Calvins Erbe: Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins 9783666569197, 9783525569191, 9783647569192

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Calvins Erbe: Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins
 9783666569197, 9783525569191, 9783647569192

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525569191 — ISBN E-Book: 9783647569192

Reformed Historical Theology Edited by Herman J. Selderhuis In co-operation with Emidio Campi, Irene Dingel, Wim Janse, Elsie McKee, Richard Muller

Volume 9

Vandenhoeck & Ruprecht

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Calvins Erbe Beiträge zur Wirkungsgeschichte Johannes Calvins

Herausgegeben von Marco Hofheinz, Wolfgang Lienemann und Martin Sallmann Unter Mitarbeit von Kerstin Groß und Hanspeter Jecker

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56919-1 ISBN 978-3-647-56919-2 (E-Book)

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Druck und Bindung: a Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort

Von Johannes Calvin (1509–1564) sind vielfältige Impulse für das religiöse, gesellschaftliche, kulturelle, politische und wirtschaftliche Leben der Neuzeit ausgegangen, die bis in die Gegenwart hinein reichen. Der sog. „Calvinismus“ hat auf seine Weise die Welt verändert und eine enorme Breitenwirkung entfaltet. Das Erbe Calvins ist vielgestaltig und in der Beurteilung kontrovers. Der vorliegende Band begibt sich auf die Suche nach nachhaltigen Spuren, die insbesondere Calvins Theologie in der Geistes- und Kulturgeschichte Westeuropas und Nordamerikas hinterlassen hat. Er widmet sich der Erforschung der Wirkung Calvins in unterschiedlichen geistesgeschichtlichen Strömungen, kirchlichen Gruppen und theologischen Richtungen, die seine Gedanken und Motive aufgenommen, neu akzentuiert oder weiterentwickelt haben. Dieser Band geht auf eine Seminarveranstaltung an der Theologischen Fakultät der Universität Bern im Frühjahrssemester 2009 zurück, die von den Lehrstühlen für Ethik und Neuere Kirchen- und Theologiegeschichte verantwortet wurde. Den unmittelbaren Anlass bildete der 500. Geburtstag Calvins. In jeder Sitzung wurde ein Aspekt bzw. eine „Epoche“ der Wirkungsgeschichte Calvins unter theologischen, politischen und rechtlichen Gesichtspunkten thematisiert. Es ging inhaltlich darum, die von Calvin ausgehenden geistesgeschichtlichen Impulse auf das kirchliche und gesellschaftliche Leben in Europa und darüber hinaus bis zur Gegenwart nachzuzeichnen. Zu jeder Sitzung wurden auswärtige Expertinnen und Experten eingeladen, die im Rahmen dieser Veranstaltung in Bern vortrugen. Der vorliegende Band vereinigt alle diese Vorträge. Über diese Vorträge hinaus wurden, wo es nötig erschien, einzelne ausgewiesene Calvinismus-Forscherinnen und -Forscher um Beiträge zu diesem Band gebeten. Wir danken ihnen ebenso wie allen Referentinnen und Referenten, die in Bern vorgetragen haben, sehr herzlich. Parallel zu diesem Band erscheinen die Beiträge zu einer Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Universität Bern, die unter dem Thema „Johannes Calvin 1509–2009. Würdigung aus Berner Perspektive“ standen. Beide Bücher ergänzen sich in vielfacher Hinsicht.

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Vorwort

Sehr herzlich danken wir der Hochschulstiftung der Burgergemeinde Bern und ihrem Generalsekretär Dr. Christoph Pappa, die nicht nur die Berner Seminarveranstaltung finanziell ermöglichte, sondern auch einen großzügigen Druckkostenzuschuss für diesen Band zur Verfügung stellte. Ein herzliches Dankeschön geht auch an Dr. Hanspeter Jecker, der mit großem Engagement bei der Erstellung dieses Buches mitwirkte. Frau Kerstin Groß sei gedankt für ihren Einsatz, der zum organisatorischen Gelingen des Seminars beigetragen hat, und für die Erstellung der Druckvorlage. Für geduldige verlegerische Betreuung danken wir Silke Hartmann und Jörg Persch vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Bern, im März 2011

Marco Hofheinz Wolfgang Lienemann Martin Sallmann

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Inhalt Einleitung Marco Hofheinz, Wolfgang Lienemann und Martin Sallmann Was heißt: Das Erbe Calvins erwerben? .................................................

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I. Die Erbschaft Calvins. Theologiegeschichtliche Resonanzen auf thematische Impulse Calvins Matthias Freudenberg Calvins Einfluss auf die Entwicklung des reformierten Verständnisses der Kirche ................................................................................................

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Eva-Maria Faber Calvinus catholicus. Zur Calvin-Rezeption in der römisch-katholischen Kirche und Theologie am Beispiel von Pneumatologie, Ekklesiologie und Ämterlehre ...............

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Michael Weinrich Calvins Ökumeneverständnis und die ökumenische Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts ...................................................................

76

Georg Plasger Karl Barth als Leser Johannes Calvins. Die dreifache Gestalt der Versöhnungslehre Karl Barths als Interpretation der Drei-Ämter-Christi-Lehre Johannes Calvins ............. 100 Marco Hofheinz De munere prophetico – Variationen reformierter Auslegung des prophetischen Amtes. Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung eines dogmatischen Topos vor der Aufklärung (von Zwingli bis Lampe) ........................................ 115 Eberhard Busch Calvins Lehre vom Bund und die Föderaltheologie .............................. 169 Ilka Werner „Die Reformation geht noch fort!“ Zur Theologie Friedrich Schleiermachers und Johannes Calvins .......... 182

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Inhalt

II. Erben Calvins? Calvins Einfluss auf geistesgeschichtliche Strömungen der Neuzeit Kaspar von Greyerz Calvin und der monarchomachische Widerstandsdiskurs des 16. Jahrhunderts – insbesondere bei Theodor Beza ............................... 207 Christoph Strohm Calvin und die reformierten Juristen des 17. Jahrhunderts .................... 222 Martin Sallmann Calvin, Calvinismus und Puritanismus. William Perkins’ Schriften in Basel als Beispiel ................................... 240 Rudolf Dellsperger Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus. Ein Versuch anhand des Themas Kirchenzucht ...................................... 257 Matthias Zeindler Jonathan Edwards: Calvin in der Neuen Welt ........................................ 280 Wolfgang Lienemann Calvin, Calvinismus, Puritanimus – und Max Weber ............................. 308 Dirk van Keulen Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers ....................... 338 Michael Beintker Calvin und die Demokratie .................................................................... 360

Epilog Wolfgang Lienemann Historia vitae magistra, oder: Was ist kritische Rezeption? ................... 375 Abkürzungen ........................................................................................... 380 Autorinnen und Autoren ......................................................................... 382

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Einleitung Marco Hofheinz / Wolfgang Lienemann / Martin Sallmann

Was heißt: Das Erbe Calvins erwerben?

Leben und Werk Johannes Calvins und die von ihm maßgeblich gestaltete Reformation in Genf haben bis auf den heutigen Tag eine weltweite Ausstrahlung. Wäre der Ausdruck nicht inzwischen anderweitig, nämlich von der UNESCO, besetzt, so könnte man von einem „Welterbe“ sprechen. Dieses Erbe wurde und wird vielfach als höchst provozierend und ambivalent erfahren. Für manche ist es eine so schwere, die eigene Freiheit abschnürende Erblast, dass man sich an die berühmte Formulierung von Karl Marx erinnern mag: „Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.“1 Für andere waren und sind die Auseinandersetzung mit Calvin eine befreiende Begegnung und das kritische Gespräch mit seinem Werk ein Königsweg zu mehr als bloß eigener theologischer Urteilsbildung, nämlich zu wirklicher Gotteserkenntnis. „Calvin kann uns wie Elektrizität in die Glieder fahren“, so dass die, die ihn studieren, „Himmelsbürger und darum resolute Weltbürger, Wartende und darum Eilende [vgl. 2Petr 3,12]“ werden, wie Karl Barth notiert hat.2 Zu einem Erbe kann man sich sehr unterschiedlich verhalten. Die Beiträge dieses Buches gelten den nachhaltigen Spuren, die insbesondere Calvins Theologie in der Geschichte Westeuropas und Nordamerikas hinterlassen hat. In den folgenden Bemerkungen sollen Ausgangsprobleme, Aufbau und Absichten dieser Veröffentlichung kurz genannt werden.

1. Lebendiges – verbrauchtes – umstrittenes Erbe Der Plan zu diesem Buch entstand aus der naheliegenden Überlegung, anlässlich des Calvin-Jubiläums 2009 den Blick einmal weniger auf das Werk Calvins in seiner Zeit als auf dessen in die Zukunft weisenden Wir—————

1 Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (zuerst 1852), in: K. MARX, Politische Schriften, 1. Band, hg. von H.-J. LIEBER, Stuttgart 1960, (268–387) 271. 2 In der Einleitung zu seiner Calvin-Vorlesung im Sommersemester 1922 in Göttingen: Die Theologie Calvins, hg. von H. SCHOLL, Karl Barth GA II. Akademische Werke, Zürich 1993, 9.

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Einleitung

kungen zu richten.3 Es ist ja nicht nur höchst erstaunlich, dass die Reformation im Ausgang von einer keineswegs großen und glänzenden Stadt wie Genf derart weite Kreise zog, wie es der Fall war, sondern dass die intensive Auseinandersetzung mit dem Werk Calvins zu den kontinuitäts- und identitätsstiftenden Merkmalen zahlreicher protestantischer Kirchen weltweit gehört. Doch in welchem Sinne kommt diese Bedeutung Calvin zu Recht zu? In vielerlei Hinsicht kann man beim besten Willen Calvin nicht für zentrale neuzeitliche Positionen in Anspruch nehmen – er war kein Demokrat, kein Anwalt unveräußerlicher Menschenrechte, kein Frühsozialist und kein Wegbereiter des modernen Kapitalismus. Einen Ökumeniker avant la lettre wird man ihn guten Gewissens und im Blick auf sein Selbstverständnis auch nicht nennen können, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Gelten seine biblischen Kommentare und Predigten noch als vorbildlich? Vielleicht nur für die wenigen, die sich an die teilweise sehr langen, oft nur in französischer Sprache vorliegenden Texte wagen. Und welche Kirche würde sich heute noch Calvins strengen Vorstellungen von der Organisation eines Kirchenwesens einschließlich der Kirchenzucht zu Eigen machen wollen? Man könnte fast vermuten: ein verbrauchtes Erbe. Stimmt das?4

2. Kleine Typologie der Calvin-Rezeption Im Vorblick nicht nur auf die Beiträge dieses Buches, sondern auch auf andere Untersuchungen zu Wirkung und Rezeption Calvins5 lassen sich —————

3 Vgl. zur Calvin-Forschung vor dem Jubiläum: C H. STROHM, 25 Jahre Calvin-Forschung (1985–2009). Teil I: Ausgaben, Übersetzungen, Hilfsmittel, Biographie, Theologie (allgemein), ThR 74, 2009, 442–469. 4 Vgl. dazu u.a. die im Zusammenhang des Calvin-Jubiläums entstandenen Bände G. PLASGER (Hg.), Calvins Theologie für heute und morgen. Beiträge des Siegener CalvinKongresses 2009, Siegener Beiträge zur Reformierten Theologie und Pietismusforschung, Bd. 1, hg. von V. ALBRECHT-BIRKNER / G. PLASGER, Wuppertal 2010; M. WEINRICH / U. MÖLLER (Hg.), Calvin heute. Impulse der reformierten Theologie für die Zukunft der Kirche, Neukirchen-Vluyn 2009. 5 Vgl. die Beiträge im Calvin Handbuch, hg. von H.J. SELDERHUIS, Tübingen 2008, Teil D (392–519); PH. BENEDICT, Christ’s Churches Purely Reformed. A Social History of Calvinism, New Haven 2002; CH. LINK, Prädestination und Erwählung. Calvin-Studien, Neukirchen-Vluyn 2009, Teil D (259–303); M. FREUDENBERG / J. M. J. LANGE VAN RAVENSWAAY (Hg.), Calvin und seine Wirkungen. Vorträge der 7. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 13, Neukirchen-Vluyn 2009; T. JÄHNICHEN / TH.K. KUHN / A. LOHMANN (Hg.), Calvin entdecken. Wirkungsgeschichtliche, theologisch-systematische, sozialethische und literarische Zugänge, Zeitansage. Schriftenreihe des Evangelischen Forums Westfalen und der Evangelischen Stadtakademie Bochum, Bd. 5, Münster 2010; V. REINHARDT, Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf, München 2009, 229–256; J. WITTE, JR., The Reformation of Rights. Law, Religion, and Human Rights in Early Modern Calvinism, Cambridge 2007. Sehr instruktiv ist der Katalog zur großen Jubiläumsausstellung im Historischen Museum Berlin: A. REISS / S.

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unterschiedliche Arten der Wirkung und der Rezeption Calvins sowie recht verschiedene Rezeptionsverständnisse feststellen. Wir versuchen, eine kleine Typologie zu geben: 2.1 Unmittelbare geschichtliche Entwicklungslinien und Wirkungen Calvins Vermächtnis hat unübersehbar viele Erben gefunden. Es wäre unmöglich, sie in einem Band auch nur ansatzweise darzustellen. Dazu wäre es nämlich in einem ersten Schritt erforderlich, die ausdrücklichen Bezugnahmen und Rezeptionsprozesse in ganz unterschiedlichen Epochen, Ländern, Kirchen und Menschengruppen zu analysieren. Calvins Erbe wurde in Frankreich in der Epoche von Henri IV. anders gewürdigt und angeeignet als in Schottland oder England, wieder anders in den Niederlanden oder in der Neuen Welt, von dissenters anders als von (kirchenleitenden) Synoden, in Friedenszeiten anders als in Bürgerkriegen. Im zweiten Teil dieses Buches gibt es zu einigen dieser Rezeptionsprozesse exemplarische Studien, welche vor allem klar identifizierbare politisch-ethische, sozial- und frömmigkeitsgeschichtliche Wirkungen Calvins betreffen. In weiteren Schritten ließe sich diese Perspektive leicht durch vergleichende Untersuchungen erweitern und präzisieren. 2.2 Strukturelle Wirkungen in Kirchen Calvins Ekklesiologie hat ohne Zweifel das allgemeine und das theologisch reflektierte Kirchenverständnis, die kirchliche Praxis und die Entwicklungen des Kirchenrechtes in den reformierten Gemeinden (und auch darüber hinaus) intensiv geprägt. Auch wenn das Genfer System der Kirchendisziplin schon bald nur noch wenige Nachahmer gefunden hat, sind Calvins Ordonnances ecclésiastique (1541/1561), die Genfer Gottesdienstordnung (1542) und der Genfer Katechismus (1542) breit rezipiert worden. Deshalb haben wir diesem Komplex mehrere Beiträge gewidmet, obwohl die Breiten- und Tiefenwirkung von Calvins Ekklesiologie, etwa am Beispiel von John Knox in Schottland, durchaus weitere Studien verdient hätte.

————— WITT (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Europa, Dresden 2009. Vgl. auch das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis in: M.E. HIRZEL / M. SALLMANN (Hg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag, Zürich 2008, 269– 290.

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Einleitung

2.3 Mittelbare Impulse und Wirkungen Der Nachweis und die Untersuchung mittelbarer Wirkungen Calvins und der so genannten Calvinisten sind naturgemäß weit schwieriger als die Analyse einer expliziten Rezeption. Dies gilt in mehrfacher Hinsicht: Es gibt zwischen Calvins Texten und späteren Bezugnahmen darauf vielfache semantische und sachlich-strukturelle Verschiebungen; so lassen sich die Bedeutungen von „Volk“, „Demokratie“ oder „Republik“ vor und nach der Französischen Revolution sorgfältig unterscheiden. Während Calvin noch in der Tradition der antiken, aristotelischen und besonders stoischen Staatsformenlehre denkt, verändern sich später die Bedeutungen der politischsozialen Sprache. Im Lichte neuer historischer Erfahrungen gewinnen die alten Konzepte aber auch neue Profile.6 Sodann geschieht es immer wieder, dass die Bilder von Calvin und seinem Werk, welches Menschen oder gar eine Epoche sich zurechtlegen, mehr von deren eigenen Erfahrungen und Erwartungen geprägt sind als durch die kritische historische Textauslegung.7 Ferner gibt es Wirkungen, die sich einer direkten Analyse teilweise entziehen, beispielsweise die Impulse, die von der Genfer Akademie oder den juristischen Ausbildungsstätten, an denen reformierte Professoren tätig waren, ausgingen. Hier sind exemplarische, kontextspezifische Analysen, die in die Institutionengeschichte und Biographieforschung hineinreichen, umso wichtiger. Schließlich ist auf die unbestreitbaren, aber in ihrem Gewicht schwer einschätzbaren Wirkungen zu verweisen, die von Calvin als einem ungemein fleißigen Briefschreiber und von den sorgsam placierten —————

6 J.J. Rousseau war dafür besonders sensibel. In einer Anmerkung zum „Contrat social“ hat er notiert: „Ceux qui ne considerant Calvin que comme théologien connoissent mal l’entendue de son génie. La redaction de nos sages Edits, à laquelle il eut beaucoup de part, lui fait autant d’honneur que son institution. Quelque révolution que le tems puisse amener dans notre culte, tant que l’amour de la patrie et de la liberté ne sera pas étaint parmi nous, jamais la mémoire de ce grand homme ne cessera d’y être en bénédiction.“ (Œuvres complètes III, Bibl. de la Pléiade, Paris 1964, 382). 7 Dies gilt exemplarisch für das Bild von Calvin als Tyrann: von Voltaire bis Reinhardt gibt es dafür eine stattliche Reihe von Beispielen. Barth hat notiert: „Der calvinische Gottesdienst ist ein Exerzierplatz, auf dem in jeder Beziehung der Imperator regiert. Und die Einzelheiten des viel bewunderten Genfer Lebenssystems kann man wirklich nicht kennen lernen, ohne dass einem Worte wie Tyrannei und Pharisäismus fast unwillkürlich auf die Lippen kommen. Keiner von uns, der wirklich Bescheid weiß, würde in dieser heiligen Stadt haben leben wollen.“ Doch dann fügt er sogleich hinzu: „Aber das beweist nur, dass wir eben nicht in einer Zeit reformatorischen Kampfes und überhaupt nicht in einer reformatorischen Zeit leben.“ (Theologie Calvins, 163) Die neuere Forschung hat in der Frage der Kirchendisziplin, wie in diesem Buch besonders der Beitrag von Dellsperger zeigt, zur Differenzierung des historischen Urteils sehr viel beigetragen; vgl. auch R.M. KINGDON, The Control of Morals in Calvin’s Geneva, in: DERS., Church and Society in Reformation Europe, London 1985, 3–16; J. WITTE, Jr. / R.M. KINGDON (Hg.), Sex, Marriage, and Family in John Calvin’s Geneva. Vol. 1: Courtship, Engagement, and Marriage, Grand Rapids / Cambridge 2005.

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Widmungen seiner Werke ausgingen, welche freilich nicht alle auf Gegenliebe stießen.8 2.4 Geschichtliche Kontinuitäten von Einsichten, Grundeinstellungen und Motiven Ein kommunikativ ungemein vielseitiger und ausgreifender Mensch wie Calvin, der, auch darin Luther ähnlich, sich konsequent der fortschrittlichen Medien seiner Zeit zu bedienen wusste, entfaltet auch Wirkungen, die man nicht in direkten kausal-personalen Einflüssen nachweisen kann. Dies gilt für alle Wirkungsfelder – von den zentralen theologischen Einsichten, wie sie in der Institutio und dem riesigen Corpus der Predigten, die noch immer nicht komplett ediert sind, angefangen über die moralischen Grundüberzeugungen bis hin zu Frömmigkeitsmotiven, unter denen der Zug zu strenger Askese nicht zu übersehen ist. Dies alles gehört zur Kultur- und Sozialgeschichte der frühen Neuzeit als eine unübersehbar wichtige, aber in vielfachen Brechungen, Mischungen und Umformungen wirksame Prägekraft, deren Analyse vor spezifische methodische Probleme stellt, wie beispielsweise die der Berücksichtigung der verschiedenen Semantiken und der Rhetoriken, der Unterscheidung der Kontexte und der Wahl der Vergleichsperspektiven. 2.5 Kritische Konfrontationen und Zurückweisungen Angesichts eines so dezidierten und kompromisslosen Gestaltungswillens, wie ihn Calvin, aber auch viele seiner Anhänger, verkörperten, konnte massiver Widerstand nicht ausbleiben. Das gilt sowohl innerkirchlich, angefangen mit den turbulenten Auseinandersetzungen in Genf selbst, als auch in den Auseinandersetzungen mit den Altgläubigen, sodann mit anderen Reformatoren und reformatorischen Strömungen, insbesondere den täuferischen, und schließlich auch für manche Außenwirkung jenseits kirchlicher Ordnungs- und Lehrgewalt. Wir verweisen exemplarisch auf die rüde Calvin-Kritik von Thomas Jefferson9 (1743–1826), des dritten Präsidenten der Vereinigten Staaten, der in seinem berühmten Brief an die Danbury Baptists vom 1. Januar 1802 energisch die Trennung von Staat und Kirche ————— 8

Vgl. A.I.C. HERON, Die Widmungen der neutestamentlichen Kommentare Johannes Calvins, in: M. SEITZ / K. LEHMKÜHLER (Hg.), In der Wahrheit bleiben. FS R. Slenczka, Göttingen 1996, 72–78. 9 Siehe die Hinweise in: M.D. BUSH, Calvinrezeption im 18. Jahrhundert, in: SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, (474–480) 477f. (Lit.).

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Einleitung

verteidigte und den „wall of separation between church & state“ beschwor.10 2.6 Legitimatorische Rezeption Eine Inanspruchnahme von Calvins authentischen oder ihm zugeschriebenen Lehren findet man in der Wirkungsgeschichte zuhauf. Wir haben in diesem Buch allein den niederländischen Neucalvinismus in der Gestalt von Abraham Kuyper berücksichtigt. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass im südafrikanischen Staat der Rassendiskriminierung sowohl zum Zwecke einer theologischen Legitimierung der Apartheid als auch zu deren Delegitimation auf Calvin Bezug genommen werden konnte, meist freilich nur recht selektiv.11 In der Sache selbst waren in diesem Fall indes weniger die Lehre Calvins kontrovers als die unverstellte Wahrnehmung und klare Beurteilung des politisch-sozialen, objektiven Unrechts, das durch die weiße Minderheit der schwarzen Bevölkerung angetan wurde. 2.7 Langzeit-Rezeptionen Das Bild Calvins, vielfach „von der Parteien Gunst und Hass verwirrt“ (Fr. Schiller), bedurfte des historischen Abstandes und intensiver Forschung, um in seinem Profil, seinen Kanten und Widersprüchen immer neu aufgehellt zu werden. Wenn wir recht sehen, ist erst im 20. Jahrhundert von römisch-katholischer Seite Calvins Werk als ein gemeinsames Erbe der Christenheit gewürdigt worden,12 so auch in diesem Band. Darauf aufbauend wäre zu prüfen, ob und wieweit die historischen Verurteilungen des Reformationszeitalters auch und gerade im Blick auf Calvin aus heutiger Sicht noch stichhaltig sind oder grundlegend revidiert werden müssen. ————— 10

Im Internet zugänglich: http://www.usconstitution.net/jeffwall.html (27.02.2011). Siehe dazu den Beitrag von C. LIENEMANN-PERRIN, Calvin-Lektüren in Südafrika, im Sammelband zur Berner Ringvorlesung 2009 mit dem Titel „Johannes Calvin 1509–2009. Würdigung aus Berner Perspektive“. 12 Zur katholischen Calvinforschung vgl. E.-M. FABER, Symphonie von Gott und Mensch. Die responsorische Struktur von Vermittlung in der Theologie Johannes Calvins, NeukirchenVluyn 1999; A. GANOCZY, Kirche und Sakrament bei Calvin in der Sicht der Calvin-Vorlesung Barths, in: H. SCHOLL (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger CalvinVorlesung von 1922, Neukirchen 1995, 140–154; DERS., Le jeune Calvin. Genèse et Evolution de sa Vocation Réformatrice, VIEG 40, Wiesbaden 1966; H. SCHOLL, Calvinus Catholicus. Die katholische Calvinforschung im 20. Jahrhundert, ÖF.E 7, Freiburg i.Br. u.a. 1974; H. SCHÜTZEICHEL, Katholische Calvin-Studien, TThSt 37, Trier 1980; DERS., Katholische Beiträge zur Calvinforschung, TThSt 42, Trier 1988; DERS., In der Schule Calvins, Trier 1996. 11

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3. Verantwortetes Erbe Eine Erbschaft kann eine beglückende wie eine bedrückende Sache sein. Es ist zunächst einmal eine bloße Hinterlassenschaft. Meist handelt es sich – jedenfalls wenn es um historische Gestalten geht – um deren literarischen Nachlass. Erst im Zeitalter des Historismus hat man damit begonnen, die umfangreichen, Respekt einflößenden, historischen Textsammlungen herauszugeben. Calvin, Goethe, Kant, Luther – die großen, bis heute unverzichtbaren Editionen wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen. In vielerlei Hinsicht erfüllen sie seit langem nicht mehr die Ansprüche an eine wirklich kritisch zu nennende Ausgabe, aber sie sind unverzichtbar. Man kann vermuten, ja sicher sein, dass im Zeitalter der elektronischen Datensicherung die literarischen Hinterlassenschaften in Gestalt von elektronisch gespeicherten Texten mit vielfältigen Suchfunktionen gewaltig zunehmen werden. Die das historische Gedächtnis entlastenden Wohltaten von Motten, Moder und Rost entfallen. Schon jetzt tun sich viele Studierende mit der Aufgabe schwer, im unübersichtlichen Gewühl des auch noch Interessanten die Goldkörner herauszufinden. Marx’ eingangs zitiertes Wort bekommt so ein ganz neues Gewicht. Wie bei anderen Gestalten, Werken und Ereignissen kann man auch bei Calvin Wirkungsgeschichten und Rezeptionsgeschichten unterscheiden. Mögen diese auch zwei Seiten einer Medaille sein, so scheinen sie sich nicht symmetrisch zu ergänzen, sondern können gleichsam zeitversetzt begegnen. So gehören zur aktiven Rezeptionsgeschichte sicher die großen editorischen Anstrengungen, aber diese können als solche nicht bewirken, dass eine Person oder ein Werk tatsächlich zur Kenntnis genommen werden, wie umgekehrt auch in Zeiten einer scheinbaren Nicht-Beachtung oder gar Distanzierung eine große, unauffällige oder implizite Wirkung zumindest im Nachhinein zu beobachten sein kann, wie an Jonathan Edwards (1703– 1758) zu sehen, der entschieden bestritt, von Calvin abhängig zu sein und doch für dessen Wirkung in der „Neuen Welt“ Entscheidendes beigetragen hat. Was kann dann heißen: „ein Erbe erwerben“? Ein Erbe fällt nicht einfach zu, es gibt nicht bloß einen Erb-Lasser, sondern ein Erbe will übernommen, angeeignet, kritisch gesichtet, ausgewählt, glossiert und kommentiert, bejaht oder zurückgewiesen sein: „Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu besitzen“13. Die Erben treten in einen freien Diskurs mit —————

J.W. VON GOETHE, Faust I, V. 682f., Goethes Werke III, München 111981, 29. Zu Barths Rezeption dieser Sentenz vgl. M. FREUDENBERG, Karl Barth und die reformierte Theologie. Die Auseinandersetzung mit Calvin, Zwingli und den reformierten Bekenntnisschriften während seiner 13

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Einleitung

dem Erblasser ein. Nicht von ungefähr kann man gemäß dem bürgerlichen Erbrecht ein Erbe auch ausschlagen. Denn zu einem Erbe gehören nicht nur Rechte, sondern (oft) auch Pflichten, bisweilen gar Schulden. Da beginnt die harte Arbeit an und mit dem Erbe. Vermutlich gilt vom geschichtlichen Erbe immer noch das Wort des spanisch-amerikanischen Geschichtsphilosophen George Santayana (1863–1952): „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.“14 Zu den großen Chancen der Nachgeborenen heute gehört, sich zu einem Erbe in ein emanzipiertes, differenziertes Verhältnis setzen zu können. Das gilt auch und besonders für ein nicht-materielles, ein so genanntes „geistiges“ Erbe, wenngleich auch ein solches sehr wohl materielle, physische und soziale Bedeutung und Folgen haben kann. Eine kritische Edition ist dabei eine unschätzbare Hilfe. Entscheidend aber sind die eigene Lektüre, kritische Verstehensbemühung und selbständige Ausbildung einer tragfähigen Überzeugung. Barth hat das sehr schön auf den Punkt gebracht: Unsere Belehrung durch Calvin muß sich vielmehr in der Weise vollziehen, daß Calvin mit uns ein Gespräch führt, er als der Lehrer, wir als die Schüler, er als der, der das Wort führt, wir als die, die sich bemühen, möglichst genau hinzuhören, um uns dann, und darauf kommt Alles an, auf das, was wir hören, unseren eigenen Vers zu machen – denn wenn es nicht dazu kommt, hätten wir ebensogut etwas Chinesisches hören können, und der historische Calvin ist dabei jedenfalls nicht zur Stelle gewesen; denn der will belehren und nicht bloß etwas sagen zum Nachsagen – ein Gespräch also, das möglicherweise damit endigt, daß wir als Belehrte nachher etwas ganz Anderes sagen, als was Calvin gesagt hat, und was wir darum doch von ihm oder besser: durch ihn gelernt haben. Magistra und darum historia wird die Lehre Calvins erst dadurch, daß durch sie ein eigenes, selbständiges, die Lehre Calvins grundsätzlich überflüssig machendes Wissen in uns erweckt wird, gleichviel wie viel oder wenig wir uns dabei von Wort und Lehre des Meisters direkt zu eigen machen können.15

————— Göttinger Lehrtätigkeit, Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen, Bd. 8, Neukirchen-Vluyn 1997, 282f. Vgl. auch DERS., Das reformierte Erbe erwerben. Karl Barths Wahrnehmungen der reformierten Theologie vor 1921, ThZ 54, 1998, 36–54. 14 G. SANTAYANA, The Life of Reason, vol. 1, New York 1905, 115. 15 BARTH, Theologie Calvins, 5f.

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I. Die Erbschaft Calvins Theologiegeschichtliche Resonanzen auf thematische Impulse Calvins

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Matthias Freudenberg

Calvins Einfluss auf die Entwicklung des reformierten Verständnisses der Kirche1

Genf im Jahr 1536. Wilhelm Farel entdeckte in einem Gasthaus den durchreisenden Johannes Calvin, sprach ihn an, redete auf ihn ein, ja bedrohte ihn, in Genf zu bleiben. Zwei Jahrzehnte später erinnerte sich Calvin an diese Szene, als er 1557 in der Vorrede zur Psalmenauslegung sein Leben Revue passieren ließ: Dann aber wurde ich in Genf nicht in erster Linie durch einen Rat oder eine Ermahnung, sondern vielmehr durch eine furchtbare Beschwörung Wilhelm Farels festgehalten, als ob Gott vom Himmel her seine starke Hand auf mich gelegt hätte.2

Nicht länger als eine Nacht habe er in Genf bleiben wollen, doch da richtete Farel „alle Anstrengungen beharrlich darauf, mich dazubehalten“.3 Am Ende dieser Bemühungen, Calvin in die Neuordnung der Genfer Kirche einzubeziehen, stand kein Segen, sondern ein Fluch: „Gott möge meine Ruhe verwünschen, wenn ich mich in einer solchen Notlage der Hilfeleistung entziehe.“4 Erschrocken willigte Calvin ein. Ob er dem Drängen nachgegeben hätte, wenn er damals geahnt hätte, welche Auseinandersetzungen er in Genf bestehen musste? Schließlich wartete auf ihn die Aufgabe, nicht nur eine Kirchenordnung zu verfassen, sondern grundsätzlich theologisch zu entfalten, was das Wesen der Kirche ist und welchen Dienst sie in der Welt zu leisten hat. Streit war bei einer solchen immensen Herausforderung vorprogrammiert. Kurz vor seinem Tod sprach Calvin davon, dass man sogar Hunde auf ihn gehetzt und geschrien habe: „Faß, faß!“5 Seine Arbeit wurde immer wieder von theologischen Gegnern und vom Genfer Rat in Frage gestellt. Umgekehrt räumte Calvin kurz vor seinem Tod in einer Abschiedsrede an die Pfarrer ein: „Ich habe viele Schwächen gehabt, die —————

1 Eine gekürzte Fassung dieses Beitrages ist unter dem Titel „Calvin und die Entwicklung des reformierten Verständnisses der Kirche“ abgedruckt im Sammelband: M. FREUDENBERG / J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY (Hg.), Calvin und seine Wirkungen. Vorträge der 7. Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 13, Neukirchen-Vluyn 2009, 59–79. 2 CStA 6, 28f. (Vorrede zum Psalmenkommentar, 1557). 3 Ebd. 4 Ebd., 30f. 5 CStA 2, 296f. (Abschiedsrede an die Genfer Pfarrer, 1564).

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Ihr ertragen mußtet.“6 Calvin sagte das nicht nur deshalb, weil er um seine persönlichen Grenzen und Schwächen wusste, sondern weil es zu seinem theologischen Verständnis der Kirche gehörte, dass diese in der Spannung von begrenztem Menschenwerk und göttlicher Verheißung existiert.

1. Der Grund der Kirche Wie ein roter Faden durchzieht Calvins Ekklesiologie der Sinngehalt der ersten Berner These von 1528: „Die heilige christliche Kirche, deren einziges Haupt Christus ist, ist aus dem Worte Gottes geboren, bleibt in demselben und hört nicht die Stimme eines Fremden.“7 Auch Calvin sprach von Christus als dem einen Haupt der Gläubigen, die untereinander Gemeinschaft haben.8 Aber anders als Ulrich Zwingli9, Berthold Haller und Franz Kolb trug Calvin den Erwählungsgedanken in die Begründungsstruktur der Kirche ein: Die Kirche ist laut Genfer Katechismus von 1545 die „Schar der Gläubigen, die Gott zum ewigen Leben auserwählt hat“.10 Es ist also der Erwählungsgedanke – und zwar nicht in individualisierter, sondern in kollektiver Fassung –, der Calvin als Leitmotiv diente, um den Grund der Kirche zu bestimmen.11 Als vom dreieinigen Gott zum ewigen Leben erwählte „Schar der Gläubigen“12 lebt die Kirche zu dem Zweck, Menschen in die Gemeinschaft mit Christus zu führen und in dieser zu bewahren. Und in einer beziehungsreichen Metapher am Anfang von Buch IV der Institutio schreibt Calvin, dass Gott seine Kinder im Schoß der Kirche versammeln will.13 Die Sammlung in der Gemeinschaft mit Christus hat ihr Ziel darin, die Glieder im Glauben zu unterrichten, in der christlichen Weisheit zu stärken und in der Bindung an Christus zu erhalten. Auf dieses Ziel sind die Institutionen und Lebensäußerungen der Kirche ausgerichtet: die Kirchenordnung, die kirchlichen Ämter, die Kirchenzucht, die Sakramente. Im Hintergrund steht der Gedanke des Gottesbundes, von dem aus Calvin die bleibende Zusammengehörigkeit der Kirche zum erwählenden dreieinigen Gott, aber auch die Einheit untereinander beschrieb. Als in ————— 6

Ebd., 298f. Berner These 1, in: Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von G. PLASGER / M. FREUDENBERG, Göttingen 2005, 24. 8 Vgl. u.a. Inst. (1559), II,16,18; IV,1,2f.; IV,6,8; CStA 2, 30f. (Frage 54, Genfer Katechismus, 1545); CStA 3, 72f. (Streitschrift gegen die Artikel der Sorbonne, 1544). 9 Vgl. U. ZWINGLI, Christliche Antwort Zürichs an Bischof Hugo (1524), in: Z III, 153–229. 10 CStA 2, 44f. (Frage 93, Genfer Katechismus, 1545); vgl. auch Inst. (1559), IV,1,2–4. 11 Zu diesem Aspekt von Calvins Ekklesiologie vgl. auch G. PLASGER, Art. Kirche, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (317–325) 318f. 12 CStA 2, 44f. (Frage 93, Genfer Katechismus, 1545). 13 Inst. (1559), IV,1,1. 7

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Gottes erwählendem Handeln begründete Gemeinschaft ist die Kirche keine metaphysische Anstalt, sondern hat eine erkennbare lebendige Gestalt. Wenn Calvin sich konkret zum Wesen der Kirche äußerte, nannte er sie analog zur von Gott geschaffenen Welt einen Ort seiner Güte. Auf irdische Weise bildet sie gemeinsam mit der Ordnung, die sie sich gibt, den himmlischen Organismus von Gottes Welt ab, in der seine Ehre unablässig erzählt und bekannt gemacht wird.14 In der Kirche geben die Christen Auskunft über ihren Glauben, bestärken sich gegenseitig in ihrer Hoffnung und dienen einander in der Liebe. Mit der Kirche hat Gott einen Ort in der Welt aufgetan, an dem Menschen ihr Leben in der ihnen geschenkten Freiheit gestalten und öffentlich sichtbar zum Ausdruck bringen können. So sehr Calvin seiner Gemeinde das Nachdenken über die Ewigkeit und die Ausrichtung auf sie empfahl15, so entschieden warnte er davor, aus der Gegenwart gleichsam herauszuspringen und vor den Herausforderungen der Wirklichkeit zu fliehen: Warum den Flug in die Luft nehmen und den festen Boden verlassen, der doch der Schauplatz der Güte Gottes ist? […] Es muss der Fuß fest auf der Erde stehen, ist sie doch die Stätte, auf der wir nach Gottes Anordnung eine Zeitlang weilen.16

Auf der Erde zu sein und in der Gemeinschaft mit anderen Menschen Gott zu loben bedeutet, der Wirklichkeit treu zu bleiben. Das hat praktische Folgen. Calvin interessierte sich im Verlauf seiner theologischen Biografie zunehmend für die Sichtbarkeit der Kirche. In ihr soll erkennbar werden, welchem Herrn die Gemeinde angehört, um dann gemeinsam zu bekennen: „Nicht uns selber gehören wir, Gott gehören wir.“17 Calvins Aufmerksamkeit und theologische Leidenschaft galt dem Zweck, dass die Kirche in ihrem gottesdienstlichen und alltäglichen Leben nicht nur Gott die Ehre gibt, sondern auch eine identifizierbare Gestalt erhält als Gemeinschaft, die dem Evangelium von Jesus Christus verbunden bleiben will. Als Christi Leib (1Kor 12,12ff.) ist die Kirche allein an ihn gebunden und nicht an ein kirchliches Lehramt oder eine äußerliche politische Instanz, wie Calvin 1544 gegenüber den Theologen der Pariser Universität Sorbonne betonte: Wir alle bekennen, daß es eine allgemeine Kirche gibt und von Anfang der Welt an gegeben hat und bis zu ihrem Ende geben wird. In Frage steht die äußere Erscheinung, an der man sie erkennen kann. Nach unserer Überzeugung liegt sie im Wort Gottes. Oder besser gesagt darin, daß Christus ihr Haupt ist. Darum behaupten wir:

————— 14

CStA 6, 22f. (Vorrede zum Psalmenkommentar, 1557); vgl. CStA 6, 76–111 (Kommentar zu Ps 19). 15 Zur „meditatio futurae vitae“ vgl. Inst. (1559), III,9f. 16 CO 23, 37 (Kommentar zu Gen 2,8). 17 Inst. (1559), III,7,1.

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Wie nun ein Mensch an seinem Gesicht erkannt wird, so muß man die Kirche in Christus anschauen. […] Laßt uns deshalb festhalten, daß die Kirche sichtbar ist, wo Christus erscheint und wo sein Wort gehört wird, wie geschrieben steht: „Meine Schafe hören meine Stimme“ (Joh 10,27).18

Es geht um die Entsprechung der empirischen Kirche zu ihrem Grund und Auftrag – eine Entsprechung, die sich letztlich nicht der Gutwilligkeit ihrer Glieder, sondern dem Wirken des Heiligen Geistes verdankt. Erwählt durch Gott, in der Gemeinschaft mit ihrem Herrn Jesus Christus und lebendig in der Wirkung des Heiligen Geistes: So entwarf Calvin eine durchaus trinitarische Ekklesiologie.

2. Predigt hören, an den Sakramenten teilhaben, mit dem Leben Zeugnis ablegen Mit Reformatoren wie Leo Jud, Wolfgang Capito und Martin Bucer teilte Calvin die Überzeugung, dass es zu einer wirklichen Reformation der Kirche nur auf Grundlage der gelesenen und gepredigten ganzen Heiligen Schrift kommen kann. In der Vorrede für die Genfer Bibeldrucke von 1546 machte er auf den unerschöpflichen Schatz der Bibel aufmerksam. Sie ist der „Schlüssel, der uns das Reich Gottes öffnet“, ein „Spiegel, in welchem wir Gottes Angesicht betrachten“ und das „Zeugnis seines guten Willens“.19 Außerdem bezeichnete er sie als „Weg“, „Schule der Weisheit“, „königliches Zepter“ und göttlichen „Hirtenstab“.20 Calvin präzisierte seine Hochschätzung der Bibel, indem er sie als „Instrument seines Bundes“ benannte, den Gott „mit uns geschlossen hat, indem er durch seine freie Gnade die Verpflichtung eingegangen ist, durch ein ewiges Band mit uns verbunden zu sein“.21 Die Bibel eröffnet den Zugang zum heilsamen Herrschaftsbereich Gottes wie ein Schlüssel zu einem sonst verschlossenen Raum. Sie ermöglicht den Menschen die Erkenntnis Gottes und ihre Selbsterkenntnis.22 Und sie begleitet die Gemeinde auf ihrem Weg durch die Zeit. Durch ihr Zeugnis des göttlichen Willens lockt Gott die Menschen zu sich, indem er in ihnen das Vertrauen in seine väterliche Treue weckt. In der Predigt sah Calvin darum die wesentliche Grundlage zum Gemeindeaufbau. So ent————— 18

CStA 3, 72–75 (Streitschrift gegen die Artikel der Sorbonne, 1544). CO 9, 823; Evangelische Bibelvorreden von der Reformation bis zur Aufklärung, hg. von J. QUACK, Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 43, Tübingen 1975, (113–115) 113. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Inst. (1559), I,1,1–3; I,2,1f. 19

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deckte er etwa in den Psalmen „vielfältige und glänzende Reichtümer“ und einen „Schatz“23, der dem „Aufbau der Kirche“24 zugute kommt. Geradezu „himmlische(r) Weisheit“25 vermitteln die Psalmen und leiten zur Anrufung und zum Lob Gottes an. Dieser die Zeiten überdauernden und durch die Zeiten tragenden Worte bedient sich der Heilige Geist, um die Kirche zu leiten, um die Gemeinschaft mit Christus zu wirken, um Menschen zu trösten und um sie in christlicher Freiheit ihr Leben gestalten zu lassen.26 Zur dieser sichtbaren Kirche sind die Menschen zu zählen, „die durch das Bekenntnis des Glaubens, durch das Beispiel ihres Lebens und die Teilhabe an den Sakramenten zusammen mit uns den gleichen Gott und Christus bekennen“.27 Angesichts von Calvins Hochschätzung der Kirchenordnung und der Kirchenzucht (disciplina) fällt auf, dass er in den Spuren von Artikel VII der Confessio Augustana nur das unverfälscht (sincere) gepredigte Wort Gottes (mit dem darauf bezogenen Hören der Gemeinde und die rechte Verwaltung der Sakramente nach Christi Einsetzung zu den Kennzeichen der Kirche (notae ecclesiae) zählte. Allerdings wurde schon bald in calvinisch geprägten Bekenntnissen der Geltung von Kirchenordnung und Kirchenzucht dadurch Rechnung getragen, dass sie als konstitutiv für das Wesen der Kirche benannt wurden.28 Damit knüpften diese Bekenntnisse an Calvins Grundüberzeugung an, dass das Bekenntnis mehr als ein liturgischer Vollzug ist: Bekenntnis geschieht auch in der Heiligung, und deren Merkmal ist nicht zuletzt das Beispiel, das ein Mensch mit seinem Leben gibt. Calvin lag an der ethischen Integrität und Ausstrahlung der Gemeinde, der man ansehen soll, dass sich ihre Glieder in der Nachfolge des auferstandenen Herrn befinden und davon Zeugnis ablegen.

3. Dreifaches Amt Jesu Christi und der Gemeinde Als Haupt der Kirche, neben dem es kein irdisches Oberhaupt in der Kirche geben kann, übt Jesus Christus ein dreifaches Amt aus: als Prophet, Priester ————— 23

CStA 6, 20f. (Vorrede zum Psalmenkommentar, 1557). Ebd., 40f. 25 Ebd., 20f. 26 CO 5, 393. 27 Inst. (1559), IV,1,8. 28 Inst. (1559), IV,1,9 nennt zwei notae ecclesiae; Art. 18 der Confessio Scotica (1560) und Art. 29 der Confessio Belgica (1561) nennen drei notae ecclesiae. Vgl. auch C. STROHM, Art. Recht und Kirchenrecht, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (392–401) 395–398. 24

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und König.29 Es gehört zu den theologischen Innovationen Calvins, dass er aus der biblischen Vorstellung von den drei Ämtern des alttestamentlichen Gesalbten christologische und ekklesiologische Ableitungen entwickelt hat. Ihm zufolge vollzieht sich das Wirken des Gesalbten Jesus Christus dreifach: indem er das Evangelium offenbart (prophetisches Amt), indem er den Sünder mit Gott versöhnt (priesterliches Amt) und indem er als Auferstandener zur Rechten Gottes regiert (königliches Amt). Die Pointe dieser Lehre liegt in ihrer ekklesiologischen Dimension, der Teilhabe der Christen an diesen Ämtern Christi. So habe Christus „diese Salbung nicht für sich allein“ empfangen, „sondern für seinen ganzen Leib, damit in der immerwährenden Verkündigung des Evangeliums die Kraft des Geistes sich entsprechend auswirke“.30 In Analogie zur geistgewirkten Mitteilung der drei Ämter an Christus erklärte Calvin die Christen zu Teilhabern an Christi Ämtern.31 Das prophetische Amt nimmt Christus als „Gottes Gesandter und Ausleger“ wahr, um „den Willen des Vaters vollständig darzulegen“.32 Auf Seiten der Christen entspricht dem ihre wahre Erkenntnis und Schülerschaft Gottes, indem sie das Evangelium öffentlich ins Gespräch bringen und ansagen, was an der Zeit ist.33 Das priesterliche Amt ist der Vollzug des Leidens und Sterbens Christi. Auf Seiten der Christen entspricht dem ihr neu eröffneter Zutritt zu Gott. Die Gemeinde ist durch die Versöhnung dazu herausgefordert, „voller Vertrauen vor sein Angesicht [zu] treten“, um sich und alle Güter ihm als Dankopfer darzubringen.34 Von hier aus lässt sich das priesterliche Amt verstehen als Fürbitte und als Lebensorientierung im Sinne der Bereitschaft, Gott und seiner Schöpfung mit dem eigenen Leben zu dienen. Das königliche Amt meint die Herrschaft Christi zur Rechten Gottes. Christus regiert durch Gottes Wort und Geist, und diese Herrschaft bringt „Gerechtigkeit und Leben“ mit sich. Auf Seiten der Christen entspricht dem die Befreiung zu einem „frommen und heiligen Leben“.35 Dieses Leben wirkt sich darin aus, dass die lebensfeindlichen Gewalten überwunden werden.36 Christ—————

29 Inst. (1559), II,15; CStA 2, 24–27 (Fragen 34–39, Genfer Katechismus, 1545); vgl. M. Freudenberg, Das dreifache Amt Christi – eine „längst ausgepfiffene Satzung der Schultheologen“ (H.Ph.K. Henke)? Zum munus triplex in der reformierten Theologie und seiner Bedeutung für das ökumenische Gespräch, in: J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY / H.J. SELDERHUIS (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 8, Wuppertal 2004, 71–96. 30 Inst. (1559), II,15,2. 31 CStA 2, 26f. (Fragen 40f., Genfer Katechismus, 1545). 32 Ebd., 26f. (Frage 39). 33 Ebd., 28f. (Frage 44); vgl. Inst. (1559), II,15,2. 34 CStA 2, 28f. (Frage 43); vgl. Inst. (1559), II,15,6. 35 CStA 2, 28f. (Frage 42); vgl. Inst. (1559), II,15,3–5. 36 Ebd.

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liches Leben ist befreites Leben, das den lebensfeindlichen Gewalten trotzt. Es liegt auf der Hand, dass sich von hier aus Implikationen für die Ethik und die Hoffnung der Gemeinde ergeben. Das Ziel von Calvins Argumentation liegt in der Mitteilung der Ämter Christi an und im Nutzen für die Gemeinde. Diese sieht in Christi Ämtern die Begründung für ihr eigenes Handeln. Die Gemeinde als Leib Christi hat Gemeinschaft mit Christus, Anteil an ihm und versteht ihr Dasein als Dienst. Vom Gedanken der Teilhabe der ganzen Gemeinde an den Ämtern Christi abgeleitet ist die Entfaltung des vierfachen Amtes im Sinne von institutionalisierten Funktionen.

4. Die Kirche und ihre Ordnung Calvin war der Überzeugung, dass sich christliche Freiheit und kirchliches Gestalten in einer verpflichtenden Ordnung vollziehen sollen.37 Das geschieht unter der Voraussetzung, dass nicht die Kirche selbst das Reich Gottes und darum auch keine Kirchenordnung ewig ist; vielmehr können Kirchenordnungen verändert oder sogar außer Kraft gesetzt werden. Wie die Kirche, so bezeugt auch ihre Ordnung das Kommen von Gottes Reich. Calvin und die von ihm inspirierten Kirchenordnungen brachten zum Ausdruck: In den hier umschriebenen Ordnungen und Lebensvollzügen wollen wir dem Evangelium von Jesus Christus entsprechen. Insofern haben Kirchenordnungen Zeugnischarakter, indem sie Zeugnis vom Herrn der Kirche im konkreten kirchlichen Leben ablegen und zugleich der Auferbauung der Gemeinde dienen.38 Calvin trat dafür ein, dass die Kirche auch äußerlich immer als das erkannt werden muss, was sie ist: als Volk Gottes, als Gemeinde Jesu Christi, als Stadt auf dem Berg, als wanderndes Gottesvolk. Dass Christus in seiner Kirche allein herrschen sowie ihre Botschaft, Gestalt und Ordnung bestimmen muss, ist sein Hauptanliegen. Die Ordnung darf von keinen fremden Satzungen oder Gesichtspunkten, auch nicht durch Beliebigkeit, beeinflusst sein. Das zeigt sich besonders in Calvins Bestimmung der kirchlichen Ämter, bei der er einen anderen Weg ging als Martin Luther, der in seiner Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation von 1520 zwar programmatisch den Gedanken des allgemeinen Priestertums der Glaubenden entwickelte, faktisch jedoch das Pfarramt und die Obrigkeit zu den Trägern und Konstanten der Kirchenverfassung machte.39 Calvin hingegen entwickelte eine in ————— 37 38 39

Vgl. CStA 2, 227–279 (Calvins Genfer Kirchenordnung, 1541/61). Inst. (1559), IV,10,32: „ad ecclesiae aedificationem“. WA 6, 404–469.

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Eph 4,11 begründete Ämterstruktur. Die Ämter verstand er als gegliederte Dienste und Werkzeuge Christi, der allein in der Kirche regiert.40 Eine Generation weiter als Luther kämpfte er nicht mehr so sehr gegen die Hierarchie der Papstkirche, sondern wollte das bisher Erreichte konsolidieren und zugleich gegen die Übergriffe der Obrigkeit sichern – darin übrigens unterschied er sich vom staatskirchlichen Zürcher Modell. Laut Genfer Kirchenordnung von 1541/61 sollte die Kirche zeichenhaft etwas von der Herrschaft des Auferstandenen sichtbar machen. Schon die bloße Existenz der Kirche ist ein Vorzeichen von Christi eschatologischem Sieg, und das sollen die unterschiedlichen Dienste innerhalb der Kirche abbilden. Es geht um den sichtbaren Zusammenhalt der Gemeinde, der es erforderlich macht, dass es Dienste nur im Plural gibt. Seit Calvins Kirchenordnung wurden regelmäßig folgende Dienste unterschieden: a) Der Dienst der Pastoren Ihre Aufgabe ist es, sowohl in der Öffentlichkeit als auch gegenüber Einzelnen das Wort Gottes zu verkünden: zu lehren, zu ermahnen, zurechtzuweisen und zu tadeln. Sie sollen aber auch die Sakramente verwalten und zusammen mit den Ältesten oder Ratsbeauftragten die brüderlichen Zurechtweisungen vornehmen. Damit aber in der Kirche keine Unordnung herrscht, soll sich keiner in ein solches Amt hineindrängen, der nicht dazu berufen wird. Hierbei müssen drei Dinge bedacht werden, nämlich die Prüfung, die das wichtigste ist, weiter, wer die Pfarrer einsetzen darf, und drittens die Form oder Vorgehensweise bei ihrer Amtseinsetzung.41

b) Der Dienst der Doktoren Die besondere Aufgabe der Doktoren besteht darin, die Gläubigen in der heilsamen Lehre zu unterweisen, damit die Reinheit des Evangeliums weder durch Unkenntnis noch durch Irrlehren getrübt wird. Beim heutigen Stand der Dinge verstehen wir darunter jeden Dienst und jede Verrichtung, die der Förderung des Nachwuchses gilt und dafür sorgt, daß die Kirche nicht aus Mangel an Pastoren und Pfarrern verwaist. Wir wollen es, um einen verständlicheren Ausdruck zu verwenden, das Amt der Lehrer nennen. Dem Pastorenamt am nächsten und mit der Leitung der Kirche am engsten verbunden ist dabei der theologische Unterricht, der das Alte und das Neue Testament umfassen sollte. Damit dieser Unterricht Gewinn bringt, muß man zuerst Sprachkenntnisse und eine allgemeine Bildung besitzen. Aus diesem Grund – weil es nötig ist, im Blick auf die Zukunft Nachwuchs zu fördern, damit die Kirche unseren Kindern nicht in einem schlechten Zustand überlassen wird – muß ein Gymnasium eingerichtet werden, um die Schüler zu unterrichten und sie sowohl auf den Kirchendienst wie auf ein politisches Leitungsamt vorzubereiten. Wie hier vorzugehen ist,

————— 40 41

Inst. (1559), IV,3,1. CStA 2, 238–241 (Calvins Genfer Kirchenordnung, 1541/61).

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findet sich in der Schulordnung. Es soll in der Stadt keine andere Schule für die Schulkinder geben; die Mädchen aber sollen wie bisher ihre eigene Schule haben.42

c) Der Dienst der Ältesten Ihre Aufgabe besteht darin, auf die Lebensführung eines jeden zu achten und diejenigen freundschaftlich zu ermahnen, die sie Fehltritte tun oder in unordentlichen Verhältnissen leben sehen. Wo nötig, sollen sie dem ganzen Kreis Mitteilung machen, der für die brüderliche Zurechtweisung zuständig ist, und sie mit ihm gemeinsam vornehmen. Entsprechend der Gestalt und Ordnung der hiesigen Kirche wäre es gut, hierbei zwei Vertreter aus dem Kleinen Rat, vier aus dem Rat der Sechzig und sechs aus dem Großen Rat auszuwählen. Es sollen Leute mit ehrbarem und anständigem Lebenswandel sein, tadellos und über jeden Verdacht erhaben, die vor allem Gott fürchten und geistliche Klugheit besitzen. Damit sie alles überblicken können, soll bei ihrer Wahl darauf geachtet werden, daß jedes Quartier der Stadt vertreten ist.43

d) Der Dienst der Diakone In der Alten Kirche hat es immer zwei Arten von Diakonen gegeben: Die einen waren damit beauftragt, das Armengut entgegenzunehmen, zu verteilen und zu verwalten, sowohl tägliche Almosen, als auch Besitztümer, Zinsen und Renten. Die anderen waren damit beauftragt, sich um die Kranken zu kümmern und sie zu pflegen, und die Armen zu speisen. Dem sollten sich alle christlichen Städte anschließen, so wie wir uns darum bemüht haben und dies auch in Zukunft tun werden: Wir haben nämlich bereits Fürsorger und Verantwortliche für die Spitäler. Damit Ordnung herrscht, soll einer der vier Fürsorger das gesamte Gut des Spitals verwalten und dafür einen angemessenen Lohn erhalten, so daß er sein Amt besser ausüben kann. Es soll wie bisher bei vier Fürsorgern bleiben. Einer von ihnen soll, wie gesagt, mit der Güterverwaltung beauftragt sein. Das hat den Zweck, daß die Vorräte zur rechten Zeit angelegt werden und damit Spender von Armengaben sicherer sein können, daß die Güter nicht anders als in ihrem Sinn verwendet werden. Wenn die Einkünfte aber nicht ausreichen, oder wenn ein außerordentlicher Bedarf besteht, so soll der Rat entscheiden, ob je nach Notwendigkeit noch etwas hinzugefügt werden muß. Die Wahl sowohl der Fürsorger wie der Verantwortlichen für die Spitäler soll so vor sich gehen wie die der Ältesten, die vom Rat zum Konsistorium beauftragt wurden. Dabei soll man der Regel folgen, die Paulus in I Timotheus 3 für die Diakone angibt. Was Amt und Befugnis der Fürsorger angeht, bestätigen wir die bereits erlassenen Vorschriften. In dringenden Fällen, wo sonst Gefahr bestünde, in Verzug zu geraten, und grundsätzlich dort, wo keine besonderen Schwierigkeiten vorliegen und es sich nicht um große Ausgaben handelt, sollen sie nicht verpflichtet sein, dauernd zusammen zu kommen; einer oder zwei können in Abwesenheit der anderen das Nötige veranlassen.44

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Ebd., 252f. Ebd., 254f. Ebd., 256f.

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Die kollegiale Leitung der Gemeinde – Calvin sprach in einer schönen Metapher vom Zusammenklingen der verschiedenen Dienste45 – bedeutet nicht Herrschaft über, sondern Dienst an der Gemeinde, von der die Berufung in diese Dienste ausgeht. Diese Kirchenstruktur bringt drei Grundüberzeugungen zum Ausdruck: erstens die Herrschaft Jesu Christi, der in seiner Kirche kraft des Heiligen Geistes durch sein Wort regiert; zweitens die zentrale Stellung des Dienstes an Wort und Sakrament und drittens die Aktivierung und Sendung der ganzen Gemeinde. Ein Instrument, um den Zusammenhalt der Gemeinde zu gewährleisten, ist die Kirchenzucht.46 Inzwischen sind die Akten des für die Kirchenzucht zuständigen Konsistoriums zum Teil veröffentlicht47; ihnen lässt sich entnehmen, dass das stellvertretend für die ganze Gemeinde handelnde Konsistorium die Aufgabe hatte, das Verhalten der Kirchenmitglieder zu beobachten und sicherzustellen, dass jeder nicht nur der christlichen Lehre zustimmte, sondern auch ein christliches Leben führte. Das Konsistorium war aus den Pfarrern und zwölf Ältesten zusammengesetzt, wobei die politische Obrigkeit dadurch mitwirkte, dass die Mitglieder des Großen Rates die von den Pfarrern vorgeschlagenen Ältesten in das Konsistorium abgeordnet haben. Gewählt wurden zwei Vertreter aus dem Kleinen Rat, vier aus dem Rat der Sechzig und sechs aus dem Großen Rat, wobei „jedes Quartier der Stadt vertreten“ sein sollte.48 Das Recht dieses kollegial zusammengesetzten und wöchentlich tagenden Konsistoriums bestand darin, Verhöre durchzuführen und Ermahnungen auszusprechen, auch den – von Calvin nach langen Kämpfen durchgesetzten, allerdings selten praktizierten – Ausschluss vom Abendmahl zu veranlassen und schwierige Fälle an den Kleinen Rat weiterzuleiten; selber konnte das Konsistorium keine Strafen verhängen. Der häufigste Fall waren die Ermahnungen. Die Protokolle zeigen Calvin als einen Pfarrer, der sich darum bemühte, die Beziehungen der Gemeindeglieder zu ihren Verwandten und Nachbarn, aber auch zur gesamten Gemeinde zu klären und zu bessern. Das Konsistorium sollte letztlich zur —————

45 CO 51, 196 (Kommentar zu Eph 4,11–14): „sicut varii toni in musica suavem melodiam conficiunt“; vgl. J. CALVIN, Auslegung der kleinen Paulinischen Briefe, übers. von O. WEBER, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift N.R. 17, Neukirchen-Vluyn 1963, 163. Dazu: G. PLASGER, Die Dienste in der Gemeinde. Impulse aus der Ämterlehre Calvins für die gegenwärtige Diskussion um Amt und Ordination, EvTh 69, 2009, 133–141. 46 CStA 2, 264–279 (Calvins Genfer Kirchenordnung, 1541/61); vgl. Inst. (1559), IV,12. 47 T.A. LAMBERT / I.M. WATT (Hg.), Registres du Consistoire de Genève au temps de Calvin, Vol. 1–3 (1542–1548), Genève 1996–2004; vgl. R.M. KINGDON, A New View of Calvin in the Light of the Registers of the Geneva Consistory, in: W.H. NEUSER / B.G. ARMSTRONG (Hg.), Calvinus sincerioris religionis vindex, Kirksville 1997, 21–33. 48 CStA 2, 254f. (Calvins Genfer Kirchenordnung, 1541/61); vgl. P. OPITZ, Leben und Werk Johannes Calvins, Göttingen 2009, 82–86; R.M. KINGDON, Kirche und Obrigkeit, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (349–355) 350–352.

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Versöhnung und zum Frieden beitragen. Calvin sprach von einer Zurechtweisung (correction), um die Gemeinschaft zu erhalten. Der Hintergrund der Kirchenzucht ist das Anliegen, die Menschen zu einem besseren und verantwortlichen Leben anzuhalten und die Einheit der Gemeinde sicherzustellen. Insofern ist Kirchenzucht nach Calvins Konzept kein Machtmittel, sondern praktische Seelsorge, die zur Besserung anleitet. Es geht in ihr um den Ernst der Nachfolge. Calvins Grundgedanke der Kirchenzucht und die moderne Seelsorgelehre begegnen sich übrigens darin, dass sie entsozialisierte Menschen wieder in die Gemeinschaft mit anderen führen wollen, damit diese wieder lebens- und handlungsfähig werden. Zugleich muss angesichts der Mitwirkung der politischen Obrigkeit bei der Kirchenzucht gefragt werden, ob das Konsistorium tatsächlich ein eigenständiges kirchlichen Gremium war, so wie Calvin es sich ursprünglich vorgestellt hat und wie es in Frankreich unter anderen äußeren Bedingungen verwirklicht werden konnte. Ferner muss auch darauf hingewiesen werden, dass die Kirchenzucht im Laufe ihrer Geschichte merkwürdige Blüten getrieben hat, die sie in einem negativen Licht erscheinen lassen. Mit ihr wurden in nachcalvinischer Zeit auch Machtmissbrauch betrieben und rigide Moralvorstellungen durchgesetzt – Auswüchse, die sich allerdings nicht auf Calvin berufen können. Ordnungen haben auch ihre Grenzen – das wusste der gelernte Jurist Calvin. Und die kirchliche Identität hängt letztlich nicht von einer bestimmten Ordnung ab. Prinzipiell ist die Kirche frei, ihr Leben in der Weise zu gestalten, die am besten ihrem Auftrag dient. Das bedeutet aber nicht, dass die Möglichkeiten unbegrenzt sind.

5. Calvins Initiativen für Gottesdienst, Bildung und Diakonat Der Grundakt kirchlichen Lebens ist der Gottesdienst. Zu Beginn seiner Genfer Zeit beklagte Calvin in den Artikeln zur Ordnung der Kirche von 1537: Die Gebete der Gläubigen sind bei unserer Art zu beten ja derart kalt, daß uns dies tief beschämen muß. Die Psalmen können uns dazu ermutigen, unsere Herzen zu Gott zu erheben. Sie können in uns das Verlangen entfachen, seinen herrlichen Namen anzurufen und durch unser Lob zu erheben.49

Was hier programmatisch anklingt, begründet eine neue Gottesdienstgestalt, für welche die Predigt und die Psalmen kennzeichnend sind. In der Bereimung und Vertonung der Psalmen entdeckte Calvin eine besonders geeig————— 49

CStA 1.1, 124f. (Artikel zur Ordnung der Kirche, 1537).

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nete Weise, um verbindlich von Gott und zu Gott zu reden. In der Gottesdienstordnung von 1542 stellte er fest: Wir werden keine besseren und geeigneteren Lieder finden als die Psalmen Davids […]. Wenn wir sie singen, so sind wir sicher, daß Gott uns die Worte in den Mund legt, als ob er selbst in uns sänge, um seine Ehre zu erhöhen.50

Schöner kann man kaum vom Wirken des Heiligen Geistes sprechen! Erste Impulse zur Entwicklung seines Gottesdienstverständnisses erhielt Calvin in Straßburg. Dort lernte er die Psalmen des Hofdichters von Franz I., Clément Marot, kennen, der seit 1533 Psalmen in Reime brachte und mit Melodien von Pariser Volksliedern vertonte. Diese Marot-Psalmen ergänzte Calvin, so dass schließlich 1539 das Straßburger französische Gesangbuch entstand. 1542 verfasste er ein Psalmengesangbuch mit 17 weiteren Psalmbereimungen. Abgeschlossen mit der Bereimung und Vertonung sämtlicher 150 Psalmen war der Genfer Psalter 1562. In der deutschen Fassung durch Ambrosius Lobwasser 1573 und durch Matthias Jorissen 1793 wurde der Genfer Psalter auch in deutschen reformierten Gemeinden populär. Zu den weiteren Lebensäußerungen der Kirche gehören christliche Bildung und Katechetik. Die Lehre des Evangeliums zu vermitteln, zählte Calvin zu den zentralen kirchlichen Aufgaben, für die neben den Pastoren vor allem die Doktoren zuständig waren. Nach seiner Überzeugung kann sich nur da wahre Gottes- und Selbsterkenntnis durchsetzen, wo der dreieinige Gott verkündigt und seine Lehre im Unterricht weitergegeben wird. Diesem Ziel dienen u.a. die Katechismen, indem sie Kriterien für die christliche Lehre zur Verfügung stellen. Grundsätzlich ging Calvin davon aus, dass Unterricht und Lehre Erkenntnis, Ermahnung und Fortschreiten bedeuten, um die Kirche zu bauen und Menschen im Glauben zu stärken.51 Entsprechend äußerte er sich 1548 im Brief an den Herzog von Somerset: Glauben Sie mir, Monseigneur, die Kirche Gottes kann sich nie halten ohne Katechismus; denn dieser ist gleichsam der Same, der verhindert, daß die gute Saat nicht ausstirbt, sondern sich mehrt von Geschlecht zu Geschlecht.52

Weiter trug Calvin Sorge dafür, dass ein gemeindliches Diakonat eingerichtet wurde, um den Armen, Flüchtlingen und sonstigen Bedürftigen Hilfe zukommen zu lassen. Im Dienst der Diakonen fand dieser Impuls seinen ————— 50

CStA 2, 158f. (Genfer Gottesdienstordnung, 1542). Vgl. M. FREUDENBERG, Art. Katechismen, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 204–212. 52 Brief an Eduard Seymour, Herzog von Somerset, vom 22. Oktober 1548, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in deutscher Übersetzung von R. SCHWARZ, Bd. 2, Neukirchen 1962, 443. 51

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institutionellen Ausdruck, wobei die Praxis dankbarer Liebe eine Angelegenheit der ganzen Gemeinde war. Was Calvin u.a. in seinen Predigten über das Deuteronomium von 1555/56 anmahnte – die Sensibilität der Reichen für das Geschick der Armen –, wurde zur geistlichen und diakonischen Herausforderung der Gemeinde: Sie soll die Armen nicht als Arme an sich, sondern als ihre Armen erkennen: Es ist wirklich nicht ohne Grund, dass unser Herr sagt: „Dein Armer, dein Bedürftiger, der im Lande weilt.“ […] Es sind unsere Armen, das heißt: die, die solchermaßen Mangel leiden – unser Herr ist’s, der sie uns darbietet.53

Es muss verhindert werden, dass der Arme verschwiegen und dem Reichen gleichsam entzogen wird. Jeder in der Gemeinde und besonders diejenigen, die Bedienstete haben, sollen sich fragen: Was wollte ich, vernünftigerweise, wenn ich an ihrer Stelle stünde? Doch nichts anderes, als mein Gewissen mir zeigt. Denn, wenn es auch keinen Richter gibt, mich zu verurteilen, und keinen Rechtsapparat, mich anzuklagen, sollte da nicht mein Gewissen genügen, mich zu überführen? So sehen wir, wie dieses Gesetz, so speziell es auch für Israels Lebensordnung gedacht war, doch heute noch für uns eine Lehre enthält, die uns nützlich ist: Wir sollen mit denen, die bei uns in Diensten stehen, so umgehen, dass sie nicht über Maß hinaus gepresst werden und wir sie nicht grausam behandeln. Kurz, wir sollen menschlich sein und jedem nach seinem Bedürfnis wohl tun und zeigen, dass wir sein Wohl im Auge haben.54

In Straßburg und Genf liegen die Wurzeln für eine diakonische Kirche, in der Einrichtungen zur Linderung der Not entstanden.

6. Calvins Seelsorgepraxis Calvin lag die Sorge um Menschen in seelischer Not besonders am Herzen. In Briefen und Predigten zeigt sich sein Grundgedanke, das Leben der anderen im Horizont der beständigen Sorge Gottes um sie wahrzunehmen. Immer wieder versetzte er sich sensibel in die oft abgründige Situation von Menschen hinein.55 Eine bewegende Lektüre sind seine Briefe an Gemeinden, die dem hugenottischen Martyrium entgegengingen wie die Gemeinden des Languedoc. Sie tröstete er mit dem Satz: „Auch wenn alles zerstört und verloren ist, hat Gott noch unbegreifliche Wege, seine Kirche wieder ————— 53

CStA 7, 72f. (Predigt über Dtn 15,11–15). Ebd., 77. 55 Vgl. H. SCHOLL, Johannes Calvin, in: C. MÖLLER (Hg.), Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts, Bd. 2: Von Martin Luther bis Matthias Claudius, Göttingen / Zürich 1995, 102–126. 54

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aufzurichten, gleichsam durch eine Auferweckung von den Toten.“56 Calvin hat tragfähige Einsichten in die Seelsorge und ihre Praxis entwickelt. Er bemühte sich darum, die reformatorische Theologie von der göttlichen Barmherzigkeit für die Seelsorge an Kranken, Sterbenden, Gefangenen und Angefochtenen fruchtbar zu machen. Das muss man auf dem Hintergrund seines Menschenbildes sehen: Nach Calvin ist der Mensch ein über sich und seinen Ort in der Geschichte reflektierendes Wesen. Er existiert als Gleichnis seines Schöpfers und ist sogar der „Spiegel der Herrlichkeit Gottes“.57 Calvins Seelsorge ist geprägt von der Wahrnehmung des Menschen als Geschöpf, das mit vielfältigen Gaben zur Ehre Gottes geschaffen ist, und von der Wahrnehmung des Menschen, der als gebrochene Gestalt vor Gott mit leeren Händen dasteht und auf sein Erbarmen angewiesen ist. Calvin unterstrich deutlich, dass die Seelsorge eine herausragende Tätigkeit der Pfarrer ist. Zu ihrer Gestaltung gab er Empfehlungen, so etwa für den Krankenbesuch: „Wir haben verfügt, daß niemand drei ganze Tage lang krank im Bett liegen darf, ohne dies einen Pfarrer wissen zu lassen.“58 Zum Gefangenenbesuch erklärte er: „Wir haben […] verfügt, daß an einem bestimmten Tag in der Woche Zusammenkünfte mit den Gefangenen stattfinden sollen, damit sie Zuspruch und Ermahnung erhalten.“59 Ungeachtet der besonderen Verpflichtung der Pfarrer hielt Calvin die Seelsorge ebenso wie die Diakonie für eine Angelegenheit der ganzen Gemeinde. Ein wichtiger Grundpfeiler von Calvins Seelsorge lag in der Überzeugung, dass die Sorge um den Menschen und die wahre Gottesverehrung zusammengehören. Die Ehre Gottes kann nicht gesucht werden ohne die Sorge um den Menschen. Und die Seelsorge kann nicht richtig wahrgenommen werden, wenn und wo Gott nicht anerkannt wird: „Wo Gott erkannt wird, wird auch Menschlichkeit gepflegt.“60 Wenige Beispiele mögen seine Seelsorgepraxis illustrieren. Schon früh erkannte Calvin, dass das Sterben der Ernstfall des Lebens ist. Später sprach er von der Lebensaufgabe, sich auf das künftige Leben vorzubereiten, und rief zum Nachdenken über die Zukunft des eigenen Lebens auf.61 Ein eindrucksvolles Dokument für Calvins Einfühlungsvermögen in einen sterbenden Menschen und dessen Angehörige ist ein Brief, den er einer Frau aus dem französischen Hochadel schrieb, die um ihre in Genf ————— 56 Brief an die Gemeinden des Languedoc vom September 1562, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in deutscher Übersetzung von R. SCHWARZ, Bd. 3, Neukirchen 1962, 1197. 57 Inst. (1559), I,15,4; vgl. CStA 6, 54f. (Kommentar zu Ps 8,2). 58 CStA 2, 264f. (Calvins Genfer Kirchenordnung, 1541/61). 59 Ebd. 60 CO 38, 388 (Kommentar zu Jer 22,16): „ubi ergo cognoscitur Deus, etiam colitur humanitas“; vgl. Johannes Calvins Auslegung des Propheten Jeremia, übers. von E. KOCHS, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift N.R. 8, Neukirchen 1938, 332. 61 Vgl. Anm. 15.

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verstorbene Freundin trauerte. Calvin hat diese Frau in ihrem Sterben begleitet und berichtete brieflich davon: Gegen fünf Uhr morgens ging ich zu ihr. Nachdem sie sehr geduldig zugehört hatte, was ich ihr dem Ernste der Stunde entsprechend sagte, sprach sie: „Die Stunde nähert sich; ich muß die Welt verlassen; […] ich bin sicher, daß mein Gott mich in sein Reich heimholen wird. […] Ich vertraue mich ihm an, ihm als meinem Vater.“ Manchmal sagte sie auch: „Ich kann nicht mehr.“ Worauf ich ihr antwortete: „Gott wird für Sie können. Er hat es Ihnen ja bis hierher gut gezeigt, wie er den Seinen hilft.“62

Mit anderen seelsorglich zu reden heißt demnach, Gott ins Gespräch einzubeziehen und ihm die letzte Sorge um den Menschen in Not oder an der Grenze des Lebens zu übertragen. Dieser Einblick in Calvins Seelsorgepraxis hat auch eine persönliche Seite: Einen Monat vor dem Brief, am 29. März 1549, starb nach langer Krankheit seine Frau Idelette de Bure. Nachdem einer seiner Studenten an der Pest verstorben war, schrieb Calvin dessen Vater einen Trostbrief und empfahl ihm, seine Trauer nicht zu unterdrücken: „Solche Lebensklugheit lernen wir in Christi Schule nicht, daß wir die uns von Gott gegebenen menschlichen Gefühle ablegen und aus Menschen Steine werden.“63 Calvin bekannte, dass er selber über dessen Tod bedrückt gewesen sei und mehrere Tage geweint habe – es war, „wie wenn ich selbst halbtot wäre“.64 Und als er einen neuen Ausbruch der Pest befürchtete, fragte er: „Was bleibt uns übrig, als unsere Zuflucht zu nehmen zum Beten und Weinen?“65 So reagiert ein Seelsorger, der sich im Angesicht des Todes seine eigene Hilflosigkeit eingesteht und zugleich an den Trost im Gebet erinnert. Calvin hat sich und anderen verdeutlicht: Wer nur mit sich selber beschäftigt ist, kann nicht um einen anderen Menschen trauern und kann auch keinen anderen Menschen trösten. Zur Kraft der Seelsorge gehört die Empathie, auch das Weinen mit den Weinenden. Er selbst nahm sich davon nicht aus – wusste er doch, dass er selber auf Stärkung und Trost angewiesen war, wenn er seinen evangelischen Landsleuten in Frankreich schrieb: „Zugleich empfehle ich mich herzlich Eurer Fürbitte.“66 Damit stellte Calvin die Seelsorge am Einzelnen in den Rahmen der ganzen Gemeinde und verpflichtete diese, für ihre Pfarrer und für die welt—————

62 Brief an Madame de Cany vom 29.4.1549, in: Scholl, Calvin, 112f. (= Calvin-Lesebuch, hg. von M. FREUDENBERG / G. PLASGER, Neukirchen-Vluyn 2008, 175). 63 Brief an Monsieur de Richebourg vom April 1541, in: Johannes Calvins Lebenswerk in seinen Briefen. Eine Auswahl von Briefen Calvins in deutscher Übersetzung von R. SCHWARZ, Bd. 1, Neukirchen 1961, 190 (= Calvin-Lesebuch, 174). 64 Calvins Lebenswerk Bd. 1, 185. 65 Brief an Martin Bucer vom 15. Oktober 1541, in: Calvins Lebenswerk Bd. 1, 208. 66 Brief an die Evangelischen in Frankreich vom 24. Juli 1547, in: Calvins Lebenswerk Bd. 1, 397.

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weite Christenheit zu beten und so geistliche Verantwortung zu übernehmen. Neben den Briefen bieten Calvins Predigten einen Einblick in sein seelsorgliches Gespür. In ihnen zeigt sich seine Leidenschaft für eine wirkliche Gemeinschaft in der Kirche und unter den Christenmenschen: Gott hat uns alle nach seinem Bild geschaffen, so daß ein jeder an seinem Nächsten mit Staunen merken muß: Wir sind ein Fleisch. Wie verschieden auch Gesichter und Geister sein mögen, diese von Gott bei uns gestiftete Einheit können wir nicht […] aufheben. Bliebe uns dies ins Gedächtnis geprägt, ein jeder lebte friedlich mit seinem Nächsten.67

Dass der andere Mensch kein Fremder ist, sondern ein Teil meiner selbst, dass das Du zum Ich gehört, wie es später Martin Buber treffend beschrieben hat68 – das Bewusstsein dafür fördert nicht nur die soziale Integrität der Gemeinde, sondern auch die seelische Balance im Einzelnen und im Zusammenleben bzw. im Zusammenwachsen der Gemeinde. Paradiesische Zustände konnte Calvin damit nicht schaffen. Das Imperfekte, das Unfertige kennzeichnet weiter das Leben diesseits von Eden. Das erkannte Calvin nüchtern an – auch im Blick auf sein eigenes Wirken. Darum wissend, sollen wir keine Scheu haben, Gott „auch angefangene oder halbfertige Werke, an denen noch manches auszusetzen ist, anzubieten“.69 Das christliche Leben schließt das Fragmentarische ein – auch deshalb, weil am Ende Gott den Menschen vollendet und ganz macht.

7. Ortsgemeinde, Ökumene und die Einheit der Kirche So sehr sich Calvin seiner Genfer Gemeinde verpflichtet sah, so sehr richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Kirchen in ganz Europa. Von Genf aus wuchs ein Verständnis der Kirche, das den Gaben ihrer einzelnen Glieder viel zutraut und das kollegiale Zusammenwirken der Dienste in der Gemeinde hochschätzt. Dabei bezeichnete Calvin keineswegs nur die universale Kirche, welche die Christen aller Zeiten und Orte miteinander verbindet, als Kirche. Vielmehr sind die partikularen Gemeinden selber Kirche im eigentlichen Sinn. So wenig Calvin im römisch-katholischen Sinn von einer Weltkirche träumte, so sehr war er an der ökumenischen Einheit der einzel—————

67 Predigt über die Seligpreisungen vom 20. Oktober 1560, in: E. MÜLHAUPT, Johannes Calvin. Diener am Wort Gottes. Eine Auswahl seiner Predigten, Göttingen 1934, 178; vgl. auch die Predigt über Dtn 15,11–15, in: CStA 7, (67–79) 79, und die Predigt über Dtn 22,1–4, in: CStA 7, (129–142) 141. 68 M. BUBER, Ich und Du, Gütersloh (1923) 142005. 69 Inst. (1559), III,19,5.

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nen Kirchen interessiert. Christus selber würde man in Stücke reißen, wenn man die eine Kirche in ihrer vorausgesetzten Einheit in mehrere Kirchen trennen würde.70 [W]ir müssen dergestalt auf die Einheit der Kirche sinnen, daß wir wahrhaftig überzeugt sind, selbst in sie eingefügt zu sein. Denn wenn wir nicht mit allen übrigen Gliedern zusammen unter unserem Haupte, Christus, zu einer Einheit zusammengefügt sind, so bleibt uns keine Hoffnung auf das zukünftige Erbe. Deshalb heißt die Kirche „katholisch“ oder „allgemein“; denn man könnte nicht zwei oder drei „Kirchen“ finden, ohne daß damit Christus in Stücke gerissen würde – und das kann doch nicht geschehen! Nein, alle Auserwählten Gottes sind dergestalt in Christus miteinander verbunden, daß sie, wie sie ja an dem einen Haupte hängen, auch gleichsam zu einem Leibe zusammenwachsen, und sie leben in solcher Gefügtheit zusammen wie die Glieder des gleichen Leibes; sie sind wahrhaft eins geworden, als solche, die in einem Glauben, einer Hoffnung, einer Liebe, in dem gleichen Geiste Gottes miteinander leben und die nicht nur zum gleichen Erbe des ewigen Lebens berufen sind, sondern auch zum Teilhaben an dem einen Gott und dem einen Christus.71

Es überrascht deswegen keineswegs, dass Calvin besonders gereizt auf Divergenzen oder Abspaltungsprozesse in der eigenen Genfer Gemeinde oder in anderen Kirchen reagierte, galt es doch, dass sich die biblisch bezeugten Bindekräfte der Kirche auch empirisch durchsetzten. Anfang der 1540er Jahre reiste Calvin zu mehreren Religionsgesprächen, um sein Interesse an der Einheit der Kirche zu unterstreichen. Leidenschaftlich trat er für eine Verständigung über die strittigen Glaubensfragen ein, musste aber erkennen, dass es in der Kirche viele Spaltungen gab: Sehr wahr und klug, erlauchtester Herr, ist Deine Meinung, bei der gegenwärtigen Verwirrung der kirchlichen Lage gebe es kein besseres Mittel, als daß fromme, mutige und in Gottes Schule erprobte und geübte Männer zusammenkämen, ihre Übereinstimmung in der evangelischen Lehre zu bekennen. […] Wäre es doch nur zu erreichen, daß an einem bestimmten Ort gelehrte, ernste Männer aus den wichtigsten Kirchen zusammenträten, die einzelnen Artikel des Glaubens fleißig besprächen und den Nachkommen die sichere Schriftlehre über alles Gemeinsame hinterließen! Aber es gehört zu den Hauptübelständen unserer Zeit, daß die einzelnen Kirchen so auseinander gerissen sind, daß kaum die Zusammengehörigkeit als Menschen unter uns gilt, geschweige denn die heilige Gemeinschaft der Glieder Christi, die zwar alle mit dem Munde bekennen, aber nur wenige in der Tat aufrichtig pflegen. […] So kommt es, daß der Leib der Kirche mit zerstreuten Gliedern verstümmelt daliegt. Ich persönlich wollte mich’s nicht verdrießen lassen, wenn man mich braucht, zehn Meere, wenn’s sein muß, zu durchqueren.72

————— 70 71 72

Inst. (1559), IV,1,2. Ebd. Brief an Bischof Thomas Cranmer vom April 1552, in: Calvins Lebenswerk Bd. 2, 595f.

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Calvins Einfluss auf das reformierte Kirchenverständnis

Wenigstens innerprotestantisch konnte Calvin 1549 mit Heinrich Bullinger eine Übereinkunft zwischen Genf und Zürich in der Abendmahlsfrage erzielen.73 Nicht nur biografisch, sondern auch theologisch verarbeitete Calvin die Erfahrung, dass die Kirche in der Welt fragil und Feinden ausgeliefert ist. Aber so wenig das in Jesus Christus beschlossene Heil aus der Welt zu schaffen ist, so wenig kann die Kirche zunichte gemacht werden: „Die unter dem Kreuz kämpfende Kirche wird dennoch siegen, teils in Hoffnung, teils mit gegenwärtigem Erfolg.“74 So existiert die Kirche unter einem doppelten Vorzeichen: als gefährdete, fehlbare und vorläufige Gemeinschaft, die in der Wiederkunft Christi ihre Grenze hat, und als Gemeinschaft derer, die sich in der Hoffnung auf Gottes Bewahrung bergen.

8. Wirkungen auf das reformierte Kirchenverständnis Durch sein Studium juristisch geschult, hob Calvin das Recht Gottes auf seine Geschöpfe hervor75 und entwickelte die Kirchenordnung unter dem Gesichtspunkt des Gebrauchs des Gesetzes in den Wiedergeborenen (usus in renatis).76 Eine dem Evangelium gemäße Kirchenordnung bekam ausgehend von Calvin in den reformierten Kirchen einen hohen Stellenwert.77 Mit dem Instrumentarium der Kirchenordnung erhielten auch aus einer historischen Notwendigkeit heraus u.a. die Kirchen in Frankreich und in den Niederlanden ihre Struktur. Schließlich existierten sie als Kirchen unter dem Kreuz und konnten auf keine staatliche Unterstützung bei der Ordnung des kirchlichen Lebens zählen – das Gegenteil war der Fall. Calvins Konzept einer Kirchenverfassung, welche die konsistorialkollegiale Leitung der Kirche vorsah, bestimmte durch den Einfluss seines Nachfolgers Theodor Beza zunächst die französische Kirche.78 Dies lässt sich an der Kirchenordnung (Discipline ecclésiastique) der französischen Protestanten von 1559 ablesen, die eine konsistoriale bzw. presbyteriale Leitung der Kirche in Verbindung mit dem synodalen Moment – der Einrichtung von Provinzial- und Generalsynoden – vorsah.79 Wie in der Genfer ————— 73

CStA 4, 1–27 (Consensus Tigurinus, 1549). CO 44, 155 (Kommentar zu Sach 2,5). 75 Vgl. STROHM, Recht, 394f. 76 Inst. (1559), II,7,12–17. 77 Vgl. die Aussagen in Inst. (1559), IV,1–13.20. 78 Vgl. STROHM, Recht, 397; R.M. KINGDON, Geneva and the Consolidation of the French Protestant Movement 1564–1572. A Contribution to the History of Congregationalism, Presbyterianism and Calvinist Resistance Theory, THR 92, Genève 1967. 79 Discipline ecclésiastique von 1559, in: Reformierte Bekenntnisschriften, Bd. 2/1: 1559– 1563, hg. im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland von A. MÜHLING / P. OPITZ, 74

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Kirchenordnung wurden die Ämter der Pfarrer, Doktoren, Ältesten und Diakonen zu den regelmäßigen Diensten in den Gemeinden erklärt. Dabei geriet Calvins theologisches Denkmodell des prophetischen, priesterlichen und königlichen Dienstes der Gemeinde zugunsten der funktionalen Ämterlehre in den Hintergrund. Statt der prophetisch, priesterlich und königlich begabten ganzen Gemeinde fokussierte sich das kirchliche Leben auf die vier bzw. drei institutionalisierten Ämter. Hinter dieser Entwicklung stand die historische Notwendigkeit, klaren Leitungsstrukturen und Ordnungsgedanken den Vorrang vor der Aktivierung der ganzen Gemeinde zu geben. Gemeinsam mit der Kirchenordnung wurde die auf einem Entwurf Calvins beruhende Confessio Gallicana auf der Pariser Synode 1559 beschlossen – ein Bekenntnis, das weit über Frankreich hinaus gewirkt hat und auch in den hugenottischen Flüchtlingsgemeinden in Deutschland in Geltung stand. Laut Hugenottenbekenntnis beruht die Ordnung der Kirche nicht auf menschlicher Macht, sondern allein auf der Autorität Jesu Christi, die nach biblischem Zeugnis die Einrichtung der Dienste der Pastoren, Ältesten und Diakonen nach sich zieht. Wie in anderen calvinischen Texten findet sich auch hier eine funktionale Bestimmung der Kirche: Die drei Ämter sollen sicherstellen, dass „die reine Lehre ihren Lauf nimmt, die Laster gebessert und unterdrückt werden und damit die Armen und alle anderen Angefochtenen in ihren Nöten unterstützt und die Versammlungen gehalten werden“.80 Neben dem Fortschrittsgedanken, „alle Zeit ihres Lebens […] immer weiter voranzuschreiten“81, begründete die Regelung, dass „niemand sich aus eigener Autorität eindrängen darf zur Gemeindeleitung“82 und dass alle Pastoren „dieselbe Autorität und die gleiche Macht haben unter einem einzigen Haupt […] Jesus Christus“83 – ein Grundzug auch späterer reformierter Kirchenordnungen. In den Niederlanden und in Schottland hat sich ebenfalls das Genfer Kirchenmodell nicht zuletzt aufgrund der Ausbildung der führenden Köpfe Philipp van Marnix van St. Aldegonde und John Knox in der Genfer Akademie durchgesetzt. Mit einer Kirchenordnung The First Book of Discipline von 1560 war die Confessio Scotica verbunden und knüpfte an die calvinische Formung des Kirchenbegriffs durch den Erwählungsgedanken an: ————— Neukirchen-Vluyn 2009, 57–83; Text in dt. Übers. in: Evangelische Bekenntnisse. Bekenntnisschriften der Reformation und neuere Theologische Erklärungen Bd. 2, hg. von R. MAU, Bielefeld 1997, 201–205. 80 Confessio Gallicana, Art. 29, in: Reformierte Bekenntnisschriften, hg. von PLASGER / FREUDENBERG, 119; vgl. Calvins Entwurf „Bekenntnis der in Frankreich zerstreuten Kirchen (Confessio Gallicana)“, Art. 25, in: CStA 4, 64f. 81 Art. 27, in: Reformierte Bekenntnisschriften, hg. von PLASGER / FREUDENBERG, 118f. 82 Art. 31, in: ebd., 120. 83 Art. 30, in: ebd., 119f.

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Calvins Einfluss auf das reformierte Kirchenverständnis

[Die Kirche] ist die eine Versammlung und Menge der von Gott erwählten Menschen, die auf rechte und fromme Weise Gott verehren und ihm anhängen durch den wahren Glauben an Jesus Christus, der das einzige Haupt seiner Kirche ist […].84

Den Erwählten schenkt Gott die Gabe des Beharrens (donum perseverantiae), um auch in kritischen Situationen der Kirche durchzuhalten.85 Ein weiteres Merkmal, das Calvins Intention aufnahm, ist die pneumatologische Bestimmung der Kirche: „Durch die Heiligung des Heiligen Geistes“ kommt es überhaupt erst zur Gemeinschaft mit dem dreieinigen Gott.86 Wie in der Kirchenordnung wurde auch im Bekenntnis als dritte nota ecclesiae die Kirchenzucht angeführt, „durch die Verfehlungen unterdrückt und Tugenden gefördert werden sollen“.87 In der Kurpfalz geschah die Wende hin zur reformierten Konfessionalisierung u.a. unter dem Einfluss des von Calvin ausgebildeten Caspar Olevian in der Kirchenordnung der Kurpfalz von 1563. Olevian war maßgeblich dafür verantwortlich, dass Calvins Modell der Kirchenzucht als kirchliche, von den Pfarrern und Ältesten auszuübende Aufgabe eingeführt wurde.88 Im Heidelberger Katechismus, dem zentralen Bestandteil der Kurpfälzer Kirchenordnung, findet sich ein Rückgriff auf Calvins Lehre von den drei Ämtern Christi, an denen die Christen Anteil bekommen: Warum wirst aber du ein Christ genannt? Weil ich durch den Glauben ein Glied Christi bin (Apg 11,27) und dadurch an seiner Salbung Anteil habe (1Joh 2,27, Apg 2,17; Joel 3,1), damit auch ich seinen Namen bekenne (Mk 8,38), mich ihm zu einem lebendigen Dankopfer hingebe (Röm 12,1; Offb 5,8.10; 1Petr 2,9; Offb 1,6) und mit freiem Gewissen in diesem Leben gegen die Sünde und den Teufel streite (1Tim 1,18f.) und hernach in Ewigkeit mit ihm über alle Geschöpfe herrsche (2Tim 2,12).89

Gegenüber den institutionellen Ämtern traten hier wieder die Lebensäußerungen aller Glieder am Leib Christi hervor: im Bekennen, im dankbaren Leben und im Streiten gegen das Böse.90 Frage 54 nahm Spuren der calvinischen Erwählungslehre – nun allerdings in christologischer Zuspitzung – auf, indem von Christi Erwählung seiner Gemeinde die Rede ist: ————— 84

Confessio Scotica, Art. 16, in: ebd., 138. Art. 25, in: ebd., 149. 86 Art. 16, in: ebd., 138. 87 Art. 18, in: ebd., 140. 88 Darin liegt der Unterschied zu dem von Thomas Erastus favorisierten Zürcher Modell, das die Kirchenzucht als obrigkeitliche Sittenzucht sah; vgl. STROHM, Recht, 398. 89 Heidelberger Katechismus, Frage 32, in: Reformierte Bekenntnisschriften, hg. von PLASGER / FREUDENBERG, 161; vgl. CStA 2, 26f. (Frage 41, Genfer Katechismus, 1545). 90 Frage 32, Heidelberger Katechismus, in: Reformierte Bekenntnisschriften, hg. von PLASGER / FREUDENBERG, 161. 85

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Was glaubst du von der „heiligen allgemeinen christlichen Kirche“? Ich glaube, dass der Sohn Gottes (Joh 10,11) aus dem ganzen Menschengeschlecht (Gen 26,4) sich eine auserwählte Gemeinde zum ewigen Leben (Röm 8,29f.; Eph 1,10–13) durch seinen Geist und Wort (Jes 59,21; Röm 1,16; 10,14–17; Eph 5,26) in Einigkeit des wahren Glaubens (Apg 2,46; Eph 4,3–6) von Anbeginn der Welt bis ans Ende (Ps 71,18; 1Kor 11,26) versammelt, schützt und erhält (Mt 16,18; Joh 10,28ff.; 1Kor 1,8f.) und dass auch ich ein lebendiges Glied dieser Gemeinde bin (1Joh 3,31) und ewig bleiben werde (1Joh 2,19).91

Außerdem knüpfte der Heidelberger Katechismus an Calvin mit dem Gedanken der Christusgemeinschaft in der Kirche und der Bewahrung der Glaubenden bis in Ewigkeit an – eine Bewahrung, die sich dem Haupt der Kirche, Jesus Christus, verdankt.92 Zwei folgenreiche Kirchenordnungen führten sodann auf deutschem Boden die presbyterial-synodale Ordnung ein: die Beschlüsse des Weseler Konvents93 und die Artikel der Emder Synode94. Im Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen Habsburg und den Niederlanden sowie deren Rekatholisierung flüchteten zwischen 1568 und 1572 viele niederländische Calvinisten und fanden Aufnahme am Niederrhein, in der Pfalz, in Ostfriesland und in England, wo sie jeweils eigene reformierte Flüchtlingsgemeinden gründeten. Das Ziel des Weseler Konvents von 1568 war es, in Anlehnung an Calvins Vorstellungen den Gemeinden eine einheitliche presbyteriale Ordnung zu geben und sie durch eine überörtliche synodale Struktur miteinander zu verbinden. Die Beschlüsse des Konvents beschrieben das Leben der Einzelgemeinden anhand der vier Ämter der calvinischen Kirchenordnung und der kollegialen Gemeindeleitung durch die Pastoren und Ältesten im Konsistorium. Wichtig waren die Einrichtung einer Classicalsynode (Kurpfalz, Jülich, Ostfriesland, Wesel) und einer Provinzial- bzw. Gesamtsynode (Emden 1571) – Einrichtungen, die Impulse der französischen Discipline ecclésiastique aufnahmen und kongregationalistische Tendenzen hin zur vollständigen Gemeindeautonomie abwehrten. 1571 bestätigte in Emden die erste Gesamtsynode der niederländischen Gemeinden unter dem Kreuz und der Flüchtlingsgemeinden die Beschlüsse ————— 91

Frage 54, in: ebd., 165f. Ebd. 93 Die Beschlüsse des Weseler Konvents von 1568, hg. u. ins Deutsche übertragen von J.F.G. GOETERS, Düsseldorf 1968; vgl. H. ZSCHOCH, Die presbyterial-synodale Ordnung – Prinzip und Wandel, MEKGR 55, 2006, 199–217. 94 Acta Synodi ecclesiarum Belgicarum habitae Embdae (1571), in: Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen der nach Gottes Wort reformierten Kirche, hg. von W. NIESEL, Zollikon-Zürich 1938, 277–290; dt. Übers.: Die Akten der Emder Synode von 1571, in: Emder Synode. Beiträge zur Geschichte und zum 400jährigen Jubiläum, bearb. u. redigiert von E. LOMBERG, NeukirchenVluyn 1973, 49–66. 92

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Calvins Einfluss auf das reformierte Kirchenverständnis

von Wesel in allen wesentlichen Punkten und formte sie zu einer Kirchenordnung. Diese verzichtete auf das schon in Wesel nicht mehr mit klarem Profil versehene Amt der Doktoren und sah die direkte Pastoren- und Ältestenwahl durch die Einzelgemeinde vor, allerdings nur „mit Zustimmung der Classicalversammlung oder zweier oder dreier benachbarter Pastoren“.95 Genannt seien noch zwei weitere wichtige Regeln der Emder Synode. Keine Gemeinde darf sich die Herrschaft über eine andere anmaßen: Keine Gemeinde soll über andere Gemeinden, kein Pastor über andere Pastoren, kein Ältester über andere Älteste, kein Diakon über andere Diakone den Vorrang oder die Herrschaft beanspruchen, sondern sie sollen lieber auch dem geringsten Verdacht und jeder Gelegenheit aus dem Wege gehen.96

Ferner sollen die Classical- und Provinzialsynoden nur dann Entscheidungen in Gemeindeangelegenheiten treffen, wenn sich in den Presbyterien keine Einigung erzielen ließ – es handelt sich dabei um den Subsidiaritätsgedanken: Wenn in einer Gemeinde der Classis etwas geschieht, was durch ihr Konsistorium nicht beigelegt werden kann, das soll auf der Classicalversammlung untersucht und entschieden werden; sodann ist eine Appellation an die Provinzialsynode möglich.97

Damit schrieb die Emder Synode Grundsatzentscheidungen Calvins fort und stärkte den Zusammenhalt der Gemeinden im presbyterial-synodalen Sinne. Dem faktisch bis heute vielfach in reformierten Kirchen vorhandenen kongregationalistischen Gedanken wurde in dieser Fortschreibung der calvinischen Kirchenordnung ein Korrektiv gegeben zugunsten der Kollegialität und der Stärkung der synodalen Instanzen. Die in Wesel festgelegte und in Emden beschlossene Kirchenorganisation mit den drei Ebenen Gemeinde, Classis – eine Neuerung über Calvin hinaus – und Gesamtsynode war nicht nur für die reformierten Kirchen in den Niederlanden von Dauer, sondern prägte auch die deutschen reformierten Gemeinden zunächst in Jülich, Kleve, Berg und Mark. Weitere deutsche Gemeinden schlossen sich der presbyterial-synodalen Kirchenordnung an, schufen Presbyterien als Leitungsorgane und traten u.a. der niederländischen Classis zu Wesel bei. Sukzessive fanden sich die Emder Artikel in den Ordnungen reformierter Kirchen wieder und sperrten sich gegen hierarchische Kirchenstrukturen. —————

95 Akten der Emder Synode, Art. 13, 51. In Wesel wurde die Prediger- und Ältestenswahl durch kollegiale Wahlgremien mehrerer Nachbargemeinden erwogen. 96 Art. 1, 49. 97 Art. 3 zu den Classicalversammlungen, 62f.

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Ein instruktives regionales Beispiel dafür aus dem Rheinland ist die Gründung der Bergischen Synode.98 Als sich im Pfarrhaus zu Neviges am 21. Juli 1589 neun Pfarrer und Abgeordnete aus den Gemeinden Elberfeld, Haan, Mettmann, Neviges, Schöller und Sonnborn versammelten, ahnte wohl kaum jemand, dass dort ein wesentliches Stück rheinischer Kirchengeschichte geschrieben wurde. In sechs Abschnitten brachten die Delegierten ihre Übereinstimmung in der evangelischen Lehre, in der Feier des Gottesdienstes und im Aufbau der Kirche zum Ausdruck: Der Heidelberger Katechismus wird als Lehrgrundlage eingeführt; die Sakramente werden schriftgemäß und nach einer gemeinsamen Ordnung gefeiert; getauft wird im Gottesdienst vor den Augen der Gemeinde; unehelichen Kindern wird die Taufe nicht vorenthalten; die Gemeindeglieder werden über die Bedeutung der Sakramente unterrichtet; die Gemeindeleitung und Kirchenzucht wird kollegial vom Pfarrer und den Presbytern wahrgenommen; regelmäßig tagen Synoden und finden Zusammenkünfte der Pfarrer statt. Gemeinsam standen die Synodalen dafür ein, dass beides sein Recht bekommt: die Selbständigkeit der Gemeinden einerseits (das presbyteriale Element) und der Zusammenhalt der Gemeinden untereinander (das synodale Element). Was mit der Gründung der Bergischen Synode geschah, ist ein gelungenes Beispiel für die Globalisierung auf dem Feld des Glaubens und Bekennens, durch die ein neuer, frischer Wind in die vielfach von Stillstand geprägte kirchliche Landschaft kam. Das galt insbesondere für die synodale Verbundenheit der Gemeinden untereinander: Die Gemeinden sollten sich gemäß der Bestimmungen der Synode gegenseitig stark machen – was auch dadurch geschah, dass sich schon im selben Jahr weitere Bergische Gemeinden der Synode angeschlossen haben. Im Jahr 1610 bildeten deutsche reformierte Gemeinden in Duisburg eine eigene Gesamtsynode, behielten aber die kirchlichen Regelungen des Weseler Konvents und der Emder Synode bei. Diese Ordnung erwies sich als so dauerhaft, dass sie zwei Jahrhunderte später nach dem Wiener Kongress in Verhandlungen mit Preußen 1835 als Rheinisch-Westfälische Kirchenordnung offiziell durchgesetzt werden konnte. Nach diesem Vorbild haben sich zahlreiche Landeskirchen im 19. Jahrhundert presbyterial-synodale Ordnungen gegeben, die ihre Blüte nach dem Wegfall des landesherrlichen Kirchenregiments 1918 entfalteten – dies allerdings in lutherischen Landeskirchen in Verbindung mit der episkopalen Führungsstruktur des Bischofsamts. Insofern prägen die Beschlüsse von Wesel und Emden die Evangelische Kirche in Deutschland bis heute und bereichern diese mit einem entscheidenden calvinischen Akzent. —————

98 Vgl. 400 Jahre Bergische Synode, hg. vom Evangelischen Kirchenkreis Niederberg, Velbert 1989.

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Calvins Einfluss auf das reformierte Kirchenverständnis

Bis in die Formulierungen hinein stehen die Verfassungsgrundsätze der Evangelisch-reformierten Kirche auf dem Boden der Emder Beschlüsse: Gegründet allein auf Jesus Christus, den sie bezeugt, versteht sie sich als „Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern“; als „bekennende evangelische Gemeindekirche“ verneint die Ordnung die Hierarchisierung in Gemeinden und unter Gemeindegliedern, schreibt die Kirchenleitung durch Presbyterien und Synoden fest, regelt die Wahl der Pfarrer und Pfarrerinnen durch die Gemeinde und bekräftigt das Subsidiaritätsprinzip: „Die Gemeinden ordnen ihre Angelegenheiten selbständig. Den Synoden wird vorgelegt, was in der Gemeinde nicht hat entschieden werden können.“99 Einen etwas anderen Akzent setzt die Verfassung der Lippischen Landeskirche. Zwar versteht sie sich ebenfalls als Kirche, die sich von den einzelnen Gemeinden her aufbaut, wobei diese keinen „Vorrang oder Herrschaft“ übereinander haben.100 Von der Leitung der Kirche aber heißt es, dass sie „durch die Kirchenvorstände und die Landessynode“ erfolgt.101 Gemeinsam tragen die Gemeinden und die Landeskirche die Verantwortung für Wortverkündigung, Sakramentsverwaltung sowie die weiteren kirchlichen Lebensäußerungen. Das Subsidiaritätsprinzip wurde hier zugunsten einer Kollegialität modifiziert, die nicht nur innerhalb der Leitungsorgane, sondern auch zwischen ihnen gilt.

9. Einflüsse auf die Synoden von Barmen 1934 In der Person des Verfassers des Bekenntnisses der Freien reformierten Synode vom 4. Januar 1934, Karl Barth, liegt die entscheidende Brücke zur calvinischen Ekklesiologie. Barth sah sich schon früh Calvin theologisch verpflichtet und folgte seinen ekklesiologischen Grundentscheidungen. Die erste Freie reformierte Synode war allein schon durch ihr Stattfinden eine Absage an die teilweise gleichgeschalteten Kirchen. Nicht die bisherigen verfassten Kirchenleitungen und die durch die Deutschen Christen beherrschten Synoden sollten beanspruchen, die Kirche Jesu Christi zu leiten. Vielmehr verstand sich die Freie reformierte Synode als Leitungsgremium für die reformierten Gemeinden. Calvinische Linien, vermittelt mit Anklängen an den Heidelberger Katechismus, sind in diesen Leitgedanken zu ————— 99

Verfassung der Evangelisch-reformierten Kirche vom 9.6.1988 i.d.F. vom 24. November 2006, § 4 (4). 100 Verfassung der Lippischen Landeskirche vom 17. Februar 1931 i.d.F. vom 27. November 2007, Art. 2 (1). 101 Art. 2 (2).

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sehen: Unter der „Hoheit des einen Herrn der einen Kirche“102 hat die „Kirche […] ihren Ursprung und ihr Dasein ausschließlich aus der Offenbarung, aus der Vollmacht, aus dem Trost und aus der Leitung des Wortes Gottes“.103 Weiter nimmt die Kirche in der Welt einen Dienst wahr.104 Dieses funktionale Verständnis der Kirche spiegelt sich in ihrem Auftrag, „durch Predigt und Sakrament die Botschaft von Gottes nahe herbei gekommenem Reich auszurichten“.105 Programmatischen Charakter hat schließlich die Bestimmung der Kirche als „vom Herrn selbst berufene[r] […] Gemeinde“ und ihre Einheit, die Absage an die Beliebigkeit der Gestalt der Kirche 106 und die Aussage: Die Gemeinden tragen einzeln und in ihrer Gesamtheit vor ihm die Verantwortung dafür, dass der Dienst der Verkündigung, der Dienst der Aufsicht und die die Verkündigung begleitenden Dienste der Lehre und der Liebe in ihrer Mitte ihre berufenen Träger finde und von diesen recht ausgeübt werde.107

In kirchenpolitisch brisanter Situation bewährte sich die calvinische Ekklesiologie auch darin, dass ein kirchliches Führeramt und eine die Einheit der Kirche zerstörende Beschränkung auf eine bestimmte Rasse abgelehnt wurden.108 Die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 unterstrich das Wesen der Kirche als Gemeinde und maß ihrer Ordnung Zeugnischarakter zu: Die christliche Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, in der Jesus Christus in Wort und Sakrament durch den Heiligen Geist als der Herr gegenwärtig handelt. Sie hat mit ihrem Glauben wie mit ihrem Gehorsam, mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung mitten in der Welt der Sünde als die Kirche der begnadigten Sünder zu bezeugen, dass sie allein sein Eigentum ist, allein von seinem Trost und von seiner Weisung in Erwartung seiner Erscheinung lebt und leben möchte.109

Ferner sind die kirchlichen Ämter nicht hierarchisch geordnet, sondern Dienste der ganzen Gemeinde: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.“110 Damit —————

102 Bekenntnis der Freien reformierten Synode Barmen, Abschnitt I,3, in: Reformierte Bekenntnisschriften, hg. von PLASGER / FREUDENBERG, 233. 103 Abschnitt II,1, in: ebd. 104 Abschnitt III,1.3, in: ebd., 234f. 105 Abschnitt IV,1, in: ebd., 235. 106 Abschnitt V,1f., in: ebd., 237. 107 Abschnitt V,2, in: ebd. 108 Abschnitt V,2f., in: ebd. 109 Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934, These 3, in: ebd., 243. 110 These 4, in: ebd., 244.

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Calvins Einfluss auf das reformierte Kirchenverständnis

wurde der Versuch gemacht, die klassischen vier bzw. drei Ämter der Gemeinde und die Lehre vom dreifachen Amt Christi einander anzunähern. Bedingt durch die Erfahrungen des Kirchenkampfes und der Bekenntnissynoden wuchs zumindest in wesentlichen Teilen der Evangelischen Kirchen in Deutschland nach 1945 das Bewusstsein für die Tragfähigkeit einer solchen presbyterial-synodalen Kirchenleitung, die sich theologisch und nicht dem Zeitgeist verpflichtet sah.

10. Ökumenische Rezeption am Beispiel des Belhar-Bekenntnisses 1982/86 Auf dem Weg über die Barmer Bekenntnisse gelangte Calvins Verständnis der Kirche auch in die Bekenntnisse junger reformierter Kirchen in Asien und Afrika. Dies lässt sich am Beispiel des Belhar-Bekenntnisses der Generalsynode der südafrikanischen Nederduits Gereformeerde Sendingskerk (NGSK) von 1986 zeigen. Angesichts der Apartheid nahm die Synode kritisch u.a. gegen die ungerechte Spaltung auch innerhalb der Kirche Stellung und trat für die Einheit der Kirche ein. Diese Einheit wurde im Bekenntnis nicht nur als Gabe Gottes konstatiert, sondern in besonderer Weise als Aufgabe expliziert: Unter dem „Wirken des Geistes Gottes“ sei es eine Aufgabe, die Einheit sichtbar zu machen und alles, was diese Einheit bedroht, zu bekämpfen, da „es Sünde ist, wenn die sichtbare Einheit nicht als eine kostbare Gabe angestrebt wird“.111 Mit Nachdruck wurden die Möglichkeiten, „dieser Einheit des Volkes Gottes“ sichtbare Gestalt zu geben, benannt.112 Am Beispiel des Belhar-Bekenntnisses zeigt sich zugleich, dass der calvinische Leitgedanke der Einheit in seiner theologischen Substanz gewahrt, aber auch kontextualisiert werden kann. In einer konkreten Herausforderung entfaltete er seine Kraft noch einmal neu – und zwar im Rahmen einer ethisch engagierten Ekklesiologie. So sind seit Barmen und dann in neueren Bekenntnissen innovative Anknüpfungen an Calvin erkennbar, etwa in der ideologiekritischen Ablehnung des Führergedankens in der Kirche oder in der prophetischen Sendung der ganzen Gemeinde. Könnte es darum nicht sein, dass die reformierten Kirchen, die als erste von Calvin gelernt haben, entscheidende Impulse von den Kirchen aus der weltweiten Ökumene erhalten, deren Begegnung mit Calvin vergleichsweise jung ist? Nicht zuletzt solche Transformationen reformierter Theologie werfen ein Licht auf die unerschöpfte Kraft der calvinischen Ekklesiologie. ————— 111 112

Belhar-Bekenntnis (1986), Art. 2, in: ebd., (269–271) 270. Ebd.

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Eva-Maria Faber

Calvinus catholicus Zur Calvin-Rezeption in der römisch-katholischen Kirche und Theologie am Beispiel von Pneumatologie, Ekklesiologie und Ämterlehre

„Calvinus catholicus“: Die Beifügung des Attributes „katholisch“ zum Namen Calvins kann verschiedene Bedeutungen haben. Drei Bedeutungsmöglichkeiten sollen kurz Revue passieren, bevor die zuletzt genannte Richtung weiter sondiert wird.

1. Calvinus catholicus 1.1 Der reformiert-katholische Calvin Die Kirche heißt „‚katholisch‘ oder ‚allgemein‘; denn man könnte nicht zwei oder drei ‚Kirchen‘ finden, ohne dass damit Christus in Stücke gerissen würde – und das kann doch nicht geschehen!“1 So schreibt Calvin in seinen Ausführungen über die Kirche in der Institutio. Die Zusammenfügung von „Calvin“ und „katholisch“ ist demnach eigentlich nichts, was man als ungewöhnlich oder gar paradox empfinden müsste. Calvins Theologie trägt nicht sekundär noch einige wenige katholische Züge (Reste seiner altgläubigen Herkunft), die gerade eben noch den Titel „katholisch“ verdienen. Calvin versteht sich selbst als katholischen Theologen und tritt für die Katholizität der Kirche ein. Die Konfessionalisierung des Begriffs „katholisch“ ist mit seinem Ansatz nicht vereinbar. Deswegen erhebt er in der Schrift „Responsio ad versipellem quendam mediatorem“ von 1561 Einspruch gegen die Gleichsetzung von ecclesia catholica und sedes romana.2 Johannes Calvin will fraglos Glied und Theologe der katholischen Kirche sein. Die zeitgenössischen Auseinandersetzungen Johannes Calvins mit der altgläubigen Seite gehören in diesen Zusammenhang. Es sind Zeugnisse für den Streit um die „authentisch katholische“ Tradition: um jene Tradition, ————— 1 2

Inst. (1559), IV,1,2. Vgl. CO 6, 39f. (Genfer Katechismus von 1545, Frage 9). Vgl. CO 9, 536.

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Calvinus catholicus

die mehr der Ganzheit des Glaubens entspricht. Exemplarisch sei seine „Antwort an Kardinal Sadolet“ genannt.3 Zu erwähnen ist außerdem Calvins Teilnahme an den Religionsgesprächen in Worms und Regensburg 1540/1541 sowie die Tatsache, dass Calvin 1547 zu den ersten Theologen gehört, die sich eingehend mit dem Konzil von Trient auseinandersetzten.4 Mit der Wendung „Calvinus catholicus“ lässt sich also – insbesondere aus reformierter Perspektive – der Titel „katholisch“ in einem positiven Sinn für Calvin reklamieren, um festzuhalten, dass seine „reformierte“ Theologie der authentisch katholischen Tradition entspricht. 1.2 Calvin in den Augen der römisch-katholischen Theologie und Kirche In einer zweiten Auslegung steht „Calvinus catholicus“ für die Weise, wie der Reformator Johannes Calvin aus einer konfessionell-katholisch geprägten Perspektive wahrgenommen wird. Zu sprechen wäre dann eigentlich von „Calvini catholici“, von katholischen Calvinbildern, die sich durch die Geschichte hindurch verändert haben. Zu Zeiten der Kontroverstheologie richtet sich der katholische Blick auf Calvin als auf einen, der nicht zur katholischen Kirche gehört. Kurz und paradox gesagt: Calvinus catholicus ist nicht katholisch – im Sinne von: Calvin ist in den Augen der katholischen Gegenreformation ein häretischer Calvin. Der Nachweis dafür geschieht mehr oder weniger polemisch, mehr oder weniger differenziert. Neben Attacken wie die des Jérôme Bolsec († um 1584) oder André Favre-Dorsaz (sein Calvin-Buch „Calvin et Loyola“ erschien 1951) stehen Schriften, welche sich weniger polemisch mit Calvin auseinandersetzen. So bemühen sich Theologen wie Jacques-Bénigne Bossuet (1627–1704) und Johann Adam Möhler (1796–1838) um differenzierte Kritik. Das Vorzeichen jedoch ist unausweichlich das Vor-Urteil, dass Calvin sich mit seiner Theologie außerhalb der rechtgläubigen katholischen Theologie befindet. Dies wird nicht selten an Schlagworten wie Individualismus, Fideismus oder an christologisch falsch gesetzten Weichenstellungen festgemacht. Zur Ehrenrettung dieser katholischen Bewertungen sei erinnert, dass auch die reformierte Calvin-Forschung zeitweise von wenig sympathischen Vorurteilen ausging und versuchte, Calvin klischeehaft auf ein Zentraldogma (etwa die Prädestinationslehre) festzulegen. Jedenfalls brauchte es angesichts solcher katholischen Aburteilung eine Wende, bis der Calvinus catholicus, der Calvin in katholischen Augen, überhaupt für Reformierte wieder ein interessantes Thema sein konnte. Die ————— 3 4

CO 5, 385–416 (Responsio ad Sadoleti epistolam, 1539). CO 7, 365–506 (Acta Synodi Tridentinae. Cum Antidoto).

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Habilitationsschrift des renommierten reformierten Theologen Hans Scholl unter dem Titel „Calvinus catholicus“5 ist Indiz für eine solche eingetretene Wende. Hans Scholl publizierte seine gediegene und noch heute lesenswerte Studie 1974 mit dem Untertitel: „Die katholische Calvinforschung im 20. Jahrhundert“. Warum interessiert sich ein Reformierter für die katholische Calvinforschung? Wohl kaum, um nur polemische Urteile gegen Calvin zusammenzutragen! Zwar ist dies im Rückblick auf die Zeiten der Kontroverstheologie und noch im Blick auf neuscholastische Theologien zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Hans Scholl nicht zu umgehen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch werden neue Zugänge entwickelt. Calvinus catholicus meint nun: Calvin kommt der katholischen Perspektive als beachtenswerter Theologe in den Blick. Es beginnt eine Zeit sachlicher, mehr vorurteilsfreier Calvinstudien auch auf katholischer Seite.6 Dass gerade der reformierte Theologe Hans Scholl sich seinerseits diesem Calvinus catholicus widmet, besagt weiterhin: Die auf dem Boden katholischer Theologie gewachsenen Studien über Leben, Werk und Schriften Calvins stellen auch aus reformierter Perspektive eine Bereicherung der Calvinforschung dar. Wenn Katholiken Calvin mit ihren Augen betrachten, entstehen nicht mehr nur Vorurteile, sondern Einsichten, die für die Erschließung der Theologie Calvins weiterführend sind. 1.3 Der in katholischer Kirche und Theologie rezipierte Calvin An dieser Stelle tut sich noch eine weitere Bedeutungsebene von „Calvin catholicus“ auf. Mit dem Abbau von Vorurteilen wächst in der katholischen Theologie das Gespür dafür, dass in Calvins Theologie tatsächlich katholische Tradition bewahrt ist. Alexandre Ganoczy schreibt im Vorwort zur deutschen Übersetzung seiner Studie über Calvins Theologie der Kirche und der Ämter, er habe in der ersten, französischen Fassung (1964) die Aussagen Calvins mit den Thesen der herkömmlichen römisch-katholischen Schultheologie verglichen, während er in der deutschen Neuausgabe von 1968 als Vergleichspunkt die dogmatischen Aussagen des II. Vatikanischen Konzils wähle.7 Umbrüche in der katholischen Theologie lassen neue Konvergenzen zwischen Calvins Theologie und der römisch-katholischen Theologie erkennen, die sich auf gemeinsame Bezüge zur biblischen und authen—————

5 H. SCHOLL, Calvinus catholicus. Die katholische Calvinforschung im 20. Jahrhundert, ÖF.E 7, Freiburg i.Br. 1974. 6 Vgl. dazu meinen Beitrag: Calvin im Spiegel seiner Interpreten. Der lange Weg zur Überwindung von Vorurteilen am Beispiel der Sakramententheologie, ThRev 105, 2009, 178–194. 7 A. GANOCZY, Ecclesia ministrans. Dienende Kirche und kirchlicher Dienst bei Calvin, ÖF.E 3, Freiburg i.Br. 1968, 5.

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tisch-katholischen Tradition zurückführen lassen. Auch aus katholischen Augen kann also anerkannt werden, dass es den reformiert-katholischen Calvin im Sinne von Abschnitt 1.1. gibt. Darüber hinaus wird anerkannt, dass Calvins Theologie in ihren ureigenen Einsichten positiv inspirierend für die katholische Glaubensauffassung sein kann. Hier wird das Stichwort: „Calvin-Rezeption“ bedeutsam. Intendiert wird nun nicht mehr nur eine neutrale Erforschung der Theologie Calvins, sondern es geht um die Frage: Inwiefern kann seine Theologie heute in römisch-katholischem Denken aufgenommen werden? In diesem Sinne legt der folgende Beitrag das Hauptaugenmerk auf die Frage nach der Präsenz Calvinischer Positionen in der neueren römisch-katholischen Theologie. Diese kennt zwar – wie ebenfalls zu registrieren sein wird – bleibend eine kritische bis verurteilende Auseinandersetzung mit der Theologie Calvins; es kommt aber auch zu einer (anfanghaften) Rezeption von spezifisch calvinischen Theologumena auf römisch-katholischer Seite. Dies soll im Folgenden an einigen Themen gezeigt werden.

2. Calvin-Rezeption in römisch-katholischer Theologie 2.1. Calvins Lehre vom Heiligen Geist gegen die Geistvergessenheit der lateinischen Tradition Die lateinische Tradition hat dem Wirken des Geistes verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Orthodoxe Theologen haben deswegen von Christomonismus gesprochen und eine „Geistvergessenheit“ diagnostiziert. Dem Reformator Johannes Calvin ist eine solche Geistvergessenheit nicht vorzuwerfen. Die Aufmerksamkeit für das Wirken des Geistes zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Schöpfungstheologisch ist bei ihm der Geist vor allem in Bezug auf die Erhaltung der Schöpfung bedeutsam, was ein erstes Mal das Thema des kreatürlichen Eigenstandes im Verhältnis zur umfassenden Abhängigkeit der Geschöpfe von Gott anklingen lässt. Sodann bringt Calvin das Geistwirken ins Spiel, um zu erhellen, wie die „objektive“ geschichtliche Zuwendung Gottes die Menschen in ihrem Inneren auch je individuell und „subjektiv“ erreichen kann. Es ist der Geist, welcher das Christusgeschehen den Menschen zueignet, das Wort durch das innere Zeugnis im Herzen besiegelt und so den Glauben ermöglicht. Auch kommt Calvin auf das Geistwirken zu sprechen, wenn es um die Gemeinschaft von Gott und Mensch geht, also bei Themen wie dem Umfangensein des menschlichen Tuns von der Gnade und der unio cum Christo. Immer dort wo größtmögliche Abhängigkeit von und Einheit mit Gott ausgesagt

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werden soll, ist es ihm ein Anliegen, den kreatürlichen Eigenstand des Menschen (inkl. seiner Freiheit!) nicht in Gott hinein aufzulösen. Genau hier wird das Geistwirken bedeutsam, welches Unterschiedenes verbindet, ohne es miteinander zu verschmelzen, und welches das Innerste des Menschen berühren kann, ohne den spezifisch menschlichen Anteil der Glaubensantwort aufzuheben. Wenn also mit der Theologie Calvins in der westlichen Tradition ein pneumatologisch gehaltvoller Entwurf vorliegt, hat die katholische Theologie dies bei ihren Bemühungen um eine Überwindung der Geistvergessenheit aufgenommen? Yves Congar würdigt in seinem Standardwerk über den Heiligen Geist die Auffassung Calvins, das Verstehen der Heiligen Schrift sei dem Wirken Gottes im Menschen, genauerhin dem inneren Zeugnis des Geistes zuzuschreiben. „Die Position Calvins ist für uns vor allem infolge des allgemeinen Prinzips von Interesse, das seiner Ekklesiologie zugrundliegt […]: ‚Gott arbeitet an uns auf doppelte Weise: von innen her durch seinen Geist, von außen her durch sein Wort‘ und durch die Sakramente“. Redeweisen Calvins, die dem Geist ein verbindendes Wirken zuschreiben, seien „Redeweisen, die der Pneumatologie und der Ekklesiologie gut tun, obschon sie nicht den ganzen Realismus der Gegenwart des Herrn Jesus in der Eucharistie sicherstellen“.8 Josef Freitag konstatiert in seiner Studie „Geist-Vergessen – GeistErinnern“ eine stärkere Berücksichtigung des Geistwirkens durch Calvin zumal in der Sakramententheologie: Es komme zu einer „deutlichen Aufwertung und Entfaltung der Rolle des Heiligen Geistes im sakramentalen Geschehen. Die Rolle ist wirklich eine eigene, weil nach Calvin nur durch den Geist Gemeinschaft mit Christus möglich ist“.9 Die meisten Handbücher der katholischen Dogmatik erwähnen den pneumatologischen Ansatz Calvins, ohne indes ausführlich darauf anzugehen. Immerhin gibt Bernd Jochen Hilberath Calvin den Ehrentitel, er sei der „Pneumatologe unter den Reformatoren“, der „die universale Vermittlung im Heiligen Geist ausdrücklich in Soteriologie und Ekklesiologie thematisiert“ habe.10 Stärker als andere betone Calvin die Auswirkung der Geistbegabung im gesellschaftlich-politischen Leben. Bertram Stubenrauch unterscheidet das schöpferische Wirken des Geistes von seinem Wirken in den Erlösten, das diese mit Christus vereint und ————— 8

Y. CONGAR, Der Heilige Geist, Freiburg i.Br. 1982, 133. J. FREITAG, Geist-Vergessen – Geist-Erinnern. Vladimir Losskys Pneumatologie als Herausforderung westlicher Theologie, StSSTh 15, Würzburg 1995, 259 Anm. 16. Calvins Theologie gelangt in dieser Studie noch vermittelt zu Gehör, insofern sie als inspirierende Kraft der Schöpfungstheologie vor allem bei Jürgen Moltmann genannt wird (ebd., 331). 10 B.J. HILBERATH, Pneumatologie, LeTh 23, Düsseldorf 1994, 151. 9

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die Heiligung schenkt. Gewürdigt wird vor allem Calvins Gespür für den Geist als Band der unio cum Christo. Eher kritisch vermerkt wird Calvins Betonung der Freiheit und Souveränität des Geistes: so werde der ursächliche Zusammenhang zwischen Sakrament und Geistmitteilung geleugnet.11 Um diesen noch etwas oberflächlichen Eindruck von der katholischen Würdigung pneumatologischer Gedanken Calvins zu vertiefen, lohnt es sich, eine genauere Stichprobe bei zwei einzelnen Themen zu machen. Die Abendmahls- bzw. Eucharistietheologie scheint dafür besonders geeignet zu sein, denn die besondere Rolle des Heiligen Geistes in Calvins Verständnis vom Abendmahl gehört zu den bekannteren Eigenheiten seiner Theologie. Zuvor legt sich ein Blick auf die Rolle des Geistes bei der Begründung des Glaubens im Verhältnis zur Freiheit des Menschen nahe – ein Thema von kontroverstheologischer Brisanz. 2.1.1 Der Geist und der Glaube Calvin sieht den Heiligen Geist am Werk, wenn die Wirklichkeit Jesu Christi die Menschen ergreift. Wenngleich die Notwendigkeit dieses Geistwirkens unterschiedlich gefasst werden kann, geht es doch immer um die Vermittlung verschiedener Dimensionen: das, was den Menschen von außen angeht, muss ihn auch innerlich erreichen; das objektive Heilswerk muss subjektiv bei den Menschen ankommen und durch sie angeeignet werden. Nach Calvin ist es der Geist, der jeweils überbrückend und verbindend wirkt und so den Glauben ermöglicht. Da Calvin in katholischer Theologie in dieser Hinsicht nach meinem Dafürhalten zu Unrecht noch immer im Verdacht steht, den Glauben als Werk Gottes ohne Beteiligung des Menschen zu fassen, soll hier zuerst die katholische Kritik das Wort haben, bevor aus Calvins Texten eine differenziertere Sicht erarbeitet wird. Sie erlaubt ein Plädoyer für eine Rezeption des Calvinischen Ansatzes gerade im Hinblick auf rechtfertigungstheologische Fragen. Von katholischen Theologen wird Calvins pneumatologische Theologie noch kaum als differenzierter Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis von Gnade und Freiheit gelesen; vielmehr wird ihr vorgeworfen, die personale Beteiligung des Menschen auszublenden. Stefan Scheld schreibt zwar zunächst in sympathischer Charakterisierung:

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11 Vgl. B. STUBENRAUCH, Pneumatologie – Die Lehre vom Heiligen Geist, in: W. BEINERT (Hg.), Glaubenszugänge. Lehrbuch der katholischen Dogmatik. Bd. 3, Paderborn 1995, (1–156) 103f. Zur Korrektur dieses in katholischer Theologie verbreiteten Urteils vgl. FABER, Calvin im Spiegel.

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Man gewinnt hier fast den Eindruck, als ob der Geist jenes göttliche Subjekt sei, das dem Menschen das Werkzeug des Glaubens liebevoll in die Hand drückt, damit durch es die äusseren Gnadenmittel fruchtbar aufgenommen werden können.

Zu sehr sieht er dann aber „die Vorstellung von echter menschlicher Personalität, Freiheit und Verantwortung“ in Frage gestellt. „Gebet und Liebe des Menschen zu Gott geraten in den Verdacht, zum Selbstgespräch Gottes mit sich und zu seiner göttlichen Eigenliebe zu entarten“.12 Nach Ansicht Schelds hat für Calvin das innere Wirken des Geistes den Charakter der Unwiderstehlichkeit und erfüllt so, obgleich nicht Zwang, sondern Notwendigkeit genannt, auf höchst sublime und enervierende Weise den Sachverhalt des Zwangs, weil eben die Freiheit genommen ist, sich der fremden Einwirkung, mag sie von außen oder innen kommen, zu entziehen.13

Daraus folgert Scheld, dass Calvin „dem Freiraum und Gehorsam geistiger Geschöpfe im Vermittlungsprozess Gottes kaum konstruktive Bedeutung beimessen kann“.14 Gott scheint „an die Stelle der menschlichen Person zu treten“.15 Deswegen aber entsteht der Verdacht, dass die Liebe des Menschen zu Gott als Teil jener Steuerung des menschlichen Willens zum Guten möglicherweise das Wesentlichste nicht enthält, worauf es in der Liebe ankommt, nämlich die freie und personale Selbsthingabe. Gott wäre es dann ja, der unter Ausklammerung der Person des Menschen den Willen zur Gottesliebe hinbewegte, so dass die menschliche Gottesliebe nichts anderes wäre als eine getarnte Form der Selbstliebe Gottes.16

Eine ähnliche Einschätzung lässt Donath Hercsik erkennen: „Calvin scheint in der Annahme des Wortes Gottes keinen menschlichen Akt, sondern eine solche Wirkung zu sehen, die vom Heiligen Geist in einem ansonsten vollkommen passiven Empfänger gewirkt wird“.17 Calvins Texte zu diesem – subtilen! – Thema zeugen von einer ausgewogeneren Sicht. Wie die anderen Reformatoren (aber auch wie die katholische Theologie selbst) betont er das Unvermögen des Menschen, sich selbst zu retten, also aus eigenen Kräften zum rettenden Glauben zu gelangen. „Der Wille wird unter der Knechtschaft der Sünde gefangengehalten, und deshalb kann er sich nicht zum Guten hin bewegen, geschweige denn ————— 12 13 14 15 16 17

S. SCHELD, Media salutis. Zur Heilsvermittlung bei Calvin, VIEG 125, Stuttgart 1989, 258. Ebd., 202. Ebd., 32. Ebd., 204. Ebd., 205. D. HERCSIK, Der Glaube. Eine katholische Theologie des Glaubensaktes, Würzburg 2007,

265.

