdalena bestimmte Informationen wie ihre Zugehörigkeit zur Begleitung Jesu einfach als bekannt vorausgesetzt. D.h. die fehlende Einführung kann als Darstellung von Maria Magdalena als Jüngerin gedeutet werden, wie sie in anderen Zeugnissen weiter ausgeführt ist.74 Alle vorhandenen Zeugnisse sehen Maria Magdalena als eine Jüngerin (zumindest im weiteren Sinne) an und 69 „Petrus sprach zu Maria: „Schwester, wir wissen, dass der Erlöser dich mehr liebte als die übrigen Frauen. ...“ (peJe petros mmariHam Je tswne tNsooun Je nerep!s!wR ouaSe nHouo para pkeseepe n\sHIme) POxy 3525, Zeile 14–16:

le/gei Pe/troj pro\j Maria/mmhn a>de/lfh oi}damen o[ti polla\ h>gaph/chj ukei~noj ei>dw\j au>th\n a>sfalw~j h>ga/phsen. 71 Auch Levi nimmt an, dass die besondere Liebe mit besonderen Eigenschaften Marias zusammenhängt, Jesus hat sie würdig gemacht und kennt sie genau (p.18,10–15). 72 Brock, Mary, 90f, betont vor allem die Parallelität zwischen EvPhil und EvMar: Jeweils wird Maria Magdalena mehr als alle anderen geliebt. Aber dies führt im EvMar m.E. zu einer ganz anderen und deutlich aktiveren Rolle als im EvPhil. 73 Petrus, Andreas und Levi sind im EvMar neben Maria namentlich genannt, weitere Männern und Frauen können im nicht erhaltenen Anfangsteil vorgekommen sein. 74 Anders Ruschmann, Maria, 55, die den Unterschied so bewertet, dass Maria Magdalena zunächst nicht als Jüngerin eingeführt wird.

Maria Magdalena als Jüngerin

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prägen ihre Rolle auf dieser Basis je eigenständig. Im weiteren Ablauf der Erzählung im JohEv wird diese erste Vermutung durch die Einzelheiten der Darstellung bestätigt.75 Das JohEv nimmt Maria Magdalenas Rolle als Jüngerin auf und gestaltet sie mit eigenen Akzenten: Sie steht wie auch sonst beim Kreuz Jesu als Teil einer Frauengruppe, aber sie ist nicht die Anführerin dieser Gruppe (19,25).76 Die erstgenannte ist die Mutter Jesu, deren Bedeutung durch die folgende Szene im Gegenüber zum geliebten Jünger noch unterstrichen wird (19,26f). Sie kann deshalb am ehesten sie als eine Repräsentantin der Frauengruppe angesehen werden. Insgesamt ist die Bedeutung der Gruppe deutlich geringer als in anderen Evangelien. Maria Magdalena erscheint in der Kreuzesszene als eine von mehreren ohne besonderen Status in der Gruppe und auch ohne wichtige Aufgabe als Teil von ihr. Dieser bekannte Teil der Tradition ist also aufgegriffen, aber eher beiläufig, in eingeschränkter Bedeutung. Bei ihrem zweiten Auftreten im JohEv, dem Grabbesuch am Ostermorgen, ist Maria Magdalena dagegen allein, sie handelt und redet und hat eine insgesamt bedeutende Funktion.77 Sie steht in Beziehung zu zwei Jüngern, den Engeln, Jesus und der Gruppe der JüngerInnen, nicht aber zu einer Frauengruppe oder einzelnen Frauen. Auch wenn sie von den Engeln und Jesus ausdrücklich als Frau angesprochen wird, liegt auf dem Geschlecht keine Betonung. Insbesondere steht sie nicht als Frau bzw. Repräsentantin einer Frauengruppe einer Männergruppe gegenüber. Ihr nicht hervorgehobener Status in der Gruppe am Kreuz spricht ebenso wie die Nichtbeteiligung dieser Gruppe am Ostermorgen für eine Betonung von Marias Individualität unabhängig vom Geschlecht. Die geringe Funktion der Frauengruppe insgesamt zeigt auch, dass das JohEv auf eine geschlechtliche Gruppierung wenig Wert legt.78 Vor dem Hintergrund der anderen Zeugnisse, in denen Marias Geschlecht ihren sozialen Kontext (Frauengruppe) bestimmt und/oder ausdrücklich thematisiert wird, fällt die Überschreitung von Geschlechtsrollen im JohEv besonders auf. Maria ist eine Frau, sie gehört zur Frauengruppe 75

Vgl. hierzu Ruschmann, Maria, 210–213 und passim. Klauck, Maria, 2350f, stellt aber fest, dass auch die Schlussstellung Gewicht hat und insgesamt dem Aufbau des JohEv entspricht, in dem die Mutter Jesu zu Anfang und Maria Magdalena am Ende auftritt. 77 Brock, Mary, 56f, sieht schon im einzelnen Auftreten von Maria Magdalena eine Steigerung ihrer Bedeutung. 78 In der Gruppe sind nur zwei der fünf wichtigsten Frauen im JohEv, aber zwei sonst nicht vorkommende Frauen vertreten, so dass die Gruppe eindeutig nicht die Gesamtheit der Nachfolgerinnen Jesu umfasst, sondern eher als individuell zusammengesetzt erscheint. Möglicherweise erklärt sich durch eine solche Absicht das einmalige Vorkommen der beiden nur in Joh 19,25 genannten Frauen. Dies ist ein Problem, vgl. E. de Boer, Gospel, 160. 76

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Maria Magdalena

und wird als Frau angesprochen. Aber die wesentlichen Handlungen und Ereignisse gelten ihr als Individuum unabhängig vom Geschlecht und in geschlechterübergreifenden Beziehungen. Die Art ihrer Kontakte zeigt Maria als Teil der ganzen Gruppe der JüngerInnen, mit der sie interagiert, ohne dass ein Gegenüber von Frauengruppe und Männergruppe entsteht wie im LkEv.79 Im JohEv zeigt die Darstellung zunächst Marias Liebe zu Jesus, die von ihm erwidert wird (Maria gehört zu den Schafen, für die er sein Leben lässt). Ausdrücklich festgestellt wird diese Liebe aber nicht, und eine körperliche Berührung wird abgelehnt. Im Vergleich mit dem EvPhil kann dieser Bruch in der Beziehung zu Jesus gerade als Ermöglichung ihrer Aufgabe gegenüber den anderen JüngerInnen verstanden werden. Denn dort ist die Gemeinschaft mit Jesus ungebrochen, aber kein Bezug von Maria zu den anderen erkennbar. Dagegen folgt im JohEv wie im EvMar aus der Liebe Jesu eine Funktion im JüngerInnenkreis. Dieser Übergang wird durch den Einschnitt in Joh 20,17 ausdrücklich sichtbar.

4. Maria Magdalenas Botschaft: Auferstehung, Aufstieg und Ort Jesu und der JüngerInnen 4.1 Die Botschaft von der Auferstehung in Ostergeschichten Maria Magdalena bekommt in Joh 20,17 von Jesus die Anweisung, ihn nicht festzuhalten, er macht eine Aussage über sich (über seinen noch nicht erfolgten Aufstieg) und er gibt ihr den Auftrag, eine bestimmte Botschaft an die JüngerInnen auszurichten. Diese Botschaft an die JüngerInnen handelt von seinem jetzt erfolgenden (Präsens) Aufstieg und spricht auch von ihrem zu Jesus parallelen Gottesverhältnis. In 20,18 wird dann die Ausführung des Auftrags berichtet, wobei aber in wörtlicher Rede nur ihre Zusammenfassung ihres Erlebnisses wiedergegeben wird. Auf die Worte Jesu wird nur indirekt verwiesen, sie werden nicht wiederholt. Maria Magdalenas Botschaft Diese Worte Jesu sind in einigen Punkten analog zu denen des Engels an die Frauen in Mk 16,6f (par Mt 28,5–7). Auch hier gibt es eine Anweisung an die Frauen (sich nicht zu fürchten), eine Aussage über Jesus (seine Auferweckung und Abwesenheit) und eine Botschaft an die JüngerInnen, die Jesu Vorausgehen nach Galiläa und die Ankündigung des Sehens umfasst.80 79 Ein ausdrücklich berichteter Kontakt zwischen Frauen und Männern aus dem JüngerInnenkreis ist ohnehin selten. In Lk 24,9–11 ist er erfolglos, die Frauen überzeugen die Männer nicht. Ein ähnliches Gegenüber wird in EvThom 114 deutlich, aber hier ist Maria nicht einmal selbst am Gespräch beteiligt. Im EvMar dagegen verteidigt sie sich selbst gegen Petrus. 80 In Mt 28,7 gehört zur Botschaft, die die Frauen ausrichten sollen, auch die Auferweckung Jesu.

Maria Magdalenas Botschaft

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Die Aufforderung, sich nicht zu fürchten, gehört gattungsgemäß zu einer Erscheinungsgeschichte und bezieht sich auf die Reaktion der Frauen auf den Anblick des Engels. Erst danach und so vorbereitet wird dann die eigentliche Botschaft übermittelt. Sie besteht wie im JohEv aus einer Aussage über Jesu Ziel, in die die JüngerInnen einbezogen sind. Mt 28,10 ist weitgehend eine kürzere Wiederholung aus dem Mund Jesu. Der Auftrag, den Jesus an die Frauen richtet, ist insgesamt stärker aus der Perspektive der JüngerInnen formuliert, die nach Galiläa gehen sollen und Jesus dort sehen werden. Durch den unmittelbaren Kontext der Engelbotschaft ist aber deutlich, dass Jesus nach Galiläa vorausgeht. Die Auferweckung ist hier nicht eigens genannt, sondern ergibt sich ebenfalls durch den Kontext. Wiederholt wird als Auftakt das „Fürchtet euch nicht!“, obwohl die Frauen sich in Mt 28,9 anders als in 28,4 gar nicht fürchten. Diese Anweisung scheint auch hier wieder als Vorbereitung für die eigentlichen Worte zu dienen. Lk 24,5–7 bietet eine andere Engelbotschaft als Mk und Mt. Die Frauen erhalten keinen Auftrag zum Ausrichten einer Botschaft, stattdessen gibt es einen Rückblick auf die Ankündigungen der Auferweckung in Galiläa. Es werden Jesu Aufweckung und seine Abwesenheit festgestellt, aber eine Verbindung zu den JüngerInnen wird nicht hergestellt. Die Botschaft der Engel ist so viel stärker auf Jesus und seine Auferweckung konzentriert. Dies gilt auch in EvPetr 13,56, wo den Frauen ebenfalls die Auferweckung Jesu und seine Abwesenheit verkündigt wird. Die Ortsveränderung Jesu wird dabei allerdings genauer beschrieben, er ist dahin weggegangen, woher er gesandt wurde.81 Einen Auftrag erhalten die Frauen auch im EvPetr nicht. In Mk 16,9–11 wird zwar die Erscheinung Jesu vor Maria Magdalena nicht genauer geschildert und deshalb auch kein Auftrag genannt, aber sie übermittelt den übrigen, dass er lebt und von ihr gesehen wurde (Mk 16,11). Auch hier liegt das Schwergewicht auf der Auferweckung Jesu, nicht auf seinem Weg oder einer Beziehung zu den JüngerInnen. Gleiches gilt für EpAp 10, hier werden die Frauen durch Jesus selbst ausdrücklich mit der Nachricht von seiner Auferweckung zu den Jüngern gesandt. Insgesamt ist in allen diesen Ostergeschichten nicht weiter überraschend die Auferweckung Jesu das wichtigste Thema, das Maria Magdalena und den anderen Frauen mitgeteilt wird und das sie weitervermitteln sollen. An vielen Stellen ist dies mit einer genaueren Auskunft verbunden, wo Jesus sich befindet oder sich hinbewegt – zumindest wird fast immer gesagt, wo er nicht ist. MkEv und MtEv sind hier am ausführlichsten, und bei ihnen hat der Weg Jesu nach Galiläa ausdrücklich Konsequenzen für die JüngerInnen, 81

Ende von EvPetr 13,56: a>ne/sth ga/r kai\ a>ph~lcen e>kei~ o[cen a>pesta/lh.

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Maria Magdalena

sie sind in ihn einbezogen. Gerade diese Botschaft soll Maria Magdalena dann übermitteln. 4.2 Die Existenz der JüngerInnen (EvThom 21) In Schriften, in denen die Passion Jesu nicht genauer erzählt wird, entfallen auch Grab- und andere Ostergeschichten. Maria Magdalena ist aber in verschiedenen anderen Kontexten an Gesprächen mit Jesus beteiligt und mit manchen Themen immer wieder verbunden. Häufig geht es dabei um die Existenz der JüngerInnen, über die Maria Informationen erhält. In EvThom 21 fragt Maria Jesus, wem seine JüngerInnen gleichen. Es ist die erste der beiden Stellen, an denen sie im EvThom erwähnt wird.82 Die ausdrückliche Bestätigung ihrer Zugehörigkeit zum Kreis der JüngerInnen in EvThom 114 schließt es m.E. aus, dass Maria in EvThom 21 nur nach der Gruppe der männlichen Jünger fragt, zu denen sie selbst nicht gehört.83 Hinzu kommt noch, dass nicht nur zwei von fünf namentlich genannten Personen aus dem JüngerInnenkreis Frauen sind, sondern Salome sich in EvThom 61 ausdrücklich als Jüngerin bezeichnet (anok tekmaqhths). Als Antwort auf Marias Frage ist in erster Linie der erste Abschnitt (21,2–4) zu betrachten, denn in 21,5 ist ein Einschnitt durch eine neue Redeeinleitung und einen Spruch aus einem neuen Bildfeld gegeben. EvThom 21,1–4 (NHC II p.36,33–37,6)84 1)

peJe mariHam N\i\s Je

enekmaqht?hs eine Nnim

2)

peJaF Je eueine NHNShre Shm

euGelit auswSe etwou an te

3)

Hotan euSaei NGi NJoeis NtswSe senaJoos Je ke tNswSe ebol nan

4)

Ntoou sekakaHhu MpouMto

ebol etroukaas ebol nau NseTtouswSe nau

1) Maria sagte zu Jesus: „Wem gleichen deine JüngerInnen?“ 2) Er sagte: „Sie gleichen kleinen Kindern,85 die sich auf einem Feld aufhalten, das ihnen nicht gehört. 3) Wenn die Herren des Feldes kommen, werden sie sagen: ‚Lasst uns unser Feld.‘ 4) Sie sind nackt vor ihnen, damit sie es ihnen lassen und sie ihnen ihr Feld geben.

Diese Antwort auf die Frage von Maria ist in vieler Hinsicht rätselhaft. Zunächst ist unklar, wer eigentlich jeweils mit der 3. Person Plural gemeint ist. 82 Im EvThom werden insgesamt nur wenige JüngerInnen mit Namen genannt: Thomas in 1 und 13; Petrus in 13 und 114; Matthäus in 13 sowie Salome in 61. In 12 wird auf den Herrenbruder Jakobus verwiesen, der aber nicht als zum Kreis der JüngerInnen gehörig erscheint. 83 Vgl. auch Marjanen, Woman, 42; Petersen, Werke, 107f. 84 Text Aland, Synopsis; Übersetzung von mir. 85 Der Berliner Arbeitskreis übersetzt hier „Knechte“, weil im koptischen Shre Shm eine eher unangemessene Übersetzung eines griechischen pai~j vermutet wird. M.E. lässt sich die vorliegende koptische Fassung sinnvoll interpretieren, auch wenn ich diese Vermutung zur Traditionsgeschichte für plausibel halte.

Maria Magdalenas Botschaft

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Ich gehe davon aus, dass in 21,3 die Herren des Feldes sprechen, da nur sie es als „unser Feld“ bezeichnen können. In 21,4 deutet dann das betont genannte Ntoou („sie“) einen Subjektwechsel an, die Kinder sind also nackt und dies hat den Zweck (kausativer Infinitiv), dass sie den Herren das Feld übergeben.86 Schwierig ist aber auch die Deutung des Bildes. Ohne die einzelnen Züge zu sehr allegorisch auszudeuten lässt sich zumindest festhalten, dass die JüngerInnen durch einen Zustand der Nichtzugehörigkeit und grundlegenden Unsicherheit in ihrer Existenz bestimmt sind – dies kann im eher materiell-sozialen oder im spirituellen Sinn verstanden werden. Auffällig ist weiterhin ihre Beschreibung als Kinder. In EvThom 22 sind es Säuglinge, die denen gleichen, die ins Reich eingehen. Dies wird dann als Aufforderung zur Überwindung von grundsätzlichen Dualitäten wie der Geschlechtsdifferenz interpretiert. Die Beschreibung der JüngerInnen als kleine Kinder kann in diesem Kontext verstanden werden, dann wird ihnen hier eine Existenz jenseits der weltlichen Differenzierungen zugesprochen.87 Den Kindern gegenüber stehen Herren, deren Einflussbereich sich aber vor allem auf das Feld, nicht auf die Kinder selbst zu beziehen scheint.88 Insgesamt fügt sich dieses Bild der JüngerInnen gut in die Vorstellungen des EvThom ein. Die JüngerInnen sind heimatlos (EvThom 42) und stehen allein und einsam da (4; 16,4; 23; 49), auch nackt (37), und finden gerade in der Freiheit von der Welt ihr eigentliches Wesen. Eine erstaunlich geringe Rolle spielt dagegen Gott, dessen Kinder und Erwählte sie zwar sind (3,4; 50), der aber nicht irgendwie schützend oder fordernd eingreift oder Adressat von Bitten ist.89 Auch dies entspricht dem Bild in EvThom 21, in dem die Kinder allein auf fremdem Gebiet in Auseinandersetzung mit den Herren stehen.90 Die nächste Parallele liegt in EvThom 37, wo Ausziehen ohne Scham und die Ähnlichkeit mit kleinen Kindern die Voraussetzung ist, den Sohn des Lebendigen zu sehen. Dies ist die Antwort Jesu auf eine Frage der JüngerInnen, wann er ihnen erscheinen und wann sie ihn sehen werden. 86

Zum Text und den Deutungsmöglichkeiten vgl. Hartenstein, Nackt. Vgl. Petersen, Werke, 108f. 88 Auch deshalb ist die Übersetzung „Kinder“ sinnvoll. Werden sie als „Knechte“ aufgefasst, dann ist darin eine Befehlsgewalt der „Herren“ über sie impliziert, die m.E. von der Darstellung nicht gedeckt ist. 89 Vgl. Attridge, Seeking, 301f. 90 Allerdings könnte die Fortsetzung in EvThom 21,5–7 (5 „Deshalb sage ich: Wenn der Hausherr erfährt, dass der Dieb im Begriff ist zu kommen, wird er wachsam sein, bevor er kommt und wird ihn nicht eindringen lassen in sein Haus, seinen Herrschaftsbereich, dass er seine Habe wegnehme. 6 Ihr aber seid wachsam gegenüber der Welt! 7 Gürtet eure Lenden mit großer Kraft, damit die Räuber keinen Weg finden, um zu euch zu kommen.“) als Bild für Gottes (des Hausherrn) Schutz seiner Habe (der JüngerInnen, Kindern) vor den Räubern (den Herren?) gelesen werden. 87

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Maria Magdalena

Hier steht die Beschreibung der JüngerInnen also in direkter Beziehung zu Jesus, d.h. ermöglicht eine Verbindung zu ihm.91 Dass Maria im EvThom eine solche Beschreibung der JüngerInnen zu hören bekommt, kann an ihrem Frausein liegen: Das Bild der JüngerInnen als Kinder ohne geschlechtliche Differenzierung ermöglicht ihr überhaupt die Zugehörigkeit zu den JüngerInnen und gerade ihr gegenüber kommt deshalb dieses Thema zur Sprache.92 Aber ich denke, dass dies nicht der einzige Aspekt der Darstellung ist. In EvThom 21 erscheint Maria auch als eine Art Sprecherin der ganzen Gruppe.93 Sie ist mit der Gruppe der JüngerInnen nicht nur deshalb verbunden, weil ihre Zugehörigkeit bestritten werden könnte, sondern zeigt sich hier auch als eine, die für die ganze Gruppe verantwortlich ist. 4.3 Der Aufstieg der JüngerInnen (SJC, Dial) Auch in anderen Schriften ist Marias Name mit einer Beschreibung der JüngerInnen verbunden, zu der auch ein Aufstieg gehört. In der SJC bezieht sich ihre zweite Frage auf das Woher und Wohin der JüngerInnen.94 SJC BG p.117,12–1795 peJas naF NGi mariHam Je pe!x\s etouaab nekmaqhths Ntauei twn h eunabwk etwn h eur ou Mpima

Maria sagte zu ihm: „Heiliger Christus, woher kamen deine JüngerInnen und wohin werden sie gehen und was tun sie an diesem Ort?“

Die Antwort Jesu ist eine Kurzfassung des gnostischen Mythos der Menschenentstehung sowie des möglichen Aufstiegs. Ein analoger Abstieg und Aufstieg wird auch von Jesus festgehalten. Hier liegt das Interesse viel stärker auf den JüngerInnen und durch den gnostischen Kontext wird zunächst der Abstieg, dann der Aufstieg behandelt. Aber der Bewegungsablauf ist ähnlich wie in Joh 20,17. Wieso gerade Maria diese Frage stellt, ist nicht einsichtig, die Fragen in der SJC sind möglicherweise eher willkürlich verteilt. Es könnte sein, dass hier ihr Geschlecht eine Rolle spielt, denn in der Antwort Jesu gehören zum Aufstieg auch ähnlich wie in EvThom 22 die Überwindung von Dualitäten (BG p.122,9–12), die Geschlechtlichkeit der JüngerInnen wird aber nicht 91

Vgl. de Conick, Voices, 104. Vgl. Petersen, Werke, 108f. 93 Vgl. Mohri, Maria, 202. 94 Ihre erste Frage bezieht sich auf Belehrungen über den Unterschied zwischen der Entstehung aus dem Vergänglichen und aus dem Unvergänglichen und fragt, wie dies erkannt werden wird. (SJC BG p.90,1–3 par). 95 Koptischer Text nach Parrott, Eugnostos; Übersetzung von mir. Die Abweichungen der Fassung von SJC aus NHC III sind minimal. 92

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Maria Magdalenas Botschaft

ausdrücklich thematisiert, so dass sich diese Interpretation nicht sehr nahe legt.96 M.E. ist Maria hier wieder die Verantwortliche für die Gruppe. Eine ähnliche Szene begegnet in Dial: Dial NHC III p.131,19–132,597 [amari]Hammh

Sine Nesnhu [Je naI]

etetNSine MpShre M[prwme] e?roou etetnakaau twn

[peJepJ]oeis nas Je tswne [nim pet]naSSine NsanaI ei[mhti p]e?t?euNtaF topos Mmau (p.132) ekaau HMpeFHh[t auw euNGom] MmoF eei ebo? [l HM pikosmos] NFbwk eHoun? e? [p]m?a? [MpwnH] Jekaas Nnoukatexe Mm? [oF HM] pikosmos NHhke

Maria fragte ihre Brüder: Diese Dinge, wonach ihr den Sohn [des Menschen] fragt, wo werdet ihr sie lassen?“ [Der] Herr [sagte] zu ihr: „Schwester, [niemand] wird danach fragen können [ausgenommen] der, der (einen) Platz hat, (p.132) sie in sein Herz zu legen, [und vermag] [aus dieser Welt] herauszukommen und hineinzugehen zum Ort [des Lebens], so dass [er] nicht niedergehalten wird [in] dieser armseligen Welt.“

Auffällig ist, dass Maria ausdrücklich die anderen, ihre Brüder, anspricht, aber Jesus ihr antwortet und sie dabei Schwester nennt.98 Inhaltlich versteht er schon die Fähigkeit, Fragen an ihn zu richten, als Beweis für die besondere Qualität der JüngerInnen, die nicht in der Welt zurückgehalten werden. Dadurch erübrigt sich die Anfrage von Maria, die nicht sicher ist, ob und wie ihre Brüder die Antworten verstehen und bewahren können. Auch Dial geht also von einem Aufstieg der JüngerInnen aus. Und es ist wieder Maria, die hier speziell eine Information über die JüngerInnen bekommt.99 4.4 Der Aufstieg der Seele (EvMar) Auch im EvMar ist Maria mit einer charakterisierenden Aussage über die JüngerInnen verbunden. Hier spricht sie aber selbst nach dem Weggang Jesu zu den verzagten JüngerInnen: Diese sind traurig angesichts ihres Auftrags zur Predigt, weil sie ein ähnliches Schicksal wie Jesus befürchten (p.9,5–12). Maria sagt ihnen als Trost das Mitsein der Gnade Jesu zu, die 96

So aber Petersen, Werke, 109–111. Text Emmel, Dialogue; Übersetzung Petersen/Bethge. 98 Jesus nennt auch seine JüngerInnen insgesamt Geschwister (Dial NHC III p.120,4) sowie Matthäus Bruder (p.132,10). 99 Brock (vgl. Mary, 78) sieht in Dial p.139,8–13 (#53) Maria sogar selbst eine Definition von JüngerInnen geben, nämlich dass sie ihrem Lehrer gleichen (Maria sagte: „So (verhält es sich) im Hinblick auf ‚das tägliche Übel‘, und ‚der Arbeiter ist seiner Nahrung würdig‘, und ‚(damit) der Jünger seinem Lehrer gleiche‘.“ peJas NGimariHam JeHinaI etkakia MpeHoou 97

peHoou auw pergaths MpSa NteFtrofh: auw

pmaqhths NFeine

MpeFsaH: peeiSaJe asJooF Hws sHime easeime epthr\F).

M.E. liegt hier eher ein Zitat eines bekannten Spruches vor, vgl. Petersen, Zitate, 518f. Und durch die Zusammenstellung ist der Jüngerspruch wenig betont.