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es erfassen“.18 Deswegen muss der Wille nicht nur gestärkt, sondern ganz erneuert werden. Andererseits unterscheidet Calvin die Neuschöpfung des Willens von der Schöpfung: Der sündige Mensch hat seinen Willen nicht verloren. Ich sage, der Wille werde abgetan. Das heißt nicht: Er wird als Wille abgetan, denn was zur ersten (ursprünglichen) Natur gehört, das bleibt in der Bekehrung des Menschen unangetastet. Ich meine es so: Der Wille wird neu geschaffen, nicht um etwa erst anzufangen, Wille zu sein, sondern um vom Bösen zum Guten bekehrt zu werden!19

Dann aber kommt es darauf an, wie – nach Calvins Auffassung – Gott bei der Bekehrung mit diesem menschlichen Willen umgeht. Ist dabei die personale Würde auch des Sünders beachtet, oder bekehrt Gott ihn unter Zwang? Calvin unterscheidet subtil Zwang und Notwendigkeit. Zwang läge vor, wenn der Mensch unter äußerem Einfluss genötigt wäre; Notwendigkeit liegt vor, wenn er von innen her nicht anders als in einer bestimmten Weise handeln kann. Calvin führt diese Unterscheidung mit Blick auf die (als Notwendigkeit zu verstehende) Knechtschaft des Willens unter der Sünde ein20, entspricht ihr aber auch in seiner Rede von der Gnade. Hier gilt es einerseits, deren Wirksamkeit festzuhalten: Gott bewegt den Willen. Aber das geschieht nicht, wie Jahrhunderte lang gelehrt und geglaubt worden ist, so, dass es dann in unserer Entscheidung stünde, dieser Bewegung Gehorsam oder auch Widerstand zu leisten, sondern indem er (Gott) ihn (den Willen) wirksam ergreift (illam efficaciter afficiendo).21

In der Einschätzung der katholischen Tradition irrt Calvin; auch sie lehrt weitgehend die Notwendigkeit, dass die wirkende Gnade den Willen vom Bösen zum Guten kehrt. Auf dieser Ebene gibt es auch nach katholischer Auffassung keinen Beitrag des Menschen. Die Frage ist andererseits aber, wie dies geschieht, ohne dass der Mensch wie ein lebloses Ding behandelt wird. In Auslegung der Aussage von Phil 2,13, der zufolge Gott in uns das Wollen hervorbringt, schreibt Calvin. „Und das heißt doch nichts anderes, als dass der Herr durch seinen Geist unser Herz lenkt, leitet und regiert und in ihm als in seinem Besitztum sein Regiment führt“.22 Die Paraphrasierung lässt erkennen, wie Calvin personale Begrifflichkeit wählt, wenn er das Einwirken Gottes durch seinen Geist auf den Menschen beschreibt. Er rekur————— 18 19 20 21 22

Inst. (1559), II,3,5. Inst. (1559), II,3,6. Vgl. Inst. (1559), II,3,5. Inst. (1559), II,3,10. Ebd.

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riert auf das innere Wirken des Geistes in der Absicht und in der Gewissheit, damit den personalen Charakter der menschlichen Glaubensantwort zu wahren. Dies zeigt auch eine Aussage, die zwar einschränkend gemeint ist, dabei aber gleichwohl die personale Beteiligung des Menschen zum Ausdruck bringt: Der Mensch wird nicht so gezogen, dass er ohne Bewegung des Herzens, wie von einem äußeren Anstoß (impulsus) getrieben würde, sondern er wird innerlich so ergriffen, dass er von Herzen gehorcht.23

Wir stehen hier am Kern eines nicht nur kontroverstheologischen, sondern sachlichen Problems, welches ein spannungsreiches Festhalten an zwei Eckpunkten verlangt: (a) Der Mensch hat keine Freiheit auf Gott hin und ist im Blick auf das Heil völlig auf die Gnade Gottes angewiesen. (b) Er wird aber ins Erlösungsgeschehen als Mensch in personaler Weise einbezogen. Calvins Absicht, beiden Aspekten zu entsprechen, ist zu würdigen. Dabei führt gerade sein pneumatologischer Ansatz über die Aporien eines Konkurrenzverhältnisses von Gnade und Freiheit hinaus. Es ist der Geist Gottes, der dem Menschen so gerecht wird, dass die wirksame Gnade die personale Würde des Menschen nicht eliminiert, sondern zu sich selbst bringt. Indem Calvins Theologie auf den Geist als denjenigen hinweist, von dessen Wirken die Heilssituation des Menschen vollkommen abhängt, weist er auf den Grund hin, warum Gottes Wirken am Menschen nicht anders als personal zu verstehen ist. Dasselbe „Prinzip“ also steht für beide Anliegen, Angewiesenheit auf Gnade und personales Beteiligtsein, ein. Es ist bedauernswert, dass die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ auf dem Boden nur der römisch-katholischen und der lutherischen Tradition das gleichzeitige Festhalten an der völligen Angewiesenheit des Menschen auf die Gnade und sein personales Beteiligtsein24 nicht in Calvins pneumatologischer Sicht verwurzelt hat. Eine Rezeption seiner Sicht hätte es erlaubt, besser darzulegen, wie sich beide Aspekte gegenseitig sogar bestärken. 2.1.2 Das Wirken des Geistes im Abendmahlsgeschehen Calvin distanziert sich von der mittelalterlichen Auffassung der Realpräsenz im Sinne der Transsubstantiationslehre ebenso wie von Martin Luthers Begründung der Realpräsenz in der Ubiquitätslehre. Maßgeblich für Calvin ist die Auffassung, dass der menschliche Leib Jesu Christi zur Rechten des Vaters ist und nicht in die Abendmahlsgestalten hineingezogen werden ————— 23

Inst. (1559), II,3,14. Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche, DwÜ 3, 2003, (419–441) Nr. 20f. 24

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darf. Gleichwohl zielen seine Aussagen auf die wahrhafte Teilhabe der Glaubenden an der ganzen Wirklichkeit Jesu Christi, die er pneumatologisch vermittelt sieht. Lassen wir bei diesem Punkt zunächst die entsprechenden Aussagen Revue passieren. Frühe Formulierungen schon in der ersten Fassung der Institutio sprechen von der geistlichen Gegenwart, ohne dies jedoch ausdrücklich pneumatologisch auszubuchstabieren.25 Dies geschieht in knapper Weise im Genfer Katechismus von 1537: Die Zeichen sind Brot und Wein, mit denen der Herr uns die wahre Mitteilung seines Leibes und Blutes darbietet, jedoch als eine geistliche; ihr genügt das Band des Heiligen Geistes, und sie verlangt in keiner Weise eine Gegenwart, bei der das Fleisch unter dem Brot und das Blut unter dem Wein eingeschlossen wäre.26

Die Institutio nennt seit 1539 den Geist des Herrn das Band der Verbindung mit Christus, und er wird (mit Bezug auf Johannes Chrysostomus) einem Kanal verglichen, durch den alles, was Christus selbst ist und hat, zu uns geleitet wird. Durch den Geist kommt es dazu, „dass wir den ganzen Christus besitzen und als den haben, der in uns bleibt“.27 Im kleinen Abendmahlstraktat von 1541 hebt Calvin wiederum hervor, das Leben, zu dem Christus uns wiedergeboren habe, sei ein geistliches, „dem entsprechend muss auch die Speise, die uns darin erhält und stärkt, geistlicher Art sein“.28 Weil die Menschheit Jesu in den Himmel erhoben ist, „müssen wir unsere Gedanken allezeit in die Höhe erheben, um den Erlöser zu suchen“.29 Ganz am Schluss kommt Calvin darauf zurück, und verbindet dies nun – im letzten Satz – mit dem Blick auf den Geist: Wir müssen das Herz in die Höhe, in den Himmel erheben. Denn wir dürfen nicht meinen, der Herr Jesus sei so sehr erniedrigt worden, dass er in irgendwelche verweslichen Elemente eingeschlossen wäre. Damit andererseits die Wirksamkeit dieses heiligen Mysteriums nicht herabgemindert wird, müssen wir uns vor Augen halten: Sie geschieht durch Gottes verborgene und wunderbare Kraft, und der Geist Gottes ist das verbindende Band in dieser Mitteilung. Deshalb wird sie ja auch eine geistliche genannt.30

—————

25 OS 1, 139: „spirituale quiddam esse sacramentum, quo Dominus non ventres nostros, sed animas pascere voluit“. 26 CO 22, 69 (Instruction et confession de foy, 1537). 27 Inst. (1559), IV,17,12 (Text von 1539). 1559 greift Calvin diesen Gedanken noch mehrfach wieder auf: Inst. (1559), IV,17,10.31.33. Siehe dazu auch CO 49,487f. (Kommentar zu 1Kor 11,24). 28 CO 5, 434 (Kleiner Abendmahlstraktat, 1541). 29 Ebd., 452. 30 Ebd., 460.

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Wie ein Blick in den Genfer Katechismus von 1545 zeigt, zählt Calvin diese Lehre zum katechetisch zu vermittelnden Grundwissen. Auf die Überzeugung, dass Christus uns im Abendmahl „seiner Wirklichkeit teilhaftig macht“, folgt die Frage: „Wie kann dies aber geschehen, wenn er Leib Christi im Himmel ist, wir aber noch auf der Erde unterwegs sind?“ Die Antwort verweist auf den Geist: „Er bewirkt dies durch die wunderbare und verborgene Kraft seines Geistes, für den es keine Schwierigkeit bedeutet, räumlich Getrenntes und Entferntes zu verbinden“.31 Wie nun setzt sich die neuere katholische Theologie mit der Gestalt dieser calvinischen Abendmahlstheologie auseinander? In einem Aufsatz von 1967 über die Transsubstantiationslehre macht Joseph Ratzinger – untypisch für deutsche Theologie – den reformatorischen Einspruch zuerst an Johannes Calvin fest. Wenngleich Ratzinger als katholischer Theologe durchaus harte Bedenken gegenüber Calvins Ansatz anmeldet, würdigt er verschiedene Aspekte, darunter das pneumatologische Anliegen. Der relevante Abschnitt beginnt mit der Einschätzung, Calvin habe „sich gemüht, möglichst getreu die Eucharistielehre Augustinus zu erneuern“, er habe sie aber „zu einem geschlossenen System umgewandelt“ und „Erweiterungen gegenüber der Lehre Augustins“ herbeigeführt.32 Der Ausgangspunkt Calvins liege in einer starken Betonung des wirklichen Menschseins Jesu, die sich in einer „auch lokal gefassten Theologie der Himmelfahrt“ geäußert habe. Eben dies stehe an der Wurzel der Kritik Calvins an Luthers Ubiquitätslehre. Hinsichtlich der Abendmahlstheologie erkennt Ratzinger an, dass Calvin eine „reale Vereinigung mit Christus im Genuss der eucharistischen Gaben“ lehrt, „indem uns nämlich Christus durch den Heiligen Geist zu sich emporzieht“.33 Ratzinger kommentiert dies positiv: Der pneumatologische Charakter des christlichen Kultes und der Eucharistiefeier wird bei Calvin wieder deutlich gesehen. Christlicher Kult ist Geschehen im Heiligen Geiste. Der Heilige Geist ist der Raum, in dem sich christlicher Gottesdienst abspielt.34

Zunächst positiv bewertet wird auch die „Dialektik von Theologie der Inkarnation des Herrn, der sich ganz in unsere Hände gibt, und Himmelfahrt des Herrn […], der dabei doch der ganz-Andere in seiner durch nichts und niemand zu bindenden überlegenen Mächtigkeit bleibt“.35 ————— 31

CO 6, 128 (Genfer Katechismus, 1545, Fragen 353f.). J. RATZINGER, Das Problem der Transsubstantiation und die Frage nach dem Sinn der Eucharistie, ThQ 147, 1967, (129–158) 133. 33 Ebd. 34 Ebd., 134. 35 Ebd. 32

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Hier setzt dann aber doch auch Kritik an, insofern Ratzinger in dieser Spannung die Theologie der Inkarnation nicht hinreichend gewährleistet sieht: Es gibt kein wirkliches Eingehen des Herrn in die irdische Wirklichkeit mehr, in dem dialektischen Zusammenspiel von Hiersein und Nichthiersein droht das Hiersein praktisch aufgehoben zu werden; das Hier wird bedeutungslos gegenüber dem Dort.

Pneumatologisch formuliert: Das ganz und gar pneumatisch-dynamische Verständnis des Kults bringt solche Gedanken mit Notwendigkeit hervor, die zwar eine gewisse Form von eucharistischer Realpräsenz nicht aufheben, sie aber doch mit der allgemeinen Realpräsenz im Glauben gleichbedeutend werden lassen.36

Das Proprium der Eucharistie gehe dadurch verloren.37 Die Herausforderung für die katholische Theologie wird gleichwohl in vier Punkten positiv formuliert. Als denkwürdig festgehalten werden Calvins Gespür für die Unverfügbarkeit des Herrn, den die mittelalterliche Theologie undialektisch im Tabernakel bannen wollte, und seine Betonung der Menschheit auch des Erhöhten. Zwei weitere Punkte benennen pneumatologische Anliegen, welche sich dem zu statischen Eucharistieverständnis des Mittelalters zu Recht entgegenstellen: Dem ganz und gar statisch gewordenen Eucharistieverständnis des Mittelalters […] begegnet ein radikalisiert dynamisches Verständnis, für das sich allein in der vom Heiligen Geist getragenen actio sacramentalis das Zugehen Christi auf den Menschen bzw. das Hinaufgezogenwerden des Menschen zu Christus ereignet.38

Gegen die Zentrierung auf ein statisches Anbetungsverständnis wird das dynamische Verständnis des Geschehens der Anbetung als Erheben der Herzen gestellt: „Das Sursum cor erscheint demgegenüber hier als die betont pneumatische Mitte der sakramentalen Feier“.39 Zu bedauern ist, dass Ratzinger in den weiteren Ausführungen des Artikels zwar nochmals auf Calvin zurückkommt, indem er die „Theologie der Himmelfahrt“ wieder aufnimmt. Der pneumatologische Grundton der Eucharistielehre Calvins aber findet keine weitere Berücksichtigung. Auch in anderen Schriften Ratzingers mit Bezug zur Eucharistie fällt eine pneuma-

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Ebd., 135. Vgl. ebd., 137. Ebd., 136. Ebd.

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tologische Sicht weitgehend aus.40 Eine nachhaltige Rezeption der pneumatologischen Akzente Calvins hat somit nicht stattgefunden. Immerhin dürfte die relativ ausführliche Erwähnung Calvins und seiner pneumatologischen Sicht in dem vielbeachteten und häufig zitierten Aufsatz Ratzingers wirkungsgeschichtlich bedeutsam gewesen sein. So greift Alexander Gerken in seinem Standardwerk zur Eucharistietheologie mehrfach auf die Auseinandersetzung Ratzingers mit Calvin zurück, dies allerdings auf der Linie von Ratzingers Kritik an der Dialektik von Anwesenheit und Abwesenheit bzw. Schon und Noch-nicht.41 In berechtigter Reaktion auf den Objektivismus des Mittelalters habe Johannes Calvin (wie schon Martin Luther) die Souveränität Gottes herausgestellt, dabei aber die inkarnatorische Selbstbindung Gottes zu gering bewertet und sei damit auch der geistlich-leiblichen Dimension des Sakramentalen nicht gerecht geworden. Calvin habe – „dem reformatorischen Prinzip darin treuer als Luther – auch im Sakrament dem unsichtbaren, nicht gebundenen, prädestinierenden Willen und Wirken des Geistes (oft gegen die kontinuierlich-leibhaftige Gestalt des Sakramentes) immer die Führung“ zuerkannt.42 Eine anerkennende Würdigung der Eucharistielehre Calvins findet sich bei Lothar Lies. Er hebt hervor, „dass Calvin […] den Heiligen Geist in das sakramentale Geschehen der Eucharistie einbezieht, was die mittelalterliche Theologie vor der Reformation und die übrigen Reformatoren ebenfalls vergessen hatten“.43 Bezugspunkt ist hier Calvins Sicht der vom Geist gewirkten Verbindung mit dem im Himmel weilenden Leib Christi. In der ökumenischen Vergewisserung zum Thema Epiklese nimmt Lies Bezug auf die „Calvinisten“.44 Während gewöhnlich vor allem orthodoxe Wurzeln für die neue Gewichtung der Epiklese in der katholischen Liturgietheologie benannt werden, macht Lies auch Einflüsse der reformierten Seite, namentlich der Theologen Franz-Jehan Leenhardt45, Jean-Jacques von Allmen46 und Max Thurian47, geltend.48 Eine solche über reformierte Theologen vermittelte Rezeption Calvins lässt sich auch bei Theologen wie Edward Schille————— 40

Vgl. z.B. J. RATZINGER, Kommunion – Kommunität – Sendung. Über den Zusammenhang von Eucharistie, Gemeinschaft (Gemeinde) und Sendung in der Kirche, in: DERS., Schauen auf den Durchbohrten, Einsiedeln 1984, 60–84. 41 Vgl. A. GERKEN, Theologie der Eucharistie, München 1973, 30.78.186. 42 Ebd., 131. 43 L. LIES, Eucharistie in ökumenischer Verantwortung, Graz 1996, 145. 44 Vgl. ebd., 98. 45 F.-J. LEENHARDT, Ceci est mon corps. Explication de ces paroles de Jésus-Christ, CTh 37, Neuchâtel 1955. 46 J.-J. VON ALLMEN, Ökumene im Herrenmahl, Kassel 1968. 47 M. THURIAN, L’Eucharistie. Mémorial du Seigneur, sacrifice d’action de Grâce et d’intercession, Neuchâtel 1959 (= DERS., Eucharistie. Einheit am Tisch des Herrn? Mainz / Stuttgart 1963). 48 Vgl. LIES, Eucharistie, 98f.

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beeckx finden49 und findet eine schöne Frucht in dem von Bernd Jochen Hilberath und Theodor Schneider verfassten Artikel Eucharistie des Neuen Handbuchs theologischer Grundbegriffe, wo es heißt: „Die Gaben von Brot und Wein werden durch Jesus Christus selbst, den gekreuzigten Erhöhten, in der Kraft seines Hl. Geistes in eine völlig neue Beziehung zu uns gesetzt“.50 Wie weit eine positive Rezeption der calvinischen Abendmahlstheologie in katholischer Theologie gehen kann, sei schließlich an einem Aufsatz von Georg Hintzen dokumentiert. Er bezeugt Verständnis für Calvins Ablehnung der Ubiquitätslehre Luthers und bekundet: Calvins Lehre, die Kommunikation der Gläubigen mit dem im Himmel thronenden „totus Christus“ sei ein unbegreifliches Werk des Heiligen Geistes, und der damit gegebene Verzicht auf eine Erklärung mit Hilfe philosophischer Denkkategorien könnte aus heutiger Sicht als die unter den Denkvoraussetzungen des 16. Jahrhunderts angemessenste Aussage über die Realpräsenz erscheinen.51

Exkursartig sei hier ein Seitenblick auf die ökumenische Rezeption Calvins geworfen. Der Versuch, im ökumenischen Dialog unterschiedliche Verständnisse von der „Realpräsenz“ Jesu Christi im Abendmahlsgeschehen zu vermitteln, tut gut daran, auf die Abendmahlstheologie Calvins zu rekurrieren. In der Studie „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ geht es um die Frage, ob die gegenseitigen Verwerfungen des 16. Jahrhunderts den damaligen „Gegner“ wirklich getroffen haben und ob sie heute die konfessionellen Positionierungen treffen. Uns interessiert hier in erster Linie die Auseinandersetzung um Can. 1 des Trienter Dekretes über die Eucharistie: Wer leugnet, dass im Sakrament der heiligsten Eucharistie wahrhaft, wirklich und substanzhaft der Leib und das Blut zusammen mit der Seele und Gottheit unseres Herrn Jesus Christus und daher der ganze Christus enthalten ist, vielmehr sagt, er sei lediglich wie in einem Zeichen bzw. Abbild oder der Wirkkraft nach (ut in signo vel figura, aut virtute) in ihm: der sei mit dem Anathema belegt (DH 1651).

In Erörterung dieses Canons stellt die Studie „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ fest, dass die Position Calvins damit nicht getroffen sei. Denn Calvin betone zwar den Unterschied zwischen signum und res, vertre—————

49 E. SCHILLEBEECKX, Die eucharistische Gegenwart. Zur Diskussion über die Realpräsenz, Theologische Perspektiven, Düsseldorf 1967, 51, verweist nur flüchtig auf Calvin, greift aber ausführlicher auf Leenhardt und Thurian zurück (vgl. ebd., 50f.70). 50 B.J. HILBERATH / T. SCHNEIDER, Art. Eucharistie, NHThG 1, (418–438) 435. 51 G. HINTZEN, Gedanken zu einem personalen Verständnis der eucharistischen Realpräsenz, Cath 39, 1985, (279–310) 289.

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te aber keinen rein äußerlichen Symbolismus. Zudem sei Calvins Verwendung von virtus pneumatologisch gefüllt: Er spricht auch von der Wirksamkeit (virtus), die von Christus ausgeht, jedoch anders als die vom Canon verworfene Position: Bei Calvin ist die virtus nichts anderes als die uneingeschränkte Wirksamkeit des Heiligen Geistes (virtus Spiritus sancti). Diese ist mit „tantummodo … virtute“ („nur wie … in der Wirksamkeit“) keineswegs gekennzeichnet.52

Dass es die Wirkkraft des Heiligen Geistes ist, welche die Vereinigung der Glaubenden mit Jesus Christus im Abendmahl herbeiführt, nimmt das Lima-Dokument auf. Dort heißt es: Der Heilige Geist macht im eucharistischen Mahl den gekreuzigten und auferstandenen Christus für uns wahrhaft gegenwärtig, indem er die Verheißung der Einsetzungsworte erfüllt. Die Gegenwart Christi ist eindeutig das Zentrum der Eucharistie, und die in den Einsetzungsworten enthaltene Verheißung ist daher grundlegend für die Feier. Es ist jedoch der Vater, der der primäre Ursprung und die letztliche Erfüllung des eucharistischen Geschehens ist. Der menschgewordene Sohn Gottes, durch den und in dem es vollbracht wird, ist dessen lebendiges Zentrum. Der Heilige Geist ist die unermessliche Kraft der Liebe, die dieses Geschehen ermöglicht und es weiterhin wirksam macht. Das Band zwischen der eucharistischen Feier und dem Geheimnis des dreieinigen Gottes enthüllt die Rolle des Heiligen Geistes als die des Einen, der die historischen Worte Jesu gegenwärtig und lebendig werden lässt. Indem die Kirche durch Jesu Verheißung in den Einsetzungsworten dessen versichert wird, bittet die Kirche den Vater um die Gabe des Heiligen Geistes, damit das eucharistische Geschehen Wirklichkeit werden möge: die wirkliche Gegenwart (Realpräsenz) des gekreuzigten und auferstandenen Christus, der sein Leben für die ganze Menschheit gibt.53

Calvins pneumatologisches Verständnis des Abendmahles hat hier – in katholischer und ökumenischer Theologie – reiche Frucht getragen. 2.2 Die Frage nach der wahren Kirche und ihren Spuren Ein in der katholischen Theologie heute verbreitetes Motiv, bei dem die calvinischen Wurzeln bekannt und bewusst sind, ist die ökumenisch bedeutsame Rede von den „Spuren“ bzw. „Elementen“ der Kirche. Sie steht im Kontext der Identifizierung der wahren Kirche und antwortet auf die ————— 52

K. LEHMANN / W. PANNENBERG (Hg.), Ökumenischer Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. 1: Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, DiKi 4, Freiburg i.Br. / Göttingen 1986, 95. 53 Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des ÖRK: Taufe, Eucharistie und Amt („Lima-Dokument“ 1982), DwÜ 1, (545–585), Nr. 14.

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Frage, ob auch außerhalb dessen, was man jeweils als wahre Kirche identifiziert, von Kirche gesprochen werden kann. 2.2.1 Calvins Rede von den Spuren der Kirche Die Reformation ist auch ein Streit um die wahre Kirche. Wäre die katholische Kirche für die Reformatoren zweifellos „wahre Kirche“ gewesen, so wäre der Schritt zum Aufbau neuer kirchlicher Strukturen ihnen selbst problematischer gewesen. Calvin verteidigt sich (exemplarisch abzulesen an seiner Antwort an Kardinal Sadolet 1539) vehement gegen den Vorwurf, die Kirche zu spalten bzw. sich von der wahren Kirche zu trennen. Dies nötigt ihn zu einer eingehenden Auseinandersetzung über den Begriff der Kirche, über die Kontinuität zur alten Kirche und über die Kennzeichen der wahren Kirche. Sein Anliegen ist die Wiederherstellung des wahren Kircheseins, das seiner Ansicht nach unter der Herrschaft des Papsttums verdunkelt und verkehrt worden ist. Hier nun stellt sich die Frage: Identifiziert Calvin die „alte“ Kirche überhaupt noch als Kirche? Calvin verbindet in dieser Hinsicht radikale Kritik mit einem letzten Vertrauen auf die Treue Gottes. Seine Kritik richtet sich gegen den Papst und die „falschen“ Bischöfe, die als reißende Wölfe Christi Reich vernichten und zur Wüste und zum Trümmerhaufen entstellen. Die Bischöfe, die für Kardinal Sadolet über das Kirchesein entscheiden – „mit denen Ihr die Kirche stehen und fallen glaubt“ –, nimmt Calvin in ihrem unheilvollen Handeln wahr. Er ist überzeugt, dass solche Bischöfe die Kirche „auf schreckliche Weise zerrissen und verstümmelt und sie ums Haar zu Tode getroffen hätten – was auch ganz gewiss geschehen wäre, wenn sich Gottes einzigartige Güte dem nicht widersetzt hätte“.54 Der Text hat eine auffällig gebrochene Dynamik. Die leidenschaftliche Anklage Calvins müsste von sich her zu der Klage führen, dass die katholischen Amtsträger die Kirche zunichte gemacht haben. Erst im letzten Moment wird diese Schlussfolgerung aufgehalten: Bei der Kirche gibt es etwas, das Menschen nicht zunichtemachen können, weil Gott treu ist und diese Vernichtung nicht zulässt. In diesem Kontext stehen nun Calvins Aussagen über die „Spuren“ der Kirche, die auch unter dem Papsttum noch verblieben sind. So kommen an allen Orten, über die sich die Tyrannei des römischen Papstes erstreckt, kaum mehr als einige zerstreute und zerrissene Spuren (vestigia) zum Vorschein, aus denen man schließen kann, dass dort halbbegrabene Kirchen liegen.55

Auch zum Abschluss des Vergleichs der falschen mit der wahren Kirche in Inst. IV,2 kommt Calvin nach langer harter Kritik auf diese Spuren der ————— 54 55

CO 5, 476 (Antwort an Kardinal Sadolet). Ebd.

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Kirche zu sprechen. Es geht um die Frage, wo jene Wirklichkeit zu finden ist, die den Namen Kirche tragen darf. Dürfen die „Papisten“ „mit dem Namen ‚Kirche‘ schrecken“?56 Muss nicht der Anspruch der römischen Kirche auf das Kirchesein abgewiesen werden? Zunächst kommt es zu Formulierungen, denen zufolge man „den Papisten nicht zugeben [kann], dass sie Kirche sind“. Weil es Calvin ein Anliegen ist, für die Frage nach der wahren Kirche Kriterien benennen zu können, kommt er zu der Alternative: Entweder sind sie im Sinne unserer Beweisführung keine Kirchen – oder aber es wird kein Merkzeichen (symbolum) übrigbleiben, an dem man die rechtmäßigen Versammlungen der Gläubigen von den Zusammenkünften der Gläubigen von den Zusammenkünften der Türken unterscheiden kann.57

Letzteres muss Calvin abweisen, denn damit wäre die Verheißung Jesu Christi in Frage gestellt. Es zeigt sich aber bald, dass Calvin sein Urteil nicht bis ins letzte durchzieht. Gottes Bundestreue setzt der Kritik eine Grenze. Den „Papisten“ darf nicht abgesprochen werden, „was der Herr unter ihnen als Spuren (vestigia) der Kirche aus der Zerrüttung hat übrigbleiben lassen wollen“.58 Calvin bezieht sich dabei konkret vor allem auf die Taufe, spielt dann aber auch noch auf andere „Überreste“ (reliquiae) an, um dies dann mit dem Bild eines Bauwerkes auszumalen: Oft werden ja Bauwerke so niedergerissen, dass doch Fundamente und Ruinen übrigbleiben. Ebenso hat es Gott nicht geduldet, dass seine Kirche durch den Antichrist vom Fundament her umgestürzt oder dem Erdboden gleichgemacht wurde. […] Er hat […] gewollt, dass auch aus der Verwüstung noch ein halbeingestürztes Bauwerk übrigblieb.59

Auf dieser Basis gesteht Calvin der „alten“ Kirche den Titel der Kirche mit Vorbehalt zu: Obgleich wir also den Papisten den Namen „Kirche“ nicht rundweg zugestehen wollen, so leugnen wir deshalb doch nicht, dass es bei ihnen Kirchen gibt, sondern wir streiten mit ihnen allein über die wahre und rechtmäßige Gestaltung der Kirche, die sich einerseits in der Gemeinschaft an den Sakramenten findet, die die Zeichen des Bekenntnisses sind, andererseits aber vor allem in der Gemeinschaft der Lehre.60

————— 56 57 58 59 60

Vgl. Inst. (1559), IV,2,4. Inst. (1559), IV,2,10. Inst. (1559), IV,2,11. Ebd. Inst. (1559), IV,2,12.

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Damit dies nicht zu harmonisch anmutet, muss auch noch der Folgetext zitiert werden: Damit, dass der Sitz des Antichrists in Gottes Tempel seinen Platz angewiesen erhält, wird angedeutet, dass sein Reich von der Art sein wird, dass es weder Christi noch der Kirche Namen abschafft. Daraus ergibt sich also deutlich, dass wir in keiner Weise leugnen, dass auch unter seiner Tyrannei Kirchen bleiben. Aber das sind eben Kirchen, die er mit seiner frevlerischen Gottlosigkeit entheiligt, mit seiner grausamen Herrschaft bedrückt, die er mit bösen, verderblichen Lehren wie mit giftigen Tränklein verdorben und beinahe ertötet hat, das sind Kirchen, in denen Christus halb begraben verborgen liegt, das Evangelium erdrückt, die Frömmigkeit vertrieben und die Verehrung Gottes nahezu abgeschafft ist, kurz, das sind Kirchen, in denen alles dermaßen verwirrt ist, dass darin eher das Aussehen Babels als das der heiligen Stadt Gottes zutage tritt. Kurzum, ich sage, dass hier Kirchen sind, sofern der Herr darin die Überbleibsel seines Volkes, wie jämmerlich zerstreut und auseinandergetrieben sie auch sein mögen, auf wundersame Weise bewahrt; Kirchen sind hier, sofern noch einige Merkzeichen der Kirche bestehen bleiben, und zwar vor allem die, deren Wirkkraft weder die Verschlagenheit des Teufels noch die Bosheit der Menschen zu zerstören vermag.61

2.2.2 Die ökumenische Rezeption im Kontext des ÖRK Die calvinische Rede von Spuren der Kirche ist im 20. Jahrhundert Wurzel für die Klärung der Basis ökumenischer Beziehungen zwischen den Kirchen. Denn eine Grundfrage ist zu Beginn der gegenseitigen Annäherung, welche Art von Anerkennung in der Aufnahme eines Dialogs mit einer anderen Kirche liegt. Bedeutet schon der Dialog als solcher eine Anerkennung des Kircheseins anderer Kirchen? Insbesondere im Ökumenischen Rat der Kirchen war diese Frage zu klären. Impliziert bereits die Mitgliedschaft im ÖRK die Anerkennung aller anderen Mitgliedskirchen als Kirchen? Um die Schwelle niedriger zu halten, beschreibt der erste Generalsekretär Willem A. Visser’t Hooft es als Voraussetzung für die Mitgliedschaft, dass jede Kirche bei ihren Schwesterkirchen im Rate zum wenigsten die „vestigia ecclesiae“ erkennt, also die Tatsache, dass die Kirche Christi irgendwie auch in ihnen vorhanden und dass der Herr der Kirche in ihrem Leben am Werke ist.62

Dasselbe Motiv verwendet 1950 die Toronto-Erklärung, wobei nun die Terminologie zwischen „Spuren“ (vestigia) und „Elementen“ wechselt. Die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates erkennen in anderen Kirchen Elemente der wahren Kirche an. Sie sind der Meinung, dass diese gegenseitige Anerkennung

————— 61

Ebd. W.A. VISSER’T HOOFT, Die Bedeutung des Ökumenischen Rates der Kirchen, in: Studienabteilung des Ökumenischen Rates der Kirchen (Hg.), Die Kirche in Gottes Heilsplan, Die Unordnung der Welt und Gottes Heilsplan 1, Zürich 1948, (196–217) 213. 62

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sie dazu verpflichtet, in ein ernstes Gespräch miteinander einzutreten; sie hoffen, dass diese Elemente der Wahrheit zu einer Erkenntnis der vollen Wahrheit und zur Einheit, die auf der vollen Wahrheit begründet ist, führen werden. Allgemein wird in den verschiedenen Kirchen gelehrt, dass andere Kirchen bestimmte Elemente der wahren Kirche haben, die in manchen Traditionen vestigia ecclesiae genannt werden. Zu diesen Elementen gehört die Verkündigung des Wortes, die Auslegung der Heiligen Schrift und die Verwaltung der Sakramente. Diese Elemente sind mehr als blasse Schatten des Lebens der wahren Kirche. Sie enthalten eine wirkliche Verheißung und machen es möglich, sich in freimütigem und brüderlichem Verkehr für die Verwirklichung einer volleren Einheit einzusetzen […] Die ökumenische Bewegung ist auf der Überzeugung gegründet, dass man diesen „Spuren“ nachgehen muss. Die Kirchen sollten sie nicht gering achten, als seien sie nur Elemente der Wahrheit, sondern sollten sich darüber freuen, weil sie hoffnungsvolle Zeichen sind, die auf eine wirkliche Einheit hinweisen. Denn was sind denn diese Elemente? Keine toten Überreste der Vergangenheit, sondern machtvolle Instrumente, durch die Gott sein Werk tut.63

2.2.3 Die katholische Rezeption Die katholische Theologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt das Motiv der vestigia auf.64 Yves Congar spricht bereits 1937 von Elementen der Kirche, die auch außerhalb der römisch-katholischen Kirche zu finden sind65. 1952 schreibt er einen Beitrag über die vestigia Ecclesiae.66 Von da an greifen auch weitere Autoren wie Gustave Thils67 oder Thomas Sartory68 das Motiv auf. Sartory nennt Güter ekklesialer Natur, kirchliche Elemente unsichtbarer Art, wie die Gegenwart Christi und das Wirken des Heiligen Geistes, und sichtbarer Art, wie die Taufe und das Wort Gottes. Nicht der Begriff „vestigia“, wohl aber die Sache, die – wie schon in der Toronto-Erklärung – primär mit dem Begriff „Elemente“ zur Sprache kommt, wird schließlich in den Dokumenten des II. Vatikanischen Konzils rezipiert. Der entsprechende Passus in der Kirchenkonstitution Lumen Gen————— 63

Toronto-Erklärung, in: L. VISCHER (Hg.), Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung, TB 30, München, 1965, 251–261, Nr. IV/5: 258. Diese Verwendung des Motivs der vestigia wurde durchaus kritisch kommentiert: Es würden hier notae und vestigia verwechselt: vgl. W. DIETZFELBINGER, Die Grenzen der Kirche nach römisch-katholischer Lehre, FSÖTh 10, Göttingen 1962, 143–149. 64 Vgl. DIETZFELBINGER, Grenzen, 135–180. 65 Y. CONGAR, Chrétiens désunis. Principes d'un „oecuménisme catholique“, Unam Sanctam 1, Paris 1937, 300. 66 Y. CONGAR, A propos des „vestigia Ecclesiae“, Vers l’unité chrétienne 39, 1952, 4f. Ein Jahr zuvor war ein entsprechender Artikel von C.J. Dumont erschienen: C.J. DUMONT, Vestigia ecclesiae, Vers l’unité chrétienne 38, 1951, 6f. 67 G. THILS, Histoire doctrinale du mouvement œcuménique, Louvain 1955, 283–297. 68 T. SARTORY, Kirche und Kirchen, in: J. FEINER / J. TRÜTSCH / F. BÖCKLE (Hg.), Fragen der Theologie heute, Einsiedeln 1957, (337–377) 366–371.

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tium ist aufs engste mit der viel besprochenen Beschreibung des Verhältnisses der Kirche Jesu Christi zur römisch-katholischen Kirche verbunden: Die Kirche Jesu Christi ist verwirklicht (subsistit) in der katholischen Kirche, die vom Nachfolger Petri und von den Bischöfen in Gemeinschaft mit ihm geleitet wird. Das schließt nicht aus, dass außerhalb ihres Gefüges vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit zu finden sind, die als der Kirche Christi eigene Gaben auf die katholische Einheit hindrängen (LG 8).

Die Anerkennung solcher Elemente außerhalb der römisch-katholischen Kirche ist in der Genese des Textes Auslöser dafür, eine schlechthinnige Identifikation der Kirche Jesu Christi mit der römisch-katholischen Kirche aufzubrechen, indem ein einfaches „est“ durch „subsistit“ ersetzt wird. Dies lässt der Kommentar der zuständigen Theologische Kommission erkennen, der die Textveränderung wie folgt begründet: „Anstelle von ‚ist‘ […] heißt es jetzt ‚subsistiert in‘, damit der Ausdruck besser der Annahme von ekklesialen Elementen entspricht, die woanders vorhanden sind“.69 Zu Recht vermerkt Walter Kasper: „Das subsistit hatte also die Aufgabe, Raum zu lassen für ‚vielfältige Elemente der Heiligung und der Wahrheit‘ außerhalb des Gefüges der katholischen Kirche“.70 Derselbe Gedanke wurde auch im Dekret über den Ökumenismus aufgenommen: Hinzu kommt, dass einige, ja sogar viele und bedeutende Elemente oder Güter, aus denen insgesamt die Kirche erbaut wird und ihr Leben gewinnt, auch außerhalb der sichtbaren Grenzen der katholischen Kirche existieren können: das geschriebene Wort Gottes, das Leben der Gnade, Glaube, Hoffnung und Liebe und andere innere Gaben des Heiligen Geistes und sichtbare Elemente: all dieses, das von Christus ausgeht und zu ihm hinführt, gehört rechtens zu der einzigen Kirche Christi (UR 3).

Zu Recht wird mit Blick auf diese Aussagen konstatiert, dass hier nicht mehr nur von gerade eben noch verbliebenen Spuren die Rede ist. „Das sind nicht mehr isolierte Bruchstücke, sondern Grundfunktionen und Wesensbeschreibungen von Kirche. Als solche bilden sie jeweils ein Ganzes christlicher Existenz“.71 Dies vermerkt schon Walter Kasper in seinem während —————

69 „Loco ‚est‘ … dicitur ‚subsistit in‘, ut expressio melius concordet cum affirmatione de elementis ecclesialibus quae alibi adsunt“: ASCOV 3,1,177; vgl. auch G. BAUM, Die ekklesiale Wirklichkeit der anderen Kirchen, Conc(D) 1, 1965, (291–303) 295. 70 W. KASPER, Die Einheit der Kirche nach dem II. Vatikanischen Konzil, Cath 33, 1979, (262–277) 266. 71 P. NEUNER, Kirchen und kirchliche Gemeinschaften, in: M.J. RAINER (Hg.), „Dominus Iesus“. Anstößige Wahrheit oder anstößige Kirche? Dokumente, Hintergründe, Standpunkte und Folgerungen, Wissenschaftliche Paperbacks 9, Münster 2001, (196–211) 204f.

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des II. Vatikanischen Konzils entstandenen Artikel über den ekklesiologischen Charakter der nichtkatholischen Kirchen.72 Er erinnert die Wurzeln des Motivs der Elemente in der calvinischen Rede von den „vestigia ecclesiae“, benennt dabei aber auch den Bedeutungswandel, den das Motiv erfahren hat. In der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts bedeuteten die „vestigia“ anders als bei Calvin keine toten Überreste der Vergangenheit, sondern hoffnungsvolle Zeichen und machtvolle Instrumente, durch die Gott sein Werk tut; sie werden positiv und dynamisch gesehen, als verheißungsvolle Anknüpfungspunkte, über die die Kirchen, die sie bewahren, zur vollen Wahrheit geführt werden können.73

2.3 Die Drei-Ämter-Lehre Von Ämtern Christi ist schon neutestamentlich und in der Folge seit der frühen Theologie in Auslegung des Titels des Gesalbten (Messias, Christus) die Rede.74 Allerdings wechseln die Anzahl und Benennung der aufgeführten Ämter. Geläufig ist die Rede vom priesterlichen und königlichen Amt Christi, während das prophetische Amt unregelmäßiger thematisiert wird. Thomas von Aquin referiert die Auffassung, „dass der erwartete Messias König, Prophet und Priester sein sollte“ und verbindet Priester- und Königtum Christi mit seinem Amt als „Gesetzgeber“ (legislator).75 Auch Martin Luther kennt ein zweifaches Amt Christi als König und Priester und verbindet dies in seiner Auslegung von 1Petr mit dem Amt, das Evangelium zu verkünden.76 Die Salbung der Christen in der Taufe legt es nahe, die mit der Salbung verknüpften Ämter Christi auch auf die Christen zu übertragen. So gilt nach Johannes Chrysostomus für jeden Getauften, dass er durch die Taufe König, Priester und Prophet geworden ist.77 In diesem Sinne kommt das Motiv auch in liturgischen Texten vor.

—————

72 W. KASPER, Der ekklesiologische Charakter der nichtkatholischen Kirchen, ThQ 145, 1965, 42–62. 73 KASPER, Charakter, 51. Siehe auch KASPER, Einheit, 274. 74 Vgl. dazu: M. SCHMAUS, Ämter Christi, LThK2 1 (1957), 457–459; L. ULLRICH, Ämter Christi, LThK3 1 (1993), 561–563; L. SCHICK, Die Drei-Ämter-Lehren nach Tradition und Zweitem Vatikanischen Konzil, IKaZ 10, 1981, 57–66; DERS., Das dreifache Amt Christi und der Kirche. Zur Entstehung und Entwicklung der Trilogien, EHS.T 171, Frankfurt a.M. 1982. 75 Vgl. STh III,31,2 und III,22,1 ad 3. 76 Vgl. zu Luther A. PETERS, Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 2: Der Glaube. Das Apostolikum, Göttingen 1991, 102–106. 77 Vgl. Belegstellen bei SCHICK, Drei-Ämter-Lehren, 59.

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2.3.1 Calvins Lehre von den drei Ämtern Christi Die Elemente einer Drei-Ämter-Lehre sind somit vor Calvin gegeben (vgl. Calvins eigenen Hinweis in Inst. II,15,1)78, doch ist sie in der Theologie nicht ein geprägtes Motiv. Auch wird diese Ämterlehre nicht systembildend, Christologie, Soteriologie und Ekklesiologie vereinend, wirksam. Es ist Calvin, der das Prophetenamt zum festen Bestandteil der christologischen Drei-Ämter-Lehre macht, sie zu einem eigenen Topos entwickelt und mit der soteriologischen Konsequenz der Teilhabe der Glaubenden am dreifachen Amt verbindet.79 Calvins Lehre von den drei Ämtern80 entwickelt sich von einer pneumatologisch begründeten Zwei-Ämter-Lehre in der Institutio von 153681 zur Drei-Ämter-Lehre, wie sie in der Institutio anfanghaft seit 1539, im Genfer Katechismus von 1545 (im Abschnitt zum Glauben an Jesus Christus82) und ausführlich 1559 in Inst. II,15 dargelegt ist. Dabei dient Inst. II,15 als Scharnier zwischen den Ausführungen über die Person Jesu Christi (Inst. II,12–13) und den Ausführungen über sein Werk (Inst. II,16–17). Programmatisch wird zu Beginn von Inst. II,15 der Christusglaube auf seine Heilsbedeutung befragt: Soll also der Glaube in Christus wirklich den festen Grund alles Heils finden, soll er ganz auf ihm ruhen, so muss der Grundsatz gelten: Das Amt, das ihm der Vater [an]vertraut hat, umfasst drei Aufgaben. Er ist uns nämlich zum Propheten, zum König und zum Priester gesetzt.83

Ganz ähnlich wird im Genfer Katechismus der Christus-Titel entfaltet: „Er bedeutet nämlich, vom Vater zum König, Priester und Propheten gesalbt zu sein“.84 Die Drei-Ämter-Lehre fasst also gewissermaßen das „Pro nobis“ des Christusereignisses zusammen. Dies genügt Calvin aber noch nicht. Über die Erhellung der Heilsbedeutung Jesu Christi hinaus ist es ihm wichtig, die Drei-Ämter-Lehre auch existentiell prägend werden zu lassen. Dies —————

78 Die Frage, unter welchen Einflüssen Calvin steht, ist hier nicht weiterzuverfolgen. R. SAARINEN, Christus als Lehrer bei Ficino und Calvin. Ein Beitrag zur Entstehung der Dreiämterlehre, ZThK 89, 1992, 197–221 vertritt die These, Calvin sei durch Marsilio Ficino und seine Schrift „De christiana religione“ beeinflusst. W. PANNENBERG, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 1964, 218f. nimmt Einflüsse von Andreas Osiander und Martin Bucer an. 79 So schreibt ULLRICH, Ämter, 562 zu Recht: „Als soteriologischer Gesamtentwurf wurde die Drei-Ämter-Lehre erst von der reformatorischen Theologie, besonders Calvin, benutzt und ist von daher christliches Gemeingut geworden“. Siehe dazu auch K. BLASER, Calvins Lehre von den drei Ämtern Christi, ThSt(B) 105, Zürich 1970. 80 Vgl. dazu BLASER, Lehre; P. OPITZ, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1994, 122–128. 81 Vgl. OS 1, 82. 82 Vgl. CO 6, 20–24. 83 Inst. (1559), II,15,1. 84 CO 6, 20 (Frage 34).

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kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, dass er sie in den Katechismus aufnimmt und dort ausdrücklich (Frage 40) nach dem Nutzen fragt. Auch in der Institutio hebt er auf die existentielle Bedeutung ab: Es wäre nun auch wenig nütze, wenn man bloß diese drei Begriffe festhielte: Man muss auch wissen, was sie sollen und wozu sie uns gut sind. Denn sie werden auch von den Papisten ausgesprochen, aber ohne innere Beteiligung und ohne große Frucht: Man hat eben dort keine Ahnung davon, was jede dieser Lobpreisungen bedeutet.85

Die soteriologische und existentielle Bedeutung hat zwei Sinnrichtungen, die bei Calvin allerdings nicht ausdrücklich unterschieden werden. Einerseits läuft der Nutzen der drei Ämter Christi für die Gläubigen darauf hinaus, dass sie die Früchte seiner Ämter empfangen (z.B. die Wahrheit als Frucht seines prophetischen Amtes, Gerechtigkeit und Leben als Frucht seines königlichen Amtes).86 Andererseits öffnen sich die drei Ämter Christi in einigen Hinsichten für die Teilhabe der Gläubigen an diesen Ämtern, so dass sie – gemäß 1Petr 2,5.9 – prophetische, königliche und priesterliche Würde erhalten bzw. das prophetische, königliche und priesterliche Amt auszuüben haben. Dies wird für die drei Ämter je unterschiedlich ausbuchstabiert. Die Frucht des prophetischen Amtes Christi für die Glaubenden besteht einerseits darin, dass sie mit der wahren Erkenntnis des Vaters erleuchtet und zu vertrauten Schülern Gottes werden.87 Christus, der Prophet, lehrt „Weisheit in vollkommener Fülle“.88 Deutlicher als bei den anderen Ämtern wird beim Prophetenamt die Übertragung des prophetischen Amtes als Amt auf die ganze Kirche ausgesagt: Christus empfing diese Salbung nicht für sich allein, damit er recht das Amt des Lehrers ausüben könnte, sondern für seinen ganzen Leib, damit in der immerwährenden Verkündigung des Evangeliums die Kraft des Geistes sich entsprechend auswirke.89

Das Königtum Christi wird in Inst. II,15 am ausführlichsten beschrieben. Auch die Salbung zum König ist Jesus Christus „nicht für sich allein gegeben worden, sondern er soll eben seine Fülle den Hungernden und Durstigen überfließend zuteilwerden lassen“.90 Die Frucht des Königsamtes Chris————— 85

Inst. (1559), II,15,1. Dies ist wohl primär in der Frage 45 des Genfer Katechismus gemeint, wo es heißt: „Alles, was du sagst, läuft also darauf hinaus, dass die Bezeichnung ‚Christus‘ diese drei Ämter umfasst, vom Vater dem Sohne gegeben, damit er deren Kraft und Nutzen den Seinen vermittle“: CO 6,22. 87 Vgl. CO 6, 22 (Genfer Katechismus, 1545, Frage 44). 88 Inst. (1559), II,15,2. 89 Ebd. 90 Inst. (1559), II,15,5. 86

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ti besteht aber weniger darin, dass die Gläubigen selbst königliche Würde erhalten oder das königliche Amt ausüben. Für Calvin steht ganz im Vordergrund, dass Christus sein Königtum auch heute zum Schutz der Glaubenden und zur Erhaltung und Verteidigung der Kirche ausübt. „Der Vater hat dem Sohne alle Gewalt gegeben, um uns durch seine Hand zu lenken, zu erhalten, zu stärken, uns unter seinem Schutz zu beschirmen und uns Hilfe zu leisten“. Die Glaubenden heißen Christen weniger, weil sie selbst zu Königen gesalbt sind, sondern weil sie „unter dem mächtigen Schutz ihres Königs unbesieglich dastehen“.91 Neben dieser Unbesieglichkeit wird im Genfer Katechismus Erwähnung als Frucht des Königsamtes Christi für die Gläubigen die Freiheit der Gewissen genannt: „Durch seine Wohltat sind wir zu einem frommen und heiligen Leben in Freiheit der Gewissen befreit und mit seinen geistlichen Gütern versehen worden“.92 Zum priesterlichen Amt Christi hat sich Calvin aus kontroverstheologischen Gründen vermutlich am häufigsten geäußert. In der Institutio hebt Calvin die Einzigkeit des Priestertums Christi hervor, deren Frucht die Versöhnung ist. Spürbar liegt hier einer der neuralgischen Punkte der reformierten Reformation, an deren Wurzel der Protest gegen das „Messopfer“ steht. Dennoch spricht Calvin bezüglich des priesterlichen Amtes wiederum von einer eigentlichen Teilhabe an diesem Amt durch die Gläubigen. Nun trägt also Christus das Priesteramt, und er vollführt es nicht nur, um uns durch eine ewige Versöhnung Gottes Wohlgefallen und Freundlichkeit zu gewinnen, sondern auch um uns der gleichen Würde mit teilhaftig zu machen (Offb 1,6). Denn wir sind zwar in uns befleckt: aber in ihm sind wir Priester, bringen wir uns selbst und alles, was wir sind und haben, Gott zum Opfer dar, haben wir freien Zugang zu dem Allerheiligsten im Himmel, so dass all unsere Opfer an Gebet und Lobpreis, die wir zu bringen haben, vor Gott ein guter Geruch sind.93

In Inst. II,15 findet sich kein Hinweis, dass Calvin die Drei-Ämter-Lehre auch für das Verständnis der kirchlichen Dienste fruchtbar machen würde. Jedenfalls fehlen, soweit ich sehe, explizite Ausführungen dazu, dass Calvin die drei Ämter Christi nicht nur soteriologisch auf alle Gläubigen, sondern auch ekklesiologisch-ämtertheologisch auf die kirchlichen Diener hätte beziehen wollen. Zur Deutung dieses Befundes ist festzustellen, dass Calvin ————— 91

Ebd., anders aber CO 45, 588 (Kommentar zu Mt 21,12). CO 6, 22 (Genfer Katechismus, 1545, Frage 42). 93 Inst. (1559), II,15,6. Siehe hierzu auch Inst. (1559), IV,18,16f. Ähnlich lauten die Ausführungen im Genfer Katechismus von 1545: „Zunächst ist er darin Mittler, dass er uns mit dem Vater versöhnt; dann darin, dass uns durch ihn der Zugang zum Vater eröffnet worden ist, damit wir voller Vertrauen vor sein Angesicht treten, um uns selbst und alles, was unser ist, ihm als Opfer darzubringen. So macht er uns gleichsam zu Teilhabern an seinem Priestertum (Hebr 7–10 und 13,15)“: CO 6, 22 (Frage 43). 92

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die Drei-Ämter-Lehre erst in der letzten Fassung der Institutio ausgeführt hat. Wenngleich darin eine systembildende Kraft angelegt ist und eine Scharnierfunktion in der Christologie unbestreitbar ist, so fehlt doch eine explizite Vernetzung in die anderen Bücher der Institutio hinein, obgleich ein entsprechendes Potential – auch hinsichtlich der ämtertheologischen Ausführungen des Buches IV – vorhanden wäre.94 Hätte Calvin in weiteren Bearbeitungen der Institutio auch eine amtstheologische Dimension der Drei-Ämter-Lehre entwickelt? Schon die Äußerung zum prophetischen Amt in Inst. II,15,2 kann auch auf die amtliche Verkündigung der Kirche bezogen werden. Wie schon erwähnt, ist die Rede vom Priestertum kontroverstheologisch besonders belastet. Grundsätzlich hält Calvin den Titel des Priesters nicht für eine geeignete feste Bezeichnung für christliche Amtsträger, sondern wertet die sazerdotale Redeweise in Röm 15,16 (ἱερουργοῦντα τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ / consecrans Euangelium Christi) als eine gelegentliche Aussage.95 Mitunter verwendet er den Titel aber selbst, wie etwa in der Streitschrift gegen die Artikel der Sorbonne von 1544, wo er nicht die Bezeichnung als solche zurückweist, sondern nur das Verständnis des Priesteramtes differenziert.96 In jedem Fall betont Calvin die bleibende Ausübung der Ämter durch Jesus Christus selbst auch in der Zeit der Kirche. Alle Teilhabe an seinen Ämtern durch die Glaubenden ist mit dem Vorbehalt zu verstehen, dass er selbst Prophet, König und Priester ist und bleibt. In diesem Sinne schreibt Charles Partee, dass Menschen nicht an den Ämtern Christi teilhaben, sondern ihnen dienen.97 Die Aussagen Calvins selbst scheinen indes doch etwas weiter zu gehen. 2.3.2 Die Wirkungsgeschichte Die Lehre vom dreifachen Amt Christi wird im Heidelberger Katechismus im Kontext der Frage 31 „Warum ist er Christus, das ist ein Gesalbter, genannt?“ aufgenommen und insofern Gemeingut reformierter Tradition. 98 Schon im 16. Jahrhundert geht das Drei-Ämter-Schema auch in die lutheri-

————— 94

Vgl. OPITZ, Hermeneutik, 134–145. COR 2, 13, 301 (Kommentar zu Röm 15,16). 96 Vgl. CO 7, 19 (Streitschrift gegen die Artikel der Sorbonne). Auch Calvins Rede vom alttestamentlichen Priestertum müsste hier genauer untersucht werden. Es gilt ihm als Vorausbild des Priesteramtes Christi. Dabei stellt Calvin einerseits unmissverständlich klar, dass dieses Vorausbild sich im Priesteramt Christi erfüllt und dadurch abgetan ist. Andererseits finden sich Stellen, an denen die Aufgaben der alttestamentlichen Priester ganz nach Art der kirchlichen Dienste beschrieben werden. 97 „I understand these statements to mean that humans do not share Christ’s offices but serve them by proclaiming him“: C. PARTEE, The Theology of John Calvin, Louisville/KY 2008, 264. 98 Vgl. Der Heidelberger Katechismus, hg. von O. WEBER, GTBS 1293, Gütersloh 1990, 26f. 95

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sche wie in die katholische Theologie ein.99 Schon der Catechismus Romanus von 1566 deutet den Christus-Titel im Sinne der drei Ämter.100 Während Robert Bellarmins Katechismus von 1598 Christus lediglich als höchsten Priester und obersten König bezeichnet101, nimmt der Kontroverstheologe das Motiv des dreifachen Amtes in der Erläuterung des Apostolischen Glaubensbekenntnisses (um 1603) auf: Der Name „Christus“ aber beinhaltet drei überaus erhabene Würden und Ehrentitel, nämlich die des Hohenpriesters, des mächtigsten Königs und des ganz wahrhaftigen Propheten. Christus bedeutet eigentlich „Gesalbter“, und im Volk Gottes wurden üblicherweise drei Personen gesalbt, nämlich Priester, Könige und Propheten. […] So ist Christus also höchster Priester, höchster König und höchster Prophet.102

Allerdings führt die reformatorische Ausprägung der Drei-Ämter-Lehre auf katholischer Seite zunächst eher dazu, die systematische Verwendung einer Dreizahl von Ämtern zu vermeiden oder zu verschleiern. So diagnostiziert Thomas Dietrich, Bellarmin greife in den Kontroversen (1586–1593) auf die Vorstellung der drei Ämter Christi zurück, ohne diesen Rückgriff klar zu kennzeichnen. Nachdem erst Calvin und die von ihm inspirierte reformatorische Theologie das Drei-Ämter-Schema als soteriologischen Gesamtentwurf benutzt haben, ist dieses Schweigen Bellarmins verständlich.103

Am Ende des 18. Jahrhunderts wird das Motiv in der katholischen Theologie vermehrt aufgenommen und wird zum Einteilungsprinzip der Soteriologie in der neuscholastischen Schulbuchdogmatik.104 Karl Barth kommentiert diese katholische Rezeption ironisch: Sie erscheint aber – schon im Catech. Romanus […] und in der Neuzeit bei J.M. Scheeben und nachher bei allen Dogmatikern plötzlich als feststehendes Lehrstück auch der römisch-katholischen Theologie, wobei Scheeben (Handb. der kath. Dogm. 1925 3. Bd. S. 385) grämlich, aber offen zugab, die Protestanten seien in dieser Sache vorgegangen: ihr böses Motiv dabei sei freilich dies gewesen, die Offenbarung Jesus Christus allein zuzuschreiben!105

—————

99 „Ihre Einführung entsprach offenbar einer auf einmal allgemein eingesehenen Notwendigkeit“: K. BARTH, KD IV/3, 13. 100 Catechismus Romanus 1,3,7. 101 Vgl. R. BELLARMIN, Katechismen. Glaubensbekenntnis. Vater Unser, übers. u. hg. von A. WOLLBOLD, Würzburg 2008, 71. 102 BELLARMIN, Katechismen, 225. 103 T. DIETRICH, Die Theologie der Kirche bei Robert Bellarmin (1542–1621). Systematische Voraussetzungen des Kontroverstheologen, KKTS 69, Paderborn 1999, 315. 104 Vgl. ULLRICH, Ämter, 562. 105 K. BARTH, KD IV/3, 13. Kursivdruck im Original gesperrt.

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In der katholischen Tradition nun werden die drei Ämter Christi in Bezug auch zum amtlichen Handeln der Kirche gesetzt. Bellarmin betont, dass die Priester und die Könige jeweils Diener des höchsten Priesters bzw. des obersten Königs sind.106 In der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert werden in der katholischen Amtstheologie dreigliedrige Formeln verwendet, die Ludwig Schick zufolge der Engführung auf die zwei potestates des Dienstamtes – Heiligungs- und Leitungsdienst – wehren wollen. Nicht zuletzt unter dem Einfluss evangelischer Theologie sei im katholischen Bereich eine Erwähnung des Verkündigungs- und Lehramtes vermisst worden.107 Zuerst in Enzykliken, dann in den Texten des II. Vatikanischen Konzils wird die Lehre von den drei Ämtern Christi lehramtlich aufgenommen. Ausgehend von den drei Ämtern Christi wird zuerst dem ganzen Gottesvolk die Teilhabe an diesen Ämtern zugesprochen (vgl. LG 10–12; 31; AA 10). Auch das Amt der Bischöfe und der Presbyter wird von hier ausgehend beschrieben: Die Priester dienen Christus, dem Lehrer, Priester und König und haben an seinem Amt teil (vgl. PO 1 sowie CD 2). Von den Aufgaben der Bischöfe und der Priester sprechen die Konzilsdokumente (v.a. LG, CD, PO) regelmäßig in einer dreigliedrigen Weise, indem der (prophetische) Verkündigungsdienst, der (priesterliche) Heiligungsdienst und der (königliche bzw. hirtliche) Leitungsdienst (meist in dieser Reihenfolge) beschrieben werden. So wird die Drei-Ämter-Lehre zum Bindeglied zwischen Christologie, Ekklesiologie und Ämtertheologie.108 Dass es sich bei dieser Drei-Ämter-Lehre um ein Erbe Calvins handelt, dürfte den Konzilsvätern durchaus bewusst gewesen sein. Als im Umfeld des II. Vatikanums bei einem Treffen mit den nichtkatholischen Beobachtern das Schema über die Priester von Yves Congar vorgestellt wird, bemerkt der reformierte Theologe J. Reid, „dass die Verwendung der Formulierung ‚Prophet, Priester und König‘ in Congars Beitrag Calvin sehr gefallen hätte“.109 In Kommentaren110 und zeitgenössischen Diskussionen wird ————— 106

Vgl. BELLARMIN, Katechismen, 225f. Vgl. SCHICK, Drei-Ämter-Lehren, 62. 108 „Das Besondere des Drei-Ämter-Modells ist darin zu sehen, dass das Wirken Christi, die Sendung der Kirche durch alle Getauften und die besondere Aufgabe des sakramentalen Amtes in derselben Begrifflichkeit beschrieben werden und Christologie, Ekklesiologie und Amtstheologie damit bereits im Ansatz integriert sind“ (S. SANDER, Das Amt des Diakons. Eine Handreichung, Freiburg i.Br. 2008, 114). SCHICK, Drei-Ämter-Lehren, sieht die Aussagen zur Teilhabe an den Ämtern Christi durch die Gläubigen einerseits und durch die Amtsträger andererseits zwar scharf geschieden, um einer Nivellierung zwischen Ordinierten und anderen Christgläubigen zu wehren. Faktisch will das Konzil jedoch durchaus beide Arten der Teilhabe zueinander in Beziehung setzen, wie z.B. LG 10 oder PO 2 zeigen. 109 M. VELATI, Die Vervollständigung der Tagesordnung des Konzils, in: G. ALBERIGO (Hg.) / G. WASSILOWSKY (Hg. der dt. Ausgabe), Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils (1959– 1965). Bd. 5: Ein Konzil des Übergangs. September – Dezember 1965, Mainz / Leuven 2008, (215–321) 287. 107

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die Herkunft des Motivs von der Theologie Calvins immer wieder erwähnt und z.T. auch kontrovers behandelt. So folgert Peter Eicher, mit der Rezeption der calvinischen Drei-Ämter-Lehre müsse auch der Unterschied zwischen gemeinsamem und besonderem Priestertum hinterfragt werden.111 Dem wiederum widerspricht Ludwig Schick unter Berufung auf die katholische Tradition der Drei-Ämter-Lehre. Eine vertiefte Auseinandersetzung hätte darüber hinaus offenlegen können, dass sich eine Nivellierung von gemeinsamer Sendung aller Christen und kirchlichem Dienstamt gerade nicht auf Calvin berufen kann.112 Wohl aber wäre es sinnvoll, von der DreiÄmter-Lehre aus auch mit anderen amtstheologischen Aspekten der Theologie Calvins ins Gespräch zu kommen. Sein dezidiertes Verständnis von Amt als Dienst trifft sich mit neueren theologischen Entwicklungen der katholischen Theologie, während seine Auffassungen zu einer kollegialen Verfasstheit des Dienstamtes einiges Potential für das katholische Ämterverständnis zu bieten hätte. Das II. Vatikanische Konzil hat zwar die Kollegialität der Bischöfe neu hervorgehoben, doch bleibt innerhalb der katholischen Kirchenstruktur eine Stärkung des Bischofsamtes gegenüber dem petrinischen Primat ein (von Theologinnen und Theologen wie von Bischöfen) vielfach benanntes Desiderat. Auch die Mitsprachemöglichkeiten der Presbyter (und anderer Amtsträger) innerhalb des Bistums sind zwar durch Priesterrat und andere Gremien festgeschrieben, juristisch jedoch nur in seltenen Fällen als eigentliches Mitbestimmungsrecht gefasst.

3. Ausblick In der kontroversen und polemischen Atmosphäre des 16. Jahrhunderts wurden die Forderungen und Vorschläge der Reformatoren von Katholiken häufig missverstanden und dann ebenso oft zu Karikaturen verzerrt. Ein direkter Zugang zu ihren Schriften war bestenfalls stückweise möglich, schlimmstenfalls wurde er sogar als unnötig betrachtet.

Diese Einschätzung findet sich in dem Dokument des internationalen reformiert/römisch-katholischen Dialoges „Auf dem Weg zu einem gemein-

————— 110

Vgl. F. WULF, Kommentar zu [PO] Artikel 1–6, LThK.E 14 (1968), (141–169) 145. Vgl. P. EICHER, Priester und Laien – im Wesen verschieden? Zum lehramtlichen Ansatz der notwendigen Kirchenreform, in: G. DENZLER (Hg.), Priester für heute. Antworten auf das Schreiben Papst Johannes Pauls II. an die Priester. Mit Dokumentation des Papstschreibens vom 8. April 1979, München 1980, 45. 112 Vgl. E.-M. FABER, Das kirchliche Amt bei Johannes Calvin, Cath(M) 63, 2009, 1–15. 111

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samen Verständnis von Kirche“ (1990)113, und zwar bemerkenswerterweise in dem Textteil, welcher aus römisch-katholischer Perspektive formuliert ist. Es ist eine Selbsteinschätzung der Katholiken. Eine solche selbstkritische Haltung wurde durch das Ökumene-Dekret des II. Vatikanischen Konzils (vgl. UR 3; 4; 7) eingeschärft und in der Enzyklika „Ut unum sint“ (1995) von Papst Johannes Paul II.114 nachdrücklich aufgenommen. Johannes Paul II. beklagt „die Last uralter, aus der Vergangenheit ererbter Verständnislosigkeit, gegenseitiger Missverständnisse und Vorurteile“ (Nr. 2); er appelliert an das Bewusstsein „von gewissen Verweigerungen zu verzeihen; eines gewissen Stolzes; jenes nicht dem Evangelium entsprechenden Sich-Abkapselns in die Verdammung der ‚anderen‘; einer Verachtung, die aus einer unlauteren Anmaßung herrührt“ (Nr. 15), um eine entsprechende Bußhaltung anzumahnen. Positiv formuliert er die Hoffnung auf den Geist, der uns von den Gespenstern der Vergangenheit, von den schmerzlichen Erinnerungen der Trennung abzubringen vermag; er kann uns Klarheit, Kraft und Mut verleihen, um die nötigen Schritte zu unternehmen, so dass unser Engagement immer glaubwürdiger wird (Nr. 102).

Wenn man fragt, wozu Jubiläumsjahre dienen – wie das hinter uns liegende Jubiläumsjahr zum 500. Geburtstag von Johannes Calvin oder das vor uns liegende Gedenken an die Reformation vor 500 Jahren im Jahr 2017 – dann sicher auch dazu, von den „Gespenstern der Vergangenheit“ loszukommen und Vorurteile zu überwinden. Wenn es der katholischen Seite nach eigener Einschätzung im 16. Jahrhundert nicht hinreichend gelang, die Anliegen der Reformatoren zu verstehen, dann gibt es doch 500 Jahre später Gelegenheit, sich darum zu bemühen. Die oben in Abschnitt 1.2. beschriebene Wende bedarf immer noch weiterer Pflege! In diesem Sinne ist es zu begrüßen, dass im Calvinjahr 2009 auch katholische Theologen und Theologinnen in die Schar derer eintraten, die das Erbe Johannes Calvins neu beleuchteten, und dass reformierte Initiativen zum Calvinjahr daran interessiert waren, Vertreter der katholischen Theologie in ihre Publikationen und Veranstaltungen (wie das hier dokumentierte, an der Theologischen Fakultät in Bern durchgeführte Seminar) einzubeziehen. Da der Reformator Johannes Calvin wie kaum eine andere Person in der Geschichte des Christentums negative Klischeevorstellungen auf sich gezogen hat, sind Informationen und historische Einordnungen unverzichtbar, —————

113 Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis von Kirche. Internationaler reformiert/römisch-katholischer Dialog. Zweite Phase 1984–1990, in: DwÜ 2, 623–673, Nr. 37: 633. 114 Johannes Paul II., Enzyklika „Ut unum sint“ über den Einsatz für die Ökumene. 25. Mai 1995, VApS 121, Bonn 1995. Die folgenden Nummern im Text beziehen sich auf diese Enzyklika.

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um das geprägte Bild eines asketischen und Genf mit unbarmherzigem Zepter regierenden Reformators zu überwinden. Dies gilt übrigens für Reformierte nicht viel weniger als für Katholiken. Was auf katholischer Seite darüber hinaus aber ansteht, ist die Würdigung berechtigter Reformanliegen Calvins. Gewiss benennen katholische Reformationshistoriker bereits seit langem den Reformstau auf katholischer Seite im 16. Jahrhundert und räumen entsprechend ein, dass die Reformatoren den Finger auf tatsächlich vorhandene Missstände gelegt haben. So kann auch zugegeben werden, dass an der Wurzel der reformatorischen Bewegung der aufrichtige Wille stand, die Kirche nach dem Willen Gottes zu gestalten, was innerhalb der gegebenen Strukturen nicht mehr möglich schien. Hat diese Sicht von Reformationshistorikern aber wirklich schon die katholische Mentalität geprägt? Welche Konsequenzen werden daraus gezogen? Wie wird mit heutigen Postulaten der Reform, etwa hinsichtlich des Verhältnisses von Ortskirchen und Universalkirche und hinsichtlich eines eklatanten Zentralismus, umgegangen? Kardinal Walter Kaspers Aussage „Wir sollten uns also gemeinsam fragen, was bedeutet die Reformation heute für uns?“115 wurde von Reformierten immer wieder aufgenommen, weil sie eines der seltenen Signale ist, dass auch die katholische Kirche bereit ist, sich von der Reformation etwas sagen zu lassen. Noch aufsehenerregender waren vor Jahrzehnten markante Akzentsetzungen im Blick auf Martin Luther, etwa wenn Kardinal Johannes Willebrands diesen im Jahr 1970 unseren „gemeinsamen Lehrer“ nannte und die Kommission für den Internationale römisch-katholisch/lutherischen Dialog zum 500. Geburtstag Martin Luthers 1983 ein Dokument unter der Überschrift „Martin Luther – Zeuge Jesu Christi“ verfasste. Für Johannes Calvin fehlen ähnlich gewichtige Anerkennungen. Eine solche wurde auch im Jubiläumsjahr 2009 bedauerlicherweise nicht ausgesprochen. Es ist zu hoffen, dass das Calvinjahr noch eine Wirkungsgeschichte aus sich entlässt, die für die ökumenische Bewegung fruchtbarer wird, als dies zum jetzigen Zeitpunkt erkannt werden kann. Nicht umsonst rief Kardinal Karl Lehmann im Juni 2009 zu einer intensiveren Beschäftigung mit dem Werk des Reformators auf, dessen ökumenisches Verständigungspotenzial noch nicht ausgeschöpft worden sei. Eine wahrhaft ökumenische Annäherung an Calvin müsste dabei für eine Revision traditioneller Einstellungen offen sein. Wie verhalten sich Reformierte zu der Einsicht, dass Calvin in manchen Hinsichten wohl „katholischer“ gedacht hat, als dies von Reformierten traditionell wahrgenommen wurde? Aus katholischer Sicht soll hier —————

115 W. KASPER / D. DECKERS, Wo das Herz des Glaubens schlägt. Erfahrung eines Lebens, Freiburg i.Br. 2008, 258.

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aber vor allem eine entsprechende selbstkritische Haltung im eigenen Bereich postuliert werden. Welche Nähe der heutigen katholischen Theologie und Kirche zu calvinischer Theologie ist man bereit anzuerkennen? Neben Motiven, die von Calvin in die katholische Theologie übernommen wurden (wie die oben skizzierte Lehre von den drei Ämtern Christi), stehen andere Themen, bei denen Calvin Weichen neu stellte, über die inzwischen aber auch katholische Züge fahren (wie in der Sakramententheologie die Weitung der Aufmerksamkeit auf das Gesamtgefüge sakramentaler Handlungen und eine gelassenere Sicht auf die Möglichkeiten Gottes, auch jenseits der Sakramente seine Gnade zu schenken, vor allem im Blick auf die Taufe). Die obenstehenden Ausführungen haben aber auch noch unausgeschöpfte Herausforderungen durch Calvins Theologie, wie etwa seinen pneumatologischen Ansatz, erkennen lassen. Weitere Themen könnten ergänzt werden, wie das Verhältnis von Einheit und Vielfalt in der Kirche. Eine anfanghafte Rezeption von Calvinischem Denken in katholischer Theologie heute hat zwar bereits zu nennenswerten Früchten geführt. Andererseits bleibt es vor allem in Literatur, die sich nicht speziell der Calvinforschung widmet, oft noch bei oberflächlichen Urteilen. Es bedarf noch weiterer Bemühungen um den Calvinus catholicus.

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Calvins Ökumeneverständnis und die ökumenische Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts

Zweifellos ist den Stimmen Recht zu geben, die in Calvin nicht nur einen „großen Ökumeniker seiner Zeit“ sehen1, sondern ihn auch als einen Inspirator der facettenreichen ökumenischen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts hervorheben2. Gleichzeitig verwundert es, dass von der Forschung diese Seite Calvins „bis heute unterschätzt wird“.3 In dem umfänglichen und ebenso inhaltsreichen Calvin Handbuch4 findet sich nicht nur kein Artikel zu diesem Thema, sondern die Fragestellung wird auch an keiner Stelle eingehend thematisiert5. Dabei bleibt zuzugestehen, dass sich schwerlich einfach sagen lässt, was die präzise Bedeutung des Begriffs Ökumene ist. Ein wesentlicher Teil aller ökumenischen Anstrengungen kreist bekanntlich um die Frage, was denn sinnvoller Weise und zugleich konfessionsverbindend unter Ökumene verstanden werden kann. Die Unterbestimmtheit ihres Verständnisses führt einerseits dazu, dass es niemandem Mühe macht, sie für sich in Anspruch zu nehmen, und andererseits ist gerade darin der Grund für ihre eklatante Diffusität zu suchen. Deshalb ist es angezeigt, wenigstens die zentralen Aspekte zu benennen, die Calvin als Ökumeniker auszeichnen, bevor wir uns in einem etwas längeren zweiten Teil exemplarisch einigen Konstellationen der ökumenischen Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert zuwenden, die sich begründet als eine Wirkungsgeschichte des Erbes Calvins bezeichnen lassen. Dabei —————

1 Vgl. W. NIJENHUIS, Calvin, TRE 7 (1981), (569–592) 574; vgl. auch C. LINK, Streitbare Theologie. Was ist für Kirche und Theologie heute von Calvin zu lernen?, EvTh 69, 2009, (101– 122) 121f. 2 Vgl. J.D. DOUGLASS, Calvin in ecumenical context, in: The Cambridge Companion to John Calvin, hg. von D.K. MCKIM, Cambridge 22006, 305–316. 3 C. STROHM, Zu diesem Heft, EvTh 69, 2009, 83. Es kann vor allem auf die älteren Untersuchungen von W. NIJENHUIS, Calvinus Oecumenicus, KHSt 8, s’-Gravenhage 1959 u. G.W. LOCHER, Calvin. Anwalt der Ökumene, ThSt(B) 60, Zollikon 1960 verwiesen werden. Vgl. außerdem L. VISCHER, Pia conspiratio. Calvin on the Unity of Christ’s Church, John Knox Series 12, Genf 2000; L.J. KOFFEMANN, Calvinus oecumenicus? De o-factor van Calvijn, in: R. REELING BROUWER u.a. (Hg.), Het calvinistisch ongemak. Calvijn als erflater en provocator van het Nederlandse protestantisme, Kampen 2009, 185–200. 4 H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008. 5 Einige Hinweise lassen sich dem substantiellen Beitrag zur Ekklesiologie entnehmen: G. PLASGER, Kirche, in: SELDERHUIS, Handbuch, 317–325.

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interessieren mich in diesem Zusammenhang weniger die konkreten ökumenischen Aktivitäten Calvins, zu denen es gewiss viel zu sagen gäbe.6 Vielmehr möchte ich sehr knapp, beinahe thesenartig die systematischen Aspekte benennen, die Calvin als Ökumeniker auszeichnen. Auf diese Weise werden sofort auch die inhaltlichen Aspekte erkennbar, deren Wirkungsgeschichte sich dann auch in der modernen ökumenischen Bewegung ausmachen lässt.

1. Calvin als ökumenischer Theologe Auf sieben ökumenische Leitmotive der Theologie Calvins7 sei hingewiesen: 1. Offensiv hat Calvin seine Theologie als ‚katholisch‘ verstanden.8 Es ging ihm um eine Rückgewinnung der Katholizität der einen Kirche, die diese insbesondere durch ihre Fixierung auf die usurpierte Autorität Roms und die daraus resultierenden Rechtsstrukturen verloren habe. Es galt, die Katholizität aus ihrer römischen Umklammerung und Engführung zu befreien. Er konnte provozierend davon sprechen, dass die römische Kirche zu einer Sekte9 geworden sei, weil sie ihre universale Dimension verloren habe und durch eine unbegründbare Bindung an menschliche Autorität ersetzt habe. Rechte Kirche müsse dagegen der Universalität des sie tragenden Evangeliums entsprechen und habe sich deshalb vor allen Partikularisierungen ihres Bekenntnisses durch menschliche Verfügungsstrukturen zu hüten. Die Katholizität der Kirche ist begründet in der Katholizität der sie tragenden heilsamen Botschaft des Evangeliums. 2. Alle Betonung, die bei Calvin zweifellos auf dem Amt liegt, wird sofort missverstanden, wenn nicht der starke Akzent im Blick bleibt, dass Christus selbst seine Kirche regiert.10 So essentiell das Amt bei Calvin auch sein mag, so hat es doch einen betont sekundären Charakter und beschreibt ————— 6

Vgl. dazu J.D. DOUGLASS, Calvin. Zu den zugrunde liegenden ekklesiologischen Grundentscheidungen vgl. M. WEINRICH, Welche Kirche meinen wir? Die Theologie und verfasste Kirche, in: Bloß ein Amt und keine Meinung? – Kirche, hg. von J. EBACH u.a., Jabboq 4, Gütersloh 2003, (214–272) 240–259. 8 Vgl. dazu die weiteren Differenzierungen im Beitrag von E.-M. FABER in diesem Band. 9 Bei der Übersetzung von secta mit Sekte bleibt Vorsicht geboten, weil der Begriff zu dieser Zeit in der Regel nicht pejorativ gebraucht wird. Wenn Calvin allerdings die römische Kirche mit den Wiedertäufern in eins setzt, schwingt eindeutig dieser abwertende Gebrauch mit, so dass sich die Übersetzung „Sekte“ an dieser Stelle rechtfertigen lässt; vgl. CStA 1.2, 366,21 (Ad Sadoleti Epistolorum). 10 Vgl. dazu E. BUSCH, Kirchenleitung in Genf. Ämtervielfalt unter dem einen Haupt, Jesus Christus, in: M. BÖTTCHER u.a. (Hg.), Die kleine Prophetin Kirche leiten. FS G. Noltensmeier, Wuppertal 2005, 57–66; G. PLASGER, Die Dienste in der Gemeinde, EvTh 69, 2009, 133–141. 7

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Calvins Ökumeneverständnis

vor allem die Funktionen, für die im Leben der Kirche nach Calvin eigene Ordnungen vereinbart werden müssen. Die ermüdende und doch mit Eifer geführte Debatte, ob das Amt aus der Gemeinde komme oder dieser gegenüber stehe, relativiert sich gründlich, wenn der Blick auf das Haupt der Kirche und seine Regierung, nämlich auf den lebendigen Christus gerichtet bleibt. Die Drei-Ämter-Christologie eröffnet allen übrigen Ämtern in der Kirche einen großen Freiraum zu konkreten Gestaltungen, von denen keine Exklusivität beanspruchen kann. Weil das kirchliche Amt stets auf das entscheidende Amt Christi verweist, wird es bei Calvin nicht zu einem Kennzeichen der Kirche. 3. Überall da, wo durch Wort und Tat der Glaube an den dreieinigen Gott bekannt wird, ist rechte Kirche. Der entscheidende Nachweis für das Vorhandensein von Kirche besteht im rechten Bekennen des die Kirche sammelnden und orientierenden Gottes. Calvin bleibt auffallend zurückhaltend, diesem Bekennen ein fest formuliertes Bekenntnis zu unterlegen, obwohl er selbst in dem Apostolischen Glaubensbekenntnis das christliche Bekenntnis authentisch zusammengefasst sah. Es kam ihm weniger auf die Übereinstimmung in der Formulierung als in der Sache an. Die Fixierung auf ein festgelegtes Bekenntnis könnte den Anschein erwecken, als glaubte die Kirche an einen Text oder eine Definition und eben nicht an Jesus Christus. Jede Überbewertung des Bekenntnisses führt unweigerlich zu einer Ermäßigung der Bedeutung des entscheidenden Aktes des aktuellen Bekennens. Es geht nicht um die Wahrung des Wortlauts eines Bekenntnisses der Kirche, sondern um das vernehmbare aktuelle Bekennen des lebendigen dreieinigen Gottes. Ich betone hier gern den Unterschied von „bewahren“ und „bewähren“, ohne beide gegeneinander ausspielen zu wollen11. Anders ausgedrückt: Gott ist es, der die Kirche zusammenhält und nicht ein Bekenntnis der Kirche. Bei aller Betonung der sichtbaren Kirche bei Calvin bleibt seine Zurückhaltung hinsichtlich der Sichtbarmachung der Einheit der Kirche zu beachten; sie kann im besten Falle indirekt, aber niemals unmittelbar sichtbar gemacht werden. Allzu schnell unterläuft es, dass auf die falschen Kräfte gesetzt wird, die am Ende die tatsächliche Einheit der Kirche mehr gefährden als befördern. Calvins Ton liegt darauf, Gottes Herrschaft und Vorsorge in der Welt sichtbarer zu machen.12 4. Die Betonung der Katholizität der einen Kirche hat Calvin nicht daran gehindert, sich innerhalb der einen universalen Kirche durchaus eine große Anzahl verschiedener und eigenständiger Einzelkirchen vorzustellen, „die —————

11 Vgl. M. WEINRICH, Kirche bekennen. Ökumene in reformierter Perspektive, in: DERS. (Hg.), Einheit bekennen. Auf der Suche nach ökumenischer Verbindlichkeit, Wuppertal 2002, (37–47) 40f. 12 Vgl. DOUGLASS, Calvin, 311.

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jeweils stadtweise oder dorfweise nach der unter Menschen notwendigen Ordnung verteilt sind, so daß jede einzelne den Namen und die Geltung einer Kirche rechtmäßigerweise trägt“.13 Im Unterschied zu Luther hatte Calvin die Homogenitätserwartungen eines einheitlichen Corpus Christianum verabschiedet. Nur durch Inquisition und Gewaltausübung lassen sich solche Homogenitätsvisionen durchsetzen, und längst war offenkundig, dass die Gewalt faktisch mehr der Verhinderung von Kirche als ihrem Schutz dient. Calvin will den jeweiligen örtlichen Bedingungen Rechnung tragen. Das weist allerdings weniger in die Richtung der Akzeptanz einer konfessionellen Vielfalt, wie sie sich später herausgebildet hat, als in die Richtung einer kongregationalistischen Perspektive.14 Die den jeweiligen örtlichen Bedingungen gerecht zu werden versuchende Vielfalt bedeutet nicht nur keine Irritation, sondern erweist sich vielmehr als sinnvoll und notwendig. Er hat niemals das, was er für Genf wichtig hielt, auch für andere Städte verbindlich zu machen versucht. Insbesondere für die vielen Diaspora- und Flüchtlingsgemeinden in Frankreich, denen sich Calvin in besonderer Weise verbunden wusste, kam es darauf an, sich unter sehr unterschiedlichen Umständen behaupten zu müssen. Der Glaube an die Form kann zu Idolatrie und d.h. in diesem Fall zur Selbstvergötzung der Kirche werden. Er steht in der permanenten Gefahr, zu viele Kräfte in der Kirche an etwas zu binden, worin uns von Gott aus Freiheit gelassen wurde15, was unweigerlich zu Versäumnissen in anderen Bereichen führt. Das gilt es von eben dem Calvin zu vernehmen, der auf der anderen Seite und keineswegs im Gegensatz dazu in juristisch sensibilisiertem Sinn entschlossen und konfliktbereit für klar verabredete und dann auch einzuhaltende Ordnungen eingetreten ist. 5. Auch im Blick auf die Lehre zeigt sich Calvin als entschiedener Ökumeniker, indem er die Theologie vor allzu hohen Anforderungen an einen ————— 13

Inst. (1559), IV,1,9 (Übersetzung nach: F. L AU (Hg.), Der Glaube der Reformatoren, Klassiker des Protestantismus 2, Bremen 41986, 472). 14 Vermutlich würde Calvin sachlich K. BARTH zustimmen, wenn er sagt: „Nach der heiligen Schrift gibt es keine ‚Kirchen‘ im Plural, keine – ein schreckliches, wenn auch unentbehrliches Wort – Denominationen. Die Kirchen sind nach der Schrift die lokalen Gemeinden, während die Kirche die Gemeinschaft aller Heiligen ist …“ (Unsere reformierten Kirchen und der Weltrat der Kirchen, in: DERS. / J. DANIÉLOU / R. NIEBUHR, Amsterdamer Fragen und Antworten, TEH NF 15, München 1949, (11–15) 11). 15 „Es wäre unerhört, wenn wir in den Dingen, in denen uns der Herr Freiheit gelassen hat, damit wir umso mehr Möglichkeit hätten, die Kirche zu erbauen, eine sklavische Gleichförmigkeit erstreben wollten, ohne uns um den wahren Aufbau der Kirche zu kümmern. Denn wenn wir einmal vor den Richterstuhl Gottes treten werden, um Rechenschaft abzulegen von unseren Taten, werden wir nicht nach den Zeremonien gefragt werden. Überhaupt wird eine solche Gleichförmigkeit in den äußeren Dingen keine Beachtung finden, wohl aber der rechte Gebrauch der Freiheit. Als rechter Gebrauch wird aber der gelten, der am meisten zur Auferbauung der Kirche beigetragen hat.“ OS 1, 432 (zit. nach W. NIESEL, Die Theologie Calvins, München 21957, 206).

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Calvins Ökumeneverständnis

Lehrkonsens entlastet. Es unterscheidet zwischen den „eigentlichen Lehrstücken“ und „anderen Lehrstücken“. Die eigentlichen Lehrstücke, von denen er ausdrücklich sagt, dass es nur einige seien, müssen unerschütterlich feststehen und beziehen sich auf das rechte Gottesverständnis und die in ihm enthaltende Zuwendung Gottes zu den Menschen. In den anderen Lehrstücken dürfen die Meinungsunterschiede nicht die Einheit der Kirche in Frage stellen16. Auch hier findet sich wieder die Warnung vor Fixierungen; wichtig bleibt allein, dass Christus im Blick bleibt. Er selbst lehrt uns die eigentlichen Lehrstücke. Sie lassen sich nicht in Satzwahrheiten kanonisieren17. Um die Meinungsverschiedenheiten in den ‚anderen Lehrstücken‘, die nicht kirchentrennend sind, soll in dafür einzurichtenden Lehrgesprächen gerungen werden. Die Lehrgespräche sind dabei als Ausdruck der Verbundenheit in der einen katholischen Kirche zu verstehen. Calvin vertritt hier eine konziliaristische Option zur konkreten Wahrnehmung und Pflege der Katholizität der Kirche. Heute sprechen wir von einem differenzierten Konsens, der auf der Übereinstimmung in den essentials gründet; die Unterschiede werden nicht verleugnet, sondern möglichst klar benannt, wobei ihnen keine kirchentrennende Bedeutung zugemessen wird.18 Es ist diese Perspektive einer versöhnten Verschiedenheit – um gleich noch einmal einen Begriff aus der zeitgenössischen ökumenischen Debatte aufzugreifen –, in der Calvin die verschiedenen Kirchen auf dem Boden ihrer gemeinsamen Katholizität mit einander verbunden sieht – verbunden in anhaltendem Bemühen um weitere theologische Klarheit. 6. Die Kirche ist keine societas perfecta, und es steht auch nicht zu erwarten, dass sie je eine solche werden wird. Sie bleibt im augustinischen Sinne ein corpus permixtum19, aber wohl liegt auf ihr die Verheißung, dass sie in ihrer Heiligung wächst, d.h. – um es einmal so bescheiden wie mög—————

16 „Denn nicht alle Stücke der wahren Lehre sind von gleicher Gestalt. Einige unter ihnen sind derart notwendig zu wissen, daß sie bei allen unerschütterlich und unzweifelhaft fest stehen müssen, gleichsam als die eigentlichen Lehrstücke der Religion. Dazu gehören zum Beispiel folgende Aussagen: Es ist ein Gott, Christus ist Gott und Gottes Sohn, unser Heil besteht in Gottes Barmherzigkeit, und andere Aussagen gleicher Art. Dann gibt es andere Lehrstücke, über die unter den Kirchen Meinungsverschiedenheiten herrschen, die aber die Einheit im Glauben nicht zerreißen.“ (Inst. (1559), IV,1,12; Hervorhebung M.W.) 17 Eben deshalb weigerte sich Calvin, den gegen ihn von Petrus Caroli erhobenen Vorwurf, keine rechte Trinitätslehre zu vertreten (Calvin wird des Arianismus verdächtigt), einfach durch die Unterschrift des Athanasiums zum Nachweis seiner Rechtgläubigkeit zu zerstreuen; vgl. dazu E. BUSCH, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Calvins, Zürich 2005, 16–21. 18 Vgl. dazu heute auch aus römisch-katholischer Sicht H. WAGNER (Hg.), Einheit – aber wie? Zur Tragfähigkeit der ökumenischen Formel vom „differenzierten Konsens“, QD 184, Freiburg i.Br. 2000; G.M. HOFF, Ökumenische Passagen – zwischen Identität und Differenz, Innsbruck 2005; W. THÖNISSEN, Dogma und Symbol. Eine ökumenische Hermeneutik, Freiburg i.Br. 2008. 19 Vgl. dazu WEINRICH, Kirche, 217–228.

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lich zu sagen – sie lebt in der Hoffnung, ihrer Bestimmung immer wieder ein wenig näher zu kommen. Dies entspricht ihrem Glauben an die Gegenwart des Heiligen Geistes, von dem sie sich geführt wissen darf, wenn sie sich ganz und gar an dem Eintreten Christi für den Menschen orientiert. Wenn ich davon spreche, dass sich nach Calvin die Kirchen in einer sich gegenseitig stützenden Weggemeinschaft befinden, dann liegt der Grund in dem für jede Kirche essentiellen Bemühen, immer wieder neu nach dem Ursprung der Kirche zurückzufragen. Wo die Kirche nicht immer wieder „bis zur Quelle der Wahrheit zurückgeht, nicht nach dem Haupt fragt und die Lehre des himmlischen Meisters nicht bewahrt“20, da verliert sie sich in unverträgliche Eigenwilligkeiten und befördert unversehens Kirchenspaltung, worin Calvin in der Kirche das schwerste Verbrechen sah21. Dagegen betont er in der Sache die ökumenische Bedeutung des für die reformatorische Theologie insgesamt charakteristischen semper reformanda, das die Kirchen in der immer wieder neu zu vollziehenden Orientierung an dem eint, was sie von ihrem Ursprung aus ist und deshalb eben auch stets werden soll22. Reformation ist weder ein besonderes geschichtliches Datum noch eine konfessionelle Besonderheit, sondern eine fundamentale ökumenische Aufgabe, die allen Kirchen um ihrer Katholizität willen unablässig auferlegt ist. 7. Calvins Schrifthermeneutik23 hat insofern eine besondere ökumenische Weite als sie nicht von einem strengen christologisch-soteriologischen Kriterium dirigiert wird. Ohne dass sich auch nur von ferne ein Verdacht rechtfertigen ließe, dass Calvin die zentrale Bedeutung der Christologie zu gering schätze, ist sein Umgang mit der ganzen Breite der biblischen Texte von dem fundamentalen Vertrauen in die Inspiriertheit ihrer Verfasser getragen, während Luther vor allem auf die gegenwärtige Wirksamkeit des Geistes beim Verstehen der Schrift setzte. Luther stellte die Lektüre der Bibel unter eine christologische Leseregel und hat somit das sola scriptura vor allem als ein ‚Materialprinzip‘ zur Erschließung der Heilsbedeutung Christi konkretisiert – „was Christum treibet“. Von Calvin wird es dagegen tatsächlich als ‚Schriftprinzip‘ in Geltung gesetzt24, d.h. die Texte verdienen schlicht deshalb eine besondere Aufmerksamkeit, weil sie in der Schrift ————— 20 Mahnschreiben an Karl V. von 1543 (CR 34, 453–534) Übersetzung nach: Um Gottes Ehre! Vier kleinere Schriften Calvins, übers. u. hg. von M. SIMON, München 1924, (165–300) 279. 21 Vgl. ebd., 272. 22 Vgl. dazu M. BEINTKER, Calvin theologisches Denken als ökumenische Herausforderung, in: M. WEINRICH / U. MÖLLER (Hg.), Calvin heute. Impulse der reformierten Theologie für die Zukunft der Kirche, Neukirchen-Vluyn 2009, 151–167. 23 Vgl. dazu P. OPITZ, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1994. 24 Vgl. auch H. STOEVESANDT, Karl Barths Calvinvorlesung als Station seiner theologischen Biographie, in: H. SCHOLL (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin, Neukirchen-Vluyn 1995, (107– 124) 119.

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stehen. Es bedarf für Calvin keiner inhaltlichen Leseanleitung, sondern der biblische Text genießt zunächst einmal insgesamt das Vertrauen, dass er unsere Gottes- und Selbsterkenntnis zu orientieren in der Lage ist. Wenn wir heute im Blick auf die Ökumene davon sprechen können, dass sich in den drei großen Konfessionsfamilien ein gewisser Konsens im Blick auf das sola scriptura eingestellt hat, so liegt dieser auf der Linie Calvins und nicht auf der lutherischen. Unschwer ließen sich die ausgewählten Aspekte erweitern etwa durch eine Würdigung der ökumenischen Bedeutung der Bundestheologie bei Calvin oder der Hervorhebung der Heiligung als dem Ziel des Rechtfertigungsgeschehens. Insgesamt wird auch dem konsequent biblischen Charakter seiner Theologie eine ökumenische Bedeutung zuzumessen sein, wobei eben die Bibel als ein Dokument der Vielfalt gewürdigt wird, in der sowohl die Vielfalt des menschlichen Lebens, aber eben auch die Vielfalt ekklesiologischer Profile versammelt ist, hinter die unser Verständnis von der Einheit der Kirche und einer verheißungsvollen Ökumene nicht zurückfallen sollte. Die systematische Skizze macht es offensichtlich, dass Calvins Theologie für die gegenwärtige ökumenische Diskussionslage nicht nur richtungweisend, sondern in verschiedenen Bereichen durchaus sogar auch als vorbildlich anzusehen ist.

2. Konzeptionelle Resonanzen in der Ökumene des 19. und 20. Jahrhunderts Auch wenn es in dem zweiten Teil um die Betrachtung historischer Zusammenhänge geht, möchte ich den systematischen Kurs meiner Überlegungen beibehalten. Eine eindeutige Identifikation wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge bleibt stets ein ambitioniertes Unternehmen. Aber es lassen sich unschwer eine Anzahl von Resonanzen ausmachen, die auf einen mehr oder weniger direkten Einfluss der Theologie Calvins auf die ökumenische Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts schließen lassen. Es sollen exemplarisch drei Beispiele benannt werden, in denen jeweils ökumenische Grundfragen thematisiert werden, die auch heute noch nicht als erledigt gelten können. Vieles, was hier zu sagen wäre, wird auf diese Weise nicht zur Sprache kommen, aber ich hoffe, dass das Wenige, was nun entfaltet werden kann, am Ende in der Sache doch mehr ist.

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2.1 Evangelische Katholizität – Philip Schaff Mit dem ersten Aspekt gehen wir ins 19. Jahrhundert zurück. 1875 kam es in London zur Gründung des Bundes Reformierter Kirchen auf Weltebene (Alliance of Reformed Churches throughout the World holding the Presbyterian System – kurz: World Presbyterian Alliance [WPA], ab 1954: World Alliance of Reformed Churches [WARC]) und 1891 zur Gründung des Kongregationalistischen Weltbundes (International Congregational Council [ICC]). Beide haben sich 1970 zusammengeschlossen. Sieht man einmal von den bereits in den 60-er Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzenden, aber im Grunde erst 1888 zum Erfolg führenden Versuchen der Anglikaner zur Begründung der Lambeth Conference ab25, so handelt es sich bei dieser amerikanisch-schottischen Initiative um die erste Gründung einer konfessionell-ökumenischen Weltorganisation.26 Eine Schlüsselfigur in der Gründungsphase war Philip Schaff (1819– 1893), ein in den USA bis heute sehr geschätzter, international umtriebiger Theologe, der in der Schweiz geboren wurde, in Deutschland seine schulische und theologische Bildung erhalten hat und sich in den USA der reformierten Tradition verbunden wusste27. Er wird als Botschafter der universalen Kirche bezeichnet28 und ist als ein wichtiger Pionier und Prophet der ökumenischen Bewegung im 19. Jahrhundert zu würdigen. Wenn er auch wohlverdient „pontifex“ genannt wurde, so wird auf seine Rolle als Brückenbauer insbesondere zwischen Europa und der neuen Welt in Amerika29, aber auch zwischen den Konfessionen einschließlich der Orthodoxen Kir—————

25 Vgl. dazu H.R. TURNER BRANDRETH (O.G.S.), Approaches of the Churches towards each other in the nineteenth century, in: R. ROUSE / S.C. NEILL (Hg.), History if the Ecumenical Movement, Bd. 1: 1517–1948, Genf 31986, (260–306) 264–266. 26 Ebenso wie später auf der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 waren es die konkreten Missionstätigkeiten der Kirchen in Afrika und Asien, die dem Thema der Einheit der Kirche eine neue Dringlichkeit gaben, wenn es wirkungsvoll vermieden werden sollte, die Zersplitterungen der Kirche in den Heimatländern nun auch in die Missionsgebiete zu exportieren. Die Eröffnung des weltweiten Horizontes – man kann durchaus von einer Art kirchlicher Globalisierung sprechen – drängte zu abgestimmten vernünftigen Lösungen. Damit war zugleich die Frage nach einer Neubestimmung des Verhältnisses der Kirchen zueinander in ihren Heimatländern aufgeworfen. 27 Es ist das Verdienst von G. V. KLOEDEN, diesen Theologen und engagierten Ökumeniker im deutschen Sprachraum in Erinnerung gerufen zu haben: Evangelische Katholizität. Philip Schaffs Beitrag zur Ökumene – Eine reformierte Perspektive, Studien zur systematischen Theologie und Ethik 12, Münster 1998. Die folgenden Darlegungen sind vor allem von diesem Buch angeregt, wo sich auch die entsprechenden Quellen und Belege finden lassen. Vgl. auch G.K. PRANGER, Philip Schaff (1819–1893). Portrait of an Immigrant Theologian, New York 1997. 28 K. PENZEL (Hg.), Philip Schaff. Historian and Ambassador of the Universal Church. Selected Writings, Macon 1991. 29 Vgl. D.H. YODER, Christian Unity in nineteenth-century Amerika, in: R. ROUSE / S.C. NEILL (Hg.), History of the Ecumenical Movement, Bd. 1: 1517–1948, Genf 31986, (221–259) 246.

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che angespielt. Er konnte sich in besonderer Weise mit Calvin verbunden wissen, als er die Perspektive einer „evangelischen Katholizität“ zu seinem ökumenischen Programm erhoben hat. Die „Katholizität“ in dieser Begriffskombination rückt die Universalität des einen Leibes Christi in den Blick, das „Evangelische“ die partikularkirchliche Freiheit und damit die den Leib Christi ausmachende gleichberechtigte Vielfalt. Nicht die vielen Kirchen seien das Problem – ganz im Gegenteil liege in ihrer Vielfalt eine besondere historische Errungenschaft des Protestantismus, sondern ihr Sektierertum und ihr Exklusivitätsanspruch.30 Exklusivismus führe zwangsläufig in Sektiererei, womit sowohl die Katholizität als auch das ‚Evangelische‘ verspielt werden. So sehr Schaffs Theologie zweifellos eine romantisch eingefärbte (d.h. auf Harmonie ausgerichtete) und idealistisch-hegelianisch konstituierte (d.h. geschichtsphilosophisch dialektische) Vermittlungstheologie des 19. Jahrhunderts darstellt, so lassen doch seine konkreten Positionierungen im Detail erkennen, dass eine solche Typisierung seine Bedeutung keineswegs erschöpft. Es ist seine große Leistung, dass er der zu seiner Zeit im hochkirchlichen Luthertum – Ludwig von Gerlach und Julius Stahl – diskutierten Wendung von der „evangelischen Katholizität“31 ihre exklusivistischen Engführungen entzogen und sie so zu einem ökumenischen Schlüsselbegriff geprägt hat. Auch Richard Rothes Perspektivierung der evangelischen Katholizität in die Richtung einer sukzessiven Verweltlichung und schließlich Selbstauflösung der Kirche „in der allgemeinen religiös-sittlichen Gemeinschaft des Staats“32 hat Schaff entschlossen widersprochen. Sein Ausscheren aus der mehr oder weniger geschlossenen antikatholischen Front hat ihm zwischenzeitlich vonseiten seiner eigenen Kirche aus den Vorwurf der Häresie eingebracht33. Insbesondere die Ekklesiologie Calvins und die in Frage 22 des Heidelberger Katechismus betonte Katholizität34 sind die prägenden Elemente der reformierten Tradition, auf die sich Schaff in seinem ökumenischen Engagement beruft. Dabei wird deutlich, dass es um mehr als ein konfessionelles Integrationsprogramm geht, auch wenn dies immer sofort in den Blick kommt. Wenn von „evangelisch“ gesprochen wird, soll der Blick auf das Evangelium gelenkt werden, und die „Katholizität“ zielt ————— 30 „The evil lies not in denominationalism and confessionalism, but in sectarianism; not in variety, but in selfish exclusiveness.“ P. SCHAFF, Discord and concord of Christendom (1884), zit. nach V. KLOEDEN, Katholizität, 191. „[…] denominationalism without Catholicity is sectarianism.“ Zit. nach ebd., 192. 31 Vgl. ebd., 43–46. 32 Vgl. ebd., 46–48. 33 Vgl. ebd., 23. 34 Frage 22: „Was ist für einen Christen notwendig zu glauben?“ – „Alles, was uns im Evangelium zugesagt wird, wie es uns unser allgemeines [in der englischen Fassung: catholic], wahrhaftiges, christliches Glaubensbekenntnis zusammengefasst lehrt.“ Vgl. ebd., 34f.

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auf den mit dem Evangelium zu verknüpfenden Universalitätsaspekt, ohne den keine Kirche recht Kirche sein kann. Es entspricht in frappanter Weise der Theologie Calvins, wenn Schaff den Reformbedarf der Kirche – das semper reformanda – an der Katholizität der Kirche orientiert.35 Zugleich ist es Schaff auch immer wieder durchaus willkommen, dass beide Begriffe auch eine konfessionelle Konnotation mit sich bringen, die es aber nicht alternativ zu betrachten gelte, sondern komplementär.36 Die Einigungsbewegungen etwa der Evangelischen Alliance (1846) oder des CVJM (1855) und dann des Bundes Reformierter Kirchen wurden von Schaff nur dann positiv bewertet, wenn sie nicht die fest etablierte Front gegen den römischen Katholizismus stabilisieren halfen, sondern auch eine grundsätzliche Offenheit in diese Richtung erkennen ließen. 37 Er war sich über die Notwendigkeit eines langen Atems für den weiten Weg durchaus bewusst. Deshalb sah er auch eine vorläufige ökumenische Funktion für den Bund Reformierter Kirchen, für den er hoffte, dass er bald durch entsprechende Weltallianzen der Lutheraner, Anglikaner, Methodisten und anderer kirchlicher Familien ergänzt werden möge – wie es dann auch geschehen ist. 38 Als Zwischenschritte hin zur Verwirklichung einer weltweiten Kirchengemeinschaft sah er in diesen Weltbünden eine Vereinfachung der sonst unüberschaubaren Gesamtlage 39. Seine ökumenische Gesamtvision zielt auf einen geeinten Leib Christi, der die aufeinander bezogenen Kirchen in ihren Verschiedenheiten integriert und dessen Haupt der lebendige Christus ist. „I belong first to Christ, then to His holy catholic Church, than to the Reformed branch.“40 Von dem immer wieder betonten christologischen Rückbezug versprach sich Schaff die formative Potenz zur Überwindung der konfessionellen Sperrigkeiten. Es findet sich bereits ein Ökumenemodell, das sich unter die Überschrift „Einheit in Vielfalt“ (unity in variety) oder „Einheit in Verschiedenheit“ (unity in diversity) stellen ließe.41 ————— 35

Vgl. ebd., 218. Im Blick auf die Katholische Kirche unterscheidet Schaff den abzulehnenden Romanismus von dem zu bewahrenden Katholizismus; vgl. dazu ebd., 156–160. 37 Vgl. ebd., 179f. 38 Zur ökumenischen Perspektive des Bundes Reformierter Kirchen und Schaffs Einfluss darauf vgl. O.P. MATEUS, Towards an Alliance of Protestant Churches? The Confessional and the Ecumenical in the WARC Constitutions (I), in: RW 55, 2005, (55–70). 39 „In this way the problem of union would be simplified.“ Zit. nach V. KLOEDEN, Katholizität, 185. 40 SCHAFF zit. nach ebd., 192. Zum gegenwärtigen Einheitsverständnis in der Ökumene vgl. H. MEYER, Ökumenische Zielvorstellungen, Ökumenische Studienheft 4, Göttingen 1996. 41 Vgl. dazu V. KLOEDEN, Katholizität, 189ff. „Variety in unity and unity in variety is the law of God in nature, in history, and in his kingdom. Unity without variety is dead uniformity. There is beauty in variety.“ (ebd., 190) „This seems to be the evangelical Protestant conception of free unity in diversity, as distinct from a compulsory union or an outward uniformity.“ (ebd., 191). 36

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Es entspricht seiner idealistischen Geschichtsbetrachtung – wohl noch ein wenig beschleunigt durch den pragmatischen amerikanischen Fortschrittsoptimismus –, wenn Schaff davon ausgeht, dass die evangelische Katholizität als die von Gott vorgegebene Einheit gleichsam die sich im Grunde von selbst herausbildende Synthese der bisherigen konfessionellen Dialektik darstellen werde. So wird auch schon der Protestantismus nicht aus seinem Gegensatz zum Katholizismus, sondern als seine Restauration verstanden, die aus ihm selbst hervorgehe42. Der Gegensatz zwischen der „stiff objectivity“ des Katholizismus zur „loose subjectivity“ des Protestantismus43 wird auf höherer Ebene so zusammengeführt werden, dass sich Objektivität und Einheit in sinnvoller Weise mit Subjektivität und Freiheit ergänzen. Aber Schaff definiert seine ökumenische Vision nicht allein aus dem Gegenüber von römischem Katholizismus und Protestantismus. Vielmehr bekommt seine Einheitsvorstellung erst darin ihre Relevanz, dass sie die ganze Vielfalt umfasst und zusammenbringt. Mit Hilfe der Organismusvorstellung gelingt es Schaff, Verschiedenheit und Vielfalt positiv zu würdigen unter der Maßgabe, dass keine Exklusivansprüche erhoben werden. In dem amerikanischen Denominationalismus sah Schaff eine neue hoffnungsvolle Entwicklungsstufe der Kirche, die über den europäischen Konfessionalismus hinausführe. Dabei geht es nicht um einen liberalen Relativismus, sondern um die Nutzung der positiv aufeinander bezogenen Spannungen, aus denen jeweils eigene Wahrheitsaspekte erwachsen, auf die wir jedoch verzichten müssten, wenn die Einheit nur auf dem Wege der Auflösung ihrer Bestandteile vollendet werden könnte. Die verschiedenen Konfessionen und Denominationen setzen innerhalb der einen Kirche unterschiedliche Akzente, deren Reichtum erst dann zum Tragen komme, wenn sie aufeinander bezogen werden. Diese Wahrnehmungsperspektive wendet Schaff auch auf die Bibel an. Auch in ihr finden sich verschiedene Zeugen und unterschiedliche Theologien, ohne ihre Einheit zu gefährden.44 Als eine entscheidende Maßnahme zur Verwirklichung seiner ökumenischen Konzeption sah Schaff eine Verabschiedung der konfessionellen Kirchengeschichtsschreibung zugunsten einer ökumenischen Kirchengeschichtsschreibung an45. Nur so könne der Weg permanenter abgrenzender Selbstaffirmationen verlassen werden und ein faires Bild der Geschichte entstehen. Für die begangenen Verfolgungen in der Kirchengeschichte gelte ————— 42

Vgl. ebd., 181. P. SCHAFF, The Principle of Protestantism as Related to the Present State of the Church, Chambersburg 1845, 131. 44 Vgl. V. KLOEDEN, Katholizität, 209, 213. 45 Vgl. ebd., 219. 43

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es Buße zu tun46. Schaff war davon überzeugt, dass die Geschichte dem Heilsplan Gottes folge, was aber verdeckt werde, wenn der Blick nur auf die Bestätigung der eigenen Konfession ausgerichtet bleibe47. Daneben hat er sich auch intensiv für Lehrgespräche auf allen Ebenen eingesetzt – und diese auch selbst praktiziert, wobei er allem Anschein nach den durch den persönlichen Austausch sich einstellenden Gewinn mindestens ebenso hoch achtete, wie den zu erhoffenden theologischen Ertrag; auch das ist eine Einschätzung, der bei nüchterner Betrachtung durchaus etwas abgewonnen werden kann. 2.2 Sichtbare Einheit – Willem Visser’t Hooft Das zweite exemplarische Schlaglicht soll auf die Genfer Ökumene geworfen werden. Einer ihrer „Chef-Architekten“ ist Willem Visser’t Hooft (1900–1985)48 gewesen, ein reformierter Theologe aus den Niederlanden, der in seinem ökumenischen Engagement zeitlebens einen Auftrag seiner reformierten Tradition gesehen hat. Er mag deshalb für ein Ökumeneverständnis stehen, wie es in seinen Grundzügen für den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) bis heute charakteristisch geblieben, auch wenn zwischendurch – nur teilweise überzeugend – ein Paradigmenwechsel49 annonciert worden ist. Gewiss ist Visser’t Hooft immer wieder für klare theologische Positionierungen eingetreten, dennoch liegt die Strategie seines Ansatzes – um es ein wenig überpointiert auszudrücken – in einer Perspektive von der Quantität hin zur Qualität, wobei freilich die Quantität ihrerseits bereits als eine spezifische Qualität betrachtet werden muss. Die Sammlung war niemals ohne eine Sendung, aber diese wurde zunächst vor allem in dem praktischen Zeugnis gesucht. Auf der Basis mehr einer theologischen Blickrichtung als einer klar bestimmten theologischen Grundlegung ging es darum, möglichst viele Kirchen zu erreichen und zusammenzubringen. Zwei Akzente werden von der Botschaft der Gründungsvollversammlung des ÖRK 1948 in Amsterdam herausgestellt: Zum einem die sammelnde Bedeutung der Zugehörigkeit zu Christus – „in ihm ist keine Zerstreuung“ – und zum anderen das sichtbare Zeichen konkreten praktischen Engagements in der vom Elend bedrängten Welt – wir wollen „uns an die Aufga————— 46

Vgl. ebd., 213. Vgl. dazu ebd., 168–177. 48 So wird er mit guten Gründen bezeichnet von D. RITSCHL, Willem Visser’t Hooft – Zeuge und Architekt der ökumenischen Bewegung, in: Wegbreiter der Ökumene im 20. Jahrhundert, hg. von C. MÖLLER u.a., Göttingen 2005, (214–231) 216. 49 Vgl. K. RAISER, Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in der ökumenischen Bewegung, München 1989. 47

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ben machen, die unser warten, und damit die Zeichen aufrichten, die gesehen werden können“.50 Es gab brennende Aufgaben, die nur von einem international agierenden Subjekt sinnvoll in Angriff genommen werden konnten – insofern kommt dem ÖRK von vornherein auch eine wichtige kirchenpolitische Bedeutung zu.51 Die stärkende Bedeutung der grenzüberschreitenden Solidarität sollte nicht unterschätzt werden. Diese praktische Seite spielte auch für Calvin eine nicht unerhebliche Rolle in seinem Umgang mit den vielen Flüchtlings- und Diasporagemeinden, für die er sich auch in zahlreichen rhetorisch glänzenden Briefen an unterschiedliche Repräsentanten der Obrigkeit verwandte. Ebenso wandte er sich an die Gemeinden selbst, wobei er als ein einfühlsamer Seelsorger erkennbar wird. Wenn Calvin immer wieder an das Wissen um die Gemeinschaft mit den anderen Gemeinden appelliert, setzt er auf die Kraft der Solidarität, die er als den konkreten Erweis der Katholizität der Kirche versteht. In diesem Horizont kommt es weniger auf die anspruchsvoll zugespitzte theologische Position als vielmehr auf Feingefühl und Diplomatie an, und Calvin hat diese kirchenpolitische Dimension der Ökumene den damaligen Umständen entsprechend intensiv und konsequent wahrgenommen. Es versteckt sich kein Vorwurf von Unaufrichtigkeit und irreführender Taktiererei dahinter, wenn Visser’t Hooft ein kirchlicher Diplomat genannt wird – ja, der wohl „bedeutendste[n], jedenfalls der erfolgreichste[n], den die ökumenischen Bewegung im zwanzigsten Jahrhundert gesehen hat“52. Der Erfolg hängt nicht zuletzt mit dem sicheren Gespür für optimale Wirkung zusammen: Es konnte nicht nur darum gehen, im Ökumenischen Rat all diejenigen zusammenzubringen, die in irgendeiner Weise von der ökumenischen Bewegung bereits angesteckt waren. Wenn dem ÖRK wirklich ein Gewicht zuwachsen soll, muss es gelingen, auch möglichst viele offizielle Kirchenvertreter darin zu versammeln, die dann auch in ihren jeweiligen Kirchen wirksam für eine entsprechende Rezeption der Diskussionen und Entscheidungen eintreten konnten53. Es geht um das Zusammen—————

50 An die Christenheit der Welt. Die Botschaft der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, in: Amsterdamer Dokumente. Berichte und Reden auf der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam 1948, hg. von F. LÜPSEN, Bethel bei Bielefeld, 2. Aufl. o.J., 9–12. 51 Das gilt auch angesichts des Bemühens von VISSER’T HOOFT in seinem ersten Rechenschaftsbericht auf der Gründungsversammlung in Amsterdam, möglichst nachhaltig den Eindruck zu zerstreuen, als ginge es dem Weltrat der Kirchen um Politik und politische Aktionen: vgl. W.A. VISSER’T HOOFT, Bericht des vorläufigen Ausschusses, in: LÜPSEN, Dokumente, 116–135. 52 RITSCHL, Visser’t Hooft, 216. W.A. Visser’t Hooft hatte selber ein eher negatives Verständnis von Diplomatie, so dass er lieber von Strategie als von Diplomatie sprach; vgl. W.A. VISSER’T HOOFT, Ursprung und Entstehung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Beiheft zur ÖR Nr. 44, Frankfurt a.M. 1983, 82. 53 Vgl. VISSER’T HOOFT, Ursprung, 85.

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rücken der realexistierenden Kirchen, ohne diese vorher auf eine Definition der Einheit festzulegen. Visser’t Hoofts Verständnis von Ökumene ist darin dem von Calvin verwandt, dass er sich an der Ekklesiologie auch im Blick auf deren Sichtbarkeit abgearbeitet hat und stets nach dem Optimum an Gemeinsamkeiten gefragt hat, ohne dabei die Erwartungen zu überlasten, weil er auch sehr genau um die Grenzen dieser Gemeinsamkeiten wusste. Anders als bei Calvin, wo es vor allem um die Sammlung der sich gegenseitig beargwöhnenden und sich somit gegenseitig schwächenden Richtungen unter den reformatorischen Kirchen ging – wobei auch die Anglikaner mit im Blick waren –, war Visser’t Hooft von der Vision bewegt, die bestehende beinahe vollständige Isolierung zwischen den großen Konfessionsfamilien zu überwinden. So sagt er 1948 in Amsterdam: „Wir sind eine Gemeinschaft, in der die Kirchen nach einer langen Periode, in der sie einander außer Acht gelassen haben, anfangen einander kennen zu lernen.“54 Die unterkühlte Gelassenheit der Formulierung verbirgt die hinter ihr stehenden Spannungen. Es ist immer wieder darum gerungen worden, ob sich der Ökumenische Rat eine eigene Bekenntnisgrundlage geben solle, um damit auch selbst einen ekklesiologischen Anspruch auf der Basis der gegenseitigen Anerkennung als Kirchen erheben zu können, oder ob es nicht gerade das Besondere des Ökumenischen Rates sein müsse, dass er auch die Kirchen mit einander ins Gespräch bringt, unter denen diese gegenseitige Anerkennung gerade nicht gegeben ist. Visser’t Hooft stand entschlossen hinter der zweiten Möglichkeit dieser Alternative. Es ging ihm um die sensible Frage, ob es unter den zersplitterten und sich teilweise im Gegeneinander profilierenden Kirchen einen ausreichend empfindlichen Sinn für eine wie auch immer zu beschreibende, die Gegensätze transzendierende Verwandtschaft gibt, die ausreichend Anlass dazu gibt, das gegenseitige Gespräch überhaupt einmal in geregelter Weise zu versuchen. Das ist ja gerade die Besonderheit der ökumenischen Bewegung, daß sie Kirchen, von denen viele noch nicht in der Lage sind, einander als Zweige ein und desselben Baumes zu betrachten, einlädt, in ein brüderliches Gespräch und eine brüderliche Zusammenarbeit miteinander zu treten, so daß sie einander kennenlernen und, so Gott will, sich einer volleren Manifestation der Einheit in Ihm nähern können.55

————— 54

VISSER’T HOOFT, Bericht, 118f. VISSER’T HOOFT, Ursprung, 74. Aus dieser Grundhaltung heraus hat sich Visser’t Hooft auch nach der Gründung des ÖRK stets intensiv um die Kirchen gekümmert, die (noch) nicht Mitglieder waren, eben auch um die römisch-katholische Kirche. 55

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Dahinter standen teilweise ganz konkrete Bedingungszusammenhänge. So hing etwa die Bereitschaft zur Beteiligung der Anglikaner daran, dass auch die Orthodoxe Kirche in irgendeiner Weise einbezogen ist, weil sie nicht zu einem Teil eines pan-protestantischen Bündnisses werden wollten56. Nur durch das Zusammenbringen und Ernstnehmen auch der Unterschiede in wesensnotwendigen Bestandteilen im Selbstverständnis der Kirchen konnte der ÖRK wirklich ein ökumenisches Unternehmen werden.57 Das entscheidende Problem war, dieser qualitativen Niedrigschwelligkeit eine ausreichend tragfähige theologische Bedeutung zu geben, um den Ökumenischen Rat der Kirchen nicht nur als eine kirchliche Art des Marktes der Möglichkeiten erscheinen zu lassen. Es ist darauf hinzuweisen, dass das vor der Hand quantitative Argument, möglichst viele Kirchen zu erreichen, bereits einen qualitativen Begründungshorizont impliziert. Dieser kann sich einerseits auf die gemeinsame Basis in der Verfassung, dass von allen Jesus Christus als Gott und Heiland anerkannt werde58, und andererseits auf die betonte Bereitschaft zu einem gemeinsamen tätigen Zeugnis berufen. Immerhin präzisiert der Zentralausschuss 1950 in seiner berühmten Toronto-Erklärung, die Visser’t Hooft maßgeblich geprägt hat: „Die Mitgliedskirchen erkennen an, daß die Mitgliedschaft in der Kirche Christi umfassender ist als die Mitgliedschaft in ihrer eigenen Kirche.“59 Visser’t Hooft kann dies auch positiv ausdrücken, indem er feststellt, dass durch die Gemeinschaft im ÖRK anerkannt wird, „daß Christus in diesen anderen Kirchen am Werk ist“60. Damit wird zugleich deutlich, dass der demonstrative Verzicht des ÖRK auf eine eigene ekklesiologische Dimension zunächst einmal vor allem seinen Ausgangspunkt, aber eben nicht sein Ziel und auch nicht seinen Weg beschreibt. Ebenso schlicht wie vertrauensvoll formuliert Visser’t Hooft:

————— 56

Vgl. ebd., 78. Vgl. ebd., 83. 58 Vgl. Verfassung für den Ökumenischen Rat der Kirchen, in: LÜPSEN, Dokumente, (21–26) 21. Seit 1961 (Neu-Delhi) lautet die Basis: „Der Ökumenische Rat der Kirchen ist eine Gemeinschaft von Kirchen, die den Herrn Jesus Christus gemäß der Heiligen Schrift als Gott und Heiland bekennen und darum gemeinsam zu erfüllen trachten, wozu sie berufen sind, zur Ehre Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligens Geistes.“ Neu-Delhi 1961. Dokumentarbericht über die dritte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, hg. von W.A. VISSER’T HOOFT, Stuttgart 21962, 170. 59 Die Kirche, die Kirchen und der Ökumenische Rat. Die ekklesiologische Bedeutung des Ökumenischen Rates der Kirchen, in: Die Einheit der Kirche. Material der ökumenischen Bewegung, hg. von L. VISCHER, TB 30, München 1965, (251–261) 257. 60 W.A. VISSER’T HOOFT, Die schwierige Bedeutung des Ökumenischen Rates der Kirchen, in: DERS., Ökumenischer Aufbruch, Hauptschriften Bd. 2, Stuttgart 1967, (184–200) 189. 57

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Der Ökumenische Rat kann keine bloße Organisation sein, ganz einfach, weil er ein Rat der Kirchen ist. Denn solange es in den Kirchen eine „Kirche“ gibt, solange wird diese Kirche auch auf ihrer Selbstbehauptung bestehen.61 Das ist das Dilemma, das die ganze Existenz des Rates beherrscht. Seine Mitgliedskirchen sind noch unfähig, zusammen eine Kirche Gottes zu sein, aber sie sind nicht mehr imstande, ihre Genossen als außerhalb der Kirche Gottes stehend zu betrachten. Sie können sich nicht vereinigen, aber sie können einander auch nicht loslassen. Sie wissen, daß es außerhalb der Wahrheit keine Einheit gibt, aber sie begreifen auch, daß die Wahrheit nach Einheit verlangt.62

Und so wird deutlich, dass dem Vorwurf eines allzu weitreichenden Theologieverzichts für die Konstitution des ÖRK als einer Ökumene der realexistierenden Kirchen durchaus auch theologische Begründungen entgegengehalten werden können. Sie finden ihre genuine Verlängerung in der Zielbestimmung, die Visser’t Hooft prägnant formuliert: „The ultimate aim of the movement is not dialogue, but true unity. Our Lord did not pray ‚that they may all enter into conversation with one another‘; he prayed that they all may be one.“63 Und schließlich werden wir auch an die ökumenische Bedeutung des semper reformanda im Sinne Calvins erinnert, wenn es bei Visser’t Hooft heißt: „all ecumenism that is worthy of the name is a movement of concentration, a return to the sources, or still better a return to the centre.“64 2.3 Bekennende Ökumene – Karl Barth Wenn im Blick auf Visser’t Hooft festgestellt wurde, dass die Ökumene alle Aufmerksamkeit auf die Ekklesiologie lenkt, so klingt das wie eine theologische Plattitüde. Dass es sich jedoch nicht um eine solche handelt, lässt sich am Beispiel Karl Barth zeigen, mit dem wir uns in dem dritten exemplarischen Schlaglicht auf die Rezeption Calvins in der ökumenische Bewegung zuwenden. Freilich hat sich Barth auf Drängen seines Freundes Visser’t Hooft auch für die Genfer Ökumene stark gemacht, allerdings zögerlich genug65, um ahnen zu können, dass ihm selbst eigentlich eine andere ————— 61

Ebd., 191f. Ebd., 192. 63 W.A. VISSER’T HOOFT zit. nach A.J. VAN DER BENT, Visser’t Hooft, Willem Adolf, in: Dictionary of the Ecumenical Movement, hg. von N. LOSSKY u.a., Genf 2002, (1195–1197) 1196. 64 W.A. VISSER’T HOOFT zit. nach A.J. VAN DER BENT, Visser’t Hooft, 1196. 65 Vgl. dazu K. BARTH / W.A. VISSER’T HOOFT, Briefwechsel 1930–1968, hg. von T. HERWIG, Karl Barth Gesamtausgabe V. Briefe, Zürich 2006; T. HERWIG, Karl Barth und die ökumenische Bewegung. Das Gespräch zwischen Karl Barth und Willem Adolf Visser’t Hooft auf der Grundlage ihres Briefwechsels 1930–1968, Neukirchen-Vluyn 1998. 62

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Calvins Ökumeneverständnis

Vision vor Augen stand66, von der ich behaupte, dass sie keineswegs weniger mit dem Erbe Calvins zu tun hat als die Vision von Visser’t Hooft67. Die entscheidende Differenz zwischen beiden besteht in der grundverschiedenen ekklesiologischen Bewertung des Ökumenischen Rates der Kirchen68. Ein Ökumenischer Rat, der selbst ausdrücklich nicht Kirche sein will, war für Barth ein Widerspruch in sich selbst, so wie auch ein Reden eines solches Rates, das nicht Bekenntnis sein will, für ihn an dem vorbeiging, was aus seiner Sicht sinnvoll und erforderlich war69. Barth wollte die Ökumene ganz und gar in dem heute zu sprechenden Bekenntnis verankert wissen. Für ihn gehört zur Ökumene eine echte Konfessionalität im Sinne einer konfessorischen Existenz, die sich gründlich von allen konfessionalistischen Selbstbehauptungen unterscheidet. Damit stellt sich Barth gegen alle Einheitsvisionen und Harmoniesehnsüchte, die eine offene und ehrliche Auseinandersetzung über das gegenwärtig von den Kirchen zu sprechende Bekenntnis scheuen. Ähnlich wie bei Bonhoeffer waren es die brennenden Fragen des Kirchenkampfes, von denen aus die Ökumene in den Blick kam. Das erklärt Barths Ungeduld, in welcher er darauf drängte, dass der innere Kampf in Deutschland von außen eine klar positionierte Unterstützung erfahren solle. Die diversen Briefe und Appelle, die Barth während der Nazizeit an einzelne Personen und Kirchen in Europa und den USA ergehen ließ – später zusammengefasst in der „Schweizer Stimme“70 – gehören zu seinem ökumenischen Engagement. Dies mag an die von Calvin gepflegten konsultativen Briefkontakte in ganz Europa erinnern. Aber es wäre kurzschlüssig, allein historische Motive für Barths eigenen Weg in der Ökumene verantwortlich zu machen. Vielmehr hängen diese mit ————— 66

Barths freundlichere Bewertung der Genfer Ökumene nach der Gründungsvollversammlung in Amsterdam darf nicht dahingehend überwertet werden, dass sich Barth nun grundsätzlich von dem hier eingeschlagenen Weg habe überzeugen lassen, vielmehr würdigt er die positiven Ansätze, ohne aber seine grundsätzliche Skepsis wirklich abzulegen. Insofern kann nur sehr zurückhaltend von einem „Wendepunkt“ (W.A. VISSER’T HOOFT, Karl Barth und die ökumenische Bewegung, EvTh 40, 1980, (1–24) 19) gesprochen werden, sondern es ist besser von einer zwischenzeitlichen Annäherung zu sprechen, die Barth durchaus bewusst vollzogen hat (vgl. K. BARTH, Eindrücke von Amsterdam 1948, in: DERS. / J. DANIÉLOU / R.NIEBUHR, Amsterdamer Fragen und Antworten, TEH NF 15, München 1949, 20–24; DERS., How my mind has changed, in: DERS., Der Götze wackelt. Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe 1930–1960, hg. von K. KUPISCH, Berlin 1961, (181–209) 198), die aber keineswegs bedeutet, dass er seine eigene ökumenische Vision nun revidiert (das wird auch von VISSER’T HOOFT, Karl Barth, 24 in der Sache eingeräumt; vgl. auch HERWIG, Karl Barth, 9, 231ff. 67 In der Arbeit an seiner Dogmatik sah sich Barth „in meiner Weise für die ‚ökumenische Sache‘ tätig zu sein“; vgl. BARTH / VISSER’T HOOFT, Briefwechsel, 75. 68 Vgl. dazu einschlägig BARTH / VISSER’T HOOFT, Briefwechsel. 69 Vgl. HERWIG, Karl Barth, 46f. 70 K. BARTH, Eine Schweizer Stimme 1938–1945, Zürich 31985.

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seinen theologischen Grundentscheidungen zusammen71. Entschlossen und konsequent lenkt Barth die Aufmerksamkeit auf das erste Gebot nicht nur als Schlüssel für die Gottes- und Selbsterkenntnis, sondern eben auch als das Fundament für die Freiheit der Kirche, ihre historischen Fesseln zu identifizieren, um sich sogleich dorthin gestellt wissen zu dürfen, wo es heute den Namen und die Ehre Gottes auszurufen gilt72. Über die rechte Ekklesiologie wird in der Gotteslehre, insbesondere in der Christologie entschieden. Die Frage der Ökumene war für Barth eine Frage des rechten Gottesdienstes, wobei zu diesem Gottesdienst eben auch der politische Gottesdienst in der Welt zu zählen ist, in dem die Kirche die „Botschaft des Heils in das Unheil der weltlichen Politik und Wirtschaft hinein zu rufen hätte“73. Da, wo die Gefahr besteht, die Kirchen könnten sich schließlich die Ehre der Verwirklichung ihrer Einheit in den allzumeist nur zögerlichen und zudem stets vorbehaltlichen kleinen Schritten auf ihre Fahnen schreiben, wittert er einen endlosen Kräfte zehrenden und von faulen Kompromissen allzu reichlich in Bewegung gehaltenen Prozess, in denen die Kirchen faktisch weniger aufeinander zugehen als vielmehr auf versteckte Weise ihren Unterschieden eine neue Pflege angedeihen lassen. Barth nennt es einen „gräulichen Geist“, in dem „Kompromisse und immer wieder Kompromisse das Optimum sind“74. Und so stellt er auch 1959 noch fest: „ein Nebel von Unentschiedenheit und Unergiebigkeit liegt […] vorläufig über all den in Bossey und anderwärts so fleißig ausgearbeiteten ökumenischen papers“75. Wer wollte bestreiten, dass an einer solchen Wahrnehmung etwas dran ist? Deshalb waren auch nicht die kirchlichen Einigungsversuche für Barth das Interessante an der ökumenischen Bewegung, sondern es war die praktisch-missionarische internationale Dynamik, die mit ihr verbunden ist und in der sie der Welt in diesem Fall nicht wie sonst üblich hinterherhinkt, sondern „um einige gute Schritte voraus ist und vorbildlich werden könnte“76. Seinen kleinen Exkurs über den „ökumenischen Gedanken“ im KD IV/3 schließt Barth mit einer für unser Thema bedeutungsvollen theologiegeschichtlichen Bemerkung ab, mit der er auf den theologischen Zusammenhang zurücklenkt, in dem er auf die Ökumene zu sprechen gekommen ist: ————— 71 Vgl. auch K.A. BAIER, Unitas ex auditu. Die Einheit der Kirche im Rahmen der Theologie Karl Barths, BSHST 35, Bern 1978, 31. 72 Vgl. K. BARTH, Das erste Gebot als theologisches Axiom, in: DERS., Theologische Fragen und Antworten, Gesammelte Vorträge, Bd. 3, Zollikon 1957, 127–143. Was Barth hier explizit thematisiert, findet sich implizit in den vielen Beiträgen zum Wesen der Kirche in dieser Zeit wieder; vgl. auch E. BUSCH, Die Barmer Thesen. 1934–2004, Göttingen 2004, 28. 73 KD IV/3, 39. 74 BARTH / VISSERT HOOFT, Briefwechsel, 59. 75 KD IV/3, 39. 76 Ebd.

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Es sei kein Zufall, „daß Calvin gerade an der Schwelle dieser christlichen Neuzeit die Lehre vom munus Christi propheticum wieder entdecken konnte und musste“77. Verheißungsvolle Orientierung kann es nur im Rahmen der Selbstbezeugung Jesu Christi geben. Wenn die einheitsstiftende Wirklichkeit des sich selbst vergegenwärtigen Christus ersetzt wird durch das in den eigenen Möglichkeiten liegende Potential, die Einheit in Szene zu setzen, wird faktisch die wahre Einheit zumindest weiter verdunkelt. Einheit kann nur empfangen werden, und das muss dann auch in der Art und Weise, in der nach der Einheit gefragt wird, erkennbar bleiben. Bekanntlich steht nach Barth dem prophetischen Amt Jesu Christi die spezifisch christliche Gestalt der Sünde gegenüber, nämlich die Lüge, die eben in der niemals ganz abzustellenden Neigung besteht, sich die Wahrheit Christi eigenwillig zurecht zu legen. Da stehen wir dann auch unversehens vor dem Faktum der konfessionellen Eigenwilligkeiten. Für Barth bleibt es eine Unterbestimmung von Ökumene, wenn man sie eine Bewegung nennt78; ernst genommen fällt sie mit der recht gestellten Frage nach der Berufung, Erhaltung und Sendung der Kirche zusammen79. Darin stimmt er ganz und gar mit Calvin überein. Diese Frage lässt sich nicht allein im Blick auf die Kirche beantworten, sondern verweist auf die Gegenwärtigkeit des Christusgeschehens. Wo sich die Theologie tatsächlich und konsequent dieser Frage zuwendet, da wird sie auch unweigerlich, ohne ihr Thema wechseln zu müssen, ökumenische Theologie sein. Wo sie diese Frage aber nicht stellt, wird sie umgekehrt Schwierigkeiten haben, sich überhaupt als Theologie bezeichnen zu können. Rechte Theologie ist nach Barth in diesem Sinne immer ökumenische Theologie. Wenn Barth besonders für die reformierte Tradition in Anspruch nimmt, dass „sie von Hause aus ‚ökumenisch‘ gesinnt“ sei, so beruft er sich ausdrücklich auf Calvin. Dabei hebt er hervor, dass Reformierte „katholische Protestanten und protestantische Katholiken“ seien, womit er zum Ausdruck bringen will, dass hier „das ‚katholische‘ und … das ‚protestantische‘ (wir sagen lieber: das ‚evangelische‘) Prinzip“ zusammenkommen. Damit sind im Grunde die entscheidenden Voraussetzungen gegeben, um der Ökumene eine ernst zu nehmende Gestalt zu geben. Allerdings müssten sich die Reformierten auch tatsächlich auf diese beiden Prinzipien besinnen, was ————— 77

A.o.O. 40. Vgl. K. BARTH, Die Kirche und die Kirchen, in: DERS., Theologische Fragen und Antworten, Gesammelte Vorträge, Bd. 3, Zollikon 1957, (214–232) 225. In einem Brief vom 21. Oktober 1942 an W.A. Visser’t Hooft sagt Barth ausdrücklich, dass er „die ökumenische Bewegung offenbar ernster nehme“ als sie sich selbst; BARTH / VISSERT HOOFT, Briefwechsel, 148. 79 Dass die Einheit aus dem Hören kommen soll, entfaltet Barth in seiner Versöhnungslehre unter den Gesichtspunkten der Sammlung (KD IV/1, § 62), Auferbauung (KD IV/2, § 67) und Sendung (KD IV/3, § 72) der Kirche. 78

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angesichts des faktischen Zustandes des Reformiertentums keineswegs eine Selbstverständlichkeit sei80. Barth hatte zeitlebens eine Aversion gegen die Neigung der Kirchen, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und den damit in der Regel verbundenen Klerikalismus. Visser’t Hooft trifft durchaus eine wichtige Intention, wenn er bemerkt, dass Barth ein „anti-triumphalistisches“ Element in die Ökumene eingebracht habe81. Die Kirche solle nicht über sich reden, sondern schlicht Kirche sein82, dann stelle sie sich auch in angemessener Weise der ökumenischen Herausforderung83. Zum Kirchesein ist einerseits das Hören fundamental – es gibt von der Kirche nichts Wichtiges zu sagen, was ihr nicht auch selbst immer wieder gesagt werden müsste – und zum anderen das Antworten – da (und nur da), wo recht gehört wird, wächst der Kirche die Freiheit zur eigenen Antwort zu, in der sie als Zeugin Gottes tätig in diese Welt hineingestellt ist. Neben all den kleinen Nöten, die uns unter den Bedingungen unserer Geschichte niemals ganz in Ruhe lassen werden, weist Barth entschlossen auf die große Not der Kirche hin, deren Wahrnehmung ihr überhaupt erst die Chance bietet, Kirche zu werden84. Es ist die Not, über ihren Grund und somit auch über ihr Sein nicht selbst verfügen zu können, d.h. faktisch mehr oder weniger mit leeren Händen dazustehen und immer wieder neu auf das Wirken des Geistes Gottes angewiesen zu sein. Barth kann sich mit der konsequent durchgehaltenen Grundüberzeugung unmittelbar auf Calvin berufen, wenn er – ebenso wie Philip Schaff und Willem Visser’t Hooft – den Erfolg der Ökumene an die Bereitschaft der Kirchen zu einer gründlichen Reformation gebunden sieht. „Der Weg zur Einheit der Kirche kann … nur der ihrer Erneuerung sein. Erneuerung heißt aber Buße. Und Buße heißt Umkehr: nicht die Umkehr der anderen, son—————

80 Vgl. zum ganzen Absatz BARTH, Kirchen, 12. Barths Lokalisierung der Reformierten in der Mitte des konfessionellen Spektrums von den Orthodoxen auf der äußersten Rechten bis hin zu den Quäkern und der Heilsarmee auf der äußersten Linken enthält durchaus eine nach wie vor erwägenswerte sachliche Provokation für die Reformierten. – Zur Ambivalenz des gegenwärtigen ökumenischen Engagements des Reformierten Weltbundes vgl. L VISCHER, The Ecumenical Commitment of the World Alliance of Reformed Churches, RW 38, 1985, (261–281). 81 Vgl. M. WELKER, Karl Barth: Vom Kämpfer gegen die „römische Häresie“ zum Vordenker für die Ökumene, in: DERS., Theologische Profile, Frankfurt a.M. 2009, (209–234) 234. 82 Vgl. u.a. BARTH / VISSER’T HOOFT, Briefwechsel, 102. 83 E. BUSCH fasst diese Pointe wie folgt zusammen: „Es gibt keinen anderen Weg dahin, dass die eine Kirche sichtbar die eine ist, als den, dass die Gläubigen je an ihrem eigenen Ort bußfertig darum ringen, Kirche Jesu Christi zu sein.“ Karl Barth – Einblicke in seine Theologie, Göttingen 2008, 109. Es hat m.E. durchaus eine hohe sachliche Plausibilität, wenn Barths Ekklesiologie eine kongregationalistische Schlagseite aufweist, auf die auch VISSER’T HOOFT aufmerksam macht (VISSER’T HOOFT, Karl Barth, 15), denn hier steht Kirchesein vor allen Vermittlungen durch eine allzu ausdifferenzierte Ekklesiologie; vgl. BARTH, Kirchen, 12. 84 Vgl. K. BARTH, Die Not der evangelischen Kirche, ZZ 9, 1931, 89–122.

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Calvins Ökumeneverständnis

dern eigene Umkehr.“85 Das Ökumenische an der hier gemeinten Reformation besteht darin, dass es um ein immer erneutes Fragen nach dem Ursprung, Grund und Auftrag der Kirche geht86. Weder ein kompromissbereiter Traditionsabgleich noch gar konfessionelle Bestandsverwaltung können die Kirchen wirklich einander näher bringen, wohl aber die Suche nach dem ihnen gemeinsamen Ursprung und der ihnen gemeinsamen Sendung. Nach dem Ursprung und der Sendung der Kirche fragen, heißt aber nichts anderes als nach Gott fragen. Und hier liegt sowohl die große Verlegenheit als auch die entscheidende Chance der Ökumene, denn hier verlieren wir einerseits den lieb gewonnenen Boden unserer konfessionellen Identität unter den Füßen, aber damit werden wir andererseits auch frei von all dem, was uns geschichtlich bindet und sich zwischen den Konfessionen wie unüberwindlich erscheinende Mauern aufgerichtet hat. Die Frage nach Gott untersteht konsequent nicht dem, was wir bereits zu haben und nun vorweisen könnten. Wenn Gott tatsächlich ins Spiel kommen soll, dann kommt keine unserer Möglichkeiten ins Spiel. Konsequenter noch als Calvin hält sich Barth an den altkirchlichen Grundsatz theologischer Hermeneutik: Gott wird nur durch Gott erkannt87. Die Frage nach der Einheit der Kirche darf nicht zu einer selbstzwecklichen Frage werden. Das ist die Gefahr, die Barth im Blick auf die Genfer Ökumene vor Augen stand. Wenn Barth dagegen auch noch im deutlichen Abstand zum so genannten Kirchenkampf die Barmer Theologische Erklärung als Ereignis recht verstandener Ökumene hervorhebt, dann, weil hier die Kirche konsequent ihre Einigung in der Sammlung von und für Christus zurückgewinnt, die ihr dann auch ein entsprechendes Zeugnis in der Welt ermöglicht88. Auf einem ökumenischen Seminar in Genf trug Barth schon 1935 sein Konzept für eine theologisch verantwortete Ökumene vor. Es komme konsequent darauf an, dass auch in dieser Frage all unser Tun nur ein zweiter Akt sein kann, der als solcher allerdings zu vollziehen ist in Treue zu dem, was Gott bereits getan hat: ————— 85

K. BARTH, Überlegungen zum Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Zwischenstation. FS für Karl Kupisch zum 60. Geburtstag, hg. von E. WOLF, München 1963, (9–18) 18; vgl. auch das Fragment gebliebene letzte Wort Barths, das der Ökumene gilt: Aufbrechen – Umkehren – Bekennen, in: DERS., Letzte Zeugnisse, Zürich 1969, 61–71. 86 Vgl. HERWIG, Karl Barth, 16. 87 Zu Barths Hermeneutik vgl. M. WEINRICH, Theologischer Ansatz und Perspektive der Kirchlichen Dogmatik Karl Barths. Trinitarische Hermeneutik und die Bestimmung der Reichweite der Theologie, in: M. BEINTKER u.a. (Hg.), Karl Barth im Europäischen Zeitgeschehen (1935– 1950). Widerstand – Bewährung – Orientierung, Zürich 2010, 47–65. 88 Vgl. KD IV/3, 38. Barth sieht in der Barmer Theologischen Erklärung, die er als ein herausragendes Ereignis in der Kirchengeschichte bewertet, seine Vorstellung von Ökumene verwirklicht. Von dieser Position ist er allen späteren Annäherungen an die Genfer Ökumene niemals abgewichen; vgl. auch BAIER, Unitas, 100; HERWIG, Karl Barth, 2, 9, 21f., 66, 76, 87ff., 129, 231, 234, 258 u.ö.

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Die Frage nach der Einheit der Kirche muß identisch sein mit der Frage nach Jesus Christus als dem konkreten Haupt und Herrn der Kirche. … Jesus Christus als der eine Mittler zwischen Gott und Mensch ist geradezu die kirchliche Einheit, jene Einheit, in der es wohl eine Vielheit der Gemeinden, der Gaben, der Personen in der Kirche gibt, durch die aber die Vielheit der Kirchen ausgeschlossen ist. Wir dürfen nicht die Idee – auch nicht eine noch so schöne moralische Idee von Einheit, wie müssen ihn meinen, wenn wir es erkennen und aussprechen wollen, daß es im Auftrag der Kirche liegt, eine Kirche zu sein.89

Es bleibt konsequent dabei, dass Einheit „nicht gemacht werden, sondern nur … gefunden und anerkannt werden kann“90. Nur wo wirklich „Bekümmerung darüber ist, daß wir Christus und mit Christus die Einheit der Kirche vergessen und verloren haben“91, stehen ökumenische Bemühungen unter einer Verheißung. Erst wenn die Ökumene in der Gottesfrage und nicht in der Ekklesiologie festgemacht werde, steht sie unter dem Anspruch, dem sie theologisch gerecht werden muss. Die Betonung des Bekenntnischarakters geht weit über den Augenschein hinaus und entspricht damit genau dem Charakter anderer Glaubensaussagen auch, die sich gerade darin als Glaubensaussagen erweisen, dass sie gegen den Augenschein ausgesprochen werden. Allerdings wäre diese Konzentration vollkommen missverstanden, wenn die Benennung des eigentlichen Entdeckungshorizontes der Einheit die Erwartung irgendeines Gleichschritts der verschiedenen Kirchen in Aussicht stellte. Dieser Gefahr will Barth vielmehr durch die Verlagerung der ökumenischen Frage aus der Ekklesiologie in die christologisch entfaltete Gottesfrage gerade entgegenwirken. Wenn die Kirchen wirklich ihrem Haupt verpflichtet sind, können die dann immer noch bestehenden Unterschiede keine kirchentrennende Bedeutung haben. Schließlich bringt Barth noch einen weiteren Fundamentalaspekt in das Ökumeneverständnis ein. Indem er die Ökumene nicht so sehr mit der Ekklesiologie, sondern vor allem mit dem rechten Gottesverständnis beschäftigt, kommt unweigerlich im konsequenten Nachdenken früher oder später die Selbigkeit Gottes mit dem Gott Israels und damit dann auch das Judentum in den Blick. Im Ernstnehmen der Gottesfrage erscheint auch Israel als das von der freien Treue Gottes erwählte Volk im Horizont der Ekklesiologie und somit der Ökumene, und zwar ohne dass damit in irgendeiner Weise eine Assimilation in die eine oder andere Richtung anvisiert würde. Sehr ————— 89

So Barth in einer vierteiligen Vorlesung, die er 1935 im Rahmen eines vom Ökumenischen Rat für Praktisches Christentum veranstalteten Seminar in Genf gehalten hat: BARTH, Die Kirche und die Kirchen, 217. 90 Ebd., 225. 91 Ebd., 218.

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pointiert sagt Barth: „Auch die ökumenischen Bewegungen von heute leiden schwerer unter der Abwesenheit Israels, als unter der Roms und Moskaus!“ (1959)92 Es kann dann nicht wirklich überraschen, wenn es dann später – jetzt nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil – heißt: „Wir sollen nicht vergessen, dass es schließlich nur eine tatsächlich große ökumenische Frage gibt: unsere Beziehung zum Judentum.“93 Dieser berühmte Satz Barths bei seinem Besuch von Papst Paul VI. 1966 im Vatikan war kein spontanes Kontingenzereignis, sondern bezieht sich auf eine zentrale Irritation der Ekklesiologie, die bei Barth seit der Auslegung des Römerbriefs immer wieder auftaucht94. Hier zeigt sich schlicht und konsequenzenreich Barths biblische Haltung. Auch wenn man diesen Satz nicht inhaltlich zu sehr belasten sollte95, so blickt er doch eindeutig in die Richtung einer besonderen Wahrnehmung der Selbstidentität Gottes, durch welche die Kirche unausweichlich und unverbrüchlich an die Seite Israels gestellt wird. Die Kirche ist weder dazu autorisiert, Israel einfach zu beerben, noch dazu beauftragt, es in das Corpus der Kirche hinein aufzulösen.96 Die Ökumene würde unweigerlich einem defizitären Gottesverständnis anhängen, wenn sie in ihrer Selbstreflexion einfach an Israel vorbeiginge. Hier liegt der wohl wirksamste Einspruch gegen alle triumphalistischen Versuchungen der Ökumene begründet. Wird die gesuchte Einheit gleichsam von Gott aus – und eben nicht von den Kirchen aus – in den Blick genommen, so verändert sich die ökumenische Frage gründlich. Ihr Ausgangspunkt ist dann nicht die geschichtliche Wirklichkeit und die ihr zugeordnete Veränderungsoption. Es stehen keine Affinitäten und Disparitäten, keine Konvergenzen und Divergenzen, keine Sympathien und Antipathien zur Debatte. Es geht gar nicht darum, auf irgendeine möglichst eindrucksvolle Weise mit der Einheit der Kirche ihre Stärke geschichtlich zu dokumentieren. In seiner Schrift „Gemeinsames Leben“ betont Dietrich Bonhoeffer, dass die christliche Gemeinschaft nicht psychologischen Gesetzen folge (natürlich können diese nicht einfach außer Kraft gesetzt werden), sondern sie entwickelt ihre besondere Qualität überhaupt erst darin, dass sie gerade unter Berufung auf den in Christus gegeben Zusammenhalt entschlossen auch die Grenzen unserer Sympathien und Antipathien überschreitet – als ————— 92

KD IV/3, 1007. In: Freiburger Rundbrief, Folge 28 (1976), 27. 94 Vgl. BAIER, Unitas, 73, 132ff., 151f., 161. 95 M. Welker warnt davor, aus dieser Formulierung zu weitreichende Konsequenzen zu ziehen, solange sein Verständnis aus dem Werk Barths nicht hinreichend evident gemacht worden sei (WELKER, Karl Barth, 217f.). 96 Vgl. dazu E. BUSCH, Unter dem Bogen des einen Bundes. Karl Barth und die Juden 1933– 1945, Neukirchen-Vluyn 1996. 93

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solche ist sie kein Ideal, sondern eine in Christus geschaffene Wirklichkeit, von deren Gegebenheit auch über die Grenzen der eigenen Zuneigungen und Aversionen hinaus auszugehen ist97. Das, was für das Zusammenleben in der Gemeinde gilt, kann unmittelbar übertragen werden auf das Zusammenleben der Kirchen. Hier sehe ich Barths ökumenische Vision verankert. Wirklich beeindruckend kann nur das Zusammenstehen in dem Bekenntnis zu dem einen Gott sein, ein Zusammenstehen das in einer so großen Vielfalt vollzogen werden kann, dass es keinen Grund gibt, sich in irgendeiner Weise durch Grenzziehungen von Israel abzugrenzen, denn die Christen verstehen ihren Gott allein darin recht, dass sie in ihm klar und eben folgenreich den Gott Israels erkennen. Gemessen daran bleibt dann das ökumenische Ereignis von Barmen auch nur ein Vorspiel. Auch in dieser Vision hat Barth in Calvin insofern einen Anwalt, als auch bei ihm nicht nur die Ekklesiologie in die bundestheologische Konzeption eingeschrieben ist, sondern sich in der Hervorhebung des einen Bundes Gottes – „der Bogen des einen Bundes, der sich über dieses Ganze spannt“98 – einen theologischen Horizont aufspannt, der über Calvin und dann auch Barth hinaus immer noch neu zu erschließende theologische Denkräume bereitstellt. Wir sind mit der Ökumene noch nicht am Ende, vielmehr gibt es mit Calvin und Barth theologische Herausforderungen, sie noch einmal ganz neu zu entdecken.

————— 97

Vgl. D. BONHOEFFER, Gemeinsames Leben. Das Gebetbuch der Bibel, hg. von G.L. MÜLLER / A. SCHÖNHERR, DBW 5, München 1987, 15–34. 98 KD IV/1, 749.

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Karl Barth als Leser Johannes Calvins Die dreifache Gestalt der Versöhnungslehre Karl Barths als Interpretation der Drei-Ämter-Christi-Lehre Johannes Calvins

Die Theologie Karl Barths ist die wohl intensivste und innovativste Rezeption der Theologie Johannes Calvins im 20. Jahrhundert.1 Die Beschäftigung Karl Barths mit Johannes Calvin hat verschiedene Stationen aufzuweisen, die jeweils eine genaue Betrachtung und Analyse lohnen würde. Zu nennen ist Barths Vikariat in Genf, in dem der liberale Barth eine von ihm selber später weniger geschätzte Sicht auf Calvin aufzeigt.2 Einen ersten großen Schwerpunkt bildet in Barths Göttinger Zeit die vielbeachtete und ihrerseits wirkungsgeschichtlich spannende Vorlesung zu Calvin 1922.3 Im Kirchenkampf ist die Auseinandersetzung mit Emil Brunner um die natürliche Theologie zu erwähnen.4 Äußerst anregend fällt Barths Aufnahme und fundamentale christologische Umgestaltung der doppelten Prädestinationslehre Calvins in Barths Erwählungslehre aus,5 ebenso wie seine Verhältnisbestimmung von Evangelium und Gesetz und damit die Verortung ethischer Urteilsbildung6 und auch die Entwicklung der Ekklesiologie von der versammelten Gemeinde her.7 Die Aufzählung bleibt lückenhaft. Am intensivsten tritt aber Barth als Interpret Calvins in Erscheinung, wenn man beide auf ihre theologische Mitte hin befragt. Sowohl für Calvin als auch Barth ist die Mitte ihrer Theologie – auch wenn der Begriff nicht ganz unproblematisch ist, weil er immer zu Verkürzungen neigt – in der Christologie zu sehen. Und bei beiden erweist sich die Vorstellung vom dreifachen Amt Jesu Christi als zentral. Calvin hatte diese bereits in reduzierter Form —————

1 Vgl. z.B. die einzelnen Beiträge in: H. SCHOLL (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttinger Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen-Vluyn 1995. 2 K. BARTH, Der christliche Glaube und die Geschichte, in: D ERS., Vorträge und kleinere Arbeiten 1909–1914, hg. von H.-A. DREWES und H. STOEVERSANDT, Karl Barth Gesamtausgabe III. Vorträge und kleinere Arbeiten, Zürich 1993, 149–212. In dem Band sind auch noch kleinere Miszellen Barths zu Calvin aus der Genfer Zeit enthalten. 3 K. BARTH, Die Theologie Calvins 1922, hg. in Verbindung mit A. REINSTÄDTLER von H. SCHOLL, Karl Barth Gesamtausgabe II. Akademische Werke, Zürich 1993. 4 Vgl. nur K. BARTH, Nein! Antwort an Emil Brunner, ThExh 14, München 1934. 5 KD II/2, 1–563. 6 Vgl. etwa K. BARTH, Evangelium und Gesetz, ThExh 32, München 1935. 7 Vgl. KD IV/1, 718–826; KD IV/2, 695–824; KD IV/3, 780–1034.

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zum Organisationsprinzip seiner Christologie gemacht – und Barth hat diese Zentralstellung aufgenommen und dabei deutlich verändert.

1. Zum Verständnis des dreifachen Amtes Christi bei Johannes Calvin Um Calvins Ansatz in der Reformationszeit nachvollziehen zu können, ist es hilfreich, Martin Luthers Ansatz als Kontrast wahrzunehmen. Luthers Theologie kreist um eine einzige Fragestellung bzw. um ein einziges Thema: die Rechtfertigung des Sünders. Das ist die Melodie aller Theologie Luthers – und davon ausgehend wird die Rechtfertigungslehre vielfach als Grundlehre reformatorischer Theologie verstanden.8 Aber hier ist genauer hinzuschauen. Für die Theologie Luthers und für das Selbstverständnis lutherischer Theologie wird man das gewiss so sagen können. Aber im Blick auf die reformierte Theologie und auch schon bei Johannes Calvin sieht das etwas anders aus. Zwar hat auch Calvin sagen können, dass die Rechtfertigung „der Hauptartikel des christlichen Glaubens ist“.9 Insofern steht er unbedingt in der reformatorischen Linie Martin Luthers. Aber es ist nun nicht so, als sei dieser Punkt die einzige Achse der Theologie Calvins. Es gibt vielmehr eine zweite Achse, und diese bildet – kurz gesagt – die Gotteslehre und darin eingeschlossen auch die Christologie. Calvin ging es immer um den Menschen und um Gott, man kann daher seine Theologie als Ellipse beschreiben, die eben zwei Mittelpunkte hat. Um beides geht es Calvin: Um den Menschen, der gerechtfertigt wird, und um den, der den Menschen rechtfertigt: „Calvins Theologie hat […] nicht einen, sondern zwei Brennpunkte: ‚Ehre Gottes‘ (seine gerechte Souveränität) und ‚Heil des Menschen‘ (seine Erlösung durch Gottes Barmherzigkeit)“10. Das lässt sich im Blick auf die Christologie mit einem kleinen Hinweis verifizieren: In seinem Kleinen Katechismus hat Martin Luther den 2. Artikel des Credos vor allem auf die Rechtfertigung hin ausgelegt: Ich gläube, daß Jesus Christus, wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrauen Maria geboren, sei mein HERR, der mich verlornen und verdammpten Menschen erlöset hat, erworben und gewonnen […].11

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8 Das ist etwa in der Diskussion um die 1999 unterzeichnete „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ zu erkennen. 9 Inst. (1559), III,11,1. 10 E. BUSCH, Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, Zürich 2005, 145. 11 Zit. nach: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 121998, 511.

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Melanchthon12 und weite Teile der lutherischen Theologie, auch Rudolf Bultmann,13 setzen diese Linie Martin Luthers fort – und steigern sie. Ob sie da noch mit Luther selber konform gehen, wäre zu erörtern. Um es darüber hinaus noch statistisch zu belegen: Luther verwendet 6,5 Prozent des gesamtes Umfangs des Kleinen Katechismus auf die Auslegung des 2. CredoArtikels, Calvin hingegen in seinem Genfer Katechismus mehr als 18 Prozent.14 1.1 Das Amt und die Ämter Christi Im Genfer Katechismus von 1542 heißt es in Frage 34 bis 36: 34. Was bedeutet nun die folgende Bezeichnung „Christus“? Mit diesem Titel wird sein Amt noch besser erklärt. Es bedeutet nämlich, vom Vater zum König, Priester und Propheten gesalbt zu sein. 35. Woher weißt du das? Weil die Schrift diesen drei Tätigkeiten die Salbung zuordnet. Weiterhin schreibt sie diese drei, von denen die Rede ist, oft Christus zu. 36. Aber mit welcher Art Öl wurde er gesalbt? Nicht mit einem sichtbaren, so wie es bei der Salbung der alten Könige, Priester und Propheten gebraucht wurde, sondern mit einem besseren, nämlich der Gnadengabe des Heiligen Geistes, welcher die eigentliche Wahrheit jener äußeren Salbung ist.15

Mit diesem Abschnitt macht Calvin zum ersten Mal eine in der Wirkungsgeschichte kaum zu überschätzende neue Lehre bekannt: Die Lehre vom dreifachen Amt Christi. Calvin hat die Lehre von Christus und seinen Ämtern nicht erfunden, vielmehr gibt es biblische und vorreformatorische An-

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12 Das berühmte Zitat Melanchthons aus der Vorrede zu seinen Loci communes (1521) lautet: „[…] hoc est Christum cognoscere, beneficia eius cognoscere, non, quod isti docent, eius naturas, modos incarnationis contueri.“ Zit. nach P. MELANCHTHON, Loci communes 1521. Lateinisch – Deutsch, übers. von H.G. Pöhlmann, hg. vom Lutherischen Kirchenamt der VELKD, Gütersloh 2 1997, 22. 13 Vgl. etwa R. BULTMANN, Die Christologie des Neuen Testaments, in: DERS., Glauben und Verstehen I, Tübingen ³1953, 245–267. 14 Dieses Verhältnis ergibt sich, wenn man die Zeichenzahl vergleicht: Von knapp 17000 Zeichen in Luthers Kleinem Katechismus entfallen knapp 1100 auf die Auslegung des zweiten Artikels; in Calvins Genfer Katechismus sind das bei knapp 90000 Zeichen insgesamt mehr als 16000. 15 Zit. nach: Reformierte Bekenntnisschriften. Eine Auswahl von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von G. PLASGER und M. FREUDENBERG, Göttingen 2005, 64.

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sätze16 und auch Luther hat durchaus das Amt des Königs und Priesters aufgegriffen.17 Neu bei Calvin ist zweierlei: Einmal wird ein drittes Amt eingeführt, nämlich das prophetische Amt Christi. Und zum anderen kommt – was noch wichtiger ist – diese Drei-Ämter-Lehre an der Spitze der Christologie zu stehen. Und das heißt, dass Calvin „die ganze für uns geschehene und geschehende Christusgeschichte im dreifachen Amt Christi zusammengefasst und in seiner ‚Kraft‘ und ‚Würde‘ herausgestellt“18 sieht. Klauspeter Blaser nennt sie ein „Herzstück“19 der späteren Theologie Calvins. Die – wie eben betont – nicht neue Ämter-Christi-Lehre war sowohl in der Alten Kirche wie bei Thomas von Aquin und Martin Luther eher eine „seelsorgerliche und katechetische Hilfe“20 gewesen, aber kein grundlegender dogmatischer Terminus. Das wird bei Calvin anders. Warum? Calvin möchte mit dieser Lehre eine Beziehung herstellen zwischen der Person Jesu Christi und seinem Werk. Das Apostolische Glaubensbekenntnis etwa besitzt ja im zweiten Artikel zwei Dimensionen: Einmal redet es von der Person Jesu Christi und betont, dass er Gottes eingeborener Sohn, unser Herr, ist. Und die weiteren Sätze reden von dem, was geschehen ist: empfangen, geboren, gelitten, gekreuzigt, gestorben, begraben, hinabgestiegen, auferstanden, aufgefahren, sitzend, kommend. Das alles sind Aussagen über das Werk Jesu Christi, wie man es dogmatisch nennt. Die Lehre vom Amt hält Person und Werk zusammen, weil sie nicht allein auf das Werk, sondern auch auf die Person, nicht aber allein auf die Person, sondern auch auf das Werk sieht. Diese Problematik ist heute so virulent wie seit jeher. Denn es ist immer wieder wahrzunehmen, wie in der christlichen Kirche Akzente nach beiden Seiten hin verschoben werden und dann Einseitigkeiten die Folge sind. So gibt es viele Darstellungen Jesu, die unter isolierter Betrachtung vor allem der Synoptiker eine Art Biographie von Jesus zu schreiben versuchen, meistens allein mit der Perspektive auf den Menschen Jesus, seltener hingegen den Gott-Menschen Jesus.21 Vielfach wird außer Acht gelassen, dass es den Evangelien gar nicht darum geht, eine Geschichte der Person Jesu zu —————

16 Vgl. M. FREUDENBERG, Das dreifache Amt Christi – eine „längst ausgepfiffene Satzung der Schultheologen“ (H.Ph.K. Henke)? Zum munus triplex in der reformierten Theologie und seiner Bedeutung für das ökumenische Gespräch, in: J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY / H.J. SELDERHUIS (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 8, Wuppertal 2004, (71–96) 72–76. 17 Vgl. K. Bornkamm, Christus – König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte, BHTh 106, Tübingen 1998. 18 P. OPITZ, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1994, 122. 19 K. BLASER, Calvins Lehre von den drei Ämtern Christi, ThSt(B) 105, Zürich 1970, 5. 20 Ebd., 4. 21 Vgl. R. HEILIGENTHAL, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, Darmstadt ³2005.

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schreiben, sondern aus der Perspektive des Kreuzes und der Auferstehung nach dem zu fragen, der dieses erlitten hat und der von Gott bestätigt wurde. Die Synoptiker sind nicht allein an der Person interessiert. Auf der anderen Seite findet man Theologien, die ganz von der Person Jesu absehen und ganz auf das Werk schauen. Diese Tendenz zeichnet sich in der Theologie Rudolf Bultmanns und seiner Schüler ab. Bultmann folgert ausgehend von 2Kor 5,16, wo es heißt: „Darum kennen wir von nun an mehr ‚kata sarka‘; und auch wenn wir Christus gekannt haben ‚kata sarka‘, so kennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr“, dass Christus als Person, und das heißt für Bultmann, vor allem der historische Jesus, aber nicht nur er, irrelevant ist. Die Frage nach der Person Christi sei gar nicht mehr nötig. Sie führe vielmehr in die Irre.22 Abgesehen davon, dass die Exegese Bultmanns zu diesem Vers nicht zu überzeugen vermag, weil „kata sarka“ auf das Erkennen und nicht direkt auf Christus abzielt und Paulus deshalb sagen will, dass er Christus nicht mehr auf fleischliche Weise, also gerade nicht abgesehen von der Versöhnungsdimension kenne, muss man die Bultmannsche Konzentration auf das Werk Christi grundlegend in Frage stellen. Es bleibt festzuhalten: Person und Werk Jesu Christi fallen in der Interpretation in der christlichen Theologie immer wieder auseinander. Calvin hat in seiner Theologie hingegen den Anspruch erhoben, mit der Lehre vom dreifachen Amt Christi beide Dimensionen zusammen zu halten. Ohne dies hier hinreichend intensiv würdigen zu können, fällt auf, dass Calvin diese Vorstellung gerade aufgrund seines Ernstnehmens des Alten Testaments entwickelt hat. Calvin betrachtet das Alte Testament nicht in der Perspektive des verurteilenden Gesetzes, sondern versteht es als Bezeugung des Bundes Gottes; das Alte Testament ist vom Neuen Testament nur darin zu unterscheiden, dass das, was im Neuen Testament klar ausgesagt ist, im Alten Testament in Schattenbildern vorhanden ist.23 So kann Christus nach Calvin nicht ohne das Alte Testament verstanden werden. Bevor nähere Einzelheiten bei Calvin in den Blick geraten, ist nach der grundsätzlichen Berechtigung dieser theologischen Theorie zu fragen. Man wird nicht sagen können, dass Jesus nach dem Zeugnis des Neuen Testaments selbst diese drei Titel – König, Prophet, Priester – gebraucht hat; auch kommt diese Begrifflichkeit so im Neuen Testament nicht vor. Insofern repräsentiert sie keine in der Bibel entwickelte Vorstellung, sondern eine deutende Theorie. Zwar gibt es gewisse Hinweise auf sie: So wird Jesus gemäß der Kreuzestafel INRI als der König der Juden verstanden und der Hebräerbrief (vgl. 2,17; 4,14; 6,20; 7,26; 9,11; 10,21) nennt Jesus ————— 22

Vgl. R. BULTMANN, Zur Frage der Christologie, in: DERS., Glauben und Verstehen I, Tübingen 91993, 85–113. 23 Vgl. Inst. (1559), II,10 und 11.

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Christus den wahren Hohepriester. Doch bleibt festzuhalten, dass die DreiÄmter-Lehre keine direkt dem Neuen Testament entnommene Lehre darstellt. Es wäre grundsätzlich durchaus zu fragen, ob denn die Einschränkung auf gerade diese drei Ämter hilfreich ist, oder man nicht andere Aspekte aufgreifen will.24 Hier soll es jedoch um die Ausprägung dieser Lehre bei Calvin und deren Rezeption bei Barth gehen. 1.2 Zu den drei Ämtern Jesu Christi bei Calvin Calvin beginnt im Genfer Katechismus, anders als in der Institutio von 1559, mit dem königlichen Amt. In der Institutio lautet die Reihenfolge: Prophet, König, Priester – im Katechismus hingegen: König, Priester, Prophet. Das Thema des königlichen Amtes Christi ist die Herrschaft Christi: Jesus Christus regiert. Diese Herrschaft wird als geistliches Königtum verstanden und darf also nicht mit irgendwelchen irdischen, womöglich gar theokratischen Anstrengungen verwechselt werden; darauf legt Calvin Wert. Nein, es geht um die Herrschaft des zur Rechten Gottes sitzenden Christus. Er regiert die Welt – nicht nur die Christenmenschen, nicht nur die Kirche, sondern die Welt. Es regiert kein anderer Gott als der in Christus offenbare Gott, weil und insofern Christus selbst herrscht. Und dieses Vertrauen gibt uns Kraft, ja, noch mehr: Der König hilft den Seinen, steht ihnen bei in Widerwärtigkeiten, hilft ihnen im Kampf gegen die Anfeindungen in dieser Welt. In der Institutio formuliert Calvin: So sollen wir denn in unserem Leben unter Elend und Mangel, unter Kälte und Verachtung, unter Schmach und aller anderen Not fröhlich durchhalten und mit dem einen zufrieden sein, dass uns unser König nie verlassen wird, daß er uns nie seine Hilfe in unserer Not versagt, bis wir unseren Kampf durchkämpft haben und zum Triumph gerufen werden; denn das ist die Art seiner Herrschaft, dass er uns alles das wiederschenkt, was er selbst vom Vater empfangen hat.25

In der Institutio wird mehr noch als im Genfer Katechismus die eschatologische Dimension des königlichen Amtes betont: Christus herrscht jetzt und wird auch herrschen in Ewigkeit. Mit dem priesterlichen Amt Christi nimmt Calvin das Zentralanliegen der Reformation auf: Die Erlösung des Menschen. Hier verwendet Calvin die Vorstellung von Christus als Mittler, weshalb Calvins Christologie auch als Mittlerchristologie bezeichnet werden kann. Christus ist wahrer Gott ————— 24

So schlägt etwa BLASER, Lehre, 50f., vor, die in ihr liegende missionarische Tendenz besonders zu betonen, um die bleibend gültige Intention im 20. Jahrhundert beibehalten zu können. 25 Inst. (1559), II,15,4.

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und wahrer Mensch, beides, und eben darin ist er Mittler zwischen Gott und Mensch. Christus versöhnt den Menschen mit Gott. Die Funktion des Priesters im Alten Testament, des Hohepriesters zumal, ist nicht die Aufgabe der Sündenvergebung – das allein ist Gottes Sache –, sondern sie besteht in der stellvertretenden Fürbitte. Einmal im Jahr wird ein Opfer gebracht, nicht etwa um Gott zu besänftigen, sondern als Zeichen der Fürbitte für das schuldig gewordene Volk. Nach Calvin steht Christus in dieser Tradition, wenn auch nicht einmal im Jahr wie der Hohepriester im Alten Testament, so doch grundsätzlich. Es geht auch bei Calvin um die Veränderung des Menschen und nicht etwa eine Besänftigung Gottes, bei der der Mensch nicht verändert wird. Der Mensch ist aufgrund des fürbittenden Eintretens ein anderer geworden, weil Christus ihn selbst in sich einschließt und vertritt. Ohne dass der Begriff Stellvertretung an dieser Stelle fällt, wird er der Sache nach gebraucht: In Christus sind auch die, für die er eintritt, heilig. Diese Versöhnung ist als ewige Versöhnung zu verstehen, nicht als zeitlich begrenzte. Es geht um Gottes Wohlgefallen und um des Menschen neue Würde. Diese wird erreicht, weil er „in Christus“ ist. Das Amt des Propheten steht für die Aufgabe, Gottes Willen kund zu tun. Vom Propheten und also von Christus erfahren wir, was Gott uns sagen will und eben auch, wer Gott ist. Christus ist Gottes Stimme auf Erden. Nun unterscheidet sich Christus von den Propheten des Alten Testaments darin, dass er vollkommen und unvermischt Stimme Gottes ist. Oder anders formuliert: Gottes Wort. Das hat eine doppelte Bezugrichtung und zwar einmal im Hinblick auf das, was Jesus selber gelehrt hat: Seine Lehre ist wahrhaftige Lehre. Die Sätze, die er gesagt hat, sind zuverlässig und wahr, an sie sich zu halten, ist richtig. Aber nicht nur die von ihm gesagten Worte, auch er selber als Wort Gottes ist die wahrhaftige Gottesoffenbarung: So wie er ist, so ist auch Gott. Das prophetische Amt bezieht sich also auf die Gotteserkenntnis. Damit wird gleichzeitig eine kritische Aussage hinsichtlich der Gotteserkenntnis aus anderen Quellen getroffen: Gotteserkenntnis gibt es letztlich nur in ihm. Denn außer ihm [sc. Christus] ist nichts zu wissen nütze, und wer sein Wesen im Glauben ergriffen hat, der hat alle Güter des Himmels in ihrer ganzen Fülle umfasst! […] Die prophetische Würde, wie sie Christus innehat, soll uns also auch zu der Einsicht führen, dass in der Lehre, wie er sie uns gegeben hat, alle Weisheit in vollkommener Fülle beschlossen ist.26

Die Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi bindet vieles zusammen: Altes und Neues Testament, Jesus Christus als Mensch und als Gott und auch das Kreuz und die Auferstehung. Calvin beansprucht damit, diejenigen Aussa————— 26

Inst. (1559), II,15,2.

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gen des christlichen Glaubens, die oft in Spannung oder sogar im Widerspruch zueinander zu stehen scheinen, zusammen zu halten. Sie lauten etwa: Wie kann Jesus Christus Mensch und Gott zugleich sein? Wie kann die Niederlage am Kreuz und der Sieg über den Tod, der in der Auferweckung deutlich wird, so gesehen werden, dass sie zueinander gehören und beide zugleich wichtig sind. Wie können wir uns „in Jesus Christus“ sehen und verstehen, der doch Mensch ist und dies doch zugleich so ganz anders ist als wir? Calvins Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi hat jedenfalls für manche diese Hilfen geben können; sie wurde nämlich in der Folgezeit vielfach rezipiert. Zunächst geschah dies in der altprotestantischen Theologie massiv,27 dann aber geriet sie weitgehend in Vergessenheit. Später dann hielt sie via Kardinal John Henry Newman, der sie wahrscheinlich während seiner evangelikalen anglikanischen Phase kennen gelernt hatte, über Umwege Einzug ins II. Vatikanische Konzil. Vor allem aber ist Calvins Konzeption übernommen und umgebaut worden von Karl Barth und zwar in der Versöhnungslehre der „Kirchlichen Dogmatik“.

2. Karl Barths dreifache Gestalt des Wortes Gottes oder: Gottes Geschichte mit dem Menschen als des Menschen Geschichte mit Gott Der Inhalt der Lehre von der Versöhnung ist die Erkenntnis Jesu Christi, der (1) der wahre, nämlich der sich selbst erniedrigende Gott, aber (2) auch der wahre, nämlich der von Gott erhöhte und so versöhnte Mensch, und der in der Einheit beider (3) der Bürge, und Zeuge unserer Versöhnung ist. In dieser dreifachen Erkenntnis Jesu Christi ist beschlossen die Erkenntnis von des Menschen Sünde: (1) seines Hochmuts, (2) seiner Trägheit, (3) seiner Lüge – die Erkenntnis des Geschehens, in welchem sich seine Versöhnung vollzieht: (1) seiner Rechtfertigung, (2) seiner Heiligung, (3) seiner Berufung – die Erkenntnis des Werks des Heiligen Geistes: in der (1) Sammlung, (2) Auferbauung, (3) Sendung der Gemeinde und des Seins des Christen in Jesus Christus (1) im Glauben, (2) in der Liebe, (3) in der Hoffnung. 28

Die grundlegende Neuerung besteht darin, dass Karl Barth, wie an der Architektur der Versöhnungslehre unschwer zu erkennen ist,29 die drei Ämter von Calvin übernimmt und in eine neue Dynamik hinein bringt. ————— 27

Vgl. dazu FREUDENBERG, Amt, 81–84. KD IV/1, 83. 29 Vgl. dazu die übersichtliche Grafik von E. JÜNGEL, Einführung in Leben und Werk Karl Barths, in: DERS., Barth-Studien, ÖTh 9, Zürich u.a. 1982, (22–60) 55. 28

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Denn das, was bei Calvin zur Charakteristik und Zusammenschau von Person und Werk Jesu Christi diente, nimmt Barth noch umfassender in den Blick. Das Sein Jesu Christi ist Barth zufolge die Geschichte Jesu Christi. Barth verschränkt damit eine doppelte Perspektive. Auf der einen Seite nimmt er das klassische Bekenntnis von Chalcedon auf: Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch – unvermischt und ungetrennt. Hatte Calvin bereits die Rede vom „Sein“ Jesu Christi in seiner Lehre von den drei Ämtern Christi zugunsten eines Ineinander-verschränkt-Seins von Person und Werk verändert und damit bereits den im Chalcedonense vorhandenen Natur-Begriff relativiert, so geht Barth auf der anderen Seite noch einen erheblichen Schritt weiter: Er setzt an die Stelle des Naturbegriffs konsequent den des Weges Gottes und damit des geschichtlichen (nicht historischen) Handelns Gottes in Jesus Christus. Damit wird die Überhöhung eines sogar Gott selbst übergeordneten Gattungsbegriffs („Gottheit“) überwunden.30 Die drei Bände der Barthschen Versöhnungslehre zeigen drei Grundbewegungen: 2.1 Der Herr als Knecht – Barths Interpretation des priesterlichen Amtes Jesu Christi Der erste Weg Jesu Christi ist die Grundbewegung von KD IV/1: Der Herr als Knecht. Gott wird Mensch – in Jesus Christus. Jesus Christus ist wahrer Gott: Die Versöhnung des Menschen mit Gott geschieht darin, dass Gott selbst handelnd auf den menschlichen Plan tritt, seine Sache mit dem Menschen, gegen und für ihn, die Sache des Bundes also, selbst in die Hand nimmt – und das so (das unterscheidet das Geschehen der Versöhnung von dem allgemeinen Walten der göttlichen Vorsehung und Weltregierung), dass er selbst Mensch wird. Gott ward Mensch: das ist es, was in Jesus Christus ist, nämlich geschehen ist. Er ist der für uns Menschen handelnde, selbst Mensch gewordene, wahre Gott: sein authentischer Offenbarer, indem er selbst Gott ist – sein wirksamer Machtbeweis, indem er selbst Gott ist – der Erfüller des Bundes noch einmal, indem er selbst Gott ist: nichts weniger, nichts Anderes als Gott, aber eben Gott, indem er Mensch ist.31

Barth betont also zunächst, dass es die Geschichte Gottes ist, die in Jesus Christus geschieht. Jesus Christus ist wahrer Gott. Nun wird man Barth in seiner Dogmatik nur dann gerecht, wenn man dieses Christusprädikat „wahrer Gott“ auch ganz wörtlich versteht. Warum reicht es nicht aus zu sagen, ————— 30

Vgl. dazu etwa T. HAGA, Theodizee und Geschichtstheologie. Ein Versuch der Überwindung der Problematik des deutschen Idealismus bei Karl Barth, FSÖTh 59, Göttingen 1991. 31 KD IV/1, 140f.

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dass Jesus Christus als Gott zu verstehen ist? Warum muss es „wahrer Gott“ heißen? Weil wir, so Barth, von Gott definitiv erst von Jesus Christus her wissen. Jesus Christus ist der authentische Offenbarer Gottes – und das ist ja dann auch konsequent, wenn Barth mit seiner Wahrnehmung ernst macht, dass wir es in Jesus Christus wirklich mit Gott zu tun haben und zwar mit Gott in unserem kreatürlichen Bereich. Dem von Immanuel Kant aufgeworfenen Vorbehalt, dass der Mensch letztlich keine Aussagen über Gott treffen könne, weil das seine Kapazitäten und Vernunftmöglichkeiten überschreite,32 begegnet Barth mit dem Hinweis: Weil Gott selber in die Welt gekommen ist, darum ist er auch dort erkennbar und wahrnehmbar. Weil Gott sich in die Welt hineinbegeben hat, weil nicht nur ein Teil Gottes Mensch geworden ist, sondern Gott selber, darum muss die Bestimmung konsequenterweise dann auch heißen, dass Gott eben so ist, wie er sich in Jesus Christus zu erkennen gibt. Alternativmodelle gibt es mehr als genug in der theologischen Landschaft. Ihnen eignet ein ganz bestimmter Zug, nämlich dass sie von einer Offenbarung außerhalb Jesu Christi ausgehen, etwa im Sinne einer „Uroffenbarung“ wie bei Paul Althaus,33 oder in der Rede von einem deus absconditus wie bei Luther.34 Aber sowohl Althaus’ als auch Luthers Vorstellungen implizieren dahingehend eine christologische Problematik, als dass sie das Gottsein Gottes und das Gottsein Jesu Christi differieren, anders gesagt: Gottes Wesenseigenschaften sind anders als die Jesu Christi und das wiederum ist für Barth eine Infragestellung der Christusprädikation vere deus. Und deshalb fordert Barth an dieser Stelle auf, den Weg Gottes und damit Gott vom Weg Jesu Christi her zu verstehen. Und worin besteht nun für Barth der Weg Gottes in die Tiefe? Darin, dass Gott selber die Stelle des Menschen und damit des Sünders einnimmt. Gott, der des Menschen Richter ist, solidarisiert sich so mit dem Menschen, dass er sich anstelle des Menschen richten lässt. Gott ist der gerichtete Richter. Darin bewährt Gott sein Gottsein. Gott nimmt stellvertretend für alle Menschen in Jesus Christus das Gericht auf sich. Er leidet an unserer Stelle, wird gekreuzigt und stirbt. Das ist nicht die Entäußerung Gottes, sondern immer noch die Bewährung Gottes. Gott ist und bleibt Gott, indem er zugleich Mensch wird. Gott ist und bleibt Gott, indem er zugleich stirbt. Gott ist und bleibt in Christus Gott, indem er die Sünde auf sich nimmt, so dass sie nicht mehr unsere Sünde ist; oder genauer gesagt: unsere Sünde zur von ihm vergebenen Sünde wird. Gott ist und bleibt Gott gerade im Akt der Erniedrigung, ja vielmehr: Dieser Akt der Erniedrigung ist Kennzeichen ————— 32 33 34

Vgl. etwa I. KANT, Kritik der reinen Vernunft, B 717ff. Vgl. P. ALTHAUS, Die Christliche Wahrheit. Lehrbuch der Dogmatik, Gütersloh 81969, 21–94. Vgl. WA 18, 665, 3ff. (De servo arbitrio, 1525).

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und Wesensmerkmal Gottes. Gott ist darin Gott, dass er diesen Weg geht. Gott zeigt sein Gottsein gerade darin, dass er das Kreuz auf sich nimmt. Der Herr als Knecht – das ist keine Maske, kein beiläufiges Tun Gottes, sondern geradezu Gotteslehre in konkretester Form: Gott wird Mensch bis hin ans Kreuz. Dieser von Barth geschilderte Weg entspricht Calvins priesterlichem Amt.35 2.2 Der Knecht als Herr – Barths Interpretation des königlichen Amtes Jesu Christi Wir kommen jetzt zum zweiten Aspekt, einem für viele Ohren zunächst eindeutig und leicht nachvollziehbar klingenden Sachverhalt: Jesus Christus ist wahrer Mensch. Anders als die Alte Kirche, die zuweilen Mühe damit hatte, Jesus das Mensch-Sein zuzusprechen, haben viele auch in der Kirche heute mit der Behauptung, dass Jesus Mensch war, kein Problem – im Unterschiede zu vielen, die sich Jesus Christus als wahren Gott vorstellen. Dass Jesus ein besonderer Mensch, ein Prophet, ein Heiliger, ein Gotteskundiger war – das sind freilich alles Vorstellungen, die an das eigentliche Skandalon des christlichen Glaubens noch gar nicht heranreichen. Barth warnt davor, sich der Vorstellung von Jesus Christus als vere homo allzu leichtfertig hinzugeben: Die Versöhnung des Menschen mit Gott geschieht in der Person eines Menschen, in welchem, weil und indem er auch wahrer Gott ist, die Umkehrung aller Menschen zu Gott hin auch Ereignis wird. […] Jesus Christus ist anders Mensch als wir anderen, und darin, dass er anders ist, ist er unser Versöhner mit Gott. […] Dieser ist […] der wahre Mensch. Das heißt nun aber sofort: er ist der von Gott erhöhte, nämlich in und aus seiner Not über seine Not, in und aus seiner Bindung und über sie, in und aus seinem Elend über diese erhobene, er ist der (kraft dessen, dass Gott mit ihm Einer ist) freie Mensch: ganz ein Geschöpf, aber seiner eigenen Geschöpflichkeit ganz überlegen, ganz auch der Sünde verhaftet, aber ihr gegenüber ganz unschuldig, weil gar nicht schuldig, sie selber zu tun […]. Indem Jesus Christus der wahre, d.h. der sich selbst erniedrigende Gott ist, ist er dieser wahre, d.h. dieser in seiner ganzen Menschlichkeit über diese erhöhte Mensch. Und eben damit ist er nun […] uns vorangestellt.36

————— 35

Vgl. E. BUSCH, Der theologische Ort der Christologie. Karl Barths Versöhnungslehre im Rahmen des Bundes, ZDTh 18, 2002, 121–137; B.L. MCCORMACK, Barths grundsätzlicher Chalkedonismus?, ZDTh 18, 2002, 138–173; E. MAURER, „Für uns“: An unserer Stelle hingerichtet. Die Herausforderung der Versöhnungslehre, ZDTh 18, 2002, 190–210. 36 KD IV/1, 143f.

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Barth versteht die Aussage, dass Jesus Christus wahrer Mensch ist, nicht banal – und damit deutlich anders als der übliche Sprachgebrauch nahe legt. Was aber heißt denn „wahrer Mensch“ nach Barth? Es heißt zweierlei: Das eine ist – und hier steht Barth in Kontinuität zur Alten Kirche –, dass Christus als Mensch eben im menschlichen Elend war, in der menschlichen Niedrigkeit. Man wird Christus nicht herausnehmen können und dürfen, wenn er denn wahrer Mensch ist. Er war nicht nur scheinbar Mensch, sondern wirklich, er hat gegessen und getrunken, gefroren und geschwitzt, geweint und gelacht. Er war Mensch, indem er Gott ist. Er war Gott, indem er Mensch ist. Das aber ist doch nur die eine Seite bei Barth. Wenn wir nämlich sagen würden: Er war einer von uns, dann kann diese Aussage falsch verstanden werden. Denn das neutestamentliche Zeugnis von Jesus Christus bekundet nach Barth, dass er uns gleich war, doch ohne Sünde (Hebr 4,15). Und das heißt eben auch, dass das wahre Menschsein nicht im sündigen Menschen vorhanden ist, sondern nur im gerechten Menschen. Jesus Christus ist zwar ganz der Sünde verhaftet, weil er versucht wurde und weil unsere Sünde auf ihm liegt, aber er ist der Macht der Sünde nicht unterworfen, so wie wir es sind. Er ist der freie Mensch, formuliert Barth: frei, Gott zu gehorchen, frei von aller Schuld. Wir sind das nicht. Wir sind keine wahren Menschen, sondern defizitäre Menschen, weil wir nicht frei sind, keinen freien Willen haben, sondern der Sünde untertan und unserer Geschöpflichkeit ganz und gar verhaftet sind. Jesus Christus ist als wahrer Mensch so wie wir und zugleich doch anders als wir. Und was hat das dann mit uns zu tun? Indem Gott selbst an unsere Stelle tritt, die Sünde auf sich nimmt und den, der dem Tode preisgegeben zu werden droht, dem Tod entreißt, so sind wir in ihm auch dem Tode entrissen. Er ist der erhöhte, der schon auferweckte Mensch – und so ist die Menschheit, die gesamte Menschheit in ihm auch bereits erhöhte Menschheit, dem Tode schon entrissen. In ihm ist die Menschheit bereits zu Gott umgekehrt, weil er stellvertretend für die ganze Menschheit gestorben und auferstanden ist. Damit hat die Aussage des „vere homo“ auch schon eschatologische Dimensionalität. Denn wir sind zwar schon versöhnt, aber wir sehen diese Versöhnung noch mit den Augen dieser Welt. Wir werden aber offenbar werden als die, die wir schon sind. Dass wir schon Menschen sind, die vor Gott recht sind, dass wir eigentlich keine Sünder mehr sind, sondern schon versöhnte und erhöhte Menschen, das macht die Stellvertretung Gottes und des Menschen in Jesus Christus deutlich. Diese Sicht auf den Menschen beinhaltet nicht allein soteriologische Dimensionen, sondern hat auch ethische Implikationen. Denn die immer wieder reflektierte Frage „Was ist der Mensch?“

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verändert sich in „Wer ist der Mensch?“ – und fragt so auch nach dem in Wort und Tat Gott antwortenden Menschen. 37 2.3 Jesus Christus der wahrhaftige Zeuge – Barths Interpretation des prophetischen Amtes Hatte die Darstellung Jesu Christi als „vere deus“ die Dimension des Herrn als Knecht und damit die Akzentuierung von KD IV/1 deutlich gemacht und die Darstellung Jesu Christi als „vere homo“ die Erhöhung des Menschensohnes und damit die Akzentuierung von KD IV/2 veranschaulicht, so ergibt sich die Frage, wieso noch ein weiterer Band in der KD folgt, der noch einen dritten christologischen Aspekt zur Sprache bringt. Aber dieser dritte Aspekt ist nicht ein dritter neben den beiden anderen, sondern bezeichnet den Zusammenhang der beiden anderen. Jesus Christus selbst, der als der sich selbst erniedrigende und so den Menschen mit sich selbst versöhnende Gott und als der von Gott erhöhte und so mit ihm versöhnte Mensch […] ist – der „Gottmensch“, d.h. der Sohn Gottes, der als solcher dieser Mensch, dieser Mensch, der als solcher der Sohn Gottes ist. […] Insofern ist er selbst, seine Existenz, diese Versöhnung, ist er der Mittler und Bürge des Bundes. […] Er, der diesen Namen trägt, ist selbst diese Wahrheit, weil und indem Er selbst diese Wirklichkeit ist. Er bezeugt, was er selbst ist. Sein Zeugnis ist Bürgschaft der Versöhnung, weil er selbst ihr Mittler ist. Er allein ist ihr Bürge, weil er allein ihr Mittler ist. Er allein ist ihre Wahrheit. Aber er ist sie, und so spricht sie in Ihm wirklich für sich selber.38

Dieser dritte Weg entspricht dem prophetischen Amt Jesu Christi und reflektiert die Frage: Wie ist das, was im Kommen Jesu Christi geschah, als für uns geschehen zu erkennen? Wer vermittelt uns das dort Geschehene? Und Barths Antwort, das ist jetzt schon zu erwarten, lautet: Er allein. Die Vermittlung des dort ein für allemal Geschehenen kann den Menschen nirgendwo anders vermittelt werden als durch Jesus Christus selber. Und das heißt einerseits, dass die Vermittlung nicht etwas Beiläufiges ist, sondern wirklich ein göttliches Amt: Es ist Gottes selbstgewählter Auftrag, das wunderliche Geschehen der Stellvertretung auch zu vermitteln, so dass Menschen es glauben können und es kennen lernen. Es wird ein Zutrauen in die Durchsetzung der Wahrheit – nicht aus logischen, sondern aus christo————— 37

Vgl. E. JÜNGEL, Der königliche Mensch. Eine christologische Reflexion auf die Würde des Menschen in der Theologie Karl Barths, in: DERS., Barth-Studien, ÖTh 9, Zürich u.a. 1982, 233– 245; M. HOFHEINZ, Gezeugt, nicht gemacht. In-Vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, EThD 15, Münster 2008, 434–483. 38 KD IV/1, 148–150.

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logischen Gründen erkennbar. Und dieses Mittleramt ist die Wahrheitsvermittlung. Und andererseits wird damit eine Abgrenzung vollzogen: Es gibt keinen anderen Mittler. Auch die Kirche vermittelt nicht die Wahrheit. Sie kann sie bezeugen, aber die Versöhnung vermitteln zu wollen, wäre eine Überschätzung der Kirche oder der Menschen. Die Vermittlung der Wahrheit ist ein göttliches Geschehen. Luthers Betonung im Kleinen Katechismus, dass der Mensch nicht aus eigener Vernunft noch Kraft glauben kann, sondern dass allein der Heilige Geist den Glauben schenkt, betont dieselbe Aktivität Gottes. Das entlastet alle Missionsarbeit und alle Verkündigung: Sie haben zu akzeptierende Grenzen, weil sie nicht wirklich die Wahrheit vermitteln, sondern nur auf sie hinweisen, sie bezeugen können.39 Schließlich kommt noch ein Aspekt hinzu: Der Mittler ist auch der Bürge und zwar der einzige Bürge. Wo also, so kann man fragen, gibt es Hinweise auf die tatsächliche Gültigkeit der Versöhnung, wo äußerlich sichtbare Zeichen, Andeutungen oder Erfahrungen, an die wir uns halten können? Barth antwortet: Bürge ist Jesus Christus allein. Äußere Beglaubigungen gibt es für die geschehene Versöhnung nicht. Wir haben nichts in der Hand – außer eben diesem einen Bürgen, der uns sagt, dass Gott treu ist. Eine letzte Evidenz des christlichen Glaubens etwa durch den kirchlichen Einfluss oder durch Gebetserhörung oder sonst etwas gibt es nicht, abgesehen von der Bürgschaft Jesu Christi. Von außen ist die Wahrheit nicht begründbar, mit keinem System und mit keiner Erfahrung. So lautet die Barthsche Negation. Zugleich enthält sie eine distinkte Position: Jesus Christus ist wirklich und wahrhaftig der Bürge. Er steht dafür ein, dass die Versöhnung geschehen ist, auch uns zugute. 2.4 Weitere Eigentümlichkeiten der Barthschen Versöhnungslehre Auf wenige weitere Charakteristika der Barthschen Versöhnungslehre ist jetzt noch kurz hinzuweisen. Die Sünde kann Barth jeweils nur als menschliche Gegenbewegung zu Gottes Handeln verstehen; eine isolierte Sündenerkenntnis ist deshalb ausgeschlossen. Material besteht die Sünde deshalb bei Barth als Hochmut im Gegensatz zu Gottes Weg in die Tiefe, als Trägheit im Gegensatz zu Gottes Weg in die Höhe und als Lüge im Gegensatz zu der in Jesus Christus vorhandenen Wahrheit. Dem Weg Gottes in Christus entspricht dann die Gegenbewegung Gottes als Reaktion wiederum auf —————

39 Wohl deshalb ist für Barth die Darstellung des übergroßen, auf Christus weisenden Zeigefingers des Täufers auf dem Isenheimer Altar auch für Barths Verständnis seiner eigenen Theologie, ja der Theologie generell so wichtig geworden. Vgl. R. MARQUARD, Karl Barth und der Isenheimer Altar, AzTh 80, Stuttgart 1995.

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die Gegenbewegung des Menschen: Der Hochmütige wird gerechtfertigt, der Träge wird geheiligt und der Lügende wird berufen, Zeuge des Zeugen zu sein. Der Heilige Geist sammelt die Gemeinde und schenkt Glauben (IV/1), er erbaut die Gemeinde und begabt mit Liebe (KD IV/2) und er sendet die Gemeinde und schenkt Hoffnung (IV/3). Auch die Ethik wird bei Barth in Relation zu Gottes Weg verstanden: Die Taufe ist die Begründung, das Gebet der Vollzug und das Abendmahl die Erneuerung des christlichen Lebens.40 Zusammenfassende Thesen: 1. Calvin gelingt es, Person und Werk Jesu Christi mit der Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi zusammen zu binden. Er verhindert damit einseitige Akzentuierungen. 2. Da die Lehre vom dreifachen Amt auf alttestamentlichen Strukturen beruht, bindet sie auch Altes und Neues Testament zusammen: Jesus Christus kann nicht ohne das Alte Testament verstanden werden. Es gilt aber auch: Das Alte Testament ist nur dann richtig zu verstehen, wenn es vom Kommen Gottes in Jesus Christus her gelesen wird. 3. Der Naturbegriff wird als (Gott und den Menschen) übergeordneter Gattungsbegriff ansatzweise schon bei Calvin, stärker aber noch bei Barth überwunden, weil und indem er den Weg Jesu Christi als Geschichte Gottes begreift. 4. Die Dimension des „für uns“ wird bei Calvin in der Drei-Ämter-Lehre deutlich erkennbar und speziell im priesterlichen Amt als Geschehen der Stellvertretung evident. Bei Barth tritt die Dimension der Stellvertretung noch grundlegender in Erscheinung: Im Kreuzesgeschehen ist Jesus Christus als Erniedrigter gerechtfertigt worden – und wir in ihm; in der Auferweckung ist Jesus Christus als Erhöhter geheiligt worden – und wir in ihm; als wahrer Zeuge ist er stellvertretend ein echter Zeuge – und wir in ihm. 5. Das Mittleramt Jesu Christi, das bereits bei Calvin schon stark hervortritt, ist bei Barth noch einmal in seiner ontischen Dimension verstärkt betont worden: Wir erkennen nicht nur uns selbst in ihm, wir sind in ihm – als Kirche und als einzelne – gerechtfertigt, geheiligt und berufen. ————— 40

Das ist von Barth nicht mehr in Gänze ausgeführt worden. Die Tauflehre findet sich in Kirchliche Dogmatik IV/4; einzelne Paragraphen der Auslegung des Unservaters sind erschienen in: K. BARTH, Das christliche Leben. Die Kirchliche Dogmatik IV/4, Fragmente aus dem Nachlass, Vorlesungen 1959–1961, hg. von H.-A. DREWES und E. JÜNGEL, Karl Barth Gesamtausgabe II. Akademische Werke, Zürich 1976.

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De munere prophetico – Variationen reformierter Auslegung des prophetischen Amtes Zur theologiegeschichtlichen Entwicklung eines dogmatischen Topos vor der Aufklärung (von Zwingli bis Lampe) 1. Einleitung Die Rede vom prophetischen Amt der Kirche ist umstritten. Die einen beklagen ein Verschwinden von Prophetie und prophetischer Predigt in der Kirche und konstatieren im Blick auf verstorbene prophetische Gestalten wie etwa Leonhard Ragaz, Karl Barth oder Martin Niemöller mit der syrischen Baruchapokalypse (85,3) wehmütig:1 „Jetzt aber sind die Gerechten [zu ihren Vätern] versammelt, und die Propheten haben sich schlafen gelegt“2. Andere schätzen dieses Verstummen eher. Im Sinne einer großen Versuchung für Theologie und Kirche interpretiert etwa der Bonner Sozialethiker Martin Honecker die Rede vom prophetischen Mandat als Kennzeichen evangelischer Ethik.3 Wenn ein Mandat ethischer Weisung für die Kirche beansprucht werde und man dieses Mandat mit dem dreifachen Amt Christi, der Königsherrschaft Christi oder dem prophetischen Amt begründe, so spiele man mit dem Feuer: „Das prophetische Amt der Kirche wird leicht zum Einfallstor ideologischer Ansprüche.“4 Ja, wer das Christusbekenntnis mit Hilfe einer prophetischen Zeitdeutung in Gestalt einzelner ethischer und politischer Forderungen und Postulate konkretisieren wolle, der erläge der Versuchung. ————— 1

H.-J. KRAUS (Prophetie heute! Die Aktualität biblischer Prophetie in der Verkündigung der Kirche, Neukirchen-Vluyn 1986, 7) etwa bezeichnet den weithin zu verzeichnenden Ausfall des Prophetischen als einen „gefährlichen Notstand“ der Kirche. Vgl. auch E. KÄSEMANN, Prophetische Aufgabe und Volkskirche, in: DERS., In der Nachfolge des gekreuzigten Nazareners, hg. von R. LANDAU in Zusammenarbeit mit W. KRAUS, Tübingen 2005, 287–301; R.R. RUETHER, Religion and Society. Sacred Canopy vs. Prophetic Critique, in: M.H. ELLIS / O. MADURO (Hg.), The Future of Liberation Theology. Essays in Honor of Gustavo Gutiérrez, New York 1989, (172–176) 173. 2 F.W. GRAF (Vom Munus Propheticum Christi zum prophetischen Wächteramt der Kirche? Erwägungen zum Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie, ZEE 32, 1988, (88–106) 95) spricht in diesem Zusammenhang polemisch von den „Heiligenlegenden des ‚politischen Linksprotestantismus‘“. 3 Vgl. M. HONECKER, Autonomie und Prophetie, in: DERS., Wege evangelischer Ethik. Position und Kontexte, SThE 96, Freiburg / CH u.a. 2002, 114–131. 4 DERS., Grundriß der Sozialethik, Berlin / New York 1995, 29.

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Namentlich der „Verlust der Autonomie und Rationalität ethischer Verantwortung“5 drohe der evangelischen Theologie mit der Berufung auf ein prophetisches Mandat der Kirche. Mit dem Verweis auf dieses begründe man in problematischer Weise „das Recht zu autoritativen Weisungen und zu prophetischer Forderung“6. Ethisches Urteilen dürfe sich jedoch nicht von prophetischer Zeitdeutung abhängig machen.7 Als die für die problematische Rede vom prophetischen Amt der Kirche Hauptschuldigen nennt Honecker Karl Barth mit seiner Wiederentdeckung des prophetischen Amtes im 20. Jahrhundert8 und Dietrich Bonhoeffers Ethik. Die Wurzel dieses verfehlten Denkens sei jedoch bei Johannes Calvin und seiner Lehre vom dreifachen Amt Christi zu suchen.9 Ähnlich – auch in der Schuldzuweisung10 – lautet der Einspruch gegen die Rede vom prophetischen Auftrag der Kirche, den der Münchener Theologe Friedrich Wilhelm Graf formuliert hat: So wenig man mit Propheten über ihr Mandat verhandeln kann, so wenig läßt sich über das prophetische Wächterhandeln der Kirche ein Diskurs führen, der nicht von den eigenen autoritativen Vorgaben des Propheten beherrscht wird.11

Schärfer noch als Honecker wendet sich Graf gegen die Rede vom prophetischen Wächteramt der Kirche und deren implizite Programmatik, die einen „ethische[n] Autoritäts- und Avantgardeanspruch gegenüber der Ge-

————— 5

DERS., Autonomie, 115. Ebd., 123. 7 Vgl. ebd., 128f. Ähnlich entschieden urteilt der Wiener Sozialethiker U.H.J. KÖRTNER (Die Gemeinschaft des Heiligen Geistes. Zur Lehre vom Heiligen Geist und der Kirche, NeukirchenVluyn 1999, 88): „Prophetie ist kein Gegenstand der Ethik oder eine Forderung an unser Handeln, sondern eine göttliche Verheißung, die es heute als Gegenstand christlicher Hoffnung in Erinnerung zu rufen gilt.“ Vgl. auch ebd., 87: „Problematisch aber ist es, die theologische Erörterung der Prophetie aus dem Bereich der Pneumatologie und Ekklesiologie in die Ethik zu verlagern. Dies geschieht bei Barth“. 8 Vgl. dazu A. SILLER, Kirche für die Welt: Karl Barths Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi in ihrer Bedeutung für das Verhältnis von Kirche und Welt unter den Bedingungen der Moderne, Zürich 2009; M. WEINRICH, Das prophetische Amt Jesu Christi und der Dienst der Gemeinde in der Welt. Skizzen zu Karl Barths Theologie der Geistes-Gegenwart, in: DERS., Kirche glauben. Evangelische Annäherungen an eine ökumenische Ekklesiologie, Wuppertal 1998, 114–132. 9 So HONECKER, Grundriß, 27f.; Autonomie, 124. 10 F.W. GRAF (Munus, 96) zufolge avancierte das prophetische Wächteramt der Kirche im Umkreis der Theologie K. Barths „zum Leitbegriff einer ethischen Prärogative der Kirche gegenüber der säkularen Kultur“. Dort z.T. kursiv. Vgl. auch ebd., 98f. 11 Ebd., 98. 6

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sellschaft geltend“12 mache, welcher wiederum aus einer antiliberalistischen Denkungsart resultiere.13 Die programmatische Haltung, die sich hinter dieser Rede verberge, sei die des Wächters hoch oben auf der Zinne, der sich gegenüber „jenen Niederungen der gesellschaftlichen Realität, in denen wir armen Durchschnittsmenschen uns tummeln müssen“14, erhaben und unendlich überlegen dünke. Anders als für die reformierte Tradition, die ein veritabler „Heiligungsaktivismus“15 kennzeichne, gelte nach lutherischer Ekklesiologie: „Ein prophetisches Wächteramt der Kirche entbehrt theologischer Legitimität.“16 Graf weist allerdings, was die konfessionelle Zuweisung der „Schuld“ betrifft, darauf hin, dass auch im konservativen Neuluthertum bei Paul Althaus, Julius Kaftan und Helmut Thielicke die Vorstellung vom Wächteramt nachweisbar sei, diese mithin im 20. Jahrhundert „kein Spezifikum reformierter Theologie“17 mehr darstelle. Im Blick auf die Genese des strittigen Lehrstücks hält aber auch Graf fest: Calvin hat mit seiner Drei-Ämter-Lehre nicht nur implizit auch die Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi systematisch ausgeformt und damit zu einem „tragenden Prinzip seiner Christologie“18 gemacht, sondern dieses Prinzip auch auf die Ekklesiologie übertragen. Anhand des Leitgedankens, dass die Kirche das prophetische Amt Christi fortführe, würden Christologie und Ekklesiologie bei Calvin miteinander kurzgeschlossen. Die Überzeugung, dass jeder einzelne Christ ein Repräsentant der Amtstätigkeit Christi sei, habe sich als frömmigkeits- und politikgeschichtlich höchst folgenreich erwiesen.19 Beide, Honecker und Graf, rechnen die Lehre vom prophetischen Amt zu den theologiegeschichtlichen Kalamitäten reformierter Provenienz. Auf sie habe sich der Protestprotestantismus der 1980er Jahre bezeichnender Weise berufen. Mag auch die einst mächtige Formation eines solchen Protestprotestantismus längst zu den theologiegeschichtlichen Relikten der Vergangenheit gehören, so liegt doch angesichts des fundamentalen Einwandes von Hone————— 12

Ebd., 88. Das sich postautoritär und individualitätsoffen gerierende Pathos Grafs, das insbesondere in seinen jüngsten Publikationen für viel Wirbel sorgt, ist bereits hier deutlich vernehmbar, wenngleich es noch etwas weniger aggressiv daherkommt. Vgl. F.W. GRAF, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 2011. 14 DERS., Munus, 97. 15 Ebd., 89. 16 Ebd. Dort kursiv. 17 Ebd., 95. 18 Ebd., 89. 19 Dies gelte auch, insofern diese Überzeugung der „christologische Ursprungsort jener egalitär-demokratischen und politisch-aktivistischen Grundhaltung“ sei, „wie sie für den reformierten Protestantismus bis in die unmittelbare Gegenwart hinein kennzeichnend und für die moderne politische Kultur Westeuropas so folgenreich geworden ist.“ Ebd., 91. Dort z.T. kursiv. 13

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cker und Graf die Notwendigkeit einer vertieften Auseinandersetzung auf der Hand. Freilich kann es hier nicht darum gehen, die „Möglichkeiten einer Rückführung der Ethik auf das ‚munus triplex‘ Christi kritisch zu überprüfen“20, wie dies Honecker grundsätzlich sicherlich nicht zu Unrecht gefordert hat. Ein solch umfangreiches, aber lohnendes Unterfangen würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Ihr Anspruch ist ungleich bescheidener. Es soll hier nach der theologiegeschichtlichen Entwicklung der Lehre vom prophetischen Amt der Kirche in der reformierten Tradition gefragt und diese anhand ausgewählter Positionen rekonstruiert werden. Dabei wird die Frage nach Kontinuität und Veränderung im Blick auf die materiale Ausgestaltung und Beschreibung des prophetischen Amtes im Zentrum des Interesses stehen. Ein solches Vorgehen kann sich nämlich in methodischer Hinsicht nur exemplarisch, ja stichprobenartig vollziehen. Dabei spielt die Frage nach dem Verhältnis des munus propheticum Christi zum prophetischen Amt der Kirche natürlich eine zentrale Rolle. Es stellt sich die erkenntnisleitende Frage, ob die Entwicklung „vom altreformierten munus propheticum Christi zum modernen prophetischen Wächteramt der Kirche“ wirklich so verlief, wie dies Graf behauptet hat, der sie als „Ausdruck einer spezifisch neuzeitlichen Funktionalisierung christologischer Vorstellungen für eine unmittelbare Stärkung der Handlungskompetenz der Kirche“21 interpretiert. Die vorgelegte diachrone Untersuchung kann und will in der Verfolgung dieser Fragestellung dabei nicht die gesamte ideengeschichtliche Entwicklung bis zur Gegenwart darstellen, sondern beschränkt sich auf die Zeit von der Reformation bis zur Aufklärung bzw. der sog. „Lessingzeit“ (Karl Aner)22; also bis zu jener Zeit, als Theologen des 18. Jahrhunderts, wie der Helmstedter Rationalist Heinrich Philipp Konrad Henke oder der Lutheraner Johann August Ernesti23, mit der Lehre vom munus triplex, als einer „längst ausgepfiffene[n] Satzung der Schultheologen“24, auch die Lehre ————— 20

HONECKER, Autonomie, 124. GRAF, Munus, 99. 22 Zur weiteren Entwicklung im Rahmen der Drei-Ämter-Lehre vgl. K. BARTH, KD IV/3, 12– 40; K. BORNKAMM, Christus – König und Priester. Das Amt Christi bei Luther im Verhältnis zur Vor- und Nachgeschichte, BHTh 106, Tübingen 1998; M. FREUDENBERG, Das dreifache Amt Christi – eine „längst ausgepfiffene Satzung der Schultheologen“ (H.Ph.K. Henke)? Zum munus triplex in der reformierten Theologie und seiner Bedeutung für das ökumenische Gespräch, in: J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY / H.J. SELDERHUIS (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 8, Wuppertal 2004, 71–96; E.F.K. MÜLLER, Art. Jesu Christi dreifaches Amt, RE3 8 (1900), 733–741; L. SCHICK, Das Dreifache Amt Christi und der Kirche, EHS.T 171, Frankfurt a.M. / Bern 1982. 23 Vgl. zu Ernestis Kritik BORNKAMM, Christus, 342–350. 24 H.P.K. HENKE, Beurtheilung aller Schriften welche durch das Königlich preußische Religionsedikt und durch andre damit zusammenhängende Religionsverfügungen veranlasst wird, Kiel 1793 (Nachdruck Königstein 1978), 465. 21

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vom prophetischen Amt der Kirche verabschieden wollten. Mit der beginnenden Neologie wurden auch die einzelnen Ämter innerhalb der Trilogie der Ämter mehr oder weniger in eine Imitations-Christologie aufgelöst. Im 19. Jahrhundert wendeten sich ihr dann wieder etwa Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher25 und August Ebrard26 zu, aber auch verschiedene katholische Dogmatiker27, bevor sie schließlich im 20. Jahrhundert, etwa bei Barth, aber auch im ökumenischen Gespräch28, neue Blüten trieb.

2. Das prophetische Amt in der Zürcher Tradition Die dargestellte Kritik Grafs und Honeckers an der Rede vom prophetischen Amt der Kirche basiert auf der theologiegeschichtlichen Rückführung derselben auf Calvins Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi. Sie wird zugleich mit dem Hinweis versehen, dass Martin Luther – aus gutem Grund und anders als Calvin – nur das munus duplex des Priesters und Königs kenne.29 Graf sieht ihren Ursprung bei Calvin, von dem sie in der Orthodoxie von reformierter und lutherischer, im 19. Jahrhundert dann auch von katholischer Seite cum grano salis übernommen worden sei. Zugleich erweitert Graf diese These, indem er behauptet, dass „die Vorstellung vom ethischen Wächteramt der Kirche […] sich aus der dogmatischen Lehre vom prophetischen Amt Jesu Christi“30 entwickelte. Er bewertet dies als „Ethisierung eines ursprünglich rein dogmatischen Vorstellungsgehaltes“31, in der sich der Wandel der Rolle der Kirche im Prozess moderner gesellschaftlicher Differenzierung reflektiere. Um meine These gleich vorweg zu nehmen: Grafs Rekonstruktionsversuch behauptet eine chronologische Reihenfolge in der ideengeschichtlichen Entwicklung des strittigen Lehrstücks, die sich bei näherem Hinsehen als verkürzt erweist. Seine Rekonstruktion krankt m.E. theologiegeschichtlich vor allem daran, dass sie die von Zwingli und Bullinger geprägte Zürcher Tradition vollkommen ausblendet und den reformierten Protestantis—————

25 F.D.E. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, hg. von M. REDEKER, Berlin 71960, 108–118 (§ 103). Vgl. dazu BORNKAMM, Christus, 350–363; J. RIEGER, Christus und das Imperium. Von Paulus bis zum Postkolonialismus, übers. von S. PLONZ, Theologie. Forschung und Wissenschaft 26, Münster 2009, 150–185. 26 J.H.A. EBRARD, Christliche Dogmatik, Bd. 2, Königstein 21863, 154–161.180–187.252–255. 27 Vgl. SCHICK, Amt, 119–146. 28 Vgl. FREUDENBERG, Amt, 87–95. 29 So etwa HONECKER, Grundriß, 27; K. BORNKAMM, Die reformatorische Lehre vom Amt Christi und ihre Umformung durch Karl Barth, ZThK.Beiheft 6, 1986, 1–32. 30 GRAF, Munus, 88. 31 Ebd.

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mus gleichsam auf Calvin und seine Wirkungsgeschichte, also den sog. „Calvinismus“32, beschränkt, damit aber verkürzt. 2.1 Huldrych Zwingli: „Der Hirt“ (1523) Es ist seit längerem bekannt, dass nicht nur die Kirche der Reformation im Allgemeinen,33 sondern insbesondere die Zürcher Tradition „den Prophetismus neu entdeckt [hat], und zwar sowohl die Propheten des Alten Testaments als auch ihren eigenen prophetischen Charakter.“34 Diese Renaissance des Prophetischen findet ihren sinnbildlichen Ausdruck in der Zürcher „Prophezei“. Diese auf Huldrych Zwingli (1484–1531) zurückgehende und gemäß seinem Verständnis von 1Kor 14,29 eingerichtete,35 sowie von seinem Nachfolger Heinrich Bullinger (1504–1575) weitergeführte Institution steht für ein Programm der gemeinsamen fortlaufenden Bibelauslegung, einer „Synthese von Vorlesung, Seminar und Gespräch“36: Am 19.6.1525 begann im Chor des Großmünsters der Betrieb des neuartigen Bildungsinstituts, das aus einer morgendlichen kursorischen Auslegung des AT und einem anschließenden öffentlichen Gottesdienstes in der Volkssprache bestand. Nachmittags wurde im Fraumünster das NT ebenfalls kursorisch ausgelegt und gepredigt.37

Zwingli war nicht nur „von seinen reformatorischen Anfängen an zeitlebens in einer ganz strengen, ausschließlichen und leidenschaftlichen Weise Bibeltheologe und Prediger“38, sondern er besaß zweifellos ein prophetisches Selbstverständnis. Fritz Büsser hebt hervor: „[N]icht nur Zwingli selber, sondern auch seine Zeitgenossen – Freunde wie Feinde – [verstanden] sein —————

32 Zur Problematik dieses Begriffs vgl. E. B USCH, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 12f. 33 Vgl. G.W. LOCHER, Prophetie in der Reformation. Elemente, Argumente und Bewegung, in: T. RENDTORFF (Hg.), Charisma und Institution, VWGTh 4, Gütersloh 1985, (102–109) 107: „Die ganze Reformation selbst ist ein prophetisches Phänomen.“ 34 Ebd., 102. 35 Vgl. ZwS III, 219f. (Kommentar über die wahre und falsche Religion, 1525). 36 G.W. LOCHER, Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte, Göttingen 1979, 625. 37 E. CAMPI, Art. Prophezei, RGG4 6 (2003), 1716. U. GÄBLER (Huldrych Zwingli. Eine Einführung in sein Leben und Werk, Zürich 32004, 93) schildert das methodische Vorgehen im Großmünster zur Zeit Zwinglis wie folgt: „Üblicherweise begann nach einem Eröffnungsgebet […] der Hebräischdozent mit einer Erläuterung des Urtextes, hierauf legte Zwingli den Abschnitt aufgrund der Septuaginta lateinisch aus, worauf schließlich durch einen Prädikanten, meistens Leo Jud, eine Ansprache in deutscher Sprache folgte. Mit ihr wurde das durch die Gelehrten Dargelegte für das Volk verständlich gemacht.“ 38 B. HAMM, Zwinglis Reformation der Freiheit, Neukirchen-Vluyn 1988, 27.

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Wirken als prophetisch: Zwingli war Künder von Gottes Willen.“39 In der Tat verstand Zwingli seinen Auftrag, aber auch den des Pfarrers allgemein als genuin prophetischen Auftrag.40 In seinem Traktat „Der Hirt“, der im Jahr 1523 anlässlich der für die Schweizer Reformation entscheidenden zweiten Zürcher Disputation entstand, wo über die Bilderabschaffung und die Messreform disputiert wurde und Zwingli anschließend von zahlreichen teilnehmenden Pfarrern um eine evangelische Dienstanweisung gebeten wurde,41 entfaltet er sein pastorales Amtsverständnis bzw. Pfarrerbild. Er rekurriert in diesem Zusammenhang bezeichnender Weise immer wieder auf den Begriff des Propheten als Interpretament des Hirtenbegriffs. Pointiert gesprochen, lässt sich im Vorgriff auf die folgenden Ausführungen festhalten, dass Zwingli die pastorale Existenz als prophetische Existenz interpretiert. Zwingli bezeichnet etwa die Kanzel als die „für den Propheten bestimmte[ ] Stätte“42. Bereits zu Beginn seiner Schrift „Der Hirt“ stellt er klar, dass wir den Hirt „auch Bischof, Pfarrer, Leutpriester, Prophet, Evangelist oder Prädikant nennen“43 können. Eine weitere begriffliche Variation besteht in Zwinglis Gebrauch des Begriffs „Wächter“, den er als Beschreibung einer spezifischen Funktion des Pfarrers (und nicht etwa nur des Bischofs) verwendet und weitgehend synonym mit dem Begriff des Propheten gebraucht.44 So kann Zwingli die Wortverkündigung auch als „prophetia“45 bezeichnen und synonym vom „Amt der Prophetie oder der Verkündigung“ sprechen, das „von allen Ämtern das notwendigste“46 sei. Nach Zwingli gehört elementar und wesentlich zur Aufgabe des Pfarrers die unerschrockene Wahrnehmung eines Wächteramtes gegenüber der Obrigkeit in Gestalt der politischen Predigt: Die Großen dieser Welt sind gerne bereit, die Predigt der Wahrheit zu dulden, so lange man ihre Willkürherrschaft nicht an den Pranger stellt, und sie nichts dabei verlieren.

————— 39

F. BÜSSER, Huldrych Zwingli. Reformation als prophetischer Auftrag, Persönlichkeit und Geschichte, Bd. 74/75, Göttingen u.a. 1973, 7f. 40 So auch H. SCHOLL, Seelsorge und Politik bei Ulrich Zwingli, in: DERS., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, (11–31) 30. 41 Zum historischen Hintergrund vgl. H. SCHOLL, Pfarramt und Pfarrbild bei Ulrich Zwingli, in: DERS., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, (33–71) 37f. 42 ZwS III, 220 (Kommentar über die wahre und falsche Religion, 1525). 43 ZwS I, 255 (Der Hirt, 1523). 44 ZwS II, 330f. (Auslegung und Begründung der Thesen und Artikel, 1523). Vgl. ebd., 349.361; ZwS I, 249 (Der Hirt, 1523). 45 Vgl. E. SAXER, Huldrych Zwingli. Ausgewählte Schriften. In neuhochdeutscher Wiedergabe mit einer historisch-biographischen Einführung, GKTG 1, Neukirchen-Vluyn 1988, 157 (Fidei expositio (1531), Vorrede). 46 ZwS IV, 125 (Rechenschaft über den Glauben (Fidei Ratio), 1530).

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Der Hirt aber lernt hier ein anderes, nämlich den König, den Regenten nicht zu schonen und zu sagen: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29).47

Entsprechend schonungslos agiert Zwingli und eben so fällt auch seine Beurteilung der aktuellen Situation aus: Heute, wo Redlichkeit und Recht, Jungfräulichkeit, Treu und Glauben mutwillig ruiniert werden, wo bei einem Großteil der Fürsten all das ins Kraut schießt, wofür die „Zöllner“ bei den alten Römern verrufen waren: dieses schamlose Nehmen, Rauben, Wuchern, Schieben, Münzverschlechtern.48

Die Vorwürfe, die Zwingli gegenüber einer Majorität der Obrigkeit erhebt, sind massiv: Du siehst auch, o treuer Diener Gottes, wie die Mehrzahl der Mächtigen, die das Schwert führen, das Recht mehr aus Habsucht, Eigenmächtigkeit, Vermessenheit, Überheblichkeit und Kitzel als aus Liebe oder Furcht Gottes handhaben – wenn man es als Recht überhaupt bezeichnen kann. Denn gegen die Untertanen ist es nichts als Verängstigen, Strafen, Pressen und Plündern, Hochschrauben der Zinsen und unrechtmäßiges Betreiben, gegen die Fremden aber ein Kriegen, Rauben, Befehden, und unter sich gerade ein Saufen, Spielen, Huren, Lästern, Tanzen. Sieh, so traurig steht es um die da oben, du treuer Hirt! Darum denke ernsthaft darüber nach, wie ihm abzuhelfen sei. Denn, wie gesagt: redest du nicht, so bist du selber für das Blut der Umgekommenen verantwortlich (vgl. Ez 3,18), redest du aber, so fällst du ihnen in die Hände.49

Die mit heftiger Sozialkritik einhergehende Herrschaftskritik Zwinglis ist bemerkenswert. Hans Scholl bemerkt dazu nicht ohne Verweis auf den „überzeitlichen Charakter“50 von Zwinglis Ausführungen, also deren bleibende Gültigkeit und Aktualität: Der Seelsorger verfehlt sein Amt, wenn sein Lehren, seine Schriftauslegung, nicht diese aktuelle herrschaftskritische Dimension aufweist. Die Armut, die ja der Seelsorge besonders empfohlen ist, ist kein Naturzustand, sie ist vielmehr Produkt und Resultat bestimmter Besitz- und Herrschaftsverhältnisse. Wo der Seelsorger diesen politischen Schritt der Herrschaftskritik nicht tut, da zementiert seine fromme Seelsorge die herrschende Ungerechtigkeit, und wandelt sich sein Hirtentum in Wolfsart und Verrat am Volk.51

————— 47 48 49 50 51

ZwS I, 271 (Der Hirt, 1523). Ebd., 270. Ebd., 266f. SCHOLL, Pfarramt, 67. DERS., Seelsorge, 18.

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Dagegen wendet sich Zwingli entschieden, indem er betont, „daß der Hirt auch dem König, Fürsten oder Oberen nichts durchgehen lassen darf, sondern jedem seinen Irrtum anzeigen soll, sobald er sieht, daß jener vom Weg abkommt.“52 Die kritische, anklagende und überführende Funktion des prophetischen Amtes, welches Unrecht, Treulosigkeit und Götzendienst öffentlich beim Namen nennt, statt sie aus Furcht, Opportunismus oder sonstigen Motiven „großzügig“ zu übergehen, wird hier greifbar: „Denn wie der Prophet der Diener der himmlischen Weisheit und Güte ist, so daß er, der getreulich lehrt, auch die Irrtümer ans Licht bringt, so ist die Obrigkeit die Dienerin der Güte und Gerechtigkeit“53. Die Propheten sollen das latente wie manifeste Unrecht, wie es sich in morbiden gesellschaftlichen Verhältnissen zeigt, nicht verschweigen: Denn verschweigen sie es, so geschieht es entweder, weil sie von der Räuberei profitieren, oder aber auf dieselbe Weise an einem anderen Ort Unrecht tun. […] Nun sollen aber die Propheten gegen alle Gottlosigkeit aufstehen und das Gottesvolk befreien – oder es werden die umgekommenen Schafe von ihnen zurück gefordert. Seht nach Micha 3 und 7 und Amos 8, ja durchs Band bei allen Propheten, ob sie nicht wegen solcher Ausbeutungen und Bestechungen laut aufgeschrieen haben.54

Der prophetische Gebrauch, den Zwingli hier von biblischen Texten macht, hat anklagenden und überführenden Charakter: Der usus propheticus ist bei Zwingli ein usus elenchticus. Wenn man so will, empfiehlt und praktiziert Zwingli gleichzeitig einen usus elenchticus prophetae. Mit seiner Anklage nimmt der Hirt nach Zwingli gleichermaßen eine Schutzfunktion gegenüber seinen Schafen wie einen Dienst gegenüber den Angeklagten wahr, die er – um sie zurecht zu bringen – auf ihre eigentlichen Aufgabe hinweist und sie bei ihr behaftet: Genauso soll auch ein Hirt hervortreten und die Schafe beschützen, wenn die Tyrannen ihre Untertanen so gegen alles göttliche und menschliche Recht und gegen alle Gewohnheit unterdrücken. Denn die Regenten sollen Wohltäter sein, nicht Mißhandler, nicht Schinder und Ausbeuter (vgl. Lk 22,25).55

Das Pfarrerbild, welches Zwingli zeichnet, ist zweifellos markant: „der Pfarrer als Wächter des göttlichen Rechts in Staat und Gesellschaft […], der Künder und Wächter des göttlichen Willens in dem durch die Stadt geprägten und strukturierten Sozialkörper des Spätmittelalters.“56 Anders gesagt: „Zwinglis Hirte ist nicht der politische Macher, sondern der gehorsame ————— 52 53 54 55 56

ZwS I, 271 (Der Hirt, 1523). ZwS IV, 127 (Rechenschaft über den Glauben (Fidei Ratio), 1530). ZwS I, 391f. (Wer Ursache zum Aufruhr gibt, 1524). Ebd., 269 (Der Hirt, 1523). SCHOLL, Pfarramt, 65.

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Wächter im prophetischen Amt der Kirche.“57 Dieser Gehorsam ist nach Zwingli als Kreuzesgehorsam zu verstehen. Der Hirtendienst schließt nämlich die tolerantia crucis ein, „etwas also, wonach sich der natürliche Mensch gewiss nicht sehnt, vielmehr findet er täglich zahllose Menschen, die sich selbst nicht verleugnen.“58 Dabei geht es wohlgemerkt um die Übernahme des Kreuzes Christi und das Resultat der streng auf ihn bezogenen Nachfolge. Ja, das Wirken im prophetischen Amt geschieht als christuszentrierte Nachfolge „in ständiger Reichweite des Martyriums“59: „Daher soll man lieber den Tod erleiden als etwas gegen Gottes Wort tun, denn nichts ist Gott angenehmer, als wenn man auf ihn hört und sich vom Ermessen keines anderen beirren lässt.“60 Auf Gottes Wort zu hören, bedeutet nach Zwingli, „daß wir das Wort nicht verschweigen, sondern damit an die Öffentlichkeit treten sollen, ohne Furcht vor denen, die uns schaden können.“61 Furcht ist nicht angezeigt, jedoch nicht aus frommer Einfalt oder einer naiven Sorglosigkeit heraus, die das Sanktionspotential der Herrschenden unterschätzt, sondern die Furchtlosigkeit gründet im weltüberwindenden Sieg Christi: „Darin jedoch steckt unsere feste Gewißheit: daß er der Besieger der Welt ist.“62 In dieser Gewissheit besteht die Pointe von Zwinglis berühmtem Diktum: „‚Nicht fürchten!‘ ist der Harnisch!“63 Mit anderen Worten: Dieser Satz singt also nicht das Lied des braven furchtlosen Mannes, sondern er markiert in Zwinglis Pfarrerbild die Extra-Dimension der Reformation. Der Harnisch des Hirten in seinem ungleichen Kampf mit den Grossen und Schranzen dieser Welt ist Christus, der die Welt überwunden hat.64

Weil Christus der Besieger der Welt ist, deshalb soll es den Hirten „nicht kümmern, ob er gegen Alexander den Großen und Julius [Cäsar], gegen Papst, König, Fürsten und Obrigkeiten zu reden hat.“65 Scholl hat Zwinglis Engagement, wie es in seiner politischen Predigt zum Ausdruck kommt, eingehend gewürdigt: In früher Stunde der Reformation ist Zwingli der Analytiker der politischen Lage. Er weiß, daß der rechte Hirte nicht nur die kirchlichen und sozialen, sondern auch die politischen Zustände seiner Zeit aus den Angeln heben, oder wenigstens wirk-

————— 57 58 59 60 61 62 63 64 65

Ebd., 64. Ebd., 58. Ebd., 69. ZwS I, 273 (Der Hirt, 1523). Vgl. ebd., 283. Ebd., 268. Ebd., 282. Ebd. SCHOLL, Pfarramt, 64. ZwS I, 269 (Der Hirt, 1523).

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lich und unüberhörbar kritisieren muß, um der Glaubwürdigkeit seiner Arbeit, seiner Amtsführung willen. Umgekehrt gesagt, die Hirtenfratze des Eigennutzes ist der unpolitische Pfarrer, der mit der Anrede „ja keinen Aufruhr stiften“ auf die nötige politische Herrschaftskritik verzichtet. […] Es ist nach Zwingli ein wesentliches Kennzeichen des falschen Hirten, daß er vor dem politischen Schritt der Herrschaftskritik zurückweicht und damit mit seinem pastoralen Tun Ungerechtigkeiten und ungerechte Strukturen zementiert und so den Hirtendienst in Wolfswesen verkehrt.66

In der Tat dürfte im Blick auf die reformierte Reformation außer Frage stehen: „Der Prophet Zwingli war […] nicht bloß der zeitlich erste, sondern zugleich der bewußteste und konsequenteste Erneuerer.“67 Aber Zwingli verstand sich selbst im Besonderen und den Pfarrer im Allgemeinen mehr als nur einen sozialkritischen Prediger, mehr auch als einen Diener des bonum commune in der spätmittelalterlichen Gesellschaft.68 Er sah sich selbst und ihn als einen prophetischen Empfänger des Wortes Gottes, das zu hören und zu verkündigen ist. Das von Zwingli gezeichnete Profil des reformatorischen Pfarrers trägt nicht nur akzidentiell deutlich erkennbare prophetische Züge. Nein, der Pfarrer soll eine substantiell prophetische Existenz führen. Zwingli schreibt in Kapitel 10 der „Fidei Ratio“: „[Ich] glaube, daß das Amt der Propheten oder der Verkündigung unantastbar, ja daß es vor allen Diensten das allernotwendigste ist.“69 Beim prophetischen Amt handelt es sich „um die Amtspflicht der Pfarrerschaft schlechthin“70. Zwingli beruft sich auf Jes 58,1: „Rufe! Höre nicht auf! Erhebe deine Stimme wie eine Trompete und verkünde meinem Volk seine Vergehen!“71 —————

66 SCHOLL, Pfarramt, 55f. Vgl. ebd., 55: „Es ist bekanntlich ein Kennzeichen der Reformation Zwinglis, daß sie im sozialen Bereich anhebt und den Finger auf die Gemeinschaftswunden der Zeit legt. Darum kritisiert Zwingli am mittelalterlichen Hirten auch zuerst dessen soziale Unsensibilität.“ 67 BÜSSER, Zwingli, 114. Vgl. LOCHER, Prophetie, 105: „Zwingli war der Reformator mit dem bewußtesten und umfassendsten reformatorischen Willen, eben nicht nur in kirchlicher, sondern auch in politischer und sozialer Hinsicht. Seine Nähe zu Jesaja und Jeremia ist bekannt; aus seiner Tätigkeit an der ‚Prophezey‘ gingen ausführliche Kommentare zu den Büchern derselben hervor.“ Vgl. auch M. HAUSER, Prophet und Bischof. Huldrych Zwinglis Amtsverständnis im Rahmen der Zürcher Reformation, ÖBFZPhTh 21, Freiburg 1994. Zur Rezeption im religiösen Sozialismus vgl. T.K. KUHN, Reformator – Prophet – Patriot. Ulrich Zwingli und die nationale Besinnung der Schweiz bei Leonhard Ragaz, in: A. SCHINDLER / H. STICKELBERGER, Die Zürcher Reformation: Ausstrahlungen und Rückwirkungen, ZBRG 18, Bern / Berlin u.a. 2001, 471–482. 68 Vgl. SCHOLL, Pfarramt, 67. 69 ZwS IV, 125 (Rechenschaft über den Glauben (Fidei Ratio), 1530). 70 P. OPITZ, Von prophetischer Existenz zur Prophetie als Pädagogik im Horizont des Bundes. Zu Bullingers Lehre vom munus propheticum, in: E. CAMPI / P. OPITZ (Hg.), Heinrich Bullinger (1504–1575) – Life, Thought and Work, ZBRG 24, Zürich 2007, (493–513) 495. 71 ZwS I, 268 (Der Hirt, 1523).

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Die Aufgabe des Propheten besteht nach Zwingli darin, dass der Hirt alle die verheerenden Freveltaten unerschrocken angreifen muß und sich weder durch die überrissenen Machtansprüche dieser Welt noch durch irgendwelche Drohungen abschrecken lassen darf. Gott spricht bei Jer 1,9 zum Propheten: „Siehe, ich habe meine Worte in deinen Mund gelegt, und ich habe dich heute zu den Völkern oder Heiden und zu den Königreichen geschickt, um auszureißen und niederzureißen, um loszureißen und aufzutrennen, aber auch, um wieder aufzubauen und zu pflanzen.“ Darum muß der Hirt alles, was sich gegen Gottes Wort „auftürmt“, und sei es noch so hoch, antasten und „niederreißen“ (vgl. 2Kor 10,4–5), wofür Christus ein treffliches Vorbild ist.72

Ausreißen und Pflanzen – für die Wahrnehmung dieser prophetischen Aufgabe ist nach Zwingli die genaue Kenntnis der Heiligen Schrift erforderlich. Die Wahrnehmung dieser Aufgabe hat sich „in der strengen Schule der Heiligen Schrift“73 zu vollziehen. Das Eruieren des sensus litteralis eines biblischen Textes und der prophetische Auftrag widersprechen einander nach Zwingli keineswegs. Vielmehr soll die Realisationsform jenes Auftrages aus einer konsequenten Schrift- und Wortbezogenheit resultieren. Freilich lässt sich das Verhältnis von Schriftauslegung und prophetischer Existenz bei Zwingli noch präziser fassen. Es findet seine öffentlichkeitswirksame Ausdrucksform in einer in heftige Herrschafts- und Sozialkritik mündenden Situationswahrnehmung. Schriftauslegung und Sozialkritik als applikative Anrede bilden bei Zwingli gleichsam die beiden grundlegenden Aspekte des prophetischen Amtes. Der Zwingliforscher Gottfried W. Locher bemerkt dazu treffend: „Der Prophet durchschaut die Schrift und die konkrete Situation und setzt beide zueinander in Beziehung.“74 Beide, Schriftauslegung und Sozialkritik, fallen indes bei Zwingli keineswegs einfach zusammen und werden auch nicht miteinander identifiziert. Im Blick auf deren Reihenfolge kann man vielmehr aus der Art und Weise, wie Zwingli die prophetische Tradition der Bibel ins Gespräch bringt, Erhellendes entnehmen. Zwingli tut dies in Gestalt von Schriftbeweisen, mit denen er seine politische und sozialkritische Predigt – wohlgemerkt: nachträglich – legitimiert. So verweist er auf das Beispiel des Propheten Samuel, der Saul zur Vollstreckung des Banns an den Amalekitern auffordert (1Sam 15),75 als Beleg dafür, „daß der Hirt auch dem König, Fürsten oder Oberen nichts durchgehen lassen darf, sondern jedem seinen Irrtum anzeigen soll, sobald ————— 72

Ebd., 265. SCHOLL, Pfarramt, 60. 74 LOCHER, Prophetie, 106. 75 Vgl. W. DIETRICH / C. LINK, Die dunklen Seiten Gottes, Bd. 1: Willkür und Gewalt, Neukirchen-Vluyn 42002, 195–201. 73

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er sieht, daß jener vom Weg abkommt.“76 Zwingli führt die David-BatsebaNatan-Episode (2Sam 11f.)77 als Exempel für den prophetischen Auftrag an, „den Ehebruch und den Totschlag, ja den hinterlistigen Mord vor[zu]halten.“78 Anhand der „Abgötterei“ und Strafe Jerobeams (1Kön 12–14)79 lernt der Prophet, daß er sich die Schafe weder zur Abgötterei noch zu irgendwelchem Unrecht verleiten lassen darf, und daß er sogar einem dreisten und selbstherrlichen Jerobeam, der sich dazu erfrechte, entgegentreten soll, selbst wenn er weiß, daß auf ihn nicht gehört wird.80

Insbesondere die Elia-Ahab-Konstellation (1Kön 16,29–21,29)81, die u.a. im sog. „Gottesurteil auf dem Karmel“ (1Kön 18) eskaliert, dient Zwingli zur Veranschaulichung, „daß es seine [des Hirten] Pflicht ist, tapfer bei Gottes Wort zu bleiben, selbst wenn die ganze Welt gegen ihn steht, und ebenso, daß er sich von der Überzahl der Baalspriester nicht beeindrucken lassen soll.“82 Und anhand der Episode von „Nabots Weinberg“ (1Kön 21) „lernt der Hirt hervorzutreten, wenn das ganze Volk oder auch nur ein einzelner bedrängt wird – und wäre es gegen den größten Tyrannen.“83 Immer wieder wendet Zwingli Erzählungen aus dem deuteronomistischen Geschichtswerk auf die „Päpstler“, d.h. seine altgläubigen Gegner, an, die er mit den Antagonisten der Propheten gleichsetzt und somit eine Übertragung in die eigene Gegenwart wagt. Schließlich wendet sich Zwingli auch summarisch den sog. Schriftpropheten zu; Jesaja, Jeremia, Ezechiel, Amos und Jona werden explizit genannt, die Zwingli für ihre Tadelung der jeweiligen Machthaber rühmt.84 Die Reihung der Propheten kulminiert in

————— 76

ZwS I, 271 (Der Hirt 1523). Vgl. u.a. T. NAUMANN, David als exemplarischer König. Der Fall Urijas (2Sam 11) vor dem Hintergrund der altorientalischen Erzähltradition, in: A. DE PURY / T. RÖMER (Hg.), Die sogenannte Thronfolgegeschichte Davids. Neue Einsichten und Anfragen, OBO 176, Fribourg / Göttingen 2000, 136–167; DERS., David als Spiegel und Gleichnis. Ein Versuch zu den Wirkweisen alttestamentlicher Geschichtserzählungen am Beispiel von 2Sam 11f., in: R. LUX (Hg.), Erzählte Geschichte – Beiträge zur narrativen Kultur im alten Israel, BThSt 40, Neukirchen-Vluyn 2000, 29–52. 78 ZwS I, 274 (Der Hirt, 1523). 79 Vgl. u.a. R. ALBERTZ, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bd. 1, GNT 8/1, Göttingen 1992, 212–226. 80 ZwS I, 275 (Der Hirt, 1523). 81 Vgl. u.a. R. ALBERTZ, Elia. Ein feuriger Kämpfer für Gott, Biblische Gestalten 13, Leipzig 2006; F. CRÜSEMANN, Elia – die Entdeckung der Einheit Gottes. Eine Lektüre der Erzählungen über Elia und seine Zeit, KT 154, Gütersloh 1997. 82 ZwS I, 276 (Der Hirt, 1523). 83 Ebd. 84 Vgl. ebd., 278. 77

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Zwinglis Darstellung in dem Beispiel Johannes des Täufers85, an dessen furchtlosem Auftreten gegenüber Herodes (Mk 6,14–29) zu lernen sei, daß der Hirt tun muß, was niemand wagt: Den Finger auf wunde Stellen legen und Schlimmeres verhüten, keinen schonen, vor Fürsten, Volk und Geistliche treten, sich weder durch Größe, Einfluß und Zahl, noch durch irgendwelche Schreckmittel beeindrucken lassen, sofort zugegen sein, wenn Gott ruft und nicht nachlassen, bis sie sich ändern.86

Die Funktion, die diesen Schriftverweisen zukommt, ist evident und wird im Übrigen von Zwingli selbst benannt: „Was bedarf es noch weiterer Prophetenstellen, um zu belegen, daß der Hirt allem Bösen entgegentreten soll?“87 Es handelt sich mit anderen Worten um induktiv geführte Schriftbeweise. Zwingli führt sie zur Bestätigung seiner Bestimmung des pastoralen Auftrages, den er als genuin prophetisch versteht, an. Zwingli macht des Weiteren, wie bereits gesagt, auch direkten applikativen bzw. applikationshermeneutischen Gebrauch von den Prophetenbeispielen, indem er argumentationsstrategisch eine doppelte Identifikation vornimmt: Die Propheten sind die evangelischen Pfarrer der Gegenwart und ihre altgläubigen oder obrigkeitlichen Gegner von heute die Gegner der Propheten. Diese Identifikationsstrategie liegt Zwinglis Verständnis des Wächteramtes der Pfarrer (und nicht etwa der Kirche insgesamt) zugrunde, das er mit dem Amt der biblischen Propheten gleichsetzt. In diesem Sinne ist das Urteil Lochers gerechtfertigt: „Für Zwingli sind die Propheten nicht nur einstige Vorläufer auf Christus, sondern von brisanter politischer Aktualität und damit Anleiter zum Gehorsam gegen Christus heute.“88 Bei Zwingli fällt auf, dass seine Bezugnahme auf die Schrift insgesamt gegenüber der Situationswahrnehmung, die sich in seiner massiven Sozialund Herrschaftskritik entlädt, nachklappt. Die Schriftauslegung ist, wie er selbst in seiner Schrift „Von dem Prophetenamt“ (1525) sagt, nur das „ander ampt der Propheten“89. Weil die Sozial- und Herrschaftskritik, das „dem üblen geweert und das gu[o]t pflanzet habend“90, als Aufgabe des ersten und vom zweiten zu unterscheidenden Amt vorausgeht, deshalb klappt die Schriftauslegung nach. Nur das erste Amt des „Niederreißens und Pflanzens“ wird von Zwingli mit Schriftbeweisen begründet, nicht das der Schriftauslegung. Im Blick auf das prophetische Amt bleibt es bei Zwingli —————

85 Vgl. u.a. U.B. MÜLLER, Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu, Biblische Gestalten 6, Leipzig 2002. 86 ZwS I, 278 (Der Hirt, 1523). 87 Ebd., 277. 88 LOCHER, Prophetie, 106. 89 Z IV, 398,3 (Von dem Predigtamt, 1525). 90 Ebd., 397,34f.

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noch beim Dual, einem Nebeneinander von Sozial- und Herrschaftskritik bzw. Situationswahrnehmung einerseits und Schriftauslegung andererseits. Und dort, wo er beide zueinander in Beziehung setzt, geschieht dies so, dass man den Eindruck gewinnt, als liefere die Schrift sekundär beigefügte Belege ohnehin bereits gefällter Urteile. Das Lehramt der Schriftauslegung bleibt insofern dem Amt des „Bauens und Niederreißens“ untergeordnet. Wie wir sehen werden, wird genau dieser Dual, wie er Zwinglis Konzipierung des prophetischen Amtes kennzeichnet, später im Raum des reformierten Protestantismus überwunden. Heinrich Bullinger und Johannes Calvin repräsentieren mit ihren Ausführungen zum prophetischen Amt Meilensteine auf diesem Weg. 2.2 Heinrich Bullinger: „De prophetae officio“ (1532) Bullingers kirchenpolitische Leistung lässt sich nach Peter Opitz wie folgt zusammenfassen: „Heinrich Bullinger hat die Zwinglische Reformation konsolidiert und damit ein angefangenes, aber in die Krise geratenes Unternehmen auf Dauer gestellt“91. Ähnlich urteilt Daniel Bolliger: Bullinger’s genius lay precisely in his ability to retain the creative force of the prophetic ideal of the early Reformation through a lifetime of leadership, though he was forced by circumstances to refine it.92

Betrachtet man Bullingers Unternehmen, das prophetische Wirken Zwinglis auf Dauer zu stellen, so zeigt sich freilich, dass Konsolidierung „mehr als bloße Konservierung“93 meint, d.h. mit kreativen Transformationsakten einherging. Dies zeigt sich bereits in Bullingers programmatischer Antrittsrede, die – im Januar 1532,94 zur Zeit der wohl größten Krise der Zürcher Kirche gehalten95 – wenig später unter dem Titel „De prophetae officio“ erschien und die Grundzüge seines Verständnisses des prophetischen Amtes ————— 91

OPITZ, Existenz, 493. D. BOLLIGER, Bullinger on Church Authority. The Transformation of the Prophetic Role in Christian Ministry, in: B. GORDON / E. CAMPI (Hg.), Architect of Reformation. An Introduction to Heinrich Bullinger, 1504–1575, Grand Rapids 2004, (159–177) 177. 93 OPITZ, Existenz, 494. 94 BOLLIGER (Bullinger, 162) bemerkt: „It was certainly a remarkable moment, for although Bullinger had shown brilliant promise, he was still a relatively young man and untested in his new office. It was important for him to introduce himself to many of his colleagues, as well as to the prominent people of Zurich, not only as an orator, but, more crucially, as a leader. The occasion was the feast of Charlemagne, which had been celebrated in Zurich since time immemorial.“ 95 So BOLLIGER, Bullinger, 176. Zum historischen Hintergrund vgl. auch F. B ÜSSER, Heinrich Bullinger (1504–1575). Leben, Werk und Wirkung, Bd. 1, Zürich 2005, 93–107, bes. 100f. 92

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darlegt.96 Eine solche Darlegung war freilich nicht möglich, ohne dass der 28jährige Bullinger dieses zu seinem Vorgänger Zwingli, der im Jahr zuvor auf dem Kappeler Schlachtfeld ums Leben gekommen war, in Bezug setzte und dieses so würdigte. Ein besonderes Augenmerk ist auf die eigenständigen theologischen Akzente und Gewichtungen zu richten, die der „Nachfolger Bullinger“ im Blick auf eine Weiterführung des Prophetenamtes und damit der Sache Zwinglis setzt. Die „Lobrede“ (encomium)97 auf den von Bullinger als vorbildlichen, ja als paradigmatischen Propheten dargestellten Zwingli am Ende der frühen Schrift Bullingers darf nicht den Blick für dessen Eigenständigkeit, d.h. sein eigenes prophetisches Programm, verdecken. Bullinger strebt nach einer „geordnete[n] Weitergabe und Verbreitung der von Zwingli wieder ins Licht gestellten evangelischen Wahrheiten“98, weshalb er methodisch auf die ihm durch den zeitgenössischen Humanismus wohlbekannten Verfahren der antiken Rhetorik zurückgreift. Es geht ihm um eine „Pädagogik des prophetischen Amtes“99. Zu Beginn seiner frühen Schrift benennt Bullinger deren Gegenstand: „[…] unsere gemeinsame Aufgabe, also die prophetische, zu erörtern: dass sie ein von Gott uns anvertrautes Amt ist und wie sie würdig erfüllt werden kann.“100 Ebenso wie für Zwingli ist für das Bullingersche Prophetenverständnis der Wächterbegriff das entscheidende Interpretament; und genau wie Zwingli setzt auch Bullinger das alttestamentliche Prophetenamt mit dem Pfarramt gleich: Denn genau wie die christlichen Bischöfe Aufseher genannt werden, weil sie als Wächter Sorge tragen zur Herde des Herrn und verhindern sollen, dass diese Herde ein Verderbnis für die Seelen und der Feind des Menschengeschlechtes anfällt, der mit der Menge menschlicher Laster umgeben ist, ebenso bespähten auch jene die Ränke der Lasterhaften und der Verirrten und deckten sie auf.101

Der usus elenchticus legis tritt wie bei Zwingli so auch bei Bullinger markant in Erscheinung und zwar im Horizont der von beiden geteilten Prämis—————

96 BOLLIGER (Bullinger, 164) führt den Nachweis des kompilatorischen Charakters dieser bedeutenden Schrift Bullingers: „[T]he text of De prophetae officio is indeed to a large extent woven out of citations, fragments, and even whole paragraphs from earlier writings of Bullinger, principally De propheta libri duo, but also from the Studiorum ratio and other writings.“ 97 Bullingers Schrift folgt – wie D. BOLLIGER (Einleitung, in: BuS I, 3–10, 4; Bullinger, 163f.) gezeigt hat – „formal dem klassischen Aufbau einer Rede, wie ihn die Rhetorik der Antike lehrt: exordium mit captatio benevolentiae, status, confirmatio, cohortatio, confutatio und epilogus.“ 98 OPITZ, Existenz, 500. 99 Ebd., 493. 100 BuS I, 11f. (Das Amt des Propheten, 1532). 101 Ebd., 12.

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se: Was der Prophet damals tat, ist auch heute Aufgabe des Pfarrer – hic et nunc wie illic et tunc! Die functio prophetica besteht nach Bullinger darin, dass das Amt eines wahren Propheten nichts anderes ist, als die Heilige Schrift auszulegen, Irrtümern und Freveln entgegenzutreten, Gottesfurcht und Wahrheit zu fördern und schließlich den Gemütern der Menschen mit allem Fleiß und Eifer Gerechtigkeit, Glauben und gegenseitige Liebe nicht nur einzuträufeln, sondern einzuschärfen. Seine Aufgabe ist es auch, Schwankende zu bestärken, Trauernde zu trösten und Säumige oder Nachlässige auf dem Weg des Herrn anzuspornen und zu ermahnen.102

Diese Aufzählung hat weniger additiven, als vielmehr explikativen Charakter. Die an der Spitze der Aufzählung genannte Aufgabe der Schriftauslegung wird expliziert. Was Schriftauslegung in situationsbezogener Anwendung meint, konkretisiert Bullinger anhand der folgenden Aufzählung. Bei Bullinger wird mit anderen Worten Prophetie mit Schriftauslegung gleichgesetzt. Darin besteht der neuralgische Punkt seiner Frühschrift, der „Kern und Stern“ seiner Ausführungen. Für Bullinger besteht die prophetische Aufgabe – anders als bei Zwingli – primär in der Schriftauslegung.103 Ihr hat sich das prophetische Amt zu widmen. Auf sie ist sie verpflichtet. Die Verkündigung geschieht durch Schriftauslegung: „Nun ist allein die Schrift und die Wahrheit ohne Widerrede der Gegenstand, mit dem sich der Prophet befasst.“104 Schriftauslegung hat sich nach Bullinger in einer Zweistufigkeit zu vollziehen und zwar in folgender Reihenfolge: zunächst Interpretation der Schrift und dann Anwendung auf die Hörerschaft.105 Die Propheten sollen nur das in concreto applizieren, was sie in der Auslegung der Schrift gewonnen haben.106 Während bei Zwingli die Beschäftigung mit der Schrift erst an zweiter Stelle steht und er „weniger die Beschäftigung mit der Schrift als Quelle der prophetischen Verkündigung überhaupt im Blick zu haben [scheint], als die Errichtung der ‚Prophezei‘, der Prophetenschule im ————— 102

Ebd. Im Blick auf Bullinger stellt BOLLIGER (Bullinger, 175) treffend fest: „[T]he Reformation linking of the office of scripture was fundamentally grounded in the competence of an individual to interpret the Bible. […] In brief, a prophet is an especially talented and important interpreter“. 104 BuS I, 23 (Das Amt des Propheten, 1532). 105 Treffend bemerkt E. CAMPI, Bullingers Rechts- und Staatsdenken, EvTh 64, 2004, (116– 126) 120: „Es wird hier nicht eine Entpolitisierung der Predigt zugunsten einer Konzentration auf die doctrina, sondern die Notwendigkeit eines ersten und unmittelbar nachfolgenden zweiten Schritts empfohlen: eines ersten, wohl nach innen gerichteten Schritts einer theologischen Konzentration auf das Wort und seiner Reinerhaltung sowie eines zweiten, nach außen gerichteten Schrittes einer prophetischen, öffentlichen Stellungnahme der Kirche im Interesse der gesamten Gesellschaft.“ 106 OPITZ, Existenz, 510. 103

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Blick auf die Zukunft“107, stellt Bullinger die exegetische Arbeit des Propheten der Applikation voran. Opitz hat die Differenz zwischen Zwingli und Bullinger treffend auf den Punkt gebracht: Zwar hatte auch Zwingli die Schriftauslegung als eine Tätigkeit der „Prophetie“ hervorgehoben, er hatte sie allerdings als „das ander ampt der propheten“ nicht wirklich mit einer „Prophetie“ vermittelt, welche er aufgrund exegetischer Beobachtungen beschreiben konnte als eine durch direkte Eingebung oder „Schau“ Gottes angetriebene moralische und soziale Kritik. Demgegenüber limitiert Bullinger das prophetische Amt von Anfang an auf die Schriftauslegung und lässt die Anredefunktion prophetischer Rede […] lediglich gelten als Applikation der Schriftauslegung. 108

Bullinger zufolge ist das prophetische Amt kein zweifaches Amt wie bei Zwingli, sondern ein einfaches, geradezu monoman auf die Schriftauslegung konzentriertes Amt. Bullinger geht in seinen späteren Schriften so weit, dass er – wie beispielsweise in den „Dekaden“ – das prophetische Amt zugunsten des „Wortamtes“ (ministerium verbi dei) aufgibt bzw. jenes in dieses aufhebt.109 Der Begriff des „Propheten“ wird von demjenigen des „Dieners“ verdrängt.110 Bullinger nennt „die Auslegung der Schrift die vornehmste Pflicht des Prophetenamtes“, weshalb es angemessen sei darzulegen, „wie ein Prophet die Schrift angemessen und richtig behandeln kann.“111 Dieser Fragestellung geht Bullinger im weiteren Verlauf seiner Frühschrift nach und entwirft dazu eine Art biblische Hermeneutik, die hier freilich nicht im Detail behandelt werden kann. Interessant ist die Beobachtung, dass Bullinger nicht wie Luther das, „was Christum treibet“112, als hermeneutische Norm wählt, sondern den Bund113 (testamentum, foedus, pactum) als „Mitte der Schrift“: ————— 107

Ebd., 500. Ebd., 499f. 109 Vgl. ebd., 507f. Opitz liefert dort reiche Belege. Vgl. auch BOLLIGER, Bullinger, 172f. 110 Ein „Relikt“ findet sich noch in der „Confessio helvetica posterior“ (1566), wenn es dort im Art. 18 heißt: „Prophetae quondam praescij futurorum, vates erant: sed et scripturas interpretabantur. Quales etiam hodie adhuc inveniuntur“ (BSRK 201,12–14). J.F.G. Goeters übersetzt: „Die Propheten wußten als Seher einst das Zukünftige, aber sie erklären auch die Schrift. Solche finden sich auch heute noch.“ H. STEUBING (Hg.), Bekenntnisse der Kirche. Bekenntnistexte aus zwanzig Jahrhunderten, Wuppertal 21977, 186. 111 BuS I, 13 (Das Amt des Propheten, 1532). 112 Vgl. WA DB 7,384,26–33 (Vorrede auf die Epistel St. Jakobi und Judas). 113 Bullinger definiert: „Unter dem Begriff Testament verstehen wir nämlich einen Pakt, einen Bund oder eine Vereinbarung und zwar jene, durch die Gott mit dem gesamten Menschengeschlecht übereinkam, dass er unser Gott sein werde, die Allgenugsamkeit, das Gute im Überfluss und das Füllhorn schlechthin, und dass er dies besonders durch die Gewährung des gelobten Landes und die Fleischwerdung seines Sohnes unter Beweis stellen werde.“ BuS I, 14. Vgl. dazu auch BOLLIGER, Bullinger, 165ff. Zur Föderaltheologie Bullingers insgesamt vgl. J.W. B AKER, Heinrich Bullinger and the Covenant. The Other Reformed Tradition, Ohio 1980. 108

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„Der Bund, in dem uns Glaube und Unschuld angeraten werden, ist die Grundlage der Heiligen Schrift, die in allen Büchern der Schrift allein zu betrachten ist“114. Auf den Bund lassen sich nach Zwingli alle Bücher der Bibel beziehen und so scheinen auch „die großen und die kleinen Propheten auf diesen Bund als ihren einzigen Fixstern geblickt zu haben.“115 Die eigentliche hermeneutische Regel sei aber „die Gabe des Glaubens und der Liebe“116: „Folglich ist deine Auslegung dann angemessen, wenn sie weder dem Glauben widerspricht noch die Liebe verletzt“117. Es folgen im Duktus Bullingers Anweisungen zum Gebrauch der Schrift im theologischen Streit – namentlich mit den „Papisten“ und den „Wiedertäufern“ – sowie zum Umgang mit „Übeltätern“, denen gegenüber Bullinger wie Zwingli vor ihm unter Berufung auf Jes 58,1 („Schreie und lasse nicht ab! Gleich der Posaune erhebe deine Stimme, und verkünde meinem Volk seine Verbrechen“!) einschärft: Du sollst sie ermahnen, nicht vom lebendigen, wahren und ewigen Gott abzufallen; du sollst sie ermahnen, eifrig das Wort Gottes zu hören, ja nicht nur zu hören, sondern auch durch Glauben und unsträflichen Lebenswandel zum Ausdruck zu bringen.118

Auch hält Bullinger mit Zwingli grundsätzlich daran fest: Wenn du […] das Vaterland und die Kirche Gottes liebst, dann widersetze dich zur rechten Zeit dem Bösen, indem du die früheren Propheten Gottes nachahmst, die gar niemanden schonten, selbst Fürsten und Könige nicht.119

Nach kurzen rhetorischen Ratschlägen mahnt Bullinger schließlich vor allem einen reinen Lebenswandel an, durch welchen „die Propheten Vollmacht“120 gewinnen. Als leuchtendes Beispiel und mustergültigen Propheten führt Bullinger zum Schluss den kürzlich verstorbenen Huldrych Zwingli an, dessen geistliches Erbe hinsichtlich der Wahrnehmung des prophetischen Amtes Bullinger wie folgt zusammenfasst: Unsere Aufgabe wird es fortan sein, mit größtem Eifer und, wenn es die Sache verlangt, auch unter Verlust des Lebens für die Wahrheit zu kämpfen, die Heilige Schrift lauter auszulegen, das Volk zur Gottesfurcht anzuspornen, die Trauernden recht zu

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BuS I, 16 (Das Amt des Propheten, 1532). Ebd., 15. Ebd., 18. Ebd., 19. Ebd., 29. Ebd., 33. Ebd., 40.