144

Maria Magdalena

sie beschützen wird, und fordert sie dann zum Lobpreis Jesu auf, weil er sie zu Menschen gemacht hat (p.9,14–20).100 Diese Antwort enthält also zwei Aspekte, die sich nicht ganz reibungslos aneinander anschließen, sondern eher ergänzen: Den Schutz Jesu einerseits und einen durch ihn schon erlangten preisenswerten Zustand andererseits.101 Dieses „er hat uns zu Menschen gemacht“ ist im EvMar in Verbindung mit Jesu Aussage über den Menschensohn im Innern (p.8,18f) und Levis Aufforderung zum Anziehen und Hervorbringen des vollkommenen Menschen (p.18,15–17) zu verstehen; gemeint ist wohl ein Erreichen eines wahren Menschseins.102 Maria kann also aufgreifen und wiedergeben, was Jesus schon allen gesagt hat. Hier gibt sie eine Definition der JüngerInnen. Auch vom Aufstieg kann Maria im EvMar Wesentliches berichten, allerdings ist durch fehlende Seiten nicht deutlich, um wessen Aufstieg es sich handelt. Im Gespräch mit Jesus geht es zunächst um die Möglichkeit des Sehens von Visionen, nach den fehlenden Seiten setzt der Text dann mitten in einem Bericht vom Aufstieg der Seele ein, der noch zur Rede Jesu an Maria gehört (vgl. p.17,7–9). Die Seele überwindet auf dem Weg nach oben durch bestimmte Antworten vier Gewalten (ecousia), die sie aufhalten wollen. Dies ist als Vergangenheit erzählt, allerdings fehlt ein Erreichen des Ziels. Stattdessen spricht die Seele gegenüber der letzten Gewalt von ihrer schon erfolgten Erlösung in der Welt (p.16,17–17,3), dann aber im Futur von der „Ruhe ... in Schweigen“ (tanapausis ... HN noukarwF), die sie empfangen wird (p.17,4–7). Durch die Lücke im Text ist die Verbindung des Gesprächs zwischen Jesus und Maria und dem zwischen Seele und Gewalten nicht mehr ersichtlich. Denkbar ist, dass Jesus hier von seiner eigenen Seele spricht, oder auch von der Seele Marias bzw. der JüngerInnen, oder der Bericht steht in 100 Sie (Maria) sagte zu ihren Geschwistern: „Weint nicht und seid nicht traurig und zweifelt nicht, denn seine Gnade wird mit euch allen sein und euch bewahren. Vielmehr lasst uns seine Größe preisen, weil er uns vorbereitet und zu Menschen gemacht hat.“ (peJas nnessnhu

Je mpRrime naSwpe 19

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nMmhtN thrn? auw nsRskepa 20

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twtN aFaan Nrwme) POxy 3525 Z. 9–12: ... und sagt: „Brüder, weint nicht, seid nicht betrübt, zweifelt nicht. Seine Gnade nämlich wird mit euch sein und euch beschützen. Lasst uns vielmehr seiner Größe danken, denn er hat uns verbunden und zu Menschen gemacht.“ (kai\ le/gei a>delfoi/ mh\ dakru/ete mh\ lupei~sce mhde\ dista/zete marN

smou eteFmNtnoG Je aFsB

h< ga\r xa/rij au>tou~ e]stai mec' utou~ o[ti sunh/rthken hncrw/pouj pepoi/hken)

101 Auch in der Klage der JüngerInnen passt die Trauer nicht völlig zur drohenden Verfolgung; als Stimmung wäre eher Furcht zu erwarten. Auch hier lassen sich also zwei Aspekte erkennen. Maria antwortet mit der Zusage von Schutz auf die befürchtete Verfolgung, während die Aufforderung zum Lobpreis gegen die Trauer gesetzt ist, die sich möglicherweise auch auf den Weggang Jesu bezieht. 102 Vgl. Schröter, Menschensohnvorstellung, 180f.

Maria Magdalenas Botschaft

145

einem ganz anderen Zusammenhang. Nahe liegend ist zunächst, hier die Verheißung und Hilfestellung für den Aufstieg an Maria und die JüngerInnen zu sehen, wie sie auch in anderen Zeugnissen belegt ist.103 Gegen eine Deutung auf Jesus spricht neben dem Fehlen von Paralleltexten die relativ weitgehende Verstrickung der Seele in weltliche Angelegenheiten, die an einigen Stellen des Gesprächs deutlich wird.104 Auffällig ist aber die Formulierung in der Vergangenheit. Es kann sich auf Maria bezogen nicht um einen Seelenaufstieg nach dem Tod handeln; wenn aber ein Aufstieg zu Lebzeiten gemeint ist, dann ist Maria schon erstaunlich weit fortgeschritten.105 Vielleicht ist aber genau dies gemeint, das Schweigen Marias am Ende ihrer Ausführungen spiegelt jedenfalls das Ziel der „Ruhe ... in Schweigen“ wider. Vom EvMar her gesehen kann Marias Botschaft über den Aufstieg Jesu und insbesondere seine Mitteilung über seinen jetzigen Zustand als eine hochgeheime Offenbarung betrachtet werden. Maria erfährt etwas, das die anderen nicht wissen und das grundlegende Bedeutung für das eigene Leben und Sterben hat. Im JohEv teilt sie wie im EvMar ihr Wissen mit den anderen, aber das ändert nichts an ihrer bleibend herausgehobenen Stellung als Offenbarungsempfängerin. 4.5 Zusammenfassung: Maria Magdalena als Botschafterin des Aufstiegs Die aufgeführten Zeugnisse bieten jeweils unterschiedliche Berührungspunkte zu Joh 20,17, haben miteinander aber weniger gemein. Im Zusammenhang mit ihnen gelesen erscheint die Botschaft Jesu an Maria im JohEv fast als eine Verdichtung und Mischung von Auferweckung Jesu, Aufstieg und Einbeziehung der JüngerInnen. Vor dem Hintergrund von Mk 16,6f par Mt 28,5–7.10 ist ein neuer Blick auf das Berührungsverbot möglich. Auch dort beginnen die Worte des Engels bzw. die Jesu mit einem Verbot, dem für Erscheinungsgeschichten typischen „Fürchtet euch nicht!“ Die Begegnung von Jesus und Maria in Joh 20 ist nicht von Anfang an als eine Erscheinung gestaltet, das wird sie erst, als Maria Jesus erkennt (20,16). Der folgende Befehl „Halte mich nicht fest!“ könnte dann aber ganz ähnlich wie das „Fürchtet euch nicht!“ zur Vorbereitung der folgenden Worte dienen, also die nötige Voraussetzungen 103 In 1ApcJac informiert Jesus nach seiner Auferstehung Jakobus über die Antworten an die Gewalten, die ihm das Passieren ermöglichen werden. 104 Besonders in BG p.16,19–21 heißt es: „meine Begierde endete und die Unwissenheit starb“. Diese scheint als Aussage Jesu über sich eher ungewöhnlich – allerdings ist das EvMar zu fragmentarisch erhalten, um eindeutige Aussagen über das Jesusbild der Schrift zu gewinnen. 105 Eine Deutung auf irdische Erfahrungen passt aber gut zur Auseinandersetzung mit der dritten Gewalt, in der das Erkennen der Seele entscheidend ist, und auch zu den sieben Gestalten der vierten Gewalt, die durchaus irdische Anfechtungen beschreiben.

146

Maria Magdalena

für die Botschaft schaffen. „Fürchte dich nicht“ würde an dieser Stelle nicht passen – wie eigentlich auch in Mt 28,10 nicht. Aber ein Loslassen hätte einen ganz ähnlichen Effekt, weil es Maria aufrichtet, vor allem wenn zuvor wie in Mt 28,9 ein Umfassen der Füße impliziert ist. Dies schließt nicht aus, dass es noch weitere Gründe für ein Verbot des Festhaltens gibt, etwa durch den Zustand Jesu beim Aufsteigen. Aber es ist gut möglich, dass das Verbot in erster Linie eine Funktion für den Ablauf der Erzählung hat, nicht eine wesentliche inhaltliche Aussage machen will. Die Auferstehung Jesu ist in Joh 20,17 wie in Mt 28,10 nicht eigens erwähnt, sondern ergibt sich aus dem Kontext. Die Botschaft an Maria enthält aber wie bei Mk und Mt eine Information über die Bewegung Jesu: Er steigt auf zum Vater. Hier zeigen sich deutlich die unterschiedlichen Konzepte der Evangelien: Bei Mk und Mt ist die wichtigste räumliche Bewegung Jesu sein Weg von Galiläa nach Jerusalem, hier steht die Rückkehr zum Ausgangspunkt für den möglichen Neuanfang. Im JohEv kommt Jesus von oben, vom Vater, und kehrt auch wieder dorthin zurück, hier wird die schon vorher angekündigte Rückkehr beschrieben. Es liegt also bei aller inhaltlichen Unterschiedlichkeit eine strukturell ganz parallele Aussage vor. Eine Entsprechung zur Verheißung des Sehens durch die JüngerInnen findet sich aber bei Joh nicht, obwohl an anderer Stelle ein späteres Sehen angekündigt (Joh 14,19; 16,16ff) und in 20,18.20.25 auch aufgegriffen wird. Immerhin legen die ausdrückliche Parallelisierung des Gottesverhältnisses Jesu und der JüngerInnen in 20,17 sowie frühere Ansagen (Joh 14,2f) nahe, dass Jesu Aufstieg ebenfalls als ein Vorausgehen gemeint ist und indirekt eine Nachfolge der JüngerInnen auf diesem Weg verheißt. In vielen Schriften erscheint Maria als zuständig für die Existenz des JüngerInnenkreises. Die Charakterisierung fällt je nach Schrift sehr unterschiedlich aus und auch Marias Rolle variiert in den Einzelheiten, aber gerade deshalb ist ihre Verbindung mit dieser Frage auffällig. Auch im JohEv ist sie es, der Jesus Wesentliches über die JüngerInnen mitteilt.106 Er bezeichnet sie in 20,17 erstmals als Geschwister (a>delfoi/) und stellt seine und ihre Gottesbeziehung parallel dar.107 Die Gottesbeziehung bestimmt im JohEv die ganze Person, das Wesen der JüngerInnen. In den anderen Schriften spielt diese dagegen kaum eine Rolle. Beschrieben wird vielmehr 106 Genaugenommen gehört zur Beschreibung der JüngerInnen nicht nur Jesu Mitteilung in 20,17, sondern auch Marias Interpretation seiner Worte in 20,18 – erst im Zusammenhang erschließt sich die Bedeutung vollständig, darauf macht zu Recht E. de Boer (Gospel, 176) aufmerksam. 107 Zuvor ist eine abgestufte Hierarchie typisch, in der Jesus exklusiv mit seinem Vater / mit Gott verbunden ist, während die JüngerInnen eine analoge Verbindung zu Jesus haben, die ihnen Anteil an seiner Gottesbeziehung gibt. So z.B. in Joh 17,8.18.21f und auch wieder in 20,21 in der parallel-abgestuften Sendung Jesu durch Gott und der JüngerInnen durch Jesus.

Maria Magdalena als Autorität und das Verhältnis zu Petrus

147

die Existenz der JüngerInnen (EvThom, SJC), ihre vorhandenen (Dial) oder ihre durch Jesus bewirkten (EvMar) Fähigkeiten. Außer im EvMar scheint dabei der Beziehung zur Welt große Bedeutung zuzukommen. Wird Joh 20,17 vor dem Hintergrund der verschiedenen Texte über Botschaften an Maria Magdalena gelesen, dann zeigt sich eine spezifisch johanneische inhaltliche Prägung in der zentralen Bedeutung der Gottesbeziehung und der Parallelität zwischen Jesus und den JüngerInnen. Gegenüber der synoptischen Tradition fällt auf, wie wenig Maria Magdalena im JohEv auf die Rolle als Botschafterin der Auferstehung festgelegt ist, die sich erübrigt, sobald die anderen auch überzeugt sind. Sie hat eine darüber hinausgehende Botschaft über das Aufsteigen Jesu und das Wesen der JüngerInnen. Dass gerade Maria Magdalena etwas über die JüngerInnen zu sagen hat, ist den LeserInnen möglicherweise vertraut.

5. Maria Magdalena als Autorität und das Verhältnis zu Petrus 5.1 Auferstehungs- und Erscheinungszeugin Maria Magdalena als Autorität und das Verhältnis zu Petrus Schon in der Ostergeschichte des MkEv besteht eine Verbindung zwischen Maria Magdalena und Petrus. Die Frauen um Maria Magdalena sollen „seinen JüngerInnen und Petrus“ die Botschaft des Engels überbringen (Mk 16,7, bei Mt und Lk keine Nennung des Petrus), die lautet: „Er geht euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen (o]yesce), wie er euch gesagt hat.“108 Dies scheint eine futurische Wendung der Formel über erfolgte Erscheinungen in 1Kor 15,5 (w]fch plus Dativ) zu sein, wo Petrus und die Zwölf genannt sind. Die ersten drei Elemente (gestorben – begraben – auferweckt) der Formel in 1Kor 15,3f109 sind im MkEv jedoch jeweils mit einer Liste von Frauen mit Maria Magdalena an der Spitze verbunden110 und auch hier wird jeweils von Sehen gesprochen: In 15,40.47 und 16,4 (bezogen auf den weggewälzten Stein) cewre/w, in 16,5 (bezogen auf den Jüngling) oqetazo/menoj

EvMar BG p.17,15–18,5118 aFouw16SB nGi petros peJaF Ha pra

17

nneei-

Hbhue nteeimine aF18Jnouou etbe

Petrus antwortete und sprach, über derartige Sachen fragte er sie wegen dem Erlöser:

p!s!wR Je

o< sw[th\r] la/cra gun[a]iki\ e>la/lei kai\ > f[a]nerw~j i[na pa/ntej a>kou/sw[men mh\ a>]qiologwte/ran hth\n a>podei~qai h]c]e[le ...

„Hat der Erlöser heimlich zu einer Frau gesprochen und öffentlich, damit wir alle es hören? Wollte er sie etwa als wertvoller als uns erweisen? ...

mhtÎ

19

aFSaJe

mN ousHIme nJioue

20

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Hn ouwnH ebol an enn?a?21kton Hwwn NtNswtM th?®N

22

nsws

NtFsotps nHouo e®on (p.18) tote a?[m]ariHam rime peJas M2petros

„Er hat doch nicht etwa mit einer Frau heimlich vor uns, nicht öffentlich, geredet? Sollen selbst wir uns wenden und alle auf sie hören? Hat er sie etwa mehr als uns erwählt?“ Da weinte Maria, sie sprach zu Petrus:

pason petre HIe ek3meeue eou ekmeeue Je NtaI4meeue eroou mauaat HM pa5Hht h eeiJi Gol

tou~ swth~roj

den Erlöser?“

ep!s!wR

„Mein Bruder Petrus, was denkst du? Denkst du, dass ich sie mir allein in meinem Herzen ausgedacht habe oder dass ich über den Erlöser lüge?“

Zuvor hat Maria ausführliche Belehrungen Jesu, die sie erhalten hatte, an alle weitergegeben, und zwar auf ausdrückliche Bitte des Petrus hin, der sie nach Worten Jesu, die nur sie kennt, fragte. Nach der Übermittlung dieser Worte wendet sich zunächst Andreas gegen Maria, der ihre Lehre aus inhaltlichen Gründen nicht für authentisch hält. Petrus dagegen hält jetzt eine Sonderbelehrung Jesu an eine Frau für unmöglich und lehnt es ab, auf sie zu hören. Er wendet sich also gegen die Position, die Maria durch den nahen Kontakt mit Jesus bekommt. Maria hat eine Vision Jesu gehabt und sie hat besonderes Wissen durch ihn erhalten – unter anderem über den Aufstieg. Dadurch ist sie Petrus überlegen, er ist auf sie angewiesen zur Übermittlung der Worte. 117 118

Text und Übersetzung aus Lührmann, Fragmente, 68f. Text von Pasquier, Évangile, Übersetzung von mir (JH).

Maria Magdalena als Autorität und das Verhältnis zu Petrus

151

Die Beziehung von Petrus zu Maria ist im EvMar zumindest am Ende wie in EvThom 114 als offene Aggressivität dargestellt. Es geht aber nicht um ihren Ausschluss aus der Gruppe insgesamt, sondern um ihren führenden Status auch gegenüber männlichen Jüngern wie Petrus. Hierin ist eine Konkurrenz zwischen ihnen beiden erkennbar, die sich auf Machtpositionen bezieht. Anders als das EvThom verteidigt das EvMar nicht nur die Zugehörigkeit von Maria, sondern fordert auch die Akzeptanz ihrer überlegenen Autorität.119 Zur Verteidigung greift Maria noch einmal ins Gespräch ein. Sie geht auf den Vorwurf gegen ihre Person ein, indem sie die implizit enthaltene Annahme pointiert formuliert: Wenn Jesus solche Dinge nicht gesagt und nicht zu einer Frau gesagt haben kann, dann hat sie, Maria, gelogen. Dieser Redebeitrag Marias wirkt zunächst sehr defensiv, weil sie die Vorwürfe noch verstärkt und weil sie weint.120 In der Sache wird der angesprochene Petrus aber zu einer klaren Entscheidung zu ihrer Person gezwungen. Anders als gleich danach Levi verweist sie nicht auf die Autorität Jesu, sondern besteht auf ihrer eigenen Autorität und Integrität.121 5.4 Zusammenfassung: Maria Magdalena als ApostelIn im JohEv Die Zeugnisse zeigen eine sehr unterschiedliche Autorität von Maria Magdalena und eine unterschiedliche Aufgabenverteilung zwischen ihr und Petrus. Für den Aufbau von Joh 20,1–18 ergibt sich aus dem Vergleich mit Lk 24 noch klarer die Überlegenheit von Maria gegenüber Petrus.122 Der Gang des Petrus zum Grab ist im JohEv zwischen Maria Magdalenas ursprünglichem Hingehen und ihren späteren Erlebnissen dort platziert. Dadurch erscheint Petrus einerseits als von Marias Information abhängig, andererseits in seinem Erleben als vorläufig, während sie danach die weiterführenden Begegnungen mit den Engeln und Jesus hat. Das Sehen der Tücher ist nur eine Stufe, Maria sieht später Wichtigeres. Bei Lk dagegen ist es Petrus, der die entscheidende Erscheinung hat und der das vorläufige Erlebnis von Maria überprüft und nicht würdigt.

119

Allerdings hat das EvThom insgesamt einen elitären Anspruch und richtet sich möglicherweise besonders an WandermissionarInnen – die Frage der Zugehörigkeit von Maria könnte also auch dort einen Aspekt der Berechtigung zum Lehren haben. 120 Nach wie vor scheint mir das Weinen von Maria im Kontext eigentlich nicht angemessen, vgl. Hartenstein, Lehre, 150. Möglicherweise ist es aber eine Parallele zu einem entsprechenden Verhalten Jesu auf den fehlenden Seiten der Schrift, das von daher seinen Sinn bekommt. 121 Dies ist die einzige Stelle, an der Maria auf einen Vorwurf des Petrus selber antwortet. Jesu Antworten zu ihrer Verteidigung in EvThom, EvPhil, PistSoph (und auch Levis im EvMar) sind sehr viel vermittelnder und versuchen, Marias Status zu erklären. 122 So auch Brock, Mary, 60.

152

Maria Magdalena

Noch auffälliger ist aber, dass im JohEv von Maria Magdalena ein Sehen Jesu in einer 1Kor 15,5 entsprechenden Formulierung ausgesagt wird.123 Mk 16,7 (par Mt 28,7) wird für die JüngerInnen und Petrus eine Erscheinung Jesu angekündigt, Lk 24,34 wird sie für Petrus als schon erfolgt erwähnt, Joh 20,18 spricht Maria für sich selbst von diesem Ereignis. Dadurch bekommt die Begegnung Marias mit Jesus ein Gewicht, das sie in den synoptischen Evangelien nicht hat, auch nicht in den Begegnungen mit Jesus Mt 28,9f und Mk 16,9–11, die in beiden Fällen vorbereitenden Charakter haben. Im MtEv liegt der Schwerpunkt auf der abschließenden Erscheinung vor den Elf mit Aussendung, im sekundären Markusschluss hat Maria Magdalena die erste einer Reihe von Erscheinungen, bei der die dritte die entscheidende ist. In Joh 20 bauen die Erscheinungen dagegen aufeinander auf, die Botschaft von Maria Magdalena über Jesu Auferweckung, Aufstieg und das neue Gottesverhältnis wird in der nächsten Erscheinung vorausgesetzt.124 Auch wenn der Begriff für das JohEv nicht angemessen ist, lässt sich sagen, dass Maria in einer apostolischen Rolle dargestellt wird – im Sinn von 1Kor 9,1.125 Anders als in den synoptischen Evangelien wird sie nicht nur von der Auferweckung Jesu überzeugt, sondern wird mit geprägter Terminologie als Erscheinungszeugin bezeichnet.126 Dies impliziert eine Bedeutung ihrer Person, die sich von dem Erlebnis herleitet und die sich in Beziehung zu anderen äußert. Eine solche Rolle hat sonst Petrus, durch den Aufbau des Abschnitts tritt Maria aber nicht nur an seine Seite, sondern sogar in eine direkte Konkurrenz mit ihm.127 Eine Reaktion auf Marias Verkündigung wird nicht geschildert. In anderen Zeugnissen wird eine ungläubige Reaktion ausdrücklich beschrieben (Lk 24,9–11; Mk 16,10f; EpAp) wie auch im JohEv später (Joh 20,24f), während eine erfolgreiche Vermittlung im MtEv nicht eigens erzählt wird. Dies spricht dafür, auch das Schweigen des JohEv positiv zu deuten, zu123

Hier in direkter Rede der Erscheinungszeugin, vgl. 1Kor 9,1. Vgl. Schneiders, John 20:11–18, 168. 125 So auch Schneiders, John 20:1–18, 167f; D’Angelo, Reconstructing, 111. 126 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 764. 127 Vgl. Brown, Rolle, 138; auch Hearon, Mary, 187–191, zur Konkurrenzsituation zwischen Maria Magdalena, Petrus und dem geliebten Jünger. Allerdings sieht Hearon Marias starken Status durch Joh 21 deutlich vermindert. In Joh 21 kommt Maria Magdalena nicht vor und in 21,14 wird die Erscheinung am See ausdrücklich als dritte Erscheinung vor den JüngerInnen bezeichnet. Dies wird oft als nachträgliches Abwerten von Maria Magdalena interpretiert, ihre Erscheinung wird nicht mitgezählt (vgl. neben Hearon auch Reinhartz, Befriending, 121). Aber ganz wörtlich genommen ist es einfach die dritte Erscheinung vor JüngerInnen im Plural. Gerade wenn in Joh 20 analog zu 1Kor 15,5.7 das Schema erst Maria Magdalena, dann die JüngerInnen vorliegt, dann wird hier betont: Erst Maria, dann dreimal die JüngerInnen und erst ganz am Ende, ohne eigene Erscheinung, kommt Petrus als Einzelperson vor. Die Bemerkung in 21,14 kann gut (und im Kontext näherliegend) dazu dienen, die Erscheinung am See nicht in erster Linie als Erscheinung vor Petrus zu verstehen! 124

Auswertung

153

mindest lässt sich aus der Leerstelle in der Erzählung keine Schmälerung der Bedeutung von Maria Magdalena ableiten.128 Auch die folgende Perikope ist kein sicheres Indiz für eine ungläubige Reaktion, sondern setzt möglicherweise einfach erneut ein – wie dies auch Lk 24,34.36ff geschieht, obwohl dort die ganze Gruppe schon von der Auferweckung Jesu überzeugt ist, bei seinem Erscheinen aber erschrickt und mühsam neu belehrt werden muss. Im EvMar wird Maria als Lehrautorität gegenüber den JüngerInnen dargestellt. Ihre Autorität beruht auf ihrem Sehen Jesu sowie den im Gespräch mit ihm erhaltenen Lehren. Eine vergleichbare Würdigung der Lehre von Maria gibt es im JohEv nicht, die wichtigsten im EvMar ausgebauten Elemente sind aber schon vorhanden: Auch im JohEv spricht Maria zu den JüngerInnen. Ihre Begegnung mit Jesus wird von ihr als ein Sehen des Herrn interpretiert und ist so formuliert, dass dabei ein autoritativer Anspruch anklingt.129 Und auch dass Jesus ihr etwas gesagt hat, wird ausdrücklich festgehalten (20,18). Die Darstellung im EvMar geht über das JohEv hinaus, weil Maria ausdrücklich als überlegen dargestellt wird. Ein solches Verhältnis zu Petrus lässt sich auch aus Joh 20,1–18 herauslesen, aber im größeren Kontext des JohEv steht Maria auf einer Ebene mit anderen JüngerInnen.

6. Auswertung 6.1 Die Charakterisierung von Maria Magdalena im JohEv Auswertung Insgesamt enthält die Erzählung über Maria Magdalena im JohEv erstaunlich viele eigene Züge, auch wenn der Stoff der Erzählung in seinen Hauptaspekten (Anwesenheit bei der Kreuzigung, Grabbesuch am Ostermorgen, Erscheinung von Engeln, Begegnung mit Jesus) auch in den synoptischen und einigen anderen Evangelien begegnet. Aber Maria Magdalena ist im JohEv nicht Anführerin und Repräsentantin einer Frauengruppe, sondern eine eigenständige Jüngerin, die stärker auf den Kreis der JüngerInnen insgesamt als auf die weiblichen Jüngerinnen bezogen ist. D.h. sie entwickelt sich im Laufe der Erzählung von einem Mitglied der Frauengruppe zu einer wichtigen Einzelperson. Individuell ist auch ihre von Liebe geprägte Beziehung zu Jesus. So werden die bekannten Erlebnisse von Maria in einer neuen Interpretation geschildert, die Maria eine Autoritätsrolle als Erscheinungszeugin und Botschafterin an die JüngerInnen gibt. In dieser 128

So aber Reinhartz, Women, 30; Kitzberger, How, 37. Anders King (vgl. Gospel, 131), die im Vergleich zum EvMar im JohEv eine deutlich untergeordnete und eingeschränkte Rolle von Maria Magdalena sieht. 129

154

Maria Magdalena

Funktion tritt sie in direkte Konkurrenz zu Petrus, die durch die Verbindung der beiden Personen in der Erzählung zugunsten von Maria entschieden wird. Im JohEv ist Maria Magdalena nicht Vertreterin von Frauen und weder ihre Zugehörigkeit zu den JüngerInnen noch die von Frauen allgemein wird diskutiert. Wohl aber kann die Darstellung in Joh 20 vor dem Hintergrund eines Gegensatzes zwischen Maria und Petrus bzw. konkreter dem Angriff des Petrus auf ihre Position gelesen werden. Das JohEv ergreift dann wie das EvThom klar Partei für Maria, und zwar nicht durch ein Wort Jesu, sondern durch die erzählerische Gestaltung, in der Maria durch Jesu Erscheinung und durch ihre eigene Aussage und Verkündigung gewürdigt wird. Anders als im EvThom kann die Darstellung nicht nur als eine Verteidigung von Maria, sondern auch als eine Herabsetzung des Petrus im Gegenüber zu ihr gelesen werden. Rehabilitiert wird Petrus dann aber in Joh 21. 6.2 Charakterisierung in der Kommunikation mit den LeserInnen Die Darstellung von Maria Magdalena im JohEv hat m.E. einen Spannungsbogen, der besonders gut sichtbar wird, wenn mögliches Vorwissen einbezogen wird. Maria wird vermutlich als bekannt vorausgesetzt, als eine Jüngerin und Teil einer Frauengruppe in der Begleitung Jesu.130 Dieses Bild wird in Joh 19,25 aufgerufen, aber nicht weiter ausgeführt. Die Nennung von Maria Magdalena als letzte und die Funktionslosigkeit der Gruppe schaffen schon eine leichte Irritation. Nach dieser Darstellung des ersten Auftretens entwickelt sich das Bild aber unerwartet, und zwar nicht durch neuen Stoff, sondern durch eine neue Interpretation des vorhandenen. Zum Vorwissen der LeserInnen gehört, dass Maria Magdalena als erste von der Auferweckung Jesu erfahren hat und möglicherweise dabei eine Erscheinung des Auferstandenen erlebte; und ebenfalls, dass eine Erscheinung des Auferstandenen für Petrus oder andere Personen wie Jakobus oder Paulus ein apostolisches Amt legitimiert. Das JohEv bringt beides zusammen und verändert so den Blick auf Maria Magdalena. Eine besondere Rolle als Frau, in einer Frauengruppe oder repräsentativ für Frauen, tritt demgegenüber zurück. Dieses Vorgehen könnte die LeserInnen zu einer neuen Wahrnehmung der bekannten Tradition führen, also dazu, auch in anderen Texten eher die Individualität und die Autoritätsrolle zu sehen. Das JohEv bietet eher eine einsichtige Weiterführung als einen Bruch zum Vorausgehenden. Maria Magdalena ist mit relativ geringer Ambivalenz dargestellt (im Vergleich zu 130

nen.