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trösten, den Irrtümern klug entgegenzuwirken, die Ketzerei unablässig zu vertreiben und die Laster und Lasterhaftigkeit gottesfürchtig und tapfer zu bekämpfen.121

Insgesamt aber fallen nicht nur die zahlreichen Parallelen und Übereinstimmungen zu Zwingli auf, die sich schlussendlich auch hagiographisch manifestieren. Nein, in vielem scheint Bullinger milder und weitaus weniger sozial- und herrschaftskritisch zu urteilen als Zwingli. Der „glühende Eifer Zwinglis“122 fehlt – zugunsten einer auf Maßhalten und Ausgewogenheit ausgerichteten und irenisch daherkommenden Darlegung und Empfehlung der wortgemäßen Praktizierung des prophetischen Amtes. Die Forderung nach Mäßigung, Geduld und Treue gilt eben auch für die politische Predigt, die nicht zur maßlosen Schelte degenerieren, sondern – wie alles – zur Erbauung geschehen soll (1Kor 14,26).123 Sehr treffend beobachtet Opitz: Dass der Prophet „mit äußerstem Hass gegen die lasterhaften Menschen und gegen die Laster vorgehen soll“, wie dies der vorbildliche Prophet Zwingli gemäß Bullingers Lobrede getan hat, findet sich in Bullingers eigenen Anweisungen allerdings nicht. Im Gegenteil. Immer wieder warnt Bullinger die Propheten vor übermäßiger Härte, vor Beschimpfungen anderer, ja Bullinger warnt ausdrücklich vor polemischen Verunglimpfungen römischer Frömmigkeitsformen und -einrichtungen wie Messe, Bilder- und Heiligenverehrung oder Mönchtum, vor Geschrei und scharfzüngiger Rede. Denn, so die Begründung, auch wenn das Volk gerne Polemiken hört und solchen Beschimpfungen in der Regel Beifall zollt, besteht doch die Gefahr, dass gerade die Schwachen „mehr verwirrt als erbaut“ werden.124

Insgesamt spürt man Bullingers Ausführungen das Bemühen um Institutionalisierung der Prophetie ab. Prophetie wird bei Bullinger – mit Opitz gesprochen – geradezu „zu einer Bildungsaufgabe“125, gebunden freilich an das Pfarramt. Bullinger ist daran gelegen, öffentliche Herrschafts- und Sozialkritik in Gestalt des Pfarramtes politisch zu institutionalisieren und zwar vermittelt über dessen prophetische Aufgabe im Anschluss an das dictum probans Jer 1,9f. Diesbezüglich kann man durchaus kritisch fragen, ob hier nicht Weltliches und Geistliches zu verwischen drohen.126 Den Hin————— 121

Ebd., 47. E. CAMPI, Heinrich Bullinger und seine Zeit, in: DERS. (Hg.), Heinrich Bullinger und seine Zeit. Eine Vorlesungsreihe, Zwa 31, 2004, (7–35) 18. 123 Vgl. BuS I, 34f. (Das Amt des Propheten, 1532) 124 OPITZ, Existenz, 503f. 125 Ebd., 512. 126 CAMPI (Bullingers Rechts- und Staatsdenken, 122) betont zu Recht: „Die Problematik dieser Konstellation scheint Bullinger nicht erkannt zu haben.“ Campi (ebd., 123) merkt fernerhin an, „[d]ass Bullingers Ansichten des Verhältnisses von göttlichem Recht und menschlichem Recht, von Kirche und Staat missbrauchsgefährdet und korrekturbedürftig waren“. 122

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tergrund dieser kritischen Rückfrage bildet die Beobachtung, dass mit der bereits durch Zwingli127 vorgeprägten Verknüpfung von Prophetie und Pfarramt eine folgenreiche Umstellung geschieht. Der Prophet, wie ihn das Alte Testament darstellt, verhält sich zumindest potentiell stets institutionskritisch. Wann immer nötig, kritisiert er den dekadenten König und den in Heuchelei verstrickten Tempel, oft auch die besitzenden Stände, nicht selten gar das Volk als Ganzes. Indes ist der Pfarrer der Vertreter der Institution Kirche par excellence. Deshalb die Rückfrage: Geht Staat und Kirche nicht das kritische Gegenüber in dem Moment verloren, wo es in die herrschenden Institutionen eingebaut wird? Und ist damit nicht der Grundstein gelegt für jene jahrhundertelange Allianz von weltlicher und kirchlicher Obrigkeit, die auf jede Abweichung nur noch mit Verketzerungen und harten Sanktionen zu reagieren wusste? In eine ähnliche Richtung tendieren die ausgewogenen Bemerkungen von Opitz: Wer das rechte Maß und die Treue ins Zentrum stellt, hat zweifellos Kurs auf eine „realistische“, auf Dauer angelegte Gemeinschaftsethik genommen. Zugleich wird damit der Boden bereitet für die Möglichkeit einer „Paternalisierung“ der Bevölkerung, in welcher politische Obrigkeit und reformierte Geistlichkeit gemeinsam ihr „Hirtenamt“ ausüben. Gerade so aber hat Bullinger dem prophetischen Amt institutionell Raum verschafft, auch das herrschafts- und sozialkritische Engagement vom Wort Gottes her in concreto ausüben zu können.128

Gegenüber dem Vorwurf, dass die Gleichsetzung von Pfarramt und Prophetie die Pointe der Prophetie verspielt, wird man immerhin auch argumentieren können, dass mit der Interpretation von Prophetie als Schriftauslegung ein unaufhebbares kritisches Moment ins Pfarramt integriert ist.129 Wenn das Pfarramt wesenhaft Auslegung der Bibel ist, dann ist damit einer Absolutsetzung und Selbstherrlichkeit dieses Amtes von vornherein ein Riegel geschoben. „Radikale Herrschafts- und Sozialkritik kann man nicht institutionalisieren. Man kann aber eine Ordnung etablieren, welcher die Möglichkeit solcher Kritik immanent ist.“130

————— 127

Vgl. BOLLIGER, Bullinger, 164. OPITZ, Existenz, 512f. 129 Zu den daraus resultierenden Rollenkonflikten vgl. M. JOSUTTIS, Der Pfarrer ist anders. Aspekte einer zeitgenössischen Pastoraltheologie, München 41991, 28–49. 130 OPITZ, Existenz, 513. 128

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3. Das prophetische Amt bei Johannes Calvin: „Institutio Christianae Religionis“ (1559) Kennt auch der Genfer Reformator Johannes Calvin (1509–1564) ein prophetisches Amt der Kirche, wie Zwingli131 und Bullinger132 dies tun? Offensichtlich scheint dies der Fall zu sein, denn Graf und Honecker führen ja – wie gesagt – die Rede vom prophetischen Amt der Kirche auf Calvins Lehre vom dreifachen Amt Jesu Christi zurück, wobei sie die Zürcher Tradition völlig außer Acht lassen. Es stellt sich freilich die Frage, ob Calvin dieses prophetische Amt ebenfalls – wie die Zürcher Tradition – als Wächteramt konzipiert und fasst. Bolliger bejaht dies, indem er feststellt, dass „eine Institutionalisierung des frühreformierten prophetischen Elements, wie es prominent in Bullingers Rede aufscheint, in der Lehre vom dreifachen Amt Christi bei Calvin und im Calvinismus“133 erfolgte. Bolliger zufolge gehört es „[z]u den bleibenden Wirkungen, die sich aus dem Amtsverständnis des jungen Bullingers ergaben, […] dass es eine der Voraussetzungen für die calvinistisch-reformierte Umformung der Lehre von Christus wurde“134. Die unterschiedlichen realgeschichtlichen Ausprägungen in Zürich und Genf sind, insbesondere was das Verhältnis zwischen Kirche und öffentlicher Gewalt angeht, bekannt: In Zürich war es zu einer starken gegenseitigen Durchdringung der Kirche und der Ratsgremien gekommen, weil Huldrych Zwingli damit rechnete, daß das mittelalterliche Muster des Corpus Christianum, also der Integration von Kirche und Gesellschaft, fortbestand. Für ihn und für Heinrich Bullinger schloß dies ein, daß die Zürcher Geistlichen dem Rat gegenüber ein prophetisches Einspruchsrecht hatten, um die politische Macht an das Gesetz Gottes erinnern zu können. […] Dort [in Genf] galt ein anderes Muster für das Verhältnis zwischen der öffentlichen Gewalt und der Kirche. Es fand seit Calvin im Neuen Testament das verbindliche Vorbild für die Kirchenverfassung und schrieb der Kirche selbst die Kirchenzucht, das Recht zu ihrer eigenen Reformation und damit auch zur eigenen Leitung zu. Die Einrichtung des Konsistoriums als der zuständigen Behörde für die Kirchenzucht brachte diese Positi-

—————

131 In Bezug auf Calvins Verhältnis zu Bullinger ist immer noch lesenswert: F. B LANKE, Calvins Urteile über Zwingli, Zwa 11, 1959, 66–92; F. BÜSSER, Grundgedanken Zwinglis in Calvins „Institutio“, in: DERS., Die Prophezei. Humanismus und Reformation in Zürich. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge, hg. von A. SCHINDLER, ZBRG 17, Bern u.a. 1994, 183–199. 132 Vgl. hinsichtlich des Verhältnisses Bullingers zu Calvin F. BÜSSER, Heinrich Bullinger (1504–1575). Leben, Werk und Wirkung, Bd. 2, Zürich 2005, 117–137; A.I.C. HERON, Calvin an Bullinger 1536–1549, in: M. FREUDENBERG (Hg.), Profile des reformierten Protestantismus aus vier Jahrhunderten. Vorträge der ersten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 1, Wuppertal 1999, 49–69; CHR. STROHM, Bullingers Dekaden und Calvins Institutio. Gemeinsamkeiten und Eigenarten, in: P. OPITZ (Hg.), Calvin im Kontext der Schweizer Reformation. Historische und theologische Beiträge zur Calvinforschung, Zürich 2003, 215–248. 133 BOLLIGER, Einleitung, 9. 134 Ebd.

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on zum Ausdruck, die man in Zürich und Bern lediglich als einen örtlich bedingten und zu tolerierenden Sonderfall verstand, dem keine allgemeine Verbindlichkeit zukommen dürfe.135

Ob sich dieser Konflikt auch in der Konzipierung des prophetischen Amtes widerspiegeln mag? Calvin nimmt die Zuordnung und Charakterisierung des prophetischen Amtes im Zusammenhang seiner Ekklesiologie vor, die ein Changieren zwischen der Lehre vom dreifachen und vierfachen gemeindeleitenden Amt kennzeichnet.136 Während er in der Kirchenordnung von 1561 („Les Ordonnances ecclésiastiques de 1561“) die Ämter des Pastors, Presbyters und Diakons vorsieht, nennt er in der Endfassung der „Institutio“137 (1559) die vier Ämter des Pastors, Lehrers, Presbyters und Diakons. In seiner Auslegung von Eph 4,11 spricht Calvin von der „Ähnlichkeit, die unsere (heutigen) Lehrer mit den früheren Propheten haben“138. Damit relativiert er seine eigene Beobachtung, wonach es „heutzutage entweder keine, oder aber […] weniger sichtbar[e]“ Menschen wie die Propheten gibt. Darunter versteht der Apostel „nicht jegliche Künder des Willens Gottes, sondern solche, die sich durch eine besondere Offenbarung“139 auszeichnen.140 Dort nun, wo Calvin nicht zwischen dem Amt des Pastors und des Lehrers bzw. Doktoren differenziert und das Doktorenamt nicht als eigenständiges Amt anführt, findet sich in der Amtsbeschreibung des Pastors der Begriff des „Wächters“ als Interpretament für den des „Propheten“ wieder: [D]ie Amtaufgaben der Pastoren [bestehen] vornehmlich in diesen beiden Stücken […]: das Evangelium zu verkündigen und die Sakramente zu verwalten. Die Unter-

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E. KOCH, Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus (1563– 1675), KGE II/8, Leipzig 2000, 122. 136 Eingehend diskutiert Calvin die Frage nach der Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen Pastoren und Lehrern in seinem Kommentar zu Eph 4,11. Vgl. J. C ALVIN, Auslegung der kleinen Paulinischen Briefe, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe, Bd. 17, hg. von O. WEBER, Neukirchen-Vluyn 1963, 163–165. 137 So CALVIN, Inst. (1559), IV,4,1. 138 DERS., Inst. (1559), IV,3,5. Dort z.T. kursiv. 139 DERS., Inst. (1559), IV,3,4. Dort z.T. kursiv. 140 In seinem Epheser-Kommentar bemerkt Calvin: „Bei diesem Titel [Propheten; M.H.] denken viele an die Männer, die sich durch die Gabe auszeichneten, über zukünftige Dinge zu weissagen, wie Agabus einer war (Apg 11,27–28; 21,10–11). Ich meinerseits fasse ihn, da ja hier von der Lehre die Rede ist, lieber so auf, wie er im 14. Kapitel des ersten Korintherbriefes angewendet wird, nämlich im Blick auf hervorragende Ausleger von Weissagungen, welche die Aufgabe haben, diese Geheimnisse mit Hilfe einer Art von besonderer Gabe zu enthüllen, auf einen vorliegenden Fall anzuwenden – immerhin so, daß ich die Gabe der Weissagung, soweit sie mit der Lehre verbunden war, bei den ‚Propheten nicht ausschließen möchte.“ C ALVIN, Auslegung der kleinen Paulinischen Briefe, 164.

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weisung geschieht nun aber nicht allein in öffentlichen Predigten, sondern sie erstreckt sich auch auf persönliche Ermahnungen.141

Calvin zufolge sollen sich die Pastoren dazu bereit erklären, ihr Vorsteheramt in der Kirche so zu üben, daß sie nicht etwa eine müßige Würde innehaben, sondern mit der Lehre von Christus das Volk zu wahrer Frömmigkeit [zu] unterweisen, die heiligen Sakramente [zu] verwalten und die rechte Zucht [zu] bewahren und [zu] üben. Denn allen, die in der Kirche zu Wächtern gesetzt sind, kündigt der Herr an, er werde, wenn einer durch ihre Nachlässigkeit in seiner Unwissenheit zugrunde gehe, sein Blut von ihren eigenen Händen fordern142 (Ez 3,17f.).

Dort hingegen, wo Calvin zwischen den Ämtern des Pastors und des Lehrers differenziert, rekurriert er zwar auch auf den Begriff des Wächters als Interpretament für den des Propheten, allerdings wird hier eine strenge Zuordnung zum Amt des Lehrers (doctor) getroffen. Mithin lässt sich festhalten: „Calvin stellt den Prophetentitel dem des doctors gleich“143. In seinem Kommentar zu Ez 3,16f., wo das Wächteramt des Propheten Ezechiel über Israel beschrieben wird, generalisiert Calvin: „Zum Wächter hat ihn Gott bestimmt; das gilt von allen Lehrern der Kirche; sie sind von Gott gleichsam auf eine Warte gestellt, damit sie über das allgemeine Wohl wachen.“144 Ihre Aufgabe beschreibt Calvin wie folgt: Sollen aber die Hirten ihr Wächteramt recht ausüben, so müssen sie besondere Gaben haben, wenigstens mehr als das gemeine Volk des Geistes teilhaftig sein. Denn das ist nicht genug, daß die Hirten wie Privatmänner leben, sondern sie müssen viel sorgsamer aufmerken, als wären sie auf eine hohe Warte erhoben, und das erfordert viel Scharfsichtigkeit und Gewandtheit. Er soll die Worte aus Gottes Munde hören. Gott will also allein gehört werden.145

Die Lehrer der Kirche sollen gleichsam „an seinem Munde hängen“146. Der Prophet hat nach Calvin die Aufgabe, Gottes Willen kund zu tun, was nur im sorgfältigen Hören auf die Schrift möglich sei. Insbesondere im Blick auf die „Ordonnances ecclésiastiques“ (1561) lässt sich festhalten: ————— 141

DERS., Inst. (1559), IV,3,6. Ebd. 143 D. SCHELLONG, Calvins Auslegung der synoptischen Evangelien, FGLP 38, München 1969, 271. 144 J. CALVIN, Auslegung des Propheten Ezechiel, übers. von E. Kochs, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Neue Reihe, Bd. 9: Ezechiel und Daniel, hg. von O. WEBER, Neukirchen 1938, 57. 145 Ebd., 58. Dort z.T. kursiv. 146 Ebd. 142

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Wenn Calvin vom Pastor den theologischen Lehrer unterscheidet, so denkt er dabei nicht nur an die notwendige gründliche Ausbildung der Pastoren. Die Lehrer (doctores) sind den Pastoren auch ein bleibendes Gegenüber, indem es zu ihren Aufgaben gehört, darüber zu wachen, dass die Verkündigung an der Lehre der Schrift orientiert bleibt.147

Die Aufgabe der Schriftauslegung und des Unterrichts in der „gesunden Lehre“, die allein von Gott kommt,148 verweist auf die Verwandtschaft des Doktorenamtes mit demjenigen des Propheten. Die Genfer Kirchenordnung von 1561 hält fest: Die besondere Aufgabe der Doktoren besteht darin, die Gläubigen in der heilsamen Lehre zu unterweisen, damit die Reinheit des Evangeliums weder durch Unkenntnis noch durch Irrlehren getrübt wird. […] Dem Pastorenamt am nächsten und mit der Leitung der Kirche am engsten verbunden ist dabei der theologische Unterricht, der das Alte und das Neue Testament umfassen sollte.149

Dementsprechend heißt es in der Dienstordnung der Pastoren, die explizit zum Schriftstudium auffordert: Zu diesem Zweck [der rechten Amtsausübung; M.H.] ist es erstens nützlich, daß alle Pfarrer, um Reinheit und Eintracht der Lehre untereinander zu bewahren, an einem bestimmten Wochentag zu einem gemeinsamen Schriftstudium zusammenkommen. Keiner soll sich ohne rechtmäßigen Grund davon ausnehmen, und wer sich nicht daran hält, soll ermahnt werden. […] Um zu sehen, wie sorgfältig ein jeder das Schriftstudium betreibt, und damit keiner nachlässig wird, soll der Reihe nach jedes Mal ein anderer diejenige Schriftstelle auslegen, die gerade dran ist. Wenn sich dann am Schluß die Pfarrer zurückziehen, soll jeder aus dem Kollegium dem Ausleger seine Einwände mitteilen, damit ihm dies zur Korrektur dient. Wenn dabei irgendwelche Verschiedenheit in der Lehre auftaucht, sollen die Pfarrer diesen Punkt gemeinsam angehen und die Sache besprechen.150

Bei Calvin tritt ein positiver Aspekt des Konnexes von Pfarramt und Schriftauslegung deutlich hervor: Die Kritikfähigkeit der Bibel bleibt nämlich nur dort erhalten, wo sie in den Händen vieler liegt. Schriftauslegung verhindert dort am ehesten Amtsanmaßung, wo sie in einen ekklesialen —————

147 M. WEINRICH, Gott die Ehre geben – Johannes Calvin und die Wahrhaftigkeit des christlichen Lebens, in: R.K. WÜSTENBERG (Hg.), „Nimm und lies!“ Theologische Quereinstiege für Neugierige, Gütersloh 2008, (126–144) 141. 148 Vgl. CALVIN, Auslegung des Propheten Ezechiel, 58. 149 CStA 2, 253 (Ordonnance ecclésiastiques, 1561). Treffend bemerkt: M. W EINRICH, Welche Kirche meinen wir? Die Theologie und die verfasste Kirche, in: J. EBACH u.a. (Hg.), Bloß ein Amt und keine Meinung? – Kirche, Jabboq 4, Gütersloh 2004, (214–272) 250: „Die Lehrer sind die auf das alttestamentliche Amt der Propheten zurückgehenden Theologen, welche die rechte Lehre verbreiten und über deren Berücksichtigung zu wachen haben.“ 150 CStA 2,245ff. (Ordonnance ecclésiastiques, 1561).

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Prozess, ein gemeinschaftliches Unternehmen, ein diskursives Geschehen eingebettet ist. In Genf war mit der „Congrégation des pasteurs“ ebenso wie in Zürich mit der „Prophezei“ ein Stück kollegialer und diskursiver Schriftexegese institutionalisiert. Es lässt sich als vorläufiges Fazit festhalten, dass es Calvin ebenso wie Zwingli und Bullinger nicht um ein frei flottierendes Prophetentum der Inspiration und Weissagung geht. Vielmehr weist ihrer gemeinsamen Auffassung zufolge die Bindung an die Schrift, wie sie für das Pastoren- und Doktorenamt konstitutiv ist, die falschen Vorstellungen eines vagabundierenden Prophetentums der willkürlichen Eingebungen ab. Beim Begriff „Prophetie“ bzw. „Prophet“ handelt es sich bei Calvin aber nicht nur um ein ekklesiologisches, sondern zugleich auch um ein genuin christologisches Prädikat. Dieses hat er in seiner Lehre vom dreifachen Amt Christi aufgenommen und entfaltet. Die folgenden Ausführungen mögen dazu dienen, das umstrittene und insbesondere von Graf in Frage gestellte Verhältnis von Christologie und Ekklesiologie, der Lehre von den drei Ämtern Jesu Christi und der von den drei Ämtern der Kirche, bei Calvin näher zu erörtern. Calvin kann zwar nicht als der „Erfinder“ der Lehre vom dreifachen Amt Christi gelten. Er hat diesem Lehrstück allerdings seit der zweiten Ausgabe der „Institutio“ (1539) in entscheidender Weise Kontur verliehen, sich allerdings zunächst, genauer gesagt: bis zur Endfassung der „Institutio“, nicht vorbehaltlos auf es eingelassen.151 Über die Herkunft des Motivs der drei Ämter ist viel gerätselt worden.152 Fakt ist, dass im Genfer Katechismus (franz. 1542; lat. 1545) zwar beiläufig, aber erstmalig ausdrücklich von drei Ämtern die Rede ist und das zuvor unbeachtete prophetische Amt damit eine eigenständige Funktion erhält, die sich dann auch in der Endfassung der „Institutio“ (1559) niederschlägt.153 Calvin sieht „die ganze für uns geschehene und geschehende Christusgeschichte im dreifachen Amt Christi zusammengefasst und in seiner ‚Kraft‘ und ‚Würde‘ herausgestellt“154. ————— 151

So SCHELLONG, Auslegung, 273. R. SAARINEN (Christus als Lehrer bei Ficino und Calvin. Ein Beitrag zur Entstehung der Dreiämterlehre, ZThK 89, 1992, (197–221) 220) etwa vertritt die These, „daß Calvins eigenständige Profilierung des prophetischen Amtes im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit der neuplatonischen Christologie Marsilio Ficinos geschieht“, sie ihre Entstehung mithin „der Weisheitsspekulation und der Renaissance-Christologie verdankt“. Ebd., 221. 153 Vgl. zur Genese der Drei-Ämter-Lehre Calvins K. B LASER, Calvins Lehre von den drei Ämtern, ThSt(B) 105, Zürich 1970, 7–10; BORNKAMM, Christus, 305–311; J.F.G. GOETERS, Christi Königtum bei Johannes Calvin, RKZ 127, 1986, (109–116) 109–111; SCHELLONG, Auslegung, 236–273; F. WENDEL, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, übers. von W. Kickel, Neukirchen-Vluyn 1968, 196f. 154 P. OPITZ, Calvins theologische Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 1994, 122. 152

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Die besondere theologische Bedeutung und Leistungsfähigkeit der Lehre vom dreifachen Amt Christi besteht darin, dass mittels dieses Interpretaments Person und Werk Christi, Soteriologie und Christologie miteinander verbunden werden.155 Als materiales Bindeglied fungiert dabei die Salbung. Auf sie rekurriert Calvin zur Erklärung des Christus-Namens und bei der Verwendung biblischer Christus-Titulaturen bzw. christologischer Prädikationen: Nun müssen wir […] bedenken, daß der Name „Christus“, der „Gesalbte“, alle diese drei Ämter umfaßt. Denn unter dem Gesetz sind, wie wir wissen, Propheten wie Priester wie Könige mit dem heiligen Öl gesalbt worden. Deshalb wurde dem verheißenen Mittler auch der Name Messias (= der Gesalbte = Christus) beigelegt.156

Honecker identifiziert diese Vorgehensweise kritisch als „heilsgeschichtliche[n] Biblizismus“157: Calvin bediene sich einer biblizistischen Begründung, wonach die alttestamentlichen Ämter des Propheten, des Priesters und des Königs in Jesus Christus ihre Erfüllung gefunden haben. Eine derartige biblizistische Begründung der Lehre vom dreifachen Amt Christi kann heute exegetisch kaum noch überzeugen.158

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155 Sehr treffend urteilt OPITZ (ebd., 125): „Die Leistung des Amtsbegriffs besteht darin, daß er die von der Person Christi redende erste und die von seinem Werk redende zweite Hälfte des christologischen Artikels des Symbols zu verbinden vermag. Er kann so zugleich die Christusgeschichte als inklusives, ‚für uns‘ geschehenes und geschehendes Werk deutlich machen, denn diese ist ja als die Erfüllung des Amtes Christi das auf uns gerichtete Werk dessen, der von Gott zu unserem Erlöser (Jesus) bestimmt ist. Er kann aber auch die Christusgeschichte als Geschichte dessen, der nach dem Willen Gottes zu diesem Amt ausgerüstet und ermächtigt ist (Christus), als in jeder Hinsicht hinreichenden Grund unseres Heils würdigen.“ Ähnlich auch BLASER, Lehre, 11f.: „Der Gedanke des Munus zielt zweifellos auf das Amt als sichtbare Wirksamkeit […]. Im Begriff des Munus kommen Christologie und Werk Christi zusammen und wollen als untrennbar verstanden sein.“ Blaser (ebd., 38f.) hebt hervor, dass „sich Person und Amt gegenseitig deuten und nicht voneinander zu trennen sind.“ Dort kursiv. So auch ebd., 45 und vor allem 47: „Der Mittler ist Prophet, König und Priester; die Person bestimmt die Funktion, die Funktion bestimmt die Person. Weil aber diese Funktion per definitionem eine solche ‚pro nobis‘ ist und es um unser Heil geht, handelt es sich nicht um ein Nacheinander von Christologie und Soteriologie, sondern um ‚Gleichzeitigkeit‘: die eine ist nichts ohne die andere, aber interpretieren einander so, daß sie zur umkehrbaren Gleichung werden.“ 156 CALVIN, Inst. (1559), II,15,2. 157 HONECKER, Autonomie, 124. 158 Ebd. Vgl. hingegen von exegetischer Seite A.M. SCHWEMER, Jesus Christus als Prophet, König und Priester. Das munus triplex und die frühe Christologie, in: M. HENGEL / A.M. SCHWEMER, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, WUNT 138, Tübingen 2001, 165–230. Schwemer kommt zu dem Ergebnis: „Die Wiederentdeckung des ‚zweifachen‘ bzw. ‚dreifachen Amtes‘ durch die Reformation war sachlich-theologisch notwendig, es ist auf breiter Basis im Neuen Testament angelegt.“ Ebd., 230.

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Calvin beruft sich in der Tat auf die Schrift und er bemüht sich um eine möglichst genaue bzw. philologisch exakte Lektüre.159 So nimmt er wahr, dass die Zuordnung des Messias-Begriffs zum Amt der Könige, Priester und Propheten alttestamentlich nicht gleichgewichtig erfolgt: Ich bin […] der Ansicht, daß bei dieser Bezeichnung „Messias“ in besonderer Weise an das königliche Amt gedacht war; aber auch die prophetische und priesterliche Salbung behalten ihre Würde und dürfen von uns nicht übersehen werden.160

Calvin betont nicht nur die Analogie, sondern auch die Differenz zwischen den alttestamentlich geschilderten Salbungen und der Salbung Jesu Christi als Gabe des Heiligen Geistes. So fragt er im Genfer Katechismus: „Aber mit welcher Art Öl wurde er gesalbt?“ Die Antwort lautet: Nicht mit einem sichtbaren, so wie es bei der Salbung der alten Könige, Priester und Propheten gebraucht wurde, sondern mit einem besseren, nämlich der Gnadengabe des Heiligen Geistes, welcher die eigentliche Wahrheit jener äußeren Salbung ist (Jes 61,1; Ps 45,8).161

Calvin bemüht sich freilich, weniger biblizistisch, als vielmehr gesamtbiblisch zu argumentieren162 und in diesen Rahmen die Pneumatologie in die Christologie einzuzeichnen. Deshalb stellt er einen engen Bezug zum Alten Testament her, der dem Schema „Verheißung und Erfüllung“ folgt.163 In Christi Kommen erfüllt sich nach Calvin das Amt der alttestamentlichen Propheten: „Das gemeinsame Amt der Propheten war aber doch, die Kirche in der Erwartung zu halten und sie zugleich zu stärken bis zum Kommen des Mittlers“164. Diese Erfüllung ereignet sich gemäß Calvin im Eintreffen der Vorhersage des Propheten Joel (3,1): „Und eure Söhne sollen weissagen, und eure Töchter Gesichte sehen“, indem Christi „Salbung vom Haupte aus auch den Gliedern“165 zukomme. Anstatt Calvins Drei-Ämter-Lehre unter das Verdikt des Biblizismus zu stellen, dürfte es wohl angemessener sein, sein gesamtbiblisches Bemühen zu würdigen: „Indem er Person und Werk Jesu Christi unmittelbar an die Geschichte Israels bindet, legt er den Grundstein für eine auf Israel aus————— 159 Zum Schriftverständnis Calvins vgl. P. OPITZ, Calvins Schriftverständnis, in: G. P LASGER (Hg.), Calvins Theologie für heute und morgen. Beiträge des Siegener Calvin-Kongresses 2009, Siegener Beiträge zur Reformierten Theologie und Pietismusforschung, Bd. 1, Wuppertal 2010, 11–27. 160 CALVIN, Inst. (1559), II,15,2. 161 CStA 2,27 (Genfer Katechismus, 1545). 162 Vgl. GOETERS, Christi Königtum, 114. 163 Vgl. BLASER, Lehre, 33: „Das prophetische Amt bringt als Wort-Amt die Verheißung zur Erfüllung und unterscheidet das Evangelium vom Gesetz.“ Dort kursiv. 164 CALVIN, Inst. (1559), II,15,1. 165 DERS., Inst. (1559), II,15,2.

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drücklich Bezug nehmende Christologie.“166 Hermeneutisch lässt sich beobachten, dass Calvin das Auftreten Jesu Christi innerhalb dieses gesamtbiblischen Rahmens durch das Prisma der alttestamentlichen Beschreibungen der drei Ämter betrachtet, in diesem Sinne also das im Neuen Testament generierte Christusbild vom Alten Testament her versteht.167 Im Genfer Katechismus (1545) fragt Calvin danach, in welchem Sinne Christus nun „Prophet“ genannt wird und antwortet darauf: Weil er bei seinem Kommen in die Welt sich bei den Menschen als Gottes Gesandter und Ausleger bekannt hat, und dies mit dem Ziel, den Willen des Vaters vollständig darzulegen und so alle Offenbarung und Prophezeiungen zu vollenden.168

Calvin versteht unter Christus, dem Propheten, den Legaten und Interpreten169 Gottes bei den Menschen (patris se legatum […] et interpretem apud homines)170, den „Herold und Zeuge[n] der Gnade des Vaters“ (praeco et testis […] gratiae patris)171 und entfaltet Christi Funktion als die Teleologie seiner Prophetie, welche in der vollständigen Darstellung des Willens des Vaters und der Vollendung aller Offenbarungen und Prophezeiungen bestehe. Anders als Otto Weber übersetzt, dessen Übersetzung übrigens auch Graf folgt, wenn er behauptet, dass Calvins Ekklesiologie seiner eigenen Aussage vom „Ende aller geschichtlichen Prophetie“172 widerspreche, hat Christi vollkommene Lehre (perfectione doctrinae) Calvin zufolge aller Prophetie keineswegs ein Ende gemacht.173 Vielmehr hat Christus sie als ————— 166

FREUDENBERG, Amt, 77. Vgl. BLASER, Lehre, 28: „Das prophetische Amt als das Amt des Wortes formuliert das Verhältnis der beiden Testamente und garantiert die Einheit der Schrift.“ Dort kursiv. Auch G. PLASGER (Johannes Calvins Theologie – Eine Einführung, Göttingen 2008, 61) betont, dass Calvin „die Zusammengehörigkeit mit dem Alten Testament wichtig [ist]; Christus ist eben nicht ohne das Alte Testament zu verstehen.“ 168 CStA 2,27 (Genfer Katechismus, 1545). – „Iam quo sensu prophetam Christum nominas? Quia quum in mundum descendit, patris se legatum apud homines, et interpretem professus est: idque in eum finem, ut patris voluntate ad plenum exposita finem poneret revelationibus omnibus et prophetiis.“ Ebd., 26. 169 Vgl. dazu die Aussage des Johannesprologs (Joh 1,18), wonach Christus den Vater „exegetisiert“: μονογενὴς θεὸς ὁ ὢν εἰς τὸν κόλπον τοῦ πατρὸς ἐκεῖνος ἐξηγήσατο. 170 CStA 2,26 (Genfer Katechismus, 1545). 171 CALVIN, Inst. (1559), II,15,2. – OS III, 473: „Videmus unctum Spiritu fuisse ut praeco et testis esset gratiae Patris“. 172 GRAF, Munus, 89. 173 So auch E. BUSCH, Eschatologie in Calvins Gebeten, in: R. HESS / M. LEINER (Hg.), Alles in allem. Eschatologische Anstöße. FS Chr. Janowski, Neukirchen-Vluyn 2005, (475–486) 477. Vgl. auch C. VAN DER KOOI, Art. Christus, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (252–261) 257: „Das Prophetentum hat zwar einen Höhepunkt und seine Identität in Jesus Christus gefunden, aber sicher nicht seinen Abschluss. Die Verkündigung des Wortes Gottes findet ihre Fortsetzung in den Aufgaben von Lehrern der Kirche, in der Bedienung des Wortes und 167

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deren Ziel (finis) erfüllt.174 Die Prophetie geht nämlich insofern weiter, als dass Christen durch den Mittler Christus zu Teilhabern an dessen prophetischem Amt werden: Christus empfing diese Salbung nicht für sich allein, damit er recht das Amt des Lehrers ausüben könnte, sondern für seinen ganzen Leib (die Gemeinde), damit in der immerwährenden Verkündigung des Evangeliums die Kraft des Geistes sich entsprechend auswirke.175

Calvin bringt damit den Gedanken des pro nobis als den der „hermeneutischen“ Wirksamkeit seiner Salbung zum Ausdruck.176 Geist und Prophetie sind dabei ebenso wie Geist und doctrina engstens miteinander verbunden. Christi Lehre ist – mit anderen Worten – keine geistlose Lehre. Exakt dies zeigt sich in deren Wirksamkeit, die Calvin dahingehend erklärt, dass uns das Prophetenamt Christi als Ausübung seines Lehramtes am Geist Anteil gibt: „Was würde es nützen, wenn Christus jene Salbung allein für sich und sein persönliches Lehramt empfangen hätte“177? In der Teilhabe am prophetischen Amt Christi besteht der Nutzen (fructus) der guten Gabe (bonum nostrum) durch den Geist: „Denn Christus ist vom Vater mit all dem begabt worden, um es uns mitzuteilen, damit wir alle aus seiner Fülle schöpfen (Joh 1,16).“178 Calvin erläutert dies wie folgt: Er [Christus] wurde vom Heiligen Geist erfüllt und mit der vollkommenen Fülle all seiner Gaben ausgestattet, damit er sie uns mitteile, jedem in dem Maße, welches der Vater für uns als zuträglich erkennt. Daher schöpfen wir aus ihm als der einzigen Quelle all unsere geistlichen Güter (Eph 4,7).179

Der Begriff der „Mitteilung“ bzw. „Zuteilung“ (impertiat) zeigt an, dass es in der Ämter-Lehre um ein kommunikatives Geschehen geht, in welchem der geistgesalbte Christus (vgl. Jes 61,1f.) der Gemeinde gegenübertritt und sie seine Salbung empfangen lässt, sie mithin beschenkt. Es fällt auf, „wie zurückhaltend Calvin die Selbsttätigkeit der christlichen Gemeinde beschreibt.“180 Mit der Aussage, dass die Salbung vom Haupt aus auf die Glieder übergehe, wird der Gedanke eines „Prophetentums aller Gläubi————— in so vielen Formen, in denen Gottes Wahrheit durch Menschenmund Stimme erhält und in der Welt öffentlich kundgetan wird.“ 174 Vgl. CALVIN, Inst. (1559), II,15,2. 175 Ebd. 176 So auch GOETERS, Christi Königtum, 114. 177 BLASER, Lehre, 14. 178 CStA 2,27 (Genfer Katechismus, 1545). 179 Ebd. 180 FREUDENBERG, Amt, 79.

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gen“, wie er sich – wie noch zu zeigen sein wird – ausgeführt beim CalvinSchüler Caspar Olevian findet, vorbereitet: So sind wir denn alle Propheten am einen Propheten, Verkündiger am Verkündigenden. Das heißt: wir sind ins Hören gerufen – ipsum audite [Mt 3,17] – und sind so, im Glauben, Besitzer der Weisheit (1Kor 1,30; Kol 2,3).181

Der intendierte Nutzen des prophetischen Amtes Christi besteht für uns Menschen Calvin zufolge darin, dass Christus die Seinen „mit der wahren Erkenntnis des Vaters erleuchte, in der Wahrheit erziehe und zu vertrauten Schülern Gottes mache.“182 Demnach hat das prophetische Amt Christi sowohl noetische als auch pädagogische Valenz. Anders als etwa Graf behauptet, ist das Verhältnis zwischen Christologie und Ekklesiologie bei Calvin freilich „nicht als direkte Entsprechung“ 183 entwickelt worden. Calvin entfaltet die Ämter der Kirche nicht in direktem Anschluss an die Ämter Jesu Christi. In formaler Hinsicht gilt, dass die Kap. III und IV der „Institutio“ in ihrer Disposition nicht von der DreiÄmter-Lehre her aufgebaut sind. Und material lässt sich festhalten: Natürlich bildet die Salbung Christi den Ermöglichungsgrund der Wahrnehmung kirchlicher Ämter, welche ohne die Gabe des Geistes nicht möglich wäre. Deshalb rückt Calvin die Kirche möglichst nahe an Person und Werk Christi heran. Aber er belässt es dabei, sie [die christliche Gemeinde] in der rezeptiven Rolle als Gegenüber zu ihrem Lehrer und Erzieher Christus zu deuten. Aus dieser Stellung heraus besteht das prophetische Amt der Christen in ihrem apostolischen, verkündigenden und auch pädagogischen Auftrag darin, das Evangelium ins Gespräch zu bringen.184

Gleichwohl lassen sich die Ämter der Kirche nicht einfach aus den Ämtern Christi ableiten. Vielmehr gilt, „dass Calvin selber diese Linie so explizit nicht zieht und allein indirekte Hinweise zu sehen sind (etwa in Institutio II,15,2 im Blick auf die Verkündigung).“185 Treffend bemerkt Eberhard Busch: Es gibt keine Stellvertretung in dem, was Christus in diesen drei Ämtern tut, aber es gibt eine Teilnahme daran. Und auf solche Teilnahme zielt sein stellvertretendes Handeln: auf die Teilnahme aller Glaubenden an dem, was er in seinen drei Ämtern tut. Es ist freie Gnade, dass er sie bei sich haben will. Es herrscht darum zwischen beiden

————— 181

BLASER, Lehre, 14. CStA 2,29 (Genfer Katechismus, 1545). 183 GRAF, Munus, 91. 184 FREUDENBERG, Amt, 79. 185 G. PLASGER, Die Dienste in der Gemeinde. Impulse aus der Ämterlehre Calvins für die gegenwärtige Diskussion um Amt und Ordination, EvTh 69, 2009, (133–141) 135f. Vgl. OPITZ, Hermeneutik, 127f. 182

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ein unumkehrbares Verhältnis. In dem von den Reformierten geschätzten Bild von Christus als dem Haupt und seiner Gemeinde als seinem Leib gesprochen: Sie ist als sein Leib auf ihn angewiesen – und nicht umgekehrt. Nur weil und wenn Jesus Christus da ist, ist auch sie da als seine Gemeinde – und nicht umgekehrt. Hier darf es keine Umkehrung geben. Die hätte eine Vermischung von Christus und Kirche zur Folge und würde so eine selbstherrliche, weil sich selbst mit Christus verwechselnde Kirche heraufführen.186

Gegen die These von der Ableitung der Ämter der Kirche aus den Ämtern Jesu Christi spricht, dass Calvin selbst – wie eingangs erwähnt – die Dreizahl zuweilen durchbricht und – statt von drei Ämtern (Pastoren, Älteste, Diakone) – auch von vier Ämtern187 (Pastoren, Doktoren, Älteste, Diakone) sprechen kann. Insofern die Christologie bei Calvin keine unmittelbare Entsprechung innerhalb der Ekklesiologie hat, geht es Calvin nicht um die Realisierung christokratischer Ansprüche. Calvin hält vielmehr an der „bleibenden Differenz von Kirche und Christus“188 fest. Eine simple Identifikation von Christus und Kirche würde der Extra-Dimension seiner Theologie fundamental widersprechen, wie er sie im sog. Extra-Calvinisticum grundgelegt hat.189 Kirche und Christus werden eben nicht miteinander identifiziert, so dass Grafs Kritik, so berechtigt sie grundsätzlich ist, im Blick auf Calvin ins Leere geht, ihn also nicht trifft: Sind der erhöhte Christus und die Kirche als Subjekt prophetischer Kritik identisch, fallen das Jenseits prophetischer Kritik und diese selbst unmittelbar zusammen, dann läßt sich überhaupt kein theologischer Ort kritischer Distanz zu faktischen Kritikansprüchen mehr bezeichnen, also auch nicht zwischen wahrer und falscher Prophetie unterscheiden.190

4. Die Lehre vom prophetischen Amt in der reformierten Orthodoxie: Caspar Olevian und Johann Heinrich Heidegger Die Drei-Ämter-Lehre Calvins hat sich in der sog. reformierten Orthodoxie als äußerst wirkmächtig erwiesen. Sie war ein Teil der altprotestantischen Orthodoxie im späten 16. und 17. Jahrhundert. Bei aller z.T. territorial bedingten und u.a. im Richtungsstreit zwischen calvinistischem Aristote————— 186

BUSCH, Reformiert, 182. So CStA 2,238f. (Ordonnance ecclésiastique, 1561). Vgl. A. G ANOCZY, Ecclesia ministrans. Dienende Kirche und kirchlicher Dienst bei Calvin, ÖF I/3, Freiburg i.Br. u.a. 1968, 247f. 188 GRAF, Munus, 100. 189 Vgl. C. LINK, Die Entscheidung der Christologie Calvins und ihre theologische Bedeutung. Das sogenannte Extra-Calvinisticum, EvTh 47, 1987, 97–119. 190 GRAF, Munus, 100. Dort z.T. kursiv. 187

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lismus und Ramismus Ausdruck findenden Vielfalt der reformierten Orthodoxie fällt ihr Bezug auf „die überragende Autorität Calvins“191 auf, dessen Theologie in Gestalt der „Institutio“ dominierte.192 Dies lässt sich auch an der Rezeption der Drei-Ämter-Lehre festmachen, wie anhand von zwei Beispielen aus der reformierten Orthodoxie, nämlich anhand Caspar Olevians katechetischer, als Apostolikumsauslegung konzipierter Schrift „Fester Grund, das ist, die Artikel des alten, wahren, unzweifelhaften christlichen Glaubens“193 (1567) und Johann Heinrich Heideggers „Corpus theologiae christianae“ (2 Bde., posthum 1700) gezeigt werden soll. Bei Olevian handelt es sich um einen Repräsentanten der sog. reformierten Frühorthodoxie (seit ca. 1560)194, während Heidegger der sog. Hoch- bzw. Spätorthodoxie zugerechnet wird. 4.1 Caspar Olevian: „Fester Grund“ (1567) Caspar Olevian,195 dessen Anteil an der Entstehung des Heidelberger Katechismus die neuere Forschung für gering erachtet,196 wesentlich geringer zumindest als den des Melanchthon- Schülers Zacharias Ursinus, steht – wie der Heidelberger Katechismus – „an der Schwelle des Übergangs vom Zeitalter der Reformation zum Zeitalter der altprotestantischen Orthodoxie“197. Der Heidelberger Katechismus, „das berühmteste Zeugnis des entstehenden deutschen Reformiertentums“198, ist ein Unionskatechismus,199 ————— 191

W.H. NEUSER, Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westminster, in: HDThG 2, Göttingen 21998, (165–352) 313. 192 Zu den literarischen Nachwirkungen der „Institutio“ Calvins vgl. O. FATIO, Presence de Calvin à la fin du 16e et au 17e siècle, in: W.H. NEUSER (Hg.), Calvinus Ecclesiae Doctor, Kampen 1980, 171–207. 193 Diese Schrift wird im Folgenden nach einer von S. Pötz, U. Keller und W. Holtmann erarbeiteten Transkription (im Netz unter: http://www.caspar-olevian.de; Zugriff: 30.10.2009) zitiert, die auf den posthum erschienenen Band Olevians „Der Gnadenbund Gottes“ (1590) zurückgreift, welcher u.a. den „Festen Grund“ (1567) beinhaltete. Zum Ganzen vgl. J.F.G. G OETERS, Olevians „Fester Grund“. Entstehung, Geschichte, Inhalt, in: C. OLEVIAN, Der Gnadenbund Gottes 1590. Faksimile-Edition mit einem Kommentar hg. von G. FRANZ u.a., Köln 1994, 467–490. 194 J.F.G. GOETERS (Caspar Olevian als Theologe, in: Caspar Olevian (1536 bis 1587) ein evangelisch-reformierter Theologe aus Trier. Studien und Vorträge anlässlich des 400. Todesjahres, Sonderdruck aus Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes Jahrgang 1988/89, Köln 1989, (287–319) 289) ordnet Olevian „der werdenden Orthodoxie“ zu. 195 Zur Biographie vgl. A. MÜHLING, Caspar Olevian 1536–1587. Christ, Kirchenpolitiker und Theologe, Studien und Texte zur Bullingerzeit 4, Zug 32009. 196 Vgl. GOETERS, Olevian, 299–310. 197 E. BUSCH, Der Freiheit zugetan. Christlicher Glaube heute – im Gespräch mit dem Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1998, 9. 198 NEUSER, Dogma, 290. 199 Vgl. BUSCH, Freiheit, 12f.

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den „die Verbindung melanchthonischer Formeln mit der calvinischen Lehrweise“200 charakterisiert. Olevian hat mit dem „Festen Bund“ einen ausführlichen Katechismus in Form einer Apostolikumsauslegung vorgelegt, die sich an die Fragen 21–58 des Heidelberger Katechismus anlehnt und eine calvinistische Auslegung desselben darstellt. Bezeichnenderweise folgt der Calvin-Schüler Olevian in der Festlegung der Ämter Christi der Reihenfolge des Genfer Katechismus und nicht der des Heidelberger Katechismus, wobei zu berücksichtigen ist, dass Calvin in der Endfassung der „Institutio“ – genau wie der Heidelberger – das prophetische Amt an die Spitze der Ämter stellt,201 als zweites Amt aber anders als der Heidelberger das königliche Amt anstelle des priesterlichen nennt.202 Schrift

Reihenfolge der Ämter

Genfer Katechismus (1542/45)

1. König

2. Priester

3. Prophet

Institutio (1559), II,15

1. Prophet

2. König

3. Priester

Heidelberger Katechismus (1563), Fr. 31f.

1. Prophet

2. Priester

3. König

Olevian, Fester Grund (1567)

1. König

2. Priester

3. Prophet

Man kann dies als ein Indiz dafür verstehen, in welch starker Weise Olevian seinem Lehrer Calvin theologisch folgt.203 Ein halbes Jahr nach der Erstveröffentlichung des Heidelberger Katechismus kündigt Olevian Bullinger im Herbst 1563 das Erscheinen seiner Schrift „Fester Grund“ an: ————— 200

NEUSER, Dogma, 290. Nach M. FREUDENBERG (Das dreifache Amt Christi, 79) tat Calvin dies, „um offenbar das Gewicht von Wort, Verkündigung und Bildung in den Vordergrund zu rücken und der hervorragenden Bedeutung des Wortes in den entstehenden ‚nach Gottes Wort reformierten‘ Kirchen Ausdruck zu geben. Denn Inst. II,15,2 zufolge ist in Christus und seinem Lehren exklusiv alles Wissen und alle Weisheit in vollkommener Fülle beschlossen.“ 202 Man wird also mit NEUSER (Dogma, 290) daran festhalten können, dass die in den Fragen 31 und 32 entwickelte Lehre vom munus triplex auf den Einfluss Calvins zurückgeführt werden kann. 203 Freilich wird man im Blick auf das gesamte Oeuvre Calvins berücksichtigen müssen: „Eine kanonische Reihenfolge sucht man bei Calvin vergebens.“ G OETERS, Christi Königtum, 110. 201

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Ich habe außer den Predigten [gemeint ist Olevians Schrift „Kurze Summe und Inhalt etlicher Predigten“, 1563; M.H.] einen ausführlichen Katechismus [gemeint ist der Heidelberger Katechimus, 1563; M.H.] vor den Händen, der dieselbe Methode wie im kleineren [gemeint ist wahrscheinlich die „Catechesis minor“ (1562) von Zacharias Ursinus; M.H.] befolgt. Ich habe beschlossen, in ihm den Kern der wichtigsten Glaubenslehren zu behandeln.204

Sehr viel ausführlicher als der Heidelberger Katechismus thematisiert Olevian im „Festen Grund“ neben der Vorsehungslehre, den Lehrstücken von Christi Höllenfahrt, Himmelfahrt und Erhöhung auch die Lehre vom dreifachen Amt Christi.205 Während sich der Heidelberger Katechismus darauf beschränkt, in Frage 31 festzuhalten, dass Christus „mit dem heiligen Geist gesalbet ist, zu unserm öbersten Propheten und Lehrer, der uns den heimlichen rath und willen Gottes von unser erlösung volkomlich offenbaret“206, und in Frage 32 als Wirkung der Salbung Christi die durch den Glauben empfangene Teilhabe am Leib Christi kurz benennt, die sich im prophetischen Amt im Bekenntnis seines Namens konkretisiert,207 entfaltet Olevian insbesondere die Frage nach dem Nutzen, also das Äquivalent zu Frage 32 des Heidelbergers, in extenso. Zunächst versucht Olevian, gleichsam den ontologischen Status der Salbung Christi zu klären, indem er unter Rekurs auf die Zwei-NaturenLehre ausführt: Daß Christus gesalbet ist zu unserm Lehrer, das verstehe ich also, daß er aus dem Schoß des himmlischen Vaters zu uns gesandt, und in seiner menschlichen Natur mit der Fülle des Heiligen Geistes gesalbet sei, damit er voller Gnaden und Wahrheit, den ewigen Willen und Rat Gottes klar und verständlich uns offenbarete.208

Die Parallelität zur Beantwortung der Frage 31 im Heidelberger Katechismus liegt auf der Hand. Der Nutzen für die Gläubigen hingegen wird von Olevian ungleich ausführlicher und vor allem detaillierter aufgegliedert entfaltet als dies in Frage 32 des Heidelberger Katechismus der Fall ist. Olevian folgt demzufolge zwar formal der Zweiteilung der Fragestellung,209 —————

204 C. OLEVIAN, Brief an Heinrich Bullinger (25.10.1563), zit. nach GOETERS, Olevian, 306. Lateinische Fassung in: Caspar Olevian (1536 bis 1587) ein evangelisch-reformierter Theologe aus Trier. Studien und Vorträge anlässlich des 400. Todesjahres, Sonderdruck aus Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes Jahrgang 1988/89, Köln 1989, 342f. 205 Vgl. GOETERS, Olevian, 307.316. 206 BSRK 690,32–691,2. 207 Vgl. ebd., 691,11–14: „Warumb wirst aber du ein Christ genent? Antwort. Daß ich durch den glauben ein glied Christi, unnd also seiner salbung theilhafftig bin, auff daß auch ich seinen Namen bekenne“. 208 OLEVIAN, Grund, 36. 209 In der Doppelheit dieser Fragestellung spiegelt sich die „Doppelpoligkeit der Theologie Calvins“ (PLASGER, Theologie, 61) wider.

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deren erster Teil sich auf Christi Person und deren zweiter Teil sich auf Christi Werk bezieht, lässt aber beide Teile material in der Beantwortung der Fragestellung in ein asymmetrisches Verhältnis gelangen. Olevian unterscheidet einen dreifachen Nutzen. Der erste Nutzen der Salbung Christi mit dem Heiligen Geist besteht in der Vergewisserung der Gläubigen hinsichtlich des Heilswillens Gottes: Auf daß wir dem gewißen Willen und väterlichem Gemüt Gottes gegen uns, keineswegs zweifeln können. Hat der Sohn selbst, der eins göttlichen Wesens mit dem Vater, und also im Schoß des Vaters ist, dem das Gemüt und der Will Gottes des Vaters gründlich und eigentlich bekannt ist, uns solchen Willen Gottes offenbaret. […] Also zeigt uns Gott sein Herz und Gemüt, das gleich als offen stehet im Heiligen Evangelio.210

Der zweite Nutzen besteht in der Lehrvergewisserung, also in der Vergewisserung der vollkommenen Weisheit und mithin unsteigerbaren Suffizienz der Lehre Christi: Dazu dienet es uns auch daß Christus unser Lehrer ist, daß wir wissen, daß in der Lehr die er uns gegeben hat, eine vollkommene Weisheit begriffen ist, also, daß alles was uns zur Seligkeit vonnöten ist, so vollkömmlich in derselbigen dargetan wird, daß wir mit der einigen Lehr zufrieden sein sollen, und alle andere Menschensatzungen, als Gedicht des Teufels, verwerfen.211

Hier ist der Bezug zu Calvins Interpretation des prophetischen Amtes besonders eng, wenn dieser etwa bemerkt: „Die prophetische Würde, wie sie Christus innehat, soll uns also auch zu der Einsicht führen, daß in der Lehre, wie er sie gegeben hat, alle Weisheit in vollkommener Fülle beschlossen ist.“212 Den dritten Nutzen erblickt Olevian in der spezifischen Effektivität der Lehrvermittlung Christi: Zum dritten ist Christus um der Ursachen willen mit dem Heiligen Geist gesalbet worden, daß er nicht allein seinen Jüngern die Lehr fürtrage, sondern auch durch die Kraft desselben seines Geistes in ihre Herzen schreibe, und sie verkläre in dasjenige, das sie von ihm gelernet haben.213

Schließlich kommt Olevian auf den letzten Nutzen, die Partizipation am Amt Christi, mithin den Zusammenhang von Christologie und Ekklesiologie, zu sprechen. Olevian fasst das Partizipationsgeschehen als kommunika————— 210 211 212 213

OLEVIAN, Grund, 36. Ebd. CALVIN, Inst. (1559), II,15,2. OLEVIAN, Grund, 36.

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tives Geschehen zwischen Christus und den Seinen auf, welches er als Mitteilung bzw. Offenbarung des Willens Gottes, des Vaters, und als ZuPropheten-Machen bestimmt: Daß er dasselbige Lehramt und Kraft des Heiligen Geistes nicht für sich allein behält, sondern seinem ganzen Leib (welcher ist seine Kirch) mitteilet, in dem er seinem jeglichen Glied den Willen seines Vaters offenbaret, und sie also zu Propheten machet.214

Dies geschehe auf zweierlei Weise: Erstlich, in dem er seiner Kirchen Lehrer gibt, durch welcher Dienst er will kräftig sein, und ihm selbst Hausgenoßen und Jünger mache: Danach in dem er diese Jünger, das ist: die Gläubigen, wiewohl sie das öffentlich Predigtamt des Worts und der Sakramenten nicht führen, dennoch will, daß sie so fern das prophetisch oder Lehramt üben. Erstlich: daß sie mit einer aufrichtigen öffentlichen Bekenntnis des wahren Glaubens Gott preisen (Mark. 8 Vs. 38; Luk. 9 Vs. 26): Zum andern auch ihr Gesind unterweisen. Und zum dritten ein jeder seinen Nächsten im Herrn erbaue, so oft es die Gelegenheit gibt und möglich ist, doch ohne Zerstörung der Ordnung, die Gott einmal in seiner Kirchen hat aufgerichtet.215

Olevian entfaltet hier die Lehre eines „allgemeinen Prophetentums aller Gläubigen“, das als Aufgabenbereich eine allgemeine Unterweisung wie allgemeine Erbauung in der Zuwendung zum Nächsten einschließt. Explizit fügt Olevian hinzu, „[d]aß aber alle Gläubigen und ihre Kinder dieser geistlichen prophetischen Salbung ihres Haupts Christi teilhaftig seien“216. Jeder Christenmensch ist demzufolge ein Prophet, unabhängig davon, ob er den Dienst der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung ausübt. Olevian weiß wohl um die Schwierigkeit einer Institutionalisierung des Prophetischen und der Unterscheidung von wahren und falschen Propheten, deshalb beeilt er sich hinzuzufügen, dass die von Gott aufgerichteten Ordnungen der Kirche nicht zerstört werden sollen. Darin besteht sozusagen via negationis ein Legitimitätserweis prophetischer Ansprüche. Freilich ist anhand der Lehre Christi jeweils danach zu fragen, ob bei den tradierten kirchlichen Ordnungen wirklich von Gott aufgerichtete Ordnungen oder „Menschensatzungen, als des Teufels“217 vorliegen. Eine absolute Stabilität kirchlicher Ordnungen kann es deshalb nicht geben. Olevian erteilt also keineswegs unter Verbrämung des Prophetischen eine Lizenz zur Errichtung einer völlig freien, amtlosen Kirche. ————— 214 215 216 217

Ebd. Ebd., 36f. Ebd., 37. Ebd., 36.

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Ordnungslosigkeit ist Olevian zuwider, wie nicht zuletzt sein Engagement im Rahmen der Herborner Generalssynode (1586) zeigt, als deren Präses er fungierte und zu deren beschlossener und immerhin für vier der wetterauischen Grafschaften gültigen Ordnung er die Vorlage lieferte. Dort heißt es in den Artikeln 1 bis 4: 1. Artikel eins von den Ämtern, welche sind entweder 1. der Diener (Prediger), 2. der Lehrer (Doktoren), 3. der Ältesten (Senioren), 4. der Diakone. 2. Niemand soll in der Kirche lehren ohne rechtmäßige Berufung. 3. Niemand soll in einer fremden Gemeinde lehren ohne Zustimmung des dortigen Presbyteriums. 4. Die Berufung soll geschehen durch Entscheid der Klassis und etlicher Ältesten, wozu gehört: 1. die Wahl, 2. die Prüfung, 3. die Zulassung, 4. die Bestätigung im Amt oder Ordination.218

Öffentlich ist das allgemeine Prophetentum nach Olevian in jedem Fall, auch dann, wenn die Gläubigen nicht den spezifischen Dienst der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung vollziehen. Dies gilt nämlich grundsätzlich, insofern das Bekenntnis des wahren Glaubens als aufrichtiges, öffentliches Bekenntnis den Lobpreis Gottes ausrichtet. Ein Nikodemitentum, wie Calvin es kannte und brandmarkte,219 erweist sich als ausgeschlossen. Wird damit nun von Olevian das prophetische Amt in der Weise prophetisch oder ethisch beansprucht, wie es Honecker220 oder Graf kritisieren? Mit dem Öffentlichkeitscharakter des Bekennens, welches gleichsam das „publice docere“ (CA XIV) eines Dienstes der Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung übersteigt, ist freilich auch dessen politischer Charakter gegeben, ohne dass man dies im Sinne einer Politisierung der Lehre vom Amt Christi negativ qualifizieren bzw. konnotieren müsste. Anders gesagt: Das Bekenntnis geschieht im Raum der Öffentlichkeit und ist von daher natürlich ein politisches Phänomen. Das prophetische Amt wird aber dadurch nicht in ein bestimmtes politisches Programm übertragen.221 Vielmehr geht es Olevian um den Öffentlichkeitsauftrag der gesamten Kirche, der mit ihrem Verkündigungsauftrag gegeben ist und sich differenziert nach verschiedenen Diensten bzw. Ämtern in derselben realisiert, eben in Gestalt des öffentlichen Predigtamtes oder des öffentliches Bekenntnisses des wahren Glaubens durch solche, die ein solches Predigtamt nicht wahrnehmen. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass Olevian sich nicht zu

—————

218 P. JACOBS (Hg.), Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung, Neukirchen 1949, 272. 219 Vgl. H. SCHOLL, Reformation und Politik. Politische Ethik bei Luther, Calvin und den Frühhugenotten, Stuttgart u.a. 1976, 66–86. 220 Vgl. HONECKER, Grundriß, 28. 221 Vgl. DERS., Autorität, 126.

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politischen Fragen geäußert hat oder gar ein homo apoliticus gewesen ist.222 Man kann aber bezüglich seines Beitrages zur politisch-ethischen Theoriebildung mit Hans Helmut Eßer festhalten: Olevian bleibt hinsichtlich solcher Lehrstücke sehr zurückhaltend, für einen qualifizierten Juristen äußerst karg. Er will in erster Linie lernender, seine Erkenntnis vertiefender Theologe sein. Sein juristisches Können kommt Ordnungs-, Leitungs-, Organisationsaufgaben zugute, weniger politisch-ethischen Theorien.223

Der Vorwurf Grafs jedenfalls, die altreformierten Dogmatiker des späten 16. und 17. Jahrhunderts hätten die Konzeption kirchlicher Prophetie, welche – wie bei Calvin – direkt und unmittelbar von Gott berufene prophetische Einzelgestalten vorsah, durch eine „Gesamtprophetie der Kirche gegenüber der Welt“224 entschärft, ist insofern im Blick auf Olevian nicht haltbar, als dass Kirche als ein nach verschiedenen Diensten differenziertes Geschehen bzw. Gebilde verstanden wird.225 Die Gesamtprophetie der Kirche erweist und vollzieht sich nach Olevian als eine nach Ämter und Diensten geordnete und keineswegs als anarchisch-chaotisches Phänomen. Im Übrigen findet man bei Olevian in semantischer Hinsicht keine Indizien, dass der Begriff des „Prophetischen“ spekulativ-irrationale Zukunftsdeutung oder ideologische Suggestion unter Umgehung rationaler ethischer Urteilsbildung konnotiert, geschweige denn denotiert. Wie Calvin, so beruft sich auch Olevian auf die Verheißung des Propheten Joel, die er im Pfingstwunder erfüllt sieht. Prophetie realisiert und konkretisiert sich nach Olevian in der Anrufung des Namens Gottes: Wer den Namen des Herrn anrufen wird, soll selig werden. Hie bedenk nun ein jeder Gläubiger, ob er selbst samt seinen Kindern und Gesind dieses Segens Gottes, den Gott diesen unsern Zeiten verheißen hat, teilhaftig sei, und rufe Gott an um solches großes Geschenk, so wird ers ihm geben und mehren, daß er endlich dies selig End mit den seinen erreiche, davon Gott spricht (Joel 2 Vs. 30; Röm. 10 Vs. 13): Es soll

—————

222 Vgl. H. SCHOLL, Vorwort, in: DERS., Verantwortlich und frei. Studien zu Zwingli und Calvin, zum Pfarrerbild und zur Israeltheologie der Reformation, Zürich 2006, 7: „Die Reformation gebiert den homo politicus, damals und heute.“ 223 H.H. ESSER, Die politische Theorie Caspar Olevians und des Johannes Althusius, in: G. DUSO u.a. (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechtstheorie. Beiheft 16, Berlin 1997, (83–97) 84. So auch DERS., Die Staatsauffassung Johannes Calvins und Caspar Olevians, in: Caspar Olevian (1536 bis 1587) ein evangelisch-reformierter Theologe aus Trier. Studien und Vorträge anlässlich des 400. Todesjahres, Sonderdruck aus Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes Jahrgang 1988/89, Köln 1989, (247–265) 247. Vgl. H. GRAFFMANN, Kaspar Olevians Stellung in der Entstehungsgeschichte der Demokratie, JHKGV 22, 1971, 85–121. 224 GRAF, Munus, 90. 225 Im Blick auf Calvin betont G. P LASGER, Art. Kirche, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (317–325) 324: „Als wichtigste und herausgehobene Ordnung in der Kirche ist bei Calvin der gegliederte Dienst zu verstehen“.

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geschehen, daß, wer den Namen des Herrn anrufen wird, der wird selig werden. Ich und die meinen rufen den Namen des Herren von Herzen an, sagt mir mein Gewissen: Derhalben werden wir selig werden. Getreu ist der, der es verheißen hat, der wirds auch tun.226

Als Summa des gesamten Lehrstücks von den drei Ämtern Christi formuliert Olevian: Dies ist die Summa, wie die Schrift sagt: Daß Christus ohne Maß mit dem Hl. Geist gesalbet ist, auf daß wir alle aus seiner Fülle schöpfen (Joh. 1 Vs. 16). Und daß alles was er für geistliche Gaben hat, nicht allein sein, sondern auch unser sei.227

Man wird nun nicht hingehen dürfen und den starken soteriologischen Akzent Olevians, wie er in der Entfaltung der Lehre vom prophetischen Amt Christi ansichtig wird, als Indiz für eine „philippistische Tendenz“ bzw. melanchthonische Ausrichtung des Denkens Olevians werten dürfen. Mag man etwa die Frage nach dem „einzigen Trost“ in der Frage 1 des Heidelberger Katechismus in die Nähe Melanchthons und seines berühmten Diktums: „[…] hoc est Christum cognoscere beneficia eius cognoscere, non, quod isti docent, eius naturas, modos incarnationis continueri.“228 stellen,229 so wird man nicht übersehen dürfen, dass Calvin im Genfer Katechismus (1545) die Frage nach dem Nutzen („Ziehst du daraus irgendwelchen Nutzen?“230) nicht nur explizit gestellt,231 sondern diese Frage auch detailliert auf alle drei Ämter bezogen hat: „Was bringt uns sein Königtum? […] Wozu dient sein Priesteramt? […] Dann bleibt das Prophetenamt.“ 232 Abschließend bemerkt Calvin dort: „Alles, was du sagst, läuft also darauf hinaus, daß die Bezeichnung ‚Christus‘ diese drei Ämter umfaßt, vom Vater dem Sohne gegeben, damit er deren Kraft und Nutzen den Seinen vermittle.“233 Calvin stellt bezeichnenderweise die gesamte Lehre von den drei Ämtern in der „Institutio“ (II,15) unter die Überschrift: „Wollen wir wissen, ————— 226

OLEVIAN, Grund, 37. Ebd. 228 P. MELANCHTHON, Loci communes 1521, 0,13. Zit. nach Philipp Melanchthon, Loci communes 1521. Lateinisch – Deutsch., übers. und kommentierenden Anm. versehen von H.G. PÖHLMANN, hg. von VELKD, Gütersloh 1997, 22. H.G. Pöhlmann (ebd., 23) übersetzt: „Denn das heißt Christus erkennen: seine Wohltaten erkennen, nicht, was diese lehren: seine Naturen, die Art und Weisen der Menschwerdung betrachten.“ 229 Vgl. BUSCH, Freiheit, 12f. 230 CStA 2,27 (Genfer Katechismus, 1545). Dort kursiv. 231 BLASER (Lehre, 5) stellt den Bezug zwischen Melanchthon und Calvin explizit her: „Sie [die Lehre von den drei Ämtern] will die Beziehung zwischen der Person und dem Werk Christi herstellen und aussagen. Wer Jesus ist, manifestiert sich in seinem Werk. Das verbindet Calvin mit Melanchthon.“ 232 CStA 2,29 (Genfer Katechismus, 1545). Dort kursiv. 233 Ebd. Dort kursiv. 227

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wozu Christus vom Vater gesandt ward und was er uns gebracht hat, so müssen wir vornehmlich sein dreifaches Amt, das prophetische, königliche und priesterliche, betrachten“. Als Schüler Calvins weitet Olevian Calvins Frage nach dem Nutzen gegenüber dem Heidelberger Katechismus aus, in deren Beantwortung die Verbindung von Soteriologie und Ekklesiologie deutlich in Erscheinung tritt. Beiden, Calvin und Olevian, geht es nicht um eine formale Deutung des Christusnamens, sondern um die Frage nach dem „Wozu“ der Sendung Jesu Christi, die auch die Frage nach seiner Person des Mittlers beantwortet. 4.2 Johann Heinrich Heidegger: „Corpus theologiae christianae“ (1700) Ebenso wie Calvin und der Heidelberger Katechismus betont auch der Zürcher Vertreter der gemäßigten reformierten Hoch- bzw. Spätorthodoxie Johann Heinrich Heidegger (1633–1698), ein direkter Nachfahre sowohl Zwinglis als auch Bullingers,234 der als maßgeblicher Verfasser der Helvetischen Konsensus-Formel (1675) bekannt geworden ist,235 dass Christus durch sein prophetisches Amt Gottes Willen sich selbst unmittelbar vor Augen gestellt und voll und klar zu unserem Heil geoffenbart hat: „Prophetia Christi est, qua is voluntatem Dei de nostra salute sibi immediate monstratam plene planeque revelavit.“236 Heidegger, der ein bedeutender Vertreter der reformierten Föderaltheologie war,237 unterscheidet – und hier zeigt sich exemplarisch die Tendenz der Orthodoxie zur Systematisierung der Lehre vom munus triplex238 – zwischen einer prophetia legalis und einer prophetia euangelica. Erstere bezieht er auf den mit der Schöpfung konstituierten Werkbund239 und letztere auf den durch Christi Erlösungswerk realisierten Gnadenbund240. In Bezug auf den Werkbund lehrt Christus in seinem prophetischen Amt die wahre Gerechtigkeit, welche das Gesetz fordert. Er ist dabei keineswegs als ein neuer Gesetzgeber aufgetreten, sondern hat den wahren, nämlich geistlichen Charakter des Gesetzes enthüllt: —————

234 So K. HUTTER, Der Gottesbund in der Heilslehre des Zürcher Theologen Johann Heinrich Heidegger, Gossau 1955, 14f. 235 Zum Lebensweg Heideggers vgl. ebd., 13–56. 236 J.H. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,28. 237 HUTTER (Gottesbund, 95) zeigt, „dass Heideggers ganze Theologie auf die vom Bundesgedanken geformten Lehren über den Urstand, die Sünde und die Gnade ausgerichtet ist und nur von da aus richtig verstanden werden kann.“ Dort z.T. kursiv. 238 Vgl. BLASER, Lehre, 47f. 239 Vgl. zum Werkbund HUTTER, Gottesbund, 111–140. 240 Vgl. zum Gnadenbund ebd., 174–236.

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Legalis Christi prophetia in explicatione verae iustitiae, quam lex requirit, constitit. Absque hac enim et eius solida cognitione Christus verus salvator agnosci non poterat, quia tota eius salvatio in exhibitione verae iustitiae, quam lex in foedere operum exegerat, vertebatur. Non ergo Christus novum legislatorem, sed doctorem et prophetam, legis semel a Deo per Mosen latae rationem spiritualem (Rom. 7, 14.) adeoque veram legis iustitiam, quam ipse impleturus in carnem venerat, demonstrantem, egerat.241

Auf dem Hintergrund des Werkbundes und der in ihm geforderten Gerechtigkeit, deren Erkenntnis Christus in seinem prophetischen Amt lehrt, wird das durch ihn vermittelte Gnadenheil, wie es den Gnadenbund kennzeichnet, kontrastiv erkennbar; wobei Heidegger, der mit der Antithetik eines doppelten Bundes arbeitet,242 genau diese heilsame und heilvolle Erkenntnis auf Christi prophetisches Amt, seine prophetia evangelica, zurückführt. Als Hauptkennzeichen von Heideggers Rezeption der sog. Drei-ÄmterLehre und damit implizit auch der Lehre vom prophetischen Amt Christi erweist sich freilich eine Ontologisierung dieses Lehrstücks, wie sie die altprotestantische und auch die sog. reformierte Orthodoxie insgesamt charakterisiert: Jesus Christus übt nicht nur die Funktion eines Königs, Priesters und Propheten aus. Nein, er ist König, Priester und Prophet und zwar bereits vor seiner Inkarnation. In strenger systematischer Geschlossenheit wird das Lehrstück von der Schöpfung bis zur Vollendung, dem Heilsziel der ewigen Seligkeit, entfaltet. Der heilsgeschichtliche Zugang, hinter dem sich Heideggers föderaltheologischer Ansatz verbirgt,243 sprengt allerdings jene der reformierten Orthodoxie zugeschriebene Tendenz, die Schrift in unhistorischer Weise als eine Zusammenstellung von Sätzen (body of propositions) zu beschreiben, die ein für alle Mal durch Gott überliefert worden war und deren Zweck ist, eine nicht irrende, unfehlbare Grundlage zu schaffen, auf der eine gediegene Philosophie errichtet werden könnte.244

In den heilsgeschichtlichen Rahmen zeichnet Heidegger den Weg Christi ein und zwar als einen Weg, der gleichsam den gesamten Rahmen, also aller Anfänge Anfang und aller Enden Ende, umfasst: „Diese prophetische Tätigkeit übte Christus schon von Ewigkeit her aus; denn als logos incar-

————— 241

HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,34. So HUTTER, Gottesbund, 240 u.ö. 243 Vgl. zur Bedeutung des Bundesgedankens für die Heilslehre bei Heidegger H UTTER, Gottesbund, 74–95, und zu dieser Thematik allgemein E. B USCH, Der Beitrag und Ertrag der Föderaltheologie für ein geschichtliches Verständnis der Offenbarung, in: F. CHRIST (Hg.), Oikonomia. Heilsgeschichte als Thema der Theologie. FS O. Cullmann, Hamburg 1967, 171–190. 244 J.S. BRAY, zit. nach NEUSER, Dogma, 314. 242

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nandus ist er von Ewigkeit her wesentlich Prophet wie Hohepriester und König.“245 Gleichsam mit antiarianischem Impetus führt Heidegger aus, dass es keine Zeit gegeben habe, in der Christus nicht Retter und Vermittler gewesen sei: „Numquam non Christus propheta fuit, sicut nunquam non salvator et mediator, sed tum maxime, cum in carne apparuit.“246 Das Inkarnationsgeschehen bildet zwar einen entscheidenden Einschnitt: „Vorzugsweise übt […] Christus sein prophetisches Amt aus, seitdem er ins Fleisch gekommen ist“247, Heidegger beeilt sich jedoch, jeden adoptianischen Anschein durch (spekulative) Präexistenzaussagen, die auf den logos incarnandus als zweite Person der Trinität bezogen werden, zu vermeiden. Heidegger erklärt: Fecit id, ut Deus et Dei Filius ante incarnationem, ut angelus Iehovae, h. e. is, qui mittendus erat a Iehova, assertor seminis Abrahami et sponsor testamenti. Is enim, qui serpentem inter et mulierem inimicitiam posuit, sanctificator fidelium iam in paradiso locutus est (Gen. 3, 15.).248

Das Diktum Gen 3,15 wird als „Protoevangelium“ gedeutet, welches bereits vom Sohn Gottes als logos incarnandus gesprochen wurde, sich aber auf den logos incarnatus bezieht. Im Blick auf letzteren war nach Heidegger schon vom Moment seiner [Christi] Konzeption an zwar nicht die Menschheit, aber der göttliche Logos Christi prophetisch wirksam, indem er den Engeln und Menschen die Erkenntnis, daß er der verheißene Heiland sei, vermittelte.249

Bei Heidegger, der bezeichnenderweise terminologisch nicht nur auf den Philipperhymnus (Phil 2,7), sondern – ebenso wie Calvin250 – auch auf das Chalcedonense (451) rekurriert, heißt es wörtlich: Prophetae isthoc munus in forma servi obiit idem ille, qui ante et post assumptam servi formam ἀτρέτως unus cum Patre et Spiritu S. summus doctor fuit et est, et qui omnes prophetas, quotquot in mundo fuerunt, Spiritu suo afflavit.251

Die trinitätstheologische Verankerung der Lehre vom prophetischen Amt erlaubt es Heidegger, diese zugleich präexistenz- und inkarnationstheolo————— 245

H. HEPPE / E. BIZER, Die Dogmatik der evangelisch-reformierten Kirche, Neukirchen 1958,

357.

246 247 248 249 250 251

HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,29. HEPPE / BIZER, Dogmatik, 357. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,28. HEPPE / BIZER, Dogmatik, 357. Vgl. CALVIN, Inst. (1559), II,14,4. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,30.

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gisch auszulegen.252 Sein Rückgriff auf die Zwei-Naturen-Lehre ermöglicht es ihm, von einer Entwicklung der Lehre in Christus, einem geschichtlichen Wachsen im Sinne eines Lernprozesses im Gefälle von Unterweisung und Autodidaktik auszugehen: Nam a primo conceptionis momento officio prophetae defunctus est Filius Dei θεάνθρωπος secundum naturam divinam ἀδίδακτος et per illam in ipso habitantem αὐτοδίδακτος et ad humanae sapientiae efformationem institutus et factus διδακτικὸς ad oris humani apertionem.253

In der reformierten Orthodoxie wird, wie man generell konstatieren kann, festgehalten: [D]ie Menschheit Jesu [war] schon vorher durch ihre unio personalis mit dem Sohn mit besonderen Gaben und Gnaden des Geistes erfüllt, wodurch jedoch nicht ausgeschlossen war, daß Christus als Mensch sich allmählich entwickelte und an Weisheit und Gnade vor Gott und den Menschen wuchs.254

Dementsprechend wird auch die Taufe Christi interpretiert, nämlich geist-, aber nicht adoptionschristologisch: In Gemäßheit des ewigen Pakts des Vaters mit dem Sohn ist daher der Sohn zur Verrichtung des Mittleramtes Mensch geworden, wozu ihn der Vater mit der Kraft des heil. Geistes gesalbt hat, so daß der Sohn als der Gesalbte Gottes, als Christus, ein Mittler zwischen Gott und den Menschen ist. Diese Salbung empfing Christus, als er getauft wurde.255

Die Taufe wird als Ermächtigung zum Mittleramt interpretiert: „Bei der Taufe erhielt die Menschheit Jesu diejenige geistliche Salbung, welche sie zur Verrichtung des Mittleramtes bedurfte.“256 Hinsichtlich des prophetischen Amtes versteht Heidegger die Taufe als einen Öffentlichkeitsakt, eine Art Proklamation oder Präsentation, die ein ewiges Faktum enthüllt, welches in der Himmelsstimme des Vaters Ausdruck erhält:

—————

252 Im Blick auf die Gegenwart kann diese Aussage auf dem Hintergrund der Bemerkung G. WAINWRIGHTs (For Our Salvation. Two Approaches to the Work of Christ, Grand Rapids 1997, 122) gelesen werden: „Liberal Protestants liked to classify Jesus as a prophet. That at least helped us all to recover the genuine humanity of Jesus. But the category must not be used reductionistically“. 253 HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,30. 254 HEPPE / BIZER, Dogmatik, 355. 255 Ebd. 256 Ebd.

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Publicam muneris prophetici functionem Christus a Iohanne baptizatus et coelesti Patris voce: Hic est Filius ille meus dilectus, in quo acquiesco, ἀκούετε αὐτοῦ (Matth. 3, 17; 17, 5.) commendatus obire coepit.257

Wie bei Calvin258, so manifestiert sich in diesem Mischzitat Heideggers ein doppelter Verweis auf Mt 3,17 und 17,5. Hier hätte es sicherlich nahe gelegen, den Öffentlichkeitscharakter des prophetischen Amtes Jesu in seiner politischen Relevanz hervorzuheben. Bezeichnenderweise geschieht aber genau dies nicht. Diese Ausführungen verhalten sich vielmehr politisch abstinent, was umso bemerkenswerter ist, als dass Heidegger ja in Zürich eine Professur für „Ethica christiana“ innehatte und allein schon von Berufs wegen die res politica nicht ausblenden konnte. Man hat davon gesprochen, dass sich die reformierte Hochorthodoxie „stärker von den Interessen des Staates vereinnahmen liess als die Reformatoren“259. Auf Heidegger trifft dies – wenn überhaupt – dann allenfalls nur sehr bedingt zu: Auf obrigkeitlichen Befehl hin hat sich Heidegger bis an sein Lebensende mit heftiger Polemik gegen die Katholiken befasst,260 während er im Blick auf die innerreformierten theologischen Streitigkeiten eher versuchte auszugleichen. Bereits vor seiner Zürcher Zeit findet sich bei ihm der Gedanke an einen Zusammenschluss aller Protestanten zu einer Einheit in der Lehre.261 Dies sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass Persönlichkeiten wie Heideggers Freund, der Basler Antistes Lukas Gernler (1625–1675),262 ————— 257

HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,33. CALVIN, Inst. (1559), II,15,2. 259 C. ZANGGER, Der besondere Akzent: Die ideologiekritische Sensibilität, in: M. KRIEG / G. ZANGGER-DERRON (Hg.), Die Reformierten. Suchbilder einer Identität, Zürich 22003, (38–43) 39. 260 Vgl. HUTTER, Gottesbund, 39. 261 Vgl. ebd., 56. 262 Gernler half Heidegger beispielsweise im Jahr 1674, also noch vor Abfassung der Konsensus-Formel, durch ein Gutachten aus, das jener anlässlich der gegen ihn erhobenen Vorwürfe verfasste, coccejanische Lehren (konkret die Auffassung, dass der Untergang des Antichristen, die Bekehrung der Juden und der ungläubigen Völker sowie der darauf folgende Friede noch vor dem jüngsten Gericht eintreffen werde) zu vertreten, die „gegen Gottes Wort, gegen die Eidgenössische Konfession und gegen den Synodaleid der Zürcher Geistlichen sei“ (HUTTER, Gottesbund, 49). Gernler hielt die Theologie des Coccejus ebenso wie Heidegger für orthodox. Umgekehrt hatte Gernler seinen Freund Heidegger im Januar 1670 in seinem Kampf gegen die Säkularisierung des Staates und gegen obrigkeitliche Angriffe auf Selbständigkeit der Kirche um die Abfassung einer Disputation gebeten: „Es war anfangs 1670, als Antistes Gernler ‚cum politico quodam viro erudito‘ ein Gespräch führte, in welchem dieser mit Berufung auf Grotius die Ansicht vertrat, ‚ipsam excommunicationem a Magistratus arbitrio pendere‘, was nach Gernler eine Gleichschaltung des geistlichen Amtes mit der Funktion zum Beispiel eines Richters bedeutete. Nur die Autorität Johann Heinrich Heideggers erachtete der Basler Antistes gewichtig genug, um zu dieser brennenden Frage ein Wort zu sagen, und er bat seinen Freund um die Abfassung einer ‚Disputatio de potestate ecclesiastica‘, von der er sich gerade für die Basler Verhältnisse Klärung 258

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durchaus in prophetischer Manier die Behörden und wirtschaftlich führenden Kreis kritisierten: So geißelte [er] in schärfster Weise unter häufiger Zitierung alttestamentlicher Gerichtsund Zornesworte die „Dorophagia“, das heißt die Gabenfresserei bei der Bestellung von Ämtern, „das ist, die Sünd, da man sich mit miet und Gaben bestechen lasst […]“263

Gernler war bekannt für seine politischen Predigten, in denen es Ende April 1672 sogar zu einem offenen Zusammenstoß mit dem Rat [kam]. Der Antistes wurde, was sehr selten geschah, vor die Ratsherren befohlen und hatte sich dort zu verantworten, weil er an einem Fast- und Bettag von der Kanzel herab gegen den Ratsbeschluß Stellung genommen hatte, der dem französischen König das Recht auf Truppenwerbungen auf Schweizerboden einräumte.264

An seinen Freund Heidegger schreibt Gernler im Herbst 1672: Die Politik ist schon lange von der Theologie getrennt. Die Regel einiger Herrschenden ist diese: die Theologen seien zu hören in geistlichen und kirchlichen Dingen; unfähig hingegen seien sie, in politischen Fragen zu urteilen.265

Beide Theologen scheinen sich in ihrem starken Engagement gegen die Verfolgungen der reformierten Kirchen insbesondere in Ungarn und Frankreich einig gewesen zu sein. Wie Gernler mit seinen Stellungnahmen aneckte, die „eine Kampfansage besonders an die Frankreichpolitik des Rates“266 bedeuteten, so sah sich auch Heidegger genötigt, seine gegen die Exponenten eines pro-französischen Kurses gerichtete Schrift „Historia Papatus“ (1684) unter dem Pseudonym Nicander a Hohenegg zu publizieren, da die Eidgenossen, auch die reformierten Stände, gute Beziehungen zum französischen Königshof unterhielten.267 Das politische Engagement Heideggers ist aber bezeichnender Weise nicht im Sinne einer „Politisierung“ in Heideggers Entfaltung des prophetischen Amtes eingeflossen. Eine politisierende Auslegung des Lehrstücks vom prophetischen Amt ist bei Heidegger nicht zu finden. Und auch das königliche Amt Christi interpretiert Heidegger strikt als auf das himmlische Reich Gottes bezogen: „[…] quia Deus habere thronum in coelo atque non ————— und Nutzen versprach.“ M. GEIGER, Die Basler Kirche in der Zeit der Hochorthodoxie, Zürich 1952, 196f. 263 Ebd., 199f. 264 Ebd., 202. 265 Zit. nach GEIGER, Kirche, 201. 266 Ebd. 267 So HUTTER, Gottesbund, 55.

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est in terra, ut homo, sed multo magis, quia est regnum Dei coeleste et non terrestre.“268 Der Bezug auf Calvin wird hier abermals deutlich, der ebenfalls betont, dass Christi Königsamt „geistlicher Natur“269 (spiritualem naturam) ist. Lediglich die alttestamentliche (Heils-)Ökonomie sei durch eine Vermischung von geistlichem und weltlichem Königtum Christi gekennzeichnet gewesen. Die alttestamentliche Ökonomie aber sei mit dem Ende ihrer Institutionen definitiv abgetan: Im Alten Testament hatte sich Christus nach dem Ratschluß des Vaters das Volk Israel zum Volk des Eigentums erwählt, um über dasselbe so ausschließlich das Regiment zu führen, daß er auch das bürgerliche Gemeinwesen des Volkes selbst bestimmte. Hernach ordnete Christus Könige und Propheten in Israel, um durch dieselben sein Königtum auszuüben; allein wie diese Institutionen nur eine Hinweisung auf die wahre Herrlichkeit des Königtums waren, die in ihnen noch nicht vollkommen offenbar werden konnte, so konnte die alttestamentliche Ökonomie auch die wahre Freudigkeit und Seligkeit des Reiches Christi noch nicht ins Leben rufen. Dies geschah erst damals, als den Juden wie den Heiden verkündet ward, daß das Reich Christi in keiner Weise von dieser Welt, daß es rein himmlisch und in den Seelen der Gläubigen sei.270

5. Das prophetische Amt im reformierten Pietismus – Friedrich Adolf Lampe: „Milch der Wahrheit“ (1720) Als nächste theologiegeschichtliche Station soll der reformierte Pietismus anhand der katechetischen Ausführungen des Coccejaners Friedrich Adolf Lampe (1683–1729) zum prophetischen Amt aufgesucht und thematisiert werden. Johann Friedrich Gerhard Goeters zufolge ist Lampe der einzige akademische Theologe von Rang, den das deutsche Reformiertentum hervorgebracht hat.271 Auch sei er „in Bremen und am Niederrhein mit Abstand ————— 268

HEIDEGGER, Corp. theol., XIX, 111. CALVIN, Inst. (1559), II,15,3. So auch Inst. (1559), II,15,4f. 270 HEPPE / BIZER, Dogmatik, 362. Vgl. HEIDEGGER, Corp. theol., XIX,110f. 271 So J.F.G. GOETERS, Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein im 18. Jahrhundert, in: M. BRECHT / K. DEPPERMANN (Hg.), Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, Geschichte des Pietismus, Bd. 2, Göttingen 1995, (372–427) 372. Ähnlich auch M. FREUDENBERG, Erkenntnis und Frömmigkeitsbildung. Beobachtungen zu Friedrich Adolf Lampes Erklärung des Heidelberger Katechismus „Milch der Wahrheit“ (1720), in: H. KLUETING / J. ROHLS (Hg.), Reformierte Retrospektiven. Vorträge der zweiten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 4, Wuppertal 2001, (157–177) 158; DERS., Erkenntnis, Trost und Tugend. Drei Variationen reformierter Katechetik – dargestellt vor dem Hintergrund von Calvins Katechismen, in: P. MÄHLING (Hg.), Orientierung für das Leben. Kirchliche Bildung und Politik in Spätmittelalter, Reformation und Neuzeit. FS M. Schulze, Arbeiten zur Historischen und Systematischen Theologie, Bd. 13, Berlin 2010, (201–219) 214. 269

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der bedeutendste reformierte Theologe seiner Zeit gewesen.“272 „Mit seinen Schriften, einer ausführlichen Laiendogmatik, katechetischen Werken, vielen Predigtsammlungen und auch Liedern“ – so Goeters weiter – hat er vielerorts und langdauernd gewirkt und ist zum eigentlichen Vater eines landeskirchlichen Pietismus im deutschen Nordwesten geworden. Sein Erbe hat in den Gemeinden sogar die Aufklärung überdauert und in der Erweckungsbewegung neue Kraft entfaltet.273

Lampe ist neben seinem Hauptwerk „Geheimnis des Gnadenbundes, dem großen Bundesgott zu Ehre und allen heilsbegierigen Seelen zur Erbauung geöffnet“ (Bremen 1712–1719) vor allem durch seine Auslegung bzw. katechetische Bearbeitung des Heidelberger Katechismus, die unter dem Titel „Milch der Wahrheit nach Anleitung des Heidelbergischen Catechismi zum Nutzen der Lehrbegierigen Jugend“274 (1720) erschien, bekannt geworden. In Lampes Auslegung der Fragen 31 und 32 werden einige Akzentuierungen und Spezifika sichtbar, die theologiegeschichtlich den pietistischen Hintergrund und Gehalt seiner Ausführungen zum prophetischen Amt der Kirche erhellen. Lampe stellte der zweiten Auflage (1722) seiner Erklärung des Heidelberger Katechismus ein Widmungsschreiben an den reformierten Erbprinzen Friedrich Wilhelm von Nassau-Siegen voran, den Lampe selbst als Professor in Utrecht „in den Gründen der Wahrheit, die nach der Gottseligkeit ist“275, unterwiesen hatte. In Anlehnung an 1Petr 2,9 mahnt Lampe dort an: „Der höchste Fürsten-Stand ist derjenige, in welchem GOttes GunstGenossen als ein auserwähltes Geschlecht und Königliches Priesterthum rühmen dürffen. Der erste Adel ist, aus GOtt gebohren seyn.“276 In diesen Worten spricht sich eine klare Priorisierung der geistlichen Herrschaftsordnung gegenüber der weltlichen aus, die einen zukünftigen weltlichen Herrscher auf erstere verpflichten soll. Dazu wird ihm die wahre Hierarchie – im ursprünglichen Sinn des Wortes als „heilige Herrschaft“ verstanden – vor Augen gestellt. Das sich hier artikulierte Ansinnen ist durchaus als herrschaftskritisch zu bezeichnen, insofern Lampe zwischen beiden Herrschaftsordnungen unter—————

272 GOETERS, Pietismus, 375. J. WALLMANN (Der Pietismus, Göttingen 2005, 53) nennt Lampe neben dem Mühlheimer Pfarrer Theodor Undereyck (1635–1693) die „zweite[ ] bedeutende[ ] Gestalt des älteren reformierten Pietismus in Deutschland“. Er habe „den reformierten deutschen Pietismus bis ins 19. Jahrhundert hinein geprägt und auf die coccejanische Föderaltheologie festgelegt.“ Ebd., 53f. 273 GOETERS, Pietismus, 375. Ähnlich FREUDENBERG, Erkenntnis, 160. 274 Neu ediert und herausgegeben von M. Freudenberg: F.A. L AMPE, Milch der Wahrheit, Beiträge zur Katechismusgeschichte, Bd. 4, Rödingen 2000. 275 Ebd., 2. 276 Ebd., 3.

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scheidet und davon ausgeht, dass sich beide nicht deckungsgleich verhalten. Ein Bewusstsein für diese Differenz möchte er auch beim Erbprinzen wecken bzw. stärken. Dieses werde indirekt auch der Praxis seiner Herrschaftsausübung zugute kommen: Fürsten, die solches zu Hertzen fassen, sind destomehr für eine Lust des menschlichen Geschlechts, und sonderlich des Volcks GOttes zu achten, desto schwerer und seltener hohe Stands-Personen ihre höchste Ehre darein setzen, daß sie ihre Herrlichkeit ins neue Jerusalem bringen, und gewürdiget werden, Pfleger und Säugammen der Kirche auf Erden zu seyn.277

Auch die folgende Aussage fällt nicht minder herrschaftskritisch aus: Alle irdische Hoheiten und Herrlichkeiten sind wie eine Lilie des Feldes, und mit der ewigen Herrlichkeit derer, die CHristus JEsus zu Königen und Priestern gemacht hat, verglichen, nur ein Stäublein in der Waagschale.278

Lampe stellt dem Erbprinzen aus dem Hause Oranien, „welches“ – so Lampe in seiner captatio benevolentiae – „so viel Helden zur Verthädigung der Wahrheit und Freyheit hat ausgeliefert, und so viel Blut dafür vergossen“279 hat, mit seinem Vergleich die Vergänglichkeit, mangelnde Gewichtigkeit, ja Nichtigkeit irdischer Herrschaft vor Augen. Lampe bemüht das Bild aus der Bergpredigt von den „Lilien auf dem Felde“ (Mt 6,28), dessen Fortsetzung „sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht“ übertragen auf das Arbeitsethos der weltlichen Herrscher nur in höchst zweifelhafter Weise schmeichelt. Nicht zuletzt im Blick auf diese Allusion von starker suggestiver Kraft wird man mit Matthias Freudenberg urteilen müssen: „Ein erstaunlich mutiges Diktum in vordemokratischen Zeiten!“280 Es ist für dieses Diktum bezeichnend, dass Lampe in Anlehnung an 1Petr 2,9 von Königen und Priestern, keineswegs jedoch von Propheten spricht. Das prophetische Amt wird nicht in den Kontext dieser zweifellos politisch konnotierten Aussagen hineingestellt. Diese These erhält auch in Lampes Auslegung der Fragen 31 und 32 des Heidelberger Katechismus Evidenz.281 Mit dem Heidelberger Katechismus interpretiert Lampe das prophetische Amt Jesu als Lehramt. Dazu gebraucht er die Begriffe „Propheten und Lehrer“282 geradezu synonym. Jesu prophetisches Amt bestehe darin, „[d]aß er uns den heimlichen Rath und Willen ————— 277 278 279 280 281 282

Ebd. Ebd. Ebd., 2. FREUDENBERG, Erkenntnis, 165. Vgl. LAMPE, Milch, 50–54. Ebd., 51.

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GOttes von unserer Erlösung vollkömmlich offenbahret“283, der unserem „verfinsterten Verstand“284 nicht zugänglich sei. Die Offenbarung bezieht sich nach Lampe auf den „Weg der Seligkeit“285. „[U]nsern Glauben von der Wahrheit dieses Weges“ könne nichts mehr befestigen, „als daß der Sohn GOttes selbst denselben hat gezeiget“286. Diesen Vorgang der Befestigung kann Lampe auch als Erleuchtung des Verstandes auslegen.287 In diesem Zusammenhang wird übrigens Lampes „pietistisches“ Interesse am subjektiven Glauben bzw. der subjektiven Aneignung des Heils erkennbar. Lampe geht theologisch von einer engen Korrespondenz von Glaubensinhalt und Glaubenserfahrung aus.288 Vermittelt über den Christus-Titel stellt Lampe den Bezug zwischen Christus Jesus, d.h. dem „Gesalbten“ Jesus und „gewisse[n] Personen des A.T.“ her, „welche zu ihren Ehren-Aemtern durch die Salbung eingeweyhet wurden, und Vorbilder unsers Heylandes waren.“289 Konkret handelt es sich dabei um „Hohepriester und Könige, wie auch gewissermassen die Propheten“290. Lampe bedient sich nicht nur des Schemas „Verheißung und Erfüllung“ als Interpretament des prophetischen Amtes (mit explizitem Verweis auf Dtn 18,18: „Ich will ihnen einen Propheten, wie du bist, erwecken aus ihren Brüdern“), sondern auch des Vorbild-Schemas. Zum prophetischen Amt Christi gehört nach Lampe also zweierlei: Zum einen – gemäß des Schemas „Verheißung und Erfüllung“ – die besondere prophetische Gabe der Vorausschau, wonach Christus „alle künfftige Begegnungen seines Volcks bis ans Ende hat vorher gesagt“291; zum anderen seine „Lehre mit herrlichen Wundern, heiligem Wandel und beständigem Tod“292. Hier greift Lampe, ohne es kenntlich zu machen, auf eine in der reformierten Orthodoxie ausgeprägte Trias zurück, wonach zum prophetischen Amt Christi „auch die Wundertätigkeit, das heilige Leben und der Märtyrertod“ gehört, „wodurch derselbe [Christus] seine Verkündigung bestätigte und bewährte.“293 ————— 283

Ebd. Ebd. 285 Ebd., 51.54. Vgl. dazu DERS., Erste Wahrheitsmilch für Säuglinge am Alter und Verstand (1717), in: M. FREUDENBERG (Hg.), Reformierte Katechismen aus drei Jahrhunderten. Anger – Lampe – Weerth, Beiträge zur Katechismusgeschichte, Bd. 10, Rödingen 2005, 36: „Fr. Was thut er [Jesus Christus] als Prophet? A. Er macht den Weg zur Seligkeit bekannt.“ Dort z.T. kursiv. 286 LAMPE, Milch, 51. 287 Vgl. ebd., 54. 288 Vgl. FREUDENBERG, Erkenntnis, 164. 289 LAMPE, Milch, 51. 290 Ebd. 291 Ebd., 52. 292 Ebd. 293 HEPPE / BIZER, Dogmatik, 357. So heißt es etwa bei J.H. A LSTEDT, Theologia scholastica didactica exhibens locos communes theologicos methodo scholastica, Hanoviae 1618, 574: „Functiones muneris prophetici sunt numero tres: 1) doctrinae propositio; 2) doctrinae propositae con284

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Die Wunder Jesu haben laut Lampe eine genuin eschatologische Funktion, indem sie „alle geistliche[n] Wohlthaten, welche sein Volck zu erwarten hat“294, abmalen. Der heilige Wandel und der beständige Tod werden als weitere Aspekte des prophetischen Amtes Christi vorbildchristologisch interpretiert. Lampe sieht demzufolge nicht nur in den alttestamentlichen Propheten die Vorbilder Jesu, sondern auch in Jesus Christus selbst das Vorbild schlechthin, ein „vollkommenes Beispiel“. Das Lehramt Christi wird demzufolge von Lampe explizit mit dem „heiligen Wandel“ Christi gekoppelt. So fragt Lampe: „Wie kan Christi heiliger Wandel auf eine andere Weise zu seinem Lehr-Amt gebracht werden?“295 Die Antwort, die Lampe sogleich gibt, lautet: „Weil derselbe ein vollkommnes Beyspiel giebet, dem alle Gläubige müssen nachfolgen.“296 Wenig später zitiert Lampe als dictum probans für den „beständigen Tod Jesu“ 1Petr 2,21: „Sintemahl auch Christus gelitten hat für uns, und uns ein Vorbild gelassen, daß ihr solt nachfolgen seinen Fußstapffen.“297 Auch das Leiden und Sterben Jesu haben somit vorbildlichen Charakter. Bei Lampe ist ein in reformiert-pietistischer Perspektive entfaltetes deutliches Interesse an den Konsequenzen der Lehre für das christliche Leben erkennbar.298 Die Implikationen, die etwa das prophetische Amt im Blick auf die äußere Gestalt des Lebens hat, werden gesehen, wenngleich man natürlich grundsätzlich fragen muss, ob sie in vorbildchristologischer Weise überhaupt hinreichend wahrgenommen und reflektiert werden können. In Lampes Erklärung des Heidelberger Katechismus zeigt sich jedenfalls exemplarisch: Zu Beginn des 18. Jahrhunderts scheint im reformierten Pietismus die Entsprechung von Christi heiligem Wandel und dessen Nachahmung – nicht Fortsetzung – bei den Gläubigen fester Bestandteil der katechetischen Literatur zu sein.299

Die Nachahmung Jesu kann freilich leicht zu einer Bedingung der Teilhabe am Heil stilisiert werden und in den von Graf (im Anschluss an Matthias ————— firmatio eaque per Scripturas V. T., per omnis generis signa et miracula, puta cordium inspectionem, arcanorum revelationem, futorum praedictionem, morborum curationem et denique per sanctissimam vitam summamque tolerantiam“. H. À DIEST, Theologia biblica, Daventriae 1643, 206: „Institutio illa fit tum externe, non solum viva voce eaque immediata et mediata, sed etiam exemplo et miraculis, tum interne per Spiritum sanctum administrata cum ante tum post carnem assumtam in statu partim exinanitionis partim exaltationis.“ 294 LAMPE, Milch, 52. 295 Ebd. Dort kursiv. 296 Ebd. 297 Ebd. 298 Darin zeigt sich nach FREUDENBERG (Trost, 215) „eine deutliche Weiterentwicklung der klassischen Katechetik“. 299 DERS., Amt, 83.

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Schneckenburger)300 so genannten „Heiligungsaktivismus“ münden. Man wird insofern durchaus fragen müssen, ob nicht der Tendenz nach „der neologischen ‚Revolution‘ Vorschub“ geleistet wird, „den prophetischhohepriesterlichen Weltenherrscher der Tradition zunehmend in einen tugendhaften Lehrregenten zu verwandeln, der den Seinen als exemplarisches Vorbild sittlicher Lebensführung dient.“301 Eine Politisierung des prophetischen Amtes jedoch kann bei Lampe, der wie das Widmungsschreiben (1722) an den reformierten Erbprinzen Friedrich Wilhelm von Nassau-Siegen zeigt, keineswegs unpolitisch bzw. politisch indifferent war, nicht nachgewiesen werden, da Christus von ihm eben nicht als homo politicus dargestellt wird. Genau dies wäre aber erforderlich, wenn man aus dem Imitationsgedanken auf eine damals generierte politisch-aktivistische Grundhaltung bzw. das Pathos einer selbstbewussten Weltgestaltung seitens des (pietistischen) Reformiertentums schließen wollte, wie Graf dies tut.

6. Zusammenfassung Die vorliegende Untersuchung hat bestätigt, dass es in der Tat wohl so ist, dass „die Betonung des Prophetischen im Leben der Kirche“302 zu den bestimmten Haltungen gehört, die man als spezifisch reformiert bezeichnen kann. Im Zürich Zwinglis und Bullingers besaßen die Pfarrer dem Rat gegenüber ein prophetisches Einspruchsrecht, für das Zwingli in seiner Hirtenschrift mit Emphase eintrat. Aber auch Bullinger und Calvin verhielten sich im Blick auf Herrschafts- und Sozialkritik keineswegs indifferent,303 wenngleich ihr Plädoyer weniger leidenschaftlich bzw. hitzig ausfiel als dasjenige des glühenden Eifers Zwinglis. Beide Reformatoren der zweiten Generation haben Zwinglis Erbe in entscheidender Weise transformiert und theologisch konsolidiert, indem sie nämlich das prophetische Amt auf die Schriftauslegung limitierten. Bullinger und Calvin begegneten so der Gefahr, die prophetische Verkündigung auf Herrschaft- und Sozialkritik zu reduzieren bzw. diese soziale Kritik unabhängig von bzw. nachträglich zur Schriftauslegung zu etablie—————

300 M. SCHNECKENBURGER, Vergleichende Darstellung des lutherischen und reformierten Lehrbegriffs Teil 1, hg. von E. Güder, Stuttgart 1855, 133–158. 301 GRAF, Munus, 92. 302 C. LINK, Zum Thema „Reformierte Identität“, RKZ 134, 1993, (344–350) 344. 303 Vgl. zu Bullinger: BÜSSER, Bullinger 1, 181–195; zu Calvin: H. SCHOLL, Die Kirche und die Armen in der reformierten Tradition, RKZ 124, 1983, 64–73; A. THIEL, In der Schule Gottes. Die Ethik Calvins im Spiegel seiner Predigten über das Deuteronomium, Neukirchen-Vluyn 1999, bes. 266–287.

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ren. Solche Nachträglichkeit erzeugt oft und bis in die Gegenwart hinein den Eindruck, als würden nachgeahmte säkulare Kritiken mit biblischen Feigenblättern oder Verstärkern versehen: Christian social critics would have less need for prophetic labels if there were not so much mimicry in their pronouncements. Christian prophets tend to forge their messages by clothing the ideas of their favourite secular social critics in religious garb.304

Bullinger und Calvin hingegen intendierten keine nachträgliche theologische Einfärbung von Sozial- und Herrschaftskritik, um ohnehin herrschende politische Trends zu forcieren. Gewiss ging es ihnen nicht darum, Zwinglis politisches Engagement schleichend zu untergraben oder generell zu verbieten, sondern vor einem möglichen Abtriften in eine der beiden gleichermaßen irreführenden Richtungen zu bewahren – sowohl in jene vernunftsblinde „Irrationalität“,305 vor der Honecker warnt, als auch in jene eigengesetzliche „Autonomie des Sittlichen“, die Honecker befürwortet. Vielmehr wollten Bullinger und Calvin christliches Engagement, das sich auch gesellschaftspolitisch einmischt, aus dem biblischen Zeugnis heraus entwickelt sehen. Sozial- und Herrschaftskritik kann es für sie theologisch nur als konsequente Schriftauslegung geben, da jener nur so wahrhaft prophetischer Charakter verliehen ist. Prophetie als Gegenwartsphänomen steht und fällt also nach ihrer Überzeugung mit der Bindung an die Schrift. Allen drei Theologen, Zwingli, Bullinger und Calvin, ist die Bindung des prophetischen Amtes an das Pfarramt gemeinsam. Ihnen war daran gelegen, dem prophetischen Amt einen institutionellen Freiraum zu verschaffen, um sozial- und herrschaftskritisches Engagement vom Worte Gottes her entwickeln zu können. Ob und inwiefern ihnen dies gelungen ist, kann man natürlich in Frage stellen.306 Hier ist freilich nicht der Ort, darüber zu entscheiden. Beim Calvin-Schüler Olevian manifestiert sich in seiner Interpretation des prophetischen Amtes der zaghafte und vorsichtige, über Calvin und Bullinger hinausgehende Versuch, ein „allgemeines Prophetentum aller Gläubigen“ zu etablieren, oder besser gesagt: zu einer prophetischen Ver—————

304 M. VOLF, The Church as a Prophetic Community and a Sign of Hope, EuroJTh 2, 1993, (9– 30) 15. Die Beobachtung J. STOUTs (Ethics after Babel. The Language of Morals and Their Discontents, Princeton / Oxford 22001, 163) trifft sicherlich auch auf verschiedene sich „prophetisch“ gerierende Spielarten christlicher Sozialkritik zu: „To gain a hearing in our culture, theology has often assumed a voice not its own and found itself merely repeating the bromides of secular intellectuals in transparently figurative speech.“ Stout warnt zu Recht: „There is no more certain way for theology to lose its voice than to imitate that of another.“ Ebd., 165. 305 Vgl. SCHOLL, Pfarramt, 39: „Reformation ist nicht ekklesiologische Narrenfreiheit, sondern ein am Ganzen des Wortes Gottes geschultes und gemessenes Formgefühl.“ 306 Mit Blick auf Zürich urteilt etwa E. BUSCH (Reformiert, 211) kritisch: „Die Kirche Zwinglis wurde in dem Moment zur Staatskirche, wo das pneumatisch-prophetische Wächteramt wegfiel.“

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kündigung der gesamten Kirche vorzustoßen, wobei er diesen Versuch kirchlich bzw. ämterbezogen kanalisiert wissen möchte. Bei Heidegger zeichnet sich als Vertreter der reformierten Orthodoxie die Tendenz ab, unter starker Bezugnahme auf Calvin die Lehre vom prophetischen Amt im Rahmen der Drei-Ämter-Lehre zu dogmatisieren, indem er sie bundestheologisch in den gesamten heilsgeschichtlichen Rahmen einspannt. Eine starke Bibelorientierung ist auch bei ihm ebenso wie bei Lampe als Vertreter des reformierten Pietismus erkennbar. Bei Lampe, der in seiner Auslegung des Heidelberger Katechismus die Dogmatisierung der Lehre vom prophetischen Amt in der reformierten Orthodoxie stark rezipiert, ist aber zugleich ein deutlicheres Interesse an den Konsequenzen der Lehre vom prophetischen Amt für das christliche Leben erkennbar. Dieses konfiguriert sich vor allem vorbildchristologisch. Eine zunehmende Politisierung, die ausgehend von Calvins Identifikation von Christus und Kirche mittels der Drei-Ämter-Lehre bewusst vorgenommen wurde oder schleichend voranschritt, lässt sich im reformierten Protestantismus von der Reformation über das konfessionelle Zeitalter hinweg bis in den Pietismus hinein nicht beobachten. Bereits Calvin nimmt keine solche Identifikation vor. Legt man das sozial- und herrschaftskritische Pathos Zwinglis in seiner Vehemenz zugrunde, so wird man eher von einer sukzessiven Drosselung seiner Lautstärke sprechen können. Das heißt freilich nicht, dass die besprochenen Vertreter der Reformation, der reformierten Orthodoxie und schließlich des reformierten Pietismus apolitische Menschen waren. Und es ging in der vorgelegten Studie keineswegs darum, sie posthum zu solchen zu stilisieren, sondern zu demonstrieren, dass ihre Konzipierung des munus propheticum keineswegs jene Spuren einer Politisierung aufweist, wie Friedrich Wilhelm Graf sie beschreibt. Graf begeht vor allem den Fehler, dass er die Lehre vom prophetischen Amt in dessen frühreformierten Ursprüngen nur im Schema der DreiÄmter-Lehre als klassisch christologischem Schema wahrnimmt. In der Zürcher Tradition wird dieses Lehrstück außerhalb dieses Schemas bzw. Referenzrahmens entwickelt, was freilich nicht heißt, dass sich die Zürcher dabei nicht an christologischen Titeln orientiert hätten. Die Zentralaussage, die sich in der Lehre vom prophetischen Amt artikuliert, blieb jedoch, unabhängig von ihrem Rahmen, im reformierten Protestantismus vor der Aufklärungszeit trotz aller Variationen dieselbe: „Prophetie heißt: auf die Schrift hören und achten und ihrem Zeugnis folgen.“307 ————— 307

E. BUSCH, Kirchenleitung im Genf Calvins. Ämtervielfalt unter dem einen Haupt, Jesus Christus, in: M. BÖTTCHER u.a. (Hg.), Die kleine Prophetin Kirche leiten. FS G. Noltensmeier, Wuppertal 2005, (57–66) 60.

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Calvins Lehre vom Bund und die Föderaltheologie

Föderaltheologie heißt „Bundestheologie“. Das Wort „Bund“ hat eine lange Geschichte seit dem Griechentum. „Bund“ bezeichnet gemeinhin einen gegenseitigen Beistand, der sich besonders als eine Schutzverbindung in gefährlichen Situationen zu bewähren hat. Es ist hier aber nicht allgemein davon die Rede, sondern von dem Gebrauch des Wortes in den Anfängen des reformierten Zweigs der Reformation und von Auswirkungen dieses Gebrauchs in der Theologie der Folgezeit. Das Wort hatte eine grundlegende Bedeutung im Werk der Zürcher Theologen Heinrich Bullinger und Leo Jud1 und ebenso in dem des Genfers Johannes Calvin. Die Bezeichnung war bei ihnen vor allem geprägt durch die Verwendung von „Bund“ in der Heiligen Schrift, besonders im Alten Testament. Das Wort hat hier einen eigenen Sinn: Es geht um den Bund des lebendigen Gottes mit seinem Volk. Zu Jes 55,3 bemerkt Calvin grundlegend, dass der hier genannte Bund „auf keinem anderen Grund als der reinen Güte Gottes ruht. So oft uns also in der Heiligen Schrift das Wort Bund begegnet, müssen wir zugleich an das Wort Gnade denken.“2 – Es sei jetzt in einem ersten Abschnitt vom Verständnis dessen bei Calvin gesprochen.

1. „Bund“ in der Erkenntnis Calvins Das Entscheidende ist hier, dass der Bund zwischen Gott und Mensch einseitig begründet ist. Er ist von Gott, von Gott allein begründet, ohne alle Mitwirkung von Menschen, denen dieses Geschehen nur eben widerfährt. Und dieses Geschehen ist freilich nicht der Vollzug eines autoritären Verhängnisses, sondern ist der Erweis von Gottes Güte gegenüber diesem Partner, der dessen nicht würdig ist, der das weder verdient hat noch zur Herstellung dieser Beziehung fähig ist, wie schon Calvins Notiz zu Jes 55 ausdrückt. Er schreibt in seiner Institutio: Der Bund, zu dem der Herr (zuerst die Juden) mit sich selber versöhnte, beruhte in keiner Weise auf ihrem Verdienst, sondern einzig und allein auf dem Erbarmen Got-

————— 1 2

Vgl. E. BUSCH, Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, 71–75. CO 37, 285 (Komm. zu Jes 55,3).

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Calvins Lehre vom Bund

tes, der sie berief […] Alles, was der Herr je seinem Volke Gutes getan und verheißen hat, (ist) aus reiner Güte und Barmherzigkeit geschehen.3

Und Gott erweist das so, sagt Calvin: „er steigt herab und tritt in ihre Mitte“4 und „Gott wird niemals von ihnen weichen“, und zwar ist das von solchen gesagt, die nicht den Schein von Heiligen haben, sondern: „Wir sehen doch die Gläubigen häufig fallen, und nicht zehnmal im Leben nur, sondern alle Tage.“5 In seinem späten Jeremia-Kommentar zieht Calvin aus dieser Erkenntnis eine wichtige Konsequenz: Weil dieser Gnadenbund mit seinem Volk nicht abhängt von der Würdigkeit oder Unwürdigkeit seiner Partner, darum kann und will Gott bei seinem Bundesbeschluss verharren. Darum schließt Gott mit seinem Volk nur einen einzigen Bund und vollzieht nicht mehrere Bundesschlüsse. Darum gibt sich Calvin Mühe, die Aussage Jeremias über einen neuen Bund auf diese Einsicht hin zurechtzulegen. Ja, sagt er: „Ihr müsst […] an Gottes Güte nicht den Maßstab eurer gegenwärtigen Lage anlegen, denn Gott will einen neuen Bund schließen.“ 6 Einen anderen Bund? Nein, sagt Calvin: Er wird nicht deshalb neu genannt, weil er anders beschaffen sei als der erste; denn „Gott steht nicht gegen sich selbst im Gegensatz […]“ Der einmal den Bund mit dem erwählten Volk geschlossen, hat seinen Plan nicht geändert, als hätte er sein erstes Versprechen vergessen. Der erste Bund war unverletzlich; schon vorher hatte Gott mit Abraham seinen Bund geschlossen. Und ist dieser Bund unverletzlich, so folgert Calvin, so ist es „ein ewiger Bund, den Gott am Anfang schloss.“ Der Bund wird in Ewigkeit kein anderer sein als der, zu dem Menschen von Mittag und Mitternacht herbeikommen und „mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tisch sitzen.“7 Doch was heißt dann die Rede von einem neuen Bund? Calvin antwortet darauf zunächst, dass der Bund der Substanz, dem Wesen nach immer gleich bleibt. Mit dem Neuen des neuen Bundes sei hingegen nur die Form des Bundes gemeint8, d.h. etwas, was sich auf das Gesetz bezieht, das zu diesem Bund gehört. Das Neue sei nach Jer 31,33 auch nicht, dass Gott ein anderes Gesetz geben will als das, welches er mit seinem Bund gegeben hat.9 Das Neue sei, dass Gott dasselbe einst den Vätern gegebene Gesetz nun den Menschen ins Herz schreiben will. Und dies ist nach Calvin das ————— 3 4 5 6 7 8 9

Inst. (1559), II,10,2. CO 38, 690 (Komm. zu Jer 31,32). CO 39, 43 (Komm. zu Jer 32,40). CO 38, 687 (Komm. zu Jer 31,31). Ebd. CO 38, 688. Ebd., 691 (Komm. zu Jer 31,33).

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Werk des Heiligen Geistes. Er ist die wirksame Macht Gottes, die in die Herzen eindringt und das Gesetz dort einbringt.10 Und was ist dabei das Werk des Sohnes Gottes? Calvin antwortet: Da das Evangelium nichts hinzufügt zum Gesetz, sofern es zur Substanz der Sache gehört, muss es die Form betreffen: Weil ja [im Alten Testament] Christus noch nicht offenbart war, schloss Gott [im Neuen Testament] einen neuen Bund, worin er durch seinen Sohn das unwiderruflich machte, was unter dem Gesetz schattenhaft angedeutet war.11

Versuchen wir den nicht leicht verständlichen Satz aufzuschlüsseln! Das Neue des Neuen Bundes ist dies, dass Gott durch den Sohn unwiderruflich machte, was Gott immer schon wollte und tat, seit dem Abraham-Bund. Aber es stünde dieser, durch die Sünde von Gottes Menschen gebrochene Bund doch in der Luft ohne dies, dass der Sohn Gottes ihn unwiderruflich macht. In Bezug auf dieses Geschehen ist das einst Geschehene nur eine schattenhafte Andeutung dessen. Und das in Kraft Setzen dessen vollendet sich eben in der Sendung des Heiligen Geistes, der das Gesetz ins Herz schreibt, d.h. nach Calvin: der die Herzen derart formt, dass das Gesetz Gottes dort die Herrschaft führt und die Herzen ihm zustimmen.12 Aber so sehr der Bund Gottes mit Menschen einseitig begründet ist, so sehr ist er, laut Calvin, auf Zweiseitigkeit angelegt. Er schreibt: „Wenn der Herr mit seinen Knechten einen Bund machte, so geschah das immer in der Weise: ‚Ich will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein‘ (Lev 21,12).“13 Man höre hier genau hin! Die Zweiseitigkeit dieses Bundes besteht also zuerst nicht daran, dass die beiden Partner sich gegenseitig auf ein Miteinander einigen. Die Zweiseitigkeit besteht darin, dass Gott auch über den Partner seiner Verbindung bestimmt. Das könnte als eine tyrannische Verfügung Gottes über das Volk verstanden werden, wenn nicht beachtet wird, dass Gott hier zuerst eben nicht über Andere, sondern über sich selbst bestimmt und sich damit unheimlich Schweres aufbürdet. Wie Calvin sagt: „Wenn Gott unser Gott ist, so will er unter uns wohnen, wie er es durch Mose bezeugt hat (Lev 26,12).“14 Aber indem Gott auf diese Weise über uns bestimmt, ist das gleichsam eine geöffnete Türe, durch die hindurch zu gehen uns erlaubt ist, um auch unsererseits zu erklären: Wir wollen sein Volk sein. Und so heißt es zu Jer 31,33: „Er will uns ein Vater sein, von dem wir alles Heil erbitten und erwarten sollen.“15 ————— 10 11 12 13 14 15

CO 38, 689 (Komm. zu Jer 31,32). Ebd., 688f. Ebd., 692. (Komm. zu Jer 31,33). Inst. (1559), II,10,8f. Ebd. Ebd.

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Dieses Sollen ist für Calvin auch ein Dürfen, aber doch auch ein Sollen. Darin steckt seine Antwort, die er auf die Frage nach dem Verhältnis von Evangelium und Gesetz gibt. Zu Ps 130 lesen wir bei ihm, dass von Gott seine Gnade nicht weggerissen noch getrennt werden kann, wie wenn der (Prophet) sagte: Sowie ich an dich denke, tritt auch deine Güte vor mich hin; […] und so glaube ich gewiss, dass du deswegen barmherzig bist, weil du Gott bist.16

Aber in dem Psalm heißt es näher: „Bei dir ist Vergebung, dass man dich fürchte!“ Dazu bemerkt Calvin an anderem Ort: dass der neue Bund aus zwei Gliedern besteht: Erst nimmt uns Gott zu Kindern an, verzeiht uns und vergibt uns unsere Schwachheiten, sodann regiert er uns mit seinem Geist […] [So] Ps 130,4: „Bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte!“ Denn es gäbe keine Furcht vor Gott, wenn man nicht vorher seine Güte kennen lernte.

Die Furcht Gottes ist ja „Gottes Werk und eine Gabe des Heiligen Geistes.“17 – Soweit zum Verständnis des Bundes als eines reinen Gnadenbundes Gottes mit seinem Volk nach Calvins Sicht.18

2. Die Föderaltheologie im 17. Jahrhundert Der Begriff foedus, Bund wurde im 17. Jahrhundert in der Nachfolge Calvins vielfach der Theologie zu Grunde gelegt, sie wurde zur Föderaltheologie. In den Niederlanden waren dafür Johannes Coccejus und Hermann Witsius bahnbrechend. Im Übergang der Orthodoxie zu Pietismus und Rationalismus hat sie überhaupt das protestantische Denken bewegt. Es regte sich in dieser Theologie ein enormes „Interesse für Geschichte“.19 Die verbreitete Kritik an ihr hat indes gemeint, dass sie in ihrem Resultat ungeschichtliches Denken heraufgeführt habe, das zu bekämpfen sie sich angeschickt hatte. Die These wird so belegt: Diese Theologie sei von zwei verschiedenen Bundesschlüssen Gottes ausgegangen: Der eine ist das foedus naturale, „Naturbund“, auch foedus legale oder foedus operum, „gesetzli-

————— 16

CO 32, 335 (Komm. zu Ps 130,4). CO 39, 44f. (Komm. zu Jer 32,40). 18 Zuweilen reden Texte der Heiligen Schrift auch von zweiseitig hergestellten Bündnissen zwischen Menschen. Wenn ich recht sehe, spielen diese Texte für die Bundestheologie keine Rolle, sondern „foedus“ wird hier schnell mit „amicitia“ (Freundschaft) gleichgesetzt, vgl. Calvin zu 1Sam 20,8: CO 30, 357. 19 A.F. STOLZENBURG, Die Theologie des Jo. Franc. Buddeus und des Chr. Matth. Pfaff. Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung in Deutschland, Berlin 1926, 324. 17

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cher oder Werkbund“ genannt.20 Der gilt als zweiseitig zwischen Gott und Mensch geschlossen. Denn der als Gottes Ebenbild geschaffene Mensch vermochte kraft seiner Vernunft von sich aus die mit dem zeitlos gültigen Naturrecht identische Verpflichtung Gottes zu erkennen und zu erfüllen. In der Tat ist gegenüber Calvins Bundestheologie nunmehr neu, dass jetzt von solchem Natur- und Werkbund geredet wird. Der „Gnadenbund“ sei dagegen mit dem in die Sünde gefallenen Menschen geschlossen. Er ist einseitig durch Gottes Gnade begründet. Er kommt durch den Tod Jesu Christi in der Form eines Testaments zustande. Sein Tod hat erlösende Bedeutung durch seinen Gehorsam gegen die nicht aufgehobene göttliche Forderung. Hier kommt der Mensch nicht mehr durch seine Werke, sondern durch den Glauben an diesen Mittler in die Gemeinschaft mit Gott. Nach Coccejus löst der zweite Bund den ersten ab. Der Gnadenbund ist anders als der Werkbund nicht auf einmal gegeben, sondern im zeitlichen Nacheinander. Darum wird vom Gnadenbund in der Form der Geschichte geredet. Nach einer verbreiteten Deutung, die auch Karl Barth favorisiert hat,21 bekam indes in der Föderaltheologie der dem Gnadenbund vorgeordnete Naturbund solches Gewicht, dass deren Rede vom geschichtlichen Gnadenbund durch die vom Naturbund verdrängt wurde. Nachdem man eine menschliche Fähigkeit, dem Naturbund zu genügen, behauptet habe, kämen alle Beteuerungen zu spät, damit sei seit dem Sündenfall nicht mehr zu rechnen. Nachdem dem Menschen die Stellung eines bündnisfähigen Partners neben Gott zugetraut war, sei die nachträgliche Behauptung nicht mehr einleuchtend, der Mensch sei nunmehr abhängig von dem aus unverdienter Gnade begründeten Bund Gottes. Das Resultat der Föderaltheologie sei also die Entgeschichtlichung im Verständnis der Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen. Doch fällt die Annahme schwer, dass ihre bundesgeschichtliche Theologie zu einem Denken geführt haben soll, das mit seinem zeitlosen Naturbegriff im Gegensatz zu dieser Theologie stand. Es soll nun dagegen die These vertreten werden: Die Argumente der Föderaltheologie für die Überholung des Werkbundes durch den Gnadenbund waren so gewichtig, dass in ihr vielmehr der Gnadenbund die zentrale Stelle einnahm. Der Föderaltheologie liegt an ihrer Deutung von „Natur und Gnade“ als einer zeitlichen Ordnung. Mag der Mensch im Werkbund ein zeitlos gültiges natürliches Gesetz von sich aus zu erkennen und zu erfüllen, so ist aber seit dem Sün—————

20 Vgl. G. SCHRENK, Gottesreich und Bund im älteren Protestantismus, vornehmlich bei Johannes Coccejus. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der heilsgeschichtlichen Theologie, Gütersloh 1923, passim, und: E. BUSCH, Der Beitrag und Ertrag der Föderaltheologie für ein geschichtliches Verständnis der Offenbarung, in: OIKONOMIA. Heilsgeschichte der Theologie, FS Oscar Cullmann, hg. von F. CHRIST, Hamburg 1967, 172–174. 21 K. BARTH, KD IV/1, 65f.

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denfall ein solcher Bund nicht mehr durchführbar. Daran lässt Coccejus keinen Zweifel, indem er den Vollzug der Stadien des Gnadenbundes in eins mit dem Vollzug von „Abschaffungen“, abrogationes, des Werkbunds darstellt.22 Und Witsius, den man für die These einer Entfaltung des Gnadenbundes aus dem Werkbund verantwortlich gemacht hat, lehrt vielmehr: Durch den Sündenfall sei die Gottebenbildlichkeit des Menschen so tief verdorben, dass kein Werkbund mehr mit ihm geschlossen werden kann. 23 Ihm folgen die späteren Föderaltheologen wie Abraham Heidanus, Wilhelm Momma, Johann Heinrich Heidegger, Johann Braun, Benedikt Pictet, Johann Heinrich Majus, Leonhard van Rijssen oder Johann Franz Buddeus.24 Die Menschheit sei derart in die Sünde gefallen, dass der Gnadenbund nur als Aufhebung des Werkbundes aufgefasst werden könne. Der Werkbund sei wie für den Menschen, so auch für Gott überholt. Ja, wenn Heiden Gott erkennen, seien sie von seiner Gnadenoffenbarung bewegt. Darum lassen einige dieser Theologen, wie bereits Heidanus, den Gedanken eines anfänglichen Werkbundes gänzlich fallen. Würden die Föderaltheologen dem Werkbund Übergewicht gegenüber dem Gnadenbund zuschreiben, so würde sich das in der Wertung des Alten Testaments zeigen. Grundsätzlich gehört aber für sie das Alte Testament zum Gnadenbund. Coccejus rückt das Alte in die Nähe des Neuen Testaments, um die Lehre von der stufenweise erfolgenden Abschaffung des Werkbundes seit dem Sündenfall einleuchtend zu machen. Seine Nachfolger betonen erst recht den Gegensatz des Alten Testaments zum Werkbund. Sie behaupten die gesetzliche Verfassung des Alten Testaments und bestreiten dennoch sein Verständnis als gesetzlichen Bund. Das Protevangelium in Gen 3,15 genügt ihnen, das ganze Alte Testament, auch den Sinaibund, als Gnadenbund zu verstehen. Nur in einer Hinsicht bestätigt nach der Föderaltheologie der Gnadenbund den Werkbund. Bedeutet das, dass die Lehre vom Gnadenbund also doch durch die vom Werkbund beherrscht war? Nein, das unterstreicht erst ————— 22

J. COCCEJUS, Summa Doctrina de Foedere et Testamento Dei, Frankfurt a.M. 1703, § 58. Vgl. von ihm auch schon seine Summa Theologiae ex scripturis repetita, Amsterdam 1669. 23 H. WITSIUS, De oeconomia foederum DEI cum hominibus, Leovardiae 1685, 98. Vgl. ebenfalls sein Werk Miscellanea Sacra II, Lugduni Batavorum 1736. 24 Vgl. nachfolgend eine Auswahl von deren Hauptwerken: A. HEIDANUS, Corpus Theologiae Christianae, Lugduni Batavorum 1686; W. MOMMA, De varia conditione & statu Ecclesiae Dei sub Triplici OECONOMIA; patriarcharum, ac Testamenti veteris, & denique Novi Libri Tres, Frankfurt 1698; J.H. HEIDEGGER, Medulla Theologiae christianae, Zürich 1696; J. BRAUN, Doctrina foederum sive Systema theologiae Didacticae & Elencticae, 2. Aufl., Amsterdam 1691; B. PICTET, Theologia Christiana, (Genf) 1696; J.H. MAJUS, Oeconomia temporum novi Testamenti, exhibens Gubernationem Dei in ecclesia ab adventu Messiae usque ad finem Mundi, Frankfurt 1708; L. VAN RIJSSEN, Summa theologiae didactico-elencticae, Bern 1703; J.F. BUDDEUS, Historia ecclesiastica V.T., 3. Aufl., 1726, I; DERS., Compendium institutionum theologiae dogmaticae, Frankfurt / Leipzig 1748.

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recht die Gültigkeit des Gnadenbundes. Denn der Bezug auf den Werkbund im Gnadenbund gilt nur darum, weil der göttliche Mittler an der Stelle der Menschen der Gerechtigkeit Gottes Genüge tut. Und, so Witsius: in dieser Stellvertretung liegt der Hauptunterschied dieser Bünde.25 Dass der Mittler den Werkbund erfüllt hat, bedeutet ja, dass der Mensch ihn nicht erfüllen kann und – muss. Das macht deutlich, dass der Bund praktisch als ein einseitig ausgestelltes „testamentum“ vollstreckt wird. Der Mensch kann nur im Vertrauen auf das Werk des Mittlers dem Willen Gottes gemäß leben. Was ihn in Gemeinschaft mit Gott bringt, empfängt er im Glauben als Geschenk. Und auch wenn Gott den Werkbund durch den Gnadenbund außer Kraft setzt, widerspricht er sich nicht. Er lässt seine Gnade nicht in Preisgabe seiner Gerechtigkeit in Kraft treten. Wäre die Föderaltheologie an der Zweiseitigkeit des Bundes zwischen Gott und Mensch im Sinn einer Gleichheit der beiden Beteiligten interessiert, so müsste das den Gnadencharakter des Bundes einschränken. Tatsächlich betont sie aber, dass die Initiative in diesem Bund allein Gott zukommt. Er sei nach Art eines Testaments zustande gekommen. Menschen sind darin aufgenommen allein aufgrund des ewigen Ratschlusses Gottes und dessen Bestätigung im stellvertretenden Tod Christi. Für sie ist das ein unverdientes Geschenk. Der Mensch als Partner in Gottes Gnadenbund ist ein unwürdiger Widerpart Gottes. Auch insofern er darin gute Werke tut, ist er im Gnadenbund Partner nicht wegen dem, was er vermag, sondern wegen dem, was er empfängt. Von da aus ging diese Theologie aber nun über von der Orientierung an dem aus Gnaden geschlossenen foedus zu der an der oeconomia26, gemeint ist die Austeilung dieser Gabe an die Menschen. „Ökonomie“ bezeichnet zugleich die Einstellung der Bundesgabe Gottes auf die Situation der Menschen. Mit den verschiedenen Ökonomien des Gnadenbundes war zunächst nur der Unterschied der beiden Testamente gemeint. Der in Christus zusammengefasste Gnadenwille Gottes galt als die Substanz der Ökonomien. Es war ein christliches Zeugnis inmitten einer sich dem Rationalismus öffnenden Zeit, dass die Föderaltheologie damals ihre Aufmerksamkeit auf den Gnadenbund Gottes mit den Menschen ausrichtete und dass sie dazu die Bibel aufschlug und von da aus dann in die menschliche Geschichte blickte. Es soll nicht vergessen werden, dass sie ihren Zeitgenossen dieses christliche Zeugnis gegeben hat. Allerdings gab es dabei auch Problematisches. Wollte sie es nicht herbeiführen, so hat sie es doch herbeigeführt. Die orthodoxen Reformierten ————— 25

WITSIUS, De oeconomia foederum, 7. Johann Heinrich Majus spricht schon im Titel seines Werks von „Oeconomia temporum“, vgl. Anm. 24. 26

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spürten es bald, so wurde beispielsweise Heidanus noch in seinem Alter wegen Neigung zu den verpönten Remonstranten abgesetzt. Wo begann das Problem der Föderaltheologie fassbar zu werden? Dass Gott sich dem Menschen in Gnade zuwendet, heißt in der Sicht dieser Theologie: Es gehört zur Gnade in Gottes Vorgehen, dass er sich in philanthroper Weisheit auf die Befindlichkeiten des Menschen einstellt und mit ihm in Herablassung (synkatabasis) und in Anpassung (accomodatio) an seine begrenzte Fassungskraft verfährt.27 Weil aber die menschlichen Befindlichkeiten nicht ständig dieselben sind, bekundet sich die Weisheit Gottes 1. darin, dass er zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Gestalten den Menschen offenbar wird. Und weil der Mensch nicht die ganze Absicht Gottes auf einmal fassen kann, besteht Gottes Weisheit 2. darin, sich nach und nach zu offenbaren und so mit dem Menschen pädagogisch vorzugehen. In der Folge dieser beiden Thesen wandelte sich die Föderaltheologie zu einem historischen Denken. Nach der ersten Seite vollzog sich das so: Der Ökonomiegedanke schärfte den Blick für die Verschiedenheiten der Wahrnehmung der Offenbarung. Mit seiner Sicht des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament knüpfte Coccejus wohl an die älteren Reformierten an, aber dabei schlich sich ein Wandel des Denkens ein: Während man zuvor die Zeit vor und nach der Erscheinung Christi unterschied, hingen nun die Unterschiede der Epochen mit dem verschiedenen Fassungsvermögen der Menschen zusammen. Die beiden Testamente sind also dem jeweiligen Adressaten angepasst: dort einer knechtischen, ängstlichen, sinnlichen, hier einer freien, zuversichtlichen, geistigen Verfassung des Menschen.28 Die Nachfolger von Coccejus gingen hier weiter: Eine Ökonomie hat die Aufgabe, dem Menschen die Offenbarung nahe zu legen. Sie leistet das durch ihre Anpassung an seine Situation und sein Fassungsvermögen. Ändern sich seine Umstände, dann wird auch die an sie angepasste Ökonomie hinfällig. Dann wird die an ihre Stelle tretende neue Ökonomie durch das Erfordernis der neuen Umstände bestimmt. Die eine Offenbarung wandelt sich also nun in eine Geschichte von Offenbarungen. Konnte man jetzt nicht zum Erweis der Lebendigkeit der Offenbarung diese in eine fragwürdige Beziehung zu einem an die Mächte der Zeit anpasserischen „Gebot der Stunde“ bringen? Jedenfalls beginnen Föderaltheologen in der Zeit nach Coccejus, eine wachsende Vielfalt von Ökonomien (deutsch: Haushaltungen) anzunehmen. In diese Richtung tut dann Witsius einen wichtigen Schritt: Er versteht den Wandel von der alten zur neuen Ökonomie als einen in kleinen Stufen er————— 27

Vgl. HEIDANUS, Corpus Theologiae Christianae, II, 3, oder VAN RIJSSEN, Summa theologiae, 281. 28 COCCEJUS, Summa doctrinae de Foedere, §§ 325ff. § 330.