Vgl. Kitzberger, Mary, 581. Dies ist bei ihr aber nicht so eindeutig wie bei anderen Perso-

Auswertung

155

anderen Personen), vielleicht weil das JohEv am Aufbau ihrer Autorität interessiert ist, nicht an kritischer Auseinandersetzung mit ihrer Position. Das Bild im JohEv hat eigene Akzente, lässt sich aber neben anderen lesen. Wenn das JohEv mit den vorhandenen Traditionen spielt, sie neu aufnimmt, aber gleichzeitig in Verbindung mit ihnen gelesen werden will, dann ist aber auch Vorsicht bei einer zu einlinigen Interpretation des Textes geboten. Die Aufwertung von Maria gilt nicht absolut, sondern in Beziehung und als Gegengewicht zu andern Tendenzen. 6.3 Das JohEv und die Entwicklung der Traditionen zu Maria Magdalena Eingeordnet in die vermutete historische Abfolge der Traditionsentwicklung steht das JohEv an einem Wendepunkt: Aus der treuen Jüngerin in der Frauengruppe, die neben der eigentlich zentralen Gruppe steht und für sie einspringt, aber auch eine nur untergeordnete Funktion haben kann, wird eine Einzelperson mit Autoritätsanspruch im JüngerInnenkreis und einer besonderen Beziehung zu Jesus.131 Beide Elemente sind weiterentwickelt worden: Marias Autoritätsanspruch wird im EvMar deutlich ausgebaut und verteidigt.132 In anderen Schriften aus gnostischem Kontext, in denen Maria als Dialogpartnerin Jesu auftritt, ist diese Funktion viel weniger deutlich; sie ist dort vor allem wichtige Jüngerin, aber auch repräsentativ für andere Frauen. Dieser Aspekt, der das Frausein von Maria Magdalena in den Mittelpunkt stellt bzw. zum Ausgangspunkt ihrer Darstellung macht, wird im JohEv deutlich gebrochen: Er ist wichtig; ihre Szenen ließen sich wegen der erotischen Assoziationen in Joh 20 nicht einfach mit einem Mann füllen, aber Maria Magdalena wird nicht auf ihr Geschlecht festgelegt. Das EvMar, in dem Maria Frau ist und deshalb auch angegriffen wird, aber am Ende als einzelne Person unabhängig vom Geschlecht gewinnt, folgt auch hierin dem JohEv. Die besondere Beziehung zu Jesus ist im EvMar keine spezielle Mann-Frau-Beziehung. Wohl aber im EvPhil – und auch dies kann als Wieterführung der johanneischen Darstellung verstanden werden. Es lässt sich vielleicht sogar sagen, dass diese Idee einen Bezug zur späteren Identifizierung von Maria mit der salbenden Sünderin aus Lk 7 in der westlichen Kirche hat. 131 Einen ähnlichen Unterschied zwischen der Darstellung von Maria Magdalena im MkEv und JohEv sieht auch D’Angelo, vgl. Reconstructing, 111f. Sie hält aber für wahrscheinlicher, dass das JohEv auf ältere Tradition zurückgreift, als dass es das MkEv kennt und überarbeitet. Eine solche ältere Tradition einer apostolischen Maria Magdalena ist aber nicht erhalten, weder in den synoptischen Evangelien noch im EvThom noch bei Paulus. Das erhöht m.E. die Plausibilität, dass sie ihren Ursprung im JohEv hat. Aus rezeptionsorientierter Perspektive ist diese Frage aber nicht entscheidend: Für die LeserInnen des JohEv existieren beide Sichtweisen nebeneinander. 132 Vgl. auch E. de Boer, Gospel, 191–196, zur Nähe zwischen EvMar und JohEv.

156

Maria Magdalena

In verschiedenen Schriften droht Maria Magdalena von Petrus in den Hintergrund gedrängt zu werden; sowohl im Zusammenhang mit den Osterereignissen als auch in frauenfeindlichem Kontext. Im JohEv wird demgegenüber Marias Rolle gestärkt und zugleich eine gewisse Herabsetzung des Petrus sichtbar. Im JohEv geht es wirklich um konkurrierende individuelle Autoritätsansprüche, anders als in Zeugnissen wie EvThom 114, wo Maria repräsentativ für Frauen allgemein steht.

IV. Petrus

1. Petrus im JohEv 1.1 Überblick und Name Im JohEv ist Petrus die nach Jesus am breitesten dargestellte Person. Die Vorkommen verteilen sich über das ganze Evangelium vom ersten bis zum letzten Kapitel mit Schwerpunkt auf den Passions- und Ostergeschichten. Insgesamt gibt es zehn Episoden, in denen er handelnd, redend oder angesprochen eine Rolle spielt. In der Regel wird er als Simon Petrus (Si/mwn Pe/troj) bezeichnet, der Doppelname enthält kein verbindendes Element, sondern ist einfach gereiht. Beim ersten Auftreten des Petrus (Joh 1,41f) wird dieser Doppelname aber erklärt, in diesem Zusammenhang wird von ihm auch einmal nur als Simon gesprochen. Innerhalb einer Szene wird beim erneuten Vorkommen des Namens oft nur Petrus mit oder ohne Artikel verwendet.1 An zwei Stellen (Joh 1,42; 21,15–17) wird er von Jesus in direkter Rede als Simon, Sohn des Johannes bzw. Simon des Johannes angesprochen.2 Die erste Erwähnung des Petrus findet sich im Kontext der Sammlung der ersten JüngerInnen (Joh 1,35–51). Andreas wird als „Bruder des Simon Petrus“ eingeführt (Joh 1,40) und bringt dann „seinen Bruder Simon“ zu Jesus, der ihm den Beinamen „Kephas“ = „Petrus“ verleiht (Joh 1,41f). An zwei folgenden Stellen wird Bethsaida als Stadt von Andreas und Petrus bestimmt (1,44) und Andreas nochmals als Bruder des Petrus bezeichnet (6,8). Der zweite Auftritt liegt in 6,68f, wo Petrus nach der Abwendung vieler JüngerInnen stellvertretend für die Zwölf das Bleiben bei Jesus begründet und so erstmals selber aktiv wird. Das nächste Mal begegnet Petrus im Zusammenhang des Abschiedsmahls Jesu mit seinen JüngerInnen. In 13,6–10 führt er einen Dialog mit Jesus über die Fußwaschung, die Petrus zunächst ablehnt. Etwas später bittet er den geliebten Jünger, Jesus nach dem Verräter zu fragen (13,24). Und schließlich gibt es in den Abschiedsreden noch einen kurzen Dialog mit Jesus, der mit einer Frage des Petrus, wohin Jesus geht, beginnt und mit der Ankündigung der Verleugnung endet (13,36–38). Hier schließen sich weitere Belehrungen und Fragen von 1 2

Vgl. Elliot, Khfa~j, 242. Dies sind die einzigen Stellen, an denen er überhaupt namentlich angesprochen wird.

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Thomas und Philippus an. Die nächsten Auftritte des Petrus stehen im Zusammenhang mit der Verhaftung Jesu. Zunächst greift Petrus zur Waffe und verletzt einen Sklaven des Hohepriesters, wird aber von Jesu zurechtgewiesen (18,10f). Er folgt dann Jesus bis in den Hof des Hohepriesters, zu dem ihm ein anderer Jünger Zutritt verschafft, verleugnet dann aber, sein Jünger zu sein (18,15–18.25–27). Am Ostermorgen wird Petrus von Maria Magdalena vom Leersein des Grabes benachrichtigt und läuft zusammen mit dem geliebten Jünger dorthin (20,2–10). Später ist es Petrus, der den Fischzug einer Gruppe von JüngerInnen initiiert, wobei Jesus ihnen erscheint (Joh 21,2–11). Schließlich endet das JohEv nach diesem Fischzug und dem Mahl mit einem Gespräch zwischen Jesus und Petrus, in dem dieser beauftragt und sein Schicksal und das des geliebten Jüngers behandelt wird (21,15–23). Petrus 1.2 Die Berufung (Joh 1,40–42) Diese erste Episode, in der Petrus genannt wird und auftritt, fängt mit einer Auffälligkeit an: Andreas wird als Bruder von Simon Petrus eingeführt (1,40), bevor von diesem überhaupt jemals die Rede war – Petrus tritt erst anschließend auf, als Andreas ihn findet, ihm von Jesus berichtet und ihn zu ihm bringt. D.h. Petrus wird hier als den LeserInnen bekannte Person vorausgesetzt,3 bekannter als sein Bruder, den er einzuordnen hilft. In der Erzählung gehört Andreas zu den ersten beiden, die Jesus nachfolgen. Er spricht dann Petrus gegenüber von Jesus als Messias bzw. Christus, legt also ein erstes Bekenntnis ab (1,41). Es ist auch Andreas, der Petrus zu Jesus bringt – Petrus selbst ist in der ganzen Szene weder redend noch handelnd aktiv.4 Nachdem Petrus auf diese Weise zu Jesus gelangt ist, spricht dieser ihn an. Er nennt ihn bei seinem Namen Simon und bezeichnet ihn verwandtschaftlich als Sohn des Johannes. Dadurch ist er präzise identifiziert, Jesus zeigt also seine Kenntnis der Person. Zugleich ist so unmissverständlich deutlich, dass genau er gemeint ist. Die Namensnennung hat auch eine gewisse Feierlichkeit, die zur folgenden Aussage passt, in der Jesus einen weiteren Namen nennt: Er wird Kephas genannt werden (klhch/sh|). Zu dem aramäischen Wort Kepha wird dann noch die griechische Übersetzung Pe/troj gegeben. Damit endet die Szene, weder eine Reaktion des Petrus noch weitere Aussagen Jesu erfolgen. Die ganze Szene erscheint so als eine Art Einsetzung, die mit dem zukünftigen Namen auch Schicksal und Bedeutung des Simon impliziert. Ob Jesus hier den Namen verleiht oder ob er 3

Vgl. Culpepper, Anatomy, 214. Dieses Muster der Weiterleitung der Kunde von Jesus kehrt im Folgenden bei Philippus und Nathanael und auch sonst im JohEv wieder, s.o., II.5.3. 4

Petrus im JohEv

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ankündigt, dass Simon ihn tragen wird, ist dabei unerheblich. Auf alle Fälle weist die Aussage in die Zukunft, über die im JohEv erzählte Zeit hinaus. Die LeserInnen, bei denen die Person (mit dem Doppelnamen Simon Petrus) ja ohnehin als bekannt vorausgesetzt ist, können die Vorhersage bestätigen.5 Petrus im JohEv Unklar bleibt allerdings, welche Bedeutung sich hier mit dem Ausdruck Kephas verbindet. Der Text bietet nur die griechische Übersetzung Pe/troj. Das bedeutet, wie das aramäische Kepha, Stein. Dies kann z.B. ein Edelstein oder ein Schleuderstein sein, jedenfalls etwas Loses, Bewegliches – die Grundbedeutung ist in beiden Sprachen nicht Fels.6 Eine weitere inhaltliche Erklärung wird nicht gegeben – offensichtlich reichen die Angaben für die LeserInnen aus, die die Person Simon Petrus und seinen weiteren Namen Kephas / Petrus kennen. Aus dem Text allein lässt sich die Bedeutung dieses Namens jedenfalls nicht entnehmen.7 Diese erste Szene charakterisiert Petrus nicht durch eigenes Handeln oder Reden, sondern durch seine Namen, durch seine Einbindung in die Handlungsabfolge und durch seine Beziehung zu Andreas. Das Muster der Weitervermittlung von Wissen über Jesus ist im JohEv auch sonst üblich und impliziert zunächst keine Abwertung des Petrus. In der Verschränkung der beiden, in der Andreas zunächst als Bruder des Petrus eingeführt wird, dann aber diesen erst zu Jesus bringt, scheint jedoch ein Hinweis gegeben, dass diese Abfolge nicht völlig gewöhnlich ist. Auf diesen Punkt ist noch zurückzukommen.8 1.3 Das Bekenntnis (Joh 6,68f) Nach der Schilderung der ersten Begegnung des Petrus mit Jesus scheint seine Zugehörigkeit zum JüngerInnenkreis einfach vorausgesetzt, ohne dass dies ausdrücklich benannt wird. Der Name des Petrus wird zweimal zur Erläuterung der Stadt Bethsaida und des Andreas erwähnt, aktiv tritt Petrus aber erst wieder in 6,68 auf. Nach der auf die Speisung folgenden Brotrede kommt es zum Widerspruch unter den JüngerInnen (6,60–65) und viele wenden sich von Jesus ab (6,66). Daraufhin fragt Jesus die Zwölf – die 5 Nach Quast (Peter, 41) hat die Namensverleihung primär christologische Funktion, weil sie das Wissen Jesu zeigt. Busse, Johannesevangelium, 83, sieht den Zukunftscharakter betont und damit, dass Petrus erst noch in seine Rolle hineinwachsen muss. 6 Vgl. Liddell/Scott, 1398; Lampe, Spiel, 237. Pesch (vgl. Simon, 30) deutet als Edelstein. Anders aber Fitzmyer, Aramaic, 115. 7 Vgl. Quast, Peter, 41. Droge (Status, 308) versucht die Bedeutung des Beinamens aus der Charakterisierung des Petrus im JohEv abzuleiten und versteht ihn als Fels wegen seiner Unverständigkeit. M.E. kann hier aber ein mögliches Vorwissen nicht einfach ausgeschlossen werden, dazu mehr s.u., IV.3.1. Zuzustimmen ist Tolmie (vgl. Good, 356f), dass hier Erwartungen bzgl. der Bedeutung des Petrus geweckt werden. 8 S.u., IV. 3.1 und 5.1.

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bisher im JohEv nicht erwähnt wurden, hier aber als bekannte Gruppe vorausgesetzt werden –, ob auch sie gehen wollen (6,67). Die Antwort gibt Petrus, der in der ersten Person Plural für die ganze Gruppe spricht (6,68f). Auch in seiner Replik wendet sich Jesus wieder an die Gruppe der Zwölf. Petrus ist hier also deutlich der Sprecher für die Gruppe, weniger eine individuelle Einzelperson. Dadurch zeigt er sich als ihr Repräsentant und ist inhaltlich in besonderer Weise mit dem Gruppenvotum verbunden. Die Antwort des Petrus beginnt mit einer Rückfrage und enthält dann zwei Bekenntnisaussagen, von denen die zweite betont als solche eingeleitet ist. Die Rückfrage schließt sich direkt an Jesu Frage an, ob auch sie gehen wollen. Petrus fragt rhetorisch, zu wem sie gehen sollten. Damit wird die Frage des Weggehens auf das Verhältnis zur Person Jesu hin zugespitzt. Impliziert ist, dass es zu Jesus keine Alternative gibt. Dies ist im Rahmen des JohEv eine sehr angemessene Aussage, da Jesus als Person eng mit seiner Botschaft verbunden bzw. mit ihr identisch ist – etwa in den Ich-binWorten. Und auch ein absoluter Anspruch wird von ihm erhoben (z.B. Joh 14,6). Begründet wird die Besonderheit Jesu in 6,68 mit dem Satz: „Du hast Worte ewigen Lebens“ (rwni/ou). Auch dies ist eine sachgerechte Aussage, die im unmittelbaren Kontext Jesu Selbstaussage, dass seine Worte Geist und Leben seien (6,63), wieder aufnimmt. Petrus bzw. die Zwölf, für die er spricht, haben also einiges verstanden. Dieses Verständnis wird schließlich noch in einer weiteren Aussagen über Jesus zusammengefasst, die betont als Wir-Aussage (hgnw/kamen) Glaube bzw. Erkenntnis ausdrückt: Du bist der Heilige Gottes. Dies ist eine eher ungewöhnliche Formulierung, als „der Heilige“ wird Jesus sonst im JohEv nicht bezeichnet. Inhaltlich ist die Formulierung aber durch 10,36 gedeckt, wo Jesus sagt, dass der Vater ihn geheiligt habe.10 Auf diese Formulierung ist noch zurückzukommen. Petrus und die Zwölf zeigen sich also im Verhalten und der Begründung als gelehrige und verlässliche Schüler.11 Dem entspricht auch der erste Teil von Jesu Antwort (6,70): Er hat die Zwölf erwählt – da er den Glauben der Menschen kennt (6,64), korrespondiert seine Wahl genau mit dem tatsächlich geäußerten Glauben.12 Irritierend ist neben der Frageform aber die Fortsetzung: Einer von ihnen ist ein Teufel. Weder 9

Vgl. Frey, Eschatologie II, 103–105. Vgl. auch die Aussagen über das Heiligen in 17,19 und die Anrede Gottes durch Jesus als heiliger Vater (17,11). 11 Neyrey (vgl. Sociology, 102f) ignoriert m.E. die Angemessenheit, wenn er die Aussagen im Kontext von Unverständnisaussagen des Petrus kritisch interpretiert. 12 Thatcher (vgl. Jesus, 441) sieht hier eine Zurückweisung des Bekenntnisses, indem Jesu betont, dass er gewählt hat, also keine eigene Entscheidung der Zwölf vorliegt. Aber auch das wäre eine inhaltliche Bestätigung der Aussage. 10

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das ausgezeichnete Bekenntnis noch die Wahl Jesu sind also eine Gewähr.13 Durch den folgenden Erzählkommentar (6,71) wird verdeutlicht, dass hier Judas gemeint ist. Trotzdem wirkt sich diese Reaktion Jesu auch auf die Einschätzung der übrigen aus. Zumindest erscheint plötzlich unsicher, wie weit das geäußerte Bekenntnis wirklich die Haltung garantiert – der entstandene Eindruck könnte trügen. 1.4 Abschiedsmahl und -reden (Joh 13,6–10.24.36–38) Das nächste Mal tritt Petrus im Zusammenhang des letzten Mahls Jesu mit seinen JüngerInnen in Erscheinung, und zwar gleich mehrfach. Von diesem Essen wird zunächst erzählt, dass Jesus seinen JüngerInnen die Füße wäscht (13,4f). Von den anderen JüngerInnen wird keine Reaktion berichtet, Petrus widerspricht der Handlung Jesu jedoch mehrfach. Er beginnt mit einer Frage, die jedoch impliziert, dass Petrus das Waschen der Füße durch Jesus ablehnt (13,6). Daraufhin hält Jesus im derzeitiges Unwissen vor (su\ ou>k oi}daj a]rti), verspricht ihm aber zukünftiges Verstehen (gnw/sh| de\ meta\ tau~ta) (13,7). Er deutet also die Reaktion des Petrus als Unverständnis, gibt jedoch keine Erklärung, die zum Verstehen führen könnte, sondern kündigt dies einfach nur an. Die nächste Reaktion des Petrus verschärft den Widerspruch, er lehnt es grundsätzlich und für alle Zeit ab, dass Jesus ihm die Füße wäscht (13,8). Aus dem Infragestellen vom Anfang wird also eine klare Opposition zum Handeln Jesu. Zudem wird das zeitliche Element der Antwort Jesu aufgenommen und eine zukünftige Änderung der Haltung ausgeschlossen. Jesus wiederum gibt nun doch eine inhaltliche Erklärung für sein Handeln, indem er entgegnet, dass das Waschen notwendig ist, um Anteil an ihm (me/roj met' e>mou~) zu haben (13,8). Dies ändert die Haltung des Petrus ganz grundlegend, denn er bittet nun darum, nicht nur die Füße, sondern auch Hände und Kopf gewaschen zu bekommen (13,9). Das ist immer noch keine genaue Zustimmung zum Verhalten Jesu, sondern ein Schwenk ins Gegenteil: Statt Ablehnung steht jetzt die Forderung nach mehr. Aber Jesus bestätigt noch einmal seine ursprüngliche Absicht: Es ist nicht nötig, mehr als die Füße zu waschen, dies reicht, um rein zu sein (13,10).14 Hier kommt 13

Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 382. In 13,10 besteht ein textkritisches Problem. Viele Kommentare entscheiden sich gegen Aland27 für einen kürzeren Text: Wer gebadet ist, braucht nicht mehr gewaschen zu werden, sondern er ist ganz rein (Schnelle, Evangelium, 211f; Bultmann, Evangelium, 357f; Schnackenburg, Johannesevangelium III, 23; Wengst, Johannesevangelium II, 95; Thyen, Johannesevangelium, 587). Der Text ist aber nur von a, zwei altlat. Handschriften und der Vulgata Stuttgartensis bezeugt. Ausführlich für den Langtext argumentiert Kieffer, L’arrière-fond, 547. Für den Langtext spricht neben der eindeutigen Bezeugung, dass es sich offensichtlich um die für die Interpretation schwierigere Lesart handelt. M.E. ist es denkbar, den ganzen Vers als Beschreibung eines Waschvorgangs zu verstehen: Wer gebadet wird, hat nichts nötig, außer dass die Füße gewaschen werden 14

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als inhaltliche Deutung der Handlung der Begriff der Reinheit ins Spiel. Das Waschen ist nötig, um Anteil an Jesus zu haben, aber auch eine Teilwaschung reicht zur Reinheit. Es ist also logisch gut möglich, Anteil und Reinheit als zwei Umschreibungen desselben Sachverhalts zu verstehen.15 Dieser Deutung schließt sich eine weitere Aussage an: Die JüngerInnen sind rein, aber nicht alle (13,10). Hier erscheint Reinheit als eine dauerhafte Qualität, während zuvor eher ein durch das Waschen erlangter Zustand im Blick war; es ergibt sich also eine gewisse Spannung in der Vorstellung. Inhaltlich stellt sich die Frage, wie die Ausnahme möglich ist, wenn doch das Waschen der Füße völlige Reinheit bewirkt. Es ist jedenfalls nicht gesagt, dass jemand beim Waschen übergangen wurde – nur bei Petrus scheint es unklar. Der Erzählkommentar erklärt die Einschränkung der Reinheit dann als auf den Verräter bezogen (13,11). Diese Episode zeigt Petrus nicht als verständigen Schüler Jesu wie bei der Formulierung des Bekenntnisses. Sein mehrfacher und energischer Widerspruch ist selbst im Rahmen des JohEv ungewöhnlich. Jesu Reaktionen sind demgegenüber relativ freundlich, aber er stellt das Unverständnis des Petrus fest (auch wenn er eine Besserung für die Zukunft ankündigt) und korrigiert noch zweimal seine Ansichten. Auffällig ist die zeitliche Perspektive, in der ein Unterschied zwischen Petrus jetzt und einem zukünftigen Petrus festgehalten wird. Außerdem ist der Umschwung des Petrus von völliger Ablehnung zu übertriebener Zustimmung interessant. Auch in der Zustimmung zeigt sich sein Unverständnis der Handlung Jesu, aber es äußert sich in übereifriger Begeisterung für dessen Absicht. Weshalb lehnt aber Petrus nun die Fußwaschung ab, bzw. was lehnt er daran ab? Im Dialog versteht Jesus sie als ein Anteilgeben an sich – genau dies scheint sich Petrus zu wünschen, wie seine überschwängliche Zustimmung zeigt. Die durch die Waschung erlangte Reinheit scheint hiermit in Zusammenhang zu stehen, sie drückt vermutlich ebenfalls die Zugehörigkeit zu Jesus aus. Aufschlussreicher ist die nachträgliche Erklärung Jesu zu seiner Handlung in 13,12–17. Er betont die Ungewöhnlichkeit, dass er als der ihnen Übergeordnete ihre Füße wäscht. In diesem Akt liegt also eine Umkehr von Hierarchien. Zu dieser Deutung passt der Protest des Petrus ... So auch Hoegen-Rohls, Johannes, 55. Problematisch ist dabei aber die Perfektform leloume/noj. Das Baden liegt eigentlich schon zurück. Wie Kieffer schlägt auch Schlund (vgl. Knochen, 163f) vor, das Gebadetsein auf die Reinigung vor dem Pessach zu beziehen, nach dem nur eine Fußwaschung im Tempel nötig ist. 15 Dafür spricht auch das weitere Vorkommen von rein (kacaro/j) in Joh 15,3: Dort steht Reinheit in Verbindung mit Bleiben (15,4) und im Gegensatz zu Abschneiden (15,2). Verursacht wird sie durch Jesu Wort. Eine Beziehung auf eine reinigende Wirkung von Jesu Tod, wie Schnelle, Evangelium, 215; Wengst, Johannesevangelium II, 95 zu 13,10 vermuten, ist m.E. nicht angedeutet. Thomas (vgl. Footwashing, 60) bringt beides in Zusammenhang mit einer kultischen Funktion des Füßewaschens.

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genau, der abwehrt, dass gerade Jesus (betontes su/ 13,6) ihn wäscht.16 Petrus wendet sich gegen eine solche Umkehrung. Möglicherweise spielt in seine Ablehnung auch die weitere Deutung Jesu hinein, der sein Verhalten als ein Beispiel für die JüngerInnen darstellt. Sie sollen wie er einander die Füße waschen, also eine niedrige Tätigkeit ausführen statt für sich einen höheren Status zu beanspruchen, als er es selbst für sich getan hat. Petrus’ Wunsch nach Waschen der Hände und des Kopfes könnte den Anspruch auf eine besondere Auszeichnung ausdrücken, die der in der Fußwaschung ausgedrückten Niedrigkeit und Gegenseitigkeit zuwiderläuft.17 Dann weist Petrus in seinem Protest also sowohl den freiwilligen Statusverzicht Jesu zurück als auch die eigene Einordnung in die Gemeinschaft des Füßewaschens. Die Antworten Jesu an Petrus enthalten neben Kritik (13,7), Ansage von Besserung (13,7) und inhaltlicher Erklärung seines Handelns (13,8.10) auch noch eine abschließende allgemeinere bewertende Aussage: Ihr seid rein, aber nicht alle (13,10). Der direkt anschließende Erzählkommentar bezieht sie auf den, der ihn ausliefert (to\n paradido/nta au>to/n), also auf Judas.18 Im Gesamtkontext ist das Verständnis eindeutig. Vom unmittelbar vorausgehenden Kontext aus gesehen liegt als eine erste Assoziation aber auch eine Deutung auf Petrus nahe. Er hat gerade die zur Reinheit führende Waschung abgelehnt, es wird nicht gesagt, dass sie doch noch durchgeführt wurde. Auch ist er durch die ganze Szene präsent, so dass sein Name sozusagen in der Luft liegt, wenn hier jemand aus der Gruppe herausgehoben wird. Aber diese mögliche Identifizierung des Petrus als einer von denen, die nicht rein sind, bleibt nur einen kurzen Augenblick möglich, bevor sie klar ausgeschlossen wird. Dieser Befund ist um so auffälliger, als das gleiche Phänomen schon in 6,70f begegnete.19 Im weiteren Verlauf der sich an die Fußwaschung anschließenden Gespräche kündigt Jesus an, dass ihn einer der Anwesenden ausliefern wird 16

Auch Gnilka (vgl. Petrus, 176f) sieht eine Ablehnung der Erniedrigung Jesu bei Petrus, bezieht sie aber auf sein Leiden und den Kreuzestod. Der Text gibt aber m.E. keinen Hinweis auf den Tod Jesu. Sinnvoller lässt er sich m.E. als Illustrierung der Herrlichkeit Jesu und der Probleme ihrer Annahme verstehen, so Snyder, John 13:16, 6. Gegen Snyder sehe ich dies aber als ein praktisch-ethisches Beispiel, betont ist der Gegensatz zu normalen irdischen Hierarchien (HerrSklave). 17 Snyder (vgl. John 13:16, 13) deutet Joh 13,16 als Auseinandersetzung um die Autorität von Aposteln. Dies passt sehr gut in meine Deutung, dass Petrus Probleme mit der Aufgabe von Status hat, und zwar sowohl für Jesus als auch für sich selbst. 18 Judas wird an allen Stellen, an denen sein Name genannt wird, als derjenige bezeichnet, der Jesus ausliefert (paradi/dwmi): 6,71; 12,4; 13,2; 18,2.5; ausführlich 13,21–30. Neben 13,11 gibt es nur noch in 6,64 eine Erwähnung dessen, der ausliefert, ohne unmittelbare Nennung von Judas. Auch dort geht die Identifizierung aber aus dem Kontext hervor. Vom Ausliefern Jesu ist auch im Zusammenhang mit der Verhandlung vor Pilatus mehrfach die Rede (18,30.35f; 19,16; unklares Subjekt in 19,11), dort folgt jedoch jeweils als Dativobjekt der Adressat der Übergabe. 19 Diese Beobachtung macht auch Maynard, Role, 547 A.28.

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(13,21). Petrus veranlasst daraufhin den geliebten Jünger – der in diesem Zusammenhang erstmals als dieser eingeführt wird – zu fragen, um wen es sich handelt (13,24). Dieser fragt und bekommt auch eine Antwort (13,25f), die zwar für die LeserInnen klärend wirkt, aber in der Geschichte selbst nicht zu einem Wissensfortschritt führt; die JüngerInnen sind am Ende genauso ratlos wie am Anfang (13,28f). Für die Rolle des Petrus ist wichtig, dass er hier wieder in Vertretung für alle aktiv wird, dabei aber nicht selber fragt, sondern diese Aufgabe delegiert. Dies ist nach der bisherigen direkten Interaktion des Petrus mit Jesus überraschend. Die Verschiebung der Sprecherrolle (im buchstäblichen Sinn) auf den geliebten Jünger wirft die Frage nach dem Verhältnis beider zueinander auf, die später im JohEv weiter ausgeführt wird.20 Hier zeigt sich, dass auch der geliebte Jünger für die Gruppe sprechen kann, und seine besondere Nähe zu Jesus wird deutlich. Dazu passt, dass Jesus sein Wissen mit ihm teilt. Die Funktion des Petrus ist viel unklarer. Seine Initiative spricht für seine Verantwortung für die Gruppe, also wieder für eine Leitungsrolle. Dass er nicht selber fragt, ist aber merkwürdig. Sein Bitten zeigt eine Anerkennung der größeren Nähe des geliebten Jüngers.21 Nach den letzten beiden Szenen, in denen Petrus einen Moment lang der Verräter hätte sein können, könnte sich darin auch eine Scheu ausdrücken, die Petrus vor dieser Frage zurückschrecken lässt. Jedenfalls kommen Petrus und Judas wieder knapp nebeneinander vor, ohne in direkten Kontakt zu treten. Nach der Episode um Judas (13,21–30) spricht Jesus von seiner Verherrlichung und seinem Weggehen und fordert die JüngerInnen zur Liebe untereinander auf (13,31–35). Diese Themen bestimmen auch weiterhin das Reden Jesu, das durch einzelne Fragen und Beiträge und mitunter konkrete Antworten dazu unterbrochen wird. Die erste Frage stellt hier Petrus, die sich zu einem kurzen Dialog entwickelt, der in der Ankündigung der Verleugnung gipfelt (13,36–38).22 Petrus fragt zunächst, wohin Jesus geht (13,36). Jesus antwortet nicht direkt, sondern macht wie in 13,7 eine zeitlich gestaffelte Aussage über die Person des Petrus: Er kann zwar jetzt (nu~n) nicht folgen, wird dies aber 20 Quast (vgl. Peter, 69) sieht hier einfach unterschiedliche Rollen der beiden. Aber hat Petrus zuvor auch als Sprecher fungiert. 21 Vgl. Wengst, Johannesevangelium II, 103f, der auch einen antihierarchischen Impuls sieht. 22 Coloe (vgl. Welcome, 403f) betrachtet diesen Abschnitt als parallel zu 13,6–11 und deshalb als Abschluss der Fußwaschungsszene mit einer insgesamt chiastischen Struktur. M.E. sind aber die Übereinstimmungen (z.B. die Spannung zwischen jetzt und später) eher durch das Petrusbild allgemein zu erklären als durch eine strukturelle Zusammengehörigkeit; dafür halte ich die Verbindung mit den weiteren kurzen Dialogen mit Thomas und Philippus für stärker. Diese Strukturfrage hat Auswirkungen auf die Interpretation, weil der Blick von Joh 13,36–38 aus eine Deutung der Fußwaschung auf den Kreuzestod Jesu nahe legt (vgl. Coloe, Welcome, 409). Wie oben schon gesagt, sehe ich dafür im engeren Text der Fußwaschung keinen Anhalt.

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später (u[steron) tun (13,36). Petrus widerspricht dieser Aussage: Er fragt zurück, weswegen er jetzt (a]rti) nicht folgen kann; die anschließende Beteuerung des Lebenseinsatzes macht deutlich, dass er die Einschätzung Jesu nicht teilt (13,37). Jesus wiederum greift diese Beteuerung auf und kontrastiert sie mit der Ansage einer dreimaligen Verleugnung noch vor dem Hahnenschrei (13,38). Während die Frage des Petrus noch durchaus sinnvoll ist – später (16,5) vermisst Jesus ausdrücklich diese Frage der JüngerInnen –, zeigt seine zweite Reaktion wieder sein Unverständnis. Er akzeptiert die Sicht Jesu auf ihn nicht. Die weiteren im JohEv geschilderten Ereignisse bestätigen sie jedoch: Jesu Ansage der Verleugnung erfüllt sich. Dies ist die Konkretion des Unvermögens des Petrus zur Nachfolge jetzt. Unerläutert und auch unbestritten bleibt der zweite Teil der Ankündigung, die spätere Nachfolge des Petrus. Hier scheint es um Ereignisse nach der Zeit des Evangeliums zu gehen, in denen eine bessere Bewährung des Petrus durch Jesu Wort verbürgt ist. Wie schon in 13,7 wird also dem aktuellen Versagen eine positivere Zukunft entgegengestellt. Inhaltlich wird die Nachfolge von Petrus auf die Frage nach dem Lebenseinsatz zugespitzt. Er setzt hier Nachfolge mit seiner Bereitschaft gleich, für Jesus zu sterben, bzw. sieht dies als eine exemplarische Form von Nachfolge an. Diese Verbindung von Nachfolge und Kreuz ist bisher nicht klar festgelegt; a>kolouce/w ist auch insgesamt kein zentraler Begriff für das Verhältnis der JüngerInnen zu Jesus.23 Vom Einsatz des eigenen Lebens spricht Jesus im Bild vom guten Hirten (10,11.15);24 in 15,13 wird die gleiche Formulierung (ti/chmi th\n yuxh\n ukolouce/w 18,15) und endet mit der dreimaligen Verleugnung – in 18,17.25 ausdrücklich des Jüngerseins –, wie von Jesus vorhergesagt (13,38). Jesu Sicht, dass Petrus zunächst noch nicht zu einer Nachfolge fähig ist, bestätigt sich so deutlich. Die Szene ist aber über den Namen des Malchus mit Petrus’ Verhalten bei der Verhaftung verbunden. Sein gewalttätiger Eifer dort und das Leugnen hier verbinden sich so: Petrus versagt sowohl im Verständnis als auch in persönlicher Konsequenz. Möglicherweise ist das Verleugnen zumindest ansatzweise als mangelndes Verständnis der Situation zu sehen. Wichtig für das Bild des Petrus ist auch jener andere Jünger, der ihm überhaupt erst Zugang zum Palast verschafft. Petrus ist auf seine Vermittlung angewiesen, ähnlich wie beim ersten Auftreten auf die des Andreas, der Petrus in Kontakt mit Jesus bringt; Petrus braucht jeweils Hilfe für seine Nachfolge. Er ist hier weder Vertreter der Gesamtgruppe noch gibt er seinerseits Aufgaben weiter, sondern er ist als Einzelperson angewiesen auf andere und so eingebunden in einen größeren Kontext. Der andere Jünger selbst bleibt eine schattenhafte Gestalt, die nur in Funktion für Petrus beschrieben wird. Als Petrus in den Palast gelangt, verschwindet der andere aus der Erzählung – er wird weder als anwesend erwähnt noch wird ein Weggehen irgendwie thematisiert. 1.6 Petrus und der geliebte Jünger – Ostern (Joh 20,2–10; 21) Nach den weiteren Ereignissen der Passion, in denen der geliebte Jünger erneut und Maria Magdalena erstmalig auftreten, sind am Ostermorgen alle drei am Grab Jesu zu finden (20,1–18). Die Szene ist auf Maria Magdalena konzentriert, Petrus und der geliebte Jünger sind ihr zugeordnet und parallel zueinander dargestellt.30 Zunächst bekommen sie beide durch Maria die Nachricht vom Verschwinden des Leichnams Jesu (20,2), dann machen sie sich gemeinsam zum Grab auf (20,3), kommen aber nacheinander an und sehen leicht unterschiedliche Dinge (20,4–7). Vom geliebten Jünger wird berichtet, dass er glaubt (20,8). Schließlich verlassen sie die Szene wieder (20,10). Petrus ist hier wie schon zuvor auf die Botschaft von anderen angewiesen. In diesem Fall ist es Maria Magdalena, die den Anstoß zu seiner Handlung gibt. Das Gehen zum Grab erscheint dabei aber als eigene Initiative (anders 1,42; 18,16). Diese prompte Reaktion passt zu seinem auch sonst engagierten, auf Jesus ausgerichteten Verhalten. Da die Szene der beiden am Grab in die größere Geschichte der Maria Magdalena eingeordnet ist und erst in deren Begegnung mit Jesus zu ihrem 30

Ausführlicher s.o., III.1.3.

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Petrus

Höhepunkt kommt, bleiben die Erlebnisse der beiden Jünger vorläufig. Was sie im Grab sehen, wird noch überboten. Ein gewisser Abschluss ist aber durch den Glauben des geliebten Jüngers gegeben. Hier führt das Sehen zu einem Ergebnis. Von Petrus wird nichts Vergleichbares berichtet, dadurch erscheint er als unverständig. Betont ist jedoch nicht dieses Unverständnis, sondern die Besonderheit des geliebten Jüngers, Petrus ist die Folie, von der er sich abhebt. Insgesamt ist bemerkenswert, wie sehr Petrus nur eine Nebenrolle spielt und trotz der ausführlichen Szene keine eigene Funktion und kein Profil entwickelt. Eine zentrale Rolle spielt Petrus dann aber durchgehend in Joh 21.31 Er ist als erster genannt (21,2) und ergreift dann die Initiative zum Fischen, der die anderen sich anschließen (21,3). Nachdem ihnen Jesus unerkannt einen reichen Fang beschert hat, identifiziert ihn der geliebte Jünger Petrus gegenüber, der sich daraufhin anzieht und ins Wasser springt (21,7). Schließlich zieht er auf Jesu Aufforderung das Netz mit den Fischen an Land (21,11). Nach dem Mahl wendet sich Jesus direkt an Petrus und fragt ihn dreimal, ob er ihn liebe, was Petrus jeweils bejaht, woraufhin er den Auftrag zum Weiden der Schafe bekommt (21,15–17). An den dritten Gesprächsgang schließt sich eine Vorhersage über das spätere Schicksal des Petrus an (21,18), die durch einen Erzählkommentar auf den Tod des Petrus bezogen wird (21,19). Schließlich fordert Jesus ihn zur Nachfolge auf (21,19). Das Gespräch nimmt eine Wendung, als Petrus nun nach dem geliebten Jünger fragt (21,20f). Jesus macht auch über ihn eine, wenn auch nicht ohne weiteres verständliche, Aussage, betont dann aber nochmals die Aufforderung zur Nachfolge an Petrus (21,22). Der abschließende Erzählkommentar deutet die Aussage über den geliebten Jünger und mündet in den Abschluss des ganzen Evangeliums, als dessen Autor er vorgestellt wird. Am Beginn der Szene erscheint Petrus als ein Anführer der Gruppe, an die er sich wendet und die sich ihm anschließt. Anders als z.B. beim Bekenntnis ist er nicht auf Jesus bezogen der Sprecher der Gruppe, sondern interagiert mit dieser, wobei die anderen seiner Anregung zum Fischen folgen. Dies ist ein freiwilliger Anschluss, auch wenn die Mitteilung über seine Absicht zu fischen implizit eine Aufforderung enthält. Bei den folgenden Ereignissen und auch beim Gespräch mit Jesus handelt und spricht dann die Gruppe als ganze. Erst nach dem erfolgreichen Fang rückt Petrus als Einzelperson wieder ins Zentrum, weil der geliebte Jünger ihn anspricht und darauf hinweist, dass es sich um Jesus handelt. Wie schon in 13,23–25 und 20,2–10 sind die beiden also eng aufeinander bezogen. Anders als in 13,24 ist es aber nicht Petrus, der über den geliebten Jünger Informationen 31

Zum Anschluss von Joh 21 an Joh 20 s.u., V.1.5.

Petrus im JohEv

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von Jesus erhalten will, sondern umgekehrt der geliebte Jünger, der sein Wissen über Jesus mit Petrus teilt. Auch wenn der Ausgangspunkt also unterschiedlich ist, wird jeweils deutlich, dass der geliebte Jünger Jesus näher steht und Petrus auf ihn angewiesen ist.32 Unklar ist, welchen Sinn die spontane Reaktion des Petrus hat. Es wird nicht gesagt, dass er Jesus schneller erreichen will und deshalb ins Wasser springt – falls dies die Absicht war, ist er damit nicht erfolgreich, denn er erreicht erst in 21,11 nach den anderen das Ufer.33 Die Handlung kann also als für Petrus typischer Übereifer verstanden werden, scheint mir damit aber noch nicht restlos erklärt.34 Stellvertretend für die ganze Gruppe handelt Petrus dann wieder, indem er das Netz mit den Fischen bringt, wozu Jesus alle aufgefordert hatte. Im zweiten Teil der Szene, nach dem Essen, findet sich ein Dialog zwischen Petrus und Jesus, der von Jesus begonnen wird. Das dreimalige Fragen nach der Liebe zu Jesus greift die dreimalige Verleugnung auf und ist so eine Art Rehabilitierung des Petrus.35 Die Verbindung von Bereitschaft zur Nachfolge, Lebenshingabe und Liebe war schon bei der Ankündigung der Verleugnung deutlich und wird hier bestätigt. Auffällig ist, dass Jesus beim ersten Mal Petrus den anderen gegenüberstellt und fragt, ob er ihn mehr als sie liebe. Petrus nimmt diesen Komparativ aber nicht auf, sondern stellt nur einfach seine Liebe fest. Dem entsprechen auch die weiteren Fragen. D.h. eine mögliche Vorrangstellung durch eigene Fähigkeiten des Petrus wird zwar als Möglichkeit angedeutet, aber dann nicht weiter ausgeführt, sondern indirekt abgewiesen. Trotzdem folgt auf die Zusicherung der Liebe von Petrus dann jeweils ein klarer Auftrag, der Petrus zum Nachfolger und Vertreter Jesu bestimmt: Er soll Jesu Schafe weiden, bekommt also die Funktion eines Hirten, die bisher nur Jesus selbst innehatte.36 Anders als in früheren Dialogen zwischen den beiden ist Petrus eher bescheiden als vollmundig. Er versichert seine Liebe, verweist dabei aber jeweils – ausführlich betont beim dritten Mal in 21,17 – auf das Wissen Jesu. Dies ist eine angemessene Haltung, da Jesus nach 2,24f wirklich weiß, was in den Menschen vorgeht. Es bedeutet aber auch eine Absicherung, dass er hier nicht wie in 13,37 eine falsche Zusicherung gibt, sondern durch Jesu Wissen selbst bestätigt ist. Für die LeserInnen sind die Aussagen des 32

Eine überlegene Erkenntnis wurde ja auch in 20,8 deutlich. Vgl. Kügler, Jünger, 384. Ich verstehe das a>ne/bh als Hinaufsteigen des Petrus aus dem Wasser ans Ufer, während die übrigen in 21,9 aus dem Boot ausgestiegen sind. So auch Wengst, Johannesevangelium II, 315. 34 Nach Perkins (vgl. Peter, 99 und 107 A.65) ist es ein Fluchtversuch des Petrus, denn ginge es darum, Jesus zu erreichen, dann müsste der geliebte Jünger springen. Positiver als Bereitschaft, für Jesus zu arbeiten, erklärt Tolmie das Verhalten, vgl. Good, 361. 35 So der Konsens, vgl. Wilckens, Joh 21,15–23, 172. Anders Bultmann, Evangelium, 551. 36 Vgl. Wilckens, Joh 21,15–23, 173. 33

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Petrus so auch von Jesus selbst verbürgt. Das Wissen Jesu führt schließlich noch zu einer ausdrücklichen Aussage über das Schicksal des Petrus. Wie schon in 13,7.38 besteht ein Unterschied zwischen verschiedenen Zeiten im Leben des Petrus. Hier geht es nicht um jetzt und später, sondern um jung sein und alt werden. Ersteres ist durch das eigene Gürten bestimmt und entspricht wohl der aktuell erzählten Zeit, da noch in 21,7 erwähnt wurde, dass Petrus sich gürtet. Durch den Erzählkommentar in 21,19 wird die spätere Lebensphase als ein Tod zur Ehre Gottes gedeutet.37 An dieser Stelle werden also die früheren Andeutungen über das spätere Verhalten des Petrus inhaltlich geklärt: Petrus hat Jesus zwar verleugnet, folgt ihm aber später in den Tod (13,36). In 21,19 folgt auf die Ankündigung des Todes eine Aufforderung zur Nachfolge, wodurch bestätigt wird, dass die Nachfolge des Petrus auch schon in Joh 13 als Nachfolge in den Tod zu verstehen ist. Nach diesem Dialog zwischen Jesus und Petrus kommt wieder der geliebte Jünger in den Blick, und zwar ganz wörtlich: Petrus sieht ihn nachfolgen.38 Er nimmt aber selber nicht am Gespräch teil, sondern Petrus und Jesus reden über ihn. Die Frage des Petrus in 21,21 lässt im Kontext der Ankündigung des Todes des Petrus und durch das Stichwort nachfolgen eine ähnliche Vorhersage wie bei Petrus erwarten. Eine solche Ankündigung eines Martyriums bietet Jesus aber nicht, stattdessen stellt er das Interesse des Petrus in Frage. Petrus soll nachfolgen, über den geliebten Jünger macht Jesus nur eine rätselhafte bedingte Aussage (21,22), die ebenfalls auf Petrus bezogen ist: ti/ pro\j se/ kann als „Was geht es dich an?“ verstanden werden, dann wird die Frage des Petrus grundsätzlich zurückgewiesen. Da aber Jesus durchaus eine Aussage über das Schicksal des geliebten Jüngers macht, die Frage des Petrus also nicht pauschal abwehrt, und da seit dem ersten Auftreten des Jüngers sein Verhältnis zu Petrus immer wieder wichtig ist, scheint es mir sinnvoll, den Satz als eine echte Frage zu verstehen im Sinn von: „Was bedeutet es für dich?“ Petrus wird aufgefordert, sein Verhältnis zum geliebten Jünger zu überdenken. Diese Frage bleibt Petrus und mit ihm den LeserInnen gestellt. Der Hinweis auf die Abfassung des Evangeliums und auch die Erwähnung des ersten Auftretens des geliebten Jüngers in 21,20 weisen zurück auf die bisher geschilderten Ereignisse: Der geliebte Jünger fragt nach der Identität des Verräters, er ist Zeuge der Stunde Jesu am Kreuz und wird dabei Sohn von Jesu Mutter, er glaubt im umfassenden Sinne und er erkennt schließlich 37 Die knappen Angaben setzen, wenn sie nicht absichtlich rätselhaft sind, ein Wissen um die näheren Umstände des Todes des Petrus voraus. 38 An dieser Stelle ist deutlich erkennbar, dass die Fokussierung durch Petrus auf den geliebten Jünger erfolgt. Der Blick der LeserInnen geht so von Petrus aus oder steht ihm zumindest deutlich näher. Dies erschwert eine Identifikation mit dem geliebten Jünger.

Petrus im JohEv

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Jesus und weist auch Petrus auf ihn hin. Gegenüber Petrus mit seiner Leiterund Sprecherrolle, aber auch seinem Hang zum Unverständnis kann er das Verstehen garantieren. Petrus braucht ihn, weil er Jesus unvergleichlich nahe steht und die Ereignisse richtig deuten kann. 1.7 Petrus im JohEv: Offene Fragen und Anknüpfungspunkte für die LeserInnen Petrus wird im JohEv als eine den LeserInnen bekannte Person vorausgesetzt. Das Bild reicht über die im JohEv erzählte Zeit hinaus. Dies zeigt sich schon in seiner ersten Erwähnung zur Näherbestimmung des Andreas, aber auch in Andeutungen über sein späteres Geschick. Dazu gehört sein Beiname, aber auch sein Märtyrertod. Dieser wird als Erfüllung der im Evangelium selbst nicht gelungenen Nachfolge gedeutet und zeigt das später gewonnene, im Evangelium nur teilweise vorhandene Verständnis des Petrus bzgl. Person und Auftrag Jesu. In dieser Darstellung liegt eine auffällige Spannung zwischen dem Petrus der im Evangelium erzählten Zeit und einem späteren Petrus, eine Spannung, die in 13,7 (bezogen auf das Verständnis des Petrus) sowie in 13,36 und 21,18 (bezogen auf seine Nachfolge in den Tod) ausdrücklich festgehalten wird.39 Das Reden und Handeln des Petrus im Evangelium selbst erscheint dadurch als vorläufig. Petrus wird deutlich kritisch gesehen, die Kritik wird aber zugleich relativiert. Offen bleibt, an welchem Punkt der Umschwung anzusetzen ist, d.h. ob das Leben des Petrus zwischen Jesu Auferstehung und seinem eigenen Tod eher als Fortsetzung der Unverständigkeit im JohEv oder schon als seine positivere Zukunft anzusehen ist.40 So entsteht ein sehr offenes Bild, das eine grundlegende Wertschätzung beinhaltet, aber auch umfassende Kritik ermöglicht. Die LeserInnen können spätere Ereignisse aus dem Leben des Petrus, etwa seine Umsetzung des Leitungsauftrags, anhand der Vorgaben im JohEv sehr unterschiedlich einordnen. Petrus wirkt an einigen Stellen als Sprecher/Vertreter der Gesamtgruppe: beim Bekenntnis (6,68f), bei der Frage nach dem Verräter (13,24) und beim Einholen des Netzes (21,11). Sonst ist er aber deutlich eine Einzelperson mit 39 Indirekt können auch 1,42 (Beiname – so Duke, Irony, 98) und 20,9 (Verständnis der Auferstehung) auf einen späteren Petrus verweisen. 40 Diese zeitliche Unklarheit ist umso auffälliger, weil weitere Prolepsen über zukünftiges Verstehen o.ä. im JohEv klarer datiert sind. In 2,22 werden die JüngerInnen sich nach Jesu Auferstehung erinnern (an das Wort zur Tempelreinigung) und glauben. Die I>oudai~oi werden nach 8,28, wenn sie den Menschensohn erhöht haben, erkennen, dass es Jesus ist und er nichts aus sich heraus tut. In 12,16 erinnern sich die JüngerInnen, als Jesus verherrlicht ist, an die Umstände des Einzugs, die sie zunächst nicht verstehen. D.h. hier ist jeweils auf Kreuzigung / Auferstehung Bezug genommen. Hoegen-Rohls (vgl. Johannes, 58f) versteht die Aussagen über Petrus in 13,7 in diesem Zusammenhang und Petrus als exemplarisch für alle JüngerInnen und interpretiert die Aussage deshalb auch als auf die nachösterliche Zeit bezogen.

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klarem (wenn auch in sich widersprüchlichem) Charakter. In 21,2f wirkt er als Anführer der Gruppe, eine Rolle, die in 21,15–17 ausdrücklich bestätigt wird. An dieser Stelle ist er klar aus der Gruppe herausgehoben und wird mit Jesus parallelisiert, als dessen Vertreter er wirken soll, begründet durch die Parallelität des Todes. Trotz dieser Sonderrolle am Ende und der durchgehenden Sprecherfunktion ist er jedoch sehr häufig auf andere JüngerInnen angewiesen, die ihm auf verschiedene Weise Zugang zu Jesus ermöglichen. Dies ist beim ersten Auftreten Andreas, der überhaupt den Kontakt herstellt (1,41f), später ein anderer Jünger, der ihn in den Hof des Hohepriesters mitnimmt (18,15f), Maria Magdalena, die ihn auf das leere Grab hinweist (20,1), und vor allem der geliebte Jünger, der die Frage nach dem Verräter stellt (13,24) und Jesus identifiziert (21,7) – und an ihn verweist Jesus Petrus auch ausdrücklich (21,22f). So ist Petrus trotz seiner hervorgehobenen Rolle eingebunden in ein Netz von Beziehungen und bleibt auf andere angewiesen.41 Inhaltlich ist sein Reden und Handeln gekennzeichnet durch eine Mischung aus einerseits Verständnis und einer positiven Beziehung zu Jesus, andererseits Unverständnis und Abbruch der Beziehung – in unterschiedlicher Kombination: Sein Bekenntnis zeigt ihn treu zu Jesus und verständig, die Verleugnung als untreu. Häufig ist das Unverständnis mit großem Eifer für Jesus verbunden, so bei der Fußwaschung, der Verhaftung, evtl. auch am Ostermorgen und beim Fischzug.42 Das Unverständnis wird von Jesus selbst zurückgewiesen, zeigt sich manchmal aber auch im Vergleich mit dem geliebten Jünger. Es wird stärker thematisiert als seine Treue, denn trotz der Verleugnung scheint sein letztendliches Stehen an der Seite Jesus nicht zweifelhaft zu sein.43 Eine Besonderheit wird im erzählerischen Kontext deutlich: Zweimal wird im Gespräch mit Petrus von Jesus auf einen Abweichler hingewiesen („einer von euch ist ein Teufel“ 6,70; „ihr seid rein, aber nicht alle“ 13,10). Jeweils wird dies im folgenden Erzählkommentar auf Judas gedeutet, aber trotzdem bleibt eine Schrecksekunde, in der zumindest kurzzeitig denkbar ist, dass hier Petrus gemeint sein könnte. Auch die von ihm nicht gestellte Frage nach dem Verräter und das gemeinsame Auftreten bei der Verhaftung Jesu passen zu einer solchen Verbindung zwischen Petrus und Judas, die angedeutet, dann aber sofort wieder zurückgenommen wird.44 41

Diese Angewiesenheit wird auch noch in Joh 21 deutlich, es lässt sich also nicht argumentieren, dass in diesem Kapitel eine grundsätzlich andere Rolle des Petrus dargeboten wird, auch wenn dort die klarste Beauftragung erfolgt. Die Ähnlichkeit des Petrusbildes zwischen Joh 1–20 und Joh 21 betonen auch Wiarda, Peter, 117; Perkins, Peter, 100f. 42 Wiarda (vgl. Peter, 34–38.64) sieht ein Grundmuster der guten Absicht, aber dann nicht erfüllten Erwartung bei Petrus. 43 Vgl. Wiarda, Peter, 116. 44 Auch Burnet/Bizot (vgl. 109–111) sehen eine Verbindung zwischen Petrus und Judas, meinen aber, dass Petrus sich positiv von ihm abhebt und insgesamt zwischen Judas und dem geliebten Jünger eine blasse und gewöhnliche Figur bleibt.