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folgenden Übergang. So kann er innerhalb der Ökonomien der beiden Testamente eine größere Zahl verschiedener, sich ablösender Perioden eruieren. Abraham Heidanus, bei dem der Gedanke eines Naturbundes auf die Seite geschoben ist, spricht dann direkt aus, dass die Offenbarung „verschieden (ist) je nach Zeit, Ort, Verstand und Verfassung der Menschen“.29 Auf dieser Linie kommt es dann zur These der individuell verschiedenen Situationen der Deutlichkeit der Offenbarung, aber auch zum relativierenden Gedanken der Unverbindlichkeit einer Ökonomie für eine andere. Als in der Zeit der Aufklärung Sigismund Baumgarten darlegt, dass in der „äußern Haushaltung der gesamten Kirche GOttes […] die Abwechselungen verschiedener Zeitläufe […] unleugbar und nothwendig gewesen“ seien,30 sind ihm die Augen für die kritische Tragweite des Verständnisses der göttlichen Ökonomie als Anpassung der Offenbarung an die Situationen des Menschen aufgegangen. Sie liegt darin, die historische Bedingtheit der Religion, die Vergänglichkeit ihrer Auffassungen und das Problem der Individualität in ihrer Unwiederholbarkeit bewusst gemacht zu haben. Die zweite Seite der Auflösung der Bundestheologie: Der Ökonomiegedanke hatte in der Föderaltheologie auch ein zielgerichtetes Gepräge. Demnach beweist sich Gottes Weisheit in seinem Umgang mit der Menschheit nicht schon in der Verschiedenheit der Ökonomien, sondern erst recht in der Zunahme der Klarheit der Offenbarung. Das folgerte man aus der These, nach der Altes und Neues Testament im komparativen Verhältnis eines dunklen und hellen Grades der ihnen gemeinsamen Offenbarung zusammengehören.31 Wenn die Offenbarung in Israel beschränkter ist als im Neuen Testament, so liegt das an ihrer Anpassung an die beschränktere Verfassung des Menschen. Darum hat jene Ökonomie eine gesetzliche Struktur. Aber insofern sie so doch dem Gnadenbund zugehört, ist sie durch den Zweck charakterisiert, ein besseres Begreifen des Gnadenbundes vorzubereiten. Die Ökonomien wirken erzieherisch. Wenn es im Neuen Testament zu einer klareren Offenbarung kommt, so auch darum, weil die vorherige Ökonomie ihr erzieherisches Ziel erreicht hat. Ist die Offenbarung im Neuen einleuchtender als im Alten Testament, so geschieht das dem entsprechend, dass nunmehr der Mensch ein gebildeteres Auffassungsvermögen besitzt. Der infantile Mensch des Alten ist im Neuen Testament erwachsener geworden. Der Gedanke drängt sich nun auf, dass der Fortschritt der Offenbarung und der des Menschen auch über die neutestamentliche Zeit hinaus weiterge————— 29 30

HEIDANUS, Corpus Theologiae Christianae, II, 5f. In seiner Vorrede zu G. ARNOLD, Wahre Abbildung Der Ersten Christen, 6. Aufl., Leipzig

1740. 31

Vgl. Anm. 28.

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hen. Er verbindet sich mit einer Schau, in der prophetische Bibeltexte auf den Fortgang und Abschluss der Kirchen- und Weltgeschichte gedeutet werden. So etwa Campegius Vitringa oder Johann Albrecht Bengel in seinem „Ordo Temporum“.32 Dahin führt der Gedanke, dass die Offenbarung Gottes sich „nach und nach“ vollzieht. Sie wird nun verstanden als Erziehung eines durch alle Generationen sich fortsetzenden „Menschengeschlechts“. Der Zunahme der Klarheit der Offenbarung entspricht die Abnahme ihrer partikularen Beschränktheit. Die Gnade Gottes wird dabei aufgefasst als ein Zuwachs zum menschlichen Vermögen. Betont man, dass im Lauf der Offenbarung eine jede Stufe der Wahrnehmung von ihr der früheren Stufe überlegen sei, so droht eine Aufteilung des „gerecht“ und des „Sünder“ auf verschiedene Zeitalter und ein stetes Hinauswachsen über die Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders hinaus. Ich nenne nun zwei Gestalten, welche die Föderaltheologie so aufgriffen, dass sie diese an ihr Ende führten: Johann Salomo Semler und Gotthold Ephraim Lessing. Semler will in der Ökonomie, d.h. in der „Haushaltung Gottes in der Menschenwelt“ den Grund dafür sehen, dass es im Bereich der Religion „geradehin unvermeidlich“ eine unendliche Variabilität gebe. Die geheime Weisheit Gottes sorge zwar dafür, dass der ständige Wechsel der menschlichen Situationen „nach Zeit und Ort“ dahin führe, moralisch „immer weiter [zu] kommen“.33 Für unsern Blick aber steht ein Christ mit einem anderen nie auf derselben Stufe. Ja, es werden die Begriffe im Glauben des Einzelnen „nach unzähligen Stuffen unendlich fort entwickelt“.34 Semlers Empfehlung, in der Theologie die „Haushaltungskunst“ zu beachten, bedeutet daher, dass wir in unserer Zeit und Umständen uns nicht mehr an die Stelle der ersten Christen setzen können; die Bibel habe großenteils kat'oikonomian, d.h. in einer „vorübergehenden Absicht“ zur „Erziehung der alten Zeiten“ geredet; diese Aussagen gehören aber nicht zu den „unaufhörlichen Theilen der christlichen Lehre“.35 Damit wendet sich Semler gegen „die“ Kirche: Sie behaupte das Illusionäre, dass der Lehrinhalt der Religion „derselbe immer fort seyn müsse“; und es könne durch seine Formulierung die Bedingung der Teilnahme an der Religion angegeben werden.36 Mit dem Ökonomiegedanken verneint Semler eine Bekenntnis-Formulierung des christlichen Glaubens. Er stellt ja die Frage, was aus dem Historischen für uns heute verbindlich sein kann. —————

32 C. VITRINGA, Anakrisis Apocalypsios Joannis Apostli, Franeker 1705; J.A. BENGEL, Ordo Temporum a principio per periodos oeconomicae divinae historicas atque propheticas ad finem usque, Stuttgart 1741. 33 J.S. SEMLER, Neue Versuche, die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklaren, Leipzig 1788, 4 und 9. 34 Ebd., 67f. und 72. 35 J.S. SEMLER, Lebensbeschreibung von ihm selbst angefasst, Halle 1782, II, 151 und 174. 36 SEMLER, Neue Versuche, 63 und 31f.

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In der anderen Richtung führt Lessing die Föderaltheologie fort. Er weiß um seine Anlehnung an die Lehre von den göttlichen „Ökonomien“, wenn er „die Offenbarung als eine Erziehung des Menschengeschlechts“ deutet.37 Auch er sieht es in der Schwachheit der Menschen begründet, dass Gott sich nach weisem Plan in einem stufenweise aufsteigenden Vorgehen offenbart und sich dabei nach dem jeweiligen Fassungsvermögen der Menschen richtet,38 – zunächst nach der knechtischen, sinnlichen, beschränkten Verfassung Israels, dann nach der seit Christus mehr geistigen Verfassung der dem Kindesalter entwachsenen Menschheit.39 Die Offenbarung wird ihr Ziel erreichen, wenn die Erziehung des Menschengeschlechts zu ihrem Abschluss fortgeschritten ist. Dann ist der Mensch zur völligen Selbstbestimmung durch seinen erleuchteten Verstand gebildet.40 Hieran konnte dann einmal Ludwig Feuerbachs Religionskritik anknüpfen. Man hat den Versuch Lessings zur Zusammenfassung von Rationalem und Historischem als einen den Rationalismus überwindenden Entwurf gelobt. Er habe damit das Recht der positiven Religion gegenüber einer rein vernünftigen Naturreligion verteidigt. Aber was ist es mit der „positiven Religion“ Lessings? Offenbar sah er den Sinn der Offenbarung, statt im Erweis der Macht und Güte Gottes, darin, Wege zur Vervollkommnung der Fähigkeiten der Menschen zu zeigen. Die Idee einer Höherentwicklung der Menschheit durch ihre „Erziehung“ führt schon Lessing dazu, ein Hinauswachsen der Menschheit auch über Christus und seine Gnade anzunehmen.41 Wer heute einen „Paradigmenwechsel“ zu einem Zeitalter des Geistes ausruft, sollte an Lessing denken. Es zeigt, wie leicht sich der Gedanke von der fortschreitenden Offenbarung in den vom Fortschritt der Menschheit umwandelt. Man wollte zunächst das Rechte sagen, dass sich Gott der Schwachheit des Menschen anpasst. Aber man sagte es in unheilvoller Weise so, dass der Mensch eine Macht zugesprochen bekam, nach der sich Gott richten sollte.

3. Zum Verhältnis von Calvins Bundesbegriff und der Föderaltheologie Man ist verantwortlich für das, was man auslöst. Die Reformatoren sind verantwortlich auch für die Unheilsgeschichte in ihrem Gefolge. Gilt diese Wahrheit auch im Blick auf die Geschichte und das Schicksal der Bundes————— 37 38 39 40 41

G.E. LESSING, Erziehung des Menschengeschlechts, Berlin 1780, § 3. Ebd., §§ 5, 16, 17. Ebd., §§ 19, 23, 55, 83. Ebd., §§ 80, 85. Ebd., § 88.

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Theologie? Es ist richtig, dass Johannes Calvin mit seiner Hervorhebung des Wortes „Bund“ gleichsam einen Stein ins Wasser geworfen hat, der dann Kreise um sich aufgewühlt hat, Kreise, die sie immer weiter verbreiteten und schließlich verebbten. Calvin trägt Verantwortung auch für das, was er mit dem Bundesbegriff in der Folge ausgelöst hat. Doch hat das Bild seine Grenze darin, dass wir hier doch nicht einfach von einer kausalmechanischen Wirkung reden dürfen. Damit man nicht sage, wie es bei Jeremia und Ezechiel heißt: „Unsere Väter haben saure Trauben gegessen und uns sind die Zähne davon stumpf geworden“!42 In der Geschichte, in der sich der Begriff foedus zu einer veritablen Föderaltheologie ausdehnte und dann in der aufklärerischen Denkweise zum Stillstand kam, gab es ja Wandlungen, für die Calvin nicht haftbar zu machen ist. Wir sollten daraus nicht schließen, dass der Ansatz falsch ist. Er ist in Ehren zu halten: Gott will Partner des Menschen und der Mensch darf und soll Partner Gottes sein. Und das ist begründet allein in der Gnade der Zusage Gottes: „Ich will ihr Gott und sie werden mein Volk sein“ (Jer 7,23; 31,33; 32,38; Ez 36,28). Calvin sagt zu Jer 11,5: „Königsbefehle sind einsilbig.“43 Aber der in der Bibel bezeugte Gott erteilt nicht solche Befehle, eben weil er gnädig ist. Ja, er steigt herab zu den Menschen und verbindet sein Gesetz mit Verheißung. Er bindet sich an den, den er zu seinem Partner erwählt. Und er zielt bei seinem Gegenüber auf eine Partnerschaft in Mündigkeit. Das hat Calvin klar zu machen versucht, und er hat damit gezeigt, dass beides zusammengehört und beides zusammenzudenken ist: Gottes reine Gnade und die menschliche Verantwortung. Und der dafür von ihm benutzte Begriff des Bundes hat weit hineingewirkt in den Bereich der Theologie der Folgezeit. Er hat sich als fruchtbar erwiesen, weiter darüber nachzudenken und ihn anzuwenden. Es gab dabei dann aber eine Veränderung und eine Abweichung Aus einer Erkenntnis oder aus einem Leitbegriff wird ein Prinzip, eben: aus dem Bemühen um das Verständnis des foedus eine Föderaltheologie. Wenn in der christlichen Theologie ein Begriff so über alle anderen gestellt wird, muss sie auf der Hut sein, dass sie dann nicht ausgleitet. Sie hat sich dann ganz besonders den goldenen Satz des Kirchenvaters Hilarius einzuprägen: Non sermoni res, sed rei sermo subjectus est.44 Das heißt frei übersetzt: Eine Sache ist nicht unseren Auffassungen von ihr unterworfen, sondern unsere Auffassungen sind dieser Sache unterworfen. Das nun auf unser Thema übertragen: Was der Bund Gottes mit seinem Volk und mit uns ist, das haben wir nicht aus dem Begriff „Bund“ abzuleiten, sondern der dabei ————— 42 43 44

Jer 31,29 und Ez 18,2. CO 38, 101 (Komm. zu Jer 11,5). Hilarius von Poitiers, De Trinitate, 4, 14.

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verwendete Begriff „Bund“ hat der Bezeichnung des wunderbaren Geschehens zu dienen, von dem die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments Zeugnis gibt. Es ist das Geschehen, in dem sich der Gott Israels, der Vater Jesu Christi verbunden hat mit seinem Volk und dann mit der Menschheit. Im Lauf der Ausbreitung der Föderaltheologie haben sich die Gedanken mehr und mehr davon abgewendet. Der Bruch lässt sich genau markieren. Der trat ein, als die Zeiten nicht mehr auf Christus hin und von Christus her verstanden wurden, sondern das jeweilige Fassungsvermögen der Menschen als der Maßstab für die Vorgänge in der Geschichte angenommen wurde. Und dieser Wechsel hing ziemlich genau zusammen mit dem Wechsel, in dem das wesentliche Interesse sich nicht mehr auf den Bund Gottes mit den Menschen richtete, sondern auf dessen Ökonomien, wir könnten ruhig übersetzen: auf die Zuträglichkeit des Tuns Gottes für die verschiedenen Menschen. Und in der Konzentration darauf verlor man mehr und mehr aus den Augen aus dem Sinn, was einen Reformator wie Johannes Calvin so beeindruckt hatte – also die Zusage Gottes: „Ich will ihr Gott sein und sie werden mein Volk sein.“ Aber eine rechte Reformation steht unter der Verheißung, dass diese wunderbare Zusage uns nicht aus den Augen, aus dem Sinn kommen muss, sondern dass sie uns erneut zu den Augen und in den Sinn kommen darf.

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Ilka Werner

„Die Reformation geht noch fort!“1 Zur Theologie Friedrich Schleiermachers und Johannes Calvins

Friedrich Schleiermacher (1768–1834) selbst hat sich der reformierten Tradition zugehörig gefühlt.2 Umfassende Calvinstudien haben zwar nicht zu seiner Ausbildung und Lehrtätigkeit gehört3, aber gelegentliche Hinweise weisen ihn doch als ordentlichen Kenner zumindest der Institutio aus.4 Das Studium seiner Calvin-Rezeption wird durch die wechselnden Perspektiven der nachfolgenden Theologie auf sein eigenes Werk kompliziert. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gilt Schleiermacher ganz selbstverständlich als reformierter Theologe in der Nachfolge Calvins. Unbefangen kann etwa der Elberfelder Pfarrer J. Neuenhaus in den Calvin-Studien 1909 zum 400. Geburtstag des Reformators eine Sprache benutzen, die deutlich von Schleiermachers Terminologie geprägt ist, und vom „starken Gottesbewußtsein“ Calvins sprechen, die Institutio „Glaubenslehre“ nennen und in der „schlechthinnigen Abhängigkeit“ den Grund finden, auf dem Calvins ganze Theologie ruht.5 Die Neuorientierung der deutschsprachigen refor—————

1 F. SCHLEIERMACHER, Gespräch zweier selbst überlegender evangelischer Christen über die Schrift: Luther in Bezug auf die neue preußische Agende. Ein letztes Wort oder ein erstes, in: KGA 1. Abt. Bd. 9 Kirchenpolitische Schriften, hg. von G. MECKENSTOCK unter Mitwirkung von H.-F. TRAULSEN, Berlin 2000, (381–472) 471,31. 2 Vgl. F. SCHLEIERMACHER, An Herrn Oberhofprediger D. Ammon über seine Prüfung der harmsischen Sätze (1818), in: KGA 1. Abt. Bd. 10, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. von H.-F. TRAULSEN unter Mitwirkung von M. OHST, Berlin 1990, (17– 92) 32,29f.; F. SCHLEIERMACHER, Über die Glaubenslehre. Zwei Sendschreiben an Lücke (1829), in: KGA 1. Abt. Bd. 10, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. von H.-F. TRAULSEN unter Mitwirkung von M. OHST, Berlin 1990, (307–394) 337 (im Folgenden: Sendschreiben). 3 In der Biographie von Nowak finden sich keine signifikanten Verweise auf Calvinlektüre – allerdings auch nicht auf Lutherstudien, vgl. K. NOWAK, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002. 4 Der Rauchsche Auktionskatalog weist Schleiermacher als Besitzer der Institutio in einer Leidener Ausgabe von 1654 und der Opera omnia Calvins in 9 Bänden, erschienen in Amsterdam 1667–1671, aus. Daneben besaß er einige reformierte Bekenntnisschriften, vgl. SchlAr 10, Schleiermachers Bibliothek, Bearbeitung des faksimilierten Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, bearbeitet von G. MECKENSTOCK, Berlin / New York 1993, 162 (399. 400). 167 (462). 211f. 5 J. NEUENHAUS, Calvin als Humanist, in: Reformierte Gemeinde Elberfeld (Hg.), CalvinStudien. FS zum 400. Geburtstag Johannes Calvins, Leipzig 1909, 1–26; I. WERNER, Calvin und Schleiermacher im Gespräch mit der Weltweisheit. Das Verhältnis von christlichem Wahrheits-

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mierten Theologie nach dem ersten Weltkrieg dagegen vollzieht sich als Hinwendung zur Reformation und Abwendung von Schleiermacher, dessen Theologie entsprechend nun als Gegenpol zur reformatorischen Theologie erscheint. Schleiermacher habe nur als reformierter Theologe gelten können, weil zuvor seine Grundgedanken und -begriffe in die Theologie Calvins zurückprojiziert worden seien.6 Die Calvin- und die Schleiermacherforschung entwickeln sich in verschiedene Richtungen. In der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur wird die theologische Orientierung am einen Wort Gottes und die Ablehnung jeder natürlichen Theologie zum identity marker der reformierten Theologie und verstellt den offenen Blick sowohl auf Teile der Theologie Calvins wie auch auf Schleiermachers Bezüge auf die reformierte Tradition. Erst in neuerer Zeit liegen Studien vor, die sich explizit dem Verhältnis von Schleiermacher und Calvin widmen.7 Der folgende Beitrag skizziert, inwiefern Schleiermacher selbst seine Theologie als Bearbeitung einer seit der Reformation gestellten Aufgabe begreift und welche aufschlussreichen Parallelen, aber auch welche signifikanten Unterschiede zur Theologie Calvins sichtbar werden.

1. Der ewige Vertrag zwischen Glauben und Wissenschaft Im übrigen versteht man die Theologie einer vergangenen Epoche […] nur dann, wenn man selber von dem Sachproblem, mit dem sie es zu tun hatte, berührt ist und in irgendeiner Weise vor ähnlichen oder vergleichbaren Entscheidungen steht, wenn man also die dort begonnene Aufgabe zu seiner eigenen Sache macht.8

————— anspruch und allgemeinem Wahrheitsbewusstsein, Neukirchen-Vluyn 1999, 131; A. HUIJGEN, Calvinrezeption im 19. Jahrhundert, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (480–490) 482. 6 Vgl. W. NIESEL, Schleiermachers Verhältnis zur reformierten Tradition, ZZ 8, 1930, (511– 525) 517. Nach A. HUIJGEN (Calvinrezeption, 482) vermeidet Otto Weber in seiner in den 1930er Jahren erarbeiteten Übersetzung der Institutio mögliche Anklänge an Schleiermacher und übersetzt bewusst „Anhängigkeit“, statt den Begriff Abhängigkeit zu verwenden. 7 Vgl. die Arbeiten von B. Gerrish, D. de Vries; es gibt auch einige Studien zum Verhältnis von Schleiermacher – Luther (vgl. WERNER, Calvin und Schleiermacher, 130; B. GERRISH, From Calvin to Schleiermacher. The Theme and the Shape of Christian Dogmatics, in: K. SELGE (Hg.), Internationaler Schleiermacher-Kongreß: Berlin 1984. Teilband 2, SchlAr 1, Berlin 1985, (1033– 1051) 1033ff.). Allerdings bleiben diese Studien ohne großen Einfluss auf die SchleiermacherForschung, so fehlt z.B. in E. HERMS Schleiermacher-Studien „Menschsein im Werden“ (Tübingen 2003) im Register der Name Calvins. 8 C. LINK, Streitbare Theologie (2009), in: DERS., Prädestination und Erwählung. CalvinStudien, Neukirchen-Vluyn 2009, (3–29) 5.

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Friedrich Schleiermacher begreift seine eigene Zeit und die Reformation als zur selben Epoche gehörig9 und beschreibt die vordringliche Aufgabe dieser Epoche als die Verhältnisbestimmung von christlichem Glauben und wissenschaftlicher Forschung. Im zweiten Sendschreiben an Lücke schreibt er: Wenn die Reformation, aus deren ersten Anfängen unsere Kirche hervorgegangen ist, nicht das Ziel hat, einen ewigen Vertrag zu stiften zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelassenen, unabhängig für sich arbeitenden wissenschaftlichen Forschung, so daß jener nicht diese hindert, und diese nicht jenen ausschließt: so leistet sie den Bedürfnissen unserer Zeit nicht Genüge, und wir bedürfen noch einer andern, wie und aus was für Kämpfen sie sich auch gestalten möge. Meine feste Überzeugung aber ist, der Grund zu diesem Vertrage sei schon damals gelegt, und es tue nur not, daß wir zum bestimmteren Bewußtsein der Aufgabe kommen, um sie auch zu lösen.10

Schleiermachers entscheidender Beitrag zum „bestimmteren Bewußtsein dieser Aufgabe“ liegt darin, den „lebendigen christlichen Glauben“ jenseits der Reduktion auf Moral oder der Abstraktion in der metaphysischen Spekulation selbstständig als persönliche innere Überzeugung zu beschreiben. Seine wenigen Äußerungen zu Calvins Institutio machen deutlich, dass er darin genau dieses findet: Ja, da Sie Calvins Institutionen rühmen, gestehe ich Ihnen, sie sind mir auch deswegen ein unschäzbares Buch, weil gerade bei den verwickeltsten Materien Calvin nie unterläßt auf die damit zusammenhängenden religiösen Empfindungen Bezug zu nehmen.11

Ähnlich begründet er an anderer Stelle den ausgezeichneten Rang, der den Institutionen auch im Vergleich gebührt: Wir finden bei einer schärferen Methode und einem größeren systematischen Zusammenhang als in den locis auch eine innigere Verbindung zwischen dem wissen-

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9 So geht es aus seiner Vorlesung zur Kirchengeschichte hervor. Schleiermacher „believed that the Protestant reform had established the church situation in which his own age still lived“ (B. GERRISH, The Old Protestantism and the New. Essays on the Reformation Heritage, Chicago 1982, 180). Bestimmt ist die Epoche der andauernden Reformation in erster Linie durch das Hervortreten des protestantisch-katholischen Gegensatzes und die Selbsterkenntnis des Protestantismus als der Konfession, die durch eine eher demokratische Form der Kirche, die Freiheit der Gestaltung der religiösen Vorstellung und einen gegenüber der Scholastik neuen wissenschaftlichen Geist charakterisiert ist. Dazu kommt die fortschreitende Differenzierung von Theologie und Wissenschaft und die Aufgabe ihrer Verhältnisbestimmung. Vgl. dazu J. BOEKELS, Schleiermacher als Kirchengeschichtler. Mit Edition der Nachschrift Karl Rudolf Hagenbachs von 1821/22, SchlAr 13, Berlin 1994, 186ff.; WERNER, Calvin und Schleiermacher, 129; auch M. OHST, Schleiermacher und die Bekenntnisschriften. Eine Untersuchung zu seiner Reformations- und Protestantismusdeutung, BHTh 77, Tübingen 1989, 105. 10 Sendschreiben, 350f. 11 SCHLEIERMACHER, An Herrn Oberhofprediger D. Ammon, 36,13ff.

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schaftlich kritischen und der Darstellung des unmittelbar Religiösen, wozu die gute Latinität kommt.12

Was Schleiermacher fasziniert, ist in der Tat ein wesentliches Merkmal der Institutio: Calvin übersetzt – und das bestimmt sowohl den sachlichen Anfang als auch die literarische Gestalt der Institutio – „das reformatorische Verständnis des Wortes in den Fragehorizont seiner Leser: Es zielt darauf ab, den Menschen zum Glauben und zum Gehorsam zu bewegen.“13 Beeinflusst vom humanistischen Verständnis der Rhetorik als ars movendi unterlässt er es nie, neben dem Inhalt der Lehre ihren Nutzen für die Leserinnen und Leser herauszustellen und für seine Lehre im dialogischen Diskurs zu werben.14 So lässt Calvin die Institutio in der letzten Fassung mit einer Einleitung15 beginnen, die „mit einer Diskussion der Religion, fast könnte man sagen: mit einer Beschreibung des religiösen Bewusstseins“16 einsetzt, und ordnet mit der Verklammerung von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis die Klärung der Erkenntnissituation und die Frage nach dem Erkenntnisvollzug der Darlegung des Erkenntnisinhaltes vor. Aus Schleiermachers Perspektive ist die Institutio ein Werk, in dem der Sache nach sein Verständnis von Glaubenssätzen als „Auffassungen der christlich frommen Gemütszustände in der Rede dargestellt“17 vorweggenommen ist; allerdings verbindet Calvin, anders als Schleiermacher in der Glaubenslehre, die – mit der Begrifflichkeit des Jüngeren so bezeichnete – darstellendbelehrende Form dieser Sätze mit ihrer rednerischen Form, die von dem Interesse an Mitteilung, an Weitergabe des Gefühlten und an Erfolg interessiert ist, und geht darum mit dem Ziel, durch das Erschließen der Gotteserkenntnis zu wahrer Frömmigkeit anzuleiten, weit über das Darstellungsinteresse der Glaubenslehre hinaus. Weiteren Aufschluss über die Hochschätzung, die Schleiermacher Calvin entgegenbringt, gibt der Aufsatz Über die Erwählung, mit dem er die augustinisch-calvinische Prädestinationslehre gegen den rationalistischen —————

12 F. SCHLEIERMACHER, Vorlesungen über die Kirchengeschichte, KGA 2. Abt. Bd. 6, hg. von S. GERBER, Berlin 2006, 644,34–645,2. Ähnlich fällt der Vergleich mit dem Werk A. Calovs aus: „Wenn man die Institutiones mit dem Werk von Calov vergleicht, so ist das innere religiöse Bewusstsein in jenen stärker ausgesprochen.“ (ebd., 656,36–657,1) 13 LINK, Theologie, 11. 14 Vgl. dazu WERNER, Calvin und Schleiermacher, 48–84. 92–126. 15 Als „Einleitung“ lassen sich die ersten 10 Kapitel des ersten Buches der Institutio von 1559 bezeichnen. Vgl. WERNER, Calvin und Schleiermacher, 81f. 16 LINK, Theologie, 11. 17 F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1830), hg. von M. REDEKER, 2 Bde, Berlin 1960, §15, Leitsatz (im Folgenden: Glaubenslehre (1830)).

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Theologen K. G. Bretschneider (1776–1848)18 verteidigt.19 Bretschneider möchte, um die allgemeine Moral zu stärken, optimistischer von den menschlichen Fähigkeiten zum Guten denken. Demgegenüber beharrt Schleiermacher darauf, dass die strenge Prädestinationslehre dem Kriterium einer rechten theologischen Lehre entspreche, nämlich schrift- und vernunftgemäß sei; allein sie führe nicht in systematische Widersprüche zwischen Anthropologie und Erlösung oder zur pelagianischen Aufweichung der Gnadenlehre. Aufschlussreich ist Schleiermachers Entgegnung auf den Vorwurf, die Erwählungslehre führe in moralischer Hinsicht zu Leichtsinn und Stolz oder aber zu Mut- und Trostlosigkeit. Dieser Einwand verkennt die von Schleiermacher geteilte theologische Grundannahme Calvins, dass Gotteserkenntnis zur Haltung wahrer Frömmigkeit führe – und nicht zu berechnendem Minimalismus: Aber dies ist gar nicht Calvins Voraussetzung, welcher von Anfang an seinem Schüler sagt, das selige Leben bestehe in der Erkenntnis Gottes, und die Erkenntnis Gottes sei in der Erkenntnis seiner Werke, und also am meisten seiner Gesetze, und welcher sich an Paulus hält behauptend, der inwendige Mensch durch den Geist Gottes geweckt und geboren habe eine Lust am Gesetz Gottes, und mit dieser Lust könne er nicht zu den Lüsten zurück wollen, sondern immer nur sich ihnen mehr und mehr entziehen.20

Deutlich betont Schleiermacher gut reformatorisch – und ebenso gut herrnhutisch –, dass die Gotteserkenntnis Gewecktwerden und Geborenwerden durch den Geist voraussetzt und dass aus dieser Erweckung und Wiedergeburt das Streben nach Heiligung von selbst folge. Aufschlussreich ist ebenfalls die Entgegnung, mit der Schleiermacher einen weiteren Vorwurf Bretschneiders, die Prädestinationslehre erschwere das Bestreben der Vernunft, die göttliche Weisheit zu erkennen, entkräftet. Dieses spekulative Bestreben der Vernunft weist Schleiermacher mit Formulierungen, die an Calvin erinnern, energisch in die Schranken: Allein wenn einmal zugegeben ist, die augustinische Erwählungslehre folge streng aus der Lehre vom menschlichen Unvermögen: so folgt ja eben aus dieser Lehre, daß die menschliche Vernunft müsse abgehalten werden in die Tiefe der göttlichen Weisheit eindringen zu wollen, weil sie sich aus Unvermögen notwendig verirren müsse;

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Vgl. E. STÖRE, Art. Bretschneider, TRE 9 (1981), 186f. Schleiermacher sieht in der Erwählungslehre eine der wichtigsten Lehren Calvins: „In diesem Punkte hatte Calvin eben so eine Hartnäckigkeit, wie Luther in Bezug auf das Abendmahl.“ (SCHLEIERMACHER, Vorlesungen über die Kirchengeschichte, 645,4–6). 20 F. SCHLEIERMACHER, Ueber die Lehre von der Erwählung. Besonders in Beziehung auf Herrn Dr. Bretschneiders Aphorismen (1819), in: KGA 10, Theologisch-dogmatische Abhandlungen und Gelegenheitsschriften, hg. von H.-F. TRAULSEN unter Mitwirkung von M. OHST, Berlin 1990, (147–222) 169. 19

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die von ihrem Unvermögen überzeugte und von dem göttlichen Geist erleuchtete Vernunft aber begehrt auch die göttliche Weisheit nur aus der Schrift und der eigenen Erfahrung kennen zu lernen, und will über diese nicht hinausgehen, und jenes ist alles, was Calvin predigt, dieses alles, wovor er warnt.21

Mit diesem letzten Satz macht sich Schleiermacher Calvins Meinung interpretierend zu Eigen: nur eine sich selbst in ihrer Unvollkommenheit kennende Vernunft vermag Gottes Weisheit zu erkennen; eine sich selbst verkennende Vernunft verkennt auch Gott. Auch die sich erkennende Vernunft aber bedarf der Erleuchtung durch den Geist Gottes und der Weisung an die Quellen der Erkenntnis: die Schrift – und die Erfahrung. Was Schleiermacher an der Institutio lobt, wird auch in der CalvinRezeption in diesem Aufsatz zur Erwählungslehre positiv herausgestellt: die systematische Kraft und die Beziehung auf die wahre Frömmigkeit. Darüber hinaus klingt die Problematik der Reichweite der Vernunft an und damit die Frage nach dem Verhältnis zwischen Glaube und Wissenschaft. Calvin kennt eine Unterscheidung zwischen Theologie und Wissenschaft als zwei unterschiedliche Zwecke erfüllende und Fragen stellende Disziplinen, so lässt sich mit Verweis auf Calvins Auslegung der Schöpfungsgeschichte annehmen.22 Hier betont er wiederholt den Unterschied zwischen der Darstellung Moses und der wissenschaftlichen Ansicht der Astronomen, und verweist dazu darauf, dass Mose nicht für die Philosophen, sondern für die Ungebildeten schreibe und über manche Sachverhalte besser Bescheid wisse, als es die Bibeltexte vermuten lassen. Dazu stimmt Calvins Überzeugung von der Akkomodation Gottes, Gottes Anpassung an menschliche Verstehensbedingungen überhaupt und im Besonderen an die schlichten Fähigkeiten einfacher Leute zusammen.23 So „akkomodiert“ sich der auferstandene Jesus am Ostermorgen genauso seinen verstörten Jüngern, indem er sie nach Galiläa schickt24, wie eben Mose den Ungebildeten, wenn er die Schöpfungsgeschichte nicht als wissenschaftliche Abhandlung verfasst25. Calvin entwickelt den Gedanken der Akkomodation weiter zu einer vielfältigen theologischen Textstrategie, durch die er einen offenen Text schafft, —————

21 F. SCHLEIERMACHER, Ueber die Lehre von der Erwählung, 174. Vgl. z.B. Inst. (1559), III,21,1: „Denn es ist nicht billig, dass der Mensch ungestraft durchforscht, was nach des Herrn Willen in ihm selber verborgen bleiben soll, und dass er die Hoheit seiner Weisheit, die er angebetet und nicht begriffen wissen wollte. […] geradezu von der Ewigkeit her durchwühlt.“ 22 D. WRIGHT / J. BALSERAK, Wissenschaft, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (443–449) 446. 448f. 23 Vgl. dazu J. BALSERAK, Accomodatio Dei, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, 366–372. 24 Vgl. etwa eine Osterpredigt zu Mt 28, 1–10, in: J. CALVIN, Diener am Wort Gottes. Eine Auswahl seiner Predigten, übersetzt von E. MÜLHAUPT, Göttingen 1934, 110–120. 25 Vgl. die Auslegung zu Gen 1,14 (CO 23, 20–21).

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fähig, das Wissen und die Assoziationen von Leserinnen und Lesern verschiedener Traditionen und Herkunft und auch späterer Zeiten einzubeziehen bzw. offen zu halten.26 Durch diese Auffassung bleibt in der Bibelauslegung gewissermaßen Raum für über den Text hinausgehende, neue wissenschaftliche Erkenntnisse. Allerdings ist Calvins Großzügigkeit durchaus kontextabhängig: In Institutio I,14,1.2 und 20–22, wo er auf die Schöpfung zu sprechen kommt, ist weder von Wissenschaft noch von Akkomodation die Rede, sondern von der Achtung der gesetzten Grenzen, der Bewunderung der Welt und der dankbaren und vertrauensvollen Erkenntnis des wahren Gottes und unserer selbst als seine Kinder. Die Akkomodation spielt jedoch eine Rolle, wenn er im gleichen Kapitel über die Engel spricht, von deren Erschaffung in der Schöpfungsgeschichte nicht berichtet wird: Freilich erwähnt Mose, da er sich dem einfältigen Verstehen des großen Haufens anpaßt, in der Schöpfungsgeschichte nur die Werke Gottes, die wir mit Augen wahrnehmen können. Aber wenn er nachher die Engel als Diener Gottes erwähnt, so folgt daraus leicht, daß der Gott, dem sie doch ihre Kräfte und Dienste widmen, auch ihr Schöpfer ist.27

Aufgabe der Engel ist es, Gottes Güte gegen die Menschen zu verwalten; Gott hat den Schutz derer, die er bewahren will, seinen Engeln übertragen.28 Allerdings betont Calvin, dass Gott den Dienst der Engel um seinetwillen nicht brauche – „er tut das sicher nicht aus irgendeiner Notwendigkeit heraus, als ob er sie nicht entbehren könnte“29 –, aber der menschlichen Schwachheit zuliebe Engel schicke, um uns „nach unserem Verstehen seine gegenwärtige Gnade zu erfahren“30 zu geben. Schleiermacher hat mit direktem Verweis auf diesen Abschnitt der Institutio Einspruch angemeldet: nicht minder bedenklich ist es, auch einen äußeren Schutz durch Engel zu lehren. Denn daß Gott Engel hiezu nicht nötig habe, muß man wohl lehren, wenn man nicht eine beständige Wirksamkeit der Engel annehmen will, und also den Naturzusammenhang ganz aufheben. Wie es aber mehr Trost gewähren soll, wenn Gott sich der

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26 Vgl. dazu P. BÖTTGER, Calvins Institutio als Erbauungsbuch. Versuch einer literarischen Analyse, Neukirchen-Vluyn 1993; P. OPITZ, Calvins theologische Hermeneutik, NeukirchenVluyn 1994, und WERNER, Calvin und Schleiermacher. 27 Inst. (1559), I,14,3. „quia etsi Moses vulgi ruditati se accomodans, non alia Die opera commemorat in historia creationis nisi quae oculis nostris occurrunt: ubi tamen postea Angelos Dei ministros inducit, colligere facile licet eorum esse conditorem, cui suam operam et officia impendunt.“ (OS III, 154, 28–32). 28 Vgl. Inst. (1559), I,14,6. 29 Inst. (1559), I,14,11. „Non facit hoc certe necessitate, quasi carere illis nequeat.“ (OS III, 162, 36f.). 30 Inst. (1559), I,14,11. „[…] nisi pro modulo nostro gratiae suae praesentiam apprehendere nos Dominus faciat.“ (OS III, 162, 6f.).

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Engel bedient, als wenn unsere Bewahrung auf dem Wege der Natur bewirkt wird, so daß sich Gott um unserer Schwachheit willen lieber der Engel bediene und uns dies offenbare, das möchte […] ohne sehr beschränkte ja fast kindliche Vorstellungen von Gott nicht durchzuführen sein.31

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass Schleiermacher seine Zeit im Gegensatz zu der Calvins für erwachsener hält, der Akkomodation weniger bedürftig sowie wissenschaftlich aufgeklärter und gebildeter und darum weniger geneigt, auf Engel zurückzukommen: Es ergibt sich auch von selbst, daß diese Vorstellung unter den Christen ihren Einfluß verliert, da sie einer Zeit angehört, wo die Kenntnis der Naturkräfte noch sehr gering war und die Herrschaft des Menschen über dieselben auf der niedrigsten Stufe stand.32

Aus dieser Perspektive kann Calvin als ein früher Vorgänger gelten, der sich in der Sprache seiner Zeit demselben Problem gewidmet habe, freilich mit Rücksicht auf damalige Naturvorstellungen. Calvin setzt in der Institutio vielfach offene Textstrategien ein, die etwa im Sinne heutiger Rezeptionsästhetik die Leserinnen und Leser zu Mitautorinnen und Mitautoren machen.33 In der christlichen Lehre bleibt durch die Vorstellung der Akkomodation in diesem Sinne Raum für sich verändernde Einsichten und wissenschaftlichen Fortschritt, sowie für positive Rückbezüge, die möglicherweise über die Intention des Verfassers hinausgehen. Auf die Wissenschaft kommt Calvin direkt im Kapitel über den unfreien Willen zu sprechen, wenn er schreibt, daß der Menschengeist zwar aus seiner ursprünglichen Reinheit herausgefallen und verdorben, daß er aber doch auch jetzt noch mit hervorragenden Gottesgaben ausgerüstet und geschmückt ist. […] man kann die Gaben des Geistes nicht geringschätzen, ohne den Geist selber zu verachten und zu schmähen!34

In diesem Zusammenhang unterscheidet Calvin zwischen der Erkenntnis der irdischen und der himmlischen Dinge, wobei er unter ersteren alles versteht, was „nach seinem Sinn und seinen Beziehungen zum gegenwärtigen Leben gehört und sozusagen innerhalb seiner Grenzen bleibt, […] das

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Glaubenslehre (1830), §43.1. Ebd. 33 Vgl. WERNER, Calvin und Schleiermacher, 92ff. 34 Inst. (1559), II,2,15. „[…] admoneamur, mentem hominis, quantumlibet ab integritate sua collapsam et perversam, eximiis tamen etiamnum Dei donis vestitam esse et exornatam. […] non enim dona Spiritus, sine ipsius contemptu et opprobrio, vilipenduntur“ (OS III, 258, 11–14.17f). 32

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weltliche Regiment, die Haushaltskunst, alles Handwerk und die freien Künste.“35 So zieht er das Fazit: Will uns also der Herr durch Hilfe und Dienst von Unfrommen in der Naturwissenschaft, in der Wissenschaft vom Denken oder der Mathematik oder sonstigen Wissenschaften Beistand schaffen, so sollen wir davon Gebrauch machen.36

Mit Blick auf die Unterscheidung der Erkenntnisbereiche kann man in der Tat bei Calvin eine perspektivische Unterscheidung von wissenschaftlicher Forschung und biblischer Wahrheit ausmachen – die als ganze allerdings umfangen ist von dem Zusammenhang von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis. Innerhalb dieses theologisch bestimmten Gesamtzusammenhangs räumt er dem Gespräch mit der Wissenschaft und Weltweisheit in seinen Texten Raum ein.37 Ob Schleiermacher zu Recht davon ausgeht, ein ewiger Vertrag „zwischen dem lebendigen christlichen Glauben und der nach allen Seiten freigelassenen, unabhängig für sich arbeitenden wissenschaftlichen Forschung“38 sei in der Reformationszeit grundgelegt worden, sei dahingestellt. Das Selbstverständnis der Reformatoren und speziell Calvins war eher ein anderes, schon weil sie erst am Anfang einer Problemkonstellation standen, die Schleiermachers Lebenswerk bestimmte. Sein Selbstverständnis als noch in der gleichen Epoche lebender Erbe ermöglicht ihm aber den selbstbewussten Rückbezug und die punktuelle, dann durchaus sachgerechte und treffsichere Anknüpfung an Calvins Werk, das durch seine rhetorische Gestaltung dazu einlädt, und führt ihn zu durchaus vergleichbaren Grundentscheidungen.

2. Der Knoten der Geschichte And since Calvin, like Schleiermacher, found that he needed to talk about man as homo religiosus before he could expound faith in Christ, might it be useful to ask if Schleiermacher’s theology is perhaps not christocentric – and therefore gut calvinistisch?39

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35 Inst. (1559), II,2,13. „Res terrenas voco […]: sed cum vita praesenti rationem reltionemque habent, et quodammodo intra eius fines continentur […]: politia, oeconomia, artes omnes mechanicae disciplinaeque liberales.“ (OS III, 256, 23–30). 36 Inst. (1559), II,2,16. „Quod si Dominus impiorum opera et ministerio, in physicis, dialecticis, mathematicis et reliquis id genus voliut adiutos, ea utamur.“ (OS III, 259, 14–16). 37 Vgl. WERNER, Calvin und Schleiermacher, 29–126. 38 Sendschreiben, 351. 39 GERRISH, Calvin, 1036.

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Schleiermachers große Sorge ist es, dass die Wissenschaft, „die sich immer mehr zu einer umfassenden Weltkunde gestaltet“40, enttäuscht von einer Theologie, die sich auf deren Theorien und exakte Forschungsergebnisse nicht einmal gesprächsweise einlässt, gewissermaßen in die Glaubensferne gezwungen wird: „Soll der Knoten der Geschichte so auseinandergehen: das Christentum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?“41 Diese Sorge treibt den einstigen Schüler des Seminars in Barby auch wegen seiner eigenen Erfahrungen mit der zunehmend als Enge empfundenen demütig-genügsamen Frömmigkeit Herrnhuts und der regelrechten Flucht an die Fakultät nach Halle um.42 Eine widerspruchsfreie Zusammenschau von Glauben und Wissenschaft bei gleichzeitiger Auffassung der Theologie als selbstständiger Wissenschaft zu ermöglichen wird darum sein Lebensthema. Im zweiten Sendschreiben an Lücke 1829 reflektiert Schleiermacher ausführlich den Aufbau der Glaubenslehre, die er für die zweite Auflage vorbereitet. In der ersten Auflage von 1821/22 umfasst das Werk zwei Hauptteile, denen eine Einleitung vorangestellt ist. Der erste Teil behandelt die „Entwicklung des frommen Selbstbewußtseins als eines der menschlichen Natur einwohnenden, dessen entgegengesetzte Verhältnisse zum sinnlichen Selbstbewusstsein sich erst entwickeln sollen“, und darin die Schöpfung und Erhaltung, sodann die Eigenschaften Gottes, die sich auf das Abhängigkeitsgefühl als solches beziehen, sowie die ursprüngliche Vollkommenheit der Welt und des Menschen. Der zweite Teil thematisiert die „Entwicklung des einwohnenden Bewusstseins von Gott, so wie der Gegensatz sich hineingebildet hat, welcher verschwinden soll, aufgeteilt in die erste Seite, die Entwicklung des Bewusstseins der Sünde“, darin der Fall und die Sünde sowie die göttlichen Eigenschaften in Bezug auf die Sünde behandelt werden, und die zweite Seite, die „Entwicklung des Bewusstseins der Gnade“, wo neben der Christologie auch die Ekklesiologie und die prophetischen Lehrstücke der Eschatologie sowie die göttlichen Eigenschaften, die sich auf Gnade und Erlösung beziehen, und zum Schluss die Trinitätslehre zu stehen kommen.43 Die Einleitung stellt nach Schleiermachers Absicht eine „vorläufige Orientierung“ ganz „außerhalb unserer Disziplin“ dar44, die entfaltet, was Frömmigkeit bzw. das fromme Selbstbewusstsein ist. Diese ————— 40

Sendscheiben, 345. Ebd., 347. 42 Vgl. NOWAK, Schleiermacher, 32: „Schleiermacher nannte den Bruch mit den Herrnhutern die Geburtsstunde seiner Freiheit.“ 43 Vgl. F. SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (1821–1822), in: KGA 7,1.2, hg. von H. PEITER, Berlin 1980; KGA 7,3, hg. von U. BARTH, Berlin 1984, Inhaltsverzeichnis. 44 Sendschreiben, 339. 41

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Einleitung ist von den Lesern als „eigentliche Hauptsache, als der rechte Kern des Ganzen“45 angesehen worden und Grund dafür, dass Schleiermachers ganzer Dogmatik der Vorwurf gemacht wurde, eigentlich Philosophie zu sein. Für die zweite Auflage überlegt Schleiermacher eine Umstellung, die zwar die Einleitung vorne gelassen hätte, aber den zweiten Teil vor den ersten und innerhalb des zweiten Teils die zweite Seite vor die erste gestellt hätte, so dass die Glaubenslehre so ausgesehen hätte: Einleitung – Bewusstsein der Gnade – Bewusstsein der Sünde – allgemeines frommes Selbstbewusstsein. Mit der Umstellung wäre deutlicher geworden, dass den Menschen das Heil nur in Christus gegeben ist und ihr Gottesbewusstsein nur durch ihn zustande gekommen ist und darum Gott Vater nur in ihm geschaut wird. Außerdem wäre der Charakter der Einleitung deutlicher geworden. Und es wäre die Glaubenslehre dem Heidelberger Katechismus ähnlicher geworden, der nach Schleiermachers Einschätzung „unmittelbar von dem christlichen Grundgefühl ausgeht“46 und danach mit Sünde und Erlösung einsetzt. Die Idee, sich damit in die reformierte Katechismustradition zu stellen, wird nicht umgesetzt, da die Glaubenslehre sich an erwachsene Leserinnen und Leser richtet, von denen Schleiermacher annimmt, ihr „Grundgefühl“ „müsse doch dieses alte sein, daß in keinem andern Heil und kein anderer Name den Menschen gegeben ist“ 47, von denen er also annimmt, sie würden seine Anordnung der Dogmatik nicht als sachliche Abweichung, sondern als den gegenwärtigen Bedürfnissen der Kirche geschuldete, also kontextuelle Akzentuierung lesen. Zwei andere Argumente nennt Schleiermacher gegen die Umstellung. Zum einen möchte er aus Abneigung gegen die Form der Antiklimax das Beste und Wichtigste nicht gleich zu Anfang sagen, weil dadurch das dem Höhepunkt folgende nur sehr kurz ausfallen könne, wobei doch um der Bedürfnisse der Kirche willen das Augenmerk darauf fallen müsse. Zum anderen möchte er die Rationalisten in der Kirche halten und kommt ihnen darum in den Themen so sehr als möglich entgegen, fürchtet aber, sie doch zu verlieren, da er schon in der Einleitung, veranlasst durch die christologischen Fragen des Heidelberger Katechismus, „den Begriff der ————— 45

Ebd. Ebd., 358f. 47 Ebd., 338. „Freilich sind ein Katechismus und eine Dogmatik zwei gar verschiedene Dinge; um so eher aber glaubte ich, es könne an und für sich nicht schaden, für die Dogmatik von etwas Gebrauch zu machen, was ich grade am Katechismus als solchem tadle. Denn die Jugend, für welche der Katechismus zunächst bestimmt ist, kann die Erlösungsbedürftigkeit nicht so empfinden, weder aus eigener Erfahrung, noch aus allgemeiner Menschenkenntnis. Aber das Grundgefühl eines jeden mündigen und zur Klarheit gekommenen Christen muss doch dieses alte sein, daß in keinem andern Heil und kein anderer Name den Menschen gegeben ist, wobei eine große Verschiedenheit der Vorstellungsart allerdings immer noch stattfinden kann.“ 46

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Erlösung viel enger zusammengezogen“ habe „als nötig gewesen wäre“ 48. Die zweite Auflage der Glaubenslehre erscheint 1830 mit der gleichen Disposition wie die erste Auflage. Schleiermacher kommt im Sendschreiben an Lücke nicht darauf zu sprechen, dass der Aufriss der Glaubenslehre eine reformierte Parallele schon hat: im Aufriss der Institutio Calvins von 1559. Eine genauere Betrachtung kann zeigen, inwiefern das der Fall ist.49 Die äußere Gliederung der Institutio orientiert sich am apostolischen Glaubensbekenntnis, dessen dritten Artikel Calvin noch einmal teilt, so dass er jeden Teil des Apostolikums in einem der vier Bücher der Institutio behandelt und damit seine Darlegung des ganzen reformatorischen Glaubens in die Tradition hineinstellt. Der Stoff der Institutio weist aber innerhalb dieser Einteilung auch eine durch eine Einleitung eröffnete, zweiteilige sachliche Disposition auf50. Calvin unterscheidet im zweiten Kapitel der Institutio zwischen der Erkenntnis Gottes als des Schöpfers und der Erkenntnis Gottes als des Erlösers in Christo und macht diese Unterscheidung zum Organisationsprinzip des ganzen Werkes, wobei der erste Teil Buch 1, der zweite Teil die Bücher 2–4 umfasst. Wahre Erkenntnis Gottes ist demzufolge nur in Christus möglich, so beteuert Calvin nach der Darlegung des Sündenfalls und seiner Folgen im sechsten Kapitel des zweiten Buches: Die ursprüngliche Ordnung war es, daß das Gebäu[de] der Welt für uns die Schule wäre, in der wir rechte Gottesfurcht lernten, um dann von da zum ewigen Leben und zu vollkommener Seligkeit überzugehen. Aber seit dem Abfall ist es anders. […] Denn nach dem Fall des ersten Menschen hat ganz sicher keine Erkenntnis Gottes etwas zum Heil gegolten ohne den Mittler.51

Trotzdem folgt Calvin dem traditionellen Aufriss der Dogmatik und beginnt mit der Schöpfungslehre. Die ersten 10 Kapitel des ersten Buches stellen eine zwar in die Gliederung einbezogene, aber deutlich abgegrenzte Einlei————— 48

Ebd., 358. Vgl. zur Übersicht die Gliederung der Glaubenslehre bei H. FISCHER, Art. Schleiermacher, TRE 30 (1999), (143–189) 171. 50 So J. KÖSTLIN, Calvin’s Institutio nach Form und Inhalt in ihrer geschichtlichen Entwicklung, ThStKr 41, 1868, (7–61. 410–486) 57f.; auch z.B. E. DOWEY, The Knowledge of God in Calvin’s Theology, New York 1952, 42; F. WENDEL, Calvin. Ursprung und Entwicklung seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 1968, 100f.; GERRISH, Protestantism, 199f. 51 Inst. (1559), II,6,1. „Erat quidem hic genuinus ordo ut mundi fabrica nobis schola esset ad pietatem discendam: unde ad aeternam vitam et perfectam foelicitatem fieret transitus. Sed post defectionem quocunque vetamus oculos, sursum et deorsum occurrit Dei maledictio […] Certe post lapsum primi hominis nulla ad salutem valuit Dei cognitio absque Mediatore.“ (OS III, 320, 13–17.37–321,1). 49

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tung dar52, in der Calvin die Religiosität des Menschen im Allgemeinen diskutiert. It follows that there is a strong prima facie resemblance in structure between the institutes and Schleiermacher’s The Christian Faith, which also presents a two-part system of doctrine, introduced by a discussion of religion in general, and understands the relationship of the parts in somewhat the same way.53

Sowohl die Interpretation der Einleitung in Schleiermachers Glaubenslehre als auch die der Einleitungskapitel in Calvins Institutio sind immer wieder umstritten. Schleiermacher wurde vorgeworfen, eine philosophische Grundlegung der Theologie versucht zu haben, aus der er dann alles weitere deduziere.54 Er verteidigt sich gegen dieses Missverständnis: Meine systematische Kunst, wenn ich mich einer rühmen kann in der Dogmatik, hängt aber mit Prinzipien und Deduktionen in diesem Sinne gar nicht zusammen, sondern ist nur ganz einfach das Geschick, solche Teilungsformeln aufzufinden, daß man dadurch eine Überzeugung von der Vollständigkeit der Darstellung gewinnt, und daß man, wenn nicht unmittelbar, doch mittelbar von jedem dogmatischen Satz auf das durch ihn repräsentierte unmittelbare Selbstbewußtsein zurückgeführt wird. Wer mehr dahinter sucht, darf seinen Regreß nicht an mich nehmen, wenn er es nicht findet, sondern an irgend einen meiner allzu gütigen Gegner.55

Die strenge Verbindung des wissenschaftlich-kritischen und des eigentlich religiösen, die er an Calvin bewundert, macht also auch sein eigenes Talent aus. Die „Teilungsformel“, die das Verhältnis von Glaubenslehre und Einleitung bzw. Einleitung und Philosophie einsichtig macht, findet sich, wenn man sich auf Schleiermachers Wissenschaftssystematik einlässt. Diese im Einzelnen zu erläutern, würde hier zu weit führen56, sie erweist aber die Einleitung als fragmentarische Ausführung der Philosophischen Theologie, einer Disziplin, die Schleiermacher eigens konzipiert, um in ihr mittels des ebenfalls eigens entwickelten kritischen Verfahrens die Unableitbarkeit des Christentums zu wahren und darzustellen, diese Unableitbarkeit aber auch allgemein beschreibbar und verstehbar zu machen, indem er das empirische Christentum und den spekulativen Begriff der Frömmigkeit aufeinander bezieht, daraus eine Wesensformel des Christentums aufstellt und es damit —————

52 Die 1559 neu eingefügten Abschnitte I,2,1 mit der Unterscheidung zwischen der Erkenntnis Gottes als des Schöpfers und der Erkenntnis Gottes als des Erlösers und I,10,3 mit der Zusammenfassung des Hauptinhaltes der ganzen Lehre bilden eine deutliche Klammer. 53 GERRISH, Calvin, 1048. 54 Vgl. Sendschreiben, 360. 55 Ebd., 361. 56 Vgl. dazu WERNER, Calvin und Schleiermacher, 154ff.

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wissenschaftlich darstellbar macht.57 Die Einleitung ist also in der Tat nicht Dogmatik, die Schleiermacher in seiner enzyklopädischen Gliederung der Theologie der historischen Theologie zuordnet, sondern als Philosophische Theologie eine kritische Zuordnung von allgemeinem Begriff der Frömmigkeit und besonderer christlicher Frömmigkeit, die gar nicht vom eigentlichen Christentum handelt, sondern Frömmigkeit als grundsätzlich zum Menschen gehörig erweist. „Diese Theorie begnügt sich nicht mehr damit, zu zeigen, dass es Raum für die Frömmigkeit gibt, sondern weist auf, dass ihr ein Ort zukommt, der leer bleibt, wenn sie fehlt.“58 Schleiermachers Absicht ist es, Religion als selbstständige Provinz im Gemüte nachzuweisen und sie in ein Vertragsverhältnis zur Wissenschaft zu setzen. Mit der Reflexion des allgemeinen frommen Selbstbewusstseins steht er in überraschend großer Nähe zu Calvins Reflexion des sensus divinitatis in den Einleitungskapiteln der Institutio. Diese Eingangskapitel haben Anlass gegeben zu heftigen Kontroversen, vor allem im Zusammenhang mit der Abwehr jeder natürlichen Theologie: Das ganze Gerede von einer „Vorhalle natürlicher Theologie“ bei Calvin hätte vielleicht vermieden werden können, wenn Calvin dabei geblieben wäre, für den Kurzsichtigsten erkennbar, den Glauben an Gott den Schöpfer als Teilstück der Auslegung des Glaubensbekenntnisses zu entfalten.59

Calvin ist aber nicht dabei geblieben, und so stellt sich die Aufgabe, die sachlichen Gründe für die Konzeption der Einleitung zu untersuchen. Der an spätmittelalterlicher Literatur orientierte Leser erwartet am Beginn einer Dogmatik einen Prolog zu finden, der wichtige, wissenschaftstheoretische Fragen aufwirft und Auskunft über die Tradition gibt, in der der Autor steht. Auf diese Prologtradition bezieht sich Calvin, indem er zwar keinen formal abgegrenzten Prolog schreibt, inhaltlich aber einige der dort gewöhnlich verhandelten Themen aufnimmt. So expliziert er in den Einleitungskapiteln sein Theologieverständnis und behandelt die Frage nach Charakter, Gegenstand und Prinzip der Theologie. Nicht nimmt er hingegen die Frage auf, ob die Theologie eine Wissenschaft sei und ob durch das theologische Verfahren über ihren Gegenstand wissenschaftliche Kenntnis erlangt werden kann. Darüber handeln zu können, erforderte einen Ort oberhalb der Theologie, den Calvin nirgendwo in der Institutio einnimmt und nach seinem theologischen Grundverständnis, wie es mit dem ersten Satz deutlich wird, auch nicht schaffen kann: Theologie ist sapientia, nicht ————— 57 58 59

Vgl. dazu ebd., 172ff. Ebd., 205. P. BARTH, Das Problem der natürlichen Theologie bei Calvin, TEH 18, 1935, 6.

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scientia, praktische, nicht spekulative Wissenschaft, die auf den Zusammenhang von Gottes- und Selbsterkenntnis in rechter Frömmigkeit zielt, sich darum immer wieder gegen die eitle Neugier richtet und deren Vertreter Gott nur erkennen können, wenn sie zuvor „Schüler der Schrift“60 werden. Auf diese Einleitung hätte sich Schleiermacher also – wenn er denn gewollt hätte – schlecht berufen können, sie ist gerade nicht ein Ort, an dem in der Sprache der Philosophie theologisch geredet werden kann. In der Institutio handelt es sich dagegen vom ersten Satz an um Legomena, nicht um Prolegomena. Und trotzdem: die Parallele im Verständnis der Theologie als praktischer Wissenschaft, die Orientierung an der Frömmigkeit und die Ausführungen zur allgemeinen Religiosität stellen sachliche Vergleichspunkte dar, die genauer zu betrachten sich lohnt: (1) Praktische Theologie Schleiermacher bestimmt die Theologie insgesamt als positive Wissenschaft, deren Teile ihren Zusammenhang um der Lösung einer praktischen Aufgabe, der Kirchenleitung, willen haben. Mit dieser funktionalen Bestimmung, die er in seiner theologischen Enzyklopädie Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen61 entfaltet, grenzt er sich ab von einem Verständnis der Theologie als rein spekulativer Wissenschaft, die nichts Empirisches in sich hat, weil es ihm um das geschichtlich Besondere am christlichen Glauben geht. Calvins Verständnis der Theologie als praktischer Wissenschaft wendet sich zwar auch gegen die Spekulation, aber nicht um einer praktisch-kirchlichen Aufgabe, sondern um der Glaubenspraxis des Einzelnen willen: Die Ehrfurcht vor Gott bringt die Gläubigen zu wahrer Frömmigkeit in der Schule der Schrift. (2) Doctrina oder die Auffassungen der christlich-frommen Gemütszustände in der Rede dargestellt Weil es Calvin darum geht, die Leserinnen und Leser zu wahrer Frömmigkeit zu führen, ist für ihn die Lehre, die doctrina, nie ohne Applikation, nie ohne den Aufweis des Nutzens für die Gläubigen62: „Doctrina ist in ihrem Kern Verkündigung.“63 Mit diesem Verständnis der Lehre zieht Calvin die ————— 60

Inst. (1559), I,6,2. F. SCHLEIERMACHER, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, in: KGA 1. Abt. Bd. 6 Universitätsschriften. Herakleitos. Kurze Darstellung des theologischen Studiums, hg. von D. SCHMID, Berlin 1998, 317–446. 62 Gleich im ersten Satz der Vorrede zum Psalmenkommentar benennt er den Nutzen als Grund für die Arbeit, die er auf sich genommen, vgl. CO 31, 13; CStA 6, 18f. 63 C. LINK, Theologie, 5. 61

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Konsequenz aus dem reformatorischen Verständnis des Wortes Gottes, das anreden, belehren, bekehren will. In den Dienst dieser Anrededimension des Wortes stellt Calvin seine theologischen Schriften, die alle als Schlüssel zur heiligen Schrift anreden, belehren, bekehren und wahre Frömmigkeit als Abkehr von jeder falschen Frömmigkeit hervorzubringen helfen wollen. Der von Schleiermacher bewunderte Bezug auf die Frömmigkeit zielt also auf die schriftgeleitete praxis pietatis. Demgegenüber liegt Schleiermachers eigener Bezug auf die Frömmigkeit darin, dass in die Glaubenslehre nur Sätze zu stehen kommen, die auf christlich-fromme Gemütszustände zurückgehen, will sagen: die Inhalt des christlich-frommen Selbstbewusstseins sind, wozu etwa die Trinitätslehre nicht gehört. Der Begriff Frömmigkeit reguliert so in beiden Werken die Auswahl des Stoffes, wird aber inhaltlich ganz verschieden gefasst. (3) Das allgemeine fromme Selbstbewusstsein und der sensus divinitatis Der Begriff von Frömmigkeit, den Schleiermacher in der Einleitung zur Glaubenslehre entwickelt, ist ein durch das kritische Verfahren gewonnener formaler Begriff unter Absehung von allen bestimmten christlichen Inhalten. Frömmigkeit ist das unmittelbare Bewusstsein oder Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit oder der Beziehung mit Gott. Diese Frömmigkeit darf nicht verwechselt werden mit bestimmtem, persönlichem Glauben und stellt nichts anderes dar als die Einräumung eines Ortes der Religion im Menschen. Zu einem christlich frommen Bewusstsein kann dieses Gefühl nur durch ein prägendes religiöses Urerlebnis, in der Begegnung mit Jesus Christus verwirklicht werden. Schleiermacher kennt also eine doppelte Quelle der Gotteserkenntnis, eine formale und eine affektive, eine versiegende und eine sprudelnde. Strukturell ähnlich entfaltet Calvin im dritten Kapitel der Institutio, „dass der menschliche Geist durch natürliches Ahnvermögen eine Art Empfindung für die Gottheit besitzt“64. Die Überzeugung, dass ein Gott existiert, ist nach Calvin auch den wildesten Völkern eingewurzelt. Niemand kann also Unwissenheit als Entschuldigung anführen, wenn er Gott keinen Dienst erweist. Allerdings führt dieses Ahnvermögen, der sensus divinitatis65, nach dem Fall Adams nie zu irgendeiner verlässlichen Kunde von Gott, sondern immer nur in den Aberglauben. Eine natürliche Erkenntnis Gottes hat es darum nie gegeben, und ihre Beschreibung stellt nichts anderes dar als das Bemühen die Menschen, da sie nun einmal Gott ————— 64

Inst. (1559), I,3,1. Das Vokabular, mit dem Calvin den Sinn für die Gottheit beschreibt, klingt – ob bewusst oder unbewusst – in den Reden Schleiermachers an, wenn der vom „Sinn und Geschmack für das Unendliche“ spricht. 65

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nicht nicht erkennen können, zur Quelle der rechten, echten Gotteserkenntnis hin zu führen. Calvin kennt also eine doppelte Quelle der Gotteserkenntnis, eine affektive und die Schrift, eine versiegende und eine sprudelnde. Bei beiden Autoren findet sich die Verknüpfung von Selbst- und Gotteserkenntnis: Bei Calvin führt die Selbstbetrachtung zu einem Wissen um Gott, das wiederum zur Erkenntnis der schuldhaften Falsch-Erkenntnis Gottes führt, was aber nur demjenigen erkennbar ist, der durch die Schrift zu dem Erlöser geführt und dadurch zum Glauben an ihn gebracht wurde: Wirklich wird die Gottes- und Selbsterkenntnis erst dann, wenn der Mensch Gott als den Erlöser glaubt und erkennt und sich selbst als begnadigten Sünder. Bei Schleiermacher führt die Analyse des menschlichen Bewusstseins als schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl zu einem Bewusstsein von Gott, das wiederum zur Erkenntnis der Religionslosigkeit als Defizienz führt, was jedem gebildeten Menschen einsichtig zu machen ist. Positiv verwirklicht wird die Gottes- und Selbsterkenntnis erst dann, wenn die Rezeptivität des Menschen durch eine momenthafte, besondere Offenbarung aktiviert wird. Beide brauchen die Beschreibung der versiegenden Quelle: Schleiermacher, um die grundsätzliche anthropologische Allgemeinheit von Religion seinen wissenschaftlichen und philosophischen Gesprächspartnern aufzuweisen, Calvin, um seine Leserinnen und Leser von den allgemeinanthropologischen, immer falschen religiösen Vorstellungen weg und hin zur Schrift zu führen. Den Aufweis der Allgemeinheit von Religiosität muten Calvin wie Schleiermacher ihren Lesern zu Beginn mit der Lektüre der Einleitung zu, nicht, um dadurch den Weg zu bereiten zur Erkenntnis Gottes als des Erlösers in Christus, sondern um die Relevanz dieser Erkenntnis für die Welt zu entfalten. Was heißt das? Gehörte die Religiosität, wiewohl sie aus sich heraus nicht zur Erkenntnis des Erlösers bzw. immer in die Irre führt, nicht allgemein zum Menschen, so könnte die Allgemeingültigkeit des unableitbar besonderen Ereignisses der Offenbarung in Christus nicht vertreten werden. Dieser Offenbarung wohnt der Anspruch auf Allgemeingültigkeit inne. Weil sie unverfügbar ist, kann jedoch nicht einfach ihre Allgemeinheit behauptet werden. Es kann aber allgemein zugemutet werden, dass ohne diese unverfügbare Offenbarung im Menschen eine Leerstelle bleibe – so Schleiermacher – oder – so Calvin – der Mensch nicht umhin komme, sich, wo und wie auch immer, rechte oder falsche Götter zu suchen. Wo die Offenbarung Gottes nicht gekannt ist und darum Religion nicht oder falsch ist, wird auch die Welt nicht recht als Gottes Schöpfung erkannt und behandelt. Darum lässt Schleiermacher wie vor ihm Calvin die Leserichtung der Erkenntnisrichtung der Dogmatik zuwiderlaufen: um den Leserinnen und

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Lesern die Allgemeingültigkeit der Christusoffenbarung und ihren universalen Horizont vor Augen zu führen. Bei allen sachlichen Verschiebungen ist eine deutliche Affinität von Institutio und Glaubenslehre feststellbar. Der Knoten der Geschichte, von dem Schleiermacher spricht, soll so auseinandergehen, dass säkulare Wissenschaft und Christentum miteinander bestehen können. Dazu muss seines Erachtens der universale Anspruch der Christusoffenbarung plausibel gemacht werden, und das heißt, in der Sprache Schleiermachers, als übernatürlich, aber nicht widernatürlich dargestellt werden. Die Vertragsmetapher hat ihre Pointe in der Widerspruchsfreiheit von Glauben und Wissen. Darum beschreibt Schleiermacher die Wirkung der Offenbarung als Verwirklichung des christlichen Gottesbewusstseins gegenüber seiner bloßen Formalität. Er kann nicht, wie etwa Calvin, von der Widerspruchsfähigkeit und -kraft der Christusoffenbarung ausgehen und ihre Wirkung darum nicht als Abkehr von der Götzenverehrung zum wahren Gottesdienst beschreiben. Eine Rolle mag dabei die unterschiedliche christologische Konzeption spielen: Für Schleiermacher ist Joh 1,14 der „Grundtext der ganzen Dogmatik“66, während Calvin in der Einleitung stark von der Argumentation in den ersten Kapiteln des Römerbriefes beeinflusst ist. Der Reformator legt damit den Akzent auf die Rechtfertigung allein durch Christus, sein Nachfolger auf die Inkarnation allein in Christus. Schleiermacher kann auch nicht – und hier kommt der vielleicht entscheidende Unterschied in den Blick – wie Calvin seine Leserinnen und Leser in die Schule der Schrift schicken. Die Architektur der Glaubenslehre bildet seine eigenwillige Treue zum reformatorischen solus christus und sola gratia deutlich ab – die Lehre von der Schrift taucht erst in der Ekklesiologie auf, und von sola scriptura als drittem tragenden Pfeiler der Dogmatik kann keine Rede sein. Für Schleiermacher ist die Heilige Schrift nicht Quelle des Glaubens, sondern der Glaube muss vorausgesetzt werden, um der Schrift ein besonderes Ansehen einzuräumen. Darum muss seines Erachtens auch die Dogmatik in ihrem inneren Zusammenhang unabhängig von der Schrift dargestellt werden; es darf nicht scheinen, „eine Lehre solle deshalb zum Christentum gehören, weil sie in der Schrift enthalten ist, da sie doch vielmehr nur deshalb in der Schrift enthalten ist, weil sie zum Christentum gehört.“67 —————

66 Sendschreiben, 343. Karl Barths berühmte Äußerung, die Christologie sei die „große Störung“ in der Theologie Schleiermachers, verkennt ihre Bedeutung und Rolle: sie – ihre Unableitbarkeit, ihre Unverfügbarkeit – ist der Anlass für das ganze Unternehmen der Glaubenslehre (vgl. K. BARTH, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich (1947) 51985, 385). 67 Glaubenslehre (1830), §128.3. Darum hat er auch Vorbehalte gegen alle Lehrbücher und Bekenntnisschriften, „welche die Lehre von der Schrift als der Quelle des christlichen Glaubens

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Quelle des Glaubens ist zu allen Zeiten wie bei den ersten Christen der unmittelbare Eindruck Jesu oder das Erzählen seiner Worte und Taten: die Predigt Christi oder die Predigt von ihm68, die durch das Wirken des Heiligen Geistes Glauben hervorrufe. Dementsprechend war Schleiermacher seine Predigttätigkeit, die lebendige Verkündigung, eminent wichtig. Er fasst aber einerseits das Wirken das Geistes deutlich weniger an die Schrift gebunden als die reformatorische Tradition und andererseits den Glauben als Gefühl bzw. Bestimmtheit des christlich-frommen Selbstbewusstseins, und eben nicht als Erkenntnis. So ist Aufgabe der Schrift nicht, Schule der rechten Gotteserkenntnis zu sein, sondern konstitutives und kritisches Regulativ der kirchlichen Lehre: Und was sich in jedem Zeitraum als durch die Schrift hervorgerufene Auffassung des christlichen Glaubens geltend macht, das ist auch die diesem Moment angemessene Entwicklung der echten und ursprünglichen Auffassung Christi und seines Werkes, und konstituiert für Zeit und Ort die gemeinsame christliche Rechtgläubigkeit.69

Auch für Calvin ist die Schrift als solche nicht Quelle des Glaubens, dazu bedarf es des inneren Wirkens des Geistes70, aber der Geist wirkt, indem er eine feste und gewisse, Verstand und Herz erfassende Erkenntnis schenkt, dass die doctrina wahr ist. Eine enge Verbindung von fides und doctrina verweist energisch an die Schrift als völlig unentbehrlicher, einzig verlässlicher Quelle der Gotteserkenntnis, ohne die der Glaube in die Irre geht. Die Glaubwürdigkeit der Schrift verbürgt der Heilige Geist – so sagt auch Schleiermacher –, aber Calvin geht (noch) davon aus, dass, wenn dieses Fundament gelegt ist, zusätzlich hinreichend sichere Erweise der menschlichen Vernunft ihre Autorität bestätigen können.71 Hier wird noch einmal der Unterschied der Zeit greifbar: Wo Calvin mit der Konvergenz philologischer Forschung mit der theologischen Grundlegung rechnen kann und, nachdem die theologische Argumentation den Grund gelegt hat, die Wissenschaft einbeziehen kann, ist zu Schleiermachers Zeiten eine solche Konvergenz einem Konkurrenzverhältnis gewichen: Das wissenschaftliche Argument stützt das theologische Argument nicht mehr, es widerspricht ihm. Schleiermacher reagiert darauf, indem er die Bibel aus dem Focus ————— voranstellen“ (Glaubenslehre (1830), §128.1), weil sie einen falschen Eindruck des Zusammenhangs vermitteln. 68 „Sofern nun die neutestamentlichen Schriften eine solche auf uns gekommene Predigt sind, entsteht der Glaube auch aus ihnen.“ (Glaubenslehre (1830), §128.2). 69 Glaubenslehre (1830), §131.2. 70 Vgl. P. OPITZ, Schrift, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2008, (231– 240) 237. 71 Vgl. Inst. (1559), I,8,1.

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zieht und sie im Vertragstext mit der Wissenschaft, der Einleitung in die Glaubenslehre, nicht erwähnt. Das Verhältnis von Glaubenslehre und Institutio lässt sich als verschiedene Betonung einer gemeinsamen Frage beschreiben, der Frage: Wie können wir wieder fromm werden?72 Für Schleiermacher liegt die Betonung auf „fromm“, und er versucht, angesichts der Säkularisation in der späten Aufklärungszeit Frömmigkeit in der menschlichen Subjektivität zu verankern, indem er zu den Subjektivitätstheorien seiner Zeit in Konkurrenz tritt mit einer eigenen Theorie, in der Frömmigkeit nicht nur vorkommt, sondern auch zur Lösung des philosophischen Dilemmas der Zeit wird. Die Frage nach falscher, irregeleiteter Frömmigkeit und der inhaltlichen Gestaltung christlichen Lebens spielt für ihn eine untergeordnete Rolle. Für Calvin, der drei Jahrhunderte früher vor der Aufgabe steht, einer verfolgten Kirche die rechte Lehre aufzuschreiben, liegt der Akzent auf „werden“: Obwohl gläubig, sind seine Zeitgenossen nicht fromm im Sinne der reformatorischen Umkehr zur Schrift und zur Weisung Gottes. Darum stellt Calvin sich und seine Lehre werbend in den Dienst des zur wahren Erkenntnis und darum zur Umkehr von Irrglaube und Sünde rufenden Wortes Gottes. Die Frage nach der Verselbstständigung der Wissenschaften zu einem unabhängigen Deutungssystem spielt für ihn nur eine Rolle, insofern das gute christliche Leben dadurch gestört wird.

3. Cui bono? Ich beanspruche jedoch nichts weiter, als dass jeder gerecht und offen mein Werk nach dem Nutzen und der Frucht beurteilt, die er daraus gewinnt.73

Nun könnte es angehen, den Schluss zu ziehen, dass Schleiermachers Glaubenslehre bei aller Ähnlichkeit zur Institutio bei genauerer Betrachtung inhaltlich doch gründlich andere Bestimmungen enthält, und den Vergleich mit der Feststellung beenden, dass sich Schleiermacher wohl doch zu recht im Einzelnen weiter nicht auf Calvin bezieht. Friedrich Schleiermacher hat ja nicht mehr der Epoche der Reformation, sondern einer folgenden, meist Neuprotestantismus genannten, zugehört. Für diese hat er mit der Glaubenslehre die überkommene reformatorische Theologie wiederum so grundlegend reformiert, dass seine Wirkung kaum überschätzt werden kann. ————— 72 73

Vgl. dazu GERRISH, Calvin, 1043; WERNER, Calvin und Schleiermacher, 21f. Vorrede zum Psalmenkommentar, CStA 6, 39.

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Dieser Schluss wäre aber doch voreilig gezogen, denn die Problemstellung, der Schleiermacher sich gegenüber sah und die er – in der Tradition der Reformation – bewältigen wollte, ist in veränderter Form nach wie vor gegeben, und zwar in einer Weise, die nach den spezifischen Akzentsetzungen beider Theologen fragen lässt: Wie können wir heute religiös sein?, so die Betonung gegenüber der säkularisierten Gesellschaft; und: Wie können wir heute religiös sein?, so die Betonung gegenüber einer hedonistischen Gesellschaft und bedrohten Welt. Was also lässt sich lernen von Glaubenslehre und Institutio, was diesen Knoten der Geschichte angeht? Schleiermachers Konzeption braucht, um noch einmal auf die Vertragsmetapher zurückzukommen, zwei anerkannte, honorige Vertragspartner, sonst umfasst der Vertrag zu wenig, um von Nutzen zu sein. Dazu hat er auf der einen Seite das Christentum als die vollkommenste Gestalt von Religion beschrieben. Auf der anderen Seite hat er sich auf die Subjektivitätsphilosophie bezogen, die er damit als maßgebliche Wissenschaft des deutschen Idealismus anspricht, und zudem ein System der Wissenschaften entwickelt, welches alle Wissenschaften als Teile eines Ganzen beschreibt und einander zuordnet. Das ist heute so nicht mehr möglich: Auf der einen Seite kann weder das wieder erkannte besondere theologische Verhältnis von Christentum und Judentum ignoriert werden noch die auch theologische Verwandtschaft mit dem Islam in ein Über- und Unterordnungsverhältnis gebracht werden, das Christentum also nicht als vollkommene Gestalt von Religion gelten. Die mit christlich-jüdischem wie interreligiösem Dialog und den kontextuellen Theologien verbundenen veränderten Auffassungen des Christentums lassen sich kaum über ein kritisches Verfahren in eine Wesensformel fügen. Schleiermachers Reduktion auf das historische Dass der Erlösung – das Urerlebnis der Begegnung mit Christus – ist zudem gegenüber der gewachsenen Einsicht in die Relevanz der kontextsensiblen Entfaltung, wie Erlösung denn zu denken sei, zu wenig. Auf der Seite der Wissenschaften ist eine noch größere Verzweigung zu beobachten, zumindest müssten die Wissenschaften von der Natur, der Gesellschaft, dem Menschen und der Wirtschaft unterschieden werden, die kaum noch als Teile eines Systems beschrieben werden können, und einen von einer der anderen abgeschlossenen „Vertrag“ kaum ratifizieren würden. Der große Wurf der Glaubenslehre, die lebendigen Glauben und wissenschaftliche Forschung als widerspruchsfrei, aber aufeinander angewiesen beschreibt, kann wohl nicht wiederholt werden. Auf der anderen Seite darf das Verhältnis von Religionen und Wissenschaften nicht in gegenseitiger Ignoranz versanden, sonst droht die Religiosität in Fundamentalismus, die Forschung in Selbstvergötzung umzuschlagen. Der Allgemeingültigkeits-

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anspruch zumindest des christlichen Offenbarungsverständnisses darf nicht als Intoleranz desavouiert werden, sondern muss auch in seinem Auftrag für die Welt gesehen werden. Der seit der beginnenden Neuzeit schwindende eine Gesamtzusammenhang der Wissenswelt hat an seine Stelle selbstständige Denksysteme und ausdifferenzierte Wissenschaften treten lassen. Aus christlicher Sicht sind sie, was sie nicht immer wissen, gegenseitig aufeinander angewiesen und dürfen darum die gegenseitigen Kontakte nicht dem Zufall überlassen. Wenn die Kirche ihren Auftrag für die Welt ernst nimmt, muss sie tragfähige Zuordnungen finden. Schleiermachers bleibendes Verdienst ist es, der evangelischen Theologie den Rückzug von dieser Aufgabe nicht zu erlauben. „Wie können wir heute religiös sein?“ ist die Frage, die sie so zu beantworten hat, dass der Welt klar wird, was sie davon hat. Womit der Gedankengang zu Calvin zurückführt: „Wie können wir heute religiös sein?“ Die Bewährung im Alltag und an den Aufgaben der Zeit kann die Beschreibung wahrer Frömmigkeit in der Abkehr von Irrwegen hervorbringen, wenn sie die Frage nach dem verbindlichen christlichen Leben aktuell hält. Eine autoritative Antwort wird unmöglich sein oder ungehört verhallen, aber Calvins dialogische Rhetorik, die in ihren Sätzen Freiräume der Interpretation offenhält und so ihre Leserinnen und Leser einbezieht und um sie wirbt, kann zu einem gemeinsamen Weg weisen. Calvins Gabe, in einer großen Erzählung die Bewegung von Gottes- und Selbsterkenntnis zu entfalten, kann gerade durch die diskussionslos vorausgesetzte Existenz eines von Gott als dem Schöpfer der Welt gegebenen Gesamtzusammenhanges eine orientierende Kraft gewinnen, die die Werbung erfolgreich macht. Sowohl die Institutio christianae religionis als auch Der christliche Glaube sind bis heute inspirierende Modelle, die christliche doctrina immer wieder zu reformieren und darzustellen. Bei aller Verschiedenheit ist ihre Verwandtschaft spürbar darin, dass ihre Verfasser – beide erfolgreich – der Verkündigung der Offenbarung Gottes in Jesus Christus für alle Welt dienen.

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II. Erben Calvins? Calvins Einfluss auf geistesgeschichtliche Strömungen der Neuzeit

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Kaspar von Greyerz

Calvin und der monarchomachische Widerstandsdiskurs des 16. Jahrhunderts – insbesondere bei Theodor Beza

Im Vergleich zu Deutschland und der deutschsprachigen Schweiz fasste die Reformation in Frankreich in breiteren Bevölkerungskreisen mit einer deutlichen zeitlichen Phasenverschiebung Fuß.1 Das gilt jedoch nicht für die reformatorische Propaganda. Bereits um die Mitte der 1530er Jahre machte sie auch vor dem königlichen Hof nicht mehr Halt. 1534 wurden so genannte „Placards“, d.h. reformationsfreundliche Flugblätter, an die Türen der inneren Gemächer des Königs geheftet. Das Resultat dieser Flugblattaktion war ein eigentlicher Backlash: die staatlichen Gerichte inszenierten eine Reihe von anti-reformatorischen Verfolgungswellen, die zum Teil direkt durch die Krone unterstützt wurden. Zwischen 1523, dem Jahr der ersten Hinrichtung eines Anhängers der Reformation in Frankreich, und 1559, dem Todesjahr König Heinrichs II., sollen in Frankreich mindestens 5000 Personen mit reformationsfreundlicher Gesinnung hingerichtet worden sein. Trotz der Abwehrmaßnahmen durch die Krone und die hohen Gerichte des Landes hatte der Protestantismus bis zum Beginn der Religionskriege, die im Jahre 1562 ausbrachen, vor allem unter den städtischen Mittel- und Oberschichten zahlreiche Anhänger gefunden. Auf dem Lande vermochten sich – mit Ausnahme des Südens Frankreichs – jedoch nur Vertreter des Adels für die Reformation zu begeistern. Das französische Hugenottentum blieb eine Minderheitenbewegung und überschritt wohl zu keinem Zeitpunkt auch nur die Zahl von 10 Prozent der französischen Bevölkerung. Allerdings darf gleichzeitig nicht übersehen werden, dass die Hugenotten zu Beginn der Religionskriege in einer Reihe größerer Provinzstädte zwanzig bis über dreißig Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. In den Städten Nîmes, Montauban und La Rochelle neigte zum gleichen Zeitpunkt (1562) sogar eine Mehrheit der Bevölkerung dem Calvinismus zu.2 Die spezifisch städtische Prägung des von Genf ausstrahlenden Calvinismus war eine Form der reformatorischen Botschaft, für —————

1 Zum Folgenden vgl. insbesondere die einschlägigen Beiträge in: La réforme en France et en Italie. Contacts, comparaisons et contrastes, hg. von P. BENEDICT / S. SEIDEL MENCHI / A. TALLON, CEFR 384, Rom 2007; stark zusammenfassend F. LEBRUN, Être chrétien en France sous l’Ancien Régime, 1516–1790, Paris 1996, 9–38. 2 P. BENEDICT, Settlements: France, in: Handbook of European History, 1400–1600, hg. von T.A. BRADY JR. / H.A. OBERMAN / J.D. TRACY, Leiden 1995, Bd. 2, (417–454) 427.

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Calvin und der monarchomachische Widerstandsdiskurs

die sich unter der französischen Landbevölkerung allein die Bauern im Süden des Landes zu erwärmen vermochten. Seinen Höhepunkt erreichte der Einfluss der Genfer Reformation in Frankreich in den fünfziger und frühen sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts. Die Religionskriege stürzten das Land und das französische Königtum zwischen 1559 und den 1590er Jahren in eine tiefe Krise. Ihren spektakulären Höhepunkt erreichte die konfessionelle Auseinandersetzung im Bartholomäus-Massaker vom August 1572, in welchem am Rande der Hochzeit des Protestanten Heinrich von Navarra, dem späteren König Heinrich IV., und Margarete von Valois, der Schwester König Karls IX., zunächst in Paris und dann auch in zahlreichen Provinzstädten eine große Zahl zum Teil führender Hugenotten ermordet wurde.3 Wie konnte diese Hochzeit, die nicht zuletzt als Akt der Versöhnung zwischen den Konfessionsparteien gedacht war, zur Pariser Bluthochzeit werden? Der hugenottische Admiral Gaspard de Coligny bereitete zeitgleich mit der Hochzeit im heimlichen Einverständnis mit dem König eine militärische Intervention gegen Spanien in den Niederlanden vor. Vier Tage nach der Hochzeit wurde er in Paris von einem prospanischen Katholiken überfallen. In einer Überreaktion drohten daraufhin die Anführer des hugenottischen Adels der Krone mit Rache, weil sie diese für den Anschlag auf Coligny für mitverantwortlich hielten. Da die Rache-Drohung des hugenottischen Adels für die Krone gefährlich werden konnte – die Hugenottenführer hatten wegen des geplanten niederländischen Feldzugs ihre Truppen um Paris zusammengezogen –, ordnete die Mutter des jungen Königs Karls IX., Katharina von Medici, die Ermordung der sich in Paris aufhaltenden, führenden Hugenotten an. Die Kontrolle über diese Mordaktion entglitt dem Hof jedoch sehr rasch und der Anschlag wuchs sich zu einem großen und üblen Massaker aus. In Paris kamen dabei etwa 2000 Protestanten um. Mehrere Tausend verloren ihr Leben außerdem in etwa einem Dutzend weiterer französischer Städte, wo es ebenfalls zu vergleichbaren Aktionen kam. Die weitere Verbreitung des Calvinismus in Frankreich wurde durch das Bartholomäus-Massaker empfindlich getroffen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, dass der Vormarsch des Hugenottentums bereits neun Jahre früher auf wohl entscheidende Weise abgebremst wurde, als 1563 durch das Edikt von Amboise den Hugenotten zwar für die Gebiete, in denen sich der Calvinismus bis dahin hatte festsetzen können, Konzessionen gemacht wurden, gleichzeitig aber die weitere Verbreitung der Reformation in Frankreich ganz erheblich erschwert wurde. Der Anteil der Pro—————

3 Dazu und zum Folgenden: D. CROUZET, La nuit de Saint-Barthélemy. Un rêve perdu de la Renaissance, Paris 1994.

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testanten an der Gesamtbevölkerung überstieg von da an nie 6 bis 7 Prozent.4 Welche ideenpolitischen Folgen hatte das Bartholomäus-Massaker? Unter den Theologen und Gelehrten, die sich auf calvinistischer Seite unter dem Schock dieses Ereignisses mit der Frage des Widerstandsrechts beschäftigten, entstand eine neue in sich relativ kohärente Theorie. Im Folgenden wird es vorrangig um deren Inhalte und nicht um deren Reichweite gehen. Am Ende meiner Ausführungen werden wir allerdings auch zu fragen haben, inwiefern Calvin und die auf ihn folgenden calvinistischen Theoretiker eine ununterbrochene, ins 17. und 18. Jahrhundert weiterreichende Tradition religiös legitimierter politischer oder rechtlicher Lehre begründet haben. Wenn wir von „monarchomachischem Widerstand“ sprechen, müssen wir in begriffsgeschichtlicher Hinsicht unseren Blick nicht nur auf die hugenottischen Widerstandstheoretiker der Jahre nach der Bartholomäusnacht, sondern auch auf die Widerstandstheorien der spanischen Spätscholastiker und von Exponenten der katholischen Liga in Frankreich am Ende des 16. Jahrhunderts richten, sowie am Rande auch auf die englischen und schottischen Protestanten, welche ebenfalls im späteren 16. Jahrhundert die katholische Doktrin vom Tyrannenmord übernahmen.5 Diese unterschiedliche, heterogene Gruppe von Politikern und Theoretikern ist gemeinsam mit den calvinistischen Theologen und Gelehrten, von denen im Folgenden die Rede sein wird, durch William Barclay (1546–1608), einen in Frankreich lebenden Schotten, als „Monarchomachen“ bezeichnet worden. Mit Monarchomachen meinte Barclay „Königsbekämpfer“; der Begriff ist abgeleitet von griechisch monarchos und machesthai (=kämpfen).6 Schauen wir uns die drei klassischen hugenottisch-monarchomachischen Texte der 1570er Jahre etwas genauer an, bevor wir uns vor allem Theodor Beza und seiner Hauptquelle, dem Magdeburger Bekenntnis von 1550 —————

4 P. BENEDICT, The Huguenot Population of France, 1600–1685. The Demographic Fate and Customs of a Religious Minority, TAPhS 81/5, Philadelphia 1991, jetzt in: D ERS., The Faith and Fortunes of France’s Huguenots, 1600–1685 (= St Andrews Studies in Reformation History), Aldershot 2001, 34–120. Vgl. auch M. PRESTWICH, Calvinism in France, 1555–1629, in: Dies. (Hg.), International Calvinism, 1541–1715, Oxford 1985, (71–107) 105. 5 Einen knappen Überblick bietet K. VON GREYERZ, Äussere Bedrängnis, innere Befreiung: Der reformierte Widerstandsdiskurs des späteren 16. Jahrhunderts, in: Protestantische Kirche und moderne Gesellschaft. Zur Interdependenz von Ekklesiologie und Gesellschaftstheorie in der Neuzeit, hg. von A. GRÖZINGER u.a., Zürich 2003, 71–94. 6 M. TURCHETTI, Tyrannie et tyrannicide de l’Antiquité à nos jours, Paris 2001, 418; P.-A. MELLET, La resistance calviniste et les origines de la monarchie (vers 1570), BSHPF 152, 2006, (179–198) 179f. Vgl. außerdem P.-A. MELLET, Les traités monarchomaques. Confusion des temps, résistance armée et monarchie parfaite (1560.1600), THR 434, Genf 2007.

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zuwenden. Als erster der drei Traktate erschien 1573 François Hotmans „Franco-Gallia“. Es ist eine Art Verfassungsgeschichte Frankreichs, in welcher Hotman vor allem den Nachweis zu erbringen sucht, dass die hochmittelalterliche fränkische Monarchie eine Wahlmonarchie mit Ständevertretung gewesen sei und dass sich Spuren derselben bis in die Gegenwart des späteren 16. Jahrhunderts erhalten hätten. Es gelte, die Wahlmonarchie vor dem usurpatorischen Machtanspruch der Krone zu bewahren. Im Jahre 1574 wurde Theodor Bezas „Du droit des magistrats sur leurs sujets“ veröffentlicht. Wie wir sehen werden, entwickelte Beza darin wichtige Gedanken des Magdeburger Bekenntnisses weiter. Bezas Schrift sollte sich als ausgesprochen einflussreich erweisen. Zwischen 1574 und 1581 erschienen zehn französische Ausgaben.7 Außerdem wurden zwischen 1576 und 1649 mindestens 17 lateinische Editionen gedruckt. Gegen Ende der 1570er Jahre (1579) erschien schließlich anonym der dritte klassische Text der hugenottischen Monarchomachen: die „Vindiciae contra tyrannos“ (frei übersetzt: Das Gericht über die Tyrannen). Obwohl der Autor (oder die Autoren) vielfach aus denselben Quellen schöpft wie Beza, entwickelt er am Ende eine stark verrechtlichte, in einem gewissen Sinne säkularisierte Theorie des Widerstands, die sich von den religiösen Legitimationsmustern der verschiedenen Vorläufer deutlich abhebt. Die Autorschaft der anonym erschienenen Schrift ist nicht geklärt. Bis in die 1990er Jahre hinein ist diese Schrift am häufigsten den beiden Autoren Philippe Duplessis-Mornay und Hubert Languet gemeinsam zugeschrieben worden.8 In ihrer 1995 erschienenen, umfangreichen Genfer „Thèse“ über den Späthumanisten und Diplomaten Hubert Languet hat Béatrice Nicollier jedoch berechtigte Zweifel an dieser Zuschreibung geäußert.9 Zurück zu Bezas „Du droit des magistrats sur leurs sujets“. Bereits der Untertitel lässt die Nähe der Argumentation zum Magdeburger Bekenntnis erkennen. Er lautet: „Traitté tres-necessaire en ce temps pour aduertir de leur deuoir, tant les Magistrats que les Subiets: publié par ceux de Magdebourg lʼan M.D.L. & maintenant revue & augmenté de plusieurs raisons & exemples.“10 Beza macht in expliziter Anlehnung an das Magdeburger Bekenntnis die zentrale Rolle der niederen Obrigkeiten ebenfalls zum Dreh-

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7 R.M. KINGDON, Calvinism and Resistance Theory, in: The Cambridge History of Political Thought, 1450–1700, hg. von J.H. BURNS, Cambridge 1991, 193–218, besonders 211. 8 Vgl. ebd., 212. 9 B. NICOLLIER-DE WECK, Hubert Languet: 1518–1581, THR 293, Genf 1995, 465–487. 10 T. BEZA, Das Recht der Obrigkeiten gegenüber den Untertanen und die Pflicht der Untertanen gegenüber den Obrigkeiten, übers. von H. Klingelhöfer, in: Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen, hg. von J. DENNERT, Klassiker der Politik 8, Opladen 1968, 1, Anm.2.

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und Angelpunkt seines politischen Systems.11 Dies relativiert die Rolle des Monarchen und erleichtert außerdem die Begründung eines Widerstandsrechts.12 Bevor wir auf Bezas Anleihen bei Calvin zu sprechen kommen, werfen wir unseren Blick auf das so genannte Magdeburger Bekenntnis. In der neueren Sekundärliteratur wird darauf hingewiesen, dass sich in den Schriften des deutschen Luthertums die Bejahung eines individuellen Rechts auf Widerstand erst im Magdeburger Bekenntnis von 1550 finde, auch da freilich in sehr eingeschränkter Form. So äußert sich etwa Udo Bermbach wie folgt zum Inhalt des Magdeburger Bekenntnisses: Verfolgt der Herrscher schließlich – und dies wird als Tyrannis proklamiert – nicht nur Stände und Untertanen, sondern hebt das Naturrecht auf und kämpft so gegen Gott selbst, so ist aktiver Widerstand geboten. Da Gott allen Obrigkeiten nur deshalb Autorität verliehen hat, damit „rechte lehr und Gottesdienst, leib und leben, gut und ehre“ gewahrt werden, kann der Verstoß gegen dieses Gebot nur teuflischer Inspiration entspringen. Dem Teufel zu folgen aber wäre wider Gott. Gegen die „hohe Obrigkeit“ ist demnach die „untere Obrigkeit“ aufgerufen vorzugehen; versagt auch diese, so wird gewaltsamer Widerstand zur Pflicht jedes einzelnen.13

Wir werden sogleich sehen, dass es sich dabei um eine an einer einzigen Stelle in einem langen Traktat gemachte Konzession handelt. Man sollte sie daher keinesfalls überbewerten. Thomas Kaufmann hat mit Hinweis auf die besondere Situationsbezogenheit des Textes davor gewarnt, die traditionsbildende Funktion der Schrift innerhalb des Luthertums zu überschätzen. Er spricht in diesem Zusammenhang von „ihre[r] relative[n] Wirkungslosigkeit im lutherischen Protestantismus“.14 Dennoch liegt auf der Hand, dass das Magdeburger Bekenntnis hinsichtlich der systematischen Betrachtung der Rolle von Obrigkeit und Untertanen weit über die bis in die 1540er Jahre im deutschen Luthertum zu dieser Frage verfassten Texte hinausgeht. Wie Thomas Kaufmann vor kurzem im Blick auf die 1547 unter dem Namen des Justus Menius erschienene, durch Philipp Melanchthon redigierte Schrift „Von der Notwehr Unterricht“ von 1547 nachgewiesen hat, steht sie jedoch durchaus „in einer direkten Kontinuitätslinie mit einschlägigen politiktheo—————

11 Zu diesen Zusammenhängen: I. HÖSS, Zur Genesis der Widerstandslehre Bezas, ARG 54, 1963, 198–214. 12 U. BERMBACH, Widerstandsrecht, Souveränität, Kirche und Staat, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd.3: Neuzeit, hg. von I. FETSCHER und H. MÜNKLER, München 1985, (101– 162) 116. 13 Ebd., 111. 14 T. KAUFMANN, Das Ende der Reformation. Magdeburgs ‚Herrgotts Kanzlei‘ (1548– 1551/2), BHTh 123, Tübingen 2003, 193.

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retischen Äußerungen der Wittenberger Theologen insbesondere aus der Zeit des Schmalkaldischen Krieges.“15 Die deutsche Fassung der Magdeburger Schrift von 1550 trägt den Titel „Bekentnis, Unterricht vnd vermanung/der Pfarern vnd Prediger/der Christlichen Kirchen zu Magdeburgk. Anno 1550. Den 13. Aprilis“. Es handelt sich um eine umfangreiche Abhandlung über die so genannte „Notwehre“. Sie ist gleichzeitig in einer lateinischen Fassung erschienen, was ihre Wirkung weit über die Grenzen des Alten Reiches hinaus erklärt.16 Sie stammt aus einer belagerten Stadt. Wir erinnern uns, dass Kaiser Karl V. 1547 im Schmalkaldischen Krieg einen Sieg über die deutschen Protestanten errang. Der Kaiser hielt es trotz seines Sieges geboten, den Protestanten in Fragen des religiösen Dogmas einen Kompromiss anzubieten. Dieser bestand aus dem am Augsburger Reichstag von 1547/48 erlassenen Interim, das den Protestanten bis zu einer definitiven Entscheidung des Konzils die Priesterehe und den Laienkelch zugestand.17 Das Interim rief in Deutschland sowohl auf katholischer wie auf protestantischer Seite heftigen Widerspruch hervor. Die Stadt Magdeburg weigerte sich, das Interim anzunehmen und wurde dadurch zum Zentrum des Widerstands gegen die Religionspolitik des Kaisers bis schließlich im Jahre 1552 ein Fürstenaufstand gegen Karl V. eine völlig neue reichs- und konfessionspolitische Lage zur Folge hatte. Magdeburg wurde durch den Kaiser in die Acht erklärt und über viele Monate hinweg im Auftrag des Kaisers belagert. Die Magdeburger Predigerschaft deutete diese Situation primär heilsgeschichtlich und apokalyptisch.18 Daher auch die Relativierung gegen Ende des für uns relevanten zweiten Teils der Schrift der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre: Auff die ander einrede antworten wir auch/ vnd bekennen das war ist/ CHRisti Reich kann nicht regiert/ geschützt noch erhalten werden Menschlicher weisse/ widder mit verstand/ Weißheit oder gewalt/ Aber doch wie ein Christliche Obrigkeit kann und soll/ nach vermüge Gottes ordnung vnd befehl / Christo zu seinem Reich dienen mit forderung seines Worts/ vnnd des rechten brauchs seiner heiligen Sacrament […]. Also soll jhm auch darzu dienen der Obrigkeit Schwerd/ Büchsen/ Harnisch/ vnd was

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15 T. KAUFMANN, Politiktheorie und Apokalyptik in Wittenberger Schriften aus der Zeit des Schmalkaldischen Krieges, in: DERS., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, SuR NR 29, Tübingen 2006, (43–66) 61. 16 Dazu und zum Folgenden mit umfassender Auseinandersetzung mit der entsprechenden Forschungsliteratur: KAUFMANN, Ende, 176–198. Vgl. auch N. REIN, The Chancery of God. Protestant Print, Polemic and Propaganda against the Empire, Magdeburg 1546–1551 (=St Andrews Studies in Reformation History), Aldershot 2008, insbesondere Kap. 5. 17 Vgl. L. SCHORN-SCHÜTTE (Hg.), Das Interim 1548/50. Herrschaftskrise und Glaubenskonflikt, SVRG 203, Gütersloh 2005. 18 Vgl. KAUFMANN, Ende, passim.

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mehr von nöten ist und dienen kann/ dem ampt Göttlichs Worts schutz zuhalten/ widder vnrechten gewalt vnd verfolgung.19

In den einleitenden Passagen zum zweiten Teil der Schrift stößt der Leser nach drei Seiten auf folgende Absichtserklärung: Wir wollen vns fuernehmen/ zubeweisen/ das ein Christliche Obrigkeit mag vnd sol jhre vnterthanen verteidigen/ auch widder ein hoehere Obrigkeit/ so die Leute mit gewalt zwingen wil/ Gottes Wort vnd rechte GOTTESdienst zuuverleugnen/vnd Abgoetterey anzunehmen.20

Es soll also insbesondere die spezielle heilsgeschichtliche Situation angesprochen werden, in der sich 1550 die Stadt Magdeburg und ihre Kirche nach Einschätzung ihrer Pfarrerschaft befand, also keineswegs generell Ungehorsam gepredigt werden. Für alle anderen Fälle, d.h. alle diejenigen Situationen, in denen eine höhere Obrigkeit nicht offenkundig gegen das Wort Gottes verstößt, bleibt für die Untertanen ohnehin, aber auch für die niederen Obrigkeiten, das Gebot uneingeschränkten Gehorsams bestehen. Aber in der speziellen Situation der akuten Verfolgung aus Glaubensgründen seien sie, die Verfasser, gezwungen worden, in dieser Schrift der Frage nachzugehen, inwiefern „die armen unschueldigen Christen“ davor geschützt werden könnten, durch die „Papisten“ in ihr Verderben mit hineingerissen zu werden: Derhalben so sagen wir nu noch/ wie zuuor/ vermuege GOttes Worts klerlich und deutlich/ welche meinung ein jeder recht verstehen/ fassen vnd brauchen wolle/ So ein hoehere Obrigkeit sich mit gewalt unterstehet des Papsts abgoetterey widder einzusetzen/ die reine Lehr des heiligen Euuagelij/ vnnd die jenigen/ so demselbigen zugethan sein/ zuuerdruecken odder zuuertilgen/ wie denn solchs jtzund mit vns/ vnd andern mehr geschicht/ nicht allein widder Goettlich/ sondern auch widder die geschriebene eigen rechte/ vnangesehen das man andere schein vnd namen fuergibt/ so kan vnnd sol eine Vntere/ Gottfuerchtige Obrigkeit sich sampt den jhren/ vber welche sie gesetzt ist/ widder solchen unrechten gewalt schuetzen/ vnd auffhalten/ auffs beste sie kan/ rechte lehr vnd Gottes dienst/ Leib vnd leben/ gut vnd ehre bewahren.21

Und nun folgen auf den folgenden 24 Seiten bis zum Schluss des Traktats drei Argumente zur Stützung der These, dass die niederen Obrigkeiten zum aktiven Widerstand gegen die höhere Obrigkeit, die Reichsstände also zum Widerstand gegen den Kaiser berechtigt sind, wenn die höhere Obrigkeit sich anschickt, den Protestantismus zu unterdrücken. —————

19 Bekentnis Unterricht vnd vermanung / der Pfarrhern vnd Prediger / der Christlichen Kirchen zu Magdeburgk, Anno 1550. Den 13. Aprilis […], Magdeburg 1550, Abschnitt M ij recto. 20 Ebd., Abschnitt H ijj verso. 21 Ebd., Abschnitt K.

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Wo sich’s aber zutregt/ das aus der Vntern Obrigkeit die grösten vnd meisten allhie seumig sein/ vnd ihr ampt vnterlassen/ so sündigen sie zwar schwerlich/ Aber solch ein Exempel entschuldiget odder beschweret für Gott die andern geringe vnd wenige Obrigkeit nicht/ sondern ein jglicher sol nachmals wie vor/ in seinem stande/ vnd an seinem ort fleissig sein/ das zu thun/ was einer fromen Obrigkeit wol anstehet.22

Hier ist, soweit ich sehe, die einzige Stelle im ganzen Traktat, an der individueller Widerstand ausdrücklich für den Fall eines offensichtlichen Versagens der niederen Obrigkeit gebilligt wird. Der Rest des gesamten für uns einschlägigen zweiten Teils des Magdeburger Bekenntnisses beschäftigt sich mit dem Recht auf Notwehr der niederen Stände. Indirekt legitimiert jedoch auch der Appell im Schlussteil der Schrift, den bedrängten Magdeburgern „hülffe und rettung mitzuteilen“, „die Anwendung des Widerstandsrechts auf Einzelpersonen“, und nicht nur auf die niedere Obrigkeit.23 Wie in der abschließenden Passage des soeben zitierten Ausschnitts in Aussicht gestellt wird, folgt unmittelbar danach eine Unterscheidung von vier Graden obrigkeitlichen Unrechts, also eine Kasuistik unrechtmäßiger obrigkeitlicher Gewaltanwendung. Der vierte und schlimmste Grad verweist erneut auf die im Falle Magdeburgs aus der Sicht der Autoren vorherrschende Situation: Quartus Gradus. Der vierde Grad. Der vierde vnd hoeheste Grad der iniurien, so die Obrigkeit vben kan/ ist etwas mehr denn Tyrannisch/ nemlich wenn die Tyrannen also toll vnd rasend werden/ das sie mit waffen vnd krieg anheben zuuerfolgen/ nicht allein die Personen der vndern Obrigkeit vnnd der vnterthanen in einer rechten sachen/ Sondern auch in den personen das hoechste vnnd noetigste Recht/ vnd gleich vnsern Herrn Gott selbst/ der ein stiffter ist desselbigen Rechten […].

Genau dies aber geschehe jetzt, so die Autoren, im Falle Magdeburgs: Solchs aber geschicht jtzund von vnsern Obern/ das sye mit gewalt beyde [d.h. sowohl Gottes Ehre, wie das individuelle Seelenheil] in vns vnnd in allen vnsern nachkomen tilgen wollen das rechte erkentnis GOttes/ ohn welches Gott nicht kan geehret/ auch kein Mensch seelig werden. Ja sie wollens noch fuer recht haben/ vnnd in aller Menschen hertzen pflantzen/ falsche vnd GOtteslesterliche Lehr/ von Gott/ des Antichrists vnd des Teuffels Reich auffrichten/ vnd das Reich Christi zerstoeren/ wie solchs alles aus jhren eigenen worten/ vnd wercken so klar vnd helle am tage ist/ als die liebe Sonne.24

Damit sind die hauptsächlichen Anknüpfungspunkte des Widerstandstraktats des Calvin-Nachfolgers Theodor Beza angesprochen. Zwar adaptiert ————— 22 23 24

Ebd., Abschnitt K ij. KAUFMANN, Ende, 188f. Bekentnis Unterricht und vermanung, letzte Seite vor Abschnitt L.

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Beza nicht explizit die bereits durch die antike Tyrannenlehre vorgegebene Unterscheidung verschiedener Grade obrigkeitlichen Unrechts, aber seine Argumentation entnimmt der Tyrannenlehre und den zeitgenössischen Naturrechtsvorstellungen säkulare Vorstellungen, wie z.B. denjenigen der Billigkeit (aequitas) und verknüpft diese mit biblisch-religiösen Begründungszusammenhängen.25 Der Traktat ist aufgeteilt in zehn Untersuchungen (quaestiones), die mit der Frage beginnen, ob man der Obrigkeit und ohne Ausnahme wie Gott gehorchen muss, und die an zehnter Stelle mit der Frage enden (ich zitiere zunächst die deutsche Übersetzung): „Können sich Untertanen, die wegen ihrer Religion Verfolgung erleiden, mit gutem Gewissen gegen die Gewaltherrscher, die Feinde der wahren Religion sind, mit Waffen verteidigen?“26 Im lateinischen Original lautet die Frage: „An qui propter religionem persecutionem patiuntur adversus tyrannos sese tueri salva conscientia possint.“27 Tyrannen gegenüber, die u.a. das Blut Unschuldiger vergießen oder Unschuldige beschuldigen und verfolgen oder ihre Willkür unter dem Deckmantel von Religion und Glaubenseifer verbergen, – solchen Tyrannen gegenüber ist einzelnen Untertanen der bewaffnete Widerstand erlaubt. Im Vordergrund steht jedoch der offenkundig weniger von Calvin als aus dem Magdeburger Bekenntnis übernommene Gedanke des Widerstandes der so genannt niederen Obrigkeiten. In diesem Zusammenhang übernimmt Beza von Calvin den Gedanken der „mutua obligatio“, der gegenseitigen Verpflichtung vor Gott von Obrigkeit und Untertanen. Im 20. Kapitel des vierten Buches seiner „Institutio Christianae Religionis“, d.h. ganz am Schluss seines Werks, wendet sich Calvin unter der Überschrift „Vom bürgerlichen Regiment“ („Du gouvernement civil“ in der französischen Version von 1541) der politischen Ethik zu. Der Reformator betont hier zunächst einmal – in diesem Punkt durchaus mit Luther und Melanchthon übereinstimmend –, dass das geistliche Reich Christi und die bürgerliche Ordnung zwei völlig verschiedene Bereiche sind: Denn wie kann es kommen, dass der nämliche Apostel [Paulus], der uns gebietet, standzuhalten und uns nicht dem Joch der Knechtschaft zu unterwerfen (Gal 5,1), doch an anderer Stelle den Knechten verbietet, über ihren Stand bekümmert zu sein

————— 25

Zum Kontext vgl. D. VAN DRUNEN, The Use of Natural Law in Early Calvinist Resistance Theory, JLR 21, 2005–2006, 143–167. 26 BEZA, Recht, 55. 27 Dazu und zum Folgenden: T. BEZA, De iure magistratuum, hg. von K. STURM, TGET 1, Neukirchen-Vluyn 1965, 85–90.

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Calvin und der monarchomachische Widerstandsdiskurs

(1Kor 7,21)? Das kann doch nur daher kommen, dass geistliche Freiheit und bürgerliche Knechtschaft sehr wohl miteinander bestehen können!28

Aber wir sollten freilich laut Calvin keineswegs den Fehler begehen, die bürgerliche Ordnung im Vergleich zum geistlichen Reich Christi für etwas Minderwertiges, ja gar für etwas Beflecktes zu halten. Und er fährt u.a. fort: Es darf auch niemand stutzig werden, dass ich die Fürsorge für eine rechte Regelung der Religion der bürgerlichen Ordnung der Menschen übertrage […]. Denn ich überlasse es den Menschen hier ebensowenig wie zuvor, über Religion und Verehrung Gottes nach ihrem eigenen Ermessen Gesetze zu erlassen, wenn ich die bürgerliche Ordnung gutheiße, die darauf dringt, dass die wahre Religion, die in Gottes Gesetz beschlossen liegt, nicht ungestraft öffentlich […] geschändet und geschmäht wird.29

Im Anschluss an diese Präliminarien wendet sich Calvin in der ihm eigenen Systematik zunächst der Obrigkeit, dann dem Gesetze und schließlich dem Volk zu. Unter den drei Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Demokratie gibt Calvin ausdrücklich der Aristokratie den Vorzug, betont aber sozusagen im gleichen Atemzug, Paulus lehre uns, alle Obrigkeiten als Gottes Ordnungen anzuerkennen. Die erste Pflicht der Untertanen gegenüber ihrer Obrigkeit bestehe darin, „dass sie von ihrem Amt eine höchst ehrerbietige Meinung haben […] und sie daraufhin als Gottes Dienerin und Abgesandte aufnehmen und ehren.“30 Dabei unterscheidet Calvin deutlich zwischen den Personen als Amtsträgern und dem Amte selbst. Der Ehrerbietung gegenüber dem Amt der Obrigkeit entspricht der Gehorsam und diesen sind die Untertanen letztlich auch einem ganz üblen und tyrannischen Herrscher schuldig. Aber Calvin schränkt dann dieses allgemeine Gehorsamsgebot gleichsam durch die Hintertüre wieder ein wenig ein. Und zwar in zweierlei Hinsicht. Er nimmt in seine politische Ethik aus dem Alten Testament den Gedanken des Bundes (foedus) auf, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat, und dieser Bund ist durch eine „mutua obligatio“, eine gegenseitige Verpflichtung gekennzeichnet. Das bedeutet, dass Gott öffentliche Erretter oder Rächer direkt ernennen kann, die sich für das Volk an einem tyrannischen und gottlosen Fürsten rächen. Der andere neue Aspekt besteht darin, dass Calvin kurz vor dem Ende des 20. Kapitels des vierten Buches seiner „Institutio“ betont, er habe bisher nur von amtlosen Untertanen gesprochen, es gebe aber solche, die als Volksbehörden über ein ————— 28

Inst. (1559), IV,20,1; J. CALVIN, Unterricht in der christlichen Religion [=Institutio Christianae religionis], nach der letzten Ausgabe übersetzt und bearbeitet von OTTO WEBER, Neukirchen 1955, 1033. 29 Inst. (1559), IV,20,3; ebd., 1035. 30 Inst. (1559), IV,20,22; ebd., 1050.

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Amt verfügten. Diese hätten geradezu die Pflicht, als Behüter der Freiheit des Volkes tyrannischen Herrschern entgegenzutreten. Udo Bermbach hat zu Recht argumentiert, die Argumentationsfigur der „mutua obligatio“, der gegenseitigen Verpflichtung von Obrigkeit und Untertanen, lege eigentlich schon für sich den Widerstandsgedanken nahe. Aber Calvin, so Bermbach, sucht solche Konsequenzen zu vermeiden. Der Herrscher, der aufgrund seines Willens und seiner Launen gegen den Rat der Behörden (magistratus) und gegen die Vernunft (ratio) handelt, ist zwar Tyrann, aber auch als solcher von Gott eingesetzt, also dessen Stellvertreter. […] Es sind deshalb die öffentlichen Behörden (populares magistratus), denen Widerstand gegen den Tyrannen von Calvin zugestanden, ja zur Pflicht gemacht wird, denn sie sind Teil der Obrigkeit und somit an den Auftrag, für das gemeine Wohl zu sorgen, gebunden (Inst. IV, 20, 31). Aus dem Amtsgedanken, nicht aus persönlicher Überzeugung resultiert das Widerstandsrecht, und eben dies zeichnet Calvins Denken aus: dass er die Institutionen, nicht die Personen zu Subjekten politischen Handelns macht.31

Im vierten Buch der „Institutio“ unterscheidet Calvin denn auch explizit Privatpersonen („personnes privées“) von den „Magistratz constituez pour la deffense du peuple, pour refréner la trop grande cupidité et licence des Roys“.32 Zu diesen Amtleuten, die zum Schutz der Rechte des Volkes verpflichtet sind, rechnet Calvin an derselben Stelle, die Ephoren bei den Lakedämoniern (d.h. in Sparta), die Volkstribunen im alten Rom, die Demarchen im antiken Athen, sowie aktuell die Generalstände, „les trois estatz quand ilz sont assemblez“.33 Der durch Beza von seinem Vorgänger übernommene Gedanke der „mutua obligatio“ wird bei ihm zum einen durch Beispiele aus dem Lehenswesen untermauert, so zum Beispiel in der Aussage, dass die Verpflichtung zwischen König und Amtmännern eine wechselseitige sei, und dass nicht dem König allein die ganze Reichsverwaltung anvertraut ist, sondern nur das höchste Amt darin; ferner, dass die einzelnen niederen Obrigkeiten, jede nach ihrem Rang, einen Teil davon nach bestimmten Bedingungen innehaben.34

Aber derselbe Gedanke nimmt bei Beza auch schon eine naturrechtlichsäkularisierte Form an: ————— 31 32

BERMBACH, Widerstandsrecht, 109. J. CALVIN, Institution de la Religion Chrestienne, hg. von J. PANNIER, Bd. 4, Paris 1939,

238f.

33 34

Ebd. BEZA, Recht, 15.

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Calvin und der monarchomachische Widerstandsdiskurs

Es gibt zwei Grundsätze, welche die Gerechtigkeit für unbestritten erklärt und ebenso das Naturrecht, von dem allein die Erhaltung der ganzen menschlichen Gesellschaft abhängt. Der erste ist folgender: Bei allen Vereinbarungen und Verträgen, die in gegenseitiger Übereinstimmung zwischen den Parteien abgeschlossen werden, können die, welche den Vertrag abgeschlossen haben, ihn auch lösen und für ungültig erklären, wenn es die Vernunft erfordert. Demnach besitzen die, welche die Befugnis haben, einen König zu wählen, auch das Recht, ihn abzusetzen. Der andere Grundsatz ist folgender: Wenn es überhaupt einen gerechtfertigten Anlass gibt, einen Vertrag oder ein Abkommen zu lösen, wodurch die darin enthaltene Verpflichtung von selbst aufhört oder ungültig wird, dann ist er gegeben, wenn die wesentlichen Bedingungen, derentwegen eigentlich der Vertrag geschlossen wurde, offensichtlich verletzt werden. Diejenigen, welche die Macht der Könige und höchsten Obrigkeiten so sehr erweitern, dass sie kühn behaupten, diese hätten keinen anderen Richter über sich als Gott, dem sie Rechenschaft über ihr Tun ablegen müssen, die sollen einmal beweisen, dass irgendein Volk jemals sich bewusst – es sei denn aus Furcht oder Zwang – dem Willen eines Herrschers unterworfen hat, ohne die ausdrücklich hinzugesetzte oder stillschweigend eingeschlossene Bedingung, dass es von ihm nach Recht und Billigkeit gelenkt und regiert wird.35

Beza geht am Ende deutlich über die stark situationsbezogene Legitimationsrhetorik der Magdeburger Schrift hinaus, indem er in einem „Epilogus ac conclusio de authoritate ordinum“, also in einem Epilog über die Herrschaftsgewalt der Stände in seiner sechsten Untersuchung folgert, den niederen Obrigkeiten („inferioribus magistratibus“) sei offener Widerstand erlaubt gegen Könige und andere hohe Obrigkeiten, wenn diese gegen die besten Gesetze und gegen den Herrschaftsvertrag verstießen und zu offener Tyrannei übergingen („siquidem illi optimas leges iuratasque conditiones transgredientes in apertos tyrannos degenerent“).36 Für den Fall, dass die niederen Magistrate durch Gewalt verhindert sein sollten, ihre diesbezügliche Pflicht zu erfüllen, konzediert er auch, wie das Magdeburger Bekenntnis – wenngleich nicht so explizit – ein Widerstandsrecht der einzelnen, nicht mit einem öffentlichen Amt ausgestatteten Personen. Andererseits ist es nicht wirklich klar, an wen sich Beza anlehnt, wenn er gleich zu Beginn seines Traktats deutlich über den sich beim späten Calvin andeutenden Republikanismus hinausgeht. Übt er implizite Kritik an seinem Vorgänger? Lehnt er sich auch in diesem Punkt vorrangig an das Magdeburger Bekenntnis an? Oder lässt er sich durch die historische Begründung des Wahlkönigtums in François Hotmans „Franco-Gallia“ beeinflussen, wie seine lange Reihe historischer Exempla bei der Beantwortung der sechsten „Quaestio“ vermuten lässt? Die sechste Untersuchung dreht sich um die Frage, welche Verpflichtungen die Untertanen gegenüber einem in ————— 35 36

Ebd., 37. BEZA, De iure magistratuum, 67.

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Tyrannei verfallenen Herrscher haben. Aufhorchen lässt allemal der Gedanke des Herrschaftsvertrags, den er in der zweiten Untersuchung entwickelt. Er fragt hier: Kann eine offensichtliche Gewaltherrschaft mit Waffengewalt unterbunden werden? Um diese Frage einleuchtend zu beantworten, muss ich einiges vorausschicken, gleichsam als Grundlage der ganzen Untersuchung. Die Völker haben ihren Ursprung nicht von den Obrigkeiten, sondern sind älter als diese […]. Daraus ergibt sich, dass die Völker nicht wegen der Obrigkeiten erschaffen, sondern im Gegenteil Obrigkeiten eines Volkes wegen eingesetzt worden sind.37

In der französischen Fassung von Hotmans „Franco Gallia“ (La Gaule françoise) ist dazu zu lesen: Le peuple n’est point fait et assujetty à cause du Roy, mais plustost le Roy est etably pour le regard du peuple. Car le peuple peut bien consister sans Roy, comme celuy qui est gouverné sous un estat composé des plus gens de bien et d’apparance, ou comme celuy qui se gouverne soy-mesme. Mais on ne scauroit trouver, non pas mesme imaginer un Roy, qui puisse subsister sans peuple.38

Und eine fast identische Formulierung findet sich später, 1579, auch in den „Vindiciae contra tyrannos“. In der letzten Auflage der „Institutio“, die noch zu Lebzeiten des Genfer Reformators erschien, derjenigen von 1559, hat Calvin nicht nur sein Bekenntnis zur Aristokratie als seiner Meinung nach bester Regierungsform wiederholt, sondern er hat gleichzeitig dem zwanzigsten Kapitel des vierten Buchs zwischen den Zeilen sogar einen gewissen antimonarchischen Zug verliehen. Die ältere Forschung hat darin sowie in Calvins Bekenntnis zum Widerstandsrecht der niederen Obrigkeiten gerne den Beginn einer spezifisch calvinistischen Freiheitstradition zu erkennen versucht, die sozusagen von Calvin zu John Locke und von dort weiter bis zur Unabhängigkeitserklärung der nordamerikanischen Kolonien von 1776 reichte. Hans Baron hat in einem 1939 erschienenen Aufsatz zum Thema „Calvinist Republicanism and its Historical Roots“ u.a. die These vertreten, die republikanischen Tendenzen im Spätwerk des Genfer Reformators seien nicht so sehr auf den Einfluss des politischen Alltags der Rhonestadt auf das Denken Calvins zurückzuführen, sondern vielmehr weil der Kommentar Martin Bucers zum Buch der Richter („In librum judicum ennarrationes“) 1554 postum in Genf erschienen sei.39 In diesem Kommentar führt Bucer u.a. aus, dass absolute ————— 37

BEZA, Recht, 6. F. HOTMAN, La Gaule françoise, ND: [Paris] 1991, 137. 39 H. BARON, Calvinist Republicanism and its historical roots, ChH 8, 1939, (30–42) 39. Robert M. Kingdon hat seither mit plausiblen Argumenten darauf hingewiesen, die vergleichsweise radikalere Sicht des jüngeren Beza habe in den 1550er Jahren einen Einfluss auf Calvins politische 38

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Calvin und der monarchomachische Widerstandsdiskurs

Fürstengewalt der Majestät Gottes widerspreche.40 Programmatisch ist jedoch vor allem der Titel des baronschen Aufsatzes. Wenn dort von den „Wurzeln des calvinistischen Republikanismus“ die Rede ist, so sind in diesem Titel unüberhörbar Anklänge an die These von einer seit Bucer und Calvin gleichsam linear aufsteigenden calvinistischen Freiheitstradition vorhanden, wie sie Georg Jellinek in den verschiedenen Auflagen seiner viel gelesenen Abhandlung über „Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte […]“ seit 1895 vertreten hat.41 Die Methodendiskussionen der Geschichtswissenschaft der letzten 20 Jahre haben uns skeptisch gestimmt gegenüber der Konstruktion solch weitgespannter Zusammenhänge.42 Aber ganz abgesehen von diesen methodologischen Vorbehalten hat die entsprechende Forschung in den letzten zehn bis zwanzig Jahren erkennen lassen, dass in der Entwicklung der Widerstandsdebatte im späteren 16. Jahrhundert keineswegs von eindeutig linearen Entwicklungen gesprochen werden kann. Dies ist allein schon deshalb so, weil sich politische Theorie in ihrer Entwicklung wohl kaum je immun gegenüber den Einflüssen politischer Praxis zeigt. Damit hängt etwa, um nur ein Beispiel zu nennen, der „ambivalente Charakter“ der calvinistischen Politiktheorie während des niederländischen Aufstandes des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts zusammen: Während sich die Calvinisten in der Anfangsphase des Aufstandes ständestaatlicher und monarchomachischer Ideen bedient hatten, wurden sie in der Praxis wie in der Theorie immer mehr zu Anhängern einer quasimonarchischen Statthalterschaft der Oranier.43

Im Gegensatz zu den Annahmen der älteren Forschung stützte sich Beza in seinem Traktat nicht vorwiegend auf die politische Theorie Calvins, sondern ließ sich in seiner Widerstandslehre nachhaltig durch das so genannte Magdeburger Bekenntnis, also durch ein Dokument lutherischer Provenienz, beeinflussen. Nur so ist auch zu erklären, dass Beza am Ende – ganz

————— Perspektiven ausgeübt: R.M. KINGDON, The First Expression of Theodore Beza’s Political Ideas, ARG 46, 1955, (88–100) 95. 40 BARON, Republicanism, 37, Anm. 14. 41 G. JELLINEK, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, Leipzig 1895. 42 Ein besonders früher Kritiker solcher Konstruktionen war M.-E. GENEVIÈRE, La pensée politique de Calvin, Diss. iur. Genf, Paris 1937, 354f. 43 H. SCHILLING, Calvinismus und Freiheitsrechte. Die politisch-theologische Pamphletistik der ostfriesisch-groningischen ‚Patriotenpartei‘ und die politische Kultur in Deutschland und in den Niederlanden, BMGN 102, 1987, (403–434) 433.

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im Unterschied zu Calvin – sogar bereit ist, ein individuelles Widerstandsrecht von „Privatpersonen“ gegen offenkundige Tyrannei zu konzedieren.44 Für den Zeitraum 1560 bis 1580 hat kürzlich Paul-Aléxis Mellet insgesamt zehn Schriften als spezifisch hugenottisch-monarchomachische Traktate aufgrund von fünf inhaltlichen Kriterien zu identifizieren versucht.45 Dieser Kategorisierungsversuch ist durchaus überzeugend, solange nicht übersehen wird, dass die entsprechende Diskussion mit der Thronbesteigung Heinrichs IV. 1589 gleichsam auf eine neue, überkonfessionelle Stufe gehoben wurde. Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen darauf hingewiesen, dass William Barclay, als er im Jahre 1600 in polemischer Absicht den Begriff „Monarchomachen“ prägte, durchaus auch katholische Autoren im Blick hatte. Darin spiegelt sich der Umstand, dass die entsprechende Debatte an der Wende zum 17. Jahrhundert durchaus transkonfessionelle Aspekte anzunehmen begann, so dass es auch aus diesem Grunde historisch Schwierigkeiten bereitet, den in den Jahrzehnten 1560 bis 1580 besonders intensiven hugenottischen Widerstandsdiskurs sozusagen integral ins 17. Jahrhundert hinein fortzuschreiben. Das will nicht heißen, dass die Frage des Widerstandes gegen unrechtmäßige Gewalt auf religiös-kirchlicher genauso wie auf politisch-rechtlicher Ebene heute nicht genau so aktuell wäre wie damals. Aber die Formen des Widerstandes sind jeweils an einen konkreten historischen Kontext gebunden und es ist Aufgabe von uns Historikern und Historikerinnen darauf hinzuweisen.

————— 44

Der Begriff „Privatpersonen“ ist hier in Anführungs- und Schlusszeichen gesetzt, weil diese in der Rechtsgeschichte gängige Bezeichnung, die sich auf die moderne Dichotomie öffentlich vs. privat abstützt, eigentlich einen Anachronismus darstellt, wenn sie auf das 16. Jahrhundert bezogen wird. Der Begriff meint hier nicht mit einem öffentlichen Amt ausgestattete Personen. 45 MELLET, La résistance calviniste. Vgl. dazu auch oben Anm. 6.