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Die Figur des Petrus ist im JohEv also grundsätzlich offen durch ihre Reichweite über die Erzählung hinaus. Gerade die Zukunftsaussagen über Petrus bieten einen Anknüpfungspunkt für die LeserInnen, die sie einordnen und bestätigen können. Diese offene Anlage des Petrusbildes macht es schwer, zu einer Gesamteinschätzung der Person zu kommen.45 Wie kritisch wird Petrus im JohEv eigentlich gesehen? Die Einbeziehung eines größeren Kontextes kann diese Frage vielleicht nicht vollständig beantworten, aber der Beantwortung näher bringen. Darüber hinaus gibt es etliche Punkte, bei denen aus dem Text allein die Deutung bestimmter Züge der Erzählung nicht zu entnehmen war. So z.B.: Was bedeutet der Name Kephas / Petrus (1,42)? Was ist der Sinn der Verschränkung von Andreas und Petrus bei ersten Auftreten (1,40f)? Was bedeutet die ungewöhnliche Formulierung des Bekenntnisses des Petrus (6,69)? Wie ist das Verhältnis von Petrus zu Judas zu verstehen? Warum fragt Petrus nicht selber nach dem Verräter (13,24)? Welchen Sinn hat das Auftreten des Petrus am Ostermorgen (20,2–10)? Warum springt Petrus ins Wasser (21,7)? In vielen Fällen kann vermutet werden, dass die Mitarbeit der LeserInnen gefordert ist, also durch schon vorhandenes Wissen Lücken gefüllt und Rätsel gelöst werden können. Diese offenen Fragen sind ein Ansatzpunkt für den Vergleich, denn möglicherweise bieten andere Zeugnisse über Petrus Informationen, die zur Deutung beitragen können. Allerdings ist nicht damit zu rechnen, dass sich alle offenen Fragen auf diesem Wege beantworten lassen – denn weder geben die heute erhaltenen Schriften alles wieder, was zur Zeit des JohEv bekannt sein konnte, noch ist dieser Vergleich der einzige mögliche Weg zur Lösung. Und auch umgekehrt kann der Vergleich nicht nur Fragen beantworten, sondern auch selber neue aufwerfen.

2. Frühchristliche Traditionen über Petrus 2.1 Petrus in frühchristlichen Schriften (Überblick) Frühchristliche Traditionen über Petrus Petrus spielt in zahlreichen Schriften über das irdische Leben Jesu sowie das entstehende Christentum eine bedeutende Rolle. Nach den erhaltenen Zeugnissen ist er insgesamt die wichtigste Person im Kreis der JüngerInnen Jesu und eine der zentralen Figuren bei der Konstituierung und Entwicklung der Bewegung nach Ostern als Gemeindeleiter, Missionar und Märtyrer. Er gilt als Verfasser von Briefen und anderen Schriften und als apoka45 Tolmie (vgl. Good, 362) sieht einen Prozess in der Darstellung mit einem positiven Anfang, einem Tiefpunkt in Joh 13 und 18 und einer allmählichen Besserung in Joh 20f. Aber trotz dieser Entwicklung in der Erzählung sind für das Petrusbild alle Anteile auch gleichzeitig präsent.

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lyptischer Seher. Als Überblick über die Menge der Zeugnisse will ich diese zunächst nach den wichtigsten Phasen bzw. Ereignissen in der Biographie des Petrus ordnen. Dies führt zugleich zu einer Ordnung nach Gattungen der Quellen. Ein zweiter Durchgang orientiert sich an der Entstehungszeit und versucht so, Entwicklungen in der Petrustration aufzuzeigen und die Zeugnisse kritisch zu bewerten. Die früheste Lebensphase des Petrus, über die berichtet wird, ist seine Zeit als Jünger Jesu. In den synoptischen Evangelien steht Petrus an der Spitze der Zwölf; er ist der erstberufene Jünger und hat – oft zusammen mit Jakobus und Johannes – eine hervorgehobene Position mit besonderer Nähe zu Jesus und als Sprecher des Kreises. Insbesondere sind das Bekenntnis zu Jesus als Messias mit seinem Namen verbunden sowie seine unrühmliche Rolle in der Passionsgeschichte (Verleugnung). In nichtkanonischen Evangelien ist seine Position sehr unterschiedlich: Im EvPetr ist er nicht nur der wichtigste Jünger und Anführer des Kreises, sondern auch der Erzähler der ganzen Schrift. Im EvThom ist er ebenfalls wichtig, wird aber wohl eher kritisch gesehen und ist Thomas klar nachgeordnet. Noch deutlicher ist die Kritik an Petrus im EvMar, aber auch hier hat er eine Funktion als Sprecher – und als Hauptgegner zu Maria Magdalena.46 Die Zeit nach Jesu Tod und Auferstehung wird in der Acta-Literatur geschildert, Hinweise gibt es aber auch in einigen Paulusbriefen.47 In der Apg ist Petrus als Anführer der Zwölf auch der Leiter der ersten Gemeinde in Jerusalem und trägt durch Reden und Wunder zu ihrem Aufbau bei. Er ist Missionar, wird in dieser Rolle aber von Paulus abgelöst, der in der zweiten Hälfte der Apg im Zentrum steht. Von Petrus wird nach dem Apostelkonzil (Apg 15) nicht mehr berichtet. Die apokryphen Petrusakten (ActPetr) – in Handschriften verschiedenen Umfangs überliefert – bieten weiteren Stoff zu dieser und der späteren Zeit bis zu seinem Tod: Die Tat des Petrus (ActusPt: BG,4) erzählt eine Episode von der Tochter des Petrus und gehört zum sonst nicht erhaltenen ersten Teil der ActPetr, der in Jerusalem spielt. Sie umfassen außerdem vor allem Auseinandersetzungen mit Simon Magus in Rom und den Märtyrertod des Petrus dort. Eine ganz andere Schrift, aber auch zur Acta-Literatur zu rechnen sind die Taten des Petrus und der zwölf Apostel (ActPt: NHC VI,1), die von einer Reise von Petrus und den übrigen Jüngern berichtet. Auch der Brief des Petrus an Philippus (EpPt: NHC VIII,2) hat teilweise den Charakter einer Apostelgeschichte, in der Petrus eine Leitungsrolle im Kreis der Jünger einnimmt. 46 Weitere Evangelien sind zu fragmentarisch erhalten, um genaue Aussagen zu machen. In EvEb und EvNaz scheint ein ähnliches Petrusbild wie in den synoptischen Evangelien vorzuliegen. 47 Aber z.B. in den Deuteropaulinen wird Petrus nicht erwähnt, vgl. Karrer, Petrus, 212f.

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Ein wichtiges Einzelereignis im Übergang zwischen diesen Phasen sind Erscheinungen des Auferstandenen, durch die Petrus vermutlich beauftragt wurde.48 Sie spielen in den beiden letztgenannten Schriften (ActPt, EpPt) jeweils eine wichtige Rolle. In der EpJac umfassen eine Erscheinung und die in ihr an Jakobus und Petrus übermittelten Lehren fast den gesamten Text. Petrus ist hier zusammen mit Jakobus aus den übrigen Jüngern herausgehoben, diesem aber nachgeordnet; Jakobus ist derjenige, der die Lehren weitervermittelt. Die EpAp enthält einen Erscheinungsdialog, an dem die ganze Gruppe der Jünger beteiligt ist. Petrus ist hier zusammen mit Thomas und Andreas bei der Erscheinung selbst hervorgehoben, weil sie sich von der Körperlichkeit des Erschienenen überzeugen. Die EpAp bietet auch eine Auflistung der Namen der Zwölf, in der Petrus aber erst als dritter nach Johannes und Thomas genannt ist. Eine Erscheinung speziell vor Petrus ist bei Paulus (1Kor 15,5) und im LkEv (24,34) erwähnt, aber nicht ausführlich erzählt. Eine andere Art von Offenbarungsliteratur bilden die mit dem Namen des Petrus verbundenen Apokalypsen. Sie knüpfen von der Situation her an Jesu Belehrungen über die Endzeit vor seiner Passion an (Mk 13,3f par), umfassen aber auch eine Entrückung oder einen Einblick in himmlische Wirklichkeit, die zugleich gedeutet wird. In der äthiopisch und griechisch überlieferten ApkPetr geht es um das Schicksal von Gerechten und vor allem von Sündern, deren Strafen plastisch und mit ermahnender Tendenz ausgemalt werden. Von ihr zu unterscheiden ist die koptisch überlieferte ApcPt (NHC VII,3), die eine Deutung der Passion Jesu – er hat nicht wirklich gelitten – und einige Polemik gegen etablierte Kirchenstrukturen aus gnostischer Perspektive umfasst. Schließlich gehört zum Petrusbild auch die Zuschreibung von zwei ntl. Briefen. 1Petr ist an einige Gemeinden in Kleinasien gerichtet und spricht ihnen Trost in bedrängter Situation zu. Die Person des Petrus wird dabei ansatzweise als Leidensgenosse sichtbar. Klarere Konturen hat das Petrusbild in 2Petr. Er ist als ein Testament des Petrus konzipiert, sein bevorstehender Tod wird angekündigt und vor allem seine Zeugenschaft der Verklärung Jesu ist für die Argumentation wichtig. Ähnlich wie die Briefe bieten auch das nur in Fragmenten (bei Clemens Alexandrinus) erhaltene Kergyma des Petrus (KerPetr) von ihm verbürgte Lehre und Verkündigung. Es ist aber nicht genug von dieser Schrift erhalten, um ein Petrusbild zu erheben.49 Auch beim EvPetr gilt Petrus durch den Titel und die Erzählfiktion als Verfasser, d.h. er fungiert hier als Augenzeuge und Bürge für die Erzählungen über Jesus. Indirekt gilt dies auch für das MkEv, wenn es wie von Papias 48 49

Vgl. Cullmann, Petrus, 65. Vgl. Schneemelcher, Kerygma, 35f; Smith, Petrine, 40.

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(Fragment II,15 aus Eus. h.e. III 39) vermittelt durch Markus auf Petrus zurückgeführt wird. 2.2 Schwerpunkte und Entwicklungen der Traditionen zu Petrus Die literarischen Zeugnisse zeichnen ein vielfältiges Bild, in dem aber auch Konturen einer historischen Gestalt sichtbar werden. Dabei liegen die frühesten Zeugnisse über Petrus in den Paulusbriefen vor, die von einem Zeitgenossen zu Lebzeiten des Petrus verfasst wurden, von einem Autor, der Petrus persönlich kannte und bei seinen AdressatInnen mit Bekanntschaft (in weitem Sinne) rechnen konnte. Den Angaben des Paulus kommt deshalb außerordentliche Bedeutung zu. Petrus wird von ihm in Gal und 1Kor genannt. Paulus sieht ihn als einen Apostel wie sich selbst, wobei Petrus ein zeitlicher Vorrang (Gal 1,17) zukommt, demgegenüber Paulus seine Ebenbürtigkeit betont.50 D.h. auch in paulinischen Gemeinden scheint die Bedeutung des Petrus unstrittig zu sein. Paulus trifft Petrus zweimal im Abstand von 14 Jahren (Gal 2,1) in Jerusalem (Gal 1,18; 2,9), wo Petrus eine führende Position hat. Er und Jakobus der Herrenbruder und Johannes gelten als Säulen (stu~loi) der Gemeinde (Gal 2,9) und gehören wohl auch zu den Angesehenen (oi< dokou~ntej Gal 2,7f). Er ist Missionar (Gal 2,7f; 1Kor 9,5), was zumindest an letzterer Stelle Reisen einschließt (vgl. auch den Besuch in Antiochia Gal 2,11), und hat auch außerhalb von Jerusalem AnhängerInnen (1Kor 1,12). Als ein wichtiges Ereignis wird die Erscheinung Jesu vor Petrus als erstem (1Kor 15,5) erwähnt, auf die vorösterliche Zeit geht Paulus jedoch nicht ein.51 Neben der klaren Anerkennung der Bedeutung des Petrus steht auch Kritik wie in der Auseinandersetzung in Antiochia (Gal 2,11–15), in der Paulus seine eigene Autorität gegen die des Petrus stellt und sich so profiliert.52 Die paulinische Beschreibung des Petrus als leitende Person in der Jerusalemer Gemeinde sowie als reisender Missionar ist historisch verlässlich und wird durch die Acta-Literatur bestätigt.53 Anders als bei Paulus fehlen dort jedoch Einschränkungen der Autorität des Petrus und Kritik an ihm, er wird immer stärker zu einer Idealfigur.54 Dabei bestehen in den Einzelheiten der Darstellung schon zwischen Paulus und der Apg, aber auch zwischen den verschiedenen Zeugnissen der Acta-Literatur durchaus Unterschiede, was seine Meinung und Aufgaben angeht. Die grundlegenden Fakten dieser Lebensphase des Petrus (leitende Funktion in Jerusalem, missionarische 50

Vgl. Wehr, Petrus, 115.126f: Paulus betont sogar seine Überlegenheit. Der Hinweis auf einen früheren, offensichtlich schlechteren Status der Angesehenen in Gal 2,6 könnte sich auf Petrus beziehen, aber worauf diese Bemerkung anspielt, bleibt unklar. 52 Vgl. Karrer, Petrus, 217. 53 Vgl. Cullmann, Petrus, 62. 54 Vgl. Perkins, Peter, 95.147. 51

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Tätigkeit einschließlich Reisen) sind jeweils aufgenommen, aber sowohl in den einzelnen Ereignissen als auch in der von Petrus vertretenen Position spiegeln sich die jeweiligen Anliegen der Schrift.55 Die ältesten Zeugnisse für die Zeit von Petrus als Jünger Jesu sind dagegen erst nach dem Tod des Petrus verfasst und nicht von AugenzeugInnen dieser Zeit. Möglich ist eine persönliche Bekanntschaft mit Petrus in nachösterlicher Zeit,56 Vertrautheit mit seiner Funktion in der frühen Kirche ist auf alle Fälle anzunehmen. Die vor- und die nachösterliche Rolle des Petrus sind dadurch sachlich eng verbunden. Seine Funktion in der ersten Gemeinde beruht wohl zumindest teilweise auf der Stellung im JüngerInnenkreis – und umgekehrt ist seine Darstellung als Jünger Jesu auch von seiner späteren Funktion geprägt.57 In vielen Evangelien wird ein durchaus ambivalentes Petrusbild gezeichnet, bei aller Bedeutung wird er auch als fehlbar und konkret versagend dargestellt. Die Verleugnungsgeschichte begegnet durchgehend in narrativen Evangelien (soweit erhalten), die Zurechtweisung seines Unverständnisses angesichts des Leidens Jesu in voller Schärfe in Mk und Mt, ohne dass dadurch seine Autorität grundsätzlich in Frage gestellt würde. Ein kritisches Petrusbild basiert nicht auf diesen Geschichten, sondern entsteht im Kontrast zu überlegenen Einsichten anderer Personen (EvThom, EvMar, evtl. EpJac).58 Auch dann bleibt Petrus aber ein Sprecher und eine wichtige Figur des Kreises. Die Evangelien als Zeugnisse über seine Zeit als Jünger Jesu stimmen in den wichtigsten Fakten, in der Rolle des Petrus insgesamt und – anders als in der Acta-Literatur – auch in vielen Einzelereignissen überein. Allerdings ist denkbar, dass die Parallelen auf das MkEv zurückgeführt werden können, von dem Mt und Lk eindeutig literarisch abhängig sind, während für JohEv, EvPetr und weitere oft eine, evtl. indirekte, Kenntnis vermutet wird. Sie bieten zumindest keine klar unabhängige Bezeugung derselben Überlieferung. Das Petrusbild der Evangelien variiert auch in der Tendenz der Darstellung weniger als das der Acta-Literatur. Eine eigene Strömung ist aber in EvThom und EvMar zu erkennen, in denen viele Ereignisse, vor allem die mit der Passion Jesu verbundenen, gar nicht erzählt werden. Die Petrus zugeschriebenen Zeugnisse wie die Briefe gehen zwar ins 1. Jahrhundert zurück (1Petr), sind aber nicht älter als die Evangelien. Sie sind 55 Z.B. spielt in ActPetr Askese eine zentrale Rolle, nur in diesem Zusammenhang ist die Episode von der Tochter des Petrus sinnvoll. In EpPt vertritt Petrus eine gnostische Deutung des Passion Jesu. 56 So Papias ausdrücklich für das MkEv (Fragment II,15 aus Eus. h.e. III 39). 57 Allerdings betont Cullmann (vgl. Petrus, 33) zu Recht, dass Petrus in den Evangelien zwar eine repräsentative Rolle hat, aber keine Leitungsfunktion gegenüber den anderen JüngerInnen. 58 Anders Perkins, Peter, 156f, die die Anknüpfung von gnostischer Polemik an die unverständige Darstellung in kanonischen Evangelien erkennt.

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inhaltlich sehr unterschiedlich, der gemeinsame Anknüpfungspunkt scheint die Rolle des Petrus als Gemeindeleiter und Autoritätsfigur zu sein. Seine Autorität wird genutzt und auch ein Anschluss an vorhandene Petrustradition ist denkbar.59 Die Verbindung von Petrus mit Evangelienschriften knüpft einerseits an seine unstrittige Beteiligung an den Ereignissen an, andererseits an seine Autorität, die die Bedeutung der Schriften unterstreicht.60 In der ApkPetr spielt die autoritative Lehre bzw. vor allem Mahnung eine große Rolle. Auch in ApcPt (NHC VII,3) ist die Wahl des Petrus als Offenbarungsempfänger wohl auch mit seiner gemeindeleitenden Rolle zu erklären.61 Auffällig ist aber, dass nicht alle wichtigen Ereignisse literarisch ausgeführt sind. So erwähnt zwar schon Paulus eine Erscheinung Jesu vor Petrus (1Kor 15,5; auch Lk 24,34), eine solche Einzelerscheinung wird aber nirgendwo in den erhaltenen Schriften im Detail geschildert.62 Petrus ist an Erscheinungen Jesu vor der Gruppe der JüngerInnen beteiligt, eigens erwähnt wird er dabei aber nur in wenigen Fällen: In Joh 21 ist er im Zusammenhang mit Fischzug und Beauftragung hervorgehoben; im EvPetr ist im verlorenen Schluss eine ähnliche Erscheinung am See Genezareth vor Petrus und anderen zu vermuten. In der EpAp überzeugt er sich von der Körperlichkeit des Auferstandenen, was auch in IgnSm 3,1f Erwähnung findet. Schließlich wird er auch in ActPt vom erschienenen Jesu besonders angesprochen und in EpJac neben Jakobus erwähnt. Das ist bemerkenswert wenig!63 Auch der Tod des Petrus, wahrscheinlich als Märtyrer in Rom, ist literarisch nicht in alten Quellen,64 sondern erst in ActPetr in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts ausgeführt. An vielen anderen Stellen liegen jedoch vermutlich Anspielungen auf diesen Tod vor (Joh 21,18f; 1Petr 5,1; 2Petr 1,13–15; 1Clem 5,4; ApkPetr PVindob G 39756,65 vielleicht auch AscJes 4,3).66 D.h. hier ist ein wichtiger Teil der Tradition offensichtlich 59

So Herzer, Petrus, 261f, für 1Petr. Das scheint die Absicht des Papias in seinen Bemerkungen über das MkEv zu sein. Zur Bedeutung der Autorenfiktion im EvPetr vgl. Hartenstein, Petrusevangelium, 162f. Anders als Koester (vgl. Introduction II, 168) halte ich die Verbindung des EvPetr mit dem Namen des Petrus als von ihm verbürgte Tradition für einen eher späten Zug; ich meine nicht, dass diese Tradition schon immer mit seinem Namen verbunden war. 61 Vgl. Baumeister, Rolle, 8. 62 Vgl. Cullmann, Petrus, 66f.69; Pesch, Simon, 57. 63 Zum Vergleich: Auch von Jakobus wird 1Kor 15,7 eine Erscheinung berichtet. Eine literarische Darstellung einer solchen Erscheinung findet sich in EvHebr und in den beiden ApcJac, wo er jeweils alleine Erscheinungszeuge ist, also mehrfach und auch in verschiedenen Traditionsbereichen. Außerdem ist noch EpJac zu nennen. 64 Vgl. Cullmann, Petrus, 78. 65 Vgl. Kraus/Nicklas, 127f; Müller, Offenbarung, 575. 66 Vgl. Pesch, Simon, 120. Nach Pesch, Simon, 119, setzt auch Ign Röm 4,1–3 voraus, dass Petrus in Rom war und das Martyrium erlitt. 60

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allgemein bekannt und von Bedeutung, auch wenn er erst viel später greifbar wird.67 Und noch in einem dritten Punkt ist der literarische Befund erstaunlich: Petrus wird überwiegend Petrus, aber auch Simon und Kephas genannt. Dabei übersetzt Petrus Kephas und beides ist ein Beiname zu Simon.68 Nur an einer Stelle wird eine inhaltliche Erklärung des Namens gegeben (Mt 16,18). Angesichts der fehlenden literarischen Belege für andere Grunddaten des Petrus erscheint es mir bedenkenswert, ob nicht auch hier ein Wissen weit verbreitet war, das nicht aufgeschrieben wurde. Die Traditionsentwicklung besteht also insgesamt in der Aufnahme und Ausarbeitung der Gestalt des Petrus als Jünger, Gemeindeleiter, Missionar und Märtyrer. Alle Zeugnisse lassen sich hier einordnen und die meisten haben eine relativ breite gemeinsame Schnittmenge, auch bei unterschiedlicher Wertung.69 Die Grundkomponente, auf die sich praktisch alle PetrusZeugnisse beziehen, ist seine frühchristliche Leitungsfunktion. Sie ist vorhanden, wird ausgebaut und genutzt. Dies gilt schon für Paulus, der die Autorität des Petrus für sich nutzt oder sich gegen sie profiliert. Die ActaLiteratur malt sie konkret aus und die pseudepigraphen Schriften bauen auf sie auf. Bei den Evangelien ist die Beziehung indirekt, gebrochen durch die andere erzählte Zeit, lässt sich aber nicht völlig leugnen. Weiterhin ist festzuhalten, dass die literarische erhaltene Darstellung des Petrus nicht vollständig ist, und zwar vermutlich nicht nur, weil viele Schriften gar nicht oder nur fragmentarisch erhalten sind. Vielmehr sieht es so aus, als ob im 1. und 2. Jahrhundert wichtige Grunddaten des Lebens des Petrus einfach allgemein bekannt waren und nicht oder erst spät schriftlich niedergelegt wurden. Dazu gehören sein Tod, die Erscheinung des Auferstandenen und evtl. eine Erklärung für den Namen Petrus. 2.3 Vergleichstexte für die johanneische Darstellung Die Darstellung des Petrus im JohEv deckt sich in vielen Punkten mit den aus anderen Zeugnissen bekannten Geschichten über ihn. Wie zu erwarten liegen die meisten Parallelen in Schriften vor, in denen vom Wirken des irdischen Jesus und seinen JüngerInnen berichtet wird, d.h. es werden Ereignisse aus dem Leben des Petrus aus dieser Zeit wiedergegeben. Die spätere Zeit mit der Funktion als Gemeindeleiter und Missionar kommt nur als Ankündigung und Beauftragung in den Blick; auch hierhin entspricht das 67 Leider sind die näheren Umstände des Todes, die 1Clem 5,4 knapp andeutet („ungerechte Eifersucht“), nicht erhalten. 68 So die Darstellung der Evangelien. Bestätigt wird diese Sicht durch das Fehlen von Belegen für den Namen Petrus / Kephas – er scheint wirklich erst mit der Person des Petrus eingeführt zu werden. Vgl. Lampe, Spiel, 228f. 69 Das ist z.B. bei Thomas anders!

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JohEv anderen Evangelien (vgl. Mt 16,18f; Lk 22,31f). Zusätzlich thematisiert das JohEv jedoch auch den Tod des Petrus. Außerdem gibt es einige Szenen, die anderswo nicht oder nicht von Petrus erzählt werden. Umgekehrt ist auch nicht aller Petrus-Stoff aufgegriffen. Als wichtige Übereinstimmungen sind der Name Petrus zu nennen sowie die Berufung, die Rolle des Petrus als Sprecher des Jüngerkreises, insbesondere verbunden mit einem Bekenntnis zu Jesus, die Verleugnung einschließlich ihrer Ankündigung und die Beteiligung des Petrus bei Osterereignissen. In den Einzelheiten der Darstellung und ihrer narrativen Einbettung sind aber jeweils auch deutliche Unterschiede zu erkennen. Insgesamt entsprechen diese Punkte dem Grundgerüst der Petrus-Darstellung anderer (der synoptischen) Evangelien. Von den geschilderten Ereignissen her liegt also keine grundsätzliche Verschiebung des Petrusbildes vor. Im Einzelnen sind als Vergleichstexte verschiedene Abschnitte aus anderen Zeugnissen zu nennen, deren Parallelität auf durchaus unterschiedlichen Ebenen liegt. Besonders wichtig (und gut geeignet für einen Vergleich) sind die parallelen Texte, also die Erzählungen von mehr oder weniger denselben Geschichten in den synoptischen Evangelien sowie in EvThom und EvPetr: Das Bekenntnis des Petrus (Joh 6,67–71 par Mk 8,27–33; Mt 16,13–23; Lk 9,18–22; EvThom 13); die Verleugnung mit ihrer Ankündigung (Joh 13,36–38 und 18,15–18.25–27 par Mk 14,26–31 und 14,53f.66–72; Mt 26,30–35 und 26,57f.69–75; Lk 22,31–34 und 22,54–62; evtl. auch EvPetr PVindob G 232570); sowie die allerdings unterschiedlich im Evangelium verortete Erzählung vom wunderbaren Fischzug (Joh 21,1–14 par Lk 5,1–11). An einigen weiteren Stellen kann kaum von parallelen Erzählungen gesprochen werden, weil die Darstellung stark differiert, gleichwohl aber ähnliche Ereignisse beschreibt: Die Schilderung des Erstkontaktes; der Gang zum Grab am Ostermorgen; die Beauftragung zum Gemeindeleiter und vor allem der Name Petrus als durch Jesus gegebener Beiname des Simon. Auch hier gibt es Texte aus anderen Evangelien. Vor allem im Be70 Auch als Fajum-Fragment bekannt. Lührmann rechnet es zum EvPetr (vgl. Fragmente 73f.80f; Evangelien 89f), Kraus/Nicklas entscheiden sich dagegen (vgl. 68). Die unterschiedliche Einschätzung ist durch die jeweilige Ergänzung des Textes bedingt – sie kann so vorgekommen werden, dass von Petrus in der ersten (dies spräche für eine Zugehörigkeit zum EvPetr) oder in der dritten Person (dies spricht gegen eine Zugehörigkeit) berichtet wird. Für die Zuordnung zum EvPetr führt Lührmann den im Fragment rot hervorgehobenen abgekürzten Namen des Petrus an, der zumindest auf eine besondere Bedeutung dieser Person verweist, und außerdem die inhaltliche Übereinstimmung zur Grabgeschichte des EvPetr: Im Fragment fehlt ein Hinweis auf das Vorausgehen Jesu nach Galiläa und auch vom Engel im Grab wird keine Erscheinung dort angekündigt. Mir erscheint dies plausibel, wenn auch nicht zwingend. Als Gegenargument nennen Kraus/ Nicklas Probleme mit der Zeilenlänge bei Lührmanns Ergänzung, die aber bei einem Fragment, bei dem weder der rechte noch der linke Rand erhalten ist, keine allein entscheidende Bedeutung haben sollte. (Es geht auch nur um einen zusätzlichen wenn auch breiten Buchstaben.)

Frühchristliche Traditionen über Petrus

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zug auf den Namen, aber auch für die österliche und nachösterliche Rolle ist jedoch auch mit mündlich verbreiteter Tradition zu rechnen. Dies gilt noch stärker für den Tod des Petrus, der in anderen Evangelien nicht vorkommt. Fragen der Autorität und des Amtes werden auch unabhängig von parallelen Erzählungen in allen Schriften über Petrus verhandelt. Besondere Nähe im Bild des Hirten besteht zu 1Petr. Neu ist im JohEv der Dialog des Petrus mit Jesus über die Fußwaschung – zur ganzen Szene gibt es in anderen Schriften keine Parallele. Sie greift aber ein zentrales Thema auf, das mit Petrus verbunden ist: Die Frage nach Status (und Statusverzicht). Petrus ist in den verschiedenen Zeugnissen vor allem eine Person mit Autorität und Führungsanspruch. Deshalb eignet er sich besonders gut, um Einwände sowohl gegen Jesu Verhalten als auch gegen die ja auch und besonders an ihn gerichtete Aufforderung zur Nachahmung zu formulieren. Die ganze Fußwaschungsszene könnte als eine narrative Langfassung von Lk 22,25–27 (Mk 10,42–45) verstanden werden. Bei der Frage nach dem Verräter ist Petrus im JohEv ausdrücklich beteiligt, indem er den geliebten Jünger zu fragen auffordert – in anderen Evangelien (Mk 14,18–21; Mt 26,21–25; Lk 22,21–23) fragen die JüngerInnen ohne die Nennung von Namen, es tritt keine vergleichbare Einzelperson auf.71 Auch das Abschlagen des Ohres bei der Verhaftung wird sonst anonym erzählt und nur im JohEv Petrus zugeschrieben.72 Aus anderen Schriften bekannte Geschichten, die im JohEv nicht vorkommen, sind das Satanswort im Zusammenhang mit dem Bekenntnis (Mk 8,32f par Mt 16,22f) sowie die bei Mt berichtete Übertragung der Schlüsselgewalt (Mt 16,19), außerdem der ebenfalls bei Mt berichtete Seewandel des Petrus (Mt 14,28–31) und die Episode vom Tempelgroschen (Mt 17,24–27). Auch das Haus und die Schwiegermutter des Petrus in Kapernaum (Mk 1,29f par)73 werden im JohEv nicht erwähnt. Es fehlt im JohEv eine Auflistung der Zwölf, so dass die Position des Petrus in der Liste nicht deutlich wird. Auch eine kleinere Gruppe als engere Begleitung Jesu kennt das JohEv nicht. Zu ihr gehören im MkEv bzw. in den synoptischen Evangelien noch Andreas, Jakobus und Johannes (so zur Endzeitrede Mk 13,3) oder neben Petrus nur die Zebedaiden (im Haus des Jairus Mk 8,51 par; bei der Verklärung Mk 9,2.5 par; in Gethsemane Mk 14,33.37 par – in letzteren Fällen tritt Petrus noch eigens hervor). Im LkEv werden Petrus und Johannes zur Vorbereitung des Pessachmahls gesandt (Lk 22,8–13) und in Mk 1,36f ist Petrus Anführer einer Suche nach Jesus. 71 Außer Judas in Mt 26,25, der am Ende der Szene fragt, ob er der Verräter ist, und von Jesus eine bestätigende Antwort bekommt. 72 Vgl. Gnilka, Petrus, 170. 73 Im MkEv gehört das Haus strenggenommen allen vier erstberufenen Jüngern.

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Außerdem wird Petrus an verschiedenen Stellen als Einzelperson, die Fragen oder Redebeträge an Jesus richtet, erwähnt: So fragt er nach dem Lohn der Nachfolge (Mk 10,28 par), nach dem verdorrten Feigenbaum (Mk 11,21), nach dem Gleichnis von den blinden Blindenführern (Mt 15,15), nach der Vergebung (Mt 18,21f), gibt eine Erklärung im Zusammenhang der Heilung der Blutflüssigen (Lk 8,45), bittet um Erläuterung zum Gleichnis von treuen SklavInnen (Lk 12,41) und zur Aussendung wie Lämmer unter die Wölfe im EvPetr (POxy 4009). In EvThom 114 wünscht er den Ausschluss von Maria Magdalena. Im EvNaz ist das Schlusswort der Geschichte vom Reichen, der Spruch vom Kamel und Nadelöhr, an Simon, Sohn des Jona, gerichtet. Hier scheint Petrus vor allem ein möglicher (und häufiger) Sprecher für die Gesamtgruppe zu sein. Die meisten dieser Fragen und sonstigen Redebeiträge sind nur in einer Schrift überliefert, also nicht unbedingt fest mit dem Namen Petrus verbunden. Eine vergleichbare Rolle in wieder anderen Zusammenhängen hat er im JohEv auch. Für den Vergleich ist es sinnvoll, das vorhandene Material um zwei Schwerpunkte zu sortieren: Zum einen geht es um Petrus als Jünger mit seiner Beziehung zu Jesus und den anderen JüngerInnen, zum anderen um die Beschreibung und Begründung einer besonderen Autorität des Petrus. Diese Zweiteilung spiegelt die Schwerpunkte der Petrustraditionen als Jünger und Gemeindeleiter wider. Beide finden im JohEv ein breites Echo, auch wenn im Rahmen der erzählten Zeit für die spätere Autoritätsrolle eher eine Grundlage gelegt und ein Vorausblick gewährt wird. Zur Rolle des Petrus als Jünger gehören die Schilderung des Erstkontaktes, das Bekenntnis und seine Rolle im Zusammenhang mit der Passion im JohEv sowie die direkten Parallelen als Vergleichstexte. Für die Beschreibung und Begründung seiner (nachösterlichen) Autorität sind im JohEv beide Osterkapitel besonders relevant. Sie sind nicht nur innerhalb des JohEv die letzten erzählten Ereignisse mit Ausblick auf eine spätere Zeit, sondern bieten auch die meisten Bezugspunkte und Parallelen zu Zeugnissen, die die spätere Autorität des Petrus beschreiben. Eine Sonderrolle hat die Namensverleihung, die einerseits im JohEv ganz am Anfang steht, andererseits weit in die Zukunft weist.

3. Petrus als Jünger und seine Beziehung zu Jesus und den anderen JüngerInnen 3.1 Der Erstkontakt und der Name Kephas / Petrus In Joh 1,41f wird die erste Begegnung zwischen Jesus und Petrus erzählt. Die Szene hat jedoch praktisch keine Berührungspunkte zu den entsprechenden Erzählungen der synoptischen Evangelien. Es erfolgt weder ein

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ausdrücklicher Ruf in die Nachfolge noch gibt es ein Auftrags- oder Verheißungswort an Petrus und auch die Szenerie (See Genezareth) ist im JohEv nicht ausgeführt. Zu allen diesen Punkten finden sich allerdings Parallelen in Joh 21.74 Festzuhalten ist, dass Joh 1,41f im Vergleich gelesen gerade keine Züge einer Berufungsgeschichte aufweist. Petrus als Jünger Eine Gemeinsamkeit liegt aber in der Verbindung von Petrus mit Andreas, die auch in Mk 1,16f par Mt 4,18f vorliegt.75 In diesen Texten ist Petrus als erster genannt, danach wird Andreas als sein Bruder eingeführt. Angesprochen und beauftragt werden beide gleichermaßen. In dieser Darstellung wird also ein gewisser Vorrang des Petrus deutlich, weil er vorne steht und sein Bruder über ihn definiert wird. Vor diesem Hintergrund ist die Abfolge im JohEv, die schon textintern auffiel, um so erstaunlicher. Hier ist es Andreas, der zuerst genannt wird, den ersten Kontakt zu Jesu hat und erst danach Petrus findet und zu Jesus bringt. Es wirkt als eine Umkehrung der Rangfolge und Zurücksetzung des Petrus hinter Andreas. Im JohEv wird Petrus schon bei seinem ersten Auftreten von Jesus der Beiname Kephas mit der Übersetzung Petrus zugesagt (Joh 1,42), allerdings ohne eine Deutung dieses Namens. Schon am Joh-Text hat sich die Frage gestellt, ob die feierliche Benennung eigentlich eine bestimmte Deutung bei den LeserInnen voraussetzt und wenn ja, weshalb sie dann nicht ausdrücklich genannt wird. Im Vergleich der verschiedenen Zeugnisse soll jetzt nach expliziten und impliziten Hinweisen auf solche Deutungen gesucht werden. Zudem ist zu fragen, welche Rolle die unterschiedliche Platzierung der Episode für ihre Deutung spielt. Die älteste erhaltene Deutung des Namens Petrus findet sich in Mt 16,18.76 Dort wird die Bezeichnung pe/troj (Stein) als Anspielung auf pe/tra (Fels) verstanden und Simon Petrus sozusagen als Fundament der entstehenden Gemeinde (e>kklhsi/a) angesprochen. Diese Deutung ist vermutlich keine Bildung des Mt, sondern eine dem MtEv vorliegende Tradition.77 Sie ist aber kaum die ursprüngliche Bedeutung des Beinamens. Lampe zeigt, dass sowohl das griechische pe/troj als auch das aramäische Kepha in der Regel nicht die Bedeutung von Fels hat, sondern einen losen, beweglichen Stein 74

S.u., IV.4.2 und c. In Lk 5,1–11 wird Andreas nicht erwähnt. 76 Eine weitere Deutung existiert in ActPetr 23, einem nur in einer lateinischen Handschrift erhaltenen Teil der Petrusakten. Petrus sagt dort (Lipsius, Acta I, 71 Zeile 19–21): Petrus mihi nomen est, quod dominus me Christus dignatus est nocare paratum esse in omni re. (Mein Name ist Petrus, weil der Herr Christus mich gewürdigt hat zu nennen ‚bereit zu allen Dingen‘. Übersetzung Schneemelcher, Petrusakten, 278.) Dieses Wortspiel funktioniert wohl nur lateinisch, nicht griechisch (vgl. Vouaux, Actes, 365) und gehört vermutlich nicht zum ursprünglichen griechischen Text. 77 Vgl. Luz, Evangelium II, 454f; Pesch, Simon, 96. Koester (vgl. Introduction II, 166) vermutet einen syrischen Ursprung der Tradition, so auch Karrer, Petrus, 221. 75

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bezeichnet.78 Die Deutung des MtEv funktioniert also nur über ein griechisches Wortspiel.79 Außerdem passt die Vorstellung, dass eine Person der ersten Generation ein Fundament bildet, eher in eine spätere Zeit – vgl. Eph 2,20.80 Aber was lässt sich dann als Deutung vermuten? Paulus nennt Petrus meist Kephas, verwendet aber auch ohne weitere Erklärung Petrus (im Wechsel Gal 2,7–14);81 der Name Simon begegnet nicht. D.h. zur Zeit des Paulus scheint (falls sein Sprachgebrauch repräsentativ ist) der Beiname die übliche Benennung gewesen zu sein.82 Die wechselnde Verwendung von Petrus / Kephas zeigt, dass die inhaltliche Bedeutung eine Rolle spielte und anscheinend auch bewusst war.83 In späteren Zeugnissen verschwindet die Benennung Kephas fast völlig,84 anscheinend hat sich in der griechischsprachigen Kirche die griechische Fassung des Beinamens durchgesetzt.85 Auch dies ist ein Indiz dafür, dass Wert auf den Inhalt gelegt wurde, der Name sollte verstanden werden. Die synoptischen Evangelien bevorzugen Petrus als Bezeichnung, überliefern aber auch Simon als eigentlichen Namen, der bei Mk und Lk einigermaßen konsequent vor der Einführung des Beinamens und außerdem in direkter Anrede verwendet wird. Alle führen den Beinamen Petrus auf Jesus selbst zurück: bei Mt durch die feierliche Verleihung nach dem Bekenntnis (Mt 16,18), bei Mk und Lk bei der Auflistung der Zwölf (Mk 3,16; Lk 6,14).86 In anderen Evangelien begegnen sowohl der Doppelname (EvThom; EvPetr) als auch Formulierungen, in denen Petrus als Beiname gekennzeichnet ist (EvEb) und die alleinige Verwendung von Petrus (EvMar) oder Simon (EvNaz).87 Die Apg gebraucht in der Regel Petrus, zur genauen Identifizierung der Person vor Außenstehenden auch „Simon, der Petrus 78

Vgl. Lampe, Spiel, 238.240f. Vgl. Lampe, Spiel, 243f. Schon Klijn, Wörter, 104 zeigt, dass das Wortspiel auf Syrisch nicht funktioniert, auch wenn er es auf Aramäisch für möglich hält. 80 Vgl. Luz, Evangelium II, 458. Anders aber Pesch, Simon, 104, der für eine Entstehung der Tradition im Zusammenhang des antiochenischen Streits argumentiert. 81 Dies spricht dafür, dass beide Fassungen des Beinamens bekannt waren und so der Wechsel möglich ist; gegen Ehrmann (Cephas, 468), der den Wechsel als Hinweis auf zwei Personen liest. 82 Und zwar anscheinend noch in der aramäischen Fassung. (Gegen Elliot, Khfa~j, 249f, der feindliche Motive hinter dem Sprachgebrauch des Paulus vermutet.) Auch schon die vorpaulinische Formel 1Kor 15,5 verwendet den Beinamen allein. 83 Vgl. Cullmann, Art. Pe/troj, 100. 84 1Clem 47,3 benutzt diesen Namen in deutlichem Bezug auf Paulus. In der EpAp gibt es Kephas zusätzlich zu Petrus in einer Jüngerliste. 85 Die syrischen Handschriften verwenden Kephas, vgl. Kiraz, Comparative, und Cullmann, Petrus, 19. 86 Beide haben hier eine ausdrückliche Benennung durch Jesus, während die Parallele Mt 10,2 allgemeiner den Beinamen festhält (Si/mwn o< lego/menoj Pe/troj) – die Benennung durch Jesus erfolgt ja später. Auch in ActPt (NHC VI p.9,7–13) wird auf die Namensgebung durch Jesus Bezug genommen: Jesus identifiziert sich bei einer Art Erscheinung, indem er Petrus nicht nur so anredet, sondern auch auf die Namensgebung verweist. 87 Soweit die erhaltenen Fragmente repräsentativ sind. 79

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genannt wird“ (Apg 10,5.18.32; 11,13). Vereinzelt begegnet noch Simon in der Schreibweise Sumew/n (Apg 15,14; 2Petr 1,1), das entspricht der hebräischen Fassung des Namens und ist vermutlich eine absichtlich archaisierende Redeweise.88 Dieser Befund zeigt, dass der Beiname Kephas / Petrus in eine frühe Zeit zurückreicht.89 Es ist m.E. wahrscheinlich, dass er schon zur Zeit Jesu im Jüngerkreis verwendet wurde – dies ist plausibel, da zwei Jünger mit Namen Simon bekannt sind, und passt auch gut zur schnellen Durchsetzung des Beinamens in der entstehenden Kirche.90 Welche Bedeutung er ursprünglich hatte, muss offen bleiben, nahe liegend ist aber eine gewisse Kontinuität.91 In nachösterlicher Zeit ist der Name jedenfalls inhaltlich gefüllt, und zwar positiv, anders lässt sich die Verbreitung und Übersetzung kaum erklären.92 Da in der Regel keine Erläuterung dazu gegeben wird, scheint es mir am plausibelsten, dass die Deutung einfach vom Wort her verständlich war.93 Zumindest zum Zeitpunkt der Übersetzung von Kephas zu Petrus muss ein Verständnis des Namens bekannt gewesen sein, sonst ist die Übersetzung nicht sinnvoll. Das griechische pe/troj kann in übertragener Bedeutung für Festigkeit und Unerschütterlichkeit und auch für Hartherzigkeit stehen.94 Der Beiname Petrus kann so die Festigkeit, Verlässlichkeit, Härte und Standhaftigkeit seines Trägers zum Ausdruck bringen. Dies passt gut zu einer der Säulen der ersten Gemeinde!95 Auf der Basis dieser allgemeinen Deutung ist auch die Entstehung der matthäischen denkbar: Der Grundgedanke wird spezieller ausgeformt und noch etwas dichter auf die Person bezogen.96 88 Vgl. Pesch, Simon, 151 zu 2Petr. Elliot (vgl. Khfa~j, 248) führt dagegen die Unterschiede auf Quellen zurück. 89 Vgl. Lampe, Spiel, 230: schon 1Kor 15 wird er als Eigenname verwendet. 90 Vgl. Böttrich, Petrus, 42f.45. Ob der Name auf Jesus bzw. die Jüngerzeit zurückgeht oder ob Petrus seinen Beinamen schon vor seiner Zeit als Jünger hatte, ist nach der Quellenlage m.E. nicht zu entscheiden. Die Verleihung des Namens durch Jesus steht zu sehr im Kontext der Begründung der Autorität des Petrus um historisch vertrauenswürdig zu sein. Möglich ist auch, dass der Name aus der ersten nachösterlichen Zeit stammt, er muss sich dann aber schnell durchgesetzt haben. 91 Lampe (vgl. Spiel, 238) hält eine rein weltliche, womöglich nicht schmeichelhafte Bedeutung bei der ursprünglichen Namensgebung für wahrscheinlich. 92 Auch wenn der Name positiv war, wird die Person des Petrus damit nicht aller möglichen Kritik enthoben – vgl. Paulus! 93 Es wären sonst m.E. mehr Versuche zu erwarten, dieses Rätsel zu lösen. Und auch für die Verbreitung und Übersetzung des Beinamens muss die Bedeutung entweder unmittelbar klar gewesen sein oder mit überliefert werden. Dies schließt aber nicht aus, dass situationsangepasst auch eine völlig neue Deutung wie in ActPetr 23 entworfen wird. 94 Vgl. Pape und Menge/Güthling zu pe/tra ; Liddell/Scott zu pe/troj: imperturbability. 95 Auch zum Begriff stu~loj (neben Gal 2,9 auch 1Clem 5,2) wird keine Erklärung gegeben, sondern er soll sich selbst erschließen. 96 Ein Einwand ist allerdings noch zu machen: Ist es wirklich möglich, dass Petrus schon kurz nach seiner unrühmlichen Rolle im Zusammenhang mit der Passion als „Simon der Feste“ be-

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Im JohEv (1,42) wird die künftige Benennung des Simon einfach angesagt, und zwar wird als Name Kephas genannt mit der Übersetzung Petrus. Auch Joh geht also davon aus, dass Kepha einfach Stein bedeutet, und gibt ein entsprechendes griechisches Äquivalent.97 Auffällig ist aber, dass auch die Namensform Kephas geboten wird, die in anderen Evangelien nicht vorkommt. Das JohEv zeigt hier Kenntnisse, die auf einen Kontakt zum aramäisch-syrischen Sprachraum verweisen.98 Die ausdrückliche Übersetzung betont den Inhalt der Worte, gibt aber keine weitere Erklärung. Dies spricht dafür, hier auf die allgemeine Bedeutung der Begriffe zurückzugreifen: Dann kündigt Jesus Petrus an, dass er als Fester oder Standhafter in die Zukunft eingehen wird. Dies passt im Kontext des JohEv ausgesprochen gut: Späteres Verständnis und spätere Nachfolge werden Petrus angesagt und ganz am Ende auf seinen Märtyrertod bezogen. Der Name kann hier beim ersten Auftreten als eine Art Überschrift über das gesamte Wirken des Petrus angesehen werden – und insbesondere als eine Verheißung für seine zukünftige Bewährung. Petrus ist von Anfang an der, der fest auf der richtigen Seite steht und dies trotz aller Wirrungen und Verirrungen am Ende mit seinem Tod bestätigt. Das kann als Grundlinie der johanneischen Petrusdarstellung festgehalten werden und würde dann hier schon im Namen ausgesagt. Diese Erklärung des Namens kann einfach gängig gewesen sein (dann bestätigt sich meine Theorie einer allgemein üblichen Deutung), aber auch auf eigene Sprachkompetenz des Johannes zurückgehen. Ein Unterschied fällt noch auf: Im JohEv macht Jesus bei der Namenszusage eine Aussage über die Zukunft statt selbst den Namen zu verleihen. In Mk 3,16 par Lk 6,14 ist Jesus das Subjekt der Verleihung des Beinamens und dies wird als Teil der Erzählung berichtet, hat also schon stattgefunden. In Mt 16,18 spricht Jesus Petrus ausdrücklich zu, dass er Petrus ist, auch hier gilt es also von diesem Moment an. Im JohEv bleibt jedoch offen, ab wann der Beiname wirklich aktuell wird.99 Gerade wenn er positiv verstanden wird, liegt hier wieder ein gewisser Vorbehalt vor. Im Vergleich zur Deutung des Namens bei Mt fällt noch ein weiterer gewichtiger Unterschied auf: Im JohEv wird eine Aussage über die persönliche Integrität und Konsequenz einer Einzelperson gemacht, aus der sich zeichnet wird? Aber vielleicht überstrahlt seine Rolle in der ersten Gemeinde früheres Versagen – und wie sicher ist eigentlich die Historizität der Verleugnung? (Zumindest haben vermutlich nicht alle gleichermaßen davon gewusst. Anders als bei Paulus scheint der Gegensatz zwischen einst und jetzt im Petrusbild keine Rolle zu spielen.) 97 Mitunter wird vermutet, dass Kepha zwar Fels bedeutete, aber als Beiname wegen des grammatischen Geschlechts mit Petrus wiedergegeben wurde; so Cullmann, Petrus, 20. 98 Vgl. dazu unten zum Namen Didymos-Thomas! 99 Nach Duke (vgl. Irony, 98) zeigt das Futur, dass wahre Jüngerschaft von Petrus erst in der Zukunft erlangt wird.

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eine Wertschätzung und Autorität dieser Person ableiten lässt – bis hin zu einer klaren Leitungsaufgabe. Bei Mt wird dagegen in der Deutung des Namens eine Einzelperson für unverzichtbar erklärt, Petrus ist in seinem Wesen Fundament der Kirche.100 Dies ist zwar auch bei Mt durch sein Verhalten (Bekenntnis) begründet, aber von der Namensgebung an steht und fällt die Kirche mit ihm, sie kann sich nicht mehr von ihm lösen. Auch wenn Petrus im JohEv als Hirte der Schafe eine durchaus vergleichbare Position innehat, wird sie ihm doch nur sozusagen bedingt zugesprochen, nämlich weil und solange er im Märtyrertod Jesus folgt. Petrus ist so der historisch gewordene Anführer der Kirche, nicht der prinzipiell einzig mögliche.101 3.2 Das Bekenntnis des Petrus (synoptische Evangelien, EvThom 13) In den synoptischen Evangelien legt Petrus stellvertretend für die Gruppe an zentraler Stelle ein Bekenntnis zu Jesus als Christus ab, auf das unmittelbar die erste Leidensankündigung folgt, in deren Kontext Petrus ebenfalls eine Rolle spielt (Mk 8,27–33 par Mt 16,13–23; Lk 9,18–22). Mk ist hier die Quelle für Mt und Lk, wobei aber beide ihre Vorlage erheblich – und die Rolle des Petrus betreffend – bearbeiten. In EvThom 13 gibt es eine ähnliche Szene, in der aber Petrus nur einer von drei Sprechern ist und Thomas die Hauptrolle hat. Die erste Besonderheit des johanneischen Petrusbekenntnisses liegt schon in der Ausgangssituation: Bei Joh ist der Anlass des Bekenntnisses die Abwendung vieler JüngerInnen von Jesus, woraufhin er die Zwölf fragt, ob auch sie gehen wollen (6,66f). In den synoptischen Evangelien beginnt die Szene dagegen, indem Jesus sich erst nach dem Urteil der Leute über ihn und dann nach der eigenen Meinung der JüngerInnen erkundigt; im EvThom sind nur die JüngerInnen zum Vergleichen aufgefordert. D.h. es geht in diesen Texten um die Frage, wer Jesus ist und wie seine Person erfasst und bezeichnet werden kann; im JohEv geht es dagegen um die Entscheidung für oder gegen ihn. Petrus formuliert im JohEv eine Begründung für sein (und der anderen) Bleiben bei Jesus, er versucht nicht in erster Linie, Jesus zu beschreiben. Diese Ausgangssituation bringt die Szene in Verbindung mit anderen Szenen, in denen es um Petrus’ Treue zu Jesus geht. Trotz des späteren Versagens bei der Verleugnung steht seine grundsätzli100 Vgl. Pesch, Simon, 101. Dass mit dem Fels, auf dem die Kirche gebaut wird, nicht Petrus sondern sein Bekenntnis gemeint sei, wie Caragounis meint (vgl. Peter, 106–108), leuchtet mir schlicht nicht ein; vgl. zur Kritik auch Perkins, Peter, 50 A.49. 101 Dieser qualitative Unterschied ist m.E. relevant, auch wenn die Namensdeutung jeweils erst im Rückblick auf den Tod des Petrus erfolgt. Koester (vgl. Introduction II, 166) sieht Mt 16,17–19 als Bestätigung von Traditionen unter dem Namen des Petrus – genau dies leistet die johanneische Darstellung viel weniger (auch unabhängig von der besonderen Bedeutung des geliebten Jüngers).