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Calvin und die reformierten Juristen des 17. Jahrhunderts

Die reformationsgeschichtliche Forschung der letzten Jahrzehnte war bestimmt durch die Etablierung des Konfessionalisierungsparadigmas. Anfang der achtziger Jahre haben die Historiker Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard unter dem Leitbegriff „Konfessionalisierung“ die zentrale Rolle beschrieben, welche die Konfessionen beim Übergang von der mittelalterlichen Feudalordnung zur frühmodernen Gesellschaft spielten.1 Lutherische, reformierte und römisch-katholische Konfession haben danach in gleicher Weise modernisierend gewirkt. Ganz im Unterschied zu den von Ernst Troeltsch und Max Weber vor ungefähr hundert Jahren entfalteten Thesen von der besonderen Modernitätskraft des reformierten Protestantismus wird hier allen drei Hauptkonfessionen ein im Wesentlichen gleicher Beitrag zu Sozialdisziplinierung und Verdichtung von Staatlichkeit am Beginn der Moderne zugesprochen. Es bleibt nun die Frage zu klären, ob nicht doch auch Unterschiede in den Kulturwirkungen der einzelnen Konfessionen herausgearbeitet werden müssen.2 Dies ist gerade im Blick auf die politische Kultur und die Rechtswissenschaften drängend, da es inzwischen weitgehender Konsens unter Allgemeinhistorikern ist, dass man hier nicht einer Konfession stärker modernisierende Bedeutung zusprechen kann.3 ————— 1

Vgl. die Darstellung der umfangreichen durch Schillings und Reinhards Thesen ausgelösten Diskussion in: S. EHRENPREIS / U. LOTZ-HEUMANN, Reformation und konfessionelles Zeitalter, Darmstadt 2002; vgl. auch H.R. SCHMIDT, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert, EdG 12, München 1992. Knapp skizziert finden sich die kritischen Einwände und weiterführenden Überlegungen zur Konfessionalisierung als Paradigma der Frühneuzeitforschung in: T. KAUFMANN, Einleitung: Interkonfessionalität, Transkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, in: K. VON GREYERZ u.a. (Hg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, SVRG 201, Gütersloh 2003, 9–15. 2 Vgl. zum Ganzen eingehend und mit zahlreichen weiteren Belegen C. STROHM, Calvinismus und Recht. Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 42, Tübingen 2008; vgl. auch zusammenfassend DERS., Konfessionelle Einflüsse auf das Werk reformierter Juristen. Fragestellungen – methodische Probleme – Hypothesen, in: DERS. / H. DE WALL (Hg.), Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit, Historische Forschungen 89, Berlin 2009, 1–32; DERS., Weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen, Rechtsgeschichte. Zeitschrift des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 15, 2009, 14–32. 3 Luise Schorn-Schütte hat die zum Allgemeingut unter Allgemein- und Kirchenhistorikern gewordene Auffassung von der den drei hauptsächlichen Konfessionen gleichen Modernisierungskraft mit folgenden Worten beschrieben: „Gemeint ist die Troeltschs Grundannahme korrigierende

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So kommt der Autor der neuesten umfangreichen Geschichte des reformierten Protestantismus A Social History of Calvinism, Philip Benedict, zu dem Ergebnis, dass die Frage, ob der reformierte Protestantismus einen besonderen Beitrag zum Werden der modernen Demokratie geleistet hat, letztlich negativ zu beantworten ist.4 Hingegen hatte die vor fünfzig Jahren erschienene, wirkungsreiche Gesamtdarstellung John T. McNeills The History and Character of Calvinism noch die Bedeutung calvinistischmonarchomachischer Widerstandslehren und presbyterial-synodaler Kirchenleitungsmodelle für die Ausbreitung der modernen Demokratie betont.5 Es liegt auf der Hand, dass dieser Befund nicht nur historisch oder kirchenhistorisch wichtig ist, sondern auch erhebliche systematisch-theologische Relevanz hat. Denn es geht hier letztlich auch um die Frage, inwieweit spezifischen dogmatischen und ethischen Lehren überhaupt wirklichkeitsgestaltende Kraft zukommt.

1. Zum Problem einer calvinistischen Lehre vom Widerstandsrecht6 Unter den sog. calvinistisch-monarchomachischen Hauptschriften ragen die 1579 pseudonym erschienenen Vindiciae contra tyrannos („Gerichtliche Ansprüche gegen Tyrannen“) in mehrfacher Hinsicht heraus.7 Sie bieten ————— Erkenntnis, daß alle drei Konfessionen an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert im Bündnis mit den erstarkenden Territorialherren gegen das Beharrungsvermögen der ständischen Partikulargewalten (vor allem Städte und Landstände) eine entwicklungsverändernde Rolle spielen konnten. Und andererseits konnten alle drei Konfessionen im Bündnis mit den ständischen Kräften gegen die auf Zentrierung von Herrschaft drängenden Landesherrn aktiv sein. Diese Erkenntnis belegt: es gibt keine wesensmäßig ‚modernisierend‘ wirkende Konfession. Sowohl das Luthertum als auch der Katholizismus und das Reformiertentum haben sich, abhängig von der je konkreten historischen Situation, mit den Veränderungen anstrebenden oder mit den am Hergebrachten festhaltenden politischen Kräften verbunden. Sowohl das Luthertum als auch Katholizismus und Reformiertentum konnten modernisierungsfördernd ebenso wie modernisierungshemmend auftreten. Die Richtung der politischen Wirkung der Konfessionen ist demnach kontingent, nicht wesensmäßig!“ (L. SCHORN-SCHÜTTE, Ernst Troeltschs „Soziallehren“ und die gegenwärtige Frühneuzeitforschung. Zur Diskussion um die Bedeutung von Luthertum und Calvinismus für die Entstehung der modernen Welt, in: F.W. GRAF / T. RENDTORFF (Hg.), Ernst Troeltschs Soziallehren. Studien zu ihrer Interpretation, Troeltsch-Studien 6, Göttingen 1993, (133–151) 138. 4 Vgl. P. BENEDICT, Christ’s Churches Purely Reformed. A Social History of Calvinism, New Haven / London 2002, 533–537. 5 Vgl. J.T. MCNEILL, The History and Character of Calvinism, New York 1954. 6 Siehe dazu eingehend Kaspar von Greyerz’ Beitrag in dem vorliegenden Band. 7 E.J. BRUTUS [Pseudonym], Vindiciae contra tyrannos. Traduction française de 1581: De la pvissance legitime dv prince svr le pevple, et du peuple sur le prince. Traité tres-vtile et digne de lecture en ce temps. Introduction, notes et index par A. JOUANNA, J. PERRIN, M. SOULIÉ, A. TOURNON et H. WEBER, ClPP 11, Genf 1979; zu der Schrift vgl. A. ELKAN, Die Publizistik der Bartholomäusnacht und Mornays „Vindiciae contra tyrannos“, Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 9, Heidelberg 1905. Die Verfasserschaft der Vindiciae ist weiterhin umstritten.

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Calvin und die reformierten Juristen

eine klare Begründung des Widerstandsrechts nicht nur für den Fall, dass die Obrigkeit gegen die rechte Gottesverehrung verstößt, sondern auch für den Fall, dass sie sich tyrannisch verhält und die elementaren Grundsätze des Gemeinwohls verletzt. Die wohl von dem Juristen Philippe DuplessisMornay verfassten Vindiciae bieten ferner neben spezifisch juristischen profilierte theologische Argumentationen zur Begründung des Widerstandsrechts. Hier ist insbesondere die ausgeführte Theorie eines doppelten Bundes, eines pactum religiosum mit Gott sowie eines pactum civile zwischen Volk und Herrscher, zu nennen. Zum einen hat Gott mit dem Herrscher und dem Volk einen Bund, das sog. pactum religiosum, geschlossen, durch den diese sich zur Einhaltung der ersten Tafel des Dekalogs verpflichten, was bedeutet, für die rechte öffentliche Verehrung Gottes zu sorgen. Zum anderen hat das Volk mit dem Herrscher einen zivilen Bund geschlossen, der in einer mutua obligatio besteht. Das Volk verpflichtet sich zum Gehorsam gegenüber dem Herrscher, jedoch nur solange dieser seiner Verpflichtung zu einer gerechten Herrschaft nachkommt. Beide Bünde sind unauflöslich miteinander verbunden und verpflichten den Herrscher zur Gerechtigkeit. Or nous lisons deux sortes d’alliance au sacre des Rois: la premiere entre Dieu, le Roy et le peuple, à ce que le peuple fust peuple de Dieu: la seconde entre le Roy et le peuple, asauoir que le peuple obeiroit fidelement au Roy qui commanderoit iustement.8

Aus dem Bund Gottes mit dem Herrscher und dem Volk folgern die Vindiciae, dass es den Inhabern öffentlicher Ämter in Vertretung für das Volk erlaubt und sogar geboten sei, Widerstand zu leisten, wenn der Herrscher das Gesetz Gottes oder die Kirche zerstört.9 Die Notwendigkeit einer unter Umständen gewaltsamen Verteidigung des wahren Glaubens wird zu einer entscheidenden Ursache für Widerstand.10 Aus dem Bund des Volkes mit dem Herrscher bzw. König folgt die Widerstandspflicht für den Fall, dass ————— Die einen sehen Hubert Languet (dagegen nun mit überzeugenden Argumenten: B. NICOLLIER-DE WECK, Hubert Languet [1518–1581]. Un réseau politique international de Mélanchthon à Guillaume d’Orange, THR 293, Genf 1995, 465–487), die anderen Philippe Duplessis-Mornay (1549– 1623) und wieder andere beide zusammen als Verfasser an. Die meisten Argumente sprechen noch immer für Duplessis-Mornay als Hauptautor (vgl. die Einführung zur Neuausgabe der französischen Übersetzung von 1581, ebd., I–V; dort, ebd., 399–403 weitere Literatur). Zu DuplessisMornays Autorschaft vgl. jetzt H. DAUSSY, Les huguenots et le roi. Le combat politique de Philippe Duplessis-Mornay (1572–1600), THR 364, Genf 2002. 8 Ebd., 25; vgl. ebd., 184. Im lateinischen Text werden die Bünde als foedus oder pactum bezeichnet. 9 Vgl. ebd., 60–66. 10 „Combien donc que l’Eglise ne s’auance point par les armes, toutesfois on la peut iustement conseruer par le moyen des armes“ (ebd., 91).

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dieser sein Handeln nicht auf Gerechtigkeit gegenüber Gott im Sinne der ersten Tafel des Dekaloges und auf Gerechtigkeit unter den Menschen im Sinne der zweiten Tafel des Dekaloges ausrichtet. Diese theologische, aus dem Alten Testament abgeleitete Vorstellung11 wird mit Hilfe römischer und mittelalterlicher Rechtstexte erläutert und explizit als ein Rechtsverhältnis verstanden.12 Mit der Lehre vom doppelten Bund wird zum ersten Mal eine ausgeführte theologische Begründung des Widerstandsrechts geboten. Die Vindiciae mit ihrer bundestheologischen Begründung des Widerstandsrechts sind vielfach als der klassische Ausdruck der theologischen Begründung des Widerstandsrechts im Calvinismus interpretiert worden. Auch für den profiliertesten Vertreter der calvinistischen Widerstandslehre im alten Reich, Johannes Althusius (ca. 1557–1638), ist die bundestheologische Begründung herausgestellt worden. So hat Gerhard Menk über Althusius’ Politica methodice digesta13, in der die Widerstandslehre entfaltet wird, geurteilt, dass die Politica vielfach auf der Föderaltheologie Caspar Olevians aufbaue.14 Seit den grundlegenden Arbeiten Erik Wolfs ist die —————

11 Die Schrift bietet eine Fülle von alttestamentlichen Belegstellen (vgl. vor allem 2Kön 23; 2Kön 11; 2Chr 23,16f.; Dtn 27 u. 29f.; Jos 24; 1Sam 12). 12 Das römische Recht hilft, insbesondere die alttestamentliche Bundesvorstellung in charakteristischer Weise im Sinne eines Rechtsverhältnisses zu erläutern. Tyrannei wird mehrfach – teilweise mit ausdrücklichem Verweis auf den Digestentitel „Ad legem Iuliam maiestatis“ (Dig. 48,4; vgl. bes. [BRUTUS], Vindiciae 1581, 45.210.221) – als crimen laesae majestatis bezeichnet. „Mais si vn Prince vsurpe le droit de Dieu, et s’ingere […] de vouloir escheller les cieux, il est criminel de lese Maiesté au chef“ (ebd., 34; vgl. ebd., 17.33.39f.). Auch die Bestimmung der Tyrannei als Überschreitung der Jurisdiktionskompetenz (ebd., 19) weist auf den Hintergrund des entsprechenden Digestentitels, um dessen Auslegung seit Mitte des 16. Jahrhunderts heftig gestritten wurde (vgl. C. STROHM, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, AKG 65, Berlin / New York 1996, 211–216) und der Ausgangspunkt zahlreicher öffentlich-rechtlicher Abhandlungen Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts war (vgl. M. STOLLEIS, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, 156–166). Zum Verhältnis von religiösem Bund und Staatsvertrag vgl. auch G. OESTREICH, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag [1958], in: DERS. (Hg.), Geist und Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969, 157–178. 13 J. ALTHUSIUS, Politica methodice digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata. Cui in fine adiuncta est Oratio panegyrica de utilitate, necessitate et antiquitate scholarum, [Herborn 1603; 2., stark erweit. Aufl., Groningen 1610] 3., erweit. Aufl., Herborn 1614 (= FaksimileReprint Aalen 1961 u. 1981). 14 Vgl. G. MENK, Die Hohe Schule Herborn im 16. und 17. Jahrhundert, in: J. WIENECKE (Hg.), Von der Hohen Schule zum Theologischen Seminar Herborn 1584–1984. Festschrift zur 400-Jahrfeier, Herborn 1984, (22–37) 27; DERS., Die Einrichtungen der Hohen Schule, in: ebd., (81–101) 85; C. MCCOY, The Centrality of Covenant in the Political Philosophy of Johannes Althusius, in: K.-W. DAHM / W. KRAWIETZ / D. WYDUCKEL (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius, Rechtstheorie. Beiheft 7, Berlin 1988, 187–199; H.H. ESSER, Calvin und Althusius. Analogie und Differenz ihrer politischen Theorien, in: DAHM / KRAWIETZ / WYDUCKEL, Politische

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Calvin und die reformierten Juristen

Bedeutung der calvinistisch-reformierten Theologie für die Rechts- und Staatslehre vielfach hervorgehoben worden.15 Peter Jochen Winters hat die These zu erläutern versucht, dass Althusius’ Politica „ein auf der Theologie Calvins beruhendes Lehrbuch der politischen Wissenschaft“ sei.16 Neben dessen Auffassung von der absoluten Souveränität Gottes, der göttlichen Prädestination und der Betonung der Gerechtigkeit Gottes seien hier auch Ekklesiologie und Bundesverständnis zu nennen.17 Diesen Urteilen ist in jüngerer Zeit entschieden widersprochen worden. So hat man den auf säkularen Begründungen beruhenden Charakter der Rechts- und Staatslehre des Althusius betont.18 Das entscheidende Argument hierfür ist, dass die Vielzahl der von Althusius in der Politica angeführten Bibelstellen eher illustrativer als inhaltlich normierender Art sei. Zudem fänden sich an entscheidenden Stellen nicht Verweise auf Calvin oder andere reformierte Theologen, sondern Verweise auf die spanischen Spätscholastiker Fernando Vázquez und Diego Covarruvias sowie weitere katholische Autoren.19 ————— Theorie, 163–186; DERS., Die politische Theorie Caspar Olevians und des Johannes Althusius, in: G. DUSO / W. KRAWIETZ / D. WYDUCKEL (Hg.), Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Rechtstheorie. Beiheft 16, Berlin 1997, 83–97. 15 Erik Wolf hat wie folgt über Althusius’ in der Politica entfaltetes Rechts- und Staatsdenken geurteilt: „Seine religiöse Grundlage bildet die Gotteslehre und Rechtsauffassung Calvins. Das bedeutete einen vielen Lutheranern unter den deutschen Rechtsdenkern des 17. Jahrhunderts fremden, ja anstößigen Standort theologisch-politischer Erkenntnis, nämlich die Ablehnung jeder menschlichen Willkür im Aufbau des sozialen Körpers. Gottes absolute Souveränität über die Menschen äußert sich nach Calvin in seiner unerforschlichen und unumstößlichen Prädestination aller irdischen Dinge und Schicksale, seien es einzelmenschliche oder solche der Staaten und Völker. Alle Tatsachen der Geschichte bekommen durch diese religiöse Aussage eine metaphysische Bedeutung; die Erde erscheint als Schauplatz der Verwirklichung des göttlichen Weltplans. Was geschieht, ist jeweils Ausdruck einer unmittelbaren, unentrinnbaren Entscheidung Gottes und dient ‚ad salutatem [sic!] animae‘“ (E. WOLF, Johannes Althusius, in: DERS., Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Tübingen (1939) 41963, [177–219] 182f. (Hervorhebung im Original); vgl. auch ebd., 184 u. 214f.). 16 P.J. WINTERS, Die „Politik“ des Johannes Althusius und ihre zeitgenössischen Quellen. Zur Grundlegung der politischen Wissenschaft im 16. und im beginnenden 17. Jahrhundert, Freiburg i.Br. 1963, 270. 17 Vgl. ebd., 37–60 u. 268–270. 18 Vgl. E. REIBSTEIN, Johannes Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca. Untersuchungen zur Ideengeschichte des Rechtsstaates und zur altprotestantischen Naturrechtslehre, Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen 5, Karlsruhe 1955; C.J. FRIEDRICH, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975. 19 In jüngster Zeit hat Horst Dreitzel in einem umfassenden Beitrag über Althusius in der Geschichte des Föderalismus die These von einem prägenden Einfluss reformierter bzw. alttestamentlicher Bundesvorstellungen auf Althusius’ Politica zurückgewiesen und statt calvinistischer humanistische Einflüsse betont. Vgl. H. DREITZEL, Althusius in der Geschichte des Föderalismus, in: E. BONFATTI / G. DUSO / M. SCATTOLA (Hg.), Politische Begriffe und historisches Umfeld in

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Wie die anderen calvinistisch-monarchomachischen Autoren begründet Althusius das Widerstandsrecht sowohl in der Verletzung der religiösen Pflichten des Herrschers als auch im Verstoß gegen den Bund mit dem Volk bzw. gegen die Staatsgrundgesetze.20 Den Ephoren oder Ständen obliegt sowohl der Schutz der göttlichen Ordnung bzw. des konfessionellen Rahmens als auch der im Herrschaftsvertrag festgeschriebenen Rechte des Volkes. Fragt man nun, welche Bedeutung bundestheologische Argumentationen für die Begründung des Widerstandsrechts haben, kommt man zu einem ernüchternden Ergebnis. Die Entfaltung der Wissenschaft von der Politik geht bei Althusius von dem consociatio-Gedanken aus, d.h. das Gemeinwesen geht aus Ehe und Familie als der kleinsten consociatio (Vergemeinschaftungsform) hervor. 21 Die Politica ist übervoll an Verweisen auf Bibelstellen, vor allem aus dem Alten Testament.22 Die alttestamentliche Bundestheologie kommt zwar vor, hat jedoch keine tragende Bedeutung für die Argumentation.23 Die Systematik des Werkes ist vom consociatio-Gedanken bestimmt, und die Stellung von Volk, Herrscher und Ständen bzw. ihr Verhältnis zueinander wird wesentlich durch juristische Argumentationen, genauer gesagt, die von den Monarchomachen angeführten römisch-rechtlichen und feudalrechtlichen Modelle erläutert.24 ————— der Politica methodice digesta des Johannes Althusius, Wolfenbütteler Forschungen 100, Wiesbaden 2002, (49–112) 52–63. 20 Vgl. die entsprechenden Charakterisierungen im Kap. „De tyrannide ejusque remediis“: „Tyrannus igitur est, qui obstinate, violata fide et religione jurisjurandi, vincula et fundamenta consociati corporis Reip. convellere et dissolvere incipit. Sive is sit monarcha, sive polyarcha, qui maxima Reip. bona, uti pacem, virtutem, ordinem, legem, nobilitatem, avaritia, superbia, perfidia, crudelitate evertit et extinguit“ (ALTHUSIUS, Politica XXXVIII/3, 885). „[…] ratio est, quod tyrannus contra pactum cum populo initum, faciens, et ipsa fundamenta Reip. convellens, ipso jure amittat omnem potestatem et fiat privatus, […] qui ut privatus et plebeius est moriturus […]“ (ebd., XXXVIII/37, 897). Vgl. auch ebd., XXXVIII/11, 887f. 21 Vgl. z.B. ALTHUSIUS, Politica XIX/7, 329; zur grundlegenden Bedeutung des consociatioGedankens bei Althusius vgl. C.A. ZWIERLEIN, Reformierte Theorien der Vergesellschaftung: römisches Recht, föderaltheologische κοινωνία und die consociatio des Althusius, in: F.S. CARNEY / H. SCHILLING / D. WYDUCKEL (Hg.): Jurisprudenz, politische Theorie und politische Theologie. Internationales Symposion anlässlich des 400. Jahrestages der Erstausgabe der Politica des Althusius in Herborn, Berlin 2004, 191–223. 22 Vgl. K.H. RENGSTORF, Die Exempla sacra in der Politica des Johannes Althusius, in: DAHM / KRAWIETZ / WYDUCKEL (Hg.), Politische Theorie, 201–212; H. JANSSEN, Die Bibel als Grundlage der politischen Theorie des Johannes Althusius, EHS.T 445, Frankfurt a.M. u.a. 1992. 23 Vgl. H. HOFMANN, Repräsentation in der Staatslehre der frühen Neuzeit. Zur Frage des Repräsentativprinzips in der „Politik“ des Johannes Althusius, in: DAHM / KRAWIETZ / WYDUCKEL, Politische Theorie, (513–542) 531f. 539f. 24 Die unterschiedlichen – säkularisierenden und konfessionalisierenden – Tendenzen zeigen sich auch an den Veränderungen des Vorworts der ersten Auflage von 1603. Hier hatte Althusius noch ausdrücklich betont, dass er einen gegenüber dem Zugang der Philosophen, Juristen und Theologen eigenständigen Zugang zum Thema „Politik“ suche. In der maßgeblichen dritten

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Im Blick auf die Vindiciae muss man zur Klärung der Frage nach dem Verhältnis von calvinistisch-theologischen Grundentscheidungen und Erläuterung des Widerstandsrechts ein weiteres Problem berücksichtigen. Nur wenige Jahre nachdem die sog. calvinistischen Monarchomachen – neben den Vindiciae auch Theodor Beza und François Hotman – infolge der Massaker des Jahres 1572 die Widerstandslehre entfaltet haben, veränderte sich die politische Situation grundlegend. Als mit Henri IV 1589 ein protestantisch gesinnter Monarch den französischen Thron bestiegen hatte, wurde das Widerstandsrecht sehr bald auch von katholischen Autoren vertreten. Zugleich verfassten profilierte calvinistisch-reformierte Juristen nun Schriften, in denen sie das Widerstandsrecht strikt begrenzten.25

2. Zum Problem klarer konfessioneller Grenzen zwischen lutherischem und reformiertem Protestantismus Ein erhebliches methodisches Problem beim Nachweis konfessioneller Einflüsse auf die Rechtslehre in der Frühen Neuzeit resultiert aus der Schwierigkeit, in der zweiten Hälfte des 16. und den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts überhaupt klare Grenzen zwischen den Konfessionen zu ziehen. Besonders im Blick auf das Verhältnis von lutherischer und reformierter Konfession ist das letztlich nicht möglich. Die einzige Möglichkeit in dieser Hinsicht wäre, die Unterschrift unter die lutherische Konkordienformel von 1577 zum Maßstab zu machen. Dies trifft aber nur auf einen Teil der lutherischen Territorien zu, und man würde beträchtliche Teile des melanchthonianisch gesinnten Luthertums zum konfessionellen Niemandsland erklären. Für die Rechtsentwicklung so wichtige Hochschulen wie Altdorf, aber auch Helmstedt26 würden herausfallen. Die Nürnberger Hohe ————— Auflage von 1614 ist die Abgrenzung gegenüber den Theologen, die alles Politische nach den Grundsätzen der von ihnen als richtig erkannten Frömmigkeit ausrichten wollen, jedoch getilgt. Zu Althusius’ Auseinandersetzung mit Herborner Theologen über das Verhältnis von mosaischem und kaiserlichem Recht vgl. P. MÜNCH, Göttliches oder weltliches Recht? Zur Kontroverse des J. Althusius mit den Herborner Theologen (1601), in: F. QUARTHAL / W. SETZLER (Hg.), Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. FS für Eberhard Naujoks zum 65. Geburtstag, Sigmaringen 1980, 16–32. 25 Vgl. bes. H. KRETZER, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert, Berlin 1975. 26 Im Jahre 1583 war Herzog Julius von dem Einigungswerk der Konkordie zurückgetreten. Der neue Herzog Heinrich Julius gab systematisch der humanistischen Richtung den Vorzug gegenüber der orthodoxen. Zu den ersten Jahrzehnten der Universität Helmstedt vgl. P. BAUMGART, Die Anfänge der Universität Helmstedt, Habil. Schrift FU Berlin 1964; DERS., Universitätsautonomie und landesherrliche Gewalt im späten 16. Jahrhundert. Das Beispiel Helmstedt, ZHF 1, 1974, 23–53; M. FRIEDRICH, Die Grenzen der Vernunft. Theologie, Philosophie und gelehrte

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Schule in Altdorf zeigt, wie wichtig gerade diese nicht unter dem unmittelbaren Diktat eines Bekenntnisses stehenden Hochschulen für die Rechtsentwicklung gewesen sind.27 Diese Hochschule wurde seit 1581 über vierzig Jahre lang von dem melanchthonianisch-reformiert gesinnten Prokanzler Philipp Camerarius geleitet. Ohne die hier geübte konfessionelle Liberalität hätte man nicht europäische Koryphäen wie den reformiert gesinnten, großen Systematiker des Zivilrechts, Hugo Donellus (1527– 1591)28, berufen können. Schon das traditionelle Etikett „kryptocalvinistisch“ für das Altdorfer Milieu oder die melanchthonianisch orientierten Kreise um Philipp Camerarius nimmt die lutherische Konkordienformel zum entscheidenden Maßstab. Auf reformierter Seite ist die innerkonfessionelle Pluralität noch stärker zu gewichten, da schon die beiden Zentren Zürich und Genf bzw. deren erste Protagonisten Zwingli und Calvin deutliche Unterschiede in ihrer theologischen Ausrichtung zeigen. Auch ist der Stellenwert der Bekenntnisse im Vergleich zu den lutherischen Kirchen geringer, da der Maßstab allein die Heilige Schrift sein sollte. Die späten und thematisch sehr zugespitzten Abgrenzungen der Dordrechter Synode von 1618/19 taugen jedenfalls noch weniger als entscheidender Maßstab als die Konkordienformel. Auch im Blick auf den Katholizismus muss man von einer großen Pluralität ausgehen, die erst im Zuge der jesuitisch-tridentinischen Re-Formierung des Katholizismus weitgehend verlorengegangen ist.

3. Das Problem der konfessionellen „Identifizierung“ von Juristen Ein weiteres methodisches Problem betrifft die konfessionelle „Identifizierung“. Es gibt einzelne Juristen, die sich explizit zu einer bestimmten konfessionellen Ausrichtung gehalten haben oder durch ihre Kommunikationszusammenhänge eindeutig einzuordnen sind. Unter den eindeutig als reformiert zu identifizierenden Juristen könnte man Johannes Althusius nennen. Er lehrte seit 1586 mit Unterbrechungen an der calvinistischen Hohen Schule in Herborn und war ab 1604 als Syndikus der reformierten Stadt Emden in herausgehobener Stellung tätig. Ähnlich klar ist der Sachverhalt ————— Konflikte am Beispiel des Helmstedter Hofmannstreits und seiner Wirkungen auf das Luthertum um 1600, Göttingen 2004. 27 Vgl. W. MÄHRLE, Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623), Contubernium 54, Stuttgart 2000, 35–38. 28 Zur Biographie vgl. E. HOLTHÖFER, Hugo Donellus (1527–1591), in: Gesellschaft für fränkische Geschichte (Hg.), Fränkische Lebensbilder, Bd. 10, Neustadt a.d. Aisch 1982, 157–178; zum Verhältnis von Konfession und Rechtswissenschaften in Donellus’ Werk vgl. STROHM, Calvinismus und Recht, 78–126.

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bei dem bereits erwähnten Hugo Donellus.29 Dieser musste im Zusammenhang der Protestantenverfolgungen der Bartholomäusnacht 1572 aus Frankreich fliehen und lehrte dann an der unter Kurfürst Friedrich III. zur reformierten Bastion im Reich gewordenen Universität Heidelberg. Als unter Friedrichs III. Sohn Ludwig VI. die Relutheranisierung betrieben wurde und 1580 die lutherische Konkordienformel verpflichtend gemacht werden sollte, verließ Donellus die Kurpfalz gen Leiden. Auch der vermutliche Autor der Vindiciae, Philippe Duplessis-Mornay, ist als profilierter Vorkämpfer des Protestantismus in Frankreich greifbar. Jedoch haben neuere Forschungen gezeigt, dass dieser keineswegs in jeder Hinsicht die klassischen calvinistischen Lehren vertreten hat.30 So scheint er sich in der Abendmahlsfrage eher an Zwingli als an Calvin orientiert zu haben. In der Prädestinationslehre hat er nicht Calvins Beharren auf der Vorherbestimmung zur Verdammung vertreten, sondern eher auf der Linie des Nachfolgers Zwinglis in Zürich, Heinrich Bullinger, und Melanchthons argumentiert. Andere wie der um seines Glaubens willen aus Italien geflohene und für die Entwicklung des Völkerrechts vor Hugo Grotius wichtigste Autor, Alberico Gentili (1552–1608), haben klar reformierte Prägungen, sind aber in ihrer weiteren Entwicklung schwerer zu fassen bzw. nur mit Einschränkungen einer bestimmten Konfession zuzuordnen.31 Gentili scheint nach seiner Flucht nach England Mitglied der französischen Flüchtlingsgemeinde in London gewesen zu sein, ist aber später als Mitglied der anglikanischen Kirche nachweisbar.32 Die Bezeichnung führender calvinistisch-reformierter Theologen als „nostri theologi“ in seinen juristischen Werken sowie teilweise ungedruckt gebliebene theologische Schriften von seiner Hand rechtfertigen es, ihn als einen durch calvinistisch-reformierte Theologie geprägten Juristen zu bezeichnen. 33 Seine theologisch ausge————— 29

Vgl. STROHM, Calvinismus und Recht, 80–87. H. DAUSSY / V. FERRER (Hg.), Servir Dieu, le roi, l’État. Philippe Duplessis-Mornay (1549–1623). Actes du colloque de Saumur (13–15 mai 2004), Cahiers d’Aubigné. Albineana 18, Niort 2006 (darin bes. die Beiträge von M. ENGAMMARE u. B. ROUSSEL). 31 Vgl. G.H.J. VAN DER MOLEN, Alberico Gentili and the development of international law. His life, work and times, Amsterdam 1937 [Leiden 21968]; STROHM, Calvinismus und Recht, 19f. u. 454–458. 32 In der grundlegenden Arbeit über ihn heißt es: „In summing up, we come to the conclusion, that Gentili was a Calvinist, who afterwards joined the Anglican Church and conformed to her confession“ (VAN DER MOLEN, Alberico Gentili, 256). 33 Gentili hat in seinen zuerst 1598 erschienenen De jure belli libri tres Petrus Martyr Vermigli unter die „aut doctissimi, aut politissimi nostri theologi“ gezählt (DERS., De iure belli libri tres, Bd. 1: Faksimile-Reprint der Ausg. Hanau 1612, Oxford 1933, III/15, 615) und ihn sogar als den gelehrtesten Theologen seines Zeitalters bezeichnet (ebd., III/19, 659 [„doctissimo nostri seculi theologo“]). Gentili hat sich mehrfach ausdrücklich auf Vermiglis Kommentare zu den Richter- und Samuel-Büchern des Alten Testaments berufen. An anderer Stelle bezeichnet Gentili die Calvinisten Lambertus Danaeus und Philips van Marnix van Sint-Aldegonde als „nostri theo30

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richteten Schriften zeugen von seinen – wohl auch durch die Verfolgungserfahrungen verstärkten – antipäpstlichen bzw. antirömischen Überzeugungen.34 Dem scheint zu widersprechen, dass Alberico Gentili, der neben Hugo Grotius einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung des frühneuzeitlichen Völkerrechts geleistet hat, in seinen letzten Lebensjahren als Jurist vor dem English Court of Admiralty die spanischen Positionen gegen die protestantischen Niederlande vertrat.35 Das Problem der konfessionellen Zuordnung von Juristen verschärft sich noch aufgrund einer spezifischen Beobachtung. Man kann nicht die von den Theologen formulierten konfessionellen Unterscheidungslehren als die bei den einzelnen Juristen präsenten bzw. wirksamen voraussetzen, auch wenn die Juristen einigermaßen klar einer Konfession zuzuordnen sind. Es muss sorgfältig geklärt werden, welche Bestandteile des konfessionellen Erbes mehr oder weniger explizit präsent sind und welche davon wiederum überhaupt für die Rechtslehre bzw. Tätigkeit als Jurist relevant werden. So kommt die Prädestinationslehre bei reformierten Juristen im Allgemeinen nicht vor – auch zum Beispiel bei Althusius – oder sie wird sogar problematisiert wie von dem Basler Juraprofessor Basilius Amerbach, dem Sohn Bonifacius Amerbachs.36 Stattdessen ist ein Vertrauen auf die göttliche Führung vorherrschend, das nicht im Mindesten als Unterscheidungsmerkmal im Vergleich zu lutherischen Juristen taugt. ————— logi“ (VAN DER MOLEN, Alberico Gentili, 215). Bevorzugte Zeugen sind daneben Calvin und Beza (vgl. ebd., 238). Siehe auch STROHM, Calvinismus und Recht, 456 mit Anm. 49. 34 Vgl. VAN DER MOLEN, Alberico Gentili, 246–251. 35 Vgl. A. GENTILI, Hispanicae advocationis libri dvo, Bd. 1: Faksimile-Reprint der Ausg. 1661; Bd. 2: Engl. Übersetzung v. F.F. ABBOTT, Oxford 1921; Reprint Buffalo, N.Y. 1995 [zuerst: Hanau 1613]. Gentili hat diese Aufgabe angesichts der Notwendigkeit Englands, sich in den Konflikten rechtsförmig zu verhalten, mit Billigung des Königs übernommen. Er sah darin eine praktische Anwendung seiner völkerrechtlichen Grundsätze. Im Sinne seines Bestrebens einer Emanzipation der Jurisprudenz von der Herrschaft der Theologen geht es primär um konkrete Fragen und insbesondere den Schutz der Interessen spanischer Bürger, so dass man hier keine seinen protestantischen Überzeugungen widersprechenden Ausführungen findet. 36 In einem Brief an den ihm nach dem frühen Tod des Vaters anvertrauten Neffen Ludwig Iselin, der sich zum Jurastudium in Genf aufhielt, warnt er diesen vor der unkritischen Übernahme calvinistischer Lehren. Iselin hatte dem Onkel und Vormund mitgeteilt, dass er, wie das üblich sei, auch bei Theodor Beza Vorlesungen höre. Der lese gerade – jede zweite Woche wenigstens dreimal – über den Römerbrief und sei nun dabei, auf subtilste Art die Prädestinationslehre zu behandeln. Daraufhin gibt Amerbach dem zukünftigen Basler Juraprofessor Iselin (1589–1612) den bezeichnenden Rat, sich ja nicht von theologischen Spitzfindigkeiten in den Bann schlagen zu lassen. Amerbachs umfangreiche Erläuterungen offenbaren eine allgemeine Vorsehungsfrömmigkeit mit starkem ethischem Einschlag. Zentral ist das Vertrauen auf Gottes Güte. Weitergehende theologische Auseinandersetzungen werden nicht nur als überflüssig, sondern als gefährlich gebrandmarkt (vgl. Basilius Amerbach an Ludwig Iselin, 3. September 1581, zit. in: STROHM, Calvinismus und Recht, 172f. Anm. 483).

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Etwas anders verhält es sich mit der Abendmahlslehre. Hier findet man vielfach eine klare Abgrenzung gegenüber der körperlichen Realpräsenzlehre, die Luther gegen die sog. Schwärmer und dann gegen Zwingli betont hatte und die in die Konkordienformel aufgenommen wurde.37 Die Ablehnung der körperlichen Realpräsenz wirkt sich jedoch nur zusammen mit anderen Grundentscheidungen, die nicht einfach in Bekenntnisformulierungen aufgehen, in der Rechtslehre aus. So ist die Ablehnung der leiblichen Gegenwart Christi im Abendmahl letztlich Ausdruck der Überzeugung, dass das biblische Christentum nicht im Widerspruch zur recta ratio, vielmehr gegen jede Art von Aberglauben stehe. Und dies ist dann unmittelbar relevant für die Rechtslehre.38 Es sind nicht unmittelbar spezifische Bekenntnisformulierungen, die im juristischen Œuvre zur Wirkung kommen, sondern sie sind untrennbar verbunden mit darüber hinausgehenden weltanschaulichen Grundentscheidungen.

4. Marginale Unterschiede zwischen reformierten und lutherischen Juristen Die dargelegten Schwierigkeiten, am Ende des 16. und am Beginn des 17. Jahrhunderts klare Grenzen zwischen lutherischer und reformierter Konfession zu ziehen, sowie die Zurückhaltung reformierter Juristen gegenüber den von den Theologen definierten, innerprotestantischen Unterscheidungslehren, nötigen zu einer Folgerung: Die Frage nach konfessionellen Einflüssen auf das Werk reformierter Juristen darf nicht primär durch die Profilierung gegenüber lutherischen Juristen beantwortet werden. Denn hier sind die Unterschiede vergleichsweise geringfügig und lediglich tendenzieller Art. Anders hingegen verhält es sich, wenn man reformierte mit katholischen, insbesondere tridentinisch-katholischen Juristen vergleicht. Für reformierte wie für lutherische Juristen durchgehend charakteristisch ist das Insistieren auf der Freiheit der weltlichen Obrigkeit von kirchlichen Machtansprüchen. Im Sinne von Luthers betonter Unterscheidung des geistlichen und weltlichen Regiments wird die Zuständigkeit kirchlicher Obrigkeiten und insbesondere des Papstes auf Geistliches begrenzt, die Kompetenzen der weltlichen Obrigkeit auf praktisch alle Formen von Weltgestaltung ausgeweitet. Dabei handelt es sich nicht nur um die Rechtsbildung, sondern ————— 37

Vgl. zusammenfassend B. LOHSE, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 187–195.324–333. 38 Siehe dazu unten Abschnitt 6.

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auch die sittliche Lebensgestaltung und die Mitverantwortung für die rechte Gottesverehrung und kirchliche Lehre. Zwar wird im Gefolge der calvinistischen Monarchomachen Frankreichs ebenso die Frage der Grenzen weltlicher Herrschaft gestellt, die Hauptfrontstellung sind jedoch die päpstlichen Machtansprüche und Bestrebungen, die Autorität der weltlichen Obrigkeiten zu unterminieren und also gerade nicht die Erläuterung eines Widerstandsrechts gegen die weltliche Obrigkeit. In besonderer Schärfe und Ausführlichkeit hat dies Denis Godefroy (Dionysius Gothofredus), Urheber der zur allgemein anerkannten Textversion gewordenen Ausgabe des Corpus Iuris Civilis, in einer 1592 wohl in Heidelberg gedruckten Schrift gegen die Exkommunikation des legitimen französischen Thronfolgers Heinrich IV. durch Papst Gregor XIV. dargelegt.39 In einem vergleichbaren Sinn ist Röm 13,1–7 die Bibelstelle, die Althusius in seiner Politica und Donellus in seinem Zivilrechtssystem am häufigsten zitieren.40 Theologische Begründungen des Widerstandsrechts finden sich verstärkt nur in spezifischen Kontexten wie z.B. den niederländischen Freiheitskriegen.

5. Wahrnehmung eines fundamentalen Gegensatzes gegen das römische Papsttum Unterschiede zwischen lutherischen und reformierten Juristen zeigen sich in der Schärfe der Ablehnung des Papsttums. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und am Beginn des 17. Jahrhunderts ist für zahlreiche reformierte Juristen eine Grundeinschätzung charakteristisch: Man versteht den Kampf gegen die Übergriffe geistlicher Instanzen bzw. des Papstes in den Kompetenzbereich der weltlichen Obrigkeit im Kontext einer alles bestimmenden Fundamentalauseinandersetzung. Auf der einen Seite stehen das Papsttum und seine Verbündeten, auf der anderen Seite das wahre biblische Christentum und die vom Humanismus wiederentdeckte recta ratio. Das Papsttum steht für Blasphemie, Aberglauben und Machtausübung und bedroht in gleicher Weise die Errungenschaften der Reformation wie die des Humanismus. Je stärker die Protestantenverfolgungen durch eigene Erfahrungen oder durch Kontakte präsent sind, umso schärfer und militanter wird ————— 39

[D. GODEFROY], Maintenue et defense des princes sovverains et eglises chrestiennes, contre les attentats, vsurpations, et excommunications des Papes de Rome, s.l. [Heidelberg: Hieronymus Commelinus] 1592; zu der Schrift vgl. STROHM, Calvinismus und Recht, 150–161. 40 Zu Althusius’ Politica vgl. JANSSEN, Die Bibel als Grundlage, 51; zu Donellus’ Zivilrechtskommentar vgl. STROHM, Calvinismus und Recht, 94–100.

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der Gegensatz zum Papsttum und teilweise auch den Habsburgern als deren weltlichen Verbündeten betont. Im Kontext der beschriebenen Fundamentalauseinandersetzung sind auch die wenigen, durchaus zurückhaltenden Bezüge auf die innerprotestantischen Unterscheidungslehren zu verstehen. Teilweise wird die lutherische Reformation als nicht ausreichend klar in der Abgrenzung und angesichts der Militanz der gegnerischen Seite gefährlich laue Positionsbestimmung bewertet. In eben diesem Sinne hat François Hotman während seines späten Aufenthalts in Basel die lutheranisierenden Tendenzen des Antistes Simon Sulzer bewertet.41 Der reformatio doctrinae müsse die reformatio vitae folgen, auch um die Gefahr des Rückfalls der Bevölkerung in den römischen Aberglauben zu minimieren.42 In diesem Sinne ist es auch zu deuten, dass die einzige innerprotestantische Unterscheidungslehre, die bei reformierten Juristen eine nennenswerte Rolle spielt, die Abgrenzung gegen Luthers körperliche Realpräsenzvorstellung ist. Hier handelt es sich jedoch lediglich um Abgrenzungen gegen die körperliche Realpräsenzlehre der Confessio Augustana invariata von 1530. Die von Melanchthon 1540 veränderte Confessio Augustana variata mit ihrer als spiritualer Gegenwart Christi zu deutenden Präsenzlehre wird an keiner mir bekannten Stelle abgelehnt. Beispielhaft dürfte Nikolaus Cisner sein, der sich für seine Rückkehr vom Reichskammergericht in Speyer nach Heidelberg in der Phase der Relutheranisierung der Kurpfalz unter Ludwig VI. im Jahre 1580 Freiheit in der Religionsausübung zusichern lässt43 und diese an einem Abendmahlsbekenntnis orientiert, das in charakteristischer Weise die Schlüsselformel des Abendmahlsartikels der Confessio Augusta————— 41

Hotman hat in mehreren Briefen die mangelnde Konsequenz der Reformation in Basel scharf kritisiert. Der Grundtenor der Äußerungen ist die Klage über die mangelnde Kirchenzucht und Disziplinierung der Sitten. „Nos Papistis ipsis ludibrio sumus. Doctrina reformata est, vita deformatissima“ (Hotman an Rudolph Gwalther in Zürich, 26. Mai 1579, abgedr. in: J.G. MEELIUS [Hg.], Francisci et Joannis Hotomanorum patris ac filii, et clarorum virorum ad eos epistolae, Amsterdam 1700, 111). 42 Die Gründung der Herborner Hohen Schule im Jahre 1584 erfolgte mit dem ausdrücklichen Ziel, die Reformation voranzutreiben und angesichts der römischen-spanischen Bedrohung zu sichern (vgl. G. MENK, Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit [1584–1660]. Ein Beitrag zum Hochschulwesen des deutschen Kalvinismus im Zeitalter der Gegenreformation, Wiesbaden 1981, 22–35; STROHM, Calvinismus und Recht, 183–189). 43 Vgl. V. PRESS, Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1614, Kieler Historische Studien, 7, Stuttgart 1970, 282. In diesen Jahren galt er als einer der offen Reformierten am Heidelberger Hof (vgl. ebd., 292). Im Zuge seines FrankreichAufenthaltes hatte er auch Calvin in Genf einen Besuch abgestattet und anschließend dessen Bildung und Frömmigkeit gelobt (vgl. N. Cisner an Johannes Calvin, aus Bourges, Dezember [1557], in: CO 16, Nr. 2766, 715f.). Man kann ihn wohl als „gemäßigt reformiert mit einem starken humanistischen Einschlag“ bezeichnen (PRESS, Calvinismus, 282).

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na variata (cum pane et vino vere exhibeantur corpus et sanguis Christi vescentibus) aufnimmt.44 In wie starker Weise humanistisch-rationale und reformatorische Anliegen angesichts der gemeinsamen Bedrohung durch den „römischen Aberglauben“ zusammenrücken, zeigt eine kleine Schrift des Heidelberger Juristen Marquard Freher aus dem Jahre 1598. Sie ist der Auslegung des JesusWortes in Mt 22,21 („Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“) gewidmet45 und ausdrücklich gegen die „hostes Domini“46 gerichtet.47 Hier wird das für die Entstehung des öffentlichen Rechts und die politische Kultur der westlichen Zivilisation grundlegende Interesse einer klaren Unterscheidung von Kirche und Staat bzw. Religion und Politik, aber auch Geistlichem und Weltlichem deutlich. Freher liegt mit seiner Auslegung ganz auf der Linie von Luthers grundlegender Unterscheidung der beiden Regimente, geht aber einen bemerkenswerten Schritt darüber hinaus. Denn das Jesus-Wort fordert seiner Auffassung nach dazu ganz grundsätzlich auf, die Vermischung göttlicher und menschlicher Sachverhalte zu vermeiden.48 Die Pharisäer hätten Jesus scheinheilig angesprochen „Du lehrst den Weg Gottes in die Wahrheit“ (Mt 22,16), dann aber etwas gefragt, was gar nicht pietas und religio betraf (Mt 22,17: „Darum sage uns, was meinst du: Ist’s recht, daß man dem Kaiser Steuer zahle, oder nicht?“). So habe Jesus sie als Heuchler bezeichnet und ihnen vorgeworfen, „confundere rationes diuinas cum humanis“. Eben damit, dass man dem Herrscher das ihm Zukommende zukommen lässt, lässt man Gott das Geschuldete zukommen. Oder etwas moderner gesprochen: In der Welt weltlich zu handeln heißt, Gott zukommen lassen, was ihm zukommt. Dem entspricht auch, dass Freher in seinem Schrifttum mit Entschiedenheit für ein als Vernunftrecht verstandenes Naturrecht eintritt und hier keinen Widerspruch zum göttlichen Gesetz sieht.49

————— 44

Vgl. STROHM, Calvinismus und Recht, 55f. (mit Belegen). Vgl. M. FREHER, De verbis Domini, date caesari, qvae sunt caesaris; et qvae Dei, Deo. Sermo votiuus, Theologistoricam eius loci explicationem continens, Heidelberg 1598; vgl. dazu Bemerkungen in: E. M ITTLER (Hg.), Bibliotheca Palatina. Katalog zur Ausstellung vom 8. Juli–2. November 1986, Heiliggeistkirche Heidelberg / Universität Heidelberg in Zusamme narbeit mit der Bibliotheca Apostolica Vaticana, Heidelberg 1986, Bd. 1, 146. 46 Vgl. FREHER, De verbis Domini, 4. Der Schrift ist ein Anhang angefügt (vgl. ebd., 38–44), der darlegt, wie sich die Päpste von den christlichen Kaisern das Recht erschlichen hätten, Steuern zu erheben. 47 Vgl. ebd., 41f. 48 Vgl. ebd., 12. 49 Vgl. B. SCHWAN, Das juristische Schaffen Marquard Frehers (1565–1614), Veröffentlichung der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer 74, Speyer 1984, 154–170. 45

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Calvin und die reformierten Juristen

6. Übereinstimmung von biblischer Religion und vernünftiger Rechtsbegründung Angesichts der beschriebenen Kampfsituation rücken reformatorische und humanistische Zielsetzungen aufs Engste zusammen. Man geht von einer Gleichstimmigkeit der wahren biblischen Religion und der rechten Vernunft aus. Mit oder ohne ausdrücklichen Bezug auf den von Paulus in Röm 2,14f. formulierten, stoisch inspirierten Naturrechtsgedanken können die Begründungsfragen des Rechts rein immanent-rational abgehandelt werden. Das gilt z.B. für das 1556 zum ersten Mal erschienene Werk De principiis iuris libri septem Christoph Ehems.50 Dieser Exponent des kurpfälzischen Reformiertentums verzichtet trotz des Themas einer Rechtsgrundlegung auf jede eigenständige biblisch orientierte rechtsphilosophische Begründung und argumentiert vielmehr rein rational-philosophisch.51 Ein weiterer Heidelberger Jurist, Johann Kahl (latinisiert Calvus/Calvinus), hat sich 1595 in einer Schrift mit dem Titel Themis Hebraeo-Romana52 eingehend mit Fragen der Rechtsbegründung befasst. Kahl legt in unmittelbarem Anschluss an Melanchthons Naturrechtslehre die Vorstellung von dem Intellekt bzw. dem Gewissen innewohnenden Vernunftprinzipien dar.53 Ziel dessen ist eine durchweg rationale Rechtsbegründung. Die recta ratio ist nicht nur Anfang und Ursprung […], sondern auch Fundament und Basis von Recht und Gesetz. Aus der ratio geht also das Recht hervor und zwar aus der ewigen ratio des ewigen Gesetzgebers das ewige Recht, aus der menschlichen ratio das menschliche Recht, aus der recta ratio, das richtige und gesunde Recht. Ebenso gilt das Gegenteil. So gründet sich das Recht auf die ratio gleichsam wie auf ein Fundament, ja, es wird von der ratio wie von einer Richtschnur gemessen und gebilligt.54

Dieser Begründung allen Rechts – sowohl des römischen als auch des mosaischen – in der recta ratio tritt keine ernsthafte Reflexion auf spezifisch biblische Grundlegungen des Rechts zur Seite.55 —————

50 Vgl. C. EHEM, De principijs ivris libri septem, quibus iurisprudentiam arte, methodo, ordineque tradi, proprijsque finibus circunscribi posse, dilucide ostenditur, Basel 1556; Neudr. Hanau 1601. 51 Ehem erwähnt lediglich einmal die Auferweckung des Lazarus als Beispiel für etwas, das nur „absolute raro“ geschehe (vgl. EHEM, De principiis, 175). 52 J. KAHL, Themis Hebraeo-Romana, id est iurisprudentia Mosaica, et iuris tum canonici, tum civilis, Romana, inuicem collata; et methodice digesta: […], Hanau 1595. 53 Vgl. ebd., f. a 3v. Kahl schließt sich auch Melanchthons Rückgriff auf die stoisch-ciceronische Begründung des Naturrechtsgedankens, auf das Licht der Vernunft an (vgl. ebd., f. a 7v). 54 Vgl. ebd., f. a 7r. 55 Die vielfache Berufung auf die „recta ratio“, die „ratio naturalis“, die „civilis ratio“ o.ä. ist auch für andere Schriften Kahls charakteristisch. Vgl. J. KAHL, De principe, de maiestate, ac

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Noch massiver als andere reformierte Juristen greift Denis Godefroy auf stoisches Gedankengut zurück. Godefroy hat nicht nur eine Seneca-Ausgabe erstellt, sondern ihr auch eine Zusammenstellung von theologischen, juristischen u.a. loci communes vorangestellt.56 So militant sich Godefroy wie die anderen Autoren57 vom römischen Papsttum abgrenzt, so unbefangen geht er von einer Übereinstimmung biblischen und stoischen Denkens aus. Entsprechend fügt er in seiner Seneca-Ausgabe auch den fiktiven, im 4. Jahrhundert entstandenen Briefwechsel Senecas mit Paulus bei.58 Schließlich ist auch Althusius’ 1586 zum ersten Mal und dann mehrfach wiederaufgelegte Darstellung des römischen Rechts, die Jurisprudentia Romana, hier zu nennen.59 Der Aufbau ist durch die Einteilungslogik des Petrus Ramus geprägt.60 Auch in den grundlegenden Passagen greift Althusius auf Cicero und andere antike Autoren, nicht aber biblische Texte zurück.61 Althusius’ spätere Gesamtdarstellung des Rechts, die 1617 zum ersten Mal erschienene Dicaeologica, ist hingegen überladen mit Verweisen auf Bibelstellen.62 Die maßgeblich in der Auseinandersetzung mit einem ————— privilegiis eivs: proinde et de Lege Regia: commentatio iuridico-politica, et historico-iuridica et eiusdem privilegiis: capitibus duobus distincta […], Frankfurt a.M. 1600, f. A 2v. S. 8f.39.44f.51f. 54.61.64.66.68.71.80f. 56 D. GODEFROY (Hg.), In L. Annaei Senecae philosophi opera coniecturarum et variarum lectionum libri V. Loci communes seu libri aureorum, nomenclator sive commentarius selectarum dictionum, Basel 1590. 57 Für Johann Kahls Werk ist die Zusammenstellung der Gesetzestexte aus römischem, kanonischem und biblischem Recht zum Ersten Gebot innerhalb der Themis Hebraeo-Romana charakteristisch. Hier finden sich neben den Bibelstellen aus dem Johannesevangelium, welche wahre Gotteserkenntnis allein durch Christus vertreten (Joh 14; Joh 1; 1Joh 1) auch auffällig viele Cicero-Zitate (vgl. KAHL, Themis Hebraeo-Romana, 3–7). Während die Vielzahl der heidnisch-antiken Götter eher am Rande thematisiert wird, identifiziert Kahl in dem ausführlichen Abschnitt „De erroribus circa primam Decalogi legem“ (ebd., 7–22) die tridentinisch-römische Heiligenverehrung und Marienfrömmigkeit als Verstoß gegen die Verehrung des einen Gottes (vgl. ebd., 8). An anderer Stelle werden Gott und ratio unbefangen nebeneinander gestellt und erscheinen im Zuge eines breiten Rückgriffs auf römische Religiosität via Cicero gleichsam austauschbar (vgl. J. KAHL, De jurisprudentiae Romanae studio recte conformando; citiusque ac facilius […] docendo, discendo, et exercendo: item de toto hodierno jure Christiano-Romano: […], Herborn 1600, 8f.). 58 Danach bescheinigt dieser jenem, dass ihm bei seinen philosophischen Überlegungen Dinge enthüllt worden seien, wie sie Gott nur wenigen zugestanden habe. Er solle ein neuer Verkünder Jesu Christi werden, die unwiderlegbare Wahrheit, die er nahezu erlangt habe, mit allen Mitteln rhetorischer Kunst preisen und dem zeitlichen Herrscher und seinen Dienern verkünden. 59 Vgl. J. ALTHUSIUS, Iuris Romani libri duo, ad leges methodi Rameae conformati, et tabula illustrati, Basel 1586 [weitere Ausgaben unter neuem Titel: Herborn 1588; Basel 1589; Herborn 1592; 1599; 1607; 1623]; zu der Schrift vgl. STROHM, Calvinismus und Recht, 199–203. 60 Vgl. ähnlich die zeitgleich erschienene Darstellung: H. VULTEJUS, Jurisprudentiae Romanae a Justiniano compositae libri duo, Marburg 1590; STROHM, Calvinismus und Recht, 277–285. 61 Vgl. ebd., 75. 62 Vgl. J. ALTHUSIUS, Dicaeologicae libri tres, totum et universum jus, quo utimur, methodice complectentes. Cum parallelis huius et Judaici juris, tabulisque insertis […]. Editio secunda priori correctior, Frankfurt a.M. 1649; Reprint Aalen 1967 [zuerst 1617].

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Calvin und die reformierten Juristen

System des Rechts des Jesuiten Pierre Grégoire63 verfasste Schrift ist weitestgehend römisch-rechtlich und ramistisch bestimmt. Aber Althusius ist wie die anderen genannten reformierten Juristen von der Überzeugung getragen, dass hier kein Gegensatz zu den biblischen Texten besteht, sondern diese im Gegenteil die Rationalität des römischen Rechts im Wesentlichen bestätigen. Insofern kann Althusius der Vermischung von Gott und Welt, von Geistlichem und Weltlichem, wie sie das kanonische Recht und vor allem das System Grégoires kennzeichnet, eine biblisch legitimierte, rationale Alternative entgegenstellen.64

7. Schlussbemerkung Die beschriebene, grundsätzliche Überzeugung eines Gleichklangs von biblischer Religion und rechter Vernunft hat zusammen mit der pointierten Unterscheidung des geistlichen und weltlichen Regiments eine außerordentlich positive Wirkung auf die Entwicklung der Rechtswissenschaften im protestantischen Deutschland ausgeübt. Michael Stolleis hat in seiner grundlegenden Geschichte des öffentlichen Rechts darauf hingewiesen, dass es fast ausschließlich protestantische Juristen waren, die zur öffentlichrechtlichen Diskussion beigetragen und das ius publicum als Disziplin in den juristischen Fakultäten etabliert haben.65 Bis zur vernichtenden Niederlage Kurfürst Friedrichs V. im Jahre 1620 und dem Niedergang der Kurpfalz als Bastion des calvinistisch-reformierten Protestantismus im Reich hatten reformierte Juristen einen großen Anteil daran.66 Anders sah es im Einflussbereich der tridentinisch-jesuitischen Konfessionalisierung aus. Wo die Jesuiten die Hochschulausbildung übernahmen, lässt sich keine vergleichbare Förderung der Rechtswissenschaften feststellen. Weder die Ordenskonstitutionen der Jesuiten noch die Ratio studiorum von 1599 sahen ein Studium der Jurisprudenz vor. Alles Gewicht lag auf dem kanonischen Recht, das im Rahmen des Studiums der Moraltheologie ————— 63

Vgl. P. GRÉGOIRE, Syntagma omnis iuris, Lyon 1580 u.ö. Vgl. dazu genauer STROHM, Calvinismus und Recht, 211–217. 65 Zum öffentlichen Recht vgl. STOLLEIS, Geschichte I, 248: „Es ist offenkundig, daß die Pflege des öffentlichen Rechts sowohl in der Gründungsphase um 1600 als auch während des ganzen 17. Jahrhunderts eine im wesentlichen protestantische Angelegenheit geblieben ist. Die kontinuierliche Vermittlung des öffentlichen Rechts auf katholischen Universitäten setzte erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, z.T. noch später ein (Mainz 1719, Trier 1722, Würzburg 1729, Innsbruck 1733/34, Bamberg 1739, Wien 1749, Freiburg i.Br. 1767). Einige Anstalten verzichteten nahezu oder gänzlich auf öffentliches Recht (Köln, Passau, Graz, Linz, Breslau, Dillingen). Erst am Ende des 18. Jahrhunderts glichen sich die Verhältnisse einigermaßen an.“ 66 Zum Anteil reformierter Juristen an der Entfaltung des öffentlichen Rechts im Reich vgl. STROHM, Calvinismus und Recht, 315–438. 64

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zu behandeln war. An den von Jesuiten neugegründeten Universitäten gab es keine juristischen Fakultäten.67 An den protestantischen Universitäten waren die Bedingungen für das Gedeihen juristischer Fakultäten mit zivilund öffentlich-rechtlichen Schwerpunkten hingegen günstig. Da die Erneuerung der Universitäten im 17. und 18. Jahrhundert insbesondere von den juristischen Fakultäten ausging, hatte das Folgen für die Universitätsentwicklung insgesamt. Das „Zurückbleiben des katholischen Reiches hinter dem sich erneuernden protestantischen, wie es sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts abzuzeichnen begann“, erklärt sich nicht zuletzt aus dem Aufblühen der juristischen Fakultäten im protestantischen Bereich.68 Diese kulturgeschichtliche Wirkung der Reformation Luthers wie Calvins ist in der gegenwärtigen historiographischen Diskussion herauszustellen. Die angedeuteten Unterschiede zwischen reformierten und lutherischen Juristen sind hingegen marginal und müssen in diesem Sinne relativiert werden. Die Frage nach weltanschaulich-konfessionellen Einflüssen auf das Werk reformierter Juristen ist heute über die historiographische Diskussion im engeren Sinne hinaus aktuell. Gerade weil Religion bzw. Konfession in den einzelnen Kulturen eine ganz unterschiedliche Rolle spielt, stellt sich gegenwärtig von neuem die Frage nach der Bedeutung von Religion für die Werte- und Institutionenbildung der westlichen Zivilisation. Insbesondere die weltanschaulichen Grundlagen bzw. religiösen Begründungen einer klaren Unterscheidung von Kirche und Staat oder einer Dissoziierung von Religion und Justiz sind zu erörtern. Dies hat im Bewusstsein der Pluralität der weltanschaulich-konfessionellen Orientierungsmuster, die im Bereich des Christentums zum Teil eben auch gegenläufig wirksam geworden sind, zu geschehen.

————— 67

Vgl. K. HENGST, Jesuiten an Universitäten und Jesuitenuniversitäten, Paderborn u.a. 1981, bes. 177 u. 288–294. 68 HAMMERSTEIN, Bildung, 42f.; vgl. ebd., 17–23.53f.

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Calvin, Calvinismus und Puritanismus William Perkins’ Schriften in Basel als Beispiel 1. Zur Begrifflichkeit „Calvinismus“ und „Puritanismus“ Der Begriff „Calvinismus“ ist unscharf, weil er unterschiedliche Bedeutungsgehalte umfangen kann. Er kann Ideenkomplexe bezeichnen, die mehr oder weniger mit der Theologie Calvins zusammenhängen, oder er meint ganze Kirchentümer, die in engerer oder lockerer Weise mit der Reformation in der Schweiz verbunden sind. Auch das Adjektiv kann breit verwendet werden und ist dann ein Synonym für „reformiert“. Ursprünglich wurde das Wort „Calvinismus“ von Lutheranern schon im 16. Jahrhundert benutzt, um vor Gedankengängen Calvins in Deutschland, vor allem über das Abendmahl, zu warnen. Später bezeichnete es Theologien, die sich auf Calvin selbst oder auf seine Schüler beziehen.1 Die entscheidende Frage ist, wie der Zusammenhang zwischen Calvin und dem Calvinismus bestimmt und bewertet wird. Die ältere Forschung hat einen markanten Unterschied zwischen Calvin und seinen Schülern festgestellt. Theodor Beza und seine Nachfolger hätten auf Kosten der exegetischen und der christologischen Prägung stärker eine aristotelisch-logische Fassung der Theologie Calvins mit der Betonung der Prädestinationslehre betrieben. Vereinfacht gesagt, zeichnen diese Forscher eine Verfallsgeschichte von Calvin zum Calvinismus. Die neuere Forschung dagegen unterstreicht stärker die Kontinuitäten und relativiert den Bruch zwischen Calvin und seinen Schülern.2 Auch der Begriff „Puritanismus“ ist komplex.3 Schon in Flugschriften des 17. Jahrhunderts wurde beklagt, die Bezeichnung sei nicht eindeutig und daher irreführend. Englische Historiker des 19. Jahrhunderts wollten den Begriff am liebsten abschaffen, weil er in unterschiedlicher Weise verwendet werde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwies Ferdinand Kattenbusch in seinem Artikel der „Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche“ zuerst auf diese Problematik: „Der Ausdruck ‚Puritan‘ ist geschichtlich kein ganz eindeutiger.“4 Puritaner und Presbyterianer werde in ————— B.A. GERRISH, Art. Calvinismus, RGG4 2 (1999), (36–38) 36. C.R. TRUEMAN, Calvin und die reformierte Orthodoxie, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2009, (466–474) 466f. 3 Siehe J. SPURR, English Puritanism, 1603–1689, New York 1998, 3–8. 4 F. KATTENBUSCH, Art. Puritaner, Presbyterianer, RE3 16 (1905), (323–348) 324. 1 2

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der Überschrift zusammengestellt, weil der Artikel von den Puritanern nur unter dieser bestimmten Zuspitzung handle.5 Und schließlich hielt auch Patrick Collinson in der „Theologischen Realenzyklopädie“ noch fest, der Begriff sei „einer der am wenigsten klar bestimmten Begriffe aus dem Gesamtbereich christlicher Frömmigkeitsgeschichte.“6 Die Schwierigkeiten halten also bis in die Gegenwart an. „Puritaner“ war ursprünglich eine polemische Fremdbezeichnung. Im so genannten Kleiderstreit zwischen 1563 und 1567 lehnten viele Prediger die offiziell verordneten Kleider wie Messgewänder, Chorröcke oder Klerikeranzüge ab. Auch die Zuständigkeit der weltlichen Obrigkeit in kirchlichen Angelegenheiten wiesen diese Kreise zurück. Da ihnen die Ausgestaltung des Lebens nach Gottes Geboten und die Reinheit des Herzens der Gläubigen wichtig war, wurden sie mit dem Spottnamen Puritaner belegt. Die Puritaner waren eine vielfältige Bewegung, kritisierten die bischöfliche Verfassung und die Oberhoheit der Königin über die englische Kirche, aber nur ein kleiner Teil dachte an eine Trennung zwischen Kirche und Staat. Nachdem Thomas Cartwright, Professor der Theologie in Cambridge, eine presbyterial-synodale Neuordnung der Kirchenverfassung nach dem Genfer Modell gefordert hatte, musste er 1570 vom Amt zurücktreten und England verlassen. Da die Umsetzung dieser Reformen aussichtslos war, plädierte Robert Browne zehn Jahre später für den Separatismus. Die einzelne Gemeinde versammle sich als Gemeinschaft, die in einem Bund mit dem einzigen Haupt Christus verbunden sei. Die Gemeinde sei vom Episkopalismus als auch vom Presbyterianismus unabhängig. In der Linie der Täufer wurden hier die Wurzeln des Kongregationalismus sichtbar. Allerdings konnte sich der Separatismus nicht durchsetzen. Der Puritanismus ist in dieser frühen Zeit keine fest umrissene Größe, sondern eine dynamische Bewegung, die innerhalb der Church of England für die konsequente Umsetzung der reformatorischen Ideen kämpfte. Im Zentrum der Kritik stand weniger die reformatorische Lehre, als vielmehr die Praxis der Frömmigkeit und die organisatorische Verfassung der Kirche.7 Obwohl Calvin persönlich bei der englischen Regierung unter Elisabeth I. kein hohes Ansehen genoss, wuchs doch der theologische Einfluss auf die Church of England vor und nach seinem Tod. Die Werke Calvins fanden nach 1560 eine erstaunliche Verbreitung und überflügelten Autoren wie Erasmus von Rotterdam, Philipp Melanchthon, Wolfgang Musculus oder Theodor Beza bei weitem. Die englische Kirche gehörte zu den reformier————— 5

Ebd. P. COLLINSON, Art. Puritanismus I (Großbritannien), TRE 28 (1997), (8–25) 9,21f. 7 K. DEPPERMANN, Der englische Puritanismus, in: M. BRECHT (Hg.), Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, Geschichte des Pietismus, Bd. 1, Göttingen 1993, (11–55) 17–24; COLLINSON, Puritanismus, 11–16. 6

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ten Kirchen Europas, deren theologische Lehre von den Kirchen in Zürich und Genf geprägt waren. So nahm die Kirche von England auch an der Synode von Dordrecht 1618/1619 teil. Calvinismus und Puritanismus überschnitten sich in der englischen Kirche beträchtlich. Umstritten war die kirchliche Praxis, die den Puritanern zu nachlässig war. Wenn also das Verhältnis zwischen Calvinismus und Puritanismus zu bestimmen ist, sind Kontinuitäten vor allem in der Lehre und Differenzen in der Praxis zu suchen.8

2. William Perkins – Leben und Wirken William Perkins ist vor allem über seine publizierten Werke zugänglich.9 Die Quellen zu seinem Leben dagegen fließen spärlich. Eine Korrespondenz ist nicht greifbar. Nur wenige frühe biographische Darstellungen geben Hinweise zum Lebenslauf. Perkins wurde 1558 in einem Dorf der mittelenglischen Grafschaft Warwickshire geboren. Seine Herkunft, die Eltern Thomas und Anna sowie die weitere Familie bleiben im Dunkeln. 1577 begann er das Studium am Christ’s College der Universität Cambridge. Als Tutor begleitete ihn Laurence Chaderton (gest. 1640), der eine geachtete Persönlichkeit in puritanischen Kreisen war. Als Student soll Perkins einen unsteten, ausschweifenden Lebenswandel geführt haben. Es wird eine Bekehrung beschrieben, die an Johannes Calvins subita conversio erinnert, doch ist sie umstritten, weil die frühesten biographischen Berichte nichts darüber erwähnen. Trotzdem dürfte diese Überlieferung darauf hinweisen, dass Perkins in seinem Denken und Leben durchaus Veränderungen unterlag, bis er sich schließlich im Lager der Puritaner einfinden konnte. Akademisch promovierte er 1581 zum Bachelor of Arts und 1584 zum Master of Arts. Im gleichen Jahr wurde er Lehrer (Fellow) am Christ’s College und Prediger (Lecturer) an der Great St. Andrew’s Church in Cambridge. In dieser Kirchgemeinde hatte Perkins ein breites, gemischtes Publikum, weil sich dort Angehörige der Universität, Bewohner der Stadt und Leute vom Land zum Gottesdienst versammelten. Während er dieses Amt als Prediger bis zu seinem Tod versah, musste er als Fellow am Christ’s College zurücktreten, nachdem er 1595 Timothye Cradocke geheiratet hatte. Der Ehe entsprangen sieben Kinder, wovon drei noch während ihrer Kindheit verstar————— 8 I. HAZLETT, Calvin und die Britischen Inseln, in: H.J. SELDERHUIS (Hg.), Calvin Handbuch, Tübingen 2009, (118–126) 122–124; A. PETTEGREE, The French Book and the European Book World, Leiden u.a. 2007, 283–289. 9 Dieses Kapitel folgt M. SALLMANN, William Perkins. Puritaner zwischen Calvinismus und Pietismus, in: P. WALTER / M.H. JUNG (Hg.), Theologen des 17. und 18. Jahrhunderts. Konfessionelles Zeitalter – Pietismus – Aufklärung, Darmstadt 2003, (88–105) 88f. und 91–93.

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ben und eines erst nach dem Tod des Vaters geboren wurde. Gallensteine führten 1602 zum Tod.10 Im Jahr 1590 erschien erstmals die Schrift „Armilla aurea, id est, miranda series causarum et salutis & damnationis iuxta verbum Dei“,11 in der Perkins die Lehre von der Prädestination behandelte. Obwohl seit der zweiten Auflage und der Übersetzung im Titel der Zusatz „theologiae descriptio“ (description of theologie) erschien, bietet das Werk keine vollständige Dogmatik, sondern widmet sich vor allem der Gewissheit der Erwählung. 12 Perkins gliederte seine Abhandlung in zwei Hauptteile, die Lehre von Gott und die Lehre von seinen Werken. Im ersten, kurzen Hauptteil behandelte er die Natur (nature), das Leben (life), die Herrlichkeit (glorie and blessednesse) und die Personen (persons) Gottes. Wie Beza unterschied auch Perkins zwischen dem Dekret der Prädestination (decree) und seiner Ausführung (execution), führte aber die Beschlüsse und die Werke Gottes ausdrücklich auf alle drei Personen der Trinität zurück.13 Dadurch vermied er, dass Christus dem Dekret Gottes untergeordnet wird. Christus sei als Mittler nicht dem Dekret der Erwählung selbst, sondern allein der Ausführung des Dekrets untergeordnet. Als Person der Trinität aber sei Christus selbst Grund (foundation) der Erwählung von Ewigkeit her.14 Das Werk Christi erhielt durch dieses Vorgehen deutlich mehr Gewicht. Perkins behandelte die Zusammenhänge zwischen dem Heilsweg Christi und dem Weg des christlichen Lebens, führte Rechtfertigung und Heiligung aus, wobei er auch den christlichen Kampf einbezog, das Zweifeln an der Erwählung und an der Rechtfertigung oder die Begierde des Fleisches. Der Heilsgewissheit widmete er besondere Aufmerksamkeit. Ausführlich beschrieb er die Durchführung von Gottes Dekret der Erwählung (Of the degrees of executing Gods decree of Election), wobei er vier Stufen differenzierte: Die erste Stufe (degree) umfasst eine wirksame Berufung (effectuall calling), die den Sünder von der Welt trennt und in Gottes Familie einfügt. Die Vereinigung (union) mit Christus und ihre Auswirkungen beim Menschen kommen schon hier ausführlich zur Sprache. So sind eigentliche, —————

10 I. BREWARD, Introduction, in: DERS. (Hg.), The Work of William Perkins, Appleford 1970, (1–131) 3–13; D.K. MCKIM, Ramism in William Perkins’ Theology, New York 1987, 5–8. 11 A Short-title Catalogue of Books printed in England, Scotland, and Ireland and of English Books printed abroad 1475–1640, first compiled by A.W. POLLARD and G.R. REDGRAVE, 2nd ed., revised and enlarged, begun by W.A. JACKSON and F.S. Ferguson, compl. by K.F. PANTZER, Vol. 1–2, London 1976–1986, Vol. 3: A Printers’ and Publishers’ Index other Indexes and Appendices cumulative Addenda and Corrigenda, by K.F. PANTZER, London 1991 (= STC), Nr. 19655. 12 W. PERKINS, The Workes of that famovs and worthy minister of Christ in the Vniuersitie of Cambridge, Mr. William Perkins, Vol. I–III, London 1616–1618, zitierte Ausgabe Vol. I, London: John Legatt 1626, Vol. II, London: John Legatt 1631, Vol. III, London: John Haviland 1631. 13 Ebd., I 11a–15a. 14 Ebd., I 24a–b.

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lebendige Glieder Christi alle erwählten, durch den Glauben und den Heiligen Geist einverleibten Menschen, welche die Kraft Christi in sich fühlen. Absterbende Glieder sind zwar in Christus einverleibt, spüren aber nichts von der Kraft des Heiligen Geistes.15 Die zweite Stufe ist die Rechtfertigung (iustification), welche die Gläubigen vor Gott durch den Gehorsam Christi als gerecht erklärt. Sie enthält zwei Teile, die Vergebung (remission) der Sünden und die Zuschreibung (imputation) der Gerechtigkeit Christi.16 Auf der dritten Stufe der Heiligung (sanctification) werden die Gläubigen von der Sünde befreit und Schritt für Schritt (by little and little) in Heiligkeit und Gerechtigkeit erneuert. Die Heiligung umfasst das Absterben (mortification) im Tode Christi und die Verlebendigung (vivification) durch die Auferstehung Christi. Der Heiligung entspringt die Buße. Ihre Früchte sind die Nachfolge Christi und der neue Gehorsam gegenüber Gott. Zugleich wird der christliche Kampf als geistliches Ringen gegen die mannigfachen Versuchungen beschrieben, die sich gegen Berufung, Glauben und Heiligung wenden. Das Kreuz, ein gewisses Maß an Elend, das Gott auferlegt, sollte mit Geduld getragen werden, denn es ist ein Zeichen von Gottes Annahme (adoption).17 Die letzte Stufe ist die Verherrlichung (glorification) nach diesem Leben. Der Tod ist der Anfang der Verherrlichung, die aber erst mit dem jüngsten Gericht ihre Vollendung findet. Die Heiligen werden dann vollkommen in das Bild des Sohnes verändert.18 Die Erwählung ist allein Gott und den Auserwählten bekannt. Die Auserwählten kennen ihre Erwählung nicht vom Ratschluss Gottes selbst, sondern von dessen Wirkungen, dem Zeugnis des Heiligen Geistes und den Werken der Heiligung. Die Heilsgewissheit kann aber nicht logisch von den äußeren Werken abgeleitet werden, sondern der Heilige Geist äußert sich in inneren Haltungen und Gefühlen.19 Perkins lehnte freilich die göttliche Urheberschaft des Bösen ab. Das Dekret ist zwar notwendig, doch die Willensfreiheit in der Erwählung oder die Eigenschaft der Zweitursachen hebt es nicht auf. Gott erlaubt Böses, aber er wirkt es nicht, erleidet es vielmehr und ordnet es zu seiner eigenen Herrlichkeit. Schöpfung und Fall sind die Mittel, durch die Gott seinen Ratschluss vollzieht. Im Akt der Schöpfung ruft Gott die endliche und unbeständige Kreatur ins Leben und schafft den Menschen nach seinem Bild. Der Sündenfall wird nicht von Gott verursacht, geschieht aber auch nicht gegen seinen Willen. Vielmehr lässt Gott dem menschlichen Willen seine Selbständigkeit und duldet den Sünden————— 15 16 17 18 19

Ebd., I 77a–78b. Ebd., I 81a–82b. Ebd., I 83a–90b. Ebd., I 92b. Ebd., I 112a–113b.

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fall.20 Die Wirksamkeit der Genugtuung Christi ist begrenzt, denn wo Gottes Wille zur Errettung nicht durch Christus vermittelt wird, taucht die Verdammung auf.21 Dem entspricht die Auffassung von den Sakramenten, wonach allein die wahrhaft Bekehrten (truly converted) mit den Zeichen auch die bezeichnete Sache, Christus und seine Gnade, die Verworfenen aber nur die leeren Zeichen empfangen.22 In der zweiten lateinischen Auflage und der englischen Übersetzung, die bereits 1591 folgten, veröffentlichte Perkins im Anhang Auszüge aus den Äußerungen, die Beza beim Mömpelgarder Religionsgespräch 1586 mit Jakob Andreae gemacht hatte.23 Obwohl ursprünglich nicht vorgesehen, wurde nach der Debatte über die Christologie und das Abendmahl auch die Prädestination behandelt. Damit waren deutliche Unterschiede in den Auffassungen zwischen Lutheranern und Reformierten nicht mehr nur bei der Christologie und dem Abendmahl, sondern auch bei der Prädestination sichtbar geworden. Mit dem ausdrücklichen Bezug auf Beza setzte Perkins ein deutliches Signal. An der Lehre von der zweifachen Prädestination der Menschen zum Heil oder zum Unheil hielt er entschieden fest, setzte aber eigene Akzente.24 Dem theologischen Problem der Heilsgewissheit antwortete er mit einer konsequenten Lehre der Prädestination, so dass Erwählung und Heil der Gläubigen exklusiv im Willen Gottes verankert waren. Die absolute Souveränität Gottes im Heilsgeschehen für den Menschen blieb unangetastet. Zugleich aber behandelte Perkins ausführlich und detailliert die Umsetzung des Heils beim Menschen. Ohne dass die Souveränität Gottes eingeschränkt wurde, kam damit das konkrete Leben des Menschen in das Blickfeld. In der Folge erhielt seine Theologie einen starken Bezug zur religiösen Praxis. Dieser Zugang, die theologische Lehre an ihrer praktischen Anwendung zu erläutern, zeigt sich auch in anderen Werken Perkins’.25 Die Predigt beispielsweise sollte in einfachem Stil (plain style) mit der Lehre und ihrer Begründung stets auch den Nutzen für die Frömmigkeit und den Lebenswandel bieten. Rechte Exegese führt zu rechter Lehre, rechte Lehre zu rechtem Leben. Die Predigt sollte deshalb mit der Lehre immer auch ihre Anwendung im Alltag der Gläubigen darlegen. Oder Perkins erörterte Wesen und Funktion des menschlichen Gewissens vor Gott, um die angefoch————— 20

Ebd., I 15b–16b; I 19b; II 606a–b. Ebd., I 105a–b. 22 Ebd., I 72a–73a. 23 Ebd., I 114a–116b. 24 BREWARD, Introduction, 80–90; M.R. SHAW, William Perkins and the New Pelagians. Another Look at the Cambridge Predestination Controversy of the 1590’s, WThJ 58, 1996, (267–301) 282–299. 25 Siehe SALLMANN, Perkins, 95–98. 21

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tenen Gewissen zu begleiten und zu trösten. Das Gewissen setzte er als Instanz zwischen Gott und Mensch. Conscientia werde es genannt, weil Gott und Mensch zusammen Bescheid wüssten über den Menschen und sein Handeln. Als richterliche Instanz urteile es für oder gegen den Menschen. Ein wesentliches Motiv dieser Darlegungen war es, den Gläubigen im Umgang mit dem eigenen Gewissen eine Hilfestellung zu geben. Dieser Ausrichtung auf das Leben entspricht Perkins’ Definition von Theologie als „the science of liuing blessedly for euer.“26 Perkins kann also durchaus als Vertreter der calvinistischen Tradition bezeichnet werden. Explizit stellte er sich in diese Tradition und äußerte sich gegenüber Calvin immer wieder respektvoll. Doch nahm er neben Calvin und Beza selbstverständlich auch andere reformatorische Denker auf wie Pietro Martire Vermigli, Girolamo Zanchi, Caspar Olevian oder Pierre Tossanus. Und ebenso kannte er Martin Luther und lutherische Theologen. Perkins war nicht allein mit den Werken von Calvin und dessen Schülern vertraut. Calvinistische Tradition darf hier also nicht im engen Sinne gefasst werden. Zugleich kann Perkins in historischer Perspektive dem Puritanismus zugeordnet werden. Die Bezeichnung „puritanisch“ (puritan) lehnte Perkins zwar ab, wenn damit die vollkommene Heiligung oder ein Leben ohne Sünden verbunden wurde, und er engagierte sich weder für eine presbyterianische noch für eine kongregationalistische Verfassung der Kirche, sondern hielt am episkopalen Aufbau der englischen Kirche fest. Doch teilte er mit der puritanischen Bewegung das Anliegen, das kirchliche Leben einer geistlichen Reform zu unterziehen. Nicht Aufbau und Leitung der Kirche, sondern deren Leben und Wirken wollte er erneuern. Puritanismus und Presbyterianismus können einander also mit Blick auf Perkins nicht gleichgestellt werden.27

3. Perkins’ Schriften im reformierten Basel Hatte die Basler Kirche unter der Leitung von Simon Sulzer 1566 die Annahme des Zweiten Helvetischen Bekenntnisses abgelehnt und der Basler Rat 1571 die Unterzeichnung der Wittenberger Konkordie beschlossen, kam es im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts zu einer deutlichen Verschiebung der konfessionellen Kräfte, die stärker die Annäherung an die reformierten Kirchen in der Eidgenossenschaft suchten. Herausragende Exponenten dieser Veränderungen waren Johann Jakob Grynaeus und Amandus Polanus von Polansdorf. Nach Sulzers Tod 1585 wurde Grynaeus ————— 26 27

PERKINS, The Workes, I 11a. MCKIM, Ramism, 8–12.

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Professor für Neues Testament an der Universität und Antistes der Kirche in Basel. Zielstrebig förderte Grynaeus die konfessionelle Festigung der Basler Kirche nach innen und nach außen, was zwei Beispiele aufzeigen sollen: Zum einen publizierte Grynaeus 1590 einen Sammelband mit dem Titel „Das Geistliche vnd herrliche Kleinot der Kirchen Gottes in Statt vnd Landtschafft Basel“, der die wichtigsten kirchlichen Texte, nämlich Glaubensbekenntnis, Katechismen und Gottesdienstordnung enthielt.28 Zum ersten Mal waren damit für die Basler Kirche die grundlegenden Schriften für Unterricht und Gottesdienst in einem Band versammelt, was Grynaeus im Vorwort auch ausdrücklich erwähnte.29 Zum anderen ist der so genannte Weiningersche Handel in den Jahren 1598 bis 1600 aufschlussreich, als es aus der benachbarten Markgrafschaft Baden-Durlach zu abfälligen Äußerungen über die Basler Prädestinations- und Abendmahlslehre gekommen war.30 Der Pfarrkonvent veröffentlichte eine Entgegnung, die wahrscheinlich von Grynaeus und Polanus, der seit 1596 den Lehrstuhl für Altes Testament in Basel versah, verfasst worden war.31 Als sich aber die hartnäckigen Gerüchte hielten, in Basel gebe es Unterschiede zwischen der Lehre und der Predigt, publizierte Polanus eine Schrift, in der er im ersten Teil die Vorwürfe zurückwies und im zweiten Teil eine Zusammenfassung der in Basel vertretenen theologischen Lehre gab. Darin verteidigte er ausführlich auch die Lehre von der doppelten Prädestination.32 Polanus fühlte sich dem Werk —————

28 Das Geistliche vnd herrliche Kleinot der Kirchen Gottes in Statt vnd Landtschafft Basel: Nemlichen/ I. Die Confession oder Bekanndtnuß des heiligen Christlichen Glaubens. II. Der Catechismus oder Kinderbericht/ für die jugendt. III. Das Agendtbuch/ von Christlichen Kirchenbreuch/ vn[d] Ordnungen die in der Gemeine Gottes/ vnd bey den Krancken geübet werden. Auffs neüw/ Gott zu Lob/ vnd der Gemein Gottes zu heilsamer Lehre vnd Trost/ alles wol wider vbersehen/ wie in volgender Vorrede zu sehen: vnd mit fleiß getruckt: durch […], [Basel:] Sebastian Henricpetri [1590]. Zu Grynaeus siehe R. THOMMEN, Geschichte der Universität Basel, 1532– 1632, Basel 1889, 117–130; F. WEISS, Johann Jakob Grynäus, in: Basler Biographien, Bd. 1, Basel 1900, 159–199; M. GEIGER, Die Basler Kirche und Theologie im Zeitalter der Hochorthodoxie, Zollikon-Zürich 1952, 40–45. Eine Darstellung zu Johann Jakob Grynaeus ist nicht vorhanden. 29 Kleinot 1590, fol. ):( ijv–iijr. 30 J. WEININGER, Ein Predigt/ Von Christo dem Breutigam/ vnd der Kirchen seiner geliebten Gespons/ Gehalten Bey der Hochzeit deß Ehrnvesten vnnd Hochgelehrten Herren/ Werneri Eglingers/ Fu[e]rstlichen Marggra[e]vischen Rahts zu Hochburg: Vnd der Edlen vnd Tugentsamen Jungfrawen Sara Bra[e]ndin/ des Edlen vnnd Vesten Herrn Bernhard Branden/ weilund obersten Zunfftmeisters zu Basel/ Eheliche hinderlaßne Dochter/ Durch […], Tübingen: Georg Gruppenbach 1598. 31 [J.J. GRYNAEUS und A. POLANUS] Christliche vnd trewhertzige Warnung Der Pfarrherren vnd Theologen zu Basel An die Gemeine Gottes daselbst. Von einer Schmachpredigt/ so zu Weil in der herschafft Ro[e]teln/ verschienes 1598. Jars gehalten/ vnd hernacher in truck verfertiget ist worden. Cum licentia Superiorum, Basel: [o. V.] 1599; siehe E. STAEHELIN, Amandus Polanus von Polansdorf, Basel 1955, 76–78. 32 A. POLANUS VON POLANSDORF, Kurtze Erkla[e]rung Ettlicher jetziger zeit streyttiger Religionsartickel/ von Chrjsto/ von der Ewigen Gnadenwahl Gottes/ von verwerffung der Gottlosen/ vnd von der Fu[e]rsehung Gottes. Durch Frag vnd Antwort gestellet. Sampt einem kurtzen innhalt/ der

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Calvins verpflichtet, denn bei Beza hatte er einst in Genf studiert. Das zeigt sich exemplarisch an einer umfangreichen Widmung an Beza, in der er die theologischen Gegner vor allem in der römischen Kirche ortet, seine Schrift als Zusammenfassung von Lehre und Bekenntnis der reformierten Kirchen bezeichnet, die sich in Frankreich, England, Schottland, der Schweiz, Böhmen und Polen und an anderen Orten befänden, und dem Widmungsempfänger für das dankt, was er aus dessen Schriften empfangen habe.33 In Basel kam es zu einer Konsolidierung der reformierten Orthodoxie, wobei Grynaeus und Polanus als führende Repräsentanten von Universität und Kirche eine calvinistisch geprägte Theologie vertraten. Basel war damit Teil einer übergreifenden Entwicklung, in welcher der Calvinismus in den reformierten Städten der Eidgenossenschaft in unterschiedlicher Weise die Einflüsse von Zwinglianismus und Luthertum verdrängte.34 In den gleichen Zusammenhang gehört nun der Umstand, dass Basel zu Beginn des 17. Jahrhunderts neben Oppenheim35 und Hanau36 zu den wichtigsten Druckorten puritanischer Literatur gehörte. Im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts und im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts wurde in der Stadt ein ganzes Ensemble mit Schriften von William Perkins nachgedruckt, übersetzt oder verlegt.37 Als Promotor dieser Entwicklung fungierte Wolgang Mayer. Über seine Großmutter Wibrandis Rosenblatt, die nach Wolfgang Capitos Tod Martin Bucer geheiratet hatte, gehörte Mayer zur Nachkommenschaft des Straßburger Reformators, für die König Edward ————— Lehre/ so in der Loblichen Vniuersitet zu Basel von streyttigen Religionspuncten gefu[e]hret wirdt, Basel: Andreas Keller 1600, fol. ):( ijr–)::( viir und 1–104; vgl. A. POLANUS VON POLANSDORF, Kurtzer Jnhalt Der gantzen Lehr/ welche in der Theologischen Schul der loblichen Vniversitet zu Basel/ belangend die jetziger zeit streitige Religionspuncten/ gefu[e]hret wirdt, Basel: Andreas Keller 1600, 3–11 und 12–39. Siehe STAEHELIN, Polanus, 84–86 sowie 111–130, wo der Teil zur theologischen Lehre aus POLANUS, Kurtzer Jnhalt 1600, 12–39, wieder abgedruckt ist. Zu Polanus siehe THOMMEN, Universität Basel, 131–136; STAEHELIN, Polanus, 9–59; H. FAULENBACH, Die Struktur der Theologie des Amandus Polanus von Polansdorf, Diss. theol. Basel, Zürich 1967, 15f. Eine umfassende Würdigung von Leben und Wirken des Polanus steht aus. 33 A. POLANUS VON POLANSDORF, Theses theologicae de unico s. s. theologiae principio. […], Basel: Konrad Waldkirch 1599, fol. ):( 2v–4v; ):( 4v–)):(( 5r; )):(( 5r–6r. FAULENBACH, Polanus, 312–319. 34 M. SALLMANN, Art. Zwinglianismus, in: Lexikon der Kirchengeschichte, Redaktion Bruno Steimer (Lexikon für Theologie und Kirche kompakt), Freiburg i.Br. u.a. 2001, Bd. 2, 1779–1784 = Lexikon der Reformationszeit, Redaktion Klaus Ganzer und Bruno Steimer (Lexikon für Theologie und Kirche kompakt), Freiburg i.Br. u.a. 2002, 849–854. 35 J. BENZING, Johann Theodor de Bry, Levinus Hulsius Witwe und Hieronymus Galler als Verleger und Drucker zu Oppenheim (1610–1620), AGB 9, 1967–1969, 589–642. 36 J. BENZING, Der Buchdrucker Wilhelm Antonius zu Hanau (1593–1611) als Vermittler englischen Schrifttums, in: D.E. RHODES (Hg.), Essays in honour of Victor Scholderer, Mainz 1970, 68–89. 37 M. SALLMANN, Orthopraxie der Basler Orthodoxie. Puritanische Literatur in Basel (1590– 1650), PuN 33, 2007, (217–227) 220–224.

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VI. von England ein Stipendium gestiftet hatte. Davon profitierte Mayer und reiste 1597 mit Empfehlungsbriefen des Basler Rats nach England, wo er vier Jahre lang in Oxford und Cambridge Theologie studierte. Während dieser Zeit knüpfte er Kontakte zu Angehörigen des Hochadels und zu hervorragenden Gelehrten wie William Perkins. Später frischte er diese Verbindungen als Abgeordneter des Basler Rates an der Dordrechter Synode während seiner Abstecher nach London und Cambridge auf. Als er nach Basel zurückgekehrt war, amtete er zunächst von 1602 bis 1604 als Vikar zu St. Alban bei seinem Vater, dem er nach dessen Tod als Pfarrer zu St. Alban folgte. 1630 wurde er in das Amt des Archidiakons am Münster gewählt, das er bis zu seinem Tod 1653 innehatte. Nachdem Amandus Polanus 1610 unerwartet an der Pest gestorben war, wurde Mayer zum Doktor der Theologie promoviert und 1612 zum ersten Extraordinarius für Dogmatik (loci communes et controversiae theologiae) berufen.38 Unter den Werken, die Mayer von Perkins herausgab, findet sich eine Veröffentlichung mit dem Titel „Catechismvs“. Mayer stellte in dieser Schrift mehrere Werke von Perkins zusammen und publizierte sie im Jahr 1606 bei Jakob Treu in Basel.39 Es handelt sich um deutsche Übersetzungen der folgenden Werke: „The foundation of christian religion“ (1590), die Kapitel zu den Zehn Geboten aus „A golden chaine“ (1591), „An exposition of the Lords prayer“ (1592), „An exposition of the symbole“ (1592) sowie ein nicht identifiziertes Werk zu den Sakramenten Taufe und Abendmahl.40 Die Übersetzungen stammen von Johannes Heupel, der als Prediger in der Grafschaft Hanau in Hessen amtete und dort bis zu seinem Tod 1624 wirkte.41 Mayer hat sehr wahrscheinlich lediglich „The foundation of christian religion“ übersetzt und der Sammlung vorangestellt.42 Viel—————

38 Zu Wolgang Mayer siehe THOMMEN, Universität Basel, 139f.; A. STAEHELIN, Geschichte der Universität Basel, 1632–1818, Basel 1957, 79 und 248. Eine Darstellung über Leben und Werk Wolgang Mayers liegt nicht vor. 39 E. MCKENZIE, A Catalog of British Devotional and Religious Books in German Translation from the Reformation to 1750, Berlin 1997, 330f. (Nr. 1375). 40 W. PERKINS, Catechismvs Des Hochgelehrten/ Frommen/ vnd Beru[e]mbten Herren/ Gvilielmi Perkinsi, Weiland Dieners der Kirchen Christi in Engelland: Auß Englischer Sprach in die Teutsche gebracht: Jn welchem Anfenglich Sechs veste Gründe vnd Fundament/ der gantzen Religion/ Als ein kurtze Introduction, oder Anleitung zu des darauff volgenden wercks/ nutzlicherem gebrauch/ gelegt sind: Demnoch aber alle vn[d] jede hauptstück des Catechismi, als die zehen Gebott/ das Gebett Christi/ der Apostolisch Glaub/ vnd beede Sacrament des Tauffs/ vnd Herrn Nachtmals/ außfu[e]hrlich erkla[e]ret werden. […] in den Truck verfertiget Durch […], Basel: Jakob Treu 1606; STC 19657, 19700, 19703, 19709. 41 Deutsches Biographisches Archiv. Eine Kumulation aus 254 der wichtigsten biographischen Nachschlagewerke für den deutschen Bereich bis zum Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts, Microfiche-Edition, hg. von B. FABIAN, bearb. unter der Leitung von W. GORZNY, München 1982–1990, 532,69–70; BENZING, Buchdrucker Wilhelm Antonius, 83 (Nr. 44) mit Kommentar. 42 Obwohl Mayer in PERKINS, Catechismvs 1606, fol. ):():( iiijv, in der Vorrede an die Leserschaft die Übersetzung zu den Sakramenten aus englischen Originalen für sich beansprucht, dürfte

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leicht schon 1606, sicher aber 1607 erschien auch bei Wilhelm Anton in Hanau eine Ausgabe, die möglicherweise die gleichen Stücke enthielt.43 Die Anordnung der Hanauer Ausgaben beginnt mit dem Apostolikum, gefolgt von Taufe und Abendmahl sowie den Zehn Geboten und endet mit dem Vaterunser,44 während Mayer in ungewohnter Weise gliedert, die Zehn Gebote vorausschickt, Vaterunser und Apostolikum anfügt sowie Taufe und Abendmahl an den Schluss stellt.45 Bemerkenswert ist, dass Mayer mit dieser Veröffentlichung einen neuen Katechismus neben die offiziellen Basler Katechismen stellte. Dieses Vorgehen begründet er zunächst biblisch: Schon in biblischer Zeit sei es Brauch gewesen, die dem Volk gehaltenen Predigten zusammenzufassen, um einerseits Verstand und Gedächtnis zu helfen und andererseits die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum zu festigen.46 Anschließend behandelt er mehrere mögliche Bezeichnungen solcher Werke und erklärt damit zugleich Gattung und Zweck der Publikation. Eine solche Zusammenfassung der Heiligen Schrift und der wichtigsten Artikel der christlichen Lehre werde nicht unangemessen „Clavis Scripturae“ und „Norma doctrinae“ genannt, Schlüssel zur Schrift und Richtschnur der Lehre, wonach die Prediger ihre Lehren ausrichteten und die Zuhörer ihr Urteil schärften. Als „Regula vitae“ sei sie Quelle, aus der wir in Trübsal und Todesnot getröstet sowie im Glauben zum ewigen Leben erhalten würden, sie sei „Basis“ oder „Fundament“, wovon man nicht weichen dürfe. „Catechismvs“ aber werde allgemein von alten und neuen Lehrern der Kirche der mündliche Unterricht genannt. Katecheten oder Lehrer seien Erzväter und Apostel, Kirchenväter und Hausväter gewesen.47 Den Zweck der vorliegenden Schrift sieht Mayer im Besonderen darin, zum einen die Übereinstimmung der Lehre der englischen mit der eigenen Kirche darzulegen, zum anderen die Irrtümer der ————— sie von Heupel stammen, worauf MCKENZIE, Catalog, 329 (Nr. 1369) und 330f. (Nr. 1375) hinweist. 43 Leider lässt sich bisher kein Exemplar aus dem Jahr 1606 nachweisen, MCKENZIE, Catalog, 331 (Nr. 1376); die Ausgabe von 1607, MCKENZIE, Catalog, 331 (Nr. 1377) sowie BENZING, Buchdrucker Wilhelm Antonius, 84 (Nr. 46), enthält lediglich die Stücke zu Glaubensbekenntnis, Sakramenten, Zehn Geboten und Herrengebet. 44 So das Titelblatt der Ausgabe von 1607, MCKENZIE, Catalog, 331 (Nr. 1377). Der Heidelberger Katechismus (1563) bringt die fünf Hauptstücke in dieser Reihenfolge. 45 Martin Luthers Katechismen beginnen mit den Zehn Geboten und enden mit den zwei Sakramenten, bieten dazwischen aber zuerst das Apostolikum, dem sich das Vaterunser anschließt. Die gleiche Abfolge verwendet auch Johannes Calvin in „Instruction et Confession de foy dont on use en l’Eglise de Genève“ (1537). Diese Reihenfolge nennt auch PERKINS, The Workes, I fol. A 2v. Siehe G.J. BELLINGER, Art. Katechismus. IV. Konfessionskundlich/Ökumenisch, TRE 17 (1988), (738–744) 738f. Der Genfer Katechismus 1542 und 1545 ändert die Reihenfolge: Glaube, Gesetz, Gebet und Sakramente. 46 PERKINS, Catechismvs 1606, fol. ):( ij r–iijr. 47 Ebd., fol. ):( iijr–vjr.

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römischen Kirche aufzuzeigen und schließlich die Erkenntnis der Wahrheit zu vertiefen.48 Mayer widmet die Schrift der Spitze der weltlichen Obrigkeit in Basel.49 Dafür nennt er zwei Gründe: Zum einen sind die Mitglieder der weltlichen Obrigkeit Väter und Schutzherren der reinen christlichen Lehre, die zur Ausbreitung der wahren Religion und des Evangeliums Christi beitragen. Während die Ratsherren mit kluger Gesetzgebung („rahtschlegen“) die sichtbaren Feinde bekämpfen, streiten die Pfarrer mit Studien und Gebeten gegen die unsichtbaren, geistlichen Feinde. Zum anderen bedankt sich Mayer mit der Widmung für die Unterstützung seiner Studien in Cambridge durch den Rat sowie für das Pfarramt zu St. Alban, das ihm der Rat anvertraut hatte.50

4. „Die Summa der gantzen Christlichen Religion“ Die Basler Ausgabe des „Catechismvs“ zeichnet sich dadurch aus, dass die Übersetzung von „The foundation of the christian religion“ der ganzen Schrift vorangestellt ist. In der Vorrede an die christliche Leserschaft lehnt Mayer sich an die Basler Tradition an und unterscheidet „Kleinen“ und „Großen Katechismus“. Dem „Großen Katechismus“, der ausführlich von der gesamten christlichen Religion handle, habe er den „Kleinen Katechismus“ vorangestellt, der in sechs „Fundamenten“51 die christliche Religion zusammenfasse und als Vorbereitung für das Abendmahl sowie als Einleitung zum „Großen Katechismus“ diene.52 Schon in der Widmung erwähnt Mayer diesen pädagogischen Aspekt, dass der kürzere Teil zur längeren, umfassenden Abhandlung hinführe.53 Dieser Hinweis ist schließlich auch auf dem Titelblatt der gesamten Schrift sowie auf der ersten Seite der Übersetzung notiert.54 Die deutsche Übersetzung mit dem Titel „Catechismvs —————

Ebd., fol. ):( vijr–v. Ebd., fol. ):( ijr. 50 Ebd., fol. ):( viijr–):():( ijv. 51 PERKINS, The Workes, I 1–8 benutzt den Begriff „Principles“, in der Vorrede, PERKINS, The Workes, I fol. A 2v, auch „plaine and easie rules“. 52 PERKINS, Catechismvs 1606, fol. ):():( iiij v–vv. 53 Ebd., fol. ):( vijv–viijr. Vgl. BSLK 504,35–39, wo Luther in der Vorrede zum Kleinen Katechismus den Großen Katechismus empfiehlt, um die Hauptstücke der christlichen Lehre zu vertiefen, nachdem der Kleine Katechismus gelehrt sei. 54 PERKINS, Catechismvs 1606, Titelblatt und fol. a j r. PERKINS, The Workes, I fol. A 2 v, hatte in seiner Vorrede an den unkundigen Leser, die Mayer nicht übersetzt, darauf hingewiesen, dass es nicht genüge, die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser lediglich auswendig zu wissen. Vielmehr sei es notwendig, die Bedeutung der Worte zu verstehen und den richtigen Gebrauch davon machen zu können, indem man sich innerlich mit Herz und Gewissen sowie äußerlich mit Leben und Wandel um diese bemühe. Die Schrift diene dazu, die Predigt sowie die 48 49

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Das ist/ Die Summa der gantzen Christlichen Religion/ in sechs Fundament oder Gru[e]nd gefaßt“ ist in zwei Teile gegliedert. Der erste legt die sechs „Fundamente“ jeweils in einer Frage mit der entsprechenden Antwort vor. Zu den einzelnen Inhalten der Antwort folgen Belege aus der Heiligen Schrift im Wortlaut, die von Perkins ursprünglich nur als Verweise an den Rand gesetzt waren.55 Im zweiten Teil werden die „Fundamente“ durch weitere Fragen und Antworten näher ausgelegt.56 Dieser Gliederung entsprechend empfiehlt Perkins der Leserschaft in seiner Vorrede, man solle sich zuerst die sechs Grundsätze samt ihrer Bedeutung einprägen und sich dann ihrer längeren Auslegung zuwenden.57 Der erste Abschnitt handelt von Gott. Neben dem Zeugnis der Heiligen Schrift sind es zwei rationale Gründe, die den Gläubigen der Existenz Gottes vergewissern. Dabei kommt Herz und Gewissen eine besondere Funktion zu. Zum einen meldet das Herz bei der Betrachtung der Schöpfung, dass ein solches Gebäude nicht von der Kreatur, sondern allein von Gott, dem Baumeister und Schöpfer, stammen kann. Zum anderen regt sich das Gewissen, welches Gottes Statthalter auf Erden ist, in jedem Menschen.58 Der zweite Abschnitt wendet sich dem Wesen des Menschen zu, der unter der Sünde dem Tod ausgeliefert ist. Der ganze Mensch, Leib und Seele, ist durchwirkt von der Sünde. Das zeigt sich in vielerlei Weise: Das Gemüt ist blind für das Himmlische, das Gewissen ist befleckt, der Wille ist schlecht, das Herz begehrt das Böse, die Glieder des Leibes sind die Werkzeuge des Gemüts und führen die Sünden aus. Der Mensch unterliegt dem Fluch Gottes, der sich in dreifacher Weise äußert: Im Leben umgibt den Menschen Trübsal, am Ende wartet der Tod und danach die ewige Verdammnis im höllischen Feuer.59 Der dritte Abschnitt handelt von Jesus Christus, der die Mittel der Erlösung wirkt in seinen drei Ämtern als Priester, Prophet und König. Zum einen bringt er das Opfer der Genugtuung dar, nimmt nicht nur den Tod am Kreuz auf sich, sondern erleidet auch Angst und Qual der Hölle und stillt dadurch den Zorn Gottes. Zum andern erfüllt er in seiner Reinheit und Heiligkeit das Gesetz vollkommen und leistet vor dem Vater für die Gläubigen fortwährend Fürbitte.60 ————— herkömmlichen Teile des Katechismus, Zehn Gebote, Glaubensbekenntnis, Vaterunser und Sakramente, besser zu verstehen. 55 PERKINS, Catechismvs 1606, 1–11 (fol. a jr–vjr) mit dem Hinweis auf S. 11. Die Gesamtausgabe, PERKINS, The Workes, I 1a–3a und 3a–8b, bietet das gleiche Vorgehen. 56 PERKINS, Catechismvs 1606, 12–38 (fol. a vjv–c iijr). 57 PERKINS, The Workes, I fol. A 2v. 58 PERKINS, Catechismvs 1606, 12f. (fol. a vj v–vijr). 59 Ebd., 14–17 (fol. a vijv–b jr). 60 Ebd., 18–21 (fol. b jv–iijr).

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Der vierte und zugleich längste Abschnitt erörtert die Zueignung der Erlösung im Glauben, die dem Menschen durch den Heiligen Geist im Herzen vergewissert wird. Ausführlich wird beschrieben, wie der Glaube entsteht und wächst: Zuerst bereitet Gott die Herzen vor mit Zerknirschung und Demütigung, die durch die Erkenntnis der Sünden anhand der Zehn Gebote hervorgerufen werden. Der Mensch fühlt im Gewissen den Zorn Gottes und verzweifelt an der eigenen Seligkeit. Jetzt pflanzt Gott den Glauben, der sich in mehreren inneren Bewegungen des Herzens zeigt. Der Mensch fühlt unter der Last der Sünden, dass er Christus braucht. Ein herzliches Verlangen nach dessen Verdiensten ergreift ihn, im Gebet sucht er Zuflucht bei der Gnade Gottes. Das geringste Maß des Glaubens ist der zerschlagene Geist, der sich nach der Vergebung der Sünden sehnt und Gott darum bittet, aber doch noch nicht die Gewissheit der Vergebung empfindet. Das größte Maß des Glaubens liegt in der vollkommenen Gewissheit der Liebe Gottes und der Vergebung der Sünden. Durch diesen Glauben wird der Mensch gerechtfertigt und geheiligt. Doch darf der Gläubige nicht hinauff in Himmel steigen/ den heimlichen Rathschlag Gottes außzuforschen/ sonder er muß viel mehr in sein eigen Hertz hinab steigen/ zuerforschen/ ob er geheiliget seye oder nicht.61

Der geheiligte Mensch ist vom Verderben seines Wesens gereinigt und mit innerlicher Gerechtigkeit geschmückt. Aus dem Hass der Sünden und der Liebe der Gerechtigkeit entspringt wiederum Buße und Besserung, die sich in einem stetigen Kampf gegen Fleisch, Welt und Teufel äußert. Dem Sieg im Kampf folgen die Erfahrung der Liebe Gottes, die Vermehrung des Friedens und die Freude im Heiligen Geist, der Fall aber bewirkt eine Traurigkeit, aus der dann erneute Buße und Besserung entsteht.62 Der fünfte Abschnitt legt die äußeren Mittel zur Erlangung des Glaubens dar, nämlich Predigt, Sakramente und Gebet. Dass die Heilige Schrift nicht eine menschliche Erfindung, sondern das ganze Wort Gottes ist, wird zum einen durch den Heiligen Geist vergewissert, zum anderen durch die Erfahrung erwiesen, denn die Predigt der Heiligen Schrift trägt die Kraft Gottes in sich, den Menschen zu demütigen oder aufzurichten. Die Predigt pflanzt und mehrt den Glauben der Auserwählten, den Verlorenen aber ist sie Anlass zu größerer Verdammnis. Die Sakramente bestätigen als Zeichen die Barmherzigkeit Gottes und bringen zugleich die Guttaten Christi mit sich, welche die Gläubigen als sakramentale Wirkung in den Herzen fühlen.63 Schließlich handelt der sechste Abschnitt von Tod und Gericht. Der Tod ist ————— 61 62 63

Ebd., 27 (fol. b vjr). Ebd., 22–30 (fol. b iijv–vijv). Ebd., 30–35 (fol. b vijv–c ijr).

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die Trennung von Leib und Seele. Während der Leib begraben wird, wird die Seele der Gottlosen in die Hölle geworfen, die Seele der Gottseligen aber in den Himmel aufgenommen. Zum letzten Gericht werden alle Toten wieder auferstehen, die Bücher, worin alle Taten der Menschen verzeichnet sind, werden aufgeschlagen, und die Gewissen werden erweckt, um entweder die Menschen anzuklagen oder zu entschuldigen. Christus wird dann jeden Menschen nach seinen Werken, die er im Leben getan hat, richten. Die Auserwählten werden die ewige Seligkeit erlangen, und die Gottlosen die ewige Verdammung erleiden.64 Aufschlussreich ist an dieser von Mayer als „Kleiner Katechismus“ intendierten und dem Sammelband vorangestellten Schrift zunächst der Umstand, dass sich diese nicht an den klassischen fünf Stücken eines Katechismus orientiert. Vielmehr ist die Anordnung der sechs Grundsätze auf die Darlegung und Aneignung des Heilsgeschehens in Jesus Christus ausgerichtet. Dem Anfang mit Gott, dem Schöpfer und Erhalter, der heilig, gerecht und barmherzig ist, folgt die Ausführung über den ganz und gar verdorbenen Menschen, der unter der Sünde den Tod erwartet, um danach die Erlösung durch Wesen und Wirken Jesu Christi in den drei Ämtern darzulegen. Der vierte und ausführlichste Abschnitt zeigt dann in einer genauen Beschreibung auf, wie das Heilswerk Christi im Menschen durch Glauben und Buße realisiert wird. Die äußeren Mittel der Aneignung, Predigt, Sakramente und Gebet, werden im anschließenden Abschnitt erklärt. Bis auf den ersten Teil wird in allen fünf folgenden Teilen der Mensch immer wieder als Realisierungsgrund von Heil und Unheil herausgehoben. Herz und Gewissen erhalten eine zentrale Stellung, weil sie die Instanzen der Wahrnehmung und Vergewisserung von Heil, Glaube und Erkenntnis sind, deren Umsetzung im Leben des Gläubigen das besondere Gewicht zukommt. Damit hängt schließlich zusammen, dass im sechsten Abschnitt Tod und Gericht thematisiert werden, denn sie verweisen letztlich den Gläubigen zurück in das Leben, wo durch Glaube und Lebenswandel die Entscheidungen für Tod und Gericht vorweggenommen werden.

5. Fazit Die englische Kirche hatte starke Impulse von den Kirchen in Zürich und Genf erhalten. Allerdings wurde der Calvinismus in unterschiedlicher Weise aufgenommen. Perkins stellte sich ausdrücklich in die calvinistische Tradition, knüpfte an den Werken Calvins an und stellte sich hinter Äußerungen Bezas zur Prädestinationslehre. Doch sollte nicht übersehen werden, ————— 64

Ebd., 35–38 (fol. c ijr–iijv).

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Martin Sallmann

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dass er auch andere reformierte Theologen aufgriff und sich in einer kritischen Auseinandersetzung mit lutherischen Exponenten befand. Perkins setzte bei der Rezeption calvinistischer Theologie eigene Akzente, hielt an der Prädestination zum Heil und zum Unheil fest, widmete aber der Aneignung und Vergewisserung des Heils seine besondere Aufmerksamkeit. Mit den Puritanern strebte er danach, das Leben der Kirche und der Gläubigen gemäß der Lehre konsequent auszugestalten, stellte aber zugleich die bischöfliche Verfassung der Kirche in keiner Weise in Frage. Calvinismus und Puritanismus hatten in der römischen Kirche den gemeinsamen Gegner, waren aber sonst keine fest umrissenen Größen und konnten in unterschiedlicher Kombination zusammenfinden. In Basel kam es nach dem Umschwung der konfessionellen Kräfte zu einer verstärkten Rezeption calvinistischer Theologie. Grynaeus und Polanus griffen auf Calvin und Beza zurück, um Lehre und Leben der Basler Kirche zu festigen. So wiesen sie den Vorwurf, in Basel würden Erwählung und Verwerfung lediglich gelehrt, nicht aber gepredigt, vehement von sich. Den Zweck seiner Verteidigungsschrift sah Polanus auch in der Darlegung von Lehre und Bekenntnis der reformierten Kirchen – ausdrücklich über Basel hinaus. Wie für Perkins war es auch für die Basler Theologen selbstverständlich, andere reformatorische Denker beizuziehen, so dass der Calvinismus auch in Basel eine eigene Ausgestaltung erhielt. In diese Phase der konfessionellen Konsolidierung fiel die Publikation mehrerer Schriften von William Perkins in Basel. Eine dieser Publikationen war ein Sammelband, in dem Mayer unter dem Titel „Catechismvs“ Schriften von Perkins neben die offiziellen Basler Katechismen stellte. Ohne die Zustimmung der maßgebenden Persönlichkeiten aus Rat und Kirche wäre ein solches Unternehmen nicht möglich gewesen, was auch Widmung und Dank des Herausgebers an die weltliche Obrigkeit zeigen. Diese Zusammenfassung der Lehre sollte nicht nur die Gläubigen unterrichten und trösten, sondern auch die Pfarrer in ihrer Predigt ausrichten. Zugleich sollte die Schrift die Übereinstimmung der Basler Kirche mit der Kirche Englands darlegen. Mit der Veröffentlichung kommt auch die Wertschätzung, die Perkins in Basel genoss, deutlich zum Ausdruck. Das Fallbeispiel zeigt, welche unterschiedlichen Wege die calvinistische Tradition nehmen konnte. In Basel griffen Grynaeus und Polanus im Übergang zur reformierten Orthodoxie bewusst auf Calvin und Beza zurück und profilierten damit das konfessionelle Profil der Kirche deutlich in calvinistischer Tradition. In Perkins erkannten sie einen Mann, der ihre Anliegen teilte, so dass sie die Veröffentlichung seiner Schriften selbstverständlich zulassen konnten. Gerade der „Catechismvs“ sollte die Konvergenz der Lehren aufzeigen. Damit wurde in Basel über Cambridge calvinistische Tradition in einer bestimmten puritanischen Akzentuierung zugänglich.

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Calvin, Calvinismus und Puritanismus

Ähnlich wie Polanus unterstrich Perkins den engen Bezug zwischen Lehre und Leben, Dogmatik und Ethik. Dabei spielte für ihn der Bereich des inneren Menschen, Herz und Gewissen, eine wesentliche Rolle, weil sich dort Gott und Mensch begegnen. Hier war der Resonanzboden der Praxis pietatis. Im Innern regten sich Haltungen und Gefühle, die über den Stand des Gläubigen Auskunft geben. Neben der Übereinstimmung in der Ablehnung Roms oder der Stellung von Prädestination und Sakramenten war diese besondere puritanische Akzentuierung des Calvinismus im reformierten Basel offenbar willkommen.

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Rudolf Dellsperger

Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus Ein Versuch anhand des Themas Kirchenzucht

In einem Vortrag zum Calvinjubiläum von 1909 erwähnte Emil Knodt (1852–1924), der damalige Direktor des Herborner Predigerseminars, unter den historischen Wirkungen des Calvinismus einen „reformierten Geist im Pietismus“. Was er mit dieser stichwortartigen Formulierung meinte, sagte er nicht. Er nannte andere „Segensfrüchte“ des Calvinismus wie dessen Verständnis des Christentums nicht nur als Vertrauen, sondern auch als Gehorsam, die Betonung des christlichen Lebens im Kirchenbegriff bzw. in der Kirchenzucht, die Forderung der Gemeindediakonie, die ökumenische Dimension von Kirche oder die Bedeutung des Calvinismus für das öffentliche, wirtschaftliche und wissenschaftliche Leben.1 Neben diesen konkreten Hinweisen wirkt „reformierter Geist im Pietismus“ merkwürdig formal. Zur Zeit von Knodts Vortrag waren rund sechs Jahrzehnte vergangen, seit Max Goebel im zweiten Band seiner „Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westfälischen Kirche“ den Pietismus in den Niederlanden und am Niederrhein behandelt hatte.2 Drei Jahrzehnte waren es her, seit Heinrich Heppes „Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformirten Kirche, namentlich der Niederlande“ erschienen war3 und seit Albrecht Ritschl den ersten, der Geschichte des Pietismus in der reformierten Kirche gewidmeten Band seiner Gesamtdarstellung vorgelegt hatte.4 Verstand sich, was Knodt „reformierten Geist im Pietismus“ nannte, damals noch von selbst? Heute wird man dies kaum mehr behaupten können, obwohl mittlerweile, von zahlreichen Überblicksdarstellungen abgesehen, das vierbändige Handbuch „Geschichte des Pietismus“ erschienen ist. Konsultiert man die —————

1 E. KNODT, Die Bedeutung Calvins und des Calvinismus für die protestantische Welt im Lichte der neueren und neuesten Forschung, VTKG 30. Folge, Gießen 1910, 47f. 2 M. GOEBEL, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche. Zweiter Band: Das siebenzehnte Jahrhundert oder die herrschende Kirche und die Sekten. Erste Abtheilung: Die reformirte Kirche, Coblenz 1852 (Nachdruck Gießen / Basel 1992. Es fehlen die Seiten 69–101, wogegen die Seiten 53–68 zweimal eingebunden wurden.). 3 H. HEPPE, Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformirten Kirche, namentlich der Niederlande, Leiden 1879. 4 A. RITSCHL, Geschichte des Pietismus. Erster Band: Der Pietismus in der reformirten Kirche, Bonn 1880.

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

Register zu den beiden ersten Bänden, so sind die Nennungen von Calvin, von Calvinismus und ganz generell von Begriffen und Namen aus der reformierten Welt wesentlich seltener als diejenigen von Luther und Arndt, von Spener, Francke und Zinzendorf.5 Das hängt mit der hinsichtlich Wirkung und Verbreitung größeren Bedeutung zusammen, die dem lutherischen Pietismus im Vergleich zum reformierten zukommt, hat aber vermutlich noch andere, tiefer liegende Gründe. Davon wird bald die Rede sein. Vielleicht ist aber das festgestellte Ungleichgewicht auch Ausdruck der Forschungslage. Martin Luthers Bedeutung für den lutherischen Pietismus liegt jedenfalls offener zutage als diejenige Johannes Calvins für den reformierten Pietismus. Das Oberthema des vorliegenden Versuchs wurde mir aufgetragen. Vorarbeiten dazu sind selten. Die Aufgabe setzt spezifische Quellenkenntnisse voraus, wobei die Quellen, wenn sie überhaupt gedruckt vorliegen, oft nur in alten Drucken schwer zugänglich sind. Oft blieb nichts anderes übrig als aus zweiter Hand zu schöpfen. Das Folgende ist nicht mehr als ein Versuch, welcher der Vervollständigung, Korrektur und Vertiefung bedarf. Wenn die Frage nach Calvins Bedeutung für den reformierten Pietismus exemplarisch anhand des Themas Kirchenzucht behandelt wird, so geschieht es im Wissen darum, dass Kirchendisziplin für Calvin nicht eine Randerscheinung, sondern ein Merkmal der nach Gottes Wort reformierten Kirche war. Es soll gefragt werden, wie es der Pietismus reformierter Prägung damit gehalten hat.6 Wir werden wie folgt vorgehen: Zunächst ist eine für die Frage nach dem Verhältnis von Calvinismus und reformiertem Pietismus grundlegende These mit ihren Varianten vorzustellen (I). Dann soll das Thema Kirchenzucht bei Calvin und im reformierten Pietismus anhand des konkreten Beispiels Bern exponiert und nach den Wegen gefragt werden, über die Calvins Einfluss in diesem Fall hat wirksam werden können. Es wird sich ergeben, dass dies wahrscheinlich nicht direkt, sondern auf Umwegen geschehen ist (II). Anschließend soll in der eingeschlagenen Richtung weitergegangen und die Fragestellung anhand von Theodor Undereyck (III), Theodor Ger—————

5 Geschichte des Pietismus. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. von M. BRECHT / K. DEPPERMANN / U. GÄBLER / H. LEHMANN, Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit Johannes van den Berg u.a. hg. von M. BRECHT, Göttingen 1993 (zit.: GdP 1), Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. In Zusammenarbeit mit Friedhelm Ackva u.a. hg. von M. BRECHT / K. DEPPERMANN, Göttingen 1995 (zit.: GdP 2). 6 Das Phänomen Kirchenzucht wird also nicht in sozialgeschichtlicher, sondern in traditionsgeschichtlicher Sicht thematisiert: Gefragt wird nicht nach seiner Bedeutung für die Entstehung der neuzeitlichen Zivilisation, sondern danach, welche Bedeutung Calvin für die Kirchenzucht im reformierten Pietismus zukommt.

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hard à Brakel (IV), und Gerhard Tersteegen (V) exemplarisch erörtert werden, bevor zum Schluss ein Fazit gezogen wird (VI). Die obere zeitliche Grenze ist die Mitte des 18. Jahrhunderts. So interessante Fragen wie diejenige nach Calvins Bedeutung für den Réveil, insbesondere denjenigen in der Stadt Genf,7 nach seiner Bedeutung für Hermann Friedrich Kohlbrügge8 oder Adolf Schlatter,9 aber auch die auf den ersten Blick deplatzierte Frage nach den Motiven, die Friedrich August Gottreu Tholuck zu einer imposanten Calvinausgabe bewogen haben, bleiben hier unberücksichtigt.10

I. 1908, ein Jahr vor Knodts Calvin-Vortrag, war in der „Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche“ der Artikel „Undereyck, Theodor“ von Wilhelm Goeters erschienen. Goeters stellte darin fest, anders als das Luthertum sei „der Calvinismus dem Pietismus wesensverwandt“. Was die deutschen reformierten Kirchen als Pietismus erreicht habe, gleiche „nur eine[r] Welle, die von den Niederlanden und England herüber[ge]flutet“ sei.11 Goeters stand und blieb mit seiner Beobachtung von Wesensverwandtschaft und geistiger Nähe zwischen Calvinismus und Pietismus nicht allein. Auf die weit ins 16. Jahrhundert zurückgehende enge Verbundenheit zwischen den reformierten Kirchen der Niederlande und denjenigen am —————

7 U. GÄBLER, Evangelikalismus und Réveil, in: DERS. u.a. (Hg.), Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, GdP 3, Göttingen 2000, (27–84) 39–56. 8 Vgl. dazu K. BARTH, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 31946, 579–587, vor allem 585f., aber auch E. MOLTMANN-WENDEL, Theologie und Kirche bei Hermann Friedrich Kohlbrügge, BEvTh 25, München 1957, 53f. 9 Schlatter schrieb zum Reformationsjubiläum 1917 unter dem Titel „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt wurde. Ein Gespräch mit Calvin. Abhandlung zur Auslegung der Bergpredigt“ eine unveröffentlicht gebliebene Studie. Sie befindet sich unter der Nr. 216 im Adolf-SchlatterArchiv im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart. W. NEUER, Adolf Schlatter. Ein Leben für Theologie und Kirche, Stuttgart 1996, 547. 10 Tholuck veröffentlichte Calvins Institutio und seinen Psalmenkommentar (je 2 Bde.) sowie in 7 Bänden seine neutestamentlichen Kommentare. Vgl. dazu F.A.G. THOLUCK, LACTW 1831, Nrn. 41–43. 11 W. GOETERS, Art. „Undereyck, Theodor“, RE3 20 (1908), (228–233) 233, Z. 14–16. Das Bild der Welle ist nicht eindeutig: Es gibt mächtige, umwälzende Wellen und andere, die sanft ans Ufer spülen. Aber Begriff und Sache der Wesensverwandtschaft lassen nur den Schluss zu, Goeters habe an letztere gedacht. Er hat dafür drei Jahre später selber die Bestätigung geliefert: W. GOETERS, Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1670, Leipzig 1911 (Nachdruck Amsterdam 1974).

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

Niederrhein und deren gegenseitige Durchlässigkeit hatte bereits Heppe hingewiesen. Es sei begreiflich, schrieb er, dass die pietistische Erregung, nachdem sie im Niederland Boden gewonnen und sich daselbst ausgestaltet hatte, sofort auch in den reformirten Gemeinden des Rheinlands Eingang fand.12

James I. Good hat 1894 den Pietismus als dem reformierten Glauben „intrinsic“ bezeichnet, und Ernest F. Stoeffler hat ihm 1973 zugestimmt: Es treffe zu, that by the very nature of his historical emphasis upon the Christian life the Reformed Tradition was historically more amenable to pietistic emphases than the Lutheran Tradition.13

Ein weiterer Vertreter der These von der „Wesensverwandtschaft“ von Calvinismus und Pietismus war der Lausanner Kirchenhistoriker Henri Vuilleumier. Er schrieb 1930, Speners Desiderate eines intensiveren Schriftgebrauchs, einer vertieften Frömmigkeitspraxis und einer Reform des Theologiestudiums seien den Reformierten dank ihres Brauchs der lectio continua, ihrer Betonung der Notwendigkeit der Heiligung und der Praxisnähe ihrer Hohen Schulen besser vertraut gewesen als den Vertretern der lutherischen Tradition.14 Ähnlich wie Heppe und Goeters spricht Heiner Faulenbach von einem „fließenden Übergang“ zwischen reformerischen Frömmigkeitsbewegungen im niederländischen Protestantismus und dem aufbrechenden reformierten Pietismus in Deutschland. Er sieht in ihm das Resultat „einer inneren Umwandlung der Orthodoxie durch die auf konkrete Frömmigkeit abzielende voetianische wie coccejanische Theologie“.15 ————— 12

HEPPE, Geschichte, 465f. Ich verdanke den Hinweis auf Good F.E. STOEFFLER, German Pietism During the Eighteenth Century, SHR (Supplements to NVMEN) 24, Leiden 1973, 218. Leider ignoriert Stoeffler in den beiden Bänden seiner sonst magistralen Darstellung die Schweiz als Ursprungsland der reformierten Tradition und deren Pietismus. Wenn Ritschl den Pietismus (!) in der Schweiz erst seit Lavater berücksichtigt hatte, so war das angesichts der damaligen Forschungslage verständlich. Seither waren aber die beiden Werke von W. HADORN, Geschichte des Pietismus in den Schweizerischen Reformierten Kirchen, Konstanz und Emmishofen 1901, und P. WERNLE, Der schweizerische Protestantismus im XVIII. Jahrhundert, Erster Band: Das reformierte Staatskirchentum und seine Ausläufer (Pietismus und vernünftige Orthodoxie), Tübingen 1923, erschienen. Vgl. F.E. STOEFFLER, The Rise of Evangelical Pietism, SHR (Supplements to NVMEN) 9, Leiden 1971, 109. 14 H. VUILLEUMIER, Histoire de l’Église Réformée du Pays de Vaud sous le régime bernois, III: Le refuge, le piétisme, l’orthodoxie libérale, Lausanne 1930, 184f. 15 H. FAULENBACH, Die Anfänge des Pietismus bei den Reformierten in Deutschland, PuN 4, 1977/1978, (190–234) 233. 13

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Vor einigen Jahren hat Johannes Wallmann Goetersʼ These wieder aufgegriffen und präzisiert, worin seiner Meinung nach die besagte Wesensverwandtschaft besteht. Dass in den Anfängen des reformierten Pietismus eine zentrale Gestalt wie Johann Arndt im Luthertum fehle, sei nicht verwunderlich und erkläre sich aus der stärkeren Disposition des Calvinismus auf pietistische Frömmigkeit. Für die Parole einer Akzentverschiebung von der Lehre auf das Leben fehlte in der reformierten Theologie mit ihrer Betonung des tertius usus legis die Notwendigkeit.16

Goeters und Heppe, Good und Vuilleumier, Stoeffler, Faulenbach und Wallmann sprechen nicht von der Bedeutung Calvins, sondern von der grundsätzlichen Affinität des Calvinismus für den reformierten Pietismus.17 Sie sprechen von der durch den englischen Puritanismus und den niederländischen Präzisismus vermittelten Bedeutung Calvins für den reformierten Pietismus. Vielleicht ist, so paradox es klingen mag, diese Affinität ein, wenn nicht gar der tieferliegende Grund dafür, dass Calvins Bedeutung für den reformierten Pietismus noch ungenügend thematisiert worden ist? Nimmt man an, dass spätere wirkungsgeschichtliche Stadien in Kontinuität zu ihrem Ursprung stehen, dann könnte die Beobachtung der genannten Autoren auch für die direkte Beziehung zwischen dem Reformator und dem reformierten Pietismus gelten. Trifft das zu? Um in dieser Frage einen Schritt weiter zu kommen, soll nun mit dem Thema Kirchenzucht ein, wenn nicht der für die Kongruenz von Lehre und Leben bei Calvin und im reformierten Pietismus zentrale Punkt anvisiert werden. Wir beginnen mit dem Beispiel Bern, weil es sich als Ausgangspunkt und Rahmen für die weiteren Überlegungen eignet.