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che Zugehörigkeit außer Frage und seine Nachfolge bis in den Tod wird mehrfach betont. Die Situation der Entscheidung für oder gegen Jesus wirkt sich auch inhaltlich auf die Formulierung des Bekenntnisses aus. Petrus sagt mehr und holt weiter aus und begründet so das Bleiben bei Jesus (6,68). Die eigentliche Bezeichnung Jesu als der Heilige Gottes (su\ ei} o< a[gioj tou~ ceou~) ist zwar im Rahmen des JohEv angemessen, aber entspricht nicht den sonst im JohEv üblichen Titeln für Jesus. Für das JohEv entscheidend ist die Sicht Jesu als Christus und Sohn Gottes – so wird es in 20,31 abschließend formuliert. Dies entspricht auch dem Bekenntnis des Petrus in den synoptischen Evangelien: Im MkEv bezeichnet Petrus Jesus als Christus (su\ ei} o< xristo/j) (Mk 8,29), im MtEv sieht er ihn ausführlicher als Christus, Sohn des lebendigen Gottes (su\ ei} o< xristo\j o< uipitima/w) ihn, woraufhin Jesus der Gruppe zugewandt Petrus kritisiert und ihn als Teufel (satana~) bezeichnet (Mk 8,32f; Mt 16,22f).107 Vor diesem Hintergrund erscheint der erste Teil von Jesu Reaktion auf das Bekenntnis als eine Art Würdigung, die allerdings nicht besonders Petrus gilt, sondern allen, das Verdienst ohnehin eher Jesus anrechnet (er hat erwählt) und durch die Frageform eine gewisse Verunsicherung einbringt. Ein konkreter Anlass für die dann folgende scharfe Kritik (einer ist ein Teufel) ist nicht gegeben, er scheint sich vielmehr auf zukünftiges Verhalten zu beziehen, so jedenfalls der Erzählkommentar mit der Deutung auf den Verrat des Judas. Dadurch ist die Kritik grundsätzlicher als bei Mk und Mt: Die Antwort Jesu in Joh 6,70 beschreibt das Wesen eines der Zwölf, es ist nicht eine Kritik an einem bestimmten Verhalten, mit dem wie bei Mt trotzdem eine Hochschätzung der Person verbunden sein kann. Auch hierin bestätigt sich wieder die grundlegend dualistische Situation beim Petrusbekenntnis im JohEv, in der Jesus auf die Seite Gottes, einer der Zwölf aber auf die des Teufels gehört. Weitere Differenzierungen kommen an dieser Stelle nicht vor.108 106 Er ist dadurch noch stärker als in den synoptischen Evangelien Sprecher der Gruppe statt Einzelperson, vgl. Wengst, Johannesevangelium I, 261. 107 Bei Lk erfolgt keine Reaktion auf die Leidensankündigung. 108 Sie sind aber zuvor in der Brotrede enthalten, in der Jesus sowohl sich selber darstellt – einschließlich seines Geschicks und seiner Bedeutung für die, die sich an ihn anschließen – und auch ansatzweise sein Leiden thematisiert wird. In gewisser Weise entspricht also die Abwendung von JüngerInnen dem Widerspruch des Petrus nach Bekenntnis und Leidensankündigung.

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Was bedeutet der Vergleich nun aber für die Rolle des Petrus? Zumindest zeigen Mk und Mt, dass es möglich ist, Petrus als Teufel anzusprechen,109 und zwar gerade auch im Zusammenhang mit seinem Bekenntnis.110 Die vorübergehend möglich erscheinende Deutung von Joh 6,70 auf Petrus wird so verstärkt. Dazu kommt noch, dass Mt 16,17–19 eine allgemeine Wesensaussage über Petrus machen, die mit einem Verweis auf göttliche Offenbarung beginnt, also ganz ähnlich wie der Verweis auf Jesu Erwählung in Joh 6,70. Auch dies verstärkt die Neigung, Joh 6,70 als Aussage besonders über Petrus zu lesen.111 Um so deutlicher ist dann aber die Wendung in 6,71. Ein Teufel ist nicht Petrus, sondern Judas – so wird das Gesamtbild deutlich freundlicher für Petrus als bei Mk und Mt, da die scharfe Kritik einem anderen gilt.112 Parallel zum Fehlen dieser negativen Spitze gegen Petrus steht aber auch der Mangel an einem positiven Höhepunkt. Petrus wird für sein Bekenntnis nicht gelobt, vor allem aber ist es im JohEv nichts Besonderes, weil auch andere Personen vorher und nachher Bekenntnisse ablegen, die inhaltlich sogar bedeutsamer sind. Die entscheidende Aussage der johanneischen Szene scheint zu sein, dass Petrus sich klar auf die Seite Jesu stellt in einem Zusammenhang, in dem andere weggehen und auch einer der Zwölf ein Teufel ist. 3.3 Die Ankündigung der Verleugnung Die Ankündigung der Verleugnung wird in den verschiedenen Evangelien relativ parallel erzählt. Petrus äußert jeweils seine Bereitschaft, für Jesus zu sterben, während Jesus ihm das Verleugnen noch vor dem Hahnenschrei ansagt. Diese Reihenfolge mit dem letzten Wort bei Jesus liegt in Lk 22,31–34 und Joh 13,36–38 vor, während Mk 14,29–31 und Mt 26,33–35 eine doppelte Treuezusage des Petrus haben, in die Jesu Ankündigung eingebettet ist.113 109 M.E. verwendet das JohEv die Begriffe dia/boloj und satana~j synonym, vgl. Joh 13,2.27. Der Differenz in der Begriffswahl kommt wohl keine große Bedeutung zu. 110 Cullmann (vgl. Petrus, 26) bezieht des Vorwurf auf alle Jünger, die Petrus vertritt – das erscheint mir zwar möglich, aber Petrus gilt die Zuschreibung trotzdem primär. 111 Vgl. Snyder, John 13:16, 11. 112 Vgl. Barrett, Gospel. 254; Dschulnigg, Jesus, 55f; Quast, Peter, 53. Trotzdem bleibt eine gewisse Verunsicherung bestehen, die Situation ist nicht völlig gelöst. Wie Snyder (John 13:16, 11) formuliert, entsteht das Gefühl, „the author is toying with our imaginations“. 113 Das Fajum-Fragment (möglicherweise EvPetr, Lührmann, Fragmente, 80f) bricht in der Aussage Jesu ab, zuvor hat Petrus versprochen, keinen Anstoß zu nehmen. Es folgt im Aufbau Mk/Mt darin, dass es zu Anfang ein Anstoßnehmen ankündigt und mit dem Zitat vom Schlagen des Hirten und der Zerstreuung der Schafe begründet. Diese Aussage weist Petrus zurück, aber Jesus kündigt ihm die Verleugnung an – hier bricht das Fragment ab, vermutlich enthielt der Text noch die Todesbereitschaft des Petrus. Allerdings fehlt im Fragment eine positive Wendung nach dem Zitat über das Schlagen des Hirten und die Zerstreuung der Schafe – Mk 14,28 par Mt 26,32 kündigen das Vorausgehen Jesu nach Galiläa nach seiner Auferstehung an. Wenn das Fragment wirklich zum EvPetr gehört, dann wäre denkbar, dass nach der Verleugnungsankündigung (oder

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Unterschiedlich ist der Kontext, in dem der kurze Dialog zwischen Jesus und Petrus steht. Bei Mk und Mt handelt es sich um eine kurze und in sich geschlossene Szene auf dem Weg zum Ölberg (Mk 14,26–31 par).114 Jesus kündigt an, dass alle an ihm Anstoß nehmen werden (skandali/zw), und begründet dies mit einem Zitat aus Sach 13,7, das bildlich seinen Tod und die Zerstreuung der JüngerInnen aussagt. Daran schließt sich eine positive Vorhersage über sein Vorausgehen nach Galiläa nach seiner Auferstehung an. Auf diese doppelte Ansage hin versichert nun Petrus seine Treue, d.h. er sieht sich selbst als Ausnahme, auch wenn alle anderen Anstoß nehmen. Der Kontext hier ist also eine konkrete Bedrohungssituation und eine allgemeine Erwartung vom Scheitern der JüngerInnen, die dann auf Petrus persönlich zugespitzt wird. Er steht beispielhaft für alle, er hat keine Sonderrolle, die ihn von den anderen abheben würde, sondern veranschaulicht eher, was für alle gilt. Dies zeigt sich auch im Abschluss der Szene, in der sich alle den Worten des Petrus – Bereitschaft zu sterben – anschließen (Mk 14,31 par). In Lk 22,31–34 steht die Verleugnungsankündigung wie im JohEv im Kontext eines längeren Gespräches nach dem Mahl. Zuvor geht um die Frage, wer der Größte ist (Lk 22,24–27) und Jesus verheißt den Zwölf aufgrund ihres Ausharrens an seiner Seite das Sitzen an seinem Tisch im Reich Gottes sowie auf Thronen zum Gericht (Lk 22,28–30). Dann wendet er sich direkt an Petrus (Anrede Simon) und kündigt eine Bedrohung – der Teufel siebt – an, aber auch die eigene Fürbitte speziell für den Glauben des Petrus. Nach seiner Wendung / Bekehrung (e>pistre/fw) soll Petrus dann die andern unterstützen (sthri/zw). In diesem im Ganzen freundlichen Zusammenhang folgt dann das Treueversprechen des Petrus, er ist bereit, mit Jesus ins Gefängnis und in den Tod zu gehen. Hier ist also die Zusage des Petrus weniger ein Widerspruch gegen Jesu Worte als ihre Bestätigung. Der Ausblick auf eine spätere „Bekehrung“ des Petrus ist im Lk-Text zunächst die einzige und sehr indirekte Andeutung eines Versagens des Petrus!115 Aber nicht nur hierin, sondern auch in der hervorgehobenen Rolle des Petrus unterscheidet sich Lk von Mk und Mt: Petrus steht hier nicht beispielhaft für alle, sondern ist als Einzelperson herausgehoben und bekommt sogar eine Aufgabe den anderen gegenüber.116 Im JohEv kündigt Jesus sein Weggehen an und auch, dass die JüngerInnen ihm nicht folgen können (Joh 13,33). Dann gebietet er ihnen, sich gegenseitig zu lieben als Zeichen der Jüngerschaft (13,34f). Daraufhin fragt an anderer Stelle) noch die persönliche Ankündigung einer Erscheinung in Galiläa für Petrus folgte. 114 So wohl auch das Fajum-Fragment, vgl. die Ergänzung von Kraus/Nicklas, 66. 115 Vgl. Perkins, Peter, 85. 116 Vgl. Böttrich, Petrus, 117.

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Petrus zunächst, wohin Jesus geht, und Jesus stellt fest, dass er ihm zwar jetzt nicht, aber später folgen kann (13,36). Diese letzte Aussage ist dann der Anlass für das Treueversprechen des Petrus. Wie im MkEv/MtEv widerspricht Petrus also Jesu Ankündigung und wie dort wird an ihm veranschaulicht, was eigentlich für alle gilt. Eine besondere Rolle hat Petrus aber ähnlich wie im LkEv in fernerer Zukunft: Er wird später doch nachfolgen, was von den anderen nicht gesagt wird. Eine genauere Bestimmung dieser besonderen Rolle erfolgt dann erst in Joh 21,15–19, wo das spätere Nachfolgen als sein Märtyrertod interpretiert wird und Petrus einen Auftrag als Hirte der übrigen bekommt. Diese besondere Rolle des Petrus findet sich aber nur beim Zukunftsausblick. Im weiteren Kontext erweist sich die Verleugnungsankündigung als Anfang von weiteren Gesprächen mit den JüngerInnen, in denen kurz darauf auch Thomas und Philippus Fragen stellen, die ihr Unverständnis zeigen und von Jesus in persönlicher Anrede zurückgewiesen werden. 3.4 Petrus und Jesu Weg ins Leiden (Verhaftung und Verleugnung) Direkt verbunden mit seinem Bekenntnis findet sich anders als im MkEv und MtEv keine Reaktion des Petrus auf das drohende Leiden Jesu. Wohl aber später: Bei der Verhaftung Jesu ist es im JohEv Petrus, der das Schwert zieht und den Sklaven Malchus117 verwundet (Joh 18,10). Diese Aktion wird von Jesus zurückgewiesen, und zwar mit Verweis auf den vom Vater gegebenen Kelch, den er trinken will (18,11). Das Bild vom Kelch wird auch in der Gethsemane-Szene in Mk 14,36 par zur Bezeichnung des Leidens verwendet. Die nur im JohEv Petrus zugeschriebene Aktion bei der Verhaftung hat also inhaltlich eine ganz ähnliche Bedeutung wie sein Widerspruch gegen die Leidensankündigung bei Mk/Mt:118 In beiden Fällen stemmt sich Petrus gegen das drohende Leiden Jesu, das dieser als Gottes Willen entsprechend auf sich nimmt. Im JohEv handelt es sich allerdings um ganz praktischen Widerstand in der konkreten Situation, nicht um einen grundsätzlichen Einwand. Dadurch scheint mir deutlich zu werden, dass Petrus trotz allen Unverständnisses klar auf der Seite Jesu steht. Vor allem in der Darstellung des MkEv hebt der Widerspruch das vorher geäußerte Bekenntnis beinahe auf und die Bezeichnung des Petrus als Teufel trennt ihn scharf von Jesus. Im JohEv scheint das Unverständnis dagegen nicht unüberwindlich (Jesus appelliert mit seiner Rückfrage an die Einsicht des Petrus) und Petrus beweist sogar einen gewissen Mut in seinem Einsatz für Jesus. Ansatzweise zeigt er hier tatsächlich seine zuvor geäußerte Bereitschaft, für Jesus zu sterben. 117 118

Auch dieser Name begegnet nur im JohEv, nicht in den synoptischen Parallelen. Vgl. Böttrich, Petrus, 96.

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Bei der Verleugnung wenig später (Joh 18,15–18.25–27) wird nochmals auf diese Episode zurückverwiesen, weil ein Verwandter des Malchus als dritter und letzter Petrus auf seine Zugehörigkeit zu Jesus anspricht (18,26). In den synoptischen Evangelien sind die Petrus Ansprechenden dagegen nicht so genau bestimmt. Dadurch wird der Kontrast im Verhalten umso deutlicher, vielleicht wird aber die Verleugnung durch die Erinnerung an die vorausgegangene Szene auch etwas relativiert.119 Bei Mk und bei Mt folgt auf die Ankündigung der Verleugnung als nächste Szene mit Beteiligung von Petrus das Versagen beim Wachen in Gethsemane, auf das Petrus speziell angesprochen wird, und dann die Verleugnung selbst.120 Es handelt sich also um zwei ganz unterschiedliche Situationen, in denen Petrus jeweils scheitert und so Jesu Vorhersage bestätigt. Das JohEv schildert ebenfalls zwei Szenen mit Petrus in diesem Zeitraum, sein Verhalten bei der Verhaftung und die Verleugnung. Hier ist die Situation jeweils ähnlich, Petrus steht verwandten Menschen gegenüber. Er verhält sich zwar auch in beiden Fällen kritikwürdig, aber doch unterschiedlich, so dass er die Verleugnungsankündigung nicht durchgehend bestätigt.121 Neben dieser Verbindung fallen beim Vergleich der Verleugnungsszene im JohEv mit den anderen Evangelien vor allem zwei Punkte auf: Nur im JohEv tritt auch der mysteriöse „andere Jünger“ auf, der Petrus überhaupt erst Zugang zum Hof verschafft; und am Ende fehlt jede Reaktion des Petrus, er weint nicht und gibt auch kein anderes Zeichen von Reue oder Erkenntnis, dass Jesu Vorhersage eingetroffen ist.122 Ersterer Punkt fiel auch schon bei der textinternen Analyse des JohEv auf; dass Petrus am Anfang auf die Vermittlung eines anderen angewiesen ist, bekommt aber noch zusätzliches Gewicht, weil es nicht einfach zur Geschichte gehört, sondern nur bei Joh erzählt wird. Die Bedeutung der fehlenden Reaktion des Petrus ist schwer einzuschätzen. Durch den Verweis auf das Krähen des Hahnes ist die Verbindung zur Ankündigung der Verleugnung jedenfalls für die LeserInnen klar ersichtlich. Vielleicht ist eine Reaktion hier auch unnötig, weil die Verleugnung in Joh 21,15–17 wieder aufgegriffen und Petrus rehabilitiert wird. Dort findet sich zwar nicht direkt Reue, aber doch eine erneute Verpflichtung und dort weint Petrus auch, wenn auch etwas anders motiviert. Im Ganzen hat Petrus im JohEv ein schwieriges Verhältnis zu Jesu Weg ins Leiden, das sich sowohl in Unverständnis als auch in persönlichem Ver119

Ähnlich mildernd sieht Quast (vgl. Peter, 98) den Rückverweis. Im LkEv wird Petrus in Gethsemane dagegen nicht eigens erwähnt. 121 Vgl. Simon, Petrus, 193f, zur petrusfreundlichen Schilderung der Verleugnung im JohEv. 122 Außerdem ist die Szene in eine in verschiedenen Punkten abweichende Passionsgeschichte eingebettet und im JohEv rahmen die Verleugnungen das Verhör Jesu – allerdings ist die Verleugnung auch bei Mk und Mt in zwei Stücken erzählt. Nur im JohEv leugnet Petrus ausdrücklich, ein Jünger zu sein, vgl. Droge, Status, 311. 120

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sagen äußert. Anders als vor allem im MkEv123 erscheint dadurch seine Beziehung zu Jesu jedoch nie gefährdet. Schon die Ankündigung der Verleugnung enthält auch einen Ausblick auf eine positive Zukunft. Auch kritikwürdiges Verhalten richtet sich nicht direkt gegen Jesus bzw. wird von diesem eher eingebunden als schroff abgewiesen. In dieser insgesamt freundlichen Stimmung steht das JohEv dem LkEv nahe, allerdings ohne wie dieses auf manche kritische Punkte ganz zu verzichten. 3.5 Zusammenfassung: Petrus als ein verlässlicher Jünger Der Vergleich der Darstellung von Petrus als Jünger Jesu im JohEv mit anderen Zeugnissen bestätigt seine Position klar auf der Seite Jesu. Trotz seines Unverständnisses an vielen Stellen wird nirgendwo ein Bruch oder eine echte Gefährdung der Beziehung erkennbar, anders als im MkEv. Schon die Namenszusage ganz am Anfang macht deutlich, dass der Weg des Petrus verlässlich und fest in die Zukunft führen wird. Schwierigkeiten des Petrus mit Jesu Weg ins Leiden sind auch anderer Tradition bekannt, an einigen Stellen (vor allem bei der Verleugnung) wirkt die Kritik an Petrus sogar milder, sein Verhalten, auch wenn es falsch ist, verständlicher. Eine solche Tendenz findet sich sonst vor allem im LkEv. Ebenfalls bekannt und zu erwarten ist seine Rolle als Sprecher der JüngerInnen. Im JohEv wird er jedoch auch mehrfach gegen die Vergleichstexte in die Gruppe eingebunden; er ist auf andere angewiesen. Die Begründung der nachösterlichen Autorität des Petrus

4. Die Begründung der nachösterlichen Autorität des Petrus 4.1 Petrus als Erscheinungszeuge bei Paulus und im LkEv Dass Petrus eine Erscheinung des Auferstandenen hatte, gehört zu den frühesten Zeugnissen über ihn. Paulus nimmt in 1Kor 15,5 vermutlich eine ältere Tradition auf und nennt Petrus als ersten einer Liste von einzelnen Erscheinungszeugen sowie Gruppen.124 Lk 24,34 bezeugt vermutlich die gleiche Tradition. Auch die Ankündigung in Mk 16,7, dass die JüngerInnen und Petrus Jesus in Galiläa sehen werden, kann als futurische Wendung einer solchen Formel verstanden werden.125 Erzählerisch ausgeführt wird 123 Mt folgt in allen diesen Episoden weitgehend dem MkEv, vor aller Leidensproblematik steht jedoch die grundlegende Würdigung des Petrus nach seinem Bekenntnis, die den späteren Schwierigkeiten die letzte Schärfe nimmt. 124 Wie weit genau das Traditionsstück geht, ist umstritten, in der Regel wird aber die Erscheinung vor Petrus dazu gerechnet. Vgl. Schrage, Brief IV, 20. 125 Zur Beschreibung des Ereignisses werden jeweils Formen von odo/ntej (28,17) wieder aufgegriffen wird. Petrus wird bei den matthäischen Osterereignissen gar nicht erwähnt. D.h. in allen synoptischen Evangelien scheint die Formeltradition in den Ostergeschichten verarbeitet zu sein, und zwar bei Mt für die Erscheinung vor der Gruppe, im LkEv wird explizit auf Petrus Bezug genommen, bei Mk evtl. auf die Gruppe und Petrus. Aber nur im JohEv ist die Formeltradition mit einer anderen Einzelperson verbunden und verfehlt Petrus knapp.128 Auferstandenen als Objekt (epo/stoloj) nahe und auch ein direkter Bezug auf Petrus, der von den LeserInnen bestimmt mit diesem Titel verbunden wird. Aber ob der Vers dann als petruskritisch oder als vor zu großer Verehrung warnend (also eher AnhängerInnen-kritisch) verstanden wird, hängt von der Sicht der Amtsführung des Petrus ab!

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zukünftige Bedeutung des Petrus (13,7.36; 21,15–18) und auch mit seiner Darstellung als eindeutiger Unterstützer Jesu, in der manche kritischen Punkte auch fehlen. Umgekehrt kann der Vermittlung durch Andreas bei der Berufung auch wenig oder keine herabsetzende Bedeutung beigemessen und Petrus schon von der Namensgebung an als besonderer Würdenträger angesehen werden. In diesem Fall entstehen aber Schwierigkeiten mit den weiteren Stellen, in denen Petrus andere braucht und keineswegs für sich allein Autorität besitzt. Besonders deutlich wird dies im Verhältnis zum geliebten Jünger, aber nicht nur ihm gegenüber. Ein weiteres Phänomen der Doppellesbarkeit der Petrusfigur liegt nicht in seinem Verhältnis zu anderen, sondern in der Beschreibung seiner Person vor allem aus dem Mund Jesu (auch in Verbindung mit Erzählkommentaren). An mehreren Stellen macht Jesus eine ausdrücklich negative (d.h. negierte) Aussage über Petrus: Er versteht nicht (13,7), er kann nicht nachfolgen (13,36). Die Aussage ist aber jeweils eingeschränkt und gilt nur jetzt, während für die Zukunft eine Veränderung angekündigt ist. D.h. hier steht eine deutliche Kritik, die aber sofort wieder zurückgenommen wird. Es bleibt offen, welchem Teil der Aussage das größere Gewicht zukommt, weil der Zeitpunkt des Umschwungs nicht festgelegt ist. Die Stellen lassen sich weder als nur kritisch noch als nur bestärkend für Petrus lesen. Die Gesamtperspektive ist aber positiv, weil die Zukunftsaussage dies ist. In eine ähnliche Richtung scheinen mir die Stellen zu weisen, an denen Jesus mit Petrus spricht und ihm gegenüber einen aus der Gruppe als Teufel (6,70) bzw. nicht alle als rein (13,10) bezeichnet. Hier bezieht der sofort folgende Erzählkommentar die Aussage jeweils auf Judas. Als dritte ähnliche Stelle ließe sich 13,24 aufführen, wo Petrus nicht selbst nach dem Verräter fragen will. Das kann als Scheu vor einer zu engen Verbindung zu Judas angesehen werden. Diese Stellen enthalten also keine direkte Kritik an Petrus, denn sie meinen ihn gar nicht. Aber sie spielen m.E. mit der Möglichkeit, ihn doch zu meinen. Sie eröffnen so verschiedene Leseperspektiven: Einerseits wird die Position des Petrus grundsätzlich in Frage gestellt, andererseits wird diese Möglichkeit durch den Verweis auf Judas wieder verneint. Damit wird aber Petrus nicht ausdrücklich bestätigt, die Aussage gilt einfach einem anderen. Als Bestätigung des Petrus lässt sich die jeweilige Deutung auf Judas nur lesen, wenn die Aussage zuvor als auf Petrus gemünzt verstanden wurde! Unter der Voraussetzung, dass solche Fundamentalkritik an Petrus denkbar ist, gilt sie gerade nicht – es bleibt nur die leichte Verunsicherung. Auch hier ist eine petrusfreundliche Gesamtperspektive zu erkennen. Eine solche Vielschichtigkeit des einen Textes ist im JohEv in vielerlei Form zu finden, von doppelbödigen Aussagen angefangen. Im Vergleich zur Darstellung anderer Personen erscheint sie bei Petrus aber als besonders

Auswertung

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ausgeprägt. Dies hängt zum einen vermutlich mit der Bedeutung der Person, d.h. mit der Breite der Darstellung zusammen. Zum zweiten spielt eine Rolle, dass auch andere Petrusbilder (z.B. im MkEv) schon Ambivalenzen haben, die im JohEv nicht reduziert, sondern vermehrt werden.173 Und schließlich könnte wichtig sein, dass Petrus so bedeutend ist, dass die LeserInnen sich zu ihm verhalten müssen – dies fördert eine Festlegung in die eine oder andere Richtung oder aber wie im JohEv eine klarer ersichtliche Nichtfestlegung. Was ist aber nun der Zweck dieser Doppelbödigkeit in der Kommunikation zwischen Evangelium und LeserInnen? Die Wirkung der Darstellung hängt sehr vom jeweiligen Vorverständnis ab. Dabei ergibt sich der Effekt, dass verschiedene Positionen jeweils unterschiedlich modifiziert werden. Wird von einer kritischen Sicht des Petrus ausgegangen, dann wird die Kritik aufgenommen, ihr aber die Spitze genommen durch die positive Gesamtperspektive.174 Bei einer positiven Sicht des Petrus stehen ihm die ausdrücklichen Kritikpunkte entgegen und die Hervorhebung anderer Personen – dies führt zu einer Infragestellung auch dieser Sicht. Ein einlinig negativer oder positiver Petrus lässt sich mit dem JohEv nicht unterstützen. Möglicherweise wird ein bisschen mehr Kritik vorausgesetzt und ein bisschen mehr Bestätigung geboten. Grundsätzlich macht diese Darstellung eine innere Distanz zu Petrus möglich. Er kann respektiert und anerkannt werden (für seine Standhaftigkeit sprich seinen Märtyrertod), ohne dass damit irgendeine inhaltliche Position des Petrus übernommen werden muss. 5.3 Das Petrusbild des JohEv und die Entwicklung der Petrustraditionen Das JohEv bietet zu Petrus keine schwerwiegende Verschiebung der Sicht und auch kaum neuen Stoff. Mit leichten Variationen werden auch anderswo belegte Erzählungen geboten. Wie in anderer Petrustradition ist die Autorität des Petrus das zentrale Thema. Ungewöhnlich ist jedoch die differenzierte, vielschichtige Darstellung seiner Autorität. Die Spannung zwischen Anerkennung bzw. Bestätigung und Kritik entspricht am ehesten dem Petrusbild des Paulus, für den Petrus eine wichtige Person, aber nicht der Kritik enthoben ist und dem gegenüber er sich als durchaus ebenbürtig ansieht.175 Das ist aber noch zu Lebzeiten des Petrus! In späterer Zeit zeigt sich eine deutliche Entwicklung hin zu einer immer größeren Autorität, die die Person selbst über Kritik erhebt – so schon teilweise bei Mt, stärker bei Lk, in der Apg und später. Eine Ausnahme bildet dabei das MkEv, das 173

Vgl. Conway, Speaking, 331. Zumindest das „Satanswort“ (Joh 6,70) an Petrus scheint eine gewisse Kritik vorauszusetzen, um literarisch wirkungsvoll zu sein – als Hintergrund reicht aber die Darstellung des MkEv. 175 So auch Perkins, Peter, 118. 174

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Petrus an vielen Stellen als kritikwürdig und versagend darstellt. Möglicherweise ist dies aber nicht gegen Petrus gerichtet, sondern das MkEv zeigt gerade an Petrus alle Schwächen auf, weil seine Autorität dies aushalten kann. Noch stärker als bei den übrigen JüngerInnen kann sein Versagen die LeserInnen trösten und ermuntern.176 Vom MkEv unterscheidet sich das JohEv durch die betont positive Zukunftsperspektive des Petrus, die im MkEv in 16,7 vielleicht knapp angedeutet ist. Das JohEv verweigert sich nicht nur der Tendenz zur Heldenverehrung des Petrus. Es ersetzt Petrus auch nicht einfach durch eine andere Autorität wie im EvThom und EvMar. Hier wird Petrus als wichtiger Jünger vorausgesetzt und anerkannt, aber dann einer Person mit größerer Einsicht (und davon abgeleitet größerer Autorität) nachgeordnet. Es ist bemerkenswert, dass das JohEv diesem Weg nur sehr ansatzweise folgt und in der Darstellung des Petrus eher Autorität dekonstruiert als eine Autorität durch eine andere zu ersetzen. Trotz aller Übereinstimmungen im Stoff bildet das Petrusbild im JohEv eine ungewöhnliche Ausprägung in der Traditionsentwicklung. Dies gilt nicht nur für die besondere Sicht der Autorität des Petrus und ihre Bindung an sein Martyrium, sondern auch an weiteren Punkten: Im JohEv ist die Differenz zwischen Petrus als Jünger und dem nachösterlichen Petrus deutlich stärker betont als in anderen Zeugnissen, in denen sich beides vermischt bzw. die Zeit als Jünger von seiner späteren Aufgabe geprägt ist. Diese spezielle Sicht hat in der späteren Tradition keine erkennbaren Spuren hinterlassen.