II. Zwischen den beiden Nachbarkirchen der strategisch zentral gelegenen Stadt Genf und des mächtigen Stadtstaates Bern bestanden in der Reformationszeit erhebliche Spannungen. Calvin hat sich noch auf dem Sterbebett bitter über den „Verrat“ beklagt, den die Berner Kirche an der Genfer Kirche begangen habe. Umgekehrt hat er die Geduld der Berner Politiker und Theologen oft arg strapaziert. Die jeweiligen Kirchenkonzepte waren ver————— 16

J. WALLMANN, Der Pietismus, Göttingen 2005, 49. Mit dieser Feststellung solcher Affinität soll keineswegs die unhaltbare und unfruchtbare Gegenüberstellung von „toter Orthodoxie“ und pietistischer Reformbewegung im Luthertum wiederbelebt werden. Vgl. dazu M. BRECHT, Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland, GdP 1, 166–187. 17

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

schieden: Der in ihrem Wesen ökumenischen, freien Kirche Calvins stand Berns Staatskirchentum mit seiner Einheit von Christengemeinde und Bürgergemeinde gegenüber. Konflikte waren unausweichlich. Sie wurden in Lehr- und Zeremonialfragen sowie auf den Gebieten der Kirchenleitung und der Kirchendisziplin ausgetragen. Die Kirche Christi lebt nach Calvin von Gottes Selbstmitteilung in Wort und Sakrament. Der Gottesdienst geschieht zur höheren Ehre Gottes und zum Wohl der Menschen. Dazu gehören der Psalmengesang, das Gotteslob, und die Reinheit von Lehre und Leben. Die Integrität der Kirche als des Leibes Christi erfordert aber auch eine Disziplin, die als ultima ratio den Bann, den Ausschluss vom Abendmahl, einschließt.18 Zwischen Genf und Bern umstritten war zum einen der Bann als solcher und zum andern die Frage, wer die Disziplin handhaben solle. Im Unterschied zu Calvin wollte Bern und wollten Calvins Gegner in Genf vom Bann absehen. Nicht dass Bern in seiner Kirche nicht hätte zum Rechten sehen wollen. Aber die Obrigkeit wollte dabei die Hand mit im Spiel haben und sich mit der Sozialdisziplinierung durch das Chorgericht begnügen. Das Chorgericht aber war vom Staat bestellt,19 der so, das war Calvins Optik, sich in die kirchlichen Angelegenheiten einmischte. Und das Genfer Konsistorium, das den Bann handhabte, war von der Kirche bestellt, die so, das war Berns Optik, in die bürgerliche Existenz eingriff.20 Dieser Konflikt war unvergessen, als in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts in der Berner Kirche pietistische Pfarrer die Kirchendisziplin wiederzubeleben begannen. Nach allem, was wir wissen, taten sie es in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Chorgericht, dessen Hauptaufgabe darin bestand, „die Gemeinde für die Feier des Abendmahls würdig zu ma—————

18 Zur Kirchenzucht bei Calvin und in der Reformationszeit vgl. den luziden Beitrag von H.-J. GOERTZ, Art. Kirchenzucht, 3. Reformationszeit, TRE 19 (1990), 176–183. GOERTZ, in: ebd., 178, fasst die dreifache Begründung der Kirchenzucht bei Calvin nach dessen Institutio Christianae Religionis von 1559, IV,12,5 konzis wie folgt zusammen: „1. muss der Leib Christi vor Schändung bewahrt, auch das Abendmahl darf nicht durch Unwürdige entweiht werden, 2. dürfen die Guten nicht durch Umgang mit den Bösen verdorben und 3. sollen die Sünder zu Reue und Umkehr bewegt werden.“ 19 H.R. SCHMIDT, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit, Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 41, Stuttgart 1995, 44, formuliert unter Berufung auf Richard Feller präzis: „Das Chorgericht zeigte ein doppeltes Gesicht, einmal war es ‚nicht Organ der Gemeinde, sondern des Staates‘, zum anderen war es in dieser Eigenschaft mit erheblichen Kompetenzen ausgestattet, die es in der konkreten Arbeit selbständig handhabte.“ 20 Dieser Abschnitt stammt aus meinem Vortrag „Jean Calvin und die Schweizer. Mit einem Seitenblick auf seine Bedeutung für die Herrnhuter in der Schweiz“, in: Beiträge pädagogischer Arbeit, hg. von der Gemeinschaft evangelischer Erzieher in Baden 53 (2010), Heft 2, 22–34. Vgl. auch K. GUGGISBERG, Calvin und Bern, in: M. HAAS / R. HAUSWIRTH (Hg.), Festgabe für Leonhard von Muralt zum siebzigsten Geburtstag, Zürich 1970, (266–285) 282.

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chen.“21 Wilhelm Hadorn formuliert präzis, wenn er schreibt, sie hätten „wieder etwas Kirchenzucht zu handhaben“ versucht,22 denn um mehr als einen Ansatz dazu handelte es sich nicht. Worum ging es? Samuel Güldin, der von 1692 bis 1696 in der Gemeinde Stettlen bei Bern wirkte und zu den Mitbegründern und Multiplikatoren der pietistischen Reformbewegung gehörte, ging, um den „Seelen-Zustand“ seiner Gemeindeglieder zu „sondieren“, von Haus zu Haus. Vor Abendmahlssonntagen besuchte er jeweils die ganze Gemeinde, um hier vom Besuch abzuraten, dort aber dazu zu ermuntern. Er wollte verhindern, dass mit dem Abendmahl, indem man seinen Besuch als Bürgerpflicht betrachtete, Missbrauch getrieben wurde, und er wollte damit die religiöse Bedeutung des Sakraments neu betonen.23 So erinnerte er auch die Chorrichter an ihre Aufgabe, Sünder „nit eher als nach vorhergethaner buß, rew und leid über ihre sünde zum heiligen nachtmal zugehen zuvermahnen, vnd so sie etwan streitige persohnen weren, sie zuvor wider zuversöhnen.“ Einen mit seinem Bruder und dessen Frau zerstrittenen Chorrichter bat er, „sie wollten eher daß heilige nachtmal nit besuchen als vnversühnt hinzutreten, nach der regul vnsers herrn […]“24 Von Christoph Lutz, Güldins Nachfolger in Stettlen, weiß —————

21 SCHMIDT, Dorf, 13. Vgl. H. SCHILLING, Reformierte Kirchenzucht als Sozialdisziplinierung? Die Tätigkeit des Emder Presbyteriums in den Jahren 1557–1562, in: DERS. / W. EHBRECHT (Hg.), Niederlande und Nordwestdeutschland. Studien zur Regional- und Stadtgeschichte Nordwestkontinentaleuropas im Mittelalter und in der Neuzeit, Köln / Wien 1983, (261–327) 273. DERS., Sündenzucht als frühneuzeitliche Sozialdisziplinierung. Die calvinistische presbyteriale Kirchenzucht in Emden vom 16. bis 19. Jahrhundert, in: G. SCHMIDT (Hg.), Stände und Gesellschaft im Alten Reich, VIEG. Beiheft 29, Wiesbaden 1989, (265–302) 269. 22 HADORN, Geschichte, 51. 23 R. DELLSPERGER, Die Anfänge des Pietismus in Bern. Quellenstudien, AGP 22, Göttingen 1984, 58f. Die Quelle ist der Brief Samuel Schumachers an August Hermann Francke vom 22. März 1695, in: ebd., 177–202, hier 196: „Er besuchet seine Zuhörer von Haus zu Haus, sondirt ihren Seelen Zustand. […] Vor den Heil. Zeiten da man communiciren will, gehet er zuvor durch die gantze Gemeinde und redet mit seinen Zuhörern, wie sie sich befinden, und rahtet den einen und andern, sie sollen nicht kommen, wenn er siehet ihren gefährlichen Standt, andere aber frischet er an, dass sie kommen sollen, welches eine tieffe impression in den Hertzen der Zuhörer machen kann, es ist aber eine zimlich unwehrte Arbeit.“ – Zu Güldin vgl. R. DELLSPERGER, Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit. Samuel Güldins Einspruch gegen Zinzendorfs Unionstätigkeit in Pennsylvania, in: DERS., Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte der reformierten Schweiz: Ereignisse, Gestalten, Wirkungen, BSHST 71, Bern u.a. 2001, 182–205. Güldin wurde 1699 des Amtes enthoben und 1702 des Landes verwiesen. Er wanderte nach Aufenthalten in Hamburg und Magdeburg 1710 nach Pennsylvania aus. Er gilt als der erste reformierte Pfarrer deutscher Sprache in der Geschichte dieses Landes. Soeben ist in Jahrgang 33 der Zeitschrift „Pennsylvania Mennonite Heritage“ als Nummer 2 vom April 2010 unter dem Titel „Samuel Güldin and the Mennonite Voyage of 1710“ ein ausschließlich Güldin gewidmetes Heft mit Beiträgen von Andreas Mielke und Sandra Yelton, mit sorgfältig edierten und kommentierten Quellentexten und einer umfangreichen Bibliographie erschienen. 24 Kirchgemeindearchiv Stettlen, Chorgerichtsmanual 7. April 1693, zit. nach SCHMIDT, Dorf, 311.

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

Hadorn zu berichten, er habe die „Chorrichter […] als die Ältesten dazu angehalten, dass sie die Leute vor der Abendmahlsfeier besuchten, und durch Ermahnungen zu einem würdigen Abendmahlsgenuss vorbereiteten.“25 Ähnlich wie Güldin und Lutz werden andere Kollegen gedacht und gehandelt haben.26 Von zwei weiteren pietistischen Pfarrern, Samuel Dick in Spiez und Nikolaus Bachmann in Koppigen, ist jedenfalls bekannt, dass sie, doch wohl mit derselben Zielsetzung, Hausbesuche machten.27 Heinrich Richard Schmidt urteilt in seiner grundlegenden Untersuchung zur reformierten Sittenzucht, der bernische Pietismus habe „die Idee des Bannes revitalisiert“.28 Er hat für die allerdings relativ kurze Dauer von Güldins und Lutzʼ Wirksamkeit in Stettlen eine auffallend geringe Zahl von Anklagen vor Chorgericht festgestellt und daraus vorsichtig den Schluss gezogen, den beiden Pietisten „könnte der Versuch geglückt sein, einen Übergang vom Fremd- zum Selbstzwang zu erreichen“: Sie motivierten die Gemeinde und bedienten sich dabei nicht des Chorgerichts oder brauchten sich dessen nicht zu bedienen. Von einer laschen Amtsführung kann man nach allem, was man weiß, bei ihnen nicht sprechen. Auch das Chorgericht scheinen sie nicht vernachlässigt zu haben. Vielleicht haben sie es aber seltener eingesetzt und ihre Gemeindeangehörigen erst „informell“ zu beeinflussen versucht, wie es aus manchen Einträgen herausklingt.29

Hadorn meint nun, das „Vorbild für die Reformversuche“ sei „die calvinische Kirche von Genf“ gewesen.30 Ohne Bezug zu diesem konkreten Fall, aber grundsätzlich dieser Ansicht war auch Henri Vuilleumier, wenn er schrieb, die radikalen Pietisten hätten sich hinsichtlich ihres Rigorismus an Calvin orientiert.31 Ich habe mich Hadorns Meinung im Blick auf Güldin angeschlossen, wobei ich mich von Güldins Feststellung leiten ließ, er und ————— 25

HADORN, Geschichte, 54. Dies müsste anhand der Akten des Berner Pietistenprozesses von 1699 näher untersucht werden. WERNLE, Protestantismus, Bd. 1, 123 formuliert mit Bezug auf pietistische Pfarrer vage: „Um […] den Unterschied des Christen vom Weltmenschen auch äußerlich zu markieren, traten einzelne von ihnen für eine Verschärfung der Kirchenzucht, für Fernhaltung grober unbußfertiger Sünder vom Abendmahl ein.“ 27 Schumacher an Francke, 22. März 1695, zit. nach DELLSPERGER, Anfänge, 197. 28 SCHMIDT, Dorf, 311. 29 Ebd., 154. Nach SCHILLING, Sündenzucht, 273, hat sich in Emden, gemessen an der Zahl traktandierter Fälle, neben dem Gründungskirchenrat das pietistische Presbyterium am intensivsten der Kirchenzucht angenommen. 30 HADORN, Geschichte, 53. 31 VUILLEUMIER, Histoire, III, 189: „[…] ils n’étaient que de trop fidèles disciples de Calvin qui, n’éprouvant pas pour son propre compte le besoin de semblables délassements [sc. de la vie naturelle et sociale] et y voyant un danger pour la vie chrétienne, les avait fait interdire par des lois disciplinaires sous peine non seulement de répréhension, mais d’amende, de prison, de suspension de la sainte cène, sans compter l’excommunication.“ 26

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seine Freunde hätten ihre Wende „zu Genf, in sede Calvini“ erlebt.32 War dies neben ihrem Pochen auf reformatorische Orthodoxie nicht ein Hinweis auf Calvins grundlegende Bedeutung für die vier Berner Pietisten? Das ist möglich, muss aber nicht so sein. Nach Paul Wernle war nämlich das Modell von Kirchenzucht, das der Genfer Reformator dem Rat abgerungen hatte, nach Calvins Tod der „Übermacht der staatskirchlichen Idee“ erlegen und zur „Harmlosigkeit“ herabgesunken.33 Das mag als krass formuliert erscheinen. Johann Valentin Andreae beispielsweise hat anlässlich seines Genfer Besuches von 1611 die disciplina Genevensis „über die maßen gefallen“. Er hat in Matthieu Scarron einen Pfarrer kennengelernt, „der eine schöne Haußkirche und disciplin […] gehabt.“ 34 Aber es bleibt offen, ob er neben diesem leuchtenden Beispiel die Genfer Kirchenordnung auf dem Papier oder auch deren Anwendung meint. Dass Jean de Labadie, der Begründer des separatistischen Zweiges im reformierten Pietismus, ein halbes Jahrhundert später während seiner Genfer Zeit (1659–1666) die kirchliche Disziplin wiederbeleben musste, ist ein Hinweis darauf, dass es mit ihr nicht zum Besten bestellt war.35 Aber das war nun auch schon eine Weile her und blieb aufs Ganze gesehen Episode. Die Genfer Kirche vom Ende des 17. Jahrhunderts dürfte als Vorbild für eine Erneuerung der Kirchenzucht ausscheiden. Wer solche Pläne hegte, musste sich entweder direkt am Reformator orientieren, oder ihn erreichten auf andern Wegen entsprechende Impulse, die auf Calvin zurückgingen. Samuel Güldin und Christoph Lutz hatten mit ihren Gesinnungsgenossen Samuel Schumacher und Samuel Dick zwischen 1689 und 1691 eine akademische Studienreise unternommen, die sie durch die Westschweiz, Deutschland, die Niederlande und England führte. Diese verlief für damalige Berner Theologen in üblichen Bahnen. Manche Reiseziele waren aber ————— 32

DELLSPERGER, Anfänge, 59. WERNLE, Protestantismus, I, 79. 34 M. BRECHT, J.V. Andreae und Herzog August zu Braunschweig-Lüneburg. Ihr Briefwechsel und ihr Umfeld, Clavis Pansophiae 8, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, 70–72, hier 70. 35 Nach GOEBEL, Geschichte, 2, 200 begann Labadie „sein Amt sogleich mit einer Bußpredigt und drang unter dem größten Zulaufe fortwährend auf Reformation des Lebens, wodurch alsbald eine heilsame Bewegung der Besserung entstand. Die Kirchen wurden wieder voll und die Wirtshäuser leer oder geschlossen, der Sonntag wieder zum Ruhetag, das Saufen und Spielen nahm dagegen ab, Spielgewinnste wurden freiwillig zurückgegeben, der Handel ward ehrlicher, Recht und Gerechtigkeit strenger gehandhabt.“ So auch HEPPE, Geschichte, 284f. RITSCHL, Geschichte, 1, 204, berichtet hingegen nach Labadies Freund und Biographen Pierre Yvon, „dass die Erfolge, welche Labadie erkämpfte, ihn über die Wirkungslosigkeit seiner eigentlichsten Bestrebungen nicht täuschten. Er hat sehr oft darüber geseufzt, wie wenige Seelen sich der Ausübung der evangelischen Wahrheiten gänzlich ergaben durch einen innerlichen und wirksamen Verkehr mit Gott und durch eine wirkliche Erneuerung ihres Lebenswandels. Für sein mystisch-asketisches Lebensideal fand er also in der volkreichen Muttergemeinde des Calvinismus keinen Raum.“ Vgl. auch W. GOETERS, Vorbereitung, 148–150. 33

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

insofern ausgesucht, als sie dem Kontakt mit Pietisten dienten. Leider ist über die Begegnungen in den Niederlanden und in England kaum etwas bekannt. Sicher ist, dass die Vier einzeln oder gemeinsam Johann Jakob Schütz in Frankfurt, Johann Heinrich Horb in Hamburg, die labadistische Gemeinschaft in Wieuverd, Theodor Undereyck in Bremen, den Kreis um Philipp Jakob Spener in Berlin und die Stadt Leipzig besuchten, wo es nach wie vor Sympathisanten von August Hermann Francke gab.36 Auch über diese Begegnungen weiß man meist nicht mehr, als dass sie stattgefunden haben. Das ist im Fall von Theodor Undereyck nicht anders. Mit ihm reduziert sich die Verbindung zum Berner Pietistenquartett zudem auf Samuel Schumacher, der den Winter 1690/91 in der Hansestadt zubrachte und dort eine schwere religiöse Krise erlebte.37 Mit Undereyck ist aber der Versuch einer Wiederbelebung der Kirchenzucht verknüpft. Wir verlassen, indem wir uns auf ihn konzentrieren, vorerst den Berner Rahmen.

III. Theodor Undereyck, von 1670 bis zu seinem Tod an Neujahr 1693 Pastor primarius an St. Martini in Bremen, stammte aus einer niederländischen Exulantenfamilie.38 Er war 1635 in Duisburg zur Welt gekommen und hatte in Utrecht, Duisburg und Leiden Theologie studiert. Von seinen akademischen Lehrern haben ihn vor allem Gisbert Voetius, die Leitfigur der „Nadere Reformatie“, und der Föderaltheologe Johannes Coccejus beeindruckt, in Utrecht zudem als Prediger Jodocus van Lodenstein und Justus van den Bogaert. Seine akademische Reise führte ihn in die Schweiz und nach Frankreich und England. Eine Begegnung mit Jean de Labadie in Genf hat ————— 36

DELLSPERGER, Anfänge, 43f. Zu Schumachers Bremer Aufenthalt und seinem Brief an einen Freund in Bremen vom 3. April 1693, der von Johann Henrich Reitz im dritten Teil seiner „Historie der Wiedergebohrnen“ veröffentlicht worden ist, vgl. J.H. REITZ, Historie Der Wiedergebohrnen. Vollständige Ausgabe der Erstdrucke aller sieben Teile der pietistischen Sammelbiographie (1698–1745), hg. von H.-J. SCHRADER. Erster Band, Teile I–III (1698–1701), Tübingen 1982 (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock, Bd. 29/1, Teil III [Offenbach] 1701, 215–236); DELLSPERGER, Anfänge, 44–52. HansJürgen Schrader befasst sich in seinem demnächst erscheinenden Beitrag zum III. Internationalen Pietismuskongress 2009 in Halle unter dem Titel „Erfahrung der äusseren Anfechtung. Die Sünde wider den Heiligen Geist (Mt 12,31) in literarischen Reflexen“ eingehend mit Schumachers religiöser Krise. Vor Bremen besuchte Schumacher die labadistische Gemeinde in Wieuverd. Ebd., 183. Von ihr und ihrem Gründer las er in Bremen Bücher. Ebd., 45. 38 Zum Folgenden vgl. GOEBEL, Geschichte, 2, 300–312; HEPPE, Geschichte, 469–478; RITSCHL, Geschichte, 1, 371–376; W. GOETERS, Undereyck; J.F.G. GOETERS, Der reformierte Pietismus in Deutschland, GdP 1, (241–277) 244–249, 253–256; R. MOHR, Art. Undereyck, Theodor, TRE 34 (2002), 268–272; WALLMANN, Pietismus, 50–55. 37

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er stets bestritten.39 1660 wurde Undereyck Pfarrer in Mühlheim an der Ruhr. Mit aufrüttelnden Predigten, einer Reform des kirchlichen Unterrichts, ernster, mit nachgehender Seelsorge gepaarter Kirchenzucht und durch Erbauungsversammlungen neben dem Gottesdienst wirkte er in seiner Gemeinde auf ein lebendiges Christentum hin. Von 1668 bis zu seiner Berufung nach Bremen war Undereyck Prediger am Hof der Landgräfin Hedwig Sophie in Kassel. 1679 legte er zusammen mit seinem Gesinnungsgenossen Cornelius de Hase dem Bremer Bürgermeister ein Memorial vor. Sie forderten darin größere kirchliche Freiheit gegenüber dem städtischen Kirchenregiment, die Einrichtung eines Presbyteriums zur Durchführung der Kirchenzucht und den Ausschluss Ungläubiger vom Abendmahl und von der Taufe ihrer Kinder.40 Die Denkschrift fand bei den städtischen Behörden kein Gehör. Sie ist aber ein Hinweis darauf, wie ernst es Undereyck mit dem Gedanken und der Praxis der Kirchenzucht meinte. Inwiefern ließ er sich dabei von Calvin anregen? Welche Rolle spielte Calvin in seinem Denken? Die Frage ist für unser Thema insofern relevant, als die Anfänge des Pietismus unter den Reformierten Deutschlands mit Undereycks Namen verbunden sind. 1670, in seiner Kasseler Zeit, veröffentlichte Undereyck sein Hauptwerk „Christi Braut unter den Töchtern zu Laodicæa“.41 Adressatin ist die Gemeinde von Laodicea, die entsprechend dem coccejanischen Geschichtsschema die Kirche „in diesen letzten Tagen“ darstellt. Das Thema des Traktats ist die Kraft des rettenden Glaubens in Wiedergeburt und Heiligung. In drei Teilen werden in 27 Thesen die Kennzeichen, die Hindernisse und die Mittel zur Förderung des wahren Glaubens behandelt. Johann Friedrich ————— 39

HEPPE, Geschichte, 473. HEPPE, Geschichte, 476. W. GOETERS, Undereyck, 230, Z. 30–41: Memorial der beyden Prediger Theodor Undereyck und Cornelius de Hase an den präsidierenden Bürgermeister Dr. Harmes, praesentatum Ven. Ministerio 1679, d. 27. Juni. WALLMANN, Pietismus, 52. 41 Christi / BRAUT / Unter den Töchtern zu Laodicæa / Das ist / Ein hochnötiger Tractat / Jn diesen letzten Tagen. | Darinnen | Die lebendige Krafft deß seeligmachenden Glaubens von allem Schmach=Reden der in dieser Zeit Christ=scheinender Spötter / nicht nur auß der H. Schrifft; sondern auch auß gleichlautenden Zeugnüßen der darinn gottseelig erfahrnen und von Gott gelehrten Männern gereiniget und verthädiget wird. Jn Drey Theil: | Deren | Der {I. die unsichtbare Kennzeichen II. die verschiedenen Hindernüssen III. die darzu nöthige Mittel} in sich verfast | Von | Theodor UnderEyck / Predigern zu Cassel. | Perkins Tom. I. über die I. Epist. Joh. | Es ist der allergrösseste Gewissens=Fall / der jemahls kann fürgestellet werden / woran der Mensch erkennen soll /dass er ein Kind Gottes sey. | HANAU / Bey Johan Jngebrand / Buchhändl. / 1670. Ein Exemplar des seltenen Buches befindet sich in Halle, BFSt: 32 G 10. – Da ich das Buch während eines kurzen Aufenthalts in Halle nur partiell habe einsehen können, stütze ich mich hier neben eigenen Beobachtungen auch auf die sachliche Inhaltsangabe bei J.F.G. GOETERS, Pietismus in Deutschland, 248f. Goebel und Heppe gehen auf das Buch nicht ein. STOEFFLER, Rise, 171f. fußt auf RITSCHL, Geschichte, 1, 371–374, dem das Buch vorgelegen hat. 40

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

Gerhard Goeters charakterisiert die beiden ersten Teile treffend folgendermaßen: Das Wesen des wahren Glaubens erfaßt Undereyck in einer Vereinigung und Gemeinschaft mit Christus durch Wort und Geist, in Buße und dem festen Vorsatz, alle schädlichen Mitteldinge zu meiden. Es geht um eine Erneuerung des Menschen nach Vernunft und Willen. Die Hindernisse sind falsche Sicherheit, Vertrauen auf nur äußerlichen Gottesdienst und ein Sich-Verlieren in äußeren Dingen. Man darf dem Werk Gottes in uns nicht widerstehen.42

Die Thesen 18–27 des dritten Teils mit ihren Erläuterungen nehmen am meisten Raum ein. Sie behandeln die rechten Mittel zum geistlichen Leben, d.h. Fragen wie das Streben des Christen nach gesellschaftlichem Ansehen, sein Verhältnis zu Besitz und Geld, seine Verpflichtung zur Wohltätigkeit, seinen Umgang mit Essen und Trinken und seine Stellung zu Luxus und Vergnügungen. Sie entfalten also eine evangelische Ethik in nuce, deren einziges Ziel in der Heiligung und in der Abgrenzung gegenüber allem nur äußerlichen Christentum besteht. Mitteldinge gibt es nicht. Kirchenzucht ist kein Thema, weil sie sich unter solchen Voraussetzungen erübrigt. Ein wahrer Christ ist in allen Lebenssituationen gehalten und bestrebt, einen präzisen Lebensstil zu führen: Welches alles desto weniger als eine unnötige Præcisiät zu verwerffen / weil es des auffrichtigen Liebhabers Art und Ampt ist nicht allein die grobe Laster / sondern auch die geringste Sünden / ja auch was darzu Anlaß geben kann / zu meiden und zu fliehen.43

Das geht alle an, betrifft aber die Inhaber des Predigtamts in besonderem Maß. Albrecht Ritschl, der Undereyck wegen des ersten Teils von „Christi Braut“ „hochfliegende geistliche Genusssucht“ unterstellt hat, bescheinigt ihm im Blick auf den dritten Teil den Rückzug „auf die Linie des correcten Calvinismus.“44 Verschiedentlich ist in der Forschung auf die zwischen diesem Werk und „calvinistischen Dogmatikern“45 bzw. Calvin selber bestehenden Bezüge hingewiesen worden.46 Wie groß Calvins Anteil an Undereycks Argumentation ist, wird dann ersichtlich, wenn man die Gesamtstruktur des Traktats beachtet. ————— 42

J.F.G. GOETERS, Pietismus in Deutschland, 248. These XXV. 44 RITSCHL, Geschichte, 1, 373f. 45 Ebd., 372. 46 FAULENBACH, Anfänge, 218–220. DO-HONG JOU, Theodor Undereyck und die Anfänge des reformierten Pietismus, Bochum 1994, 182. 43

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Jede These wird durch Stellen aus der Heiligen Schrift, den Kirchenvätern, reformierten Bekenntnisschriften und reformierten Dogmatikern, aus englischen, niederländischen und deutschen Asketikern belegt. Darunter figurieren auch Autoren wie Luther,47 Johann Arndt und Heinrich Müller. So gesehen ist Calvin für Undereyck ein Zeuge unter anderen. Sieht man jedoch näher hin, so stellt man fest, dass der Genfer Reformator in der Regel unmittelbar nach den Schriftbelegen und meist vor den reformatorischen Bekenntnisschriften aufgeführt wird.48 Calvin ist für Undereyck zweifellos nach der Bibel der herausragende Gewährsmann. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass Theodor Undereyck dem Gedanken und der Praxis der Kirchenzucht großes Gewicht beimaß. Ob er sich dabei direkt auf Calvin berief, muss hier offen bleiben. Angesichts der Bedeutung, die Calvin in Undereycks literarischem Hauptwerk zukommt, würde es hingegen erstaunen, wenn dem nicht so wäre. Wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird, tut man allerdings gut daran, sich für eine indirekte Beeinflussung Undereycks durch Calvin in dieser Frage offen zu halten. Aufgrund von Undereycks Beispiel darf ferner als gesichert gelten, dass man sich in der Anfangszeit des Pietismus unter den Reformierten Deutschlands oft und gern auf den Genfer Reformator berufen hat. Und schließlich ist es möglich, dass Undereycks Kirchenzucht und Calvinbezug auch Samuel Schumacher und über diesen seine Berner Freunde beeindruckt haben.

IV. Theodor Undereyck war in seiner Studienzeit durch seinen Lehrer Gisbert Voetius im Sinne der „Nadere Reformatie“ geprägt worden. Damit ist eine Frömmigkeitsbewegung gemeint, die in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts die Reformation der Lehre durch eine solche des Lebens vertiefen und vollenden wollte. Sie ist wie der englische Puritanismus älter als der mit Undereycks Namen verknüpfte reformierte Pietismus, steht diesem aber so nahe, dass Wilhelm Goeters das eingangs erwähnte Bild von der aus Eng————— 47

Gegen RITSCHL, Geschichte, 1, 372. These 25 beispielsweise bildet in dieser Beziehung eine Ausnahme, hebt aber Calvins herausragende Bedeutung auch so hervor. Die Belege stammen der Reihe nach aus der Bibel, dem Heidelberger Katechismus und der pfälzischen Kirchenordnung, Phil 2,11 in holländischer Übersetzung, Calvin (Brief), Miguel de Molinos, Guilielmus Amesius, Johannes Hoornbeeck, Daniel Dyke, Peter Streithagen, Robert Bolton, Guilielmus Saldenus, Heinrich Müller. In andern Fällen führt Undereyck auch die Dordrechter Canones und in extenso Kirchenväter wie Johannes Chrysostomus und Augustin an. 48

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

land und den Niederlanden nach Deutschland herüberflutenden Welle prägen konnte. Das Deutsche Historische Museum Berlin und die Johannes a LascoBibliothek Emden haben der „Nadere Reformatie“ im Katalog zu ihrer Jubiläumsausstellung zum Calvinjahr 2009 ein eigenes Kapitel gewidmet. Darin wird neben Willem Teellinck, dem Vater der Bewegung, und Wilhelm à Brakel (1635–1711) dessen Vater Theodor à Brakel (1608–1699) behandelt, welcher der zweiten Generation der „Nadere Reformatie“ angehörte.49 Ob Undereyck Theodor à Brakels weit verbreitete Erbauungsbücher gekannt hat, kann ich nicht sagen.50 Entscheidend ist die Frage, welche Bedeutung Calvin in der „Nadere Reformatie“ und in ihr für die Kirchenzucht zukam. Theodor Gerhard à Brakel war das Kind eines von Haus aus katholischen Vaters. Seine Mutter starb früh. Er war, wie ein Jahrhundert nach ihm Zinzendorf, ein religiös hoch sensibles, frühreifes Kind, hat aber nie Theologie studiert, sondern wurde nach einer unmittelbaren, visionären Berufung als ein Mensch von „singuliere gaven“ nach der Dordrechter Kirchenordnung in den regulären Kirchendienst aufgenommen und wirkte ab 1638 in Beers und Jellum (Friesland), Burg (Insel Texel) und Makkum (Friesland). Er soll, „als Prediger, Katechet und Seelsorger unermüdlich thätig, […] zugleich eine strenge Kirchenzucht“ gehandhabt haben.51 Berühmt geworden ist er durch zwei Bücher über das geistliche Leben eines Christen: „Het geestelyke leven ende de stand eens geloovigen menschen hier op aarde“ (1648) und „De trappen des geestelijken levens“ (postum 1670 von seinem Sohn Willem veröffentlicht).52 Beide Werke sind aus der persönlichen spirituellen Praxis erwachsen. Drei-, in der Regel viermal am Tag – frühmorgens, vor dem Mittagsmahl, in der Abenddämmerung und vor dem Schlafengehen – sammelte sich Brakel zur Meditation über der Heiligen Schrift. Grund, Wesen und Ziel dieser „Übungen“, wie er sie nannte, umschrieb er folgendermaßen: —————

49 A. DE REUVER, Reformierte Frömmigkeitsformen in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts, in: A. REISS / S. WITT (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin und der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Dresden 2009, 311–316. 50 GOEBEL, Geschichte, 2, 826, schreibt, Brakel habe wie Lodenstein, Vitringa und van der Waeyen bei der Pfarrerschaft am Niederrhein in hohem Ansehen gestanden. Es ist also durchaus möglich, dass Undereyck als ehemaliger Pfarrer in Mühlheim an der Ruhr Brakels Buch bei dessen Erscheinen zur Kenntnis genommen hat. 51 HEPPE, Geschichte, 179. 52 Ebd., 173–185; RITSCHL, Geschichte, 1, 268–276; W. GOETERS, Vorbereitung, 93–97; STOEFFLER, Rise, 148–151; VAN DEN BERG, Frömmigkeitsbestrebungen, GdP 1, 91–93; REUVER, Frömmigkeitsformen (Anm. 44), 315f.

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Wen es von Herzen verlangt Gottes Gnade und die Vergebung seiner Sünden zu fühlen und zu schmecken dass der Herr freundlich und süss ist, und zu wachsen in der Gemeinschaft Gottes und überfliessender zu werden in der Liebe Jesu Christi, der muss vor Allem täglich einige christliche Übungen vornehmen. Unter diesen Übungen verstehe ich himmlische Meditationen, geistliche Betrachtungen und stille Gespräche mit Gott, wodurch man sein Herz aufrichtig vor Gott untersucht und dasselbe in demüthigen Geberden und Danksagungen sich ergiessen lässt und die Wohlthaten Gottes betrachtet. Denn ein wiedergeborener Mensch ohne göttliche Übung ist gleich einem Fisch ohne Wasser und kann nicht lange ohne die Empfindung der Gegenwart Gottes leben.53

Dasselbe Thema, nämlich die gottgewollte religiöse Entwicklung in den Lebensaltern des Kindes, des Jünglings und des Mannes, behandelt Brakel in „Die Stufen des geistlichen Lebens“.54 Die wahre Glückseligkeit des Menschen besteht in der Gemeinschaft mit Gott, zu der er durch Askese und gewissenhafte Lebensführung, vor allem aber durch fortwährende Meditation gelangen kann. Ein wesentliches Element seines Lebensstils ist eine strikte Sonntagsheiligung. Welche Bezüge bestehen zwischen Theodor à Brakel und Calvin? Zur Frage nach der Kirchenzucht ist das Entscheidende bald gesagt: Einerseits war die Disziplin in den reformierten Gemeinden der niederländischen Volkskirche eine feste Einrichtung. Es ist normal, dass ein auf einen präzisen Lebensstil bedachter Pfarrer wie Brakel darauf Wert gelegt hat. Wer andererseits als erwachsener Christ zur Bewahrung der Andacht 1) ohne Unterlass betet, 2) einen bestimmten Zug aus der Leidensgeschichte sich den Tag über meditierend vergegenwärtigt, 3) im Umgang mit Menschen die Weltlichen flieht, mit den Frommen gute erbauliche Gespräche führt, 4) sich nicht ohne Not in irgendwelche weltliche Berufsgeschäfte verflechten lässt, 5) stets ein gehorsames Herz bewahrt, 6) alles aus dem Glauben tut, 7) ganz der göttlichen Vorsehung sich ergibt55

– wer so lebt, der hat die Disziplin so sehr verinnerlicht, dass er der äußeren nur zur Not bedarf. Ritschl weist auf das Calvin und Theodor à Brakel gemeinsame, zentrale Motiv der Heiligung hin. Auch Calvin kenne Stufen der Heiligung und lehre darauf besonders zu achten. Arie de Reuver erinnert an den hohen Stellenwert des regelmäßigen meditativen Bibelstudiums bei Calvin und bemerkt unter Hinweis auf dessen Institutio, dass Gotteserkenntnis für ————— 53 54 55

Zit. nach HEPPE, Geschichte, 180. Vgl. 1Joh 2,12–14. Zit. nach W. GOETERS, Vorbereitung, 95f.

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

Calvin immer auch existentielle Herzenserkenntnis sei.56 Ritschl meinte, Brakel behandle das Thema der Heiligung nicht theoretisch, sondern kontemplativ, und entlehne dafür Vorstellungen und Praktiken aus der mystischen Tradition.57 Während er konkret an Jan van Ruysbroek dachte, weisen Johannes van den Berg und Arie de Reuver auf die bernhardinische Passionsmystik hin. Van den Berg meint, dass wir bei Theodor à Brakel „einem Frömmigkeitstyp begegnen, in dem nicht nur der theokratische, sondern teilweise auch der ethische Aspekt der ‚Nadere Reformatie‘ hinter dem mystischen verschwindet.“58 Theodor à Brakels Verhältnis zu Calvin ist zugleich von Nähe und Distanz geprägt. Beide sehen beispielsweise im Lob Gottes eine, wenn nicht die zentrale Lebensäußerung einer christlichen Existenz. Andererseits spielt die Kirche, der doch Calvins ganze Aufmerksamkeit galt und der Brakel als Pfarrer diente, in dessen Erbauungstraktaten praktisch keine Rolle. Es dreht sich alles um das eine Thema „Gott und die Seele“. Das hat an der volkskirchlichen Reformpartei, zu der Brakel gezählt wird, schon Wilhelm Goeters beobachtet, und er hat es dem in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts erwachenden Subjektivismus zugeschrieben.59 Es ist wohl kein Zufall, dass der Herausgeber der ersten deutschen Übersetzung der „Staffel deß geistlichen Lebens“ vor der Gefahr der Geringschätzung der äußeren Gnadenmittel meinte warnen zu müssen. Diese vom Pietisten Daniel Knopf, von Beruf Finanzfachmann und Armenpfleger, besorgte Übersetzung erschien im Jahr 1698 in Bern.60 Knopf, damals dreißigjährig, hatte bei Samuel Güldin in Stettlen Gottesdienste besucht und wurde Taufpate von dessen zweitem Kind. Er beteiligte sich an der Übersetzung von Pierre Poirets Traktat „Les vrais principes de ————— 56

DE REUVER, 315 mit Hinweis auf Inst. (1559), I,10,2. RITSCHL, Geschichte, 1, 271, 275. 58 VAN DEN BERG, Frömmigkeitsbestrebungen, 93. 59 W. GOETERS, Vorbereitung, 58: „Allgemein innerhalb der uns beschäftigenden Gruppe findet sich ein sicheres Verständnis dafür, dass die wirkliche Besserung der sittlichen Zustände überall eine Belebung des individuellen Glaubens zur Voraussetzung hat. Über das innere Leben, das Verhältnis der einzelnen Seele zu ihren Gott und Erlöser wird im Grunde mehr und eifriger verhandelt als über die Auswirkungen im Leben.“ 60 Die Staffel | Deß | Geistlichen | Lebens. | Beschrieben in Holländischer | Sprach / und zum vierdten mahl | getruckt. | Durch | THEODORUM à BRAKEL, | bey leben Predicanten zu Makum, | in Frießland. | Und nunmehr zu gemeiner Erbauung zusamen | gezogen / und in unsere Mutter=Sprach | übersetzt. | BERN. | In der Hoch=Oberkeitlichen Truckerey. | Durch Andreas Hügenet. 1698. Die beiden Exemplare der Zentralbibliothek Bern tragen die Signaturen Theol. XXXI. 98 und d 437. Schon RITSCHL, Geschichte, 1, 269, hat auf diese Ausgabe hingewiesen. Es handelt sich wie bei der andern deutschsprachigen Ausgabe von Wilhelm Conrad Baumann, Frankfurt 5 1733, um eine gekürzte Fassung. Sie wurde für diesen Aufsatz benützt, aber es wird, da sie meines Wissens noch nie mit dem holländischen Original verglichen wurde, nicht nach ihr zitiert. Die erwähnte Warnung des Herausgebers findet sich gegen Ende des unpaginierten Vorworts. 57

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l’éducation chretienne des enfants“, setzte sich für die Verbreitung von Werken der englischen Philadelphierin Jane Leade in deutscher Sprache ein und scheint auch sonst ein fleißiger Abnehmer und Promotor (radikal)pietistischer Literatur gewesen zu sein. Dafür wurde er im Berner Pietistenprozess von 1699 mit 500 Pfund gebüßt.61 Damit schließt sich ein zweiter Kreis. Theodor à Brakel hat als Vertreter der „Nadere Reformatie“ im Geiste des aufkommenden Subjektivismus seiner Zeit das spirituelle Erbe Calvins vertreten. Bei ihm erscheint der Calvinismus in einer Gestalt, die ihn für den Pietismus attraktiv machte. Samuel Schumacher kündigte August Hermann Francke die Übersetzung von Brakels Buch als „ein herrliches für die Kirche Gottes sehr nützliches Werck“ an, indem er dessen Wert für die Gotteserfahrung wie für die Gotteserkenntnis hervorhob: […] es beschreibet das Englische Leben, welches dieser große Heilige […] in diesem Leben geführet hat, wie derselbige in einer so genauen Freundschafft mit Gott gestanden, wie ein Freund mit dem andern; wie seine Seele ist hinaufgezogen worden in Gott umb ihn zu kennen in seinen Herrlichen Eygenschafften, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit etc.62

Knopfs Brakel-Übersetzung ist aber auch ein Beleg für die engen Beziehungen zwischen der reformierten Schweiz und den Niederlanden. Zur Kirchenzucht ergaben sich bei Brakel abgesehen von der Tatsache, dass sie Teil seiner pfarramtlichen Tätigkeit war, keine signifikanten Erkenntnisse, es sei denn, man bezeichne ihre Verinnerlichung zur Selbstzucht durch geistliche Übungen als eben dies.

V. Ein reformierter Christ des 18. Jahrhunderts, der die Notwendigkeit der Kirchenzucht im neuzeitlichen Kontext, die subjektive Würdigkeit als Bedingung für die Teilnahme am Abendmahl besonders betont, der das Abendmahl in besonderer Weise ernst genommen und für seine Person andächtig gefeiert hat, war der Pietist und Mystiker, Seelsorger und Dichter Gerhard

—————

61 DELLSPERGER, Anfänge, passim (Register). I. NOTH, Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682–1743), AGP 46, Göttingen 2005, 80, vgl. auch 373f. K. BÜTIKOFER, Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648–1718), AGP 54, Göttingen 2009, 391, 398f., 412. 62 Schumacher an Francke, 22. März 1695, zit. nach DELLSPERGER, Anfänge, 201.

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

Tersteegen (1697–1769).63 Mit ihm kehren wir nochmals an den Niederrhein, nach Mühlheim an der Ruhr zurück. Tersteegen orientierte sich in der Abendmahlsfrage am Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde: In der Eucharistie feiert die Gemeinde die Gemeinschaft mit Christi Leib und Blut und erleben ihre Glieder die Gemeinschaft mit- und untereinander. Wer nicht zur Gemeinde gehört, oder wer ihr zwar angehört, aber gegen ihre Normen verstößt, ist davon ausgeschlossen. Für Tersteegen hielt sich die Kirche seiner Zeit nicht mehr an diese apostolische Ordnung. Deshalb blieb er dem Abendmahl fern. Er hat sich dafür unter anderem auf Calvin berufen. Tersteegen hat über seine Haltung in dieser Frage verschiedentlich Rechenschaft abgelegt. Der Traktat, um den es hier geht, ist spät, wahrscheinlich 1768, entstanden und unter dem Titel „Beweis, dass man demjenigen, der von Gott in seinem Gewissen zurückgehalten wird, mit offenbaren Weltkindern und Gottlosen nicht zum Abendmahl zu gehen, seine Gewissensfreiheit ungekränkt lassen müsse“ 1774 aus dem Nachlass herausgegeben worden.64 Tersteegen versteht sich nicht als Kirchenstürmer, er will auch niemandem Skrupel einreden. Aber es geht für ihn um eine Gewissensfrage und um eine Frage der Gewissensfreiheit. Wenn Pfarrer Gemeindeglieder wegen ihrer Abendmahlsabstinenz unter Druck setzen, ist dies „ein Gott missfälliger und sündlicher Gewissenszwang“ (280). Davor will er sie schützen. Er tut es mit einem minutiösen Schriftbeweis und durch Entkräftung möglicher Gegenargumente. Die volkskirchliche, unterschiedslose Zulassung aller zum Abendmahl steht nach ihm im Widerspruch zu seiner Einsetzung und zu Schrift und Heidelberger Katechismus. Nicht nur das Böse in uns ist ein Grund, dem Abendmahl fernzubleiben, auch die „bösen und unwürdigen Menschen neben uns“ sind es (280). Das von der Gemeinde in der Mahlfeier abgelegte Zeugnis, durch das Teilen des einen Brotes ein Leib zu sein, kann sich nicht auf „Weltmenschen“ erstrecken (281). Wer nach 1Kor 5,11 mit einem offenbaren Sünder nicht essen soll, kann auch nicht mit ihm Abendmahl feiern. Wenn man mit Juden, Heiden, Türken und Ketzern schon nicht zum Abendmahl gehen darf, dann auch nicht mit denjenigen, „welche sagen, dass sie Gott erkennen, ihn aber mit den Werken verleugnen […]“ (282). —————

63 C.P. VAN ANDEL, Gerhard Tersteegen. Leben und Werk – sein Platz in der Kirchengeschichte, Neukirchen-Vluyn 1973. J.F.G. GOETERS, Der reformierte Pietismus in Bremen und am Niederrhein im 18. Jahrhundert, GdP 2, (372–427) 390–410. 64 Zur Entstehungszeit vgl. GOEBEL, Geschichte, 3, 422. Dietrich Meyer hat den Text auf der Grundlage des Erstdrucks neu ediert: D. MEYER (Hg.), Gerhard Tersteegen. Ich bete an die Macht der Liebe. Eine Auswahl aus seinen Werken, Gießen / Basel 1997, 278–295. Die Ziffern in runden Klammern im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Beim Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland bedanke ich mich für die Übersendung einer Kopie der Ausgabe Elberfeld 1864.

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Das hieße den Bund Gottes verletzen und Gottes Zorn und Gericht provozieren. Nicht wer sich des Abendmahls enthält, sondern wer es missbraucht, verachtet es. Die Gefahr geistlichen Hochmuts besteht in der Tat, hebt aber das Gebot der Absonderung von den Bösen nicht auf. Das Richtverbot darf nicht daran hindern, den Baum an seinen Früchten erkennen zu wollen. Wenn Pfarrer sagen, man solle die Prüfung seiner Würdigkeit dem Gewissen jedes Einzelnen überlassen, geben sie Gelegenheit, „sich schuldig zu machen an dem Leib und Blut Christi“. An dieser Stelle ereifert sich Tersteegen dann doch: Paulus schreibt an Gläubige, dass sie sich selbst prüfen sollen; jetzt aber werden offenbare Gottlose und unbussfertige Weltkinder zum Abendmahl gelassen, die im geringsten nicht tüchtig sind, sich selber prüfen zu können; sollen denn darum die Prediger ihrer Pflicht auch vergessen und nur alles gehen lassen, wie es geht, unter dem nichtigen Vorwand, der Mensch müsse sich selbst prüfen? (287)

Für Tersteegen ist es undenkbar, dass Judas am Abendmahl teilgenommen hat. Neben der Schrift und dem Heidelberger Katechismus beruft er sich in dieser Frage auf eine ganze Reihe reformierter Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts aus der Schweiz, Deutschland und den Niederlanden, unter ihnen auf Wolfgang Musculus, Theodor Beza und Johannes Piscator (288). Das letzte Wort gehört aber Calvin, den er in Bezug auf die bedingte Zulassung zum Abendmahl dem Wortlaut nach frei, aber sachlich richtig zitiert: Dies ist deutlich in der Heiligen Schrift gegründet, dass das Abendmahl allein soll ausgeteilt werden an denen, die da bequem sind, 1) den Leib und das Blut des Herrn zu unterscheiden, 2) den Zustand ihrer Seelen und ihres Gewissens zu unterscheiden, 3) den Tod des Herrn zu verkündigen und dessen göttliche Kraft einzusehen und zu ergründen. (293)

Nun hat Cornelis Pieter van Andel geltend gemacht, Tersteegen rekurriere, wenn man den Kontext der Institutio berücksichtige, zu Unrecht auf Calvin, beleuchte dieser doch an der besagten Stelle mit der Ablehnung der Kinderkommunion einen anderen Aspekt der Abendmahlsthematik: „Es ist wahrscheinlich, dass Tersteegen die Institutio nie selbst in Händen gehabt hat, sondern das Zitat irgendwo fand und also falsch gebrauchte.“65 Das ist möglich, entwertet aber diesen Calvin-Bezug für unsere Fragestellung nicht. Erstens zeigt er, dass Calvin für Tersteegen auch zwei Jahrhunderte nach seinem Tod eine Autorität war. Es ist wenig wahrscheinlich, ————— 65

VAN ANDEL, Tersteegen, 174. Ähnlich WALLMANN, Pietismus, 65: „Die Ferne zur reformatorischen Theologie ist nicht zu übersehen. Der in der christlichen Literatur so bewanderte Tersteegen hat wohl niemals eine Schrift von Luther oder Calvin in der Hand gehabt.“

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

dass er sich auf ihn aus rein taktischen Gründen berufen hat. Zweitens war für ihn Kirchenzucht im Zeitalter der Aufklärung offensichtlich nicht obsolet geworden. Er konstatierte eine wachsende Distanz zwischen neutestamentlichem und neuzeitlichem Christentum und weigerte sich, die Zulassungsbedingungen zum Abendmahl zu ermäßigen. Drittens aber konnte Tersteegen seinerseits Calvin nur bedingt für sein Abendmahlsverständnis in Anspruch nehmen, und zwar nicht nur hinsichtlich des erwähnten Zitates, sondern aus grundsätzlichen Gründen: Er hat das Abendmahl spiritualisiert, indem er es von Kirche und Amt trennte und als „intimes Geschehen zwischen Jesus und der frommen Seele“ erlebte und verstand.66 Zwischen Gerhard Tersteegen und dem Berner Kulturphilosophen und Pietisten Beat Ludwig von Muralt (1665–1749) gibt es, und dies nicht nur hinsichtlich der Themen Kirchenzucht und Abendmahl, frappante Parallelen. Es handelt sich nicht um ursächliche Zusammenhänge, obwohl die beiden sich gekannt haben. Muralt war unter den Frommen am Niederrhein eine bekannte Persönlichkeit, und als er sich zu Beginn der vierziger Jahre als alter Mann in Begleitung seiner zweiten Frau und im Gefolge einer Inspirierten bei ihnen in Solingen und auf der Insel Texel aufhielt, hat Tersteegen sich angelegentlich nach dem „lieben Alten Herrn v. Muralt“ erkundigt.67 Muralt, Spross einer einflussreichen Berner Patrizierfamilie, war unter den Gebildeten durch seine 1725 erstmals gedruckten und dann oft neu aufgelegten „Lettres sur les Anglois et les François“ und unter den Frommen durch seine Haltung im Berner Pietistenprozess bekannt geworden. Er war mit beiden Kulturen, die er in seinem zweibändigen Werk glänzend beschrieb und scharf analysierte, aus eigener Erfahrung vertraut, und verfügte über eine umfassende Bildung. Als er für die Pietisten Partei ergriff und selber dem Gottesdienst fernblieb, haben die in Staat und Kirche tonangebenden Kreise die Gefahr, die ihnen damit drohte, erkannt, dem unbot-

————— 66

VAN ANDEL, Tersteegen, 174. Gerhard Tersteegen an Johann Schmitz, Mühlheim 11. Januar 1741, in: H. NEEB (Hg.), Gerhard Tersteegen und die Familien Schmitz in Solingen. Briefe aus den Jahren 1734–1764, Düsseldorf 1997, 97f. Tersteegen äußert sich kritisch über die inspirierte Dorothea Allgäuer und zeigt sich besorgt über deren Einfluss auf Muralt. Er warnt vor „ausserordentliche[n] und bedenkliche[n]“ religiösen Erfahrungen und weist hin auf „den zug und leitung des sanften Geistes Jesu, der in der seelen, nicht aber in den sinnen wirckte.“ Zu Dorothea Allgäuer (1699–1748), die im St. Galler Sterberegister als Erz-Fanatica bezeichnet wird, vgl. M. KNIERIEM / J. BURKARDT, Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloss Hayn. Aus dem Nachlass des von Fleischbein und Korrespondenzen von de Marsay, Prueschenk von Lindenhofen und Tersteegen 1734– 1742. Ein Beitrag zur Geschichte des Radikalpietismus im Sieger- und Wittgensteiner Land, Hannover 2002, 152, 261. 67

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mäßigen Standesgenossen den Prozess gemacht und ihn Anfang 1701 ins Exil geschickt.68 Muralt wollte sich dagegen zur Wehr setzen. Er gab den 41 eng beschriebenen Folioseiten, auf denen er seine Verweigerung von Kirch- und Abendmahlsgang begründete und sich gegen den Vorwurf der Gottesverachtung verwahrte, den Titel: Gewüßenhaffte beschwerden über / etliche mengel unserer kirch und prediger. / Oder / Apologey eines, wegen genöthigter unterlaßung der offentlichen versamblungen, für einen gefährlichen Gottsverachter gehaltenen und angeklagten Christens.

Er kritisierte darin das geistliche Ministerium scharf und klagte, dass die Eucharistie eine algemeine und entheiligte mahlzeit ist, daß sie jederman ohne unterscheid offen stehet. Niemand enthelt sich darvor: verstokte weltmenschen, offentliche sünder, allerley unnützes gesinde, ja die Gottlosen leute, die für jedermans augen ärger als die unvernünfftigen Thier leben, tretten in einem ordenlichen habit und gravitetischen schritt herzu, und derer nicht eine kleine anzahl; mit einem wort eben diejenigen menschen, von welchen unsere prediger klagen, sie haben villicht noch keinen bekehrt, müßen an disem heyligen tag und heyligen ohrt auff einmahl alle heilig, und Christi wahre jünger sein; welche greuwliche profanation dem lieben Gott geklagt seye.69

Die Kirchenzucht hatte in Muralts Augen versagt. Sie funktionierte nicht mehr, weder auf der Stufe der Laien, schon gar nicht der Vornehmen unter ihnen, noch auch auf der Stufe der Pfarrer. Deshalb mied er die Kirche. Der Druck, dem er sich deswegen von geistlicher Seite ausgesetzt sah, hat ihn in seiner Renitenz weiter bestärkt, denn es ging auch für ihn wie für Tersteegen um eine Gewissensfrage und um eine Frage der Gewissensfreiheit. Zur selben Zeit, am selben Ort und mit derselben Begründung wie Muralt blieb auch Samuel Güldin dem Gottesdienst fern. Er und Muralt waren Freunde. Güldin, der seit seiner Suspension keine Amtswohnung mehr hatte, wohnte mit seiner Familie vorübergehend bei Muralt. Einer drohenden Festnahme haben sie sich gemeinsam durch die Flucht nach Biel entzogen. —————

68 Zu von Muralt vgl. R. DELLSPERGER, Beat Ludwig von Muralts Emigration aus der Kirche. Hinweise zu seinem Weg zwischen Pietismus und Aufklärung, in: DERS., Kirchengemeinschaft, 66–84. Weitere Belege zu seiner Person und zu seinem „Fall“ verspare ich auf eine umfassendere Studie. 69 Der umfangreiche, noch unveröffentlichte Text stammt von Ende 1699/Anfang 1700 und wird im Familienarchiv von Wattenwyl im Neuen Schloss Oberdiessbach aufbewahrt. Eine Veröffentlichung ist geplant.

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Calvins Bedeutung im reformierten Pietismus

Muralt ist Separatist geblieben, selbst dann, als ihn sein naher Verwandter Georg Thormann 1705 in einem Brief zur Rückkehr in die Kirche zu bewegen versuchte. Auch Thormann sympathisierte mit dem Pietismus, blieb aber der Kirche treu. Er hatte in einem Traktat über das Täufertum zu einer grundlegenden Erneuerung in Staat und Kirche aufgerufen, war Dekan des Kapitels Burgdorf und amtierte als hoch angesehener Pfarrer in Lützelflüh. Samuel Schumacher war bei ihm Vikar gewesen und hatte von Lützelflüh aus seine beiden Briefe nach Bremen und an August Hermann Francke geschrieben. Muralt lehnte Thormanns Einladung unter Berufung auf sein Gewissen, auf die Bibel und auf – Luther höflich aber entschieden ab. Solange die Freiheit, der Kirche fernzubleiben, nicht bestehe, könne er auch nicht in sie zurückkehren. 70 Ein Kirchenstürmer freilich war zu diesem Zeitpunkt auch er nicht mehr. Exil und Retraite hatten ihn gelehrt, sich mehr mit seiner eigenen Korruption zu beschäftigen als mit der der Andern.

VI. Wir sind von der Beobachtung einer Revitalisierung und Vertiefung der Kirchenzucht durch pietistische Pfarrer im bernischen Ministerium ausgegangen. Ihr Ziel war die Verinnerlichung der Fremd- zur Selbstdisziplin. Sie haben damit in ihren Gemeinden und bei einflussreichen Laien Resonanz gefunden. Unter der Voraussetzung, dass es dabei nicht bloß um ein neues Ernstnehmen des zwinglianischen, sondern des calvinischen Kirchenzuchtgedankens ging, stellte sich die Frage, auf welchen Wegen dieser am Ende des 17. Jahrhunderts nach Bern gelangt sein könnte, zumal er dort in der Reformationszeit auf Ablehnung gestoßen war und das zeitgenössische Genf als Herkunftsort kaum in Frage kam. Mehrere Indizien wiesen nach Bremen, an den Niederrhein und in die Niederlande, wo das Erbe Calvins und der Kirchenzuchtgedanke nach wie vor lebendig waren. Anhand der Beispiele von Theodor Undereyck, Theodor à Brakel und Gerhard Tersteegen konnte, wenn auch nur in Ansätzen, gezeigt werden, was dies in —————

70 Beat Ludwig von Muralt an Georg Thormann, 10. November 1705. Der Brief ist nach einer Abschrift in der Burgerbibliothek Bern (Signatur M.h.h. III.272, S. 676–685) in sprachlich modernisierter und überarbeiteter Form erstmals veröffentlicht worden von E. RITTER, in: Quelque documents sur Béat de Muralt, Bulletin de l’Institut National Genevois 32, Genève 1894. Eine kritische Edition des Originals, das sich in Schublade 41 des Familienarchivs von Wattenwyl im Neuen Schloss Oberdiessbach befindet, liegt zur Veröffentlichung bereit. Zu Thormann vgl. DELLSPERGER, Anfänge, 30–33; R. RYCHENER, „Der Probier-Stein“. Pfarrer Georg Thormanns „Gewissenhaffte Prüffung des Täuferthumbs“ 1693, Mennonitica Helvetica 14 (1991), 27–50; H. JECKER / H. LÖFFLER, „Wie dem schädlichen Übel der Taüfferey zu remedieren sey“. Neue Streiflichter auf die Entstehung der Amischen. Zwei Briefe des Pfarrers Johann Rudolf Salchli von Eggiwil im Emmental (1693f.), Mennonitica Helvetica 28/29 (2005/06), (89–145) 128–145.

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der Anfangszeit des reformierten Pietismus in Deutschland, zur Zeit der „Nadere Reformatie“ in den Niederlanden und unter den zur Zeit der Aufklärung Erweckten am Niederrhein konkret hieß. Obwohl die Unterschiede im Verständnis von Kirchenzucht von Fall zu Fall beträchtlich waren, wird man doch, wie im bernischen Pietismus am Ende des 17. Jahrhunderts, deren Verinnerlichung zur Selbstzucht als allgemeine Tendenz ausmachen können, die überdies mit einer Verinnerlichung des Abendmahls, bis hin zu dessen Spiritualisierung, einherging. Dies kommt einer Bestätigung der beobachteten Wesensverwandtschaft von Calvinismus und reformiertem Pietismus gleich, die allerdings nach und nach zu einer entfernten Verwandtschaft wurde, was auch für das Verhältnis des reformierten Pietismus zu Calvin selber gelten dürfte. Fragt man nach den Wurzeln der Kirchendisziplin im reformierten Pietismus, so wäre für den bernischen Kontext neben Calvin und dem Calvinismus zudem auf die Täufer hinzuweisen, die ihre Kritik an der Staatskirche im Kern mit deren Defizit einer konsequenten Disziplin begründeten. Es ist offensichtlich, dass Pietisten diesbezüglich auch von ihnen gelernt haben. Wie sonst soll man sich erklären, dass – um nur dieses eine Beispiel zu nennen – vom Pietismus ergriffene Frauen und Männer sich den Täufern meinten anschließen zu sollen, „weil unter dem großen Hauffen eine solche große Verderbnis sey“?71 Dies bliebe weiter zu erhellen.72 Doch damit stoßen wir einmal mehr an die Grenzen dieses Versuchs.

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71 DELLSPERGER, Anfänge, 65, 196f., 56–59. Zum Thema Täufertum und Pietismus vgl. NOTH, Ekstatischer Pietismus, 61–63. 72 Ich danke Hanspeter Jecker dafür, dass er mir diesen wichtigen Aspekt in Erinnerung gerufen hat.

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Jonathan Edwards: Calvin in der Neuen Welt

In den Vereinigten Staaten herrscht Einigkeit darüber, dass Jonathan Edwards (1703–758) der bedeutendste Theologe ist, den das Land hervorgebracht hat.1 Mehr als das, er gilt allgemein als eine der herausragenden intellektuellen Gestalten, welche auch in der Geschichte, der Philosophie und der Literatur der USA tiefe Spuren hinterlassen hat. In der deutschsprachigen Theologie dagegen ist Edwards bis heute nur wenigen bekannt − man kann in einem Studium problemlos sämtliche Prüfungen bis hin zum Doktorat bestehen, ohne diesen Namen je gehört zu haben.2 An seiner Person zeigt sich schlaglichtartig, wie weit im Bereich der Theologie die akademischen Milieus der beiden Kontinente nach wie vor voneinander entfernt sind. Jonathan Edwards gehört insbesondere in die Geschichte des Calvinismus, darin aber zu den kreativen Ausnahmegestalten, zu denen nach ihm wohl nur noch Friedrich Schleiermacher und Karl Barth zu zählen sind. An Edwards zeigt sich auch in zugespitzter Weise die unterschiedliche Geschichte des calvinistischen Christentums in Europa und in den USA im 18. Jahrhundert. In Europa kann man das 18. Jahrhundert im Wesentlichen als ein Jahrhundert calvinistischer Rückzugsgefechte bezeichnen. Ein Fundamentalartikel wie die Autorität der Schrift wird im Lauf dieser Jahrzehnte in den Mühlen aufklärerischer Kritik zermahlen, und zentralen Topoi wie der Prädestinationslehre, der Unfreiheit des Willens oder der Erbsünde begegnet nicht nur die Aufklärung, sondern auch der Pietismus mit scharfer Kritik, wenn nicht gar mit Verständnislosigkeit. In den Vereinigten Staaten dagegen begründet Edwards mit seiner tiefschürfenden theologischen Aufklärungskritik eine Erneuerung calvinistischer Theologie, die bis weit ins 19. Jahrhundert in die amerikanischen Kirchen hineinwirkt und heute noch nicht überholt ist. —————

1 R.W. JENSON, America’s Theologian. A Recommendation of Jonathan Edwards, New York u.a. 1988, 3: „It has become a truism, that Jonathan Edwards is America’s greatest theologian, in the sense that his achievement in the discipline of theology is the most weighty to have appeared on this continent.“ 2 Die einzigen größeren deutschsprachigen Untersuchungen zu Edwards stammen von C. SCHRÖDER, Glaubenswahrnehmung und Selbsterkenntnis. Jonathan Edwards’ theologia experimentalis, FSÖTh 81, Göttingen 1998, sowie bereits älter G. HOFFMANN, Seinsharmonie und Heilsgeschichte bei Jonathan Edwards, Diss. Göttingen 1956.

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Angesichts der Unbekanntheit von Jonathan Edwards im hiesigen Kontext kann ein einzelner Aufsatz nicht mehr als einführenden Charakter haben. Es soll im Folgenden versucht werden, Edwards’ Theologie zu skizzieren und sie in ihrem Kontext zu verorten, wobei der Akzent auf seiner Reformulierung reformierter Theologie im damaligen geistesgeschichtlichen Horizont liegen wird. In einigen Strichen sollen abschließend die Nachwirkungen Edwards in der US-amerikanischen Kirchen- und Theologiegeschichte umrissen werden.3

1. Hinweise zur Biographie Jonathan Edwards wurde 1703 in eine Pfarrerdynastie hineingeboren.4 Sein Großvater und sein Vater waren Pfarrer, und auch sein Sohn Jonathan Jr. sollte es wieder werden. Jonathan studiert in Yale Theologie und lernt hier unter anderem die Schriften von John Locke und Isaac Newton kennen, die ihn zeitlebens stark beeinflussen sollten. Edwards hat ausgeprägte naturwissenschaftliche Interessen; so verfasst er mit siebzehn eine Arbeit über Spinnen. Noch stärker ist aber von Kindsbeinen an seine religiöse Leidenschaft. Es ist deshalb nichts als logisch, dass er nach dem Studium und verschiedenen pastoralen Kurzeinsätzen 1726 ein Pfarramt in Northampton, Connecticut, übernimmt. Seinen Neigungen entsprechend ist er freilich ein sehr intellektueller Geistlicher, der täglich bis zu dreizehn Stunden mit Studium verbringt. Trotzdem ist Edwards der geistliche Stand seiner Gemeinde ein tiefes Anliegen. Seine Predigt- und Seelsorgetätigkeit führt 1733 in Northampton zu einem „revival“, das sich rasch im Connecticut Valley ausbreitet. Der geistliche Aufbruch weitet sich zum „Great Awakening“, einer Erweckungsbewegung, die auf die gesamten Kolonien ausgreift und diese tief verändert. Edwards deutet das „Great Awakening“ als offensichtliches Werk des Heiligen Geistes. Er verarbeitet seine Beobachtungen und Reflexionen zu einem Werk, das ihn auch in England und Schottland schlagartig berühmt macht: „A Faithful Narrative of the Surprising Work of God in the Conversion of Many Hundred Souls in Northampton“ (1737).5 Dank seiner detaillierten Schilderung des Bekehrungsprozesses wird dieses Buch zur eigentlichen Fibel späterer „revivals“. Nicht weniger eindrücklich ist die —————

3 Edwards’ Werke erscheinen seit 1957 in einer kritischen Ausgabe, der sog. Yale Edition, aus welcher hier zitiert wird. Die Ausgabe ist auch online zugänglich unter www.edwards.yale.edu. 4 Zum Folgenden die magistrale Biographie von G.M. MARSDEN, Jonathan Edwards. A Life, New Haven u.a. 2003. 5 WJE 4, 144−212.

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Jonathan Edwards: Calvin in der Neuen Welt

Wirkung der Predigt „Sinners in the Hands of an Angry God“, deren überwältigende Resonanz bei den Zuhörern ihren Autor selbst überrascht und die bis heute zum festen Bestand amerikanischer Literatur gehört. „Sinners“ hat Edwards, wenn auch zu Unrecht, den Ruf eines grausamen Höllenpredigers eingetragen. Die lebendige Bildwelt der Predigt und ihre psychologische Raffinesse belegen vor allem, dass er zu den größten christlichen Predigern überhaupt gehört.6 Ein Streit um die Zulassung zum Abendmahl führt dazu, dass Edwards in Northampton abgewählt wird und 1750 eine Stelle als Pfarrer und Indianermissionar in Stockbridge übernimmt. Hier entstehen neben einer engagierten Arbeit für die Indianer die großen Traktate „Original Sin“, „Freedom of the Will“, „The Nature of True Virtue“ und „The End for Which God created the World“ – jene Werke, die Edwards’ bleibenden Ruhm als Theologe begründen. 1757 wird Jonathan Edwards zum Präsidenten des College of New Jersey (heute Princeton University) berufen. Bereits im Jahr darauf stirbt er an den Folgen einer Pockenimpfung. Auf ein Detail muss in diesem biographischen Kontext noch hingewiesen werden, auf das nämlich, was man Edwards’ „Bekehrung“ nennen kann. Die Studienzeit in Yale war für Jonathan auch eine Zeit der spirituellen Krise. Seit seiner Kindheit, so schreibt er, hegte er Zweifel an der orthodoxen calvinistischen Lehre von Gottes Souveränität, zu der insbesondere die Annahme einer ewigen doppelten Prädestination gehörte. Er fühlt sich von einer derartigen Gottesvorstellung abgestoßen, leidet aber andererseits an seinem mangelnden Vertrauen in Gott. Der Historiker George Marsden umschreibt das Dilemma des jungen Jonathan so: „He desperately wanted to trust in God, yet he could not believe in, let alone submit to, such a tyrant.“7 Im Laufe seines achtzehnten Lebensjahrs überwindet Edwards aber dieses Dilemma und gelangt zur Überzeugung – er nennt es eine „wonderful alteration of mind“ –, dass Gott vollkommen gerecht ist „in eternally disposing of men, according to his sovereign pleasure“.8 Der Grund für diesen Durchbruch ist ein neues Verständnis der Lehre von Gottes Souveränität, die ihm nun plötzlich als „an exceeding pleasant, bright and sweet doctrine“ erscheint.9 Edwards schreibt, dass er begann to have a new kind of apprehensions and ideas of Christ, and the work of redemption, and the glorious way of salvation by him. I had an inward, sweet sense of these

————— 6

W.H. KIMNACH, Edwards as preacher, in: The Cambridge Companion to Jonathan Edwards, hg. von S.J. STEIN, Cambridge 2007, 103−124. 7 MARSDEN, Edwards, 40. 8 WJE 16, 793. 9 Ebd.

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things, that at times came into my heart; and my soul was led away in pleasant views and contemplations of them.10

Die Lektüre des Hohelieds erschließt ihm „the loveliness and beauty of Jesus Christ“. Das entscheidende Erlebnis widerfährt ihm wenig später, als er nach einem Gespräch mit dem Vater einen Spaziergang unternimmt. And as I was walking there, and looked up on the sky and clouds; there came into my mind, a sweet sense of the glorious majesty and grace of God, that I know not how to express. I seemed to see them both in a sweet conjunction: majesty and meekness joined together: it was a sweet and gentle, and holy majesty; and also a majestic meekness; an awful sweetness; a high, and great, and holy gentleness.11

Theologisch interessant ist an dieser Schilderung eines religiösen Durchbruchs die dafür gewählte Terminologie. Edwards spricht davon, wie erfreulich, angenehm und schön ihm Gott und sein Wirken mit einem Mal erschienen sind, wie süß er Gottes Majestät und Gnade erlebt hat, wie aber allem Angenehmen stets noch die Dimension ehrfurchterregender Größe und Heiligkeit beigemischt war. Edwards spricht von Gott in einer ästhetischen Begrifflichkeit, ohne dass diese freilich harmlos und unverbindlich wird. Die ästhetische Sprache, das lässt sich mit Händen greifen, bewegt sich an der Grenze des Unsagbaren, der mystischen Entrückung. Trotzdem scheint der hier geschilderten Gotteserfahrung nichts näher zu kommen als die ästhetische Erfahrung: das Angezogen- und Hingerissenwerden, die Faszination und innige Zuneigung. Die ästhetische Terminologie wird in Edwards’ gesamter Theologie eine zentrale Rolle spielen. In seinem Bekehrungsbericht wird nachvollziehbar, wo diese Terminologie ihren biographischen Anhalt hat.

2. Theologe des „Great Awakening“ Bekannt geworden ist Jonathan Edwards in erster Linie als Schlüsselfigur eines der wichtigsten Ereignisse in der frühen Geschichte der Vereinigten Staaten, des „Great Awakening“. Das „Great Awakening“ verdankt seine starke Ausbreitung nach dem Beginn in Northampton wesentlich dem Auftreten des englischen Methodistenpredigers George Whitefield. Whitefield durchreiste die Kolonien und entfaltete allerorts eine rege Evangelisationstätigkeit, bei welcher er dank seines leidenschaftlich emotionalen Stils enorme Erfolge verbuchen konnte. Edwards unterstützte Whitefields Akti————— 10 11

Ebd., 794. Ebd.

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vitäten, obwohl er sich der Ambivalenz der neuen Emotionalität durchaus bewusst war. Die Bewegung erfasste bald einmal alle Kolonien von Nova Scotia bis Georgia, sowohl ländliche wie städtische Gegenden und alle Klassen – reich und arm, Gebildete und Ungebildete. Was waren die Ursachen für diesen religiösen Aufbruch? Entscheidend für die Interpretation des „Awakenings“ – und späterer Erweckungen – ist das Selbstverständnis der USA, ein Gemeinwesen unter der Herrschaft Gottes zu sein. Weil dieses Selbstverständnis sowohl eine kollektive als auch eine individuelle Dimension hat, birgt es ein Dilemma, das fast notwendig zu regelmäßigen „Awakenings“ führen muss, ja, das die Ursache für den erwecklichen Grundzug US-amerikanischer Religiosität bildet.12 Zum puritanischen Verständnis der neuen Nation gehörten drei Elemente: die Wiedergeburt des Einzelnen, die Einheit der Gesellschaft und die Kirche als zentrale Verbindung zwischen individueller Religiosität und nationaler Reform. Es liegt auf der Hand, dass diese Dimensionen früher oder später zueinander in Spannung geraten mussten. Virulent wurde die Problematik insbesondere im Zusammenhang mit den Sakramenten. Wie sollte mit Getauften umgegangen werden, welche keine persönliche Bekehrungserfahrung vorweisen konnten? Und wie mit ihren Kindern? Ein charakteristischer Lösungsversuch war der „Half-Way Covenant“, der insbesondere – für unseren Zusammenhang wichtig – von Edwards’ Großvater und Vorgänger im Pfarramt in Northampton, Solomon Stoddard, befürwortet wurde. In diesem Modell blieb der Zugang zum Abendmahl für jene reserviert, welche eine Bekehrung erfahren hatten, getaufte Erwachsene ohne solche Erfahrung blieben aber Mitglieder der Kirche und konnten ihre Kinder zur Taufe bringen. Die Spannung zwischen umfassender Kirchlichkeit und persönlicher Religiosität wurde mit diesem Kompromiss zu Gunsten der kollektiven Dimension reduziert. Edwards nun lehnte den „Half-Way Covenant“ ab und optierte für eine Kirche, die sich allein aus Bekehrten zusammensetzte. Das Mittel, um trotzdem eine möglichst große Zahl der Bewohner in die Kirche zu integrieren, bestand in der Vertiefung der individuellen Religiosität, in der Sprache seiner Zeit: der Bekehrungserfahrung von möglichst vielen. Es war genau dies, was im „Great Awakening“ in einem erstaunlichen Ausmaß geschah. Die Folgen des „Great Awakenings“ für die amerikanischen Kolonien können nicht überschätzt werden.13 Erst durch diese religiöse Bewegung entstand ein eigentliches nationales Selbstbewusstsein, während vorher die ————— 12

Zum Folgenden siehe auch M.A. NOLL, America’s God. From Jonathan Edwards to Abraham Lincoln, Oxford 2002, 38−48. 13 Siehe W.S. HUDSON, Religion in America. An historical account of the development of American religious life, New York 31881, 76−82; T.S. KIDD, The Great Awakening. A Brief History with Documents, Boston u.a. 2008.

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einzelnen Kolonien viel stärker durch ihre jeweiligen Beziehungen zu Europa geprägt waren. Das „Awakening“ schuf ein gemeinsames Interesse, verband die Menschen durch eine gemeinsame Sache und verstärkte die Überzeugung, dass Gott für Amerika ein spezielles Ziel bereithält. Die Kirchenmitgliedschaft wuchs markant, die Indianermission erfuhr eine Belebung, zahlreiche wohltätige Projekte entstanden. Die Rolle der Laien in der Kirche wurde aufgewertet, durch berühmte Prediger aber auch der Pfarrerstand, und letzteres führte zu einer Gründung einer Reihe von Ausbildungsstätten.14 Kurz, die Vereinigten Staaten waren nach dem „Great Awakening“ ein anderes Land als vorher. Edwards gehört auch deshalb zu den großen Promotoren des „Great Awakenings“, weil er es mit seinen Schriften über die Landesgrenzen hinaus bekannt werden lässt. Vor allem aber ist er es, der diesen geistlichen Aufbruch theologisch reflektiert und ihn auf diese Weise für die weitere Zukunft zu einem charakteristischen Modell amerikanischer Frömmigkeit macht. Das „Awakening“ wird damit zur ersten großen Aufgabe des Theologen Edwards. Er verfasst hierzu eine ganze Reihe von Texten15, theologisch von herausragender Bedeutung ist darunter die große Untersuchung „A Treatise Concerning Religious Affections“ (1746).16 Bereits der Titel zeigt an, dass hier von einer für die Erweckungsbewegung zentralen Erscheinung die Rede ist: von den Emotionen, den Affekten. Die Emotionalität war das umstrittenste Phänomen des „Awakenings“; während sie für die einen im Vordergrund stand, war sie für die andern der Hauptgrund, sich von den Erweckungskampagnen zu distanzieren. Für Edwards, das macht er gleich zu Anfang seines Traktats deutlich, gehören Emotionen untrennbar zur Religiosität hinzu: „True religion, in great part, consists in holy affections“17. Dieser Satz muss von Edwards’ Religionspsychologie her verstanden werden, in welcher er zwei seelische Vermögen unterscheidet, den Verstand (understanding) und die Neigung (inclination bzw. will). Während der Mensch mit Hilfe seines Verstandes erkennt, reflektiert und urteilt, ————— 14

NOLL, God, 44: „The Awakening marked a transition from clerical to lay religion, from the minister as an inherited authority figure to self-empowered mobilizer, from the definition of Christianity by doctrine to its definition by piety, and from state church encompassing all of society to a gathered church made up only of the converted.“ 15 Neben dem schon genannten „Faithful Narrative“ sind vor allem wichtig die Predigtreihen „Charity and Its Fruits“ (1738; WJE 8, 123−397) und „History of the Work of Redemption“ (1739; WJE 9) sowie die Abhandlungen „Distinguishing Marks of a Work of the Spirit of God“ (1741) und „Some Thoughts on the Revival in New England“ (1743; beide WJE 4). 16 WJE 2. Seitenangaben im Text. Zum Folgenden vgl. auch M. ZEINDLER, Gott und das Schöne. Studien zur Theologie der Schönheit, FSÖTh 68, Göttingen 1993, 235ff. Ergänzend zu „Religious Affections“ ist besonders die Predigt „A Divine and Supernatural Light, Immediately Imparted to the Soul by the Spirit, Shown to be Both a Scriptural and Rational Doctrine“ (WJE 17, 409−427) zu beachten. 17 WJE 2, 95.

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Jonathan Edwards: Calvin in der Neuen Welt

ist die Neigung die Fähigkeit, „by which the soul does not merely perceive and view things, but is in some way inclined with respect to the things it views or considers“18. Ihren Sitz hat die Neigung – sei es in der positiven Form der Zustimmung oder der negativen Form der Ablehnung – im Herzen. Als „affections“ bezeichnet Edwards die stärkeren, lebendigeren Neigungen, welche den Menschen erst zur Aktivität bewegen − nur dank der Affekte wählt und handelt der Mensch überhaupt. Da die Affekte einerseits Erkenntnis voraussetzen, diese andererseits auch mitbestimmen, sind sie das eigentliche Personenzentrum, von dem aus sich das menschliche Weltund Gottesverhältnis organisiert. Damit wird Edwards’ Sicht der Religion verständlich: Dem Gott, der den Menschen erschafft und erlöst, kann dieser nicht im Modus des indifferent-neutralen Wissens gegenüberstehen, allein angemessen ist Gott, dass der Mensch sich ihm innerlich aktiv zuneigt. Damit kann das Gottesverhältnis nur ein von Emotionen bestimmtes Verhältnis sein. Mehr noch: „The things of religion are so great, that there can be no suitableness in the exercises of our hearts, to their nature and importance, unless they be lively and powerful.“19 Religiöse Affekte müssen aufgrund ihres Gegenstandes starke Affekte sein. Im Rahmen von Edwards’ Anthropologie meint dies, dass der Mensch von seinem Personenzentrum her mit all seinen Vermögen auf Gott ausgerichtet sein soll. Bei Edwards ist die Frage nach den religiösen Affekten deshalb die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott überhaupt. Schon an diesen grundlegenden Überlegungen fällt auf, wie stark Edwards die religiösen Affekte mit ihrem Objekt, d.h. mit dem in ihnen erfahrenen Gott verknüpft. Damit ist bereits die Methodik der daran anschließenden Untersuchungen gegeben: Wahr sind religiöse Affekte durch ihren Objektbezug, dadurch also, dass das erfahrende Subjekt in ihnen auf den wahren Gott bezogen wird. In einem ersten Hauptteil setzt sich Edwards zuerst mit zwölf Merkmalen auseinander, welche nicht als sichere Zeichen für wahre Affekte gelten können. Dazu gehören körperliche Effekte, ihr Grad und ihre Dauer oder das Gefühl von Gewissheit. Aber auch die Tatsache, dass die Affekte durch biblische Texte bewirkt sind, dass sie zur Freude führen und in großer Vielfalt auftreten, auch dies lässt nicht verlässlich auf ihre Wahrheit schließen. In einem zweiten Hauptteil wird dann – wiederum anhand von zwölf Zeichen – ausgeführt, welche Affekte stattdessen als wahr gelten können. Hier wird unübersehbar deutlich, dass Edwards’ Betonung der notwendigen Affektivität von Religion das Gegenteil eines religiösen Subjektivismus ist, unterstreicht er doch gleich zu Beginn, dass wahre religiöse Affekte eine Wirkung des Heiligen Geistes sein müssen: „Affecti————— 18 19

Ebd., 96. Ebd., 99f.

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ons that are truly spiritual and gracious, do arise from those influences and operations on the heart, which are spiritual, supernatural and divine.“20 Dass die fraglichen Affekte durch den Heiligen Geist gewirkt sind, zeigt sich daran, dass sie sich auf Gott selbst beziehen, und zwar auf Gott um seiner selbst willen: The first objective ground of gracious affections, is the transcendently excellent and amiable nature of divine things, as they are in themselves; and not any conceived relation they bear to self, or self-interest.21

Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen wahren und falschen religiösen Affekten ist demnach die rechte Ordnung von Gottesliebe und Selbstliebe. Wahre religiöse Affekte gründen in der göttlichen Herrlichkeit und Liebenswürdigkeit selbst: „Those affections that are truly holy, are primarily founded on the loveliness of the moral excellency of divine things.“22 Nur jene Affekte können mithin theologisch als wahr gelten, in denen sich ein wirkliches Gottesverhältnis spiegelt. Das Gottesverhältnis kommt seinerseits im rechten Weltverhältnis zum Ausdruck: Während falsche Affekte sich selbst genügen, erweisen die wahren ihre Wahrheit in christlicher Praxis. So ist schließlich das geheiligte Leben das wichtigste Zeichen (the chief sign) dafür, dass ein Mensch sich im Stand der Gnade befindet. Religiöse Affekte sind deshalb in dem Maße wahr, in dem sie sich selbst transzendieren, einmal in Richtung auf Gott, zum andern in Richtung auf den Mitmenschen. Unschwer lässt sich diese Denkfigur von Jonathan Edwards als Manifestation calvinistischer Theologie identifizieren. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, würde man von einem „Objektivismus“ im Gegenzug zu einem erwecklichen Subjektivismus sprechen. Edwards ist vielmehr gerade darin konsequent calvinistisch, dass er die Frage nach den religiösen Affekten konsequent als Frage nach dem rechten Gottesverhältnis behandelt, d.h. im Kontext eines relationalen theologischen Denkens. Das Problem erwecklicher Emotionalität sind für ihn nicht die Emotionen selbst, da – wie gezeigt – Religiosität nicht ohne Affekte denkbar ist. Emotionen werden dort problematisch, wo sie nicht mehr Ausdruck menschlicher Bezogenheit auf Gott sind, sondern gerade Ausdruck der Isolation gegen Gott. Wo dies der Fall ist, perpetuieren auch religiöse Affekte bloß die sündige menschliche Verschlossenheit gegen den Schöpfer und Versöhner. Wahre religiöse Affekte dagegen sind ein gewiss machendes Zeichen dafür, dass der Mensch von Gottes Gnade ergriffen und auf ihn ausgerichtet worden ist. Sie sind nichts ————— 20 21 22

Ebd., 197. Ebd., 240. Ebd., 253.

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anderes als die psychologische Manifestation der Tatsache, dass der Mensch – in der Terminologie Calvins – Gott allein die Ehre gibt. Edwards’ theologische Klarheit zeigt sich freilich darin, dass es bei ihm an keiner Stelle zu einer Verwechslung oder Vermischung von psychologischer und theologischer Argumentation kommt. Dass ein religiöser Affekt Ausdruck wahrer Gottesbeziehung ist, lässt sich an ihm selbst nicht ablesen, sondern allein am Objekt, auf das er sich bezieht. Die Wahrheit religiöser Affekte ist mithin kein Gegenstand empirischer Feststellung, sondern allein des Glaubens.

3. Calvinistische Theologie im Horizont der Aufklärung 3.1 Der philosophische und theologische Kontext In den meisten seiner theologischen Werke setzt sich Jonathan Edwards kritisch mit Gedanken einer Gegnerschaft auseinander, die er als „Arminians“ bezeichnet. Mit dieser Bezeichnung sind freilich in den wenigsten Fällen ausdrückliche Anhänger des niederländischen Theologen Jakob Arminius (1560−1609) gemeint, der namentlich die calvinistische Prädestinationslehre bekämpft hatte. Der Ausdruck bezieht sich weder auf eine fest umrissene Gruppe von Gegnern noch auf Argumentationszusammenhänge, die klar einzelnen Vertretern zurechenbar wären.23 Edwards meint, wenn er von „Arminians“ spricht, einen Komplex theologischer Positionen, welche darin übereinkommen, dass sie zentrale Aussagen traditionell calvinistischer Theologie abschwächen oder gar verabschieden. Nicht selten taucht deshalb als Gegenbegriff zu den „Arminians“ derjenige der „Calvinists“ auf (wobei auch hier in der Regel Differenzierungen fehlen). Robert Jenson ist der Auffassung, dass mit dem Arminianismus von Edwards und seinen Zeitgenossen keine neue theologische Richtung umschrieben wurde, sondern dass der Begriff die Bezeichnung für eine Erscheinung war, die anderswo und zu anderen Zeiten unter anderen Namen schon aufgetaucht war. „Broadly, ‚Arminianism‘ was New England’s name for a kind of religion that appears in all times and places of the church, and has other times been known as ‚semi-Pelagianism‘, ‚synergism‘, etc.“24 Damit ist bereits angedeutet, dass es sich bei den Kontroversen, in welche Edwards verwickelt war, um mehr handelte als um innercalvinistische —————

23 Zur sehr vielfältigen, unter dem Begriff der „Arminians“ zusammengefassten Gegnerschaft in „Freedom of the Will“ N. FIERING, Jonathan Edwards’s Moral Thought and Its British Context, Eugene 1981, 292f. 24 JENSON, Theologian, 53.

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Klärungsprozesse. Auch wenn dabei teilweise klassische Themen reformatorischer Theologie zur Debatte standen (Prädestinationslehre, Sündenlehre), so erhielten auch diese Debatten in der damaligen Zeit einen spezifischen Akzent. Andere der Themen Edwards’, insbesondere seine Diskussion ethischer Grundsatzfragen, lassen sich nur aus ihrem Kontext heraus verstehen. Dieser Kontext ist das Zeitalter der Aufklärung – Jonathan Edwards betreibt seine Theologie im Horizont aufklärerischer Theologie und Philosophie.25 Mit eindrücklicher Präzision ortet er die fundamentalen theologischen Fragen seines Zeitalters und versucht darauf, aus seiner calvinistischen Perspektive die angemessenen Antworten zu formulieren. Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die amerikanischen Kolonien im 18. Jahrhundert keineswegs eine isolierte geistige Welt darstellten, sondern dass sie durch regen Austausch von Büchern und Zeitschriften, aber auch durch vielfältige persönliche Kontakte eingebettet waren in einen internationalen intellektuellen Diskurs.26 Edwards ist nicht ein einsames Wunderkind mitten in der Wildnis, als das er zeitweise gesehen wurde!27 Er ist ein hervorragender, weithin anerkannter Exponent in einer ausgedehnten Debatte. Obwohl innerhalb der Aufklärung markante Differenzierungen bestehen, kann man sie zusammenfassend interpretieren als eine geistige Bewegung, in welcher dem menschlichen Geist, der menschlichen Vernunft eine neue, deutlich aufgewertete Rolle zuerkannt wird. Bisher unhinterfragte Traditionen hören auf, als Traditionen Autorität zu haben, und müssen stattdessen vor dem Forum der Vernunft verantwortet werden. Das musste nicht zwingend eine antireligiöse Einstellung nach sich ziehen – gerade die englische Aufklärung hatte der Religion gegenüber eine weit moderatere Haltung als etwa die französische. Trotzdem waren die Auswirkungen auf das hergebrachte theologische Denken erheblich. Die Bibel, bislang als inspiriertes Gotteswort fraglose Autorität, wurde der kritischen Vernunft und dem historischen Denken unterworfen. Kirchliche Religion geriet unter den Verdacht, für Irrationalität, Aberglaube und klerikale Tyrannei zu stehen. Naturwissenschaft und säkulare Geschichtsbetrachtung führten zu Auffassungen von Natur und Geschichte, für die man auf religiöse Erklärungen grundsätzlich verzichten konnte, und auch für die Moral suchte man nach nichtreligiösen Begründungen. ————— 25

Dazu auch A. ZAKAI, The Age of Enlightenment, in: STEIN (Hg.), Cambridge Companion,

80−99.

26 Zu Edwards’ intellektuellem Hintergrund FIERING, Moral Thought, 13−47; MARSDEN, Edwards, 60−64. 27 So vor allem P. MILLER in seiner ansonsten bahnbrechenden Biographie: Jonathan Edwards, New York 1949, 52ff.

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Für einen theologisch reflektierenden Geist wie Edwards musste dies bedeuten: Gott und Welt werden getrennt, der Mensch emanzipiert sich von Gott und beansprucht die Herrschaft über Welt und Geschichte. Die aufklärerische Weltdeutung war für ihn – selbst wo sie sich noch als religiös verstand – letztlich eine gottlose Deutung. Man kann Jonathan Edwards’ theologisches Projekt von hier aus als konsequenten Versuch interpretieren, eine Alternative zur Perspektive der Aufklärung zu bieten. In seinen Auseinandersetzungen mit Fragen der Natur, der Geschichte und vor allem der Moral geht es ihm zuletzt immer darum, Gott und Welt zusammenzudenken. Dabei argumentiert er nicht ausschließlich theologisch, sondern entfaltet seine Positionen häufig auch im philosophischen Diskurs. So erhebt er den Anspruch, auf die Fragen der Zeit nicht nur plausible Antworten, sondern die eigentlich überzeugenderen Antworten zu liefern. Die wohl typischste Ausprägung aufklärerischer Theologie und damit der deutlichste Kontrast zu Edwards’ Entwurf ist der Deismus − Edwards war mit dessen wichtigsten Werken vertraut. Der Deismus wurde Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts in England entwickelt.28 Er geht davon aus, dass der eine, gütige Gott die Welt mit Hilfe der Naturgesetze gut geordnet hat. Eine spezielle Vorsehung und insbesondere Wunder gibt es nicht, würden diese doch gegen die gesetzlich geordnete Welt verstoßen. Deisten gehen weiter davon aus, dass Gott und seine Gebote kraft natürlicher Vernunft erkannt werden können und die Annahme einer speziellen Offenbarung deshalb überflüssig ist. Damit ist auch die traditionelle Annahme einer sündigen Verderbnis des Menschen bestritten. In der wohlgeordneten Welt Gottes gibt es kein radikales Böses. Generell herrscht eine milde, optimistische Sicht von Gott, der Welt und den menschlichen Möglichkeiten. Es überrascht wenig, dass Edwards auf der ganzen Linie gegen diese Auffassung opponiert hat. Denn in ihr werden die Fundamente calvinistischer Theologie einer grundsätzlichen Revision unterzogen. Nicht nur wird die göttliche Autorität der Bibel durch die Autorität der menschlichen Vernunft ersetzt, auch eine allgemeine Sündhaftigkeit und damit die stellvertretende Erlösungstat Christi werden ausgeschlossen, ebenso die ewige göttliche Erwählung oder das Jüngste Gericht. Die unter dem Begriff „Arminians“ subsumierten Gegner Edwards’ sind nur in seltenen Fällen Anhänger des Deismus, in der Regel befinden sie sich im breiten Spektrum gemäßigter calvinistischer Positionen. Der Deismus markiert aber die äußerste Möglichkeit dessen, was unter den Voraussetzungen aufklärerischen Denkens theologisch denkbar geworden war, und damit auch die äußerste Mög—————

28 Als eigentliche „Bibel des Deismus“ gilt M. T INDALE, Christianity as Old as the Creation, London 1730.

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lichkeit dessen, was bei einer Aufweichung einer streng theozentrischen Theologie zu erwarten oder – je nach Standpunkt – zu befürchten war. 3.2 Unfreier Wille und Erbsünde Die beiden Traktate „Freedom of the Will“ und „Original Sin“ sind Edwards’ große Beiträge zur Verteidigung der Grundlagen reformierter Theologie. Die Frage des freien Willens war bereits in der Reformation Gegenstand heftiger Debatten, am bekanntesten zwischen Erasmus und Martin Luther. In seiner Schrift „De servo arbitrio“ (1525) streicht Luther hervor, dass, wollte man in Bezug auf das ewige Heil einen freien Willen des Menschen unterstellen, die Gratuität dieses Heils verspielt würde – die Annahme des freien Willens impliziert notwendig Werkgerechtigkeit. Bereits Luther ist deshalb Verfechter einer strengen Prädestinationslehre.29 Der Zusammenhang zwischen sola gratia und Prädestinationslehre wird von Calvin systematisch ausgebaut,30 und die Lehre von der Erwählung etabliert sich in der Folge als ein zentrales Thema reformierter Theologie.31 In dieser Tradition bewegt sich Jonathan Edwards mit „Freedom of the Will“ (voller Titel: „A Careful and Strict Inquiry into the Modern Prevailing Notions of that Freedom of the Will, Which is Supposed to be Essential to Moral Agency, Virtue and Vice, Reward and Punishment, Praise and Blame“, 1754).32 Obwohl die Willensfreiheit kein neues Thema war, bekam sie in der Moralphilosophie seiner Zeit eine neue Dringlichkeit. Es wurde in Philosophie und Theologie zunehmend Konsens, dass ein selbstbestimmter Wille die unverzichtbare Voraussetzung für verantwortliches und damit tugendhaftes Handeln sei, und es war entsprechend vielen nicht mehr einsichtig, wie unter der Voraussetzung einer göttlichen Vorherbestimmung moralische Verantwortlichkeit denkbar sein sollte. Edwards’ Argumentationsziel ist es denn auch, die Vereinbarkeit von Vorherbestimmung und Verantwortlichkeit zu demonstrieren. Anders, so seine Überzeugung, lassen sich theologische Aussagen wie die völlige Sündhaftigkeit des Menschen (total depravity), Gottes bedingungslose Erwählung (absolute, eternal, personal election), begrenzte Versöhnung in Christus (limited atonement), unwiderstehliche Gnade (irresistible grace) und die Perseveranz der Heiligen

————— 29

WA 18, 705−733. J. CALVIN, Inst. (1559), III,21–24; CStA 4, 92–149 (Von der ewigen Erwählung Gottes, (1551) 1562). 31 Vgl. M. ZEINDLER: Erwählung. Gottes Weg in der Welt, Zürich 2009, 40−53. 32 WJE 1. 30

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(perseverance of the saints) nicht durchhalten.33 Edwards fasst das Anliegen seines Traktats in einem Brief folgendermaßen zusammen: Die Lehre vom selbstbestimmten Willen als Ursache alles moralisch Guten oder Bösen „tends to prevent any proper exercise of faith in God and Christ, in the affair of our salvation, as it tends to prevent all dependence upon them“34. Edwards begnügt sich nicht damit, von der Unvereinbarkeit des freien Willens mit zentralen theologischen Sätzen her zu argumentieren, sondern tritt auch in die philosophische Auseinandersetzung ein, um auch auf dieser Ebene die Unhaltbarkeit der gegnerischen Position aufzuweisen: Der freie Wille soll sowohl mit Schrift wie mit Vernunftgründen widerlegt werden.35 Edwards beginnt seine Abhandlung mit einer Definition dessen, was den Willen bestimmt: „It is that motive, which, as it stands in the view of the mind, is the strongest, that determines the will“36. Oder noch kürzer: „The will always is as the greatest apparent good is.“37 Der Wille richtet sich stets nach dem für ihn stärksten Motiv, und dieses wiederum ergibt sich aus dem, was einem Subjekt als höchstes Gut erscheint. Aus dieser Definition werden im Folgenden die beiden tragenden Argumente entwickelt. Zum einen zeigt Edwards, dass, wenn jedem Willensakt ein Motiv zu Grunde liegt, keine Aktivität des Willens existiert, welcher nicht ein motivierendes Bestimmtwerden vorausginge. Zum andern macht Edwards deutlich: Will man den Willen anders, ohne ein motivierendes Bestimmtwerden, konzipieren, dann ist man gezwungen, den freien Willen im Sinne völliger Indifferenz zu denken. Damit wird aber die Willensentscheidung zum reinen Willkürakt und zum Gegenteil einer verantwortlichen Tat. Die Auffassung, dass das moralische Subjekt nur ein durch moralische Motive gebundenes Subjekt sein kann, untermauert Edwards mit dem theologischen Argument, dass Gott selbst durch das moralisch Gute schlechthin gebunden und gerade dadurch höchstes moralisches Subjekt ist. Die stärkste theologische Begründung seiner Ablehnung des freien Willens findet Edwards aber im Gedanken des Vorherwissens Gottes. Ein freier menschlicher Wille würde bedeuten, dass nicht allein Gott, sondern auch der Mensch Anfänge setzen kann, und damit würde eine Unbestimmtheit der Geschichte konstituiert, die schlechthin unvereinbar ist mit dem Be————— 33 Ebd., 432−436. Unschwer erkennt man hier die sog. „Westminster Standards“, wie sie im Anschluss an Westminster Confession und Larger and Shorter Westminster Catechism (1647) bezeichnet wurden. Die Westminster Standards markierten in der angelsächsischen Welt lange Zeit die Eckwerte reformierter Orthodoxie. 34 WJE 16, 721. 35 Ebd., 326: „Whether these things are agreeable to Scripture, let every Christian, and every man who has read the Bible, judge: and whether they are agreeable to common sense, let everyone judge, that have human understanding in exercise“. 36 WJE 1, 141. 37 Ebd., 142.

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kenntnis zu einem göttlichen Vorherwissen allen Geschehens. Mehr noch, Gott würde tendenziell als Subjekt der Geschichte ausgeschlossen: „If there be no absurdity or difficulty in supposing one thing to start out of nonexistence, into being, of itself without a cause; then there is no absurdity or difficulty in supposing the same of millions of millions“38. Damit sind wir beim eigentlichen Kernanliegen von Edwards’ Traktat: Nicht auf den Gedanken verzichten zu müssen, dass Gott der Herr der Welt ist. Der übliche Vorwurf an die Bestreiter des freien Willens lautet meist, dass mit einer solchen Bestreitung unausweichlich ein Determinismus etabliert werde. Diesem Vorwurf begegnet Edwards mit der Unterscheidung von natürlicher und moralischer Notwendigkeit (natural necessity und moral necessity). Wo ein Mensch durch physischen Einfluss zu bestimmten Handlungen genötigt wird, kann man in der Tat nicht von freiem Handeln sprechen. Anders liegen die Dinge im Falle der moralischen Notwendigkeit: Wo ein Mensch aufgrund seines aufrechten Charakters nicht anders kann, als moralisch zu handeln, würde niemand davon sprechen, dass er in seinem Handeln unfrei sei. Für Edwards ist klar: So lange ein Mensch fähig bleibt, zu tun, was er will, so lange ist er in seinem Handeln frei und verantwortlich. Einen freien Willen im Sinne vollkommener Indifferenz anzunehmen, ist für ihn deshalb nicht bloß unvereinbar mit der Idee eines verantwortungsfähigen Subjekts, es bedarf dieser Annahme auch nicht. Im Gegenteil: Erst der durch Gottes Gebot gebundene Mensch ist verantwortungsvoller, moralischer Mensch. Nach Abschluss von „Freedom of the Will“ plante Edwards eine Serie von Abhandlungen, in denen weitere umstrittene calvinistische Lehren verteidigt werden sollten. Höchste Dringlichkeit hatte nach seinem Dafürhalten die Sündenlehre, so dass er als nächste größere Schrift die Abhandlung „Original Sin“ auszuarbeiten begann (Voller Titel: „The Great Christian Doctrine of Original Sin Defended“).39 Die Ablehnung der Erbsünde bildet für die „Arminians“ das Gegenstück zu ihrer Befürwortung eines freien Willens: Auch die Erbsünde widerspricht der menschlichen Verantwortlichkeit, und überdies steht die Idee einer vererbten Schuldhaftigkeit quer zur rationalen Auffassung individueller Zurechnung von Schuld. Generell wurde die traditionelle Lehre von der Erbsünde als Ausdruck eines pessimistischen Menschenbildes empfunden, das im Widerspruch stand zum Fortschrittsglauben der eigenen Gegenwart. Auf diesem Hintergrund geht es Edwards um den Nachweis zweier Sachverhalte, erstens der angeborenen Sündhaftigkeit des Menschen und zweitens der Anrechnung der Schuld Adams an die gesamte Menschheit. ————— 38 39

Ebd., 183. WJE 3. Zum historischen Umfeld der Schrift MARSDEN, Edwards, 447−451.

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Obwohl Edwards im Sündentraktat ausführlicher als in „Freedom of the Will“ biblisch und theologisch argumentiert, führt er daneben erneut Vernunftgründe an; so enthält der erste Teil neben „testimonies of Holy Scripture“ auch „evidences of original sin from facts and events, as found by observation and experience“40. In diesem Teil führt Edwards zahlreiche Beobachtungen aus Geschichte und Gegenwart an, welche die Überzeugung belegen, dass der Mensch von Natur aus eine Neigung zum Bösen hat. Insbesondere der „extreme degree of folly and stupidity in matters of religion“41 belegt die Verderbtheit der menschlichen Natur. Zwar gibt es unter den Menschen auch Gerechtigkeit, es überwiegt aber die Ungerechtigkeit, und selbst wenn es umgekehrt wäre, würde dies als Argument zu Gunsten der menschlichen Natur so viel taugen wie die Aussage, ein beschädigtes Schiff werde bei der Überfahrt über den Atlantik „sail above water more hours than it will be sinking“42. Kurz, eine unvoreingenommene Betrachtung der Geschichte bestätigt in überreichem Masse die biblische Aussage, dass der Mensch von Gott abgefallen und damit ein Sünder ist. Der zeitgenössische anthropologische Optimismus widerspricht darum nicht allein der Bibel, er verschließt auch die Augen vor der Realität. Die Frage, wie denn die Sünde Adams und Evas der Nachwelt vererbt werden konnte, beantwortet Edwards mit der Erklärung des Sündenfalls: Ursprünglich waren die Menschen mit zwei Arten von „principles“ erschaffen, den tieferen, natürlichen, „being the principles of mere human nature; such as self-love, with those natural appetites and passions, which belong to the nature of man, in which his love to his own liberty, honor and pleasure, were exercised“43, und den höheren, übernatürlichen, „that were spiritual, holy and divine, summarily comprehended in divine love; wherein consisted the spiritual image of God, and man’s righteousness and true holiness“44. Nach dem Fall hat Gott dem Menschen die zweite Art von Prinzipien entzogen, so dass dieser fortan allein noch von seiner Eigenliebe regiert wird. Mit dieser Interpretation des Sündenfalls bewegt sich Edwards im Rahmen einer langen, von Augustin begründeten theologischen Tradition. Schwieriger als diese urgeschichtliche Erklärung gegenwärtiger Sündigkeit war der Nachweis zu führen, dass Gott auch Adams Schuld den nachgeborenen Menschen anrechnet. Dies, so Edwards, hat darin seinen Grund, dass Gott die Menschheit als eine kollektive Person betrachtet, so als ob „Adam and all his posterity had coexisted“45. Er gibt aber zu, dass an ————— 40 41 42 43 44 45

WJE 3, 106. Ebd., 146. Ebd., 129. Ebd., 181. Ebd. Ebd., 391 Anm. 1.

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dieser Stelle menschliche Reflexion an ihre Grenzen stößt und wir zuletzt genötigt sein könnten, uns mit dem biblischen Zeugnis zu begnügen. Der rationale Anspruch von „Original Sin“ ist damit weniger hoch als in „Freedom of the Will“; war Edwards dort der Meinung, dass sein theologischer Standpunkt auch aus Vernunftgründen dem seiner Gegner klar überlegen sei, so will er im Sündentraktat lediglich noch demonstrieren, dass die Lehre von der Erbsünde nicht unvernünftig ist. Auch dies ist freilich im Kontext seiner Zeit kein geringer Anspruch. 3.3 Die Schönheit wahrer Tugend In „Freedom of the Will“ und „Original Sin“ unternimmt es Jonathan Edwards, traditionelle calvinistische Lehrbestände gegenüber der Kritik seiner Zeit zu verteidigen. Dass sein Projekt sich in Apologetik nicht erschöpft, zeigt sich an seinem nächsten Werk, wo er nun im Gegenzug gängige philosophische Ideen einer theologischen Kritik unterzieht. Im Zentrum von Edwards’ Interesse steht der Begriff der Tugend. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war von britischen Philosophen eine von religiösen Begründungen abgelöste Theorie der Tugend entwickelt worden, für welche eine neue Beschreibung des „moral sense“ fundamental war. Als erster wurde der Terminus „moral sense“ von Anthony Ashley Cooper, third Earl of Shaftesbury, in die Diskussion eingebracht; er bezeichnet bei ihm die menschliche Fähigkeit „to be capable of Virtue, and to have a Sense of Right and Wrong“.46 Weitere wichtige Vertreter der Theorie eines dem Menschen angeborenen „moral sense“ waren Frances Hutcheson und David Hume, deren einschlägige Werke Edwards bekannt waren. Shaftesbury und besonders Hutcheson gehörten auch zu denen, welche von einer „beauty of virtue“ sprachen, Ethik also in ästhetischen Kategorien zu explizieren versuchten. Dies war im 18. Jahrhundert nicht unüblich: Die Tugend schön zu nennen hieß, auf die Symmetrie, Proportion und Harmonie eines tugendhaften Wandels hinzuweisen.47 In seiner Dissertation „Concerning the Nature of True Virtue“ schaltet Edwards sich in diese moralphilosophische Diskussion ein.48 Er bedient sich weitgehend der Terminologie seiner Gegner, prägt sie aber an entscheidender Stelle um und distanziert sich damit von den dieser Terminologie zu Grunde liegenden Prämissen. Er beginnt mit der Feststellung, dass die Fra————— 46

Zit. nach ZAKAI, Enlightenment, 92. Zur moralischen Schönheit im 18. Jahrhundert und ihrer Herkunft vgl. FIERING, Moral Thought, 108−122. 48 1765 (posthum), WJE 8, 537−628. 47

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ge nach der wahren Tugend (true virtue) identisch sei mit der Frage, „what that is which renders any habit, disposition, or exercise of the heart truly beautiful“49. Als nächstes unterscheidet er zwischen einer allgemeinen und einer partikularen Schönheit, wobei letztere lediglich in einem begrenzten Bereich als schön erscheint, erstere dagegen auf das gesamte Seiende bezogen. Wahre Tugend kann nur in diesem ersteren Sinne schön sein: „True virtue most essentially consists in benevolence to Being in general“50. Weil das Höchste und Beste, das Sein alles Seins Gott ist, „’tis evident that true virtue must chiefly consist in love to God“51. Liebt der Mensch primär das umfassende Sein Gott, dann schließt dies aus, dass er innerhalb des Geschaffenen seine Liebe nur auf einen begrenzten Bereich richtet. Das bedeutet aber auch, dass wahre Tugend allein durch die Liebe zu Gott garantiert wird: „[I]t is manifest that no affection limited to any private system, not dependent on, nor subordinate to Being in general can be of the nature of true virtue.“52 Was die zeitgenössischen Moralphilosophen als „moral sense“ bezeichnen, kann deshalb nur Schönheit im Sinne einer „secondary beauty“ sein, bleibt doch eine von Gott absehende Moralität stets auf eine begrenzte Realität bezogen. Wahre Tugend erschließt sich allein durch den Glauben an Gott: „Unless we will be atheists, we must allow that true virtue does primarily and most essentially consist in a supreme love to God; and that where this is wanting, there can be no true virtue.“53 Religion und Moral gehören untrennbar zusammen, weil wahres moralisches Handeln in Religion gründet. 3.4 Natur und Geschichte – sub specie Dei Bei seinem Bemühen, der aufklärerischen Trennung von Gott und Welt zu begegnen, greift Edwards auch in den Bereich der Naturphilosophie aus. Die wissenschaftliche Erfassung der Natur ausgangs des 17. Jahrhunderts hatte dazu geführt, dass diese zunehmend mechanistisch verstanden wurde, als rekonstruierbarer Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen, von Kräften und Gegenkräften. Auch Gottes Vorsehungshandeln wird in diesem Modell mechanisiert, die Aktivität Gottes erscheint zuletzt reduziert darauf, die Natur konstruiert und in Bewegung gesetzt zu haben. Einmal in Bewegung, funktioniert die Natur von Gott unabhängig. Edwards steht in einer ganz anderen naturphilosophischen Tradition. Er sieht, wie die reformierte ————— 49 50 51 52 53

Ebd., 539. Ebd., 540. Ebd., 550. Ebd., 556. Ebd., 554.

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Theologie seit Calvin, die Welt als Manifestation der Herrlichkeit Gottes, als „theatrum gloriae Dei“54. Entsprechend befürchtet er, dass durch die mechanistische Weltdeutung die Natur aufhört, Manifestation der Macht und Güte Gottes zu sein. In einer Abhandlung über Atome (On Atoms) schreibt er: „[T]here is no such thing as mechanism“, sofern das bedeutet, dass „bodies act each upon other, purely and properly by themselves“55. Der Grund für diese Bestreitung: „The very being, and the manner of being, and the whole of bodies depends immediately on the divine power.“56 Daraus leitet Edwards ab, dass es Gott ist, der die Atome zusammenhält. Generell wendet er sich gegen die Annahme eigenwirksamer, von Gott unabhängiger Naturgesetze: Was wir Naturgesetze nennen, ist lediglich „the stated methods of God’s acting with respect to bodies“.57 Und schließlich denkt Edwards die Natur zwar – wie erwähnt – als Manifestation von Macht und Güte Gottes, sie bleibt dabei aber nicht getrennt von Gottes Handeln in der Heilsgeschichte, sondern ist aufs engste darauf bezogen. Es ist deshalb durchaus konsequent, wenn er schreibt, dass jedes Atom im Universum „is managed by Christ as to be most to the advantage of the Christian“.58 In eine ähnliche Richtung wie seine Naturphilosophie zielt Edwards’ theologische Konzeption der Geschichte. Er besaß zahlreiche historische Werke seiner Zeit und wusste um ihre Tendenz, die Geschichte immer ausschließlicher als Ort menschlicher Aktivität zu interpretieren und in ihr allenfalls noch eine allgemeine göttliche Vorsehung am Werk zu sehen. Der hauptsächliche Nutzen der Geschichtsschreibung, notiert David Hume, besteht darin, „to discover the constant and universal principles of human nature, by showing men all varieties of circumstances and situations“, damit die Menschen „become acquainted with the regular springs of human action and behaviour“59. Gegen eine solch säkulare Sicht hält Edwards daran fest, dass sich in der Geschichte primär Gottes versöhnendes Handeln realisiert und dass dieses für ein glaubendes Auge auch an ihr ablesbar ist. Geschichte ist für ihn wesentlich Heilsgeschichte, Geschichte der Durchsetzung der in Jesus Christus erworbenen Erlösung der Menschheit, der „rise and continued progress of the dispensations of grace toward fallen mankind“60. Im Zentrum von Edwards’ Interpretation der Geschichte stehen die wiederholten Ausgießungen des Heiligen Geistes, weswegen spirituelle Aufbrüche wie die „revivals“ und Erweckungen für eine theologische Sicht der Ge————— 54 55 56 57 58 59 60

J. CALVIN, Inst. (1559), I,14,20. WJE 6, 214. Ebd., 235. Ebd., 216. WJE 13, 184. Essays, Moral Political and Literary, hg. von T.H. GREEN, 2 vols., London 1882, II, 389. WJE 9, 285.

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schichte von besonderem Interesse sind: „Religious awakening is the essence of providential history and the main manifestation of divine agency in worldly time.“61 3.5 Die Schönheit Gottes als Ziel der Schöpfung Höhepunkt des Edwards’schen Projekts, Gott und Welt konsequent zusammenzudenken, ist seine posthum publizierte Abhandlung „A Dissertation Concerning the End for Which God Created the World“.62 Ausgehend von der Feststellung, dass für den höchsten Gott nur das höchste Gut oberstes Ziel (ultimate end) des Wollens und Tuns sein könne, schließt Edwards, dass für diesen Gott allein er selbst als das oberste Ziel in Frage komme. In Gott besteht eine unendliche Fülle alles möglichen Guten – „a fullness of every perfection, of all excellency and beauty, and of infinite happiness“63. Diese Fülle ist aber kommunikabel, und es ist deshalb diesem Guten höchst angemessen, dass Gott es nach außen fließen lässt. Diese göttliche Überfülle bildet den Grund der Schöpfung: a disposition in God, as an original property of his nature, to an emanation of his own infinite fullness, was what excited him to create the world; and so that the emanation itself was aimed at by him as a last end of the creation.64

Edwards begegnet den Einwänden, die eine solche Idee provoziert, gleich selbst. Es sind im Wesentlichen zwei. Der eine Haupteinwand lautet dahin, mit der Beschreibung der Schöpfung als Emanation der göttlichen Fülle werde die Unabhängigkeit Gottes vom Geschaffenen eingezogen. Hier kritisiert Edwards bei seinen Kritikern, dass sie Gottes Unabhängigkeit gleichsetzten mit Beziehungslosigkeit. Zwar sei Gott von seiner Schöpfung nicht abhängig im dem Sinne, dass diese ihm etwas hinzufügen oder an ihm etwas verändern könne. Das bedeute aber nicht, dass Gott vom Geschaffenen nicht berührt werde: [I]t don’t hence follow, nor is it true, that God has no real and proper delight, pleasure or happiness, in any of his acts or communications relative to the creature; or effects he produces in them; or in anything he sees in the creature’s qualifications, dispositions, actions and state.65

————— 61 62 63 64 65

ZAKAI, Enlightenment, 91. 1765, WJE 8, 405−536. Ebd., 432f. Ebd., 435. Ebd., 446.

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Der zweite Hauptvorwurf ist der, dass mit der Idee Gottes als oberstem Ziel seiner Schöpfung dieser Gott vollkommen selbstbezüglich gedacht werde. Darauf entgegnet Edwards, das Gute für die Schöpfung und Gottes Ziel seien einander nicht entgegengesetzt: Their [der Schöpfung] excellency and happiness is nothing but the emanation and expression of God’s glory: God in seeking their glory and happiness, seeks himself: and in seeking himself, i.e. himself diffused and expressed (which he delights in, as he delights in his own beauty and fullness), he seeks their glory and happiness.66

Indem Gott sich selbst als sein oberstes Ziel anstrebt, erfüllt sich das Ziel seiner Geschöpfe. In einem letzten Argumentationsschritt umschreibt Edwards das immanente Gute Gottes noch näher. Dieses besteht aus drei Eigenschaften: „his infinite knowledge; his infinite virtue or holiness, and his infinite joy and happiness“67. Alle weiteren göttlichen Eigenschaften können auf eine dieser drei reduziert werden. Diese drei Proprietäten sind es denn auch, welche Gott nach außen kommuniziert und in denen das Ziel der Geschöpfe besteht: die Erkenntnis Gottes, die Liebe Gottes und die Freude in Gott. Erkenntnis, Liebe und Freude lassen sich aber noch einmal in einem einzigen Ziel zusammenfassen: Thus we see that the great and last end of God’s works which is so variously expressed in Scripture, is indeed but one; and this one end is most properly and comprehensively called, the glory of God’.68

Die Herrlichkeit Gottes ist der Zweck und das Ziel, wofür Gott die Schöpfung erschaffen hat, und Ziel und Zweck der Schöpfung bestehen deshalb allein darin, Gott zu verherrlichen. Jonathan Edwards hat zwar die Bezeichnung „Calvinist“ akzeptiert, dabei aber betont, dass er in seinem Denken keineswegs von Calvin abhängig sei.69 Die Unabhängigkeit von Edwards’ Denken leuchtet schon bei einer flüchtigen Lektüre ein. Trotzdem erweist er sich gerade hier, wo er die Spitzenaussagen seiner Theologie formuliert, zutiefst als Denker im Geiste ————— 66

Ebd., 459. Ebd., 528. 68 Ebd., 530. 69 Freedom of the Will, WJE 1, 131: „I should not take it at all amiss, to be called a Calvinist, for distinction’s sake: though I utterly disclaim a dependence on Calvin, or believing the doctrines which I hold, because he believed and taught them; and cannot justly be charged with believing in everything just as he taught“. Zu Edwards’ freiem Verhältnis zur reformierten Tradition A. PLANTINGA PAUW, Die Zukunft der reformierten Theologie – Einige Lehren von Jonathan Edwards, in: M. WELKER / D. WILLIS (Hg.), Zur Zukunft der Reformierten Theologie. Aufgaben – Themen – Traditionen, Neukirchen-Vluyn 1998, (525−540) 526−528. 67

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Calvins und des Calvinismus. Der Begriff der Ehre Gottes, das wird in der heutigen Forschung wieder anerkannt, spielt in Calvins Theologie eine wichtige Rolle.70 Es ist aber nicht immer in gleichem Masse bewusst, dass auch bei Calvin im Ehren Gottes das Wohl des Menschen aufs Beste aufgehoben ist.71 Im Übrigen tut Edwards gerade in „End of Creation“ nichts anderes, als die erste Frage und Antwort des „Westminster Shorter Catechism“ auszubuchstabieren, die da lautet: „What is the chief end of man? Man’s chief end is to glorify God, and to enjoy Him for ever.“72 Ein Begriff aus Jonathan Edwards’ Theologie muss am Ende dieser Darstellung noch eigens thematisiert werden: die Schönheit. Es wurde bereits erwähnt, dass ethische Fragen in Edwards’ Tagen häufig in einer ästhetischen Terminologie reflektiert wurden. Dass Edwards selber sich dieser Terminologie bedient, zeugt demnach noch nicht von Originalität. Wir haben aber gesehen, dass der Begriff der Schönheit bei ihm nicht allein im Kontext ethischer Schriften auftaucht; in einer ausführlicheren Untersuchung ließe sich zeigen, dass „beauty“ für Edwards einen eigentlichen Schlüsselbegriff darstellt, der es ihm erlaubt, den Zusammenhang unterschiedlicher theologischer Themen sichtbar zu machen.73 Dabei ist wichtig zu sehen, dass der Begriff der Schönheit – wie bei andern zeitgenössischen Denkern – für Edwards in erster Linie eine bestimmte Gestalt von Beziehung beschreibt: Er bezeichnet harmonische, wohlproportionierte Relationen und ist deshalb für ein durch und durch relationales Denken wie dasjenige von Edwards bestens geeignet. Schön ist zunächst einmal Gott selbst74: In „End of Creation“ nennt Edwards als einen Bedeutungsaspekt der Herrlichkeit Gottes auch ihre Schönheit. In seiner frühen Arbeit „The Mind“ ————— 70

Dazu zusammenfassend CH. STROHM, Calvins theologisches Profil. Humanistische, juristische und theologische Prägungen, in: A. REISS / S. WITT (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Deutschland und Europa, Dresden 2009, (82−89) 88. Zu unterschiedlichen Einschätzungen des Begriffs der Ehre Gottes in der Forschungsgeschichte G. PLASGER, Erkenntnis und Ehre Gottes. Überlegungen zum Verhältnis von zwei zentralen Begriffen bei Johannes Calvin, in: J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY / H.J. SELDERHUIS (Hg.), Reformierte Spuren. Vorträge der vierten Emder Tagung zur Geschichte des reformierten Protestantismus, EBzrP 8, Wuppertal 2004, (103−110) 103f. 71 Sehr klar zeigen dies die Antworten 6 und 7 des Genfer Katechismus: „6. Welches ist nun aber die wahre und rechte Erkenntnis Gottes? Diejenige, bei welcher ihm die angemessene und geschuldete Ehre erwiesen wird. 7. In welcher Weise wird er dann recht geehrt? Wenn wir all unser Vertrauen auf ihn setzen, wenn wir uns bemühen, ihm mit unserem ganzen Leben zu dienen, indem wir seinem Willen gehorchen, wenn wir ihn in allen Nöten anrufen und unser Heil, und was wir sonst uns an Gutem nur wünschen können, bei ihm suchen, und endlich, indem wir mit Herz und Mund ihn als alleinigen Urheber alles Guten anerkennen.“ CStA 2, (10−135) 17 (Genfer Katechismus, 1545). 72 Zit. nach BSRK, 643. 73 R.A. DELATTRE, Beauty and Sensibility in the Thought of Jonathan Edwards, New Haven / London 1968; L.J. MITCHELL, Jonathan Edwards on the Experience of Beauty, Princeton 2003; E.B. HOLIFIELD, Edwards as theologian, in: STEIN (Hg.), Cambridge Companion, 144−161. 74 Ausführlich zum Folgenden ZEINDLER, Gott, 243−250.

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hält er fest: „ʼTis peculiar to God that he has beauty within himself, consisting in being’s consenting with his own being, or the love of himself in his own Holy Spirit.“75 Und kurz vorher steht zu lesen: „As to God’s excellence, it is evident it consists in the love of himself.“76 Gott ist in höchstem Masse schön, und er ist es genau deshalb, weil er in sich vollkommene Liebe ist. Schönheit bezeichnet für Edwards primär eine trinitarische Realität. Dass dies mehr bedeutet als theologische Spekulation, lässt sich an der Beschreibung seiner Bekehrung in Jugendjahren (s.o.) ablesen: Die Schönheit, Herrlichkeit und strahlende Erfreulichkeit Gottes war für ihn zuerst einmal eine spirituelle Wirklichkeit, der Inbegriff erfüllter Gottesbeziehung und der erfahrbare Erweis der Güte des Schöpfers und Erlösers. Dass er die Schönheit in die Mitte seiner Gotteslehre stellt, macht Edwards nun durchaus originell – kein anderer evangelischer Theologe vor und nach ihm hat dies in dieser Intensität und mit derselben systematischen Konsequenz getan.77 Wenn Gott in sich selbst Schönheit ist, dann machen für den Menschen Erfahrung und Erkenntnis dieser Schönheit den Kern seines Gottesverhältnisses aus. Edwards geht so weit zu sagen, dass der natürliche Mensch, ja selbst der Teufel alle Eigenschaften Gottes erkennen könnte, „but only of the beauty of these moral attributes, and that beauty of the other attributes, which arises from it“.78 Der natürliche, nicht vom Heiligen Geist erleuchtete Mensch verfehlt mit der Schönheit die entscheidende Dimension Gottes, seine Liebenswürdigkeit, und er ist deshalb nicht in der Lage, Gott seinerseits zu lieben. Mit dieser Unterscheidung wird deutlich, weshalb der Begriff der Schönheit Gottes für Edwards von solch zentraler Bedeutung ist. „Schönheit“ ist bei ihm zum einen ein theozentrischer Begriff: Schönheit zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich nicht funktionalisieren lässt, sondern ihren Wert ganz in sich selbst hat. Dass Gott schön ist, heißt, dass er für den Menschen nicht aufgrund bestimmter Wohltaten, welche dieser von ihm erwarten dürfte, erfreulich wird, sondern um seiner selbst willen. Der ————— 75

WJE 6, 364. Ebd., 364f. 77 E. FARLEY, Faith and Beauty. A Theological Aesthetic, Aldershot 2001, 43: „In Edwards’ interpretation of philosophical and religious themes (God, redemption, evil, human psychology and cosmology), beauty is more central and more pervasive than in any other text in the history of Christian theology“. Vergleichbar mit Edwards ist im 20. Jahrhundert der katholische Theologe H.U. VON BALTHASAR, der im Rahmen seines umfassenden dogmatischen Entwurfs auch eine sechsbändige Ästhetik vorgelegt hat: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, Einsiedeln 1961−1969. Auch K. BARTH widmet der Schönheit Gottes in seiner Gotteslehre eine ausführliche Reflexion (KD II/1, 732−753), in den Folgebänden seiner Dogmatik spielen diese Überlegungen aber keine Rolle mehr. In der jüngeren Vergangenheit hat der orthodoxe Theologe D.B. HART den Schönheitsbegriff ins Zentrum einer Dogmatik gestellt: The Beauty of the Infinite. The Aesthetics of Christian Truth, Grand Rapids u.a. 2003. 78 WJE 2, 264. 76

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Begriff der Schönheit eignet sich außerdem für Edwards wie kein anderer dazu, Gottes Attraktivität zu umschreiben: die Herrlichkeit und Schönheit Gottes als eine allmächtige Kraft, der niemand widerstehen kann. Wo der Mensch Gottes Schönheit gewahrt, wird er zur Gottesliebe hingerissen. Für die Schönheit gilt, dass sie den Blick auf sich zieht und beim Wahrnehmenden Zustimmung und Freude hervorruft, so dass der Schönheitsbegriff bei Edwards die unwiderstehliche Anziehungskraft des göttlichen Wesens adäquat zum Ausdruck bringt.79 Damit sagt man auch, dass in Edwards’ Konzeption die Schönheit Gottes die göttliche Alleinwirksamkeit im Verhältnis Gott-Mensch präzisiert. Wenn Jonathan Edwards Gott als schön bezeichnet, dann besteht darin seine kongeniale Reinterpretation des reformatorischen sola gratia. Und es ist denn auch dieser ästhetische Zugang zur Güte Gottes, mit welcher er den Moralismus puritanischer Frömmigkeit von innen her aufsprengt und ihr die Perspektive evangelischer Fröhlichkeit gibt. Darin liegt vielleicht seine größte Bedeutung als Interpret der calvinistischen Tradition.

4. Verehrt und vergessen? Zur Nachgeschichte Bei seinem Umzug nach Princeton befanden sich in Jonathan Edwards’ Gepäck eine große Zahl von Notizbüchern, in welche er jahrelang Einträge zu allen möglichen Themen gemacht hatte, darunter auch umfangreiche Vorarbeiten zu geplanten theologischen Werken.80 Die zwei umfangreichsten und wichtigsten Projekte erwähnt Edwards in seinem Antwortschreiben ans College of New Jersey, in dem er sich zu seiner Berufung äußert. Das größere von beiden sollte ein „great work“ sein, which I call A History of the Work of Redemption, a body of divinity in an entire new method, being thrown into the form of an history, considering the affair of Christian theology, as the whole of it, in each part, stands in reference to the great work of redemption by Jesus Christ.81

Das zweite geplante Werk trug den Arbeitstitel „The Harmony of the Old and New Testament“ und sollte in drei Teilen den tiefen Zusammenhang der beiden Testamente zeigen. In diesem Text wollte Edwards die Einzigartigkeit und damit die Autorität der Bibel materialreich demonstrieren. Mit dem ersterwähnten Buch dagegen sollte das herrschende Denken der dama—————

79 DELATTRE, Beauty, 134f.: „The divine beauty designates and constitutes the attractive and creative power of His goodness“. 80 Viele dieser „notebooks“ wurden erst im Rahmen der Yale Edition das erste Mal publiziert. 81 WJE 16, 728f.