176 Vgl. Tannehill, der herausarbeitet, wie das MkEv in der Darstellung der JüngerInnen einerseits Identifikation, andererseits Ablehnung fördert, um so das Verhalten der LeserInnen in Frage zu stellen (Jünger, 49f und passim).

V. Thomas

1. Thomas im JohEv 1.1 Überblick und Name Thomas wird im JohEv an vier Stellen namentlich erwähnt: 11,16; 14,5f; 20,24–29; 21,2. In 21,2 wird sein Name lediglich zusammen mit anderen aufgelistet, in 11,16 und 14,5f leistet Thomas einen Gesprächsbeitrag im Rahmen eines Gespräches zwischen Jesus und den JüngerInnen und in 20,24–29 steht er im Mittelpunkt einer kurzen Erzählung, in der er zunächst Unglauben bezüglich der Auferstehung Jesu äußert und dann durch eine Erscheinung Jesu überzeugt wird. Thomas gehört eindeutig zum Kreis der JüngerInnen, da er sich in 11,16 an seine MitjüngerInnen (summachtai/) wendet und in 20,24 seine Zugehörigkeit zu den Zwölf festgestellt wird. Aber anders als von Andreas, Petrus, Philippus und Nathanael wird von ihm keine Berufung oder eine andere Art von Erstkontakt erzählt, er begegnet vielmehr erst relativ spät im Evangelium und als völlig selbstverständlich zur Gruppe gehörig.1 Sein Auftreten hat an allen Stellen außer 21,2 eine deutliche inhaltliche Verbindung mit der Passion Jesu.2 In drei der Szenen wird Thomas mit dem Beinamen Didymus (Cwma~j o< lego/menoj Di/dumoj) eingeführt.3 Didymos ist das griechische Äquivalent des aramäischen Wortes Th’oma. Die Formulierung wird oft als Übersetzung verstanden,4 Übersetzungen von fremdsprachlichen Worten oder Namen (z.B. Kephas durch Petrus in 1,42 oder Messias durch Christus in 1

Ähnlich unvorbereitet treten im JohEv der andere Judas oder Maria Magdalena auf. Von Judas Iskariot und vom geliebten Jünger fehlt eine ausdrückliche Berufung (der anonyme Jünger neben Andreas unter den beiden Erstberufenen wird nicht eindeutig identifiziert, ist aber offen für eine Identifikation mit dem geliebten Jünger), aber sie werden beim ersten Auftreten bzw. der ersten Erwähnung ausführlich vorgestellt. 2 Joh 11 wird zwar gewöhnlich dem ersten, das öffentliche Auftreten Jesu schildernden Hauptteil zugeordnet, es gibt jedoch deutliche Verbindung zu Joh 20, die es auch ermöglichen, das Kapitel als Auftakt zur Passion zu betrachten. Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 419f, der den Abschluss des ersten Hauptteils des JohEv in 10,42 erkennt, aber gleichzeitig 8,12–12,50 als einen Akt ansieht. Der Bezug zur Passion ist vor allem im Gespräch zwischen Jesus und den JüngerInnen, in das Thomas Redebeitrag gehört, deutlich. 3 Der Beiname fehlt in 14,5. 4 So z.B. Thyen, Johannesevangelium, 519; Schnackenburg, Johannesevangelium II, 411; Riley, Resurrection, 110.

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Thomas

1,41) werden im JohEv jedoch in der Regel eindeutiger ausgedrückt.5 Dass bei Thomas dagegen gleich dreimal die für eine Übersetzung ungewöhnliche Formulierung mit lego/menoj vorkommt, spricht m.E. klar gegen eine solche Deutung. Möglich wäre, dass so ein zweiter Name des Thomas eingeführt wird, auch dies entspricht jedoch nicht der im JohEv üblichen Ausdrucksweise. Doppelnamen wie Simon Petrus werden einfach gereiht, nicht mit o< lego/menoj verbunden.6 Schließlich wäre noch denkbar, dass die Person Thomas durch den Zusatz eindeutig identifiziert werden soll.7 Dies ist aber unbefriedigend, da es keinen Hinweis auf mehr als einen Thomas gibt. Der Namenszusatz Didymos / Zwilling ist also nicht ohne weiteres zu erklären, er fällt aus den sonst im JohEv üblichen Verwendungen heraus. Das dreimalige Vorkommen spricht aber für eine große Bedeutung. 1.2 Thomas’ Aufforderung zum Mitsterben (Joh 11,16) Thomas Der Redebeitrag des Thomas in 11,16 bildet den Abschluss des ersten Teils (11,1–16) der Geschichte von der Auferweckung des Lazarus. Nach der Einführung der zentralen Personen Lazarus, Maria und Martha sowie der Krankheit des Lazarus in 11,1f wird von der Nachricht der Schwestern an Jesus und seiner unmittelbaren Reaktion darauf (11,3–6) berichtet. Dann folgt ein Gespräch zwischen Jesus und den JüngerInnen, das zwei Tage nach Erhalt der Nachricht stattfindet (11,7–16). Dieses Gespräch wird durch die in 11,7 geäußerte Absicht Jesu, nach Judäa zu ziehen, ausgelöst, und endet mit der Bestätigung dieser Absicht durch Thomas in 11,16. Ein wirklicher Aufbruch wird nicht erzählt, aber vorausgesetzt, da Jesus in 11,17 in Bethanien eintrifft. Die JüngerInnen treten hier und in der ganzen folgenden Geschichte nicht mehr auf, sondern werden erst wieder in 11,54 als Begleitung Jesu an einem neuen Ort erwähnt. Die Nachricht an Jesus und seine verzögernde Reaktion sind für den weiteren Ablauf der Erzählung von Bedeutung, weil sie sowohl die von Martha und Maria später geäußerten Vorwürfe an Jesus erklären als auch das Wunder zuspitzen und verstärken. Das Gespräch mit den JüngerInnen hat dagegen für die Erzählung keine direkte Funktion: Weder sind die Personen (JüngerInnen) in der folgenden Geschichte wichtig, noch trägt der 5 Die Sprache wird genannt (so 19,13.17; 20,16) oder der Begriff equpni/zw verwendet, nicht ein üblicher, theologisch bedeutsamer Terminus für Auferwecken!

Thomas im JohEv

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Aber obwohl sich Thomas Jesu ursprünglicher und letzter Aufforderung anschließt, bleibt auch eine inhaltliche Differenz zu den Aussagen Jesu: Thomas nimmt weder den Gegeneinwand Jesu in 11,8f auf, der den Einwand der Gefahr der Steinigung zurückweist, noch seine positive Deutung des Gestorbenseins des Lazarus, nämlich Glauben zu bewirken, in 11,15. Thomas steht so an der Seite Jesu, aber es ist keineswegs sicher, ob dies auf tieferem Verständnis beruht. Es entsteht eher der Eindruck von eifrigem, aber fragwürdigem Engagement.17 Festzuhalten ist aus diesem Abschnitt, dass die Figur des Thomas in enger Verbindung mit Jesus im Gegenüber zur Gruppe gezeichnet ist. Thematisch handelt die ganze Szene vom Sterben, sowohl des Lazarus als auch vom drohenden Tod Jesu; und mit diesem Thema identifiziert sich Thomas positiv. Er fordert zum Gehen und zum Sterben auf. Schließlich bleiben aber Zweifel, wie weit Thomas die Aussagen über das Licht der Welt und das Sehen statt zu stolpern sowie über das Bewirken von Glauben in seine Unterstützung Jesu einbezogen hat. 1.3 Die Frage nach dem Weg (Joh 14,5f) Die Frage des Thomas gehört zu einer Reihe von Jüngerfragen, die im ersten Teil der Abschiedsreden an Jesus gerichtet werden. Nach dem Mahl und der Fußwaschung, der Ansage des Verrats und dem Weggang des Judas folgen Belehrungen Jesu teils im Gespräch, teils monologisch. Fragen stellen zunächst Petrus zweimal hintereinander (13,36f), dann Thomas (14,5), dann richtet Philippus eine Aufforderung an Jesus (14,8) und etwas später fragt noch Judas, nicht der Iskariot (14,22). Die Rede Jesu wird dann erst wieder in 16,17f.29f von Beiträgen der JüngerInnen als Gruppe unterbrochen. Petrus (13,36.38) und Philippus (14,9f) werden von Jesus in seiner Antwort zunächst direkt und persönlich angesprochen, bevor er wieder zu allgemeineren Belehrungen übergeht. Auf die Frage des Thomas folgt ein Ichbin-Wort, das in der Redeeinleitung direkt an Thomas gerichtet ist (14,6), aber selbst allgemein bzw. in der 2. Person Plural formuliert ist (14,6f). Auch Judas erhält, an ihn direkt gerichtet, eine allgemeine, in der zweiten Person Plural formulierte Antwort (14,23f). Die Gesprächsbeiträge von Petrus, Thomas und Philippus gehen in eine ähnliche Richtung und bauen inhaltlich aufeinander auf: Es geht um das Wohin Jesu und das Folgen, um das Erkennen des Weges und das Zeigen des Vaters. In den Beiträgen wird jeweils direkt eine Aussage Jesu aufgriffen und auf diese Weise in Frage gestellt; alle drei enthalten einen Wider17 Vgl. Bultmann, Evangelium, 305, der bei Thomas hier und auch im Bezug auf sein späteres Verhalten „blinde Ergebenheit“ erkennt.

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spruch oder Protest gegen Jesu Worte.18 Sie zeigen ein gewisses Unverständnis gegenüber Jesu angekündigtem Gehen zum Vater und ihrer Rolle dabei. Die Antworten Jesu sind unterschiedlich, aber jeweils kritisch: Petrus wird seine Verleugnung angekündigt, es wird also seine persönliche Rolle thematisiert und so sein Anspruch kritisiert. Bei Philippus kritisiert Jesus ausdrücklich und in direkter Anrede das mangelnde Verständnis, das sich in seiner Aufforderung zeigt. Thomas gegenüber ist eine Kritik implizit enthalten, wenn das Ich-bin-Wort Jesus selbst als den Weg identifiziert, den Thomas nicht zu kennen meint. Dieser Kontext der Gesprächsituation zeigt also Thomas in einer Reihe mit den anderen Jüngern. Er steht unverständig bzw. in kritischer Distanz zu Jesus wie die anderen. Thematisch zentral in der Frage des Thomas ist das Stichwort Weg (oIndi/a >Iou/da| Cwma~| tw~| kai\ Didu/mw|), eingeführt. Später wird er mit beiden Namen einzeln oder auch einfach als „der Apostel“ bezeichnet.60 Als Zwillingsbruder Jesu wird er von einem Drachen und einem Füllen angesprochen (ActThom 31; 39). Das Füllen bezeichnet Thomas dabei nicht nur als Zwillingsbruder Jesu (o< di/dumoj tou~ Xristou~), sondern auch als „miteingeweiht in das verborgene Wort des Christus“ (summu/sthj tou~ lo/gou tou~ Xristou~ tou~ a>pokru/fou) und spricht ihn an: „der du seine verborgenen Aussprüche empfängst“ (o< dexo/menoj au>tou~ ta\ a>po/krufa lo/gia) (39). Die Aussage nimmt wohl Bezug auf das EvThom.61 Die Zwillingsähnlichkeit geht so weit, dass Jesus im Aussehen des Thomas erscheint und sich als sein Bruder vorstellt (ActThom 11). Auch in seiner Funktion gleicht Thomas Jesus und bekommt Züge des Erlösers. Daneben wird an einigen Stellen aber ein hierarchisches Verhältnis deutlich, Thomas bezeichnet Jesus ausdrücklich als seinen Herrn (auf eine Rückfrage hin, nachdem Jesus ihn als Sklave verkauft hat, ActThom 2). In Gebeten spricht Thomas Jesus als „mein Herr und mein Gott“ an (ActThom 10; 144; 167). In ActThom 160 sagt er, nicht Jesus und nicht Christus zu sein, sondern sein Sklave.62 In ActThom wird die Vorstellung von Thomas als Zwillingsbruder Jesu also benutzt, um die besondere Rolle des Thomas zu unterstreichen. Das Konzept wird aber nicht eigens erklärt oder hergeleitet, sondern vorausgesetzt – in der vorliegenden Form der ActThom bestehen auch durchaus Spannungen zu anderen Tendenzen. Es wurde also nicht in dieser Schrift entwickelt, sondern wie andere Traditionen aufgegriffen und als ein selbstverständliches und wichtiges, aber nicht besonders betontes Element verarbeitet. 60

Nur zu Anfang sind alle Apostel versammelt und hier werden auch die Namen aufgelistet, die weitgehend den ntl. Listen entsprechen (vor allem der Mt-Fassung). Thomas (hier mit diesem einfachen Namen) ist als siebter genannt, am Ende der Liste der Elf folgt noch Judas des Jakobus – der Doppelname des Thomas führt also offensichtlich nicht zu einer Identifizierung mit diesem Jünger. Im weiteren Verlauf der ActThom bevorzugen die älteren syrischen Handschriften den Namen Judas, die griechischen verwenden häufiger Thomas, vgl. Klijn, John, 92. 61 Zum EvThom bestehen auch an anderen Stellen der ActThom Verbindungen; ein deutlicher Verweis liegt in 47 vor, wo Thomas im Gebet davon spricht, dass Jesus ihn ausgesondert und ihm drei Worte gesagt habe, die er den anderen nicht sagen kann. D.h. ActThom setzt das EvThom mit seiner ausgeführten Rolle des Thomas voraus. Anders Uro, Thomas, 15–17, der ActThom zwar als von EvThom beeinflusst ansieht, aber eine direkte Benutzung nicht für erwiesen hält. M.E. beweisen die Beispiele zwar nicht, dass EvThom als direkte schriftliche Vorlage diente, wohl aber, dass das EvThom als Gesamtentwurf vorausgesetzt wird; es gibt also nicht nur die Aufnahme von einzelnen theologischen Gedanken oder Sprüchen. 62 Diese Diskrepanz erklärt sich möglicherweise durch die Entstehungsgeschichte der Akten, die vermutlich mehrfach überarbeitet wurden, auch mit dem Ziel, sie rechtgläubiger zu machen. Aber es ist schon bemerkenswert, dass es in den ActThom offensichtlich nötig ist, eine Vermischung von Thomas und Jesus auszuschließen!

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Auch in LibThom wird Thomas als Zwillingsbruder Jesu bezeichnet. Die Schrift ist ein Gespräch zwischen Jesus und Judas Thomas, das als siebte Schrift von NHC II in koptischer Übersetzung erhalten ist. Sie setzt in den Einleitungsworten das EvThom voraus und wird in die zweite Hälfte des zweiten oder die erste des dritten Jahrhunderts datiert.63 In der vorliegenden Gestalt ist Judas Thomas der Empfänger der Lehren. Er wird im Incipit mit diesem Doppelnamen bezeichnet (NHC II p.138,2) und an einer weiteren Stelle als „Judas, der Thomas genannt wird“ (Ioudas paI etoumoute eroF Je qwmas, NHC II p.142,7f), sonst einfach als Thomas. Der Zusatz Didymos begegnet nicht, wohl aber wird Thomas p.138,8 als Zwilling (soeiS) bezeichnet. Dies ist vermutlich das koptische Äquivalent eines griechischen di/dumoj.64 Das inhaltliche Hauptanliegen der Schrift ist die Propagierung von Selbsterkenntnis sowie einer asketischen Lebensweise insbesondere in sexueller Hinsicht. Anfang des LibThom (NHC II p.138,1–21)65 NSaJe eqhp/ nai+ entaFSaJe Mmau NGi p!s!wr Ni+oudas qwmas nai+ entai+saHou/: anok Hwwt/ maqaias neeimooSe eeiswtM eroou euSaJe mN nouerhu paJeF NGi p!s!wr Je psan qwmas Hws euNtak/ Mmau NouoeiS HM pkosmos swtM eroi+ NtaGwlp/ nak/ ebol etbe nentak/meeue eroou Hrai+ HM pek/Hht/ epei de auJoos Je Ntok/ pa/soeiS/ auw paSbR Mmhe/ He/tHwt\k NkMme Je Ntk nim/ auw akSoop/ NaS NHe h eknaSwpe NnaS Nrhte epeidh semoute erok/ Je pason petesSe an pe/: etrek/Swpe eko Natsooun/e/ erok/ Mmin/ Mmok/ auw Tsooune Je akMme/ akouw gar ekMme Mmoei Je anok pe psooun Ntmhe Hws ekmooSe Ge nMmaei kan Ntak/ ouat/sooun/ akouw

Die geheimen Worte, die der Erlöser zu Judas Thomas sprach und die ich, Matthäus, niedergeschrieben habe; ich war vorbeigekommen und hatte sie miteinander reden hören. Der Erlöser sprach: „Bruder Thomas, höre mir zu, solange du noch Gelegenheit dazu in der Welt hast, auf dass ich dir enthülle, was du in deinem Herzen zu ergründen gesucht hast. Weil aber gesagt wurde, dass du mein Zwilling und mein einzig wahrer Freund bist, (deshalb) ergründe dich selbst und erkenne, wer du bist, wie du bist und wie du sein wirst! Weil du mein Bruder genannt wirst, darfst du nicht in Unkenntnis über dich selbst bleiben. Und ich weiß, dass du zu erkennen begonnen hast. Denn du hast schon erkannt, dass ich die Erkenntnis der Wahrheit bin. Während du also mit mir gewandelt bist, hast du schon, wiewohl

63 Vgl. Schenke, Buch, 281. Möglicherweise ist sie die Überarbeitung einer jüdisch-hellenistischen, weisheitlichen Jakobschrift, die den als Untertitel erhaltenen Titel „der Athlet schreibt an die Vollkommenen“ trug, so Schenke, Thomas-Buch, 198–202 (Rekonstruktion der Vorlage). 64 So mit ausführlicher Begründung Schenke, Thomas-Buch, 65. Allerdings ist kein klarer Beleg für die Wiedergabe von di/dumoj mit soeiS erhalten. 65 Text und Übersetzung nach Schenke, Thomas-Buch.

Der Name Thomas – Didymos – Judas eksooun/e auw senamoute erok/ Je preF/sooun/e eroF/ Mmin/ MmoF/ Je pete MpF/souwnF gar/ MpFsouwn laau/ pentaFsouwnF de ouaatF/ aFouw on/ eFJi sooune/ apbaqos MpthrF etbe pai+ Ge Ntok/ pasoN qwmas/ aknau appeqhp/ ebol HN rrwme ete pai+ pe etouJi Jrop/ eroF/ en/sesooun an/

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noch unwissend, Erkenntnis erlangt. Und du sollst (später) einmal genannt werden ‚der (Mensch), der sich selbst erkennt‘. Denn wer sich selbst nicht erkannt hat, hat gar nichts erkannt. Wer aber sich selbst erkannt hat, hat auch schon Erkenntnis über die Tiefe des Alls erlangt. Deswegen also hast du (allein), mein Bruder Thomas, erblickt, was verborgen ist vor den Menschen, nämlich das, worüber sie, wenn sie es nicht bemerken, zu Fall kommen.

Dieser Anfang stellt programmatisch die Position des Thomas im LibThom dar. Wie im EvThom geht es um geheime Worte Jesu, aber sie sind anders als dort speziell zu Judas Thomas gesprochen. Für die Verschriftlichung verantwortlich ist dann Matthäus – seine Rolle als Schreiber scheint jedoch nur durch Zufall bedingt, er ist ausdrücklich nicht Zielperson der Worte. Thomas dagegen ist durch eine besondere Beziehung zu Jesus charakterisiert, er spricht ihn als Zwilling (pasoeiS) und außerdem als wahren Gefährten (paSbRMmhe)66 an. Auffällig ist jedoch, dass Thomas zwar von Jesus als Bruder angeredet wird (p.138,4.19), aber sowohl dieses Brudersein als auch die weitergehenden Aussagen als Zwilling und wahrer Gefährte als Worte anderer eingeführt werden (p.138,7: „weil sie sagen / gesagt wird, dass ...“ und 138,10: „weil du mein Bruder genannt wirst ...“). D.h. LibThom greift hier auf irgendwie bekannte Aussagen zurück und verwendet sie für eigene Zwecke, nämlich als Motivation zur Selbsterkenntnis des Thomas. Eine gewisse Distanz gegenüber dieser Tradition klingt dabei an. Vermutlich ist Schenke zuzustimmen, der die Aussagen als eine Art Zitat aus der Thomastradition ansieht, die dem Verfasser bekannt war, der er sich aber nicht vorbehaltlos zugehörig fühlte.67 Thomas ist in LibThom in erster Linie derjenige, der sich selbst und damit alles erkennt – dies wird nur teilweise als schon vorhandenes Faktum dargestellt, überwiegend handelt es sich um eine Hoffnung für die Zukunft. 66 Schenke deutet den Ausdruck im Sinne von Lieblingsjünger, vgl. Buch, 285. Ich denke, der Wortbestandteil SbR spricht eher für eine gleichberechtigte Ebene als für ein Jüngerverhältnis. So redet z.B. Thomas seine Mitjünger als neFSBrmaqhths an (sahidische Fassung von Joh 11,16). 67 Vgl. Schenke, Thomas-Buch, 65. (Beide Aussagen rechnet er zur redaktionellen Bearbeitung, nicht zur Grundschrift.) Ähnlich auch Poirier, Writings, 304. Eine ganz andere Deutung vertritt Riley (vgl. Resurrection, 112), er findet in der Formulierung „Zwilling und wahrer Gefährte“ die Wiedergabe der drei Worte Jesu an Thomas aus EvThom 13. Aber das erscheint mir unplausibel, denn erstens ist schon auf Koptisch unklar, ob es wirklich drei Worte sind, auf Griechisch erst recht. Und zweitens ist die Redeeinleitung mit „sie haben gesagt / es wurde gesagt“ unangemessen für ein Selbstzitat Jesu.

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Thomas

Im folgenden Text stellt Thomas Fragen, auf die Jesus Auskunft gibt, macht aber auch hin und wieder sein Verständnis für das Gesagte deutlich. An einer Stelle, wo Jesus eine Frage an ihn richtet, lehnt er es aber ab zu antworten und hält es für angemessen zuzuhören (p.142,8f). Sowohl Jesus als auch Thomas sprechen mitunter im Plural, dadurch erscheint Thomas als Repräsentant einer Gruppe von Menschen. Trotz seiner besonderen Rolle bleibt sein Schülerverhältnis zu Jesus bestehen. Seine Beziehung zu anderen JüngerInnen wird nicht thematisiert. Auch LibThom setzt also voraus, dass Thomas als Zwillingsbruder Jesu angesehen wird, führt diese Vorstellung aber nicht weiter aus und verwendet sie nicht als Grundlage der Darstellung seiner Beziehung zu Jesus.68 Auch diese Schrift entwickelt die Vorstellung nicht, sondern übernimmt sie von anderswo. Mit LibThom und ActThom bezeugen zwei Schriften die Vorstellung von Thomas als Zwilling Jesu. Beide haben außerdem den Bezug auf das EvThom gemeinsam. Eine inhaltliche Übereinstimmung besteht in der asketischen Ausrichtung, aber eine direkte Verbindung oder Indizien für eine Kenntnis oder Abhängigkeit einer Schrift von der anderen gibt es nicht.69 Dieser Befund legt es nahe, nun nach der Sicht des EvThom auf das Zwillingsein des Thomas zu fragen. 3.2 Der Befund im EvThom Auch in der koptischen Fassung des EvThom wird Thomas als Zwilling (didumos) bezeichnet, und zwar im einleitenden Satz (Incipit), in dem die in der Schrift enthaltenen Worte Jesu und Thomas als ihr Schreiber vorgestellt werden.70 Allerdings wird Thomas nirgendwo im EvThom ausdrücklich als Zwilling Jesu angesehen, die Bedeutung des Beinamens ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Als zusätzliches Problem ist die griechische Fassung der Stelle nur fragmentarisch erhalten und bietet keine genaue Entsprechung zum koptischen Text. EvThom Incipit / Spruch 1: NHC II p.32,10–1472 POxy 654,1–571 Dies sind die [verborgenen] Worte, [die] der lebendige Jesus sagte und 68

ou{toi oi< lo/goi oi< [a>po/krufoi ou%j e>la/]lhsen >Ih(sou~)j o< zw~n

naei ne NSaJe eqhp' enta\i\s etonH Joou auw

Dies sind die verborgenen Worte, die der lebendige Jesus sagte, und

Sie dient zur Legitimierung der Schrift, ist nicht Teil der Botschaft, so Uro, Thomas, 13f. Vgl. Uro, Thomas, 20. 70 Bei der zweiten Erwähnung in EvThom 13 und im Titel des Evangeliums heißt er nur Thomas. 71 Text nach Lührmann, Fragmente, 112; Übersetzung von mir. 72 Text nach Aland, Synopsis, 519; Übersetzung von mir (JH). 69

Der Name Thomas – Didymos – Judas [Judas aufschrieb, der] auch Thomas (heißt), und er sprach: [„Wer die Deutung] dieser Worte [findet], wird [(den) Tod] nicht schmecken.“

k[ai\ e]grayen >Iou/daj o