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ligen Zeit mit einem umfassenden Gegenentwurf konfrontiert werden. Nachdem er in seinen bisherigen großen Traktaten zentrale Konzepte kritisch abgehandelt hatte, wollte Edwards hier die Wahrheit des christlichen Glaubens in einer großangelegten Exposition und Reflexion der Geschichte samt ihrer kosmischen Vorgeschichte und ihrer verheißenen Zukunft zur Darstellung bringen.82 Auf diese Weise hoffte er, den „prevailing errors of the present day“ zu begegnen, „which I cannot with any patience see maintained (to the utter subverting of the gospel of Christ)“83. Die Vollendung dieses weit ausgreifenden Projekts ist Edwards nicht mehr vergönnt gewesen. Stattdessen beginnt mit Jonathan Edwards’ Tod die höchst wechselhafte Geschichte seiner Rezeption. Man ist sich in dieser Nachgeschichte durchgängig einig, dass Edwards der größte Theologe der puritanischen Ära der Vereinigten Staaten ist, gerade diese Einschätzung führt aber zu völlig unterschiedlichen Urteilen über sein Werk. Kurz nach seinem Ableben, vor und nach der Revolution, ging sein Einfluss zunächst einmal stark zurück, so sehr, dass der damalige Präsident von Yale, Ezra Stiles, die Überzeugung äußern konnte, Edwards’ Werke würden „in another generation […] pass into as transient notice perhaps scarce above oblivion“84. Dieses Nachlassen seiner Bedeutung hatte wesentlich damit zu tun, dass es an Theologen fehlte, die in der Lage gewesen wären, sein Denken auf dem ihm eigenen Niveau weiterzuführen. Diese ungünstige Konstellation änderte sich in den 1790er Jahren, als zum einen Edwards’ Enkel Timothy Dwight zum Präsidenten von Yale College ernannt wurde und zum andern Samuel Hopkins mit seinem „System of Doctrine“ einen theologischen Entwurf publizierte, welcher Jonathan Edwards’ Fragestellungen, seine Begrifflichkeit und seine Antworten aufnahm und weiterführte. Timothy Dwight teilte das Engagement seines Grossvaters für „revivals“ und war eine der maßgeblichen Figuren, die zum „Second Great Awakening“ (ca. 1790–1840) führten, einem Aufbruch, welcher seinen Vorgänger im 18. Jahrhundert an Ausmaß und kulturellem Einfluss nochmals übertraf. 85 Obwohl das „Second Awakening“ zu guten Teilen von anderen als calvinistischen Kirchen getragen wurde – besonders Methodisten und Baptisten –, avancierte Edwards von 1800 bis 1850 zum einflussreichsten amerikanischen Theologen. ————— 82

Zur geplanten „History of the Work of Redemption“ vgl. MARSDEN, Edwards, 481−489. WJE 16, 728. 84 Literary Diary, zit. nach J.A. CONFORTI, Jonathan Edwards, Religious Tradition, and American Culture, Chapel Hill 1995, 3. 85 Zur Frage, ob eine Unterscheidung von First und Second Great Awakening überhaupt sinnvoll sei, vgl. M. BERG, Die historische Dimension: Vom Puritanismus zum religiösen Pluralismus, in: M. BROCKER (Hg.), God bless America. Politik und Religion in den USA, Darmstadt 2005, (32−49) 34. 83

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Es ist aber auch diese Zeit, in welcher trotz vielerlei Bekenntnissen zu Edwards allmählich jene tiefgreifende theologische Transformation stattfindet, welche als die „Americanization of Calvinism“ bezeichnet worden ist.86 Was damit gemeint ist, lässt sich an einer der herausragenden Persönlichkeiten der amerikanischen Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts zeigen, an Charles Finney.87 Finney (1792–1875) gehört zu den markanten Figuren der zweiten großen Erweckungsbewegung. Ursprünglich Mitarbeiter in einem Rechtsbüro, erlebte er eine Bekehrung, wurde anschließend Prediger und nahm 1824 seine evangelistische Tätigkeit auf. Er zog im Staat New York von Ort zu Ort und hielt mit großem Erfolg erweckliche Versammlungen ab. Weiter westlich, in Rochester, predigte er monatelang täglich vor bis zu tausend Zuhörern. Weitere Wirkungsorte waren Philadelphia, New York City und Boston. Von der kräftezehrenden Evangelisationstätigkeit ermüdet, übernahm Finney 1832 eine Pfarrstelle in New York City, 1835 nahm er einen Ruf ans neu gegründete Oberlin College nahe Cleveland an. Bekannt und zum Teil heftig umstritten waren Finneys Bekehrungsmethoden, die „New Measures“. Zu ihnen gehörten die „Anxious Meetings“, bei denen Probleme einzelner Teilnehmender öffentlich zur Sprache gebracht wurden, längere Evangelisationen („Protracted Meetings“) und – besonders umstritten – die „Anxious Seats“, separate Sitze für die Bußwilligen.88 Charles Finneys Theologie ist eine eigentliche Theorie des „Revivals“ und somit unübersehbar vom Interesse geprägt, Menschen zur Bekehrung zu führen. Es überrascht deshalb wenig, dass sie an manchen Stellen Kernaussagen von Edwards (und der „Westminster Confession“ von 1647) direkt entgegenläuft. Insbesondere die Erbsündenlehre hielt Finney für widersprüchlich und absurd. Dass dem Menschen in der Bibel Gebote gegeben sein sollten, die dieser nicht einhalten konnte, widersprach offenkundig jeglicher Logik. Der Mensch war in der Lage, sich frei für Gott zu entscheiden und dessen Willen gemäß zu handeln. Die Annahme einer grundsätzlichen Unfähigkeit des Menschen zum Heil dagegen, für Edwards und die von ihm vertretende reformatorische Tradition zentrale theologische Wahrheit, führte nach Finneys Dafürhalten bloß zu Passivität und Fatalismus. In seinen „Lectures on Systematic Theology“ scheute er nicht davor zurück, die Vertreter der „Westminster Standards“ mit dem verabscheuenswürdigen römischen Katholizismus auf eine Linie zu stellen, als Leute, die „absurdly ————— 86

So NOLL, God, 269−329. Dazu auch U. GÄBLER, Auferstehungszeit. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts, München 1991, 11−28. 88 Zu den wichtigsten zeitgenössischen Kritikern gehört der reformierte Theologe J.W. NEVIN mit seiner Schrift „The Anxious Bench“ von 1843, in: Catholic and Reformed. Selected Theological Writings, hg. von CH. YRIGOYEN Jr. / G.H. BRICKER, Eugene / OR 1978, 9−126. 87

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adopted the most obnoxious principle of Popery“89. Im Gegensatz dazu entwickelte er in seinen reiferen Jahren einen christlichen Perfektionismus, die Auffassung also, dass es dem Menschen möglich sei, sündlos zu leben. Ausdrücklich bezeichnete er seine Theologie als eine, welche derjenigen von Jonathan Edwards überlegen sei.90 Finneys Theologie ist wenig originell, nicht zu Unrecht hat man sie als „relentlessly contemporary“ bezeichnet.91 Sie ist insbesondere geprägt durch die Maximen der schottischen Common-Sense-Philosophie − Vernünftigkeit, Freiheit des Willens und Moralität − und den damals weit verbreiteten Geist der Selbstverbesserung, Selbstverwirklichung und Selbstkontrolle. Finneys Christentum ist damit in einer paradoxen Weise auf Edwards bezogen: Es teilt mit ihm den erwecklichen Grundzug und die Betonung der individuellen Bekehrung, gleichzeitig ist es aber seinen theologischen Grundüberzeugungen zutiefst entfremdet. Jonathan Edwards’ Insistieren auf der vollkommenen Abhängigkeit des Menschen von Gottes Gnade vermochten Finney und viele seiner Zeitgenossen nicht mehr nachzuvollziehen. Die von jenem vertretene calvinistische Theologie verlor am Ende des 19. Jahrhunderts weitgehend an Plausibilität. Diese Situation hielt auch in den ersten Dekaden des folgenden Jahrhunderts an. Gerade in den progressiven Kreisen wurde das „Puritan bashing“ allgemein akzeptiert92, und Edwards eignete sich dabei bestens als Verkörperung einer verpönten restriktiven Moral. Erst im Rahmen eines veränderten kulturellen und theologischen Klimas änderte sich auch die Einschätzung Edwards’ wieder, und dies war der Fall in den 30er Jahren mit dem Aufstieg der sog. „Neo-Orthodoxy“. Nach dem Optimismus des 19. Jahrhunderts wurden nun die menschliche Existenz weit gebrochener und die Möglichkeiten des Fortschritts deutlich skeptischer beurteilt, und unter dem Einfluss der Dialektischen Theologie in Deutschland rückte auch in der amerikanischen Theologie das Bewusstsein für die Differenz zwischen Gott und Mensch in den Vordergrund. Beides, die Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen auf der einen Seite und die Souveränität Gottes auf der andern, waren Gedanken Edwards’, die unter diesen Bedingungen in einer ganz neuen Weise Aufnahme fanden.93 Nicht weniger wichtig für eine neue Einschätzung Edwards’ war nach dem Krieg der Beginn einer erstmaligen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinem Werk. Von größter Bedeutung war dabei Perry Miller, ————— 89

Revidierte Auflage von 1851, zit. nach NOLL, God, 313. Ebd., 314. 91 So NOLL, ebd., 313. 92 MARSDEN, Edwards, 501. 93 Vgl. beispielsweise H.R. NIEBUHR, The Kingdom of God in America, New York 1937, 99−119. 90

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der nicht nur die großangelegte kritische Gesamtausgabe der Werke Edwards’ initiierte94, sondern mit seiner Biographie auch die Diskussion über dessen Person und Wirken neu eröffnete. Indem er behauptete, Edwards sei „one of America’s five or six greatest artists who happened to work with ideas instead of poetry or fiction“95, eröffnete er ein weites Feld für anschließende Diskussionen. Sein Buch steht am Anfang einer mittlerweile unübersehbaren Literatur über alle Aspekte in Leben und Werk des großen amerikanischen Theologen. Edwards wird dabei längst nicht mehr nur als Exponent einer formativen Epoche der Vereinigten Staaten und auch nicht allein als Theologe und Kirchenmann wahrgenommen, sondern gleicherweise als bedeutender Teilnehmer an den philosophischen Debatten seiner Zeit oder als großer Rhetoriker und Stilist. Jonathan Edwards’ Ehe mit Sarah Pierpont wurde immer wieder als eine außergewöhnliche und exemplarische Beziehung dargestellt.96 Und man hat Edwards’ Verbindungen zu allen möglichen Figuren der Geschichte zu interpretieren versucht, unter ihnen Aristoteles und Augustin, John Dewey und William James, Edgar Allan Poe und William Faulkner, nicht zu vergessen Huckleberry Finn.97 Die extensive und intensive wissenschaftliche Erforschung von Jonathan Edwards hat nicht dazu geführt, dass sein Werk historisiert und als bloßes Denkmal stillgelegt worden wäre. Vielmehr hat erst diese Auseinandersetzung die Weite und die tiefe Kohärenz des Denkens Edwards’ in ihrem ganzen Ausmaß bewusst gemacht. Es verwundert deshalb nicht, dass dieser große Theologe des 18. Jahrhunderts immer wieder auch als eine der wichtigsten Inspirationen für die Gegenwart herangezogen wird. Dafür nur zwei Beispiele. Am Ende seiner umfangreichen Darstellung der amerikanischen Theologiegeschichte schreibt Mark A. Noll: If I had to recommend only one American theologian for the purposes of understanding God, the self, and the world as they really are, I would respond as the Separatist Congregational minister Israel Holly did in 1770 when he found himself engaged in theological battle: „Sir, if I was to engage with you in this controversy, I would say, Read Edwards! And if you wrote again, I would tell you Read Edwards! And if you wrote again, I would still tell you to Read Edwards!“98

————— 94

Vgl. Anm. 3. MILLER, Edwards, xii. 96 So etwa bei J.WM. MCCLENDON, Jr., Ethics. Systematic Theology Vol. 1, Nashville 1986, 111−131. 97 M.X. LESSER, Edwards in „American culture“, in: STEIN (Hg.), Cambridge Companion, (280−299) 288. 98 NOLL, America’s God, 444. 95

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Für den lutherischen Theologen Robert W. Jenson ist Jonathan Edwards schlicht „America’s Theologian“.99 Jenson sagt dies nicht in der Meinung, dass durch Edwards’ Werk zeitgenössische Fragen und Bedürfnisse besonders angemessen bedient würden, sondern weil das Amerika der Gegenwart in ihm gerade seinem klarsten Kritiker begegne. Denn zwar sei Europa durch die Aufklärung erschüttert und reformiert worden, „but only America and the American church were created by it“.100 Jenson ist der Überzeugung, dass der „Arminianism“, an dem Edwards sich in seiner Zeit abgearbeitet hat − Moralismus, Synergismus und die Instrumentalisierung Gottes für menschliche Zwecke − auch das herrschende Bewusstsein der heutigen USA ausmacht. Mutatis mutandis dürfte dies auch für Europa gelten. Auch in der Alten Welt hat man deshalb Jonathan Edwards nicht nur aus historischen, sondern erst recht aus systematischen Gründen noch vor sich.

————— 99

100

S.o. Anm. 1. NOLL, America’s God, 4.

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Calvin, Calvinismus, Puritanismus – und Max Weber

Der folgende Beitrag beleuchtet einige Aspekte der überaus prominenten Calvinismus/Puritanismus-Rezeption, wie sie bei Max Weber (1864–1920), dem großen Nationalökonomen, Soziologen und Historiker vorliegt. Es soll einerseits gezeigt werden, dass Max Weber selbst den Zusammenhang von Calvin, (Neo-)Calvinismus, Puritanismus und Kapitalismus differenzierter beschrieb, als dies meist wahrgenommen wird, dass aber auch Webers Position in mancher Hinsicht fragwürdig oder überholt ist, obwohl sie auf viele Forschungen überaus anregend gewirkt hat. Der vermeintliche Kern der vielfach so behaupteten „Max-Weber-These“ eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Prädestinationsglauben und der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise erweist sich als unhaltbar.

„Auf der Suche nach dem Einhorn“ hätte ich die folgenden Überlegungen überschreiben können. Die so genannte „Max-Weber-These“ – formuliert im Singular und verstanden als eine in sich schlüssige, verständliche und womöglich beweisbare Behauptung – gibt es nicht und hat es nie gegeben, ebenso wenig wie fiktive Gegenstände wie beispielsweise das Einhorn. Jedenfalls hat Max Weber selbst eine solche These als These nicht formuliert.1 Gleichwohl hält sich diese Auffassung mit der Festigkeit eines tief ————— 1

Von einer „These von der Herkunft des kapitalistischen Geistes aus der kalvinistischen Berufsethik“ sprach allerdings schon F. RACHFAHL, Kalvinismus und Kapitalismus (zuerst 1909), in: Max Weber. Die protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hg. von J. WINCKELMANN, Hamburg: Siebenstern Taschenbuch Verlag, zweite, durchgesehene und erweiterte Auflage 1972, 57–148 (58). Demgegenüber hat Weber in seiner Replik auf Rachfahl betont, es sei ihm darum gegangen, „ein bestimmtes Phänomen der Lebensführung in seiner (ursprünglich) religiösen Bedingtheit verständlich zu machen“: Antikritisches zum „Geist“ des Kapitalismus, zuerst 1910, in der Ausgabe von Winckelmann 149–187 (150). Das ist m.E. etwas durchaus anderes als eine „These“. Von einer „These“ spricht Weber allerdings, nachdem Rachfahl auf seine „Antikritik“ repliziert hatte, in seiner Antwort „Antikritisches Schlußwort zum ‚Geist des Kapitalismus‘“ (1910, in der Ausgabe Winckelmann, 283–345), allerdings setzt er dort das Wort „These(n)“ in m.E. ironisch gemeinte Anführungszeichen (287f.). Aus der Lit. siehe besonders M.H. MACKINNON, The Longevity of the Thesis: A Critique of the Critics, in: H. LEHMANN / G. ROTH (Hg.), Weber’s Protestant Ethics. Origins, Evidence, Contexts, Cambridge 1987 (Pb. 1995), 211– 243; H. LEHMANN, Asketischer Protestantismus und ökonomischer Rationalismus. Die WeberThese nach zwei Generationen (zuerst 1988), in: DERS., Max Webers „Protestantische Ethik“, Göttingen 1996, 9–29 (Lit.), der zutreffend von „den Thesen“ Webers spricht; W. SCHLUCHTER, Religiöse Wurzeln frühkapitalistischer Berufsethik. Die Weber-These in der Kritik, in: DERS., Die Entzauberung der Welt, Tübingen 2009, 40–62. Ich danke W. Schluchter für die Einsicht in das Typoskript seines Aufsatzes und kritische briefliche Hinweise zu einer ersten Fassung dieses

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verwurzelten Volksvorurteils. Eine bis heute mit dem Namen Max Webers verbundene, viel diskutierte These lautet entweder, (1), dass es eine „Wahlverwandtschaft“2 zwischen den vom Denken Calvins und seiner Nachfolger geprägten historischen Ausbildungen des Protestantismus einerseits und der weltweiten Durchsetzung des (modernen) Kapitalismus andererseits gegeben habe, oder, (2) dass sogar eine ursächliche Beziehung zwischen dem Bedürfnis, sich seiner eigenen Erwählung (Prädestination) durch den Willen Gottes zu versichern, und einer rastlosen, asketischen Berufsarbeit bestanden habe3. Diese spezifische Kausalität habe, so eine Erweiterung der ersten zwei Thesen, (3) zur Akkumulation von Reichtum und (vor allem) zu Bildung und Wachstum von Kapital und der weltweiten Durchsetzung des Kapitalismus auf der Grundlage eines calvinistisch geprägten Ethos, einer spezifischen „Wirtschaftsgesinnung“4, beigetragen. Für solche und ähnliche Behauptungen lassen sich zwar durchaus wörtliche Belege in Max Webers Abhandlungen zur „Protestantischen Ethik“ finden, aber Weber hat daraus nie eine begrifflich klare und methodisch überprüfbare Behauptung in explizit thetischer Form entwickelt. Dennoch geistert seit mehr als hundert Jahren die Rede von „der Weber-These“ herum, die popularisiert lautet: Der Versuch der calvinistisch geprägten Menschen, durch rastlose Berufstätigkeit sich ihres Gnadenstandes vergewissern zu können, bildete eine entscheidende, individuell handlungsmotivierende und strukturell folgenreiche Ursache des modernen Kapitalismus.5 Oder noch stärker trivialisiert: Die ————— Beitrages. Für meine unten folgende Kritik an Weber ist selbstredend W. Schluchter nicht verantwortlich. 2 Darauf komme ich zurück. Den Ausdruck benutzt Weber selbst häufig; siehe M. WEBER, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Vergleichende religionssoziologische Versuche. Einleitung, in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. I, Tübingen 1920 (seither mehrere seitenidentische, reprographische Nachdrucke), (237–275) 256f.; ebenfalls in: M. WEBER, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915–1920, hg. von H. SCHMIDT-GLINZER in Zusammenarbeit mit P. KOLONKO, Max Weber Gesamtausgabe I/19, Tübingen 1989, (83–127) 106–108. Ein weiterer wichtiger Beleg für den Ausdruck: Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 2: Religiöse Gemeinschaften, Max Weber Gesamtausgabe I/22-2, hg. von H.G. KIPPENBERG in Zusammenarbeit mit P. SCHILM unter Mitwirkung von J. NIEMEIER, Tübingen 2001, 238 (hierzu näher unten). Ich zitiere im Folgenden die ältere Ausgabe der Aufsätze als GARS I, die seit 1984 erscheinende kritische Gesamtausgabe als MWG, jeweils mit Bandund Seitenangabe. 3 Vgl. M. WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904ff.), in: GARS I, (1–206) 99f. 105. 125 u.ö. 4 Ebd., 12. Zur Bedeutung einer spezifischen Wirtschaftsgesinnung im Konfuzianismus siehe bes. MWG I/19, 462–464, im Gegenüber zur Wirtschaftsgesinnung „des“ Puritanismus, 464–473. 5 In der Osterausgabe der Süddeutschen Zeitung 2009 las man beispielsweise von einem in theologischen und kirchlichen Angelegenheiten sonst meist gut informierten Journalisten über Calvin, dieser habe „den Erfolg als irdischen Beweis der Gnade Gottes gesehen und Ehrgeiz und Fleiss, Ordnung und Disziplin geheiligt.“ (SZ Nr. 84 vom 11.4.2009, 3).

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globale Durchsetzung des Kapitalismus wurde entscheidend durch jene Calvinisten und Puritaner gefördert, die ihren wirtschaftlichen Erfolg als Erweis ihrer Erwählung deuteten. Eine zumindest in dieser oder vergleichbarer Form nicht existierende These, oder eine womöglich falsche These, die – sollte es ihren behaupteten Gehalt denn geben – einer kritischen Prüfung nur schwer stand hielte? Vielleicht ist es ja wichtiger, gescheite Fragen zu stellen als richtige Antworten zu finden. Ich möchte dazu jetzt in zwei Schritten vorgehen: Zunächst will ich einen Zugang zu Webers religionssoziologischen Studien skizzieren (1.). Danach werde ich einige Rezeptionsprobleme, offenkundige oder vermeintliche sachliche Fehler und methodische Mängel bei Weber diskutieren, insbesondere auch im Blick auf Calvin und seine wirtschaftsethischen Auffassungen6 (2.). Abschließend möchte ich, dazu im Gegenzug, ganz kurz einige Aspekte in Webers Werk herausarbeiten, die ich nach wie vor für bedenkenswert und weiterführend halte (3.).

1. „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ Unter dem Titel „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“ veröffentlichte Weber (geb. am 21. April 1864 in Erfurt, gest. am 14. Juni 1920 in München) 1904/05 im Alter von vierzig Jahren Studien7, mit ————— 6

Zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich schon hier betonen, dass Weber sich nur äußerst selten auf Calvin und dessen Schriften explizit bezieht; siehe dazu unten bei Anm. 50. Insofern gibt es auch bei Weber im Grunde nichts zu finden für die Wirkungsgeschichte Calvins, wohl aber für die des Calvinismus und Puritanismus. 7 Die Studien erschienen zuerst im „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ bei J.C.B. Mohr (Tübingen), und zwar unter den Titeln „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus. I. Das Problem“, 1904, 1–54; sowie „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus“, 1905, 1–110. Mit Erweiterungen und Ergänzungen hat Weber sie dann in GARS I noch selbst veröffentlicht. – 1969/1972 erschienen im Siebenstern Taschenbuch Verlag (München / Hamburg) zwei Bände unter dem Titel „Die protestantische Ethik“, hg. von J. WINCKELMANN. Davon enthält Bd. 1 die Studien zur Protestantischen Ethik aus GARS I sowie weitere thematisch einschlägige kurze Texte Webers, Bd. 2 zeitgenössische Kritiken sowie Webers Antikritiken. DIRK KAESLER hat Max Webers Studien und die Kritiken neu herausgegeben (München 2004). – GARS I enthält neben den Beiträgen zum Protestantismus jenen Teil seiner umfangreichen Studien über „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Vergleichende religionssoziologische Versuche“, in welchem Konfuzianismus und Taoismus behandelt werden. Die folgenden Bände GARS II (Hinduismus und Buddhismus) und III (Das antike Judentum) hat MARIANNE WEBER posthum herausgegeben. Während inzwischen die Konfuzianismus- / Taoismus-, Hinduismus-, Buddhismus- und Judentums-Studien in vorzüglichen kritischen Editionen vorliegen (MWG I/19–21), befinden sich die ProtestantismusStudien noch in der Arbeit (MWG I/9 und I/18). Gemäss brieflicher Mitteilung von W. Schluchter darf mit der Veröffentlichung in 2012 gerechnet werden.

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denen er sich auf „einen geradezu tollkühnen wissenschaftlichen Versuch“ (H. Lehmann)8 einließ, nämlich eine ganz neuartige Erklärung der Entstehung des neuzeitlichen Kapitalismus.9 Was sind die wichtigsten Fragestellungen und das Profil dieser Abhandlungen? Was war neu und provozierend? 1.1 Einleitungsfragen Das Verständnis von Max Webers religionssoziologischen Untersuchungen ist aus vielen Gründen sehr schwer. Allein die so genannten Protestantismus-Studien stammen aus ganz unterschiedlichen Arbeitsphasen. So wurde die erste Abhandlung mit dem später auch den anderen Teilen den berühmten Namen gebenden Titel vermutlich im Sommer 1904 geschrieben10, dann folgte eine Amerika-Reise, von der Weber wichtige Eindrücke und Erfahrungen über den damaligen Kapitalismus und das Christentum in der Neuen Welt mitbrachte, danach schrieb er den Beitrag über die „Berufsethik des asketischen Protestantismus“11. 1906 folgte der Aufsatz über „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“12, der auf einen zuerst in der „Frankfurter Zeitung“ Ostern 1906 erschienenen Beitrag zu Martin Rades Zeitschrift „Die Christliche Welt“ zurückgeht.13 Im Jahr vor seinem frühen Tode hat Weber die Studien für eine Veröffentlichung im ersten Band seiner noch von ihm selbst zum Druck gebrachten „Gesammelte(n) ————— 8

H. LEHMANN, Die Weber-These im 20. Jahrhundert, in: A. REISS / S. WITT (Hg.), Calvinismus. Die Reformierten in Europa. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums Berlin und der Johannes a Lasco-Bibliothek in Emden, Dresden 2009, (378–383) 378. 9 Diese „These“, die nicht Webers eigene These ist, hat seit ihrer Veröffentlichung bzw. Verbreitung immer wieder zu scharfen Kontroversen herausgefordert, von denen man nicht sagen kann, dass sie zu einem eindeutigen Ergebnis geführt hätten. Siehe schon S.N. EISENSTADT, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Eine analytische und vergleichende Darstellung, Opladen 1970. W. Schluchter (s. Anm. 1) hat zurecht betont, dass Max Weber in seinen Studien zur Protestantischen Ethik keineswegs auf eine derartige Globaldiagnose zielte, sondern ein engeres, aber prononcierteres Erkenntnisziel verfolgte, nämlich die Frage nach dem Aufkommen einer bestimmten, ursprünglich religiös motivierten Lebensführung und eines zugehörigen spezifischen Berufsverständnisses. Es ging Weber darum, „eine bestimmte, konstitutive Komponente des Lebensstils, der an der Wiege des modernen Kapitalismus stand, an dem sie – mit zahlreichen anderen Mächten – mit gebaut hat, zu analysieren und in ihren Wandlungen und ihrem Schwinden zu verfolgen.“ (Antikritisches, wie Anm. 1, 169) Diese (religiöse) Komponente des Lebensstils sollte in ihren verschiedenen „Wahlverwandtschaftsverhältnissen“ (ebd., 171) zu historischen Formen des Kapitalismus in vergleichende Beziehung gerückt werden. 10 GARS I, 17–83. In seiner Antikritik an Rachfahl weist Weber darauf hin, dass er schon 1897 Teile seiner einschlägigen Überlegungen in Vorlesungen vorgetragen habe (Anm. 1, 150). 11 GARS I, 84–206. 12 Ebd., 207–236. 13 Ebd., 207.

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Aufsätze zur Religionssoziologie“ überarbeitet und mit einer neuen, sorgfältig formulierten „Vorbemerkung“14 versehen. Bevor dann in dem Aufsatzband auf die Protestantismus-Studien Untersuchungen zum Konfuzianismus und Taoismus folgen, hat Weber diesen letzteren eine weitere „Einleitung“15 vorangestellt und schließlich den Band mit einer „Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“ abgeschlossen16. Die Texte mit den Titeln „Vorbemerkung“, „Einleitung“ und „Zwischenbetrachtung“ sind also relativ späte Ausarbeitungen theoretischer Reflexionen, in denen ich gleichsam eine allmählich vorgenommene Systematisierung und Interpretation der Aufsätze durch ihren Autor sehe. Doch nicht genug damit: Neben den Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ arbeitete Weber etwa seit 1909 an jenen Manuskripten, die ursprünglich für das große Sammelwerk eines neuen „Handbuch(s) der politischen Ökonomie“ bestimmt waren und schließlich, nach immer neuen Umstellungen und Überarbeitungen, 1922 unter dem Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“ veröffentlicht wurden.17 In späteren Auflagen (1956 und 1972) wurden die Teile dieses Konvoluts ergänzt und umgestellt. Die MWG verteilt nunmehr die riesigen Stoffmassen auf zahlreiche Teilbände. Einer davon enthält unter dem Titel „Religiöse Gemeinschaften“18 diejenigen Teile aus „Wirtschaft und Gesellschaft“, die man als Webers Religionssoziologie (im engeren Sinne) bezeichnen kann und die sich komplementär zur „Protestantischen Ethik“ und insgesamt auch zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ verhalten.19 Ein weiterer Band der MWG, der die Herrschaftssoziologie aus „Wirtschaft und Gesellschaft“ enthält20, bietet auch den für die Religionssoziologie ganz zentralen Abschnitt über „Politische und hierokratische Herrschaft“. ————— 14

Ebd., 1–16 (wohl 1920). Ebd., 237–275 (zuerst 1915); MWG I/19, 83–127. 16 GARS I, 536–573 (zuerst 1915); MWG I/19, 479–522. 17 Zur Werkgeschichte sind die eingehenden Studien von W. SCHLUCHTER grundlegend: Religion und Lebensführung, 2 Bde. Frankfurt a.M. 1991, daraus siehe bes. Bd. 1: Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie, 23–162; Bd. 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie, 557–634; DERS., Die Entzauberung der Welt (Anm. 1), 18–39; ferner DERS., „Wirtschaft und Gesellschaft“ – Das Ende eines Mythos, in: J. WEISS (Hg.), Max Weber heute. Erträge und Probleme der Forschung, Frankfurt a.M. 1989, 55–89. Siehe auch die allgemeinen Hinweise der Herausgeber der MWG in I/22-2, VII–XVII. 18 MGW I/22-2. 19 Vgl. zu diesem Ergänzungsverhältnis sogleich die erste Anm. zur „Einleitung“ in die „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“: MWG I/19, 83f. / GARS I, 237; siehe auch die Hinweise der Hg. von „Wirtschaft und Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften“ (MWG I/22-2, 1. 8. 92. bes. 94–102 zur „Verweisstruktur“). 20 Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Herrschaft, MWG I/22-4, hg. von E. HANKE in Zusammenarbeit mit TH. KROLL, Tübingen 2005. 15

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Diese wenigen Hinweise sollen darauf verweisen, dass wir es bei Webers Protestantismus-Studien mit einem komplexen, durchaus heterogenen, mit vielfachen Brechungen und Perspektiven arbeitenden work in progress zu tun haben. Von einer These zu sprechen ist vielleicht eine unvermeidliche Art, diese ungeheure Vielfalt an Forschungen und Fragestellungen irgendwie handhabbar zu machen. Hinzu kommt, dass Weber sich über Begrifflichkeiten, Zielsetzungen und Methodik zwar an zahlreichen Stellen äußert, aber keineswegs eindeutig und ohne Widersprüche. So gewinnt man den Eindruck, dass er erst nach und nach Klarheit darüber gewonnen hat, was seine maßgeblichen Erkenntnisinteressen und Einsichten waren, indem er sich auf das jahrelange Abenteuer einließ, Wirkungszusammenhängen von protestantisch-puritanischer Frömmigkeit, theologischen Reflexionen, Berufsauffassungen, Lebensstilen, Vergemeinschaftungsformen und religiöser Selbstorganisation einerseits, den Fragen nach den Entstehungsbedingungen und dem „Geist“ des modernen Kapitalismus andererseits nachzugehen. 1.2 Max Webers Fragestellungen Webers erste Abhandlung in diesem Zusammenhang21 beginnt mit einem einigermaßen trivialen Hinweis zur Berufsstatistik, genauer zur Frage nach dem Verhältnis von Konfession und sozialer Schichtung bzw. Klassenzugehörigkeit. Er referiert aus der Studie eines seiner Schüler22, der gezeigt habe, dass im südwestdeutschen Baden Kapitalbesitzer, Unternehmer, technisches und kaufmännisches Management überwiegend protestantischer Herkunft seien. Man kennt das auch aus der älteren Schweiz: Wer katholisch, ländlicher Herkunft und weiblich war, hatte schlechtere Startbedingungen als ein protestantischer, männlicher Großstädter. Das ist als Einstieg eine sehr schmale, fast nichts sagende Behauptung, die zwar damals und auch noch lange danach in manchen Gegenden der Schweiz und Deutschlands teilweise zutreffend sein mochte, aber was soll’s? Von diesem Einstieg aus nähert sich Weber dann auf dem Weg über etliche geschichtliche Impressionen der These, dass die „Ketzerei“ der niederländischen Calvinis—————

21 Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus: GARS I, 17–83. Weber setzt „Geist“ bisweilen in Anführungszeichen, bisweilen nicht; siehe die Abb. des Titels des Erstdrucks im Ausstellungskatalog (s. Anm. 7) sowie die Titel und Untertitel in GARS I. Zur Interpretation der Protestantismus-Studien siehe außer Schluchter auch H. TYRELL, Worum geht es in der protestantischen Ethik? Ein Versuch zum besseren Verständnis Max Webers, Saeculum 44, 1993, 300– 347; F. GUTTANDIN, Einführung in die „Protestantische Ethik“ Max Webers, Opladen-Wiesbaden 1998. 22 M. OFFENBACHER, Konfession und soziale Schichtung. Eine Studie über die wirtschaftliche Lage der Katholiken und Protestanten in Baden, Tübingen-Leipzig 1901.

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ten den „Handelsgeist“ gefördert habe, wie man schon in den spanischhabsburgischen Niederlanden seinerzeit bemerkt habe.23 Was hier „Calvinismus“ genau bedeutet, bleibt freilich völlig unklar, nachdem Weber auf den vorangehenden Seiten Hugenotten, Puritaner, Nonkonformisten und Quäker, Kirchen und Sekten als Beispiele aufgerufen hat. Beispiele wofür? Ihn interessiert als erklärungsbedürftig insbesondere jene Konstellation, wo ein virtuoser kapitalistischer Geschäftssinn mit den intensivsten Formen einer das ganze Leben durchdringenden und regelnden Frömmigkeit in denselben Menschen und Personengruppen zusammentrifft, und diese Fälle sind nicht etwa vereinzelt, sondern sie sind geradezu bezeichnendes Merkmal für ganze Gruppen der historisch wichtigsten protestantischen Kirchen und Sekten. Speziell der Calvinismus zeigt, wo immer er aufgetreten ist, diese Kombination.24

Damit steuert Weber auf ein erstes, wichtiges Erkenntnisziel zu: Er fragt nach den Umständen, Ursachen und Beweggründen dafür, dass sich, wie er seinerzeit meinte, der moderne Kapitalismus25 vor allem in solchen Ländern und Weltteilen durchgesetzt hat, in denen protestantische Kirchen und Sekten – damit meint Weber ohne jede Wertung vor allem die Freikirchen im Unterschied zu den institutionell verfestigten Staats- oder Landeskirchen – eine wichtige Rolle spielten und ihre Anhänger sich durch diejenige, tief verinnerlichte Lebensform auszeichneten, die Weber „asketischen Protestantismus“ nennt. Im ersten Absatz der (spät geschriebenen) Vorbemerkung hat Weber die folgende Frage programmatisch an die Spitze des ganzen Bandes gestellt: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigs-

————— 23

GARS I, 26f. Ebd., 26. Vgl. auch die heterogene Menge von Phänomenen, die Weber zu Beginn des zweiten Aufsatzes über die „Berufsethik“ als „die geschichtlichen Träger des asketischen Protestantismus“ bezeichnet: Calvinismus (in bestimmten Gebieten), Pietismus, Methodismus, Sekten aus der täuferischen Bewegung (GARS I, 84). Auf der folgenden Seite bezeichnet er diese Vielfalt „im weitesten Sinn dieses vieldeutigen Wortes als ‚Puritanismus‘“ (85). Dass das ausgerechnet für die Calvin-Stadt Genf schwerlich zutrifft, zeigte schon A. BÜRGIN, Kapitalismus und Calvinismus. Versuch einer wirtschaftsgeschichtlichen und religionssoziologischen Untersuchung der Verhältnisse in Genf im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, Winterthur 1960. Aber: Das „anschaulich Gegebene(n)“ geschichtlicher Einzelbeispiele diente Weber zur Illustration bei der Entfaltung seiner systematischen Fragestellung: „wie verhält sich der Protestantismus in seinen einzelnen Abschattierungen zur Entwicklung des Berufsgedankens in seiner spezifischen Bedeutung für die Entwicklung derjenigen ethischen Qualitäten des Einzelnen, welche seine Eignung für den Kapitalismus beeinflussen.“ (Antikritisches Schlusswort, Ausgabe Winckelmann, Anm. 1, 305) 25 In der Überarbeitung der Aufsätze für den ersten Band der GARS hat Weber dem Wort Kapitalismus durchgehend das Attribut „modern“ hinzugefügt, um diese Phänomene von den entsprechenden anderen Formationen oder Vorläufern im Spätmittelalter und in der italienischen Renaissance abzugrenzen (LEHMANN, Weber-These, Ausstellungskatalog, 382). 24

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tens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?26

Als für diese „okzidentale“ Entwicklung typische Merkmale bezeichnet Weber das Aufkommen moderner Naturwissenschaften mit mathematischer Fundierung und experimentellen Methoden, bestimmte Formen einer „rationalen“ Kunst27, vor allem das Aufkommen einer fachlich kompetenten Bürokratie und schließlich den Kapitalismus, die „schicksalvollste(n) Macht unsres modernen Lebens“28. Weber nennt Merkmale des modernen Kapitalismus wie die Kapitalrechnung der modernen Buchhaltung, die durchgehende Profitorientierung, die Trennung von Haushalt und Betrieb, die Arbeitsteilung, die freie Lohnarbeit und eine rationale Staatsverwaltung. In allen diesen Vorgängen und Entwicklungen erkennt er den „‚Rationalismus‘ der okzidentalen Kultur“, d.h. eine geistige Einstellung oder, wie man heute gern sagt, eine besondere Mentalität, die alle Lebens- und Kulturbereiche prägt. Weber meint, dass hinter den maßgeblichen Erscheinungen der modernen Welt und ihres ganz entscheidenden Elementes bzw. der dominanten Struktur des modernen Kapitalismus eine bestimmte „Fähigkeit und Disposition der Menschen“ stehen muss, nämlich die Disposition „zu bestimmten Arten praktischrationaler Lebensführung“. Wir können auch sagen: es muss ein bestimmtes Ethos, eine Grundhaltung der Lebensführung, eine alle sozialen Zusammenhänge durchziehende Erwartung geben, welche die Besonderheiten des Umganges mit einer gesellschaftlichen Ordnung in der Geschichte bestimmt. Exakt an dieser Stelle sieht Weber die Bedeutung von Religionen. Er schreibt (und die Stelle verdient wegen ihres programmatischen Charakters ausführlich zitiert zu werden): Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände. Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an

—————

26 GARS 1. Sperrungen bei Weber nach Art des Drucks seiner Zeit gebe ich kursiv wieder. Zu dieser Ausgangsfragestellung siehe W. SCHLUCHTER, Einleitung. Religion, politische Herrschaft, Wirtschaft und bürgerliche Lebensführung: Die okzidentale Sonderentwicklung, in: DERS. (Hg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums. Interpretation und Kritik, Frankfurt a.M. 1988, 11–128. 27 Siehe M. WEBERS höchst originelle Untersuchungen „Zur Musiksoziologie, Nachlass 1921“, MWG I/14, hg. von CHR. BRAUN / L. FINSCHER, Tübingen 2004. 28 GARS I, 4.

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sie verankerte ethischen Pflichtvorstellungen. Von diesen ist in den nachstehenden und ergänzten Aufsätzen die Rede.29

Unter den vielen Formen und Wirkungen von Religion interessieren Max Weber diejenigen, die das für den modernen Kapitalismus charakteristische Wirtschaftsethos bzw. die prägende „Wirtschaftsgesinnung“ hervorgebracht haben.30 Und dann folgen noch Seiten voller Einschränkungen und Vorbehalte, Präzisierungen und Eingrenzungen, die klar machen sollen, dass Weber aus der Fülle von historisch-ökonomischen Wirkungen und Wechselwirkungen nur einige ganz wenige Vergleichsgesichtspunkte herausgreifen will und kann, und dass dies alles durchaus provisorischen Charakter habe, weshalb die Forschung jetzt noch ganz in den Anfängen stecke.31 Es gehört zu den formalen und sachlichen Charakteristika von Texten Max Webers, dass sie sich auf eine gewaltige Fülle von Literatur aus den verschiedensten Gebieten stützen, dass sie oft ungemein weiträumige, dann auch wieder sehr kleinteilige Analysen und Thesen präsentieren, und dass sie, vorsichtig gesagt, überaus zurückhaltend sind in der präzisen Ausbreitung von Belegstellen. Bisweilen wirkt der Ton schroff und herrisch, aber mir scheint, dass Webers Hinweise darauf, dass er Neuland betreten habe, dass seine Erkundungen vorläufig und skizzenhaft seien und dass man ihn „überholen“ solle, indem man es besser mache, durchaus ernst gemeint sind.32 Sein Erkenntnisinteresse galt – jedenfalls in den religionssoziologischen Studien – vor allem den Fragen, ‒

ob und wie Religionen bzw. religiös bestimmte (innere) Überzeugungen und Lebensstile das Aufkommen und die Durchsetzung des modernen Kapitalismus gefördert und begünstigt haben, und dies insbesondere im Okzident und hier vor allem in vom puritanisch-asketischen Pro-

————— 29

Ebd., 12. Ebd. 31 Vgl. GARS I, 13. Wichtig ist für Weber, zum Verständnis von historischen Kulturerscheinungen diejenigen charakteristischen Elemente zu (gedanklichen) Typen zu verbinden, welche geeignet sind, historisch-systematische Zurechnungsurteile zu ermöglichen, Zu Webers Wissenschaftsverständnis vgl. A. V. SCHELTING, Max Weber Wissenschaftslehre, Tübingen 1934; D. HENRICH, Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1951; W. HENNIS, Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werks, Tübingen 1996; F. TENBRUCK, Die Wissenschaftslehre Max Webers. Voraussetzungen zu ihrem Verständnis (1994), in: DERS., Das Werk Max Webers. Gesammelte Aufsätze zu Max Weber, hg. von H. HOMANN, Tübingen 1999, 219–242; um zu sehen, wie unterschiedlich Webers Ausgangspunkte und Zielsetzungen verstanden werden können. Der Bedeutung dieser grundlegenden methodischen und theoretischen Fragen für Webers Religionssoziologie kann ich hier nicht nachgehen. 32 Siehe GARS I, 13f. (Vorbemerkung); Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Einleitung, MWG I/19, 83–85. 30

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testantismus geprägten Ländern, dies wiederum mit globalen Wirkungen33; ‒

welche inneren, religiösen Beweggründe, Überzeugungen, Erwartungen, Ängste und Hoffnungen die Handlungen der Menschen bestimmten;



wie sich diese religiösen Grundorientierungen auf die Lebensführung, das Ethos der Menschen und die planmäßig-rationale Gestaltung ihrer Lebenspraxis und Sozialbeziehungen, insbesondere, aber keineswegs ausschließlich in ökonomischen Belangen, auswirkten.

Webers „Ansatz“ in den über die „Protestantische Ethik“ noch weit hinausgehenden Untersuchungen zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ war also von vornherein durch sehr unterschiedliche Perspektiven, Analyseebenen und methodische Zugänge bestimmt: ‒

er war grundsätzlich vergleichender Art, und zwar in weltgeschichtlichglobaler Perspektive;



er fragte, teilweise in dezidiertem Gegensatz zur Theorie von Karl Marx, danach, ob und wie Weltbilder und „Ideen“ (auch und besonders religiöse Ideen und nicht nur materielle und ideelle Interessen) das Handeln der Menschen bestimmen,



ihn interessierte dabei besonders die Relevanz der Religionen, ihrer Gottes-, Welt- und Menschenbilder, ihrer zentralen Lehren sowie das davon jeweils geprägte kollektive und individuelle Ethos, und dies wiederum nicht nur im Blick auf die Wirtschaft, sondern die Fülle der geschichtlich-kulturellen Erscheinungen;



er fragte nach individuellen und zugleich typischen psychischen Dispositionen, die religiös fundiert sind und die ihrerseits eine Religion und ihre Anhänger prägen.

—————

33 Die „Vorbemerkung“ beginnt mit den Worten: „Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung betrachten: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ (GARS I, 1).

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Dieser komplexe Ansatz vereinigt also, nach Fächern sortiert, (vergleichende) politische Ökonomie, Kulturanthropologie, Religionssoziologie, Religionspsychologie und Theologie, Jurisprudenz und Geschichtswissenschaft, dies alles zudem in vielfacher historischer Brechung und Differenzierung. Dass bei einem so kühnen Theoriegebäude es den Kritikern leicht fallen muss, nicht nur hier und da einen Stein herauszubrechen, sondern erst hier, dann dort eine Säule zum Einsturz zu bringen, die Fundamente in Frage zu stellen und es dann von allen Seiten in die Ruine hineinregnen zu lassen, ist eigentlich nicht verwunderlich. Erstaunlich ist hingegen, dass der ambitionierte, wenngleich fragmentarische Bauplan immer wieder dazu angeregt hat, mit Webers Materialien und vor allem mit seinen Fragestellungen – mit seinem Theoriebaukasten – weiter zu experimentieren. 1.3 „Wahlverwandtschaft“ zwischen Calvinismus und Kapitalismus? Weber hat es nicht für nötig, aber auch nicht für möglich befunden, seinen Analysen zur Religion und zum „Geist“ des Kapitalismus Arbeitsdefinitionen voranzustellen34, obgleich er doch in der „Kategorienlehre“ von „Wirtschaft und Gesellschaft“ genau das getan und daraus viele fruchtbare Fragestellungen entwickelt hatte.35 Eine Definition des „Geistes des Kapitalismus“ im Sinne einer begrifflichen Erfassung, so Weber vielmehr, könne allenfalls am Schluss der Untersuchungen stehen.36 Stattdessen beginnt er mit einer „provisorische(n) Veranschaulichung“37, mit Phänomenen, die freilich vielfältigen Deutungen zugänglich sind. Als ein solches Phänomen zitiert er ausführlich berühmte Sätze von Benjamin Franklin (1706–1790).38 Nun ist aber klar und war es zweifellos auch für Weber, dass man Franklin nicht als einen Calvinisten, auch nicht als einen Puritaner verstehen kann. Franklin war ein ökonomischer selfmademan, experimentierender Wissenschaftler, Politiker und Diplomat, nicht zuletzt begeisterter Freimaurer. Er war einer der Väter der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und der erste —————

34 Vgl. Wirtschaft und Gesellschaft (Teilband: Religiöse Gemeinschaften, MGW I/22-2, 121). Im ersten Aufsatz der Protestantismus-Studien reflektiert Weber kurz die Probleme historischer Begriffsbildung und bezeichnet den „Geist“ als „den Charakter einer ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung“ (GARS I, 33). Vgl. auch zur Definitionsproblematik die „Antikritik“ (Anm. 1), 171, wo Weber kurz darauf auch noch einmal den spezifischen Blickwinkel seiner Forschungen zur Protestantischen Ethik betont: „Die Entwicklung des ‚Berufsmenschentums‘ in seiner Bedeutung als Komponente des kapitalistischen ‚Geistes‘, – auf dieses Thema haben sich meine Auseinandersetzungen zunächst ausdrücklich und absichtsvoll beschränkt.“ (173) 35 Vgl. in der älteren Ausgabe von J. WINCKELMANN (Tübingen 51972), 1–121. 36 GARS I, 30. 37 Ebd., 31. 38 Ebd., 31f.

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Präsident der amerikanischen Gesellschaft gegen Sklaverei. Was er sicher nicht war: ein Calvinist oder Puritaner. Aber Weber verweist auf Franklin nicht als eine einmalige historische Gestalt, sondern zum Zwecke der Veranschaulichung von etwas Allgemeinem, Typischem, denn er hat bei ihm überaus charakteristische Sätze gefunden, die dazu taugen, als ein Merktext kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung zu gelten. Im Zentrum steht die berühmte Formulierung: Bedenke, dass Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur ist. Geld kann Geld erzeugen und die Sprößlinge können noch mehr erzeugen und so fort. […] Wer ein Fünfschillingstück umbringt, mordet (!) alles, was damit hätte produziert werden können: ganze Kolonnen von Pfunden Sterling.39

Das ist eine witzige Charakterisierung eines etwas naiven Kapitalisten, wie ihn im 20. Jahrhundert noch Bert Brecht gezeichnet hat, und es hat mit dem Ethos von Calvinisten und Puritanern auf den ersten Blick wenig zu tun. Warum ist dennoch die Rede von einer „Wahlverwandtschaft“ nicht einfach irreführend, sondern immer noch nachdenkenswert? Weber argumentiert durchgehend so: Zu einem Kapitalisten gehören das Interesse und die Absicht, sein Kapital und nicht bloß sein Geldvermögen zu mehren. Streben nach Reichtum und Gewinn macht noch keinen Kapitalisten. Gewinne müssen vielmehr planmäßig reinvestiert werden, um Frucht zu bringen. Dies muss zielgerichtet und methodisch kontrolliert geschehen. Weber unterscheidet zwischen dem, was er allgemein „‚kapitalistischer‘ Wirtschaftsakt“ nennt und dessen Merkmal die „Ausnützung von Tauschchancen“ ist, und spezifischen Bedingungen, die für den modernen Kapitalismus konstitutiv sind. Zu diesen zählt er systematische Betriebsrentabilität, die rationale Kapitalrechnung in Geld (mit entsprechender Bilanztechnik und Kontrolle), die „rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit“40, die Trennung von Haushalt und Betrieb sowie eine kapitalistische Arbeitsorganisation mit ihrem in der Moderne spezifischen Gegensatz von Unternehmer und freiem Lohnarbeiter. Karl Marx’ Theorie des Kapitals und vor allem der mit der Kapitalbildung und -mehrung verbundenen Krisen gründet ebenfalls darauf, dass Kapital, um sich zu erhalten, beständig vermehrt werden muss – Stillstand ist Rückgang. Weber sah ganz richtig, dass ein Kapitalist bzw. die kapitalistischen Unternehmer, um sich zu behaupten, die —————

39 Ebd., 31; die Hervorhebung und das Ausrufungszeichen stammen wohl von Weber. Natürlich zitiert Weber diese Sätze nicht, um Franklin der Geldgier zu bezichtigen, sondern um ihn als einen Typus einer bestimmten Weise der Lebensführung im 17. und 18. Jahrhundert zu charakterisieren, nämlich des von Weber so genannten „Berufsmenschentums“, für die die Rationalität des Gelderwerbs bestimmend und moralisch legitim war; vgl. auch die Hinweise auf Franklin bei WEBER, Antikritisches (Anm. 1), 165–173. 40 GARS I, 7.

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beständige Kapitalmehrung zum Zentrum ihrer Tätigkeit und Berufsauffassung machen müssen. Auch wenn Marx in diesem Zusammenhang nicht genannt wird, ist offensichtlich, dass Weber von diesem in seiner Bestimmung der Merkmale des modernen Kapitalismus Entscheidendes übernommen hat – freilich mit Ausnahme der bei Marx zentralen und unverzichtbaren Arbeitswertlehre bzw. Theorie des Mehrwerts.41 Dass das Kapitalverhältnis – der antagonistische Gegensatz von wertschaffender menschlicher Lohnarbeit und privater Aneignung des Mehrprodukts – einem immanenten Zwang zur Selbstvermehrung des Kapitals unterliegt, der durch Krisen und Kapitalvernichtung nicht aufgehoben, sondern perpetuiert wird, und dass dieser Determinismus die natürlichen Grundlagen der Produzenten und der Natur zerstören wird, hat Weber mit visionärer Kraft ausgesprochen; er nennt diesen Zusammenhang jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-materieller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung […], der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dies Triebwerk hineingeboren werden – nicht nur der direkt ökonomisch Erwerbstätigen –, mit überwältigendem Zwange bestimmt und vielleicht bestimmen wird, bis der letzte Zentner fossilen Brennstoffs verglüht ist.42

Weber hat, wie das Zitat zeigt, die ungeheuren selbstproduzierten Zwänge einer kapitalistischen Weltwirtschaft durchaus vor Augen gehabt. Aber im Unterschied zu Marx rückt er nicht die gleichsam innere Entwicklungslogik der kapitalistischen Produktionsweise in den Vordergrund, sondern interessiert sich vor allem für diejenigen religiösen und psychischen handlungsleitenden Dispositionen der Menschen, die in der Frühzeit des neuzeitlichen Kapitalismus ihr Handeln und Verhalten bestimmten. Er behauptet damit nicht, dass sich daraus der Aufstieg und die Durchsetzung des Kapitalismus ursächlich erklären ließe, wohl aber war er überzeugt und wollte deshalb zeigen, dass diejenige „Wirtschaftsgesinnung“, die diesem System (anfänglich) zum Durchbruch und seiner weltweiten Ausbreitung verholfen habe, sich vor allem im puritanischen Protestantismus ausbreitete, nicht oder nicht in annähernd gleicher Weise in den vom Katholizismus oder vom Luthertum geprägten Ländern, schon gar nicht in den Ländern mit der Dominanz einer der großen Weltreligionen, die Weber dann nach und nach in seinen Studien vergleichend in den Blick genommen hat. Über diese letztere Diagnose im Sinne einer belastbaren Theorie der Entwicklung des kapi————— 41

Zum Verhältnis Marx – Weber siehe H.J. KOCKA, Karl Marx und Max Weber. Ein methodologischer Vergleich, Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft 122, 1966, 328–357; ST. BÖCKLER / J. WEISS (Hg.), Marx oder Weber? Zur Aktualisierung einer Kontroverse, Opladen 1987. 42 GARS I, 203.

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talistischen Weltsystems43 lässt sich natürlich trefflich streiten. Die historisch gerichtete Weber-Forschung hat teils Gegenbeispiele44, teils Bestätigungen zutage gefördert. Die typisierenden Illustrationen – es sind ja keine kohärenten historischen Darstellungen mit einer zwingenden Deutung und systematischen Beweiskraft –, die Weber für seine exemplarischen Analysen gibt, stellen Beispiele vor Augen, dass und wie die frühen Kapitalisten ihre Berufstätigkeit als Ausdruck (auch) einer religiösen Pflicht verstanden, ja, dass die Bewährung im Beruf zumindest bei etlichen (auch) als Zeichen religiöser Erwähltheit zu verstehen war. Weber interessierte dabei vor allem die motivationspsychologische Seite der Sache, und dies im Blick auf die spezifisch religiösen Antriebe. Der Schlüssel dafür schien ihm die puritanische Berufsaskese zu sein, also rastlose Tätigkeit, aber ohne jede materielle (Selbst-)Belohnung, schon gar nicht durch Genuss eines erworbenen Komforts und Luxus’. Kurzum und als Fazit: die religiöse Wertung der rastlosen, stetigen, systematischen, weltlichen Berufsarbeit als schlechthin höchsten asketischen Mittels und zugleich sicherster und sichtbarster Bewährung des wiedergeborenen Menschen und seiner Glaubensechtheit mußte ja der denkbar mächtigste Hebel der Expansion jener Lebensauffassung sein, die wir hier als „Geist“ des Kapitalismus bezeichnet haben.45

Die realen Kapitalisten scheinen indes seit langem schon nicht mehr aus dem Holz geschnitzt zu sein, das Weber beschrieben hat. Oder? Vielleicht in anderen, verwandten Formen? Vor dem Hintergrund anderer religiöser Überzeugungen, die ein asketisches Berufsethos begünstigen, wie etwa in den so genannten ostasiatischen „Tigerstaaten“? Genau das hat Weber in vergleichender Perspektive interessiert, und deshalb hat er in methodisch ————— 43

Diesen Ausdruck verwendet Weber ebenso wenig wie Marx, aber beide waren der Überzeugung, dass der moderne Kapitalismus sich global durchsetzt, wobei sie hinsichtlich der Zwangsläufigkeit und Beeinflussbarkeit, der treibenden Kräfte und der Widerstände in dieser Entwicklung denkbar weit auseinander lagen. Ich denke, dass Weber die berühmten Sätze in dem von Marx und Engels abgefassten „Manifest der Kommunistischen Partei“ (London 1848, unübersehbare Menge von Nachdrucken) geteilt haben könnte: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.“ (6) Auf andere Weise hat Immanuel Wallerstein die Analysen von Marx und Weber im 20. Jahrhundert weitergeführt. 44 Die gründlichste und schärfste Kritik an Webers historischen (Re-)Konstruktionen stammt von K. SAMUELSON, Religion and Economic Action. A Critique of Max Weber (Stockholm 1961, translated by E.G. FRENCH, New York 1961). 45 GARS I, 192.

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vielleicht fragwürdiger Art eine Forschungsstrategie verfolgt, die immer noch Respekt verdient: Er wollte durch Komparatistik die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Wirtschaftsethiken der Weltreligionen herausarbeiten. Sind Webers Thesen als Aussagen über nachweisbare historische Abläufe, Ereignisketten und Strukturwandlungen auch vielleicht zu einem erheblichen Teil falsch oder einseitig, so ist sein Erkenntnisinteresse ungebrochen legitim und aktuell. Was ist also an Webers Fragestellung nach wie vor faszinierend? Was fragwürdig? Was unhaltbar? 1.4 Weber und Calvin Nach „Calvins Erbe“ bei Weber kann man auf vielfältige Weise fragen. Ich unterscheide (1) die direkten literarischen und als solche ausgewiesenen Bezugnahmen, (2) berufende Nennungen Calvins mit unterschiedlichen Funktionen, (3) Bezugnahmen auf Werke oder – vor allem – auf theologische Lehren, die man mit Calvin in Verbindung bringen kann (aber nicht muss), (4) indirekte oder gar verborgene Anspielungen auf Calvin und (5) Bezugnahmen auf den Namen, bei denen aber nicht der historische Träger, sondern ein (von Weber gedachter) typischer Wesenszug gemeint ist. Man tut grundsätzlich gut daran, von Bezugnahmen auf (den historischen oder vorgestellten) Calvin solche auf den „Calvinismus“ streng zu unterscheiden, zumal an sehr vielen Stellen bei Weber die Ausdrücke „Calvinismus“ und „Puritanismus“ nicht klar unterschieden werden, sondern bisweilen gar als äquivalent erscheinen. Einige Bemerkungen zum Textbefund. Die Register der bisher erschienenen Bände zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (MWG I/19–22) und zur Religions- und Herrschaftssoziologie von „Wirtschaft und Gesellschaft“ (MGW I/22-2, 4) enthalten nur sehr wenige Einträge zu „Calvin“, etwas mehr zu „Calvinismus“, noch mehr zu „Puritanismus“: MWG I/19 nennt ein einziges Mal Calvin (179, nicht wie im Register 178), und zwar als Vertreter der Auffassung, dass es ein ständisches Widerstandsrecht gebe. Häufiger werden die „Calvinisten“ genannt, und zwar vor allem a) in der „Einleitung“ (83– 127) und dann wieder b) in dem abschließenden, vergleichenden Kapitel „Resultat: Konfuzianismus und Puritanismus“ (450–478), jedoch nur einmal und randständig in der „Zwischenbetrachtung“ (479–522).46 Die „Calvinisten“ bringt Weber mit folgenden Lehren und Verhaltensweisen in Verbindung: asketische Religiosität (98); Prädestinationslehre (109. 110), Ablehnung jeder Magie (349); Verklärung der inner-

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46 Zur Stellung und Bedeutung von „Einleitung“ und „Zwischenbetrachtung“ für Webers Religionssoziologie insgesamt siehe oben, Anm. 10–16.

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weltlichen asketischen Erwerbsarbeit im rational spezialisierten Beruf (357); aktive Weltgestaltung (467). Im Abschnitt „Resultat“ (450ff.) wird deutlich, dass Weber die Ausdrücke „asketischer Protestantismus“, „Puritanismus“ und „Calvinismus“ gleichsinnig verwendet. Das wiederum erklärt sich dadurch, dass es um einen „Typus“ (464f.), nicht um historische Vielfalt von Erscheinungen geht. MWG I/20 (Hinduismus / Buddhismus) verzeichnet gar keine Belege. Lediglich die Anhänger des indischen Jainismus, die „redlichen“ Jaina-Händler, werden in ihrer strengen Lebensführung mit den Puritanern verglichen; auch sie folgten der Devise Benjamin Franklins „honesty is the best policy“ (320). 47 MWG I/21.1-2 (die Judentumsstudien) enthalten keinen Eintrag zu „Calvin“, einen einzigen zu „Calvinismus“, aber zahlreiche zu „Puritanismus“. Hinweise zum Stichwort „Prädestination“ sind allenfalls beiläufig. Hingegen wird „puritanisch“ fast zu einem roten Faden, an welchem gleichsam alttestamentliche Prophetie, jahwistische Theologie und insgesamt die Formen einer asketischen, rigorosen Lebensführung hängen. Auch hier geht es aber nicht um historische Gestalten, sondern um eine überaus typische Lebensführung einer identifizierbaren Menschengruppe (276f. 350. 496. 535. 539. 553. 643). Das Interesse am Typischen zeigt sich auch darin, dass Weber „rechabitische Puritaner“ kennt (663. 668) und sogar meint: „Puritanische Einflüsse sind beim Jahwisten leicht zu finden.“ (535). MWG I/22-2 (die Religionssoziologie aus „Wirtschaft und Gesellschaft“) bringt naturgemäß mehr Belege sowohl für „Calvin“ wie für „Calvinismus“. Ganz auffällig ist freilich auch hier, dass Lehre und Leben des historischen Calvin überhaupt keine nennenswerte Aufmerksamkeit finden. Allerdings wird mehrfach die Prädestinationslehre angesprochen, näherhin im Blick auf die Kritik daran von Seiten der Arminianer, deren Zurückweisung in den Canones der Dordrechter Synode (1618/19) und im Blick auf die Westminster Confession (1646). Aber auch diese Hinweise sind eigentümlich pauschal, um nicht zu sagen widersprüchlich.48

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Die Wendung zitiert Weber auch in der „Protestanischen Ethik“: GARS I, 160. 202. 219. So werden die Calvinisten, sofern sie denn „puritanisch“ genannt werden können, als solche gekennzeichnet, die nicht reich sein wollen, aber gerade aufgrund dieser asketisch-rigorosen Haltung und Lebensführung nicht vermeiden können, reich zu werden; auf der anderen Seite gehört zu diesem Ethos aber auch die „Verbürgerlichung der Religiosität Calvins“, welche auf so etwas wie „inneralltäglich(e) Tugendbewährung“ tendieren soll (MGW I/22-2, 365). Wie aber können Rigorismus und Verbürgerlichung zwar nicht in einer historischen Gestalt, wohl aber in einem Typus zusammenkommen? Ein durchziehendes Motiv bei Weber ist freilich die Figur der paradoxen Folgen der Weltverneinung; so schreibt er: „In eigentümlicher Paradoxie gerät vor allen Dingen […] die Askese immer wieder in den Widerstreit, dass ihr rationaler Charakter zur Vermögensakkumulation führt.“ (MWG I/22-2, 380; in der Ausgabe von WINCKELMANN – Tübingen 5 1972 – 353f). Von dieser seines Erachtens grundlegenden Paradoxie spricht Weber auch in der „Protestantischen Ethik“ (GARS I, 196f), in seinem „Antikritischen Schlußwort“ (Ausgabe Winckelmann, wie Anm. 1, 295 und 314), in der Konfuzianismus-Studie (MWG I/19, 473), in der Herrschaftssoziologie von „Wirtschaft und Gesellschaft“ (WINCKELMANN5, 719) und in der „Zwischenbetrachtung“ (MWG I/19, 489 / GARS I, 545), wo es zugespitzt heißt: „Die Paradoxie aller rationalen Askese: dass sie den Reichtum, den sie ablehnte, selbst schuf, hat dabei dem Mönchtum aller Zeiten in gleicher Art das Bein gestellt.“ Zum Paradoxie-Motiv bei Weber siehe auch 48

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MWG I/22-4 (die Herrschaftssoziologie aus „Wirtschaft und Gesellschaft“) enthält einen kurzen Unterabschnitt des Kapitels über „Staat und Hierokratie“, der sich ausdrücklich nicht auf Calvin selbst, sondern auf den Calvinismus bezieht. Wenn irgendwo, dann könnte man hier, besonders im Blick auf die zugespitzten Formulierungen, von einer „These“ sprechen. Weber charakterisiert hier den Calvinismus (ohne weitere historische Differenzierungen) als eine spezifische kirchliche Gestalt des Puritanismus und skizziert eine „Theorie“ dieses Calvinismus in einer „notgedrungen absichtsvoll auf die Spitze getriebenen Formulierung“. 49 Danach sei die strenge, „doppelte“ Prädestination dem Gläubigen unerträglich, weil unerkennbar, jegliche kirchliche Heilsvermittlung, besonders durch das Sakrament der Beichte, hinfällig, und vor diesem Hintergrund komme es dann zu einer immer stärkeren Betonung der gewissenhaften Pflichterfüllung im weltlichen Beruf. So werde die folgende, typische Auffassung und Haltung immer positiver gewertet: […] die Unerforschlichkeit und Unerkennbarkeit der Prädestination zur Seligkeit oder zur Verdammnis waren dem Gläubigen naturgemäß unerträglich, er suchte nach der „certitudo salutis“, nach einem Symptom also dafür, daß er zu den Prädestinierten gehöre und konnte es, da die außerweltliche Askese verworfen war, einerseits in dem Bewußtsein finden, streng rechtlich und vernunftgemäß, unter Unterdrückung aller natürlichen Triebe zu handeln, andererseits darin, daß Gott seine Arbeit sichtbar segne. So absolut nichts „gute Werke“ nach katholischer Art als „Realgrund“ der Seligkeit gegenüber Gottes unabänderlichem Dekret bedeuten konnten, so unendlich wichtig wurde nun, für den Einzelnen selbst und für die gläubige Gemeinde, als „Erkenntnisgrund“ seines Gnadenstandes, das sittliche Verhalten und Schicksal des Einzelnen in den Ordnungen der Welt.50 Von diesem des „Calvinismus“ sagt Weber an dieser Stelle. ausdrücklich, dass er „mit der Stelungnahme Calvins selbst nicht identisch ist“. GARS I: In der „Protestantischen Ethik“, besonders in Teil II über „Die Berufsethik des asketischen Protestantismus“ (84–206) geht Weber dann natürlich häufiger auf Calvin, vor allem aber auf „den Calvinismus“ ein, aber doch befremdlicherweise durchweg aus zweiter Hand.51

Der Befund ist ernüchternd. Mit direkten und indirekten, ausgewiesenen oder latenten Bezugnahmen auf den authentischen Calvin ist bei Weber nicht viel zu holen. Er hat in seinen von mir konsultierten Schriften52 an ————— GUTTANDIN, Einführung (Anm. 21), 182–213, sowie besonders W. SCHLUCHTER, Die Paradoxie der Rationalisierung. Zum Verhältnis von ‚Ethik‘ und ‚Welt‘ bei Max Weber (1976), in: DERS., Rationalismus der Weltbeherrschung. Studien zu Max Weber, Frankfurt a.M. 1980, 9–40. 49 Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschafltichen Ordnungen und Mächte. Nachlass. Teilband 4: Herrschaft, hg. von E. HANKE in Zusammenarbeit mit TH. KROLL (MWG I/22-4), Tübingen 2005, 658 (in der Studienausgabe von WINCKELMANN, 51972, 717). 50 MWG I/22-4, 660; Ausgabe WINCKELMANN 51972, 718. 51 Was Weber durchaus bewußt war; siehe die Hinweise in den Anm. in GARS I, 86–94. 52 Explizit sagt Weber im Aufsatz über „Die Berufsethik des asketischen Protestantismus“ (GARS I, 84–206), dass es ihm nicht um die „persönlichen Ansichten Calvins“ gehe, sondern um

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keiner Stelle ein Werk beziehungsweise eine Schrift Calvins ausdrücklich genannt und zitiert, geschweige denn eingehender referiert oder gar zum Gegenstand einer gründlicheren Kommentierung oder Interpretation gemacht. Angesichts dessen, was man alles über den angeblichen Zusammenhang von (calvinischem oder calvinistischem53) Prädestinationsglauben und kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung hören und lesen kann, ist das schon erstaunlich. Auch wenn man annimmt, dass zumindest bis 1914 Weber vielfache Gelegenheit hatte, sich mit Ernst Troeltsch über dessen Calvinund Calvinismus-Deutung auszutauschen54, und wenn man unterstellt, dass Weber über Troeltsch hinaus auch andere Beiträge zur zeitgenössischen Calvin-Forschung zur Kenntnis genommen haben wird, ist dieses Schweigen schon bemerkenswert. Einen „Erben“ Calvins kann man Weber insofern mit guten Gründen nicht nennen, nicht einmal in der Hinsicht, dass er gleichsam eine zumindest den Zeitgenossen verborgene Seite Calvins ans Licht gebracht hätte. 1.5 Calvinismus / Puritanismus und Kapitalismus Wie aber steht es mit der „Wahlverwandtschaft“55 von Calvinismus und Kapitalismus, genauer gesagt von asketischem Protestantismus und bestimmten neuzeitlichen Ausprägungen einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung? Ich habe schon erwähnt, dass es Weber auch hier nicht um historische Gruppen und Entwicklungen, sondern um charakteristische Elemente ————— den Calvinismus des späten 16. und des 17. Jahrhunderts gehe, und dies auch nur in bestimmten Gebieten, die „zugleich Träger kapitalistischer Kultur waren“ (89). Die bisher edierten Briefe (MWG II/5–9) und Vorlesungen bzw. Vorlesungsnachschriften (MWG III) Webers habe ich für diesen Beitrag nicht eingesehen. 53 Wie unscharf das Etikett „Calvinismus“ ist, zeigt B.A. GERRISH, Art. Calvinismus, RGG4 2 (1999), 36–38. 54 Siehe E. TROELTSCH, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 3 1923, 605–794; DERS., Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906– 1913), Kritische Gesamtausgabe Bd. 8, hg. von T. RENDTORFF in Zusammenarbeit mit ST. PAUTLER, Berlin u.a. 2001. Zwischen 1910 und 1914 wohnten die Ehepaare Weber und Troeltsch im Hause Ziegelhäuser Landstrasse 17 in Heidelberg. Troeltsch folgte 1914 einem Ruf auf eine Philosophie-Professur nach Berlin. Zum Verhältnis Weber – Troeltsch siehe H.E. TÖDT, Max Weber und Ernst Troeltsch in Heidelberg, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre RuprechtKarls-Universität Heidelberg. 1386–1986. Festschrift in sechs Bänden. Im Auftrag des Rector magnificus Prof. Dr. Gisbert Frhr. zu Putlitz bearbeitet von W. DÖRR, Berlin u.a. 1985, Bd. III, 215–258; F.W. GRAF, Fachmenschenfreundschaft. Bemerkungen zu „Max Weber und Ernst Troeltsch“, in: W.J. MOMMSEN / W. SCHWENTKER (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen, Göttingen u.a. 1988, 313–336; sowie die Einleitung von T. RENDTORFF zu dem genannten Band. 55 Siehe zu diesem Topos auch die „Einleitung“ (MWG I/19, 106 und 108 / GARS I, 256f.), „Wirtschaft und Gesellschaft“ (ed. WINCKELMANN, 704), sowie die Rede von „Wahlverwandtschaftsverhältnissen“ in WEBER, Antikritisches (Anm. 1), 171.

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geht, aus denen sich ein Idealtypus durch Abstraktion, Auswahl und Zuspitzung geschichtlicher Erscheinungen bilden lässt.56 So kann er recht großzügig teils von Calvinismus, teils von Puritanismus sprechen, und dabei Personen und Gruppen von den unmittelbaren Nachfolgern Calvins in Genf bis in die Zeit des Pietismus, französische Hugenotten, schottische Presbyterianer, Methodisten, Quäker und viele andere subsumieren.57 Dieser Sachverhalt sollte einen davor warnen, Webers Erkenntnisinteresse in erster Linie oder überwiegend als ein historisches zu verstehen.58 Zwar rezipiert er ungeheuer viele historische Studien, aber er unterwirft sie konsequent den ihm wichtig erscheinenden, wissenswerten, systematischen Fragestellungen und Gesichtspunkten (im Bewußtsein, dass andere mit anderen Gesichtspunkten der Selektion und Analyse desselben „Materials“ arbeiten können). Weber hat immer wieder seinen hohen Respekt vor den historischen und religionswissenschaftlichen Fachkollegen bekundet und sich selbst als „Nichtfachmann“ bezeichnet, aber er war sich auch dessen sehr bewusst, dass er – aus seiner Sicht und mit seinen Erkenntnisabsichten – neuartige „Problemstellungen“ ansprach59, die gleichsam, mit Niklas Luhmann zu sprechen, vertraute Phänomene in eine inkongruente Perspektive rücken und durch eine ungewohnte Beleuchtung auch ungewohnte Fragen provozieren. Mich hat genau dieser Aspekt an Webers Werk stets fasziniert. Was sucht und findet Weber nun an diesem mixtum compositum „Calvinismus / Puritanismus“? Es sind, wie schon erwähnt, die Züge eines asketischen Protestantismus, der sich in den Personen seiner Anhänger durch die Ablehnung jeder Magie, ein überaus starkes Bedürfnis der Heilsvergewisserung, das Bemühen um eine an „letzten“ Werten orientierte, konsequente Lebensführung, eine rigorose Moral der Berufserfüllung, ein in sich stringentes und strenges Gottesbild absoluter Unzugänglichkeit und Souveränität und eine rigoros asketische Lebensführung auszeichnet. Man hat biswei————— 56

Grundfragen der methodischen Typenbildung hat Weber in einem berühmten Aufsatz erörtert: „Die ‚Objektivität‘ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904), in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von J. WINCKELMANN, Tübingen 31968, 146–214. Nach Webers viel zitierter Definition wird der Idealtypus gewonnen „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde“ (191). 57 Siehe GARS I, 85, Anm. 58 Daran gemessen, muss dann die Kritik unvermeidlich scharf, ja vernichtend ausfallen; vgl. schon früh H. LÜTHY, Nochmals: „Calvinismus und Kapitalismus“, Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 11, 1961, 129–156; sowie M. GEIGER, Calvin, Calvinismus, Kapitalismus, in: DERS. (Hg.), Gottesreich und Menschenreich. FS E. Staehelin, Basel u.a. 1969, 231–286. Diese letzte, sehr sorgfältige Untersuchung wird von den soziologischen Weber-Forschern, soweit ich sehe, überwiegend nicht zur Kenntnis genommen. 59 In der schon erwähnten „Einleitung“: MWG I/19, 84 / GARS I, 237.

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len überlegt, ob und wieweit dieses typisierte Bild auch als eine Art Selbstzeugnis zu lesen und zu verstehen sein möchte60, aber diese Frage ist wohl nicht zu beantworten. Mit Gründen zu bezweifeln ist freilich, dass nur oder vor allem und im Unterschied zu anderen Motivlagen ein derartiger „puritanisch-asketischer“ Menschentyp maßgeblich und entscheidend die Durchsetzung der modernen kapitalistischen globalen Wirtschaftsordnung begünstigt oder gar ursächlich (mit) heraufgeführt haben könnte. Eine derartige Zurechnung im Sinne eines historischen Wahrscheinlichkeitsurteils über notwendige und hinreichende Bedingungen in der Gesellschaftsgeschichte erscheint mir auch nach Webers eigenen methodischen Standards61 nicht vertretbar zu sein, ja letztlich auch von ihm selbst gar nicht beabsichtigt gewesen zu sein.

2. Positionen der Weber-Kritik Seit mehr hundert Jahren liegen Webers Studien unter dem Feuer der Kritik. Die apodiktischen Urteile reichen von „nonsense“ (Samuelson) bis zu der begründeten These, dass, wenn man nur Webers Quellen studiert, das ganze Gebäude wegen erwiesener Haltlosigkeit zusammenbricht.62 Das gilt nach Schellong insbesondere für die meisten Auffassungen, die Weber im Blick auf Calvin und „den“ Calvinismus ins Feld führt.63 —————

60 H. LEHMANN, Max Webers „Protestantische Ethik“ als Selbstzeugnis, in: DERS., Max Webers „Protestantische Ethik“, 109–127. Aber diese Frage bleibt sicher so lange unbeantwortet, als es keine verlässlichen Informationen über Webers langwierige Krankheit gibt. 61 Wie sie im Objektivitätsaufsatz formuliert sind (Anm. 56). 62 Vgl. zu einem speziellen Aspekt, der freilich bei Weber gar keine zentrale Rolle spielt, D. SCHELLONG, Calvinismus und Kapitalismus. Anmerkungen zur Prädestinationslehre Calvins, in: H. SCHOLL (Hg.), Karl Barth und Johannes Calvin. Karl Barths Göttingen Calvin-Vorlesung von 1922, Neukirchen-Vluyn 1995, 74–101; von größerem Gewicht die Argumente in: DERS., Wie steht es um die „These“ vom Zusammenhang von Calvinismus und „Geist des Kapitalismus“?, Paderborn 1995, hier 26. 63 GARS I, 89, bringt Weber eine doch eher rein salvatorische Klausel an, dass er gar nicht Calvin persönlich meinen will, sondern den Calvinismus im 16. und 17. Jahrhundert, und wiederum nur „in den großen Gebieten seines beherrschenden Einflusses“. Wichtige historische Stichoder Gegenproben, die eigentlich auf der Hand liegen, hat Weber aber, wenn ich recht sehe, nicht gemacht (die zu erwartenden Bände der MWG werden vielleicht neue Einsichten hierüber bringen). So hat er m.W. nie die Eidgenossenschaft und den nachcalvinischen Calvinismus in der Schweiz näher analysiert, noch hat er die spannenden Entwicklungen in Frankreich vor der Bartholomäusnacht, nach dem Edikt von Nantes und nach dessen Widerrufung untersucht. Anders gesagt: Weber hat seine historischen Belege nie umfassend systematisch organisiert, sondern in ihrer Vielfalt seinen leitenden Fragestellungen unterworfen. Noch anders: Weber hat in den Protestantismus-Studien nicht versucht, zwischen den fachspezifischen Fragestellungen und Aufgaben des Historikers, des Nationalökonomen und des Soziologen klar zu differenzieren. Hätte er das getan, so hätte er wohl auch darüber reflektieren müssen, ob und wieweit es so etwas wie

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2.1 Calvin, Calvinismus, Puritanismus oder wer oder was? Nach dem Calvin-Jahr 2009 liegt es auf der Hand, dass man die Fragerichtung auch umkehren und fragen sollte, was Calvin selber im Blick auf etliche der von Weber erwähnten Sachverhalte gesagt hat oder hätte. Dazu greife ich vier, m.E. entscheidende Punkte auf: 2.1.1 Prädestination Weber unterstellt zwar nicht Calvin eine bestimmte Auffassung der so genannten doppelten Prädestination, also jener „Lehre“, wonach Gott in seinem unvordenklichen Ratschluss die einen Menschen unweigerlich zur Erlösung, die anderen ebenso unabänderlich zu ewiger Verdammnis vorherbestimmt habe. Wohl aber ist für ihn durchgehend die Auffassung bestimmend, dass es „im Calvinismus“ ein Syndrom gegeben habe, das sich durch die Elemente Prädestinationsglauben, Erwählungsungewissheit und daraus resultierende Ängste und systematischen Berufseifer auszeichne. In der dogmatischen Theologie und kirchlichen Lehre findet er dafür freilich keine Belege. Ich zweifle, ob man beispielsweise die Dokumente der Dordrechter Synode wirklich in Webers Sinne lesen und verstehen muss. Weber behauptet ja auch, dass für dieses Syndrom von strengstem (doppelten) Prädestinationsglauben und asketischer Berufstätigkeit und Lebensführung „das religiöse Tagebuch“ eine entscheidende Quelle darstelle.64 Schellong hat mit eindeutig negativem Ergebnis diese Berufung auf Webers Quellen destruiert. Abgesehen davon, dass es zweifelsohne Tagebücher gibt und gegeben hat, in denen Menschen ihren tiefen religiösen Zweifeln über ihre Erwählung und die Notwendigkeit ihrer beruflichen Bewährung in vielfacher Hinsicht Ausdruck geben, ist es ein gewaltiger Schritt, von Tagebuchnotizen auf eine nicht nur individuelle, sondern vielmehr auf eine Art kollektiver Wirtschaftsgesinnung zu schließen. Dieser Eckpfeiler der Weber-These, wenn es denn eine klare These ist, ist m.E. nicht haltbar. So haben Untersuchungen zur Frömmigkeitsgeschichte gezeigt, dass man in der Literatur der ————— ein „Vetorecht der Quellen“ (Koselleck, zitiert im Epilog zu diesem Band) gegen ihre soziologische Verfremdung gibt. 64 Über den Wert von Webers Quellen (z.B. in GARS I, 96–114: Bailey, Baxter, Bunyan, Spener etc.) kann man trefflich streiten; sie stammen aus ganz unterschiedlichen Zeiten, Kontexten, religiösen Strömungen. Heute wird man wohl nicht mehr zweifeln, dass auch und gerade Selbstzeugnisse als Quellen der Frömmigkeitsgeschichte willkommen sind, aber sie bedürfen dann einer überaus sorgfältigen, differenzierenden und vergleichenden Interpretation. Davon war Weber noch sehr weit entfernt. Heute spricht man gern von Ego-Dokumenten und ist sich der methodischen Schwierigkeiten ihrer Interpretation sehr bewußt; vgl. dazu B. VON KRUSENSTJERN, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: R. VAN DÜLMEN / E. FLAIG / U. JEGGLE u.a. (Hg.), Historische Anthropologie, Kultur, Gesellschaft, Alltag 2 (1994), 462–471.

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Puritaner kaum Hinweise findet, die auf religiöse Ängste, einsames Heilsstreben und darauf basierendes Berufsethos hinweisen, wie Weber dies behauptet hat.65 Gleichwohl kann man darüber streiten, inwieweit die These zumindest teilweise zutrifft, dass die Ethik bei Calvin und seinen Anhängern und Nachfolgern in der Prädestinationslehre verankert sei.66 Die These ist dann zutreffend, wenn man damit meint, dass die Erwählung durch die Gnade Gottes die Menschen in eine Gemeinschaft mit Gott und untereinander beruft, sammelt, erbaut und sendet, in der „gute Werke“ aufgrund der geschenkten „Freiheit in Jesus Christus“ möglich werden. So gesehen, folgt aus der Prädestinationslehre, wie sie Calvin selbst vertreten hat und worin ihm viele „Calvinisten“ gefolgt sind, ein Ethos der Dankbarkeit.67 Daraus folgt hingegen sicher nicht ein Ethos rastloser Berufsarbeit, um sich gleichsam aus eigener Kraft der eigenen Erlösung zu versichern, wie Weber in dieser Form zwar nicht behauptet hat, aber immer wieder verstanden worden ist. In dieser grundlegenden und zentralen Frage ist daher Webers Position unhaltbar, ja, immer unhaltbar gewesen, und man kann sich nur wundern, dass und warum die Theologen zu seiner Zeit ihm kaum zu widersprechen gewagt haben, wenn ich richtig sehe.68 2.1.2 Ekklesiologie Weber behauptet, dass „die“ Calvinisten und Puritaner in ihrem persönlichen Glauben vereinzelt und gleichsam einsame Heilige gewesen seien, spricht freilich auch von der Gemeindereligiosität, ohne jedoch deren Gemeinschaftscharakter näher zu untersuchen. Das wird der von Calvin herrührenden und von ihm vertretenen Gestalt der Kirche nicht gerecht. Dort waren vielmehr die Grundzüge einer verbindlichen Ordnung des Gemeindelebens, einer Kirchendisziplin und wechselseitiger Angewiesenheit maßgeblich. Das gilt auch und gerade für die (staatsfreien) Sekten. Wenn man einmal die teilweise erschreckenden Auswüchse klerikal bevormundender Sozialdisziplinierung in Genf beiseite lässt, hat man es mit einer Ekklesiologie zu tun, welche die Bedeutung der Gemeinschaft der Gläubigen, wechselseitige Verantwortung und Unterstützung sowie die Ausstrahlung der Kirche auf die gesamte gesellschaftliche Ordnung betont. Der Abstand zu —————

65 Siehe außer SCHELLONG auch LEHMANN, Asketischer Protestantismus; K. V. GREYERZ, Biographical Evidence on Predistination, Covenant, and Special Providence, in: LEHMANN / ROTH (Hg.), Weber’s Protestant Ethics, 273–284. 66 GARS I, 120. 67 Diese Konsequenz hat beispielsweise gezogen K. BARTH, Das Geschenk der Freiheit. Grundlegung evangelischer Ethik, Zollikon-Zürich 1953. 68 Siehe dazu F.W. GRAF, Max Weber und die protestantische Theologie seiner Zeit, ZRGG 39, 1987, 122–147.

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den von Weber immer wieder herausgestellten einsamen „religiösen Virtuosen“ könnte kaum größer sein. 2.1.3 Wirtschaftsethik69 Im Blick auf Calvin selbst und die in Genf artikulierte evangelische Ethik im allgemeinen, die Grundlinien seiner Wirtschaftsethik im besonderen ist evident, dass davon keine speziell frühkapitalismus-freundlichen Impulse ausgehen konnten. Zwar finden wir bei Calvin keine vergleichbar scharfe Analyse und Kritik des Frühkapitalismus des 16. Jahrhunderts wie bei Martin Luther. Marx hat Luther darum als den bedeutendsten deutschen Nationalökonomen der älteren Zeit gelobt70, und ausdrückliche zustimmende Erwähnungen Luthers begegnen häufig in Marx’ Werk. Dergleichen wäre Marx im Blick auf Calvin wohl nicht in den Sinn gekommen. So hat Calvin, darin allerdings von Luther nicht unterschieden, ein maßvolles Zinsnehmen durchaus bejaht, er hat, so weit ich sehe, nicht die großen Monopolgesellschaften der Zeit kritisiert, und er hat die mit der Eroberung der Neuen Welt und den neuartigen Wirtschaftsformen aufgekommenen verschärften Ausbeutungsverhältnisse kaum wahrgenommen. Aber Calvin hat in Genf, ähnlich wie Luther in Wittenberg und anderen Orts, unter Berufung auf die biblischen Überlieferungen71, die unverzichtbare Verantwortlichkeit des Gemeinwesens für die systematische Armenfürsorge betont, die Bettelei bekämpft und gleichzeitig den Bau von Spitälern, Waisen- und Armenhäusern gefördert und das neu herausgestellte Amt der Diakone mit den entsprechenden Aufgaben versehen. Man kann in diesen neuen Institutionen der Krankenhäuser, Armenhäuser und Gefängnisse mit Michel Foucault eine spezifisch frühneuzeitliche, kapitalismus-wahlverwandte, rationale Domestizierung und Disziplinierung der Unterschichten sehen; man kann aber auch eine damit aus religiösen Gründen intendierte Solidarität zwischen Arm und Reich erkennen. Mir scheint, dass in dieser Hinsicht Luther wie Calvin einem sozialpatriarchalischen Sozialmodell verpflichtet waren, ganz sicher aber keinerlei „Wahlverwandtschaft“ mit dem „Geist“ des Kapitalismus erkennen lassen. —————

69 Siehe dazu grundlegend A. BIÉLER, La pensée économique et sociale de Calvin, Genève 1959 (= Paris 1961), sowie die englische Übersetzung von J. GREIG, hg. von E. DOMMEN (Calvin’s Economic and Social Thought, Geneva 2005); ferner mit klarer zeitlicher und räumlicher Begrenzung A. BÜRGIN, Kapitalismus und Calvinismus. Versuch einer wirtschaftsgeschichtlichen und religionssoziologischen Untersuchung der Verhältnisse in Genf im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert, Winterthur 1960; sowie meinen Beitrag über „Calvins Wirtschaftsethik“ im Sammelband zur Berner Ringvorlesung 2009 mit dem Titel „Johannes Calvin 1509–2009. Würdigung aus Berner Perspektive“. 70 Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857–1858), zuerst in zwei Teilen Moskau 1939/41, dann Berlin / DDR 1953, hier 891. 71 Vor allem in den Deuteronomiums-Predigten; siehe dazu meinen Beitrag (Anm. 69).

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2.1.4 Berufsverständnis Zutreffend erscheinen mir hingegen viele Beobachtungen Max Webers zu einem gewandelten Berufsverständnis. Ob das konfessionsspezifisch war oder ob andere Faktoren mindestens genau so stark mitspielten, lasse ich offen. Mir scheint, dass Weber wenigstens in zwei Punkten völlig recht hat: Erstens hat die Reformation mit der Hochschätzung der mönchischen Lebensweise gebrochen und die rein weltliche Berufsarbeit aufgewertet, ja, als eine Gestalt des Gottesdienstes in dieser Welt verstanden. So wie die reformierten Juristen der Integration und Entwicklung eines weltlichen, jedenfalls nicht (mehr) kirchlich und vor allem konfessionell bestimmten Staatswesens dienten, so emanzipierten sich Händler, Kaufleute und Gewerbetreibende von der Dominanz religiöser Vorschriften. Ein wichtiges Zeichen dessen war die faktische Vergleichgültigung des alten kanonistischen Zinsverbotes. Zweitens haben die reformatorischen Theologen und die von diesen beeinflussten Kaufleute durchweg eine Auffassung von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums vertreten. Vielleicht kann und muss man hier doch konfessionell differenzieren, aber dann etwas subtiler als das Weber getan hat: Mir scheint, dass die katholische Soziallehre, wie sie zwar erst seit dem späten 19. Jahrhundert systematisch entfaltet worden ist, aber die älteren Traditionen der Kirche in sich fortführte, insgesamt stärker den Gemeinschaftscharakter und die Sozialpflichtigkeit von Eigentum und Erwerbsarbeit betont, während wir im Protestantismus eher eine positive Wertung liberaler Wirtschaftstätigkeit finden. Dies hat aber nach meiner Einsicht nichts mit irgendeinem Prädestinationsglauben, sondern mit unterschiedlichen Affinitäten zum politischen und ökonomischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts zu tun. 2.2 Weiter gehende Kritiken der Historiker In seinem Beitrag für den Katalog der Ausstellung „Die Reformierten. Der Calvinismus in Deutschland und Europa“ im Deutschen Historischen Museum in Berlin (2009) hat Hartmut Lehmann eine kritische Bilanz der „Weber-These im 20. Jahrhundert“ gezogen.72 Ich rekapituliere die wichtigsten Punkte, die Webers Auffassungen erschüttern: 2.2.1. Methodisch ist Webers Vorgehen hoch problematisch. Er kombiniert partikulare Beobachtungen mit einer insgesamt pessimistischen Geschichtsschau, in die sehr viel zeitgenössische kulturkritische Impulse der Gründer————— 72

Die Weber-These im 20. Jahrhundert, 378–383.

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jahre und noch mehr von Nietzsche geprägte Motive einfließen.73 Weber arbeitet mit dem Instrument des „Idealtypus“, aber zwischen dessen Konstruktion, theoretischer Begründung und Handhabung als eines heuristischen Instruments bei der Forschung einerseits, der Anwendung in den Protestantismus-Studien klaffen unüberbrückte theoretische Lücken. 2.2.2. Weber verstand sich als Komparatist. Er plante sogar etwas ganz Modernes: die Gründung eines Instituts für komparatistische politologische Forschungen in Heidelberg (gemeinsam mit dem befreundeten Juristen Georg Jellinek). Aber er hat es versäumt, die Bezugsgrößen seiner vergleichenden Verfahren hinreichend klar zu bestimmen. Welchen Kapitalismus meinte Weber in welchem Zusammenhang seiner Forschungen? Zwar ist bewunderungswürdig, dass und wie Weber beständig differenziert, welche Merkmale die verschiedenen Typen von Kapitalismus auszeichnen. War es aber wirklich eine glückliche Wortwahl, die Konstruktion eines „Geistes“ des Kapitalismus zu unternehmen, oder wären nicht eine analytische Gewinnung und Darstellung der unverzichtbaren Elemente eines brauchbaren Kapitalismus-Begriffs, bei dem auch die Marx’sche Theorie eine hinreichende Würdigung erfahren hätte, besser gewesen? Dabei haben sich die inhaltlichen Bestimmungen dessen, was als Kapitalismus betrachtet werden soll, im Laufe von Webers Arbeit und im Blick auf die Weltreligionen ersichtlich verschoben. Ich habe schon betont, dass insbesondere die Bedeutung und Extension des Puritanismus-Begriffs unklar und unterbestimmt ist. Wenn es sich um Gegenstände historischer Untersuchungen handeln soll, darf man nicht nur Idealtypen entwerfen, sondern sollte im Bezug auf die Quellen, deren Auswahl und Kontrastierung mit anderen Überlieferungen möglichst genau angeben, wie das Untersuchungsfeld insgesamt strukturiert ist. 2.2.3. Webers Werk ist nicht nur zu einem großen Teil fragmentarisch geblieben, auch die werkexternen Bezüge haben Verwirrung gestiftet und tun dies immer wieder. 1906 sollte Weber seine Thesen auf dem Historikertag in Stuttgart vortragen, aber er entzog sich dem und verwies auf die Arbeiten von Ernst Troeltsch. Troeltsch wiederum legte in Stuttgart natürlich nicht Webers Auffassungen dar, sondern entwickelte seine eigene Sicht von Christentum und Moderne und entfaltete seinerseits ein gewaltiges Panorama über „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“. Damit verschob sich die Fragestellung erheblich, nämlich schon im Ansatz von Calvinismus / Puritanismus hin zu Protestantismus / Moderne. Umgekehrt hat Weber wichtige Details – keineswegs nach heuti————— 73

Dazu siehe auch SCHELLONG, Wie steht es um die These, 16–18.

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ger Sicht der Dinge immer zutreffende – von Troeltsch übernommen, teils klar deklariert, teils auch nicht. Eine solche Diskussionslage war und ist, zurückhaltend geurteilt, desorientierend.74 2.2.4. Historiker haben in ungezählten Fallstudien Teile von Webers großflächig erscheinenden, aber teilweise überaus differenzierten Thesen überprüft. Es konnte kaum anders sein, als dass im Einzelfall viele Behauptungen sich nicht anhand von Quellen verifizieren ließen.75 Viele Gewährsleute, die Weber in teilweise umfangreichen Anmerkungen aufruft, stehen, bei Licht betrachtet, gerade nicht immer für die Thesen und Auffassungen, die Weber mit ihnen gern verbinden möchte. Das gilt insbesondere für Baxter, Bayley oder Bunyan. In anderer Hinsicht hat der spätere italienische Ministerpräsident Amintore Fanfani zu zeigen versucht, dass auch das Verhältnis des Katholizismus bzw. katholischer Gläubiger zum Kapitalismus nicht von der Art (gewesen) sei, wie sie Weber zeichnet.76 Ökonomen wie Samuelson haben wohl am schärfsten Weber kritisiert, indem sie gezeigt haben, dass die Betonung der Berufsaskese und der religiösen Beweggründe bei weitem nicht hinreichend plausibel machen können, warum die kapitalistische Produktionsweise sich global durchsetzen konnte und heute, wie wir mehr als hundert Jahre nach Webers Studien klar sehen, sehr wohl mit ganz verschiedenen religiösen und areligiösen Weltorientierungen vereinbar ist. Schon der Schweizer Historiker Herbert Lüthy hat in seinen Studien, insbesondere zur Geschichte der protestantischen Banken in Frankreich, gezeigt, dass hier calvinistische Impulse kaum wichtige Rollen gespielt haben.77

—————

74 Dass Rachfahl in seinem erwähnten Beitrag dann Weber und Troeltsch gemeinsam kritisiert hat, wogegen sich Weber wiederum energisch verwahrte, hat die Diskussionslage nicht gerade übersichtlich gemacht. 75 Zu Frankreich siehe beispielsweise H. KRETZER, Die Calvinismus-Kapitalismus-These Max Webers vor dem Hintergrund französischer Quellen des 17. Jahrhundert, Zeitschrift für historische Forschung 4, 1977, 415–428; zu weiteren Stichproben vgl. die Fallstudien in SCHLUCHTER (Hg.), Max Webers Sicht des okzidentalen Christentums; sowie J. KOCKA (Hg.), Max Weber, der Historiker, Göttingen 1986. 76 A. FANFANI, Catholicism, Protestantism and Capitalism, New York 1955. 77 La banque protestante en France de la révocation de l’Edit de Nantes à la Révolution, 2 vol., Paris 1959–61 (ND Paris, 3 vol., 1999). In seinem Aufsatz „Nochmals ‚Calvinismus und Kapitalismus‘“ formuliert Lüthy als Gegenthese zu Weber pointiert seine Sicht des Erbes Calvins: „hier auf jeden Fall, in der Befreiung des Menschen aus geistiger Untertänigkeit und Menschenfurcht, liegt die wahre und tiefe Beziehung zwischen Calvinismus und moderner Wirtschaftsgesellschaft, die gleiche wie zwischen calvinistisch-rationaler Religiosität und positiver Wissenschaft, die gleiche wie zwischen calvinischer Gemeinde und moderner Demokratie. Alles andere ist Beiwerk.“ (151)

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2.3 Die Kritik der Theologen Die substanzielle und schon vor längerer Zeit vorgetragene Weber-Kritik von theologischer Seite ist erstaunlich wenig außerhalb der Theologie, also in der sozialwissenschaftlichen Weber-Forschung zur Kenntnis genommen worden. Die wichtigen Beiträge von Max Geiger und Dieter Schellong sucht man in den einschlägigen Bibliographien meist vergebens. Geiger hat schon 1969 gezeigt, dass zumindest für Calvins Genf die Behauptungen Webers kaum zutreffend sind, und Schellong hat wichtige Thesen Webers und Bezugnahmen auf Literatur kritisch geprüft und verworfen, insbesondere im Blick auf das Prädestinationsverständnis, das Kirchenverständnis und die Motive des Berufsethos. Andererseits muss man „antikritisch“ feststellen, dass Schellong auch nicht versucht hat, Webers leitende Forschungsabsichten zu rekonstruieren und zu würdigen; die Komparatistik einer „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ kommt als diskutables Forschungsprogramm bei ihm gar nicht in den Blick. 2.4 Fazit Webers „Protestantische Ethik“ ist unter anderem deshalb so problemtisch, wie ich zu zeigen versucht habe, weil sie zu ihrem Gegenstandsbereich weder eine methodisch einleuchtende, umfassende historisch-empirische Bestandsaufnahme noch eine überzeugende theoretische Einordnung und Würdigung der vorgebrachten Befunde vorlegt. Wenn man im Anschluss an Kants Erkenntnistheorie, mit der sich Weber intensiv auseinander gesetzt hat, verlangt, dass es zu den Voraussetzungen einer möglichen zuverlässigen Erweiterung menschlichen Wissens gehört, Anschauung und Begriff, Vergegenwärtigung der Mannigfaltigkeit der relevanten Erscheinungen einerseits, sorgfältig begründete Prinzipien der gedanklichen Ordnung andererseits, zusammen zu fügen, dann sind Webers Ausführungen höchst präzisierungs- und kritikbedürftig, freilich auch geeignet, weiter entwickelt zu werden. Seine Darbietung historisch-empirischer Sachverhalte ist vielfach trotz aller Materialfülle eher „rhapsodisch“ denn systematisch. Gleichwohl muss man festhalten, dass er sich zu seiner Zeit durchaus auf dem Stand der damaligen philosophischen Erkenntnistheorie, besonders Kants und Rickerts, und der für ihn belangreichen Fachwissenschaften befand. Einige mögliche weitere Einwände gegen Webers Darstellungen und Konstruktionen will ich jetzt nicht aufführen, nicht ohne jedoch ein grundsätzliches methodisches Desiderat der Weber-Forschung zu nennen: Ich kenne (bisher) keine Diskussion der Weber’schen Analysen zum Protestantismus, die zuerst einmal alle seine angeführten Quellen und Gewährsleute genau

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nachgewiesen, anhand der Quellen überprüft und in ihrem argumentativen Stellenwert für und bei Weber gesichtet hätte.78 Methodisch wäre es seit langem geboten gewesen, zuerst einmal eine solche kritische Bestandsaufnahme aller derjenigen Quellen vorzunehmen, auf die Weber sich bezieht.

3. Ausblick: gegen Weber mit Weber Im Rückblick hätte ich meine Überlegungen vielleicht auch überschreiben können: „ships passing in the night“. Viele gelehrte Studien zu Max Weber stehen nebeneinander. Die Religionssoziologen, Historiker, Theologen und Kulturwissenschaftler haben anscheinend je „ihren“ Max Weber. Die große Gesamtausgabe verlangt einen erheblichen Aufwand, wenn sich jemand mit ihrer Hilfe auf das Labyrinth dieses riesigen, fragmentarisch gebliebenen Werkes einlassen will. Die Fachwissenschaftler haben durchweg „die Weber-These“ längst verabschiedet, wenn sie diese je geteilt oder geschätzt und nicht bloß als ein leicht missverständliches Kürzel verwendet haben. Hundert Jahre nach Webers Erstveröffentlichungen leben wir aber vor allem in einer Welt, in welcher der globale Kapitalismus nahezu jedes Dorf erreicht, das menschliches Leben und alle traditionellen Ordnungen umgestaltet und revolutioniert und in der Sicht vieler Menschen als eine (nahezu) alternativlose Weltordnung erscheint. Max Weber interessierte und faszinierte der neuzeitliche Kapitalismus in seiner ursprünglichen Formationsphase, als diese Form der Gesellschaft eben noch nicht auf breiter Front sich durchgesetzt hatte und wie in der Gegenwart als nahezu alternativlos erschien.79 Karl Marx’ und Friedrich Engels’ „Kommunistisches Manifest“ vom Februar 1848 war allerdings womöglich die bessere und schonungslosere Diagnose als Max Webers umfangreiche, nie abgeschlossene und Fragment gebliebenen Studien zu einer Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Mehr noch: Der Kapitalismus hat in den letzten Jahrzehnten besonders dort einen unvergleichlichen Siegeszug angetreten, wo dies nach Webers Auffassung am wenigsten wahrscheinlich war, in Indien und China. Ist der globale Kapitalismus womöglich je länger umso mehr – religionsindifferent? Oder multireligiös beerbbar? —————

78 Das ist indes eine gewaltige Kärrner-Arbeit und dürfte erklären, warum ausgerechnet die Studien zum Protestantismus immer noch in der Planung sind. Wer die bisherigen Bände der MWG konsultiert hat, weiß, welche ungeheure Arbeit allein die Verifizierung von Webers genannten oder (vor allem) ungenannten Quellen erfordert hat – von den vielfältigsten Anspielungen bei Weber ganz zu schweigen. 79 Dieses Interesse am Ursprung kapitalistischer Wirtschaftsgesinnung betont zu Recht SCHLUCHTER, Entzauberung (siehe Anm. 1). Man muss dabei heute, wie schon Weber es zu seiner Zeit tat, das Schwinden und die „Säkularisierung“ dieser Impulse mit im Blick haben.

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Aber auch eine zentrale These von Marx und Engels wurde, wenn das bei derartigen „catch-all-Thesen“ überhaupt möglich ist, widerlegt, die Annahme nämlich vom „Absterben“ der Religion im Zuge der Ausbreitung des Kapitalismus und der diesen überwindenden, erfolgreichen kommunistischen Revolutionen. Es gibt auch im Kapitalismus oder unter kapitalistischen Rahmenbedingungen sehr unterschiedliche Religionen, die anscheinend trotz aller nivellierenden Tendenzen einer globalen Klassen- und Konsumgesellschaft ihre prägenden Identitätsmerkmale erhalten und entfalten.80 Auch zwischen Kapitalismus und Säkularisierung gibt es anscheinend keine (zwingende) Wahlverwandtschaft. Oder gibt es ein scheinbar friedlichschiedliches Neben- und Miteinander von vielen Religionen und globalen kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen? Oder sogar im Sinne Niklas Luhmanns eine zunehmende Verselbständigung (Ausdifferenzierung) gesellschaftlicher Teilsysteme, die sich (mehr oder weniger) unabhängig voneinander reproduzieren, ihren eigenen immanenten Bewegungsgesetzen folgen und ihre spezifischen Codes und Strategien anwenden und mit unterschiedlichen religiösen Systemen kompatibel sind, mit anderen eher weniger? Sieht man auf einen in der Wirtschaftsethik weltweit verbreiteten Teilbereich, nämlich die so genannten „business ethics“, dann finden wir inzwischen Beiträge sehr unterschiedlicher Religionsgemeinschaften, die wirtschaftlichen Erfolg verheißen – die einen gehen zum Zen-Meister, andere verweilen zum Auftanken in einem Ashram, einige schließen sich einer „prosperity church“ an, die Wohlstand verspricht, andere besuchen einen Kurs in einer evangelischen Akademie oder in einem BenediktinerKloster und wieder andere versuchen, der Soziallehre der römischkatholischen Kirche nachzuleben. Man könnte sagen: „economics need ethics and religion“, aber es ist nicht entscheidend, welche. Und man könnte versucht sein, einen berühmten Spruch des früheren chinesischen Führers Deng Xiaoping zu variieren: Es kommt nicht darauf an, was die Katze glaubt, sondern ob ihr Glaube dazu dient, Mäuse zu fangen.81 Max Weber hat den Blick darauf gelenkt, dass man im Umgang mit und bei der Analyse von gesellschaftlichen Strukturen den Einfluss von Religionen und mit diesen verbundenen Reflexionsformen, Theologien genannt, nicht gering schätzen darf. Man muss wohl diesen Zusammenhang heute mit teilweise anderen Fragestellungen und Instrumenten betrachten und —————

80 Das hat Weber hellsichtig erkannt; vgl. dazu J.W.H. LOUGH, Weber and the Persistence of Religion. Social Theory, Capitalism and the Sublime, London u.a. 2006. 81 Man kann natürlich darauf hinweisen, dass Deng, wie andere spätere Führer der kommunistischen Partei Chinas auch, während seines Frankreich-Aufenthaltes (1919–1926) den westlichen Kapitalismus, aber auch von Marx geprägte Auffassungen kennen gelernt hat. Vor seiner Abreise soll Deng seinem Vater auf die Frage, was er in Frankreich lernen wolle, gesagt haben: „To learn knowledge and truth from the West in order to save China.“

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untersuchen als Weber dies getan hat. Die Frage nach einem Ethos der handelnden und leidenden Menschen unter kapitalistischen Bedingungen erweist sich indes als eine bleibende Frage danach, wie Religionen und ihre Anhänger ein heute vertretbares Ethos des Wirtschaftens und Grundzüge einer legitimen Wirtschaftsordnung bestimmen können und wollen. Wenn es richtig war und ist, dass Puritaner oft gute Geschäftsleute waren, dann gilt aber auch, dass sie immer wieder auch kapitalismus-kritische Auffassungen vertreten haben, so wie Benjamin Franklin sich der Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei angeschlossen hat, ohne freilich Puritaner zu sein. Die katholische Kirche war und ist zweifelsohne durchweg kapitalismuskritischer gewesen als die Christen, die aus reformatorischem Erbe leben. Aber warum soll die Zukunft des Geistes eines ökumenischen Protestantismus nicht auch darin liegen, zu einer Zähmung und Umformung des Kapitalismus und letztlich zu einer völkerrechtlich verbindlichen, humanen Neuordnung der Weltwirtschaft beizutragen.

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Der niederländische Neucalvinismus Abraham Kuypers 1. Einleitung Als „Neucalvinismus“1 bezeichnet man eine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte reformierte Lebens- und Weltanschauung.2 Unlösbar mit diesem Begriff verbunden ist der Name Abraham Kuypers (1837– 1920), des Vaters des niederländischen Neucalvinismus. Durch sein Werk und dank seiner Persönlichkeit hat er die sozial-ökonomische und die gesellschaftliche Ordnung der Niederlande in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts grundlegend geprägt. Deswegen zählt der ehemalige Ministerpräsident der Niederlande, Jan Peter Balkenende, ihn zu den größten Gestalten der niederländischen Geschichte.3 Der Einfluss des Neucalvinismus erstreckt sich weit, sowohl im geographischen als auch im zeitlichen Sinne. Neucalvinistische Ideen haben nicht nur Einfluss in den Niederlanden ausgeübt, sondern auch in bestimmten Kreisen und Gesellschaftsschichten anderer Länder,4 z.B. in den Vereinigten Staaten,5 in Südafrika – wo man leider Gedanken Kuypers missbraucht hat zur Legitimierung der Apartheidsideologie6 – und in Südkorea. Und —————

1 Der Begriff „Neucalvinismus“ (neocalvinisme) wurde wahrscheinlich zum ersten Mal im Jahre 1897 – nach dem Beispiel des „Neukantianismus“ – von dem reformierten Juristen Anne Anema (1872–1966) gebraucht. Vgl. J. VREE, Hoe de citadel ontstond. De consolidatie der Vereniging 1892–1905, in: C. AUGUSTIJN / J. VREE, Abraham Kuyper: vast en veranderlijk. De ontwikkeling van zijn denken, Zoetermeer 1998, (200–242) 217. 2 Vgl. A. KUYPER, Reformation wider Revolution. Sechs Vorlesungen über den Calvinismus, übers. von M. Jaeger, Gr. Lichterfelde 1904, 169 (im Folgenden zitiert als: RwR). 3 Speech minister-president Balkenende bij presentatie biografie Abraham Kuyper, Den Haag, 18 mei 2006, http://www.minaz.nl (14.4.2009). 4 Vgl. die beiden Aufsatzsammlungen: C. VAN DER KOOI / J. DE BRUIJN (Hg.), Kuyper Reconsidered. Aspects of his Life and Word, VU Studies on Protestant History 3, Amsterdam 1999; L.E. LUGO (Hg.), Religion, Pluralism and Public Life. Abraham Kuyper’s Legacy for the TwentyFirst Century, Grand Rapids / Cambridge 2000. 5 Vgl. z.B. J.D. BRATT, De erfenis van Kuyper in Noord-Amerika, in: C. AUGUSTIJN u.a. (Hg.), Abraham Kuyper. Zijn volksdeel, zijn invloed, Delft 1987, 203–228; J.D. BRATT (Hg.), Abraham Kuyper. A Centennial Reader, Grand Rapids / Cambridge 1998; J. B OLT, A Free Church, A Holy Nation. Abraham Kuyper’s American Public Theology, Grand Rapids / Cambridge 2001. 6 Vgl. D.TH. KUIPER, Theory and Practice in Dutch Calvinism on the Racial Issue in the nineteenth Century, CTJ 21/1, 1986, 51–78; K. SMIT, Kuyper and Afrikaner Theology, The Reformed Ecumenical Synod Theological Forum 16/2, 1988, 20–28; P.J. STRAUSS, Abraham Kuyper: Apartheid and Reformed Churches in South Africa in their Support of Apartheid, TFo 23/1, 1995, 4–27; DERS., Abraham Kuyper and Pro-Apartheid Theologians in South Africa – the former

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dieser Einfluss dauert an. Jan Peter Balkenende bezeichnete sich zum Beispiel in einer Rede als „einen Kuyperianer bis auf die Knochen“7. Während seiner Regierungszeit versuchte er bestimmte Gedanken Kuypers zu aktualisieren und revitalisieren. Kuypers Werk und Nachlass kann man am Princeton Theological Seminary am eigens gegründeten „Abraham Kuyper Center for Public Theology“ studieren.8 Dieses Institut verleiht seit 1998 jedes Jahr den sog. „Abraham Kuyper Prize“ für einen ausgezeichneten, die Gedanken und Werte des Neucalvinismus’ reflektierenden, sozialen, politischen oder kulturellen Beitrag. Im Jahre 2004 wurde der Preis bezeichnenderweise an Jan Peter Balkenende verliehen. Bestimmte Gedanken Kuypers haben direkt oder indirekt die Politik der amerikanischen Präsidenten Bill Clinton, George W. Bush Jr. und Barack Obama beeinflusst.9 Auch gibt es in verschiedenen Ländern Interesse für die Werke anderer Vertreter der niederländischen neucalvinistischen Tradition. So wurde zum Beispiel vor kurzem die vierbändige „Reformierte Dogmatik“ – ursprünglich erschienen 1895–1901 – des Theologen Herman Bavinck (1854–1921) ins Englische übersetzt.10 Selbstverständlich war die Tradition des niederländischen Neucalvinismus während des zwanzigsten Jahrhunderts tiefgreifenden Wandlungen unterworfen. Es würde allerdings diesen Beitrag weit übersteigen, die gesamte Entwicklung des Neucalvinismus zu skizzieren.11 Ich konzentriere mich deshalb auf die „Gründergestalt“ Abraham Kuyper. Ich fange an mit der Frage: Wer war dieser Mann? Was hat er während seines Lebens gemacht und geleistet? Danach widme ich mich einigen Grundgedanken seines Werkes. Wie sah der (Neo-)Calvinismus Abraham Kuypers aus? Abschließend verweise ich noch kurz auf einige Beispiele dafür, wie versucht wird, Kuypers Ideen zu aktualisieren. ————— misused the latter?, in: VAN DER KOOI / DE BRUIJN (Hg.), Kuyper Reconsidered, 218–227; J.C. ADONIS, The Role of Abraham Kuyper in South Africa. A Critical Historical Evaluation, in: ebd., 259–272; H.R. BOTMAN, Is Blood Thicker Than Justice? The Legacy of Abraham Kuyper for Southern Africa, in: LUGO (Hg.), Religion, 342–361; G.J. SCHUTTE, De Vrije Universiteit en ZuidAfrika, Zoetermeer 2005. 7 J.P. BALKENENDE, Toespraak bij onthulling standbeeld Abraham Kuyper, http://www.minaz.nl (14.4.2009): „[…] ik ben een Kuyperiaan in hart en nieren“. 8 Vgl. http://libweb.ptsem.edu/collections/kuyper (14.4.2009). 9 L. DROS, Kuyper in het Witte Huis, Trouw vom 25. März 2009, 26–27, http://meer.trouw.nl/nieuws-en-debat/abraham-kuyper-het-witte-huis (14.4.2009). 10 H. BAVINCK, Reformed Dogmatics, 4 Vol., Grand Rapids 2003–2008. 11 Eine kurze Einleitung bietet: G. HARINCK, Waar komt het VU-kabinet vandaan? Over de traditie van het neocalvinisme, Amstelveen 2007. Vgl. aus soziologischer Perspektive: D.T. KUIPER, Tussen observatie en participatie. Twee eeuwen gereformeerde en antirevolutionaire wereld in ontwikkelingsperspectief, Hilversum 2002; zur theologischen Entwicklung: M.E. BRINKMAN (Hg.), 100 jaar theologie. Aspecten van een eeuw theologie in de Gereformeerde Kerken in Nederland 1892–1992, Kampen 1992.

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2. Abraham Kuyper: Theologe – Journalist – Politiker Abraham Kuyper wird im Jahre 1837 geboren als Sohn eines gemäßigt orthodoxen reformierten Pfarrers.12 Seine Mutter kommt in Amsterdam zur Welt, hat aber Schweizer Blut in den Adern. Vielleicht erklärt das, warum ihr Sohn später so gerne in den Schweizer Bergen wandern wird. In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts gehören die meisten Pfarrer in den Niederlanden zum wohlhabenden Teil der Bevölkerung. Die Familie Kuyper bildet in dieser Hinsicht aber eine Ausnahme. Sein Vater hat nur Theologie studieren können dank finanzieller Unterstützung einiger reicher Wohltäter. Nach dem Studium ist sein Einkommen als Pfarrer kaum ausreichend, um standesgemäß zu leben. Abraham Kuyper wächst auf in „anständiger Armut“13. Seine Eltern erteilen ihren Kindern zum Beispiel selbst den Grundschulunterricht. So können sie das Schulgeld sparen. Erst als zwölfjähriger Junge betritt Bram – wie Abraham Kuypers Rufname lautet – zum ersten Mal eine Schule: das Gymnasium in Leiden, dem damaligen Wohnort der Familie. Auf dem Gymnasium gehört der junge Abraham zu den besten Schülern. Nachdem er im Jahr 1855 sein Abitur bestanden hat, studiert er an der Leidener Universität Theologie und Sprachwissenschaften. Die theologische Fakultät in Leiden gilt in diesen Jahren als das Zentrum der modernen, liberalen Theologie. Kuyper empfängt eine gründliche Ausbildung bei namhaften Wissenschaftlern, wie etwa dem damals prominenten Bibelwissenschaftler Abraham Kuenen (1828–1891) und dem Systematiker Joannes Henricus Scholten (1811–1885), der als Vater der modernen Theologie in den Niederlanden gilt. Im April 1859 veranstaltet die Universität Groningen ein Preisausschreiben.14 Thema ist die Ekklesiologie von Johannes Calvin und Johannes a Lasco. Von den Kandidaten wird eine Arbeit in zwei Teilen erwartet: erstens ein deskriptiver Vergleich und zweitens eine normative Beurteilung. —————

12 Die wichtigste biographische Literatur umfaßt: P. KASTEEL, Abraham Kuyper, Kampen 1938; G. PUCHINGER, Kuijper, Abraham, in: J. CHARITÉ (Hg.), Biografisch woordenboek van Nederland II, Amsterdam 1985, 328–333; DERS., Abraham Kuyper. De jonge Kuyper (1837– 1867), Franeker 1987; C.H.W. VAN DEN BERG, Kuyper, Abraham, in: Biografisch lexicon voor de geschiedenis van het Nederlandse protestantisme 4. Bd., Kampen 1998, 276–283; J. KOCH, Abraham Kuyper. Een biografie, Amsterdam 2006; J. V REE, Kuyper in de kiem. De precalvinistische periode van Abraham Kuyper 1848–1874, Hilversum 2006; J. DE BRUIJN, Abraham Kuyper. Een beeldbiografie, Amsterdam 2008. Eine deutschsprachige Einleitung bietet: C. AUGUSTIJN, Abraham Kuyper, in: M. GRESCHAT (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 9/2, Stuttgart u.a. 1985, 289–307. Vgl. auch die Biographie von W. KOLFHAUS, Dr. Abraham Kuyper 1837–1920. Ein Lebensbericht, Elberfeld 1924, die freilich nicht von hagiographischen Zügen frei ist. 13 VREE, Kuyper, 18.36.377: „fatsoenlijke armoede“. 14 Vgl. ebd., 21–69.

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Der Student Kuyper entschließt sich zur Teilnahme. Sie bietet ihm die Möglichkeit, seinen historischen und systematisch-theologischen Interessen nachzugehen und sich hier „auszutoben“. Fast ein gesamtes Jahr arbeitet er äußerst konzentriert an diesem Projekt. Dabei hat er mit mehreren Schwierigkeiten zu kämpfen. Er muss sich zum Beispiel einlesen in die moderne Calvinforschung. Weil diese damals noch in den Kinderschuhen steckt, ist das eine schwere Aufgabe. Schwieriger noch gestaltet sich das Sammeln der Schriften von a Lasco. Dank vielfältiger Hilfe gelingt es ihm schließlich, diese zusammenzubringen. Er schreibt seine Arbeit: die „Commentatio“.15 Diese wird von der Groninger Universität mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Später (1862) dient Kuyper der erste Teil16 dieser Arbeit als Dissertation.17 Kurze Zeit nach dem Erwerb des Doktorgrades siedelt Kuyper mit seiner Frau nach Beesd über, ein kleines Dorf in der Betuwe, dem Gebiet zwischen den Flüssen Rhein und Waal. Ebenso wie sein Vater wird auch Abraham Kuyper Pfarrer in der reformierten Kirche. Neben seiner täglichen Arbeit in der Gemeinde findet er genügend Zeit für diverse Nebentätigkeiten. Wichtig werden hier zunächst vor allem seine historischen Interessen. So besorgt er im Jahre 1866 eine vorzügliche Edition der Werke a Lascos.18 Auch gibt er den Anstoß zur Errichtung eines Vereins, der sich die Herausgabe von Quellen aus der Reformationszeit zur Aufgabe gemacht hat.19 Nach dem bislang Ausgeführten könnte der Eindruck entstanden sein, dass Abraham Kuyper zwar ein intelligenter und energischer, nichtsdestotrotz insgesamt durchschnittlicher Pfarrer mit ausgeprägten historischen Interessen war. Unabsehbarerweise entwickelte sich dieser Mann gleichwohl in den folgenden Jahrzehnten zu einer der größten Gestalten der niederländischen Geschichte – zu einem Mann, der u.a. „eine politische Partei gegründet, eine Tageszeitung ins Leben gerufen, eine Universität errichtet und eine Kirche gebildet hat“20. Autobiographisch präsentiert Kuyper die Jahre in Beesd als den Wendepunkt seiner Entwicklung. Dort sei er vom Modernismus zum orthodoxen Calvinismus bekehrt worden.21 Historische —————

15 Die „Commentatio“ wurde erst vor kurzem herausgegeben: Abraham Kuyper’s Commentatio (1860): The Young Kuyper about Calvin, A Lasco and the Church, 2 Bde., hg. von J. VREE / J. ZWAAN, Leiden u.a. 2005. 16 VREE, Kuyper, 47.77. 17 A. KUYPER, Disquisitio historico-theologica, exhibens Joannis Calvini et Joannis à Lasco De Ecclesia Sententiarum inter se Compositionem, Hagae comitum / Amstelodami 1862. 18 J. A LASCO, Opera tam edita quam inedita, recensuit, vitam auctoris ennarravit A. Kuyper, Tom. I–II, Amstelodami / Hagae-comitum 1866. 19 Siehe zum sog. Marnix-Verein: VREE, Kuyper, 71–127. 20 AUGUSTIJN, Abraham Kuyper, 289. 21 A. KUYPER, Confidentie. Schrijven aan den weled. heer J.H. van der Linden, Amsterdam 1873, 34ff.

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Forschung hat aber herausgestellt, dass diese Sichtweise einer selbsterschaffenen Legende entspringt.22 Ansätze zu Grundgedanken seiner späteren Theologie sind zum Beispiel bereits in der „Commentatio“ zu finden. Fernerhin nimmt die Theologie Calvins in Kuypers Predigten und Publikationen jener Jahre noch nicht die prominente Rolle ein wie in den späteren Jahren.23 Passiv verhält sich Kuyper bei seiner sog. „Bekehrung“ keineswegs. Vielmehr bemüht er sich höchst aktiv, die Gemeindeglieder in Beesd für sein Kirchenideal zu gewinnen. So führt er zum Beispiel die Wahl der Amtsträger ein. Der Kirchenhistoriker Jasper Vree charakterisiert Kuypers Jahre in Beesd treffend als „eine Fingerübung in Sachen Kirchenreformation“24. Man kann festhalten, dass sich Kuyper während seiner Jahre in Beesd mehr und mehr in eine orthodoxe theologische Richtung bewegt. Vier Jahre (1867) nach seinem Start als Pfarrer in Beesd wird Kuyper nach Utrecht berufen. Die kirchliche Gemeinde in Utrecht gilt als orthodox.25 Hier hofft Kuyper seine Ideale realisieren zu können. Seine Zeit in Utrecht endet allerdings in einer großen Enttäuschung. Hier stößt er auf die ihm zutiefst anstößig erscheinende und manches Ärgernis bereitende Volkskirche. Nach kaum einem Jahr Tätigkeit in Utrecht verfasst er in seiner Schrift zur Utrechter Kirchenvisitation einen Abschnitt unter dem bezeichnenden Titel: „Die Lüge in der Kirche“26. Diese Lüge betrifft nach Kuypers Auffassung etwa die gängige Tauffeier. Die Taufformel sei nicht selten eine Eigenkreation des Pfarrers und oftmals hätten die Taufeltern keinerlei Ahnung, was die Taufe bedeute.27 Auch im Blick auf die Abendmahlsfeier und die Katechese kann Kuyper von „Lüge“ sprechen. Hinzu kommen Ärgernisse über die Kirchenvisitation. Kuyper hat tiefgreifende Bedenken und formuliert ernsthafte theologische Einwände gegen die institutionalisierte Volkskirche. Er erstrebt im Gegenzug eine Bekenntniskirche, die gebunden ist an die reformierten Bekenntnisschriften des 16. und 17. Jahrhunderts.28 Später wird er darum diese Schriften aufs Neue herausgeben.29 —————

22 Vgl. VREE, Kuyper, 363–387, bes. 375: „[…] Kuypers äußerst subjektiven Blick auf die Vergangenheit“; vgl. KOCH, Abraham Kuyper, 27–34.105.166. 23 VREE, Kuyper, 374. Vgl. auch ebd., 323. 24 Ebd., 129: „een vingeroefening in kerkreformatie“. 25 Siehe zu Kuypers Jahren in Utrecht ebd., 163–324. 26 A. KUYPER, Kerkvisitatie te Utrecht in 1868 met het oog op den kritieken toestand onzer kerk historisch toegelicht, Utrecht 1868, 1–28. 27 Vgl. ebd., 6–10. Vgl. VREE, Kuyper, 222f. 28 Vgl. ebd., 241; DERS., „Het Réveil“ en „het (neo-)Calvinisme“ in hun onderlinge samenhang (1856–1896), in: AUGUSTIJN / VREE, Abraham Kuyper, (54–85) 66. 29 De drie Formulieren van Eenigheid, met de kerkorde gelijk die voor de Gereformeerde Kerken dezer landen zijn vastgesteld in haar laatstgehouden Nationale Synode, voor kerklijk en huislijk gebruik uitgegeven door A. KUYPER, Amsterdam 1883.

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Während seiner Zeit in Utrecht richtet Kuyper seine Fühler auch in die Politik aus. Er mischt sich zum Beispiel in die damalige Diskussion einer konfessionsgebundenen christlichen Schule ein.30 Bereits nach drei Jahren pfarramtlicher Tätigkeit in Utrecht verlässt Kuyper im Jahr 1870 seine Gemeinde. Er wechselt nach Amsterdam, in die Pfarrstelle der größten reformierten Gemeinde des Landes.31 Dort versucht er, seinem einmal eingeschlagenen Weg einer Reformation der Kirche von innen heraus treu zu bleiben.32 Zugleich nehmen seine Tätigkeiten außerhalb der Kirche immer mehr zu. Er ist bleibend aktiv in der Politik. Zudem übernimmt er 1871 die Redaktion des Wochenblatts „De Heraut“ (der Herold). Er benutzt es als meinungsbildendes Organ für seine Kirchenpolitik. Ein Jahr später formt er dieses Blatt um zu einer Tageszeitung mit dem Titel „De Standaard“.33 Er nutzt sie als Forum, um nicht nur das kirchliche, sondern auch das gesellschaftliche Leben tagtäglich zu kommentieren. Man kann vielleicht sagen: Kuyper ist der erste Kolumnist in den Niederlanden!34 Einige Jahre später (1877) erscheint das Wochenblatt „De Heraut“ erneut. Beinahe bis zum Ende seines Lebens fungiert Kuyper als Chefredaktor beider Blätter. Kuyper entpuppt sich als ein geborener Journalist. Zu Lebzeiten gilt er als der wichtigste Journalist in den Niederlanden.35 Für einige Zeit übernimmt er den Vorsitz des niederländischen Journalistenvereins.36 Bezeich—————

30 AUGUSTIJN, Abraham Kuyper, 293f.: Die Schulen standen „zur Zeit der Republik unter der Obhut der Hervormde Kerk […], [waren] jedoch 1806 in öffentliche Anstalten umgewandelt worden. In ihnen sollte die Erziehung ‚zur Bildung aller christlichen und gesellschaftlichen Tugenden‘ dienen, wie das Schulgesetz von 1857 formulierte. Gab es ein allgemeines, über jeden Glaubensunterschied erhabenes Christentum, in dem sich der Calvinist, der Katholik und der Jude in gleichem Maße wiederfinden konnten? Gegen ein solches Ideal setzte sich eine breite orthodoxe Volksschicht zur Wehr, die entweder eine wahrhaft calvinistische Staatsschule oder eigene protestantisch-christliche Lehranstalten neben den Staatsschulen anstrebte. Die zweite Auffassung setzte sich durch. Es wurden viele protestantische, später auch katholische Schulen errichtet. […] Die Frage entstand, ob Privatpersonen für alle Schulkosten aufkommen mußten. Anfangs war das in der Tat der Fall, doch blieb die Finanzierung des Schulwesens in der niederländischen Politik siebzig Jahre lang eines der vorrangigsten Probleme, das erst 1920 durch die sogenannte ‚Gelijkstelling‘ des staatlichen, des protestantisch-christlichen und des katholischen Unterrichts endgültig gelöst worden ist.“ Vgl. G. SCHUTTE, De school van de ouders. De schoolstrijd op hoofdlijnen, in: G. HARINCK / G. SCHUTTE (Hg.), De school met de bijbel. Christelijk onderwijs in de negentiende eeuw, Zoetermeer 2006, 7–20. 31 Siehe zu Kuypers Jahren als Pfarrer in Amsterdam VREE, Kuyper, 325–361. 32 Vgl. ebd., 241.321. 33 Vgl. B. VAN DER ROS, De standaard, in: DERS. (Hg.), Geschiedenis van de christelijke dagbladpers in Nederland, Kampen 1993, 25–69. 34 H. TE VELDE, Stijlen van leiderschap. Persoon en politiek van Thorbecke tot Den Uyl, Amsterdam 22002, 87. 35 Ebd., 86. 36 Vgl. P. HAGEN, Journalisten in Nederland. Een persgeschiedenis in portretten 1850–2000, Amsterdam / Antwerpen 2002, 151; KOCH, Abraham Kuyper, 435.

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nenderweise wird Kuypers Name in einem Standardwerk zur niederländischen Pressegeschichte am häufigsten genannt.37 Kuyper erweist sich mit seinem präzisen und zugleich bildhaften Schreibstil als ein Meister der Sprache.38 Er macht sich selbst zum Sprachrohr der „kleinen Leute“ (kleyne luyden). So nennt er archaisierend eine ihn stützende breite Bevölkerungsschicht, die sich aus einfachen, ungebildeten, fleißigen Bürgern, meist Gläubigen herkömmlicher Prägung, zusammensetzt, die er nicht nur zu präsentieren, sondern zugleich auch aus den Fängen des Liberalismus zu befreien intendiert.39 So steht Kuyper am Beginn eines Emanzipationsprozesses. Der marxistische Historiker Jan Romein hat ihn als „den Glöckner der kleinen Leute“40 charakterisiert. Andererseits macht Kuyper sich mit seinem Stil auch Feinde. Vor allem seine Impulsivität, seine Neigung zur Manipulation, Polarisierung und vorschnellen Frontenbildung41 haben – auch unter orthodoxen Reformierten – oft böses Blut erzeugt. Seitdem Kuyper über ein eigenes Presseorgan verfügt, nimmt seine Karriere einen rasanten Aufschwung. 1874 wird er als Abgeordneter in die zweite Kammer des niederländischen Parlaments gewählt. Er vertritt die „antirevolutionäre“ Richtung. Da es nicht erlaubt ist, dass ein Geistlicher Mitglied des Parlamentes wird, muss Kuyper sein Amt als Pfarrer aufgeben. Er zweifelt zunächst,42 wagt aber schließlich diesen Schritt. Sein Auftreten im Parlament ist anfänglich keineswegs von Erfolg gekrönt. Er kann aufgrund seiner multifunktionalen Arbeitsweise und äußerst arbeitsintensiver Mehrfachbelastungen nicht Schritt halten mit den übrigen aristokratischen Parlamentsgliedern. Bereits nach zwei Jahren stellt sich heraus, dass er vollkommen überarbeitet ist. Kuyper benötigt ein ganzes Jahr im Ausland zur Regeneration.43 Die Überarbeitung bildet gleichsam einen Dauerzustand. Ständig mutet er sich zu viel zu.44 Nach seinem langen Erholungsaufenthalt kehrt Kuyper nicht ins Parlament zurück. Dennoch folgen sehr bewegte Jahre. 1879 vereinigen sich die Vertreter der „antirevolutionären“ Richtung in der „Antirevolutionären ————— 37

Siehe das Register in: HAGEN, Journalisten. Vgl. H. TE VELDE, Stijlen, 71; vgl. KOCH, Abraham Kuyper, 414. 39 A. KUYPER, De kleyne luyden. Openingsrede ter deputaten-vergadering van 23 november 1917, Kampen 1917. 40 J. ROMEIN, Abraham Kuyper. De klokkenist der kleine luyden, in: J. R OMEIN / A. ROMEIN, Erflaters van onze beschaving. Nederlandse gestalten uit zes eeuwen, Amsterdam 101973, 747– 770. 41 Vgl. zum Beispiel VREE, Kuyper, 266f.271f.284ff.297.301.310.327.344; K OCH, Abraham Kuyper, 96.247.300. 42 Vgl. VREE, Kuyper, 357f. 43 Vgl. KOCH, Abraham Kuyper, 143–170. 44 Vgl. VREE, Kuyper, 218.286.302.304.336f.343.350.360f.370.375.378; K OCH, Abraham Kuyper, 48.90.122.134.156f.163f.210.241f.279.369.376.491f. 38

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Partei“.45 Sie stellt die erste moderne politische Partei in der niederländischen Geschichte dar. Wie später noch auszuführen sein wird, ist ihr Name Programm. Kuyper leitet die Partei und schreibt ihr Parteiprogramm unter dem prosaischen Titel „Unser Programm“.46 Es zählt über 1.300 dicht beschriebene Seiten. Die meisten Texte waren in den vorausgegangenen Jahren bereits in „De Standaard“ erschienen. Ein Jahr später (1880) folgt der nächste große Schritt. Zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter gründet Kuyper in Amsterdam die „Freie Universität“.47 Ihre programmatische Freiheit vom Staat und von der Kirche impliziert auch ihre private Finanzierung. Die Stifter teilen die Überzeugung, dass der reformierte Glaube in jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens zu bestimmten Konsequenzen führt. Diese müssen zum Ausgangspunkt des Handelns gemacht werden. Grundlage für den Unterricht und die Forschung der „Freien Universität“ sind darum die sog. reformierten Prinzipien.48 Die „Freie Universität“ verfolgt das erklärte Ziel, die reformierten Studenten zur Übernahme verantwortlicher gesellschaftlicher Positionen vorzubereiten. Kuyper wird zum Professor berufen und lehrt unter anderem Dogmatik, Enzyklopädie der Theologie, niederländische Sprachwissenschaft, Linguistik und Ästhetik.49 Während seiner Jahre (1880–1901) im Lehramt an der „Freien Universität“ schreibt er seine großen theologischen Werke.50 Das einzige rein wissenschaftliche Werk bildet seine dreibändige „Enzyklopädie der Theologie“.51 Darin bietet er seine Wissenschaftsphilosophie dar. Im Vorwort macht er unmissverständlich klar, dass er eine Renaissance des Calvinismus intendiert. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts schläft der Calvinismus seines Erachtens den Schlaf der Seligen. Kuyper möchte ihn wachrütteln. Damit beabsichtigt er freilich nicht einfach eine Repristination des ursprünglichen Calvinismus. Vielmehr gelte es, diesen „in Berührung [zu] bringen mit dem menschlichen Bewusstsein, wie sich dieses am Ende ————— 45

Vgl. zur Antirevolutionären Partei: G. HARINCK u.a. (Hg.), De Antirevolutionaire Partij 1829–1980, Hilversum 2001; R. JANSSENS, De opbouw van de Antirevolutionaire Partij 1850– 1888, Hilversum 2001; J.-J. VAN DEN BERG, Deining. Koers en karakter van de ARP ter discussie, 1956–1970, Kampen 1999. 46 A. KUYPER, Ons program, Amsterdam 1879. 47 A.TH. VAN DEURSEN, Een hoeksteen in het verzuild bestel. De Vrije Universiteit 1880– 2005, Amsterdam 2005. 48 Vgl. KUYPER, RwR, 132.191. 49 Vgl. KOCH, Abraham Kuyper, 237. 50 Eine annotierte Bibliographie bietet: J.C. RULLMANN, Kuyper-Bibliographie, 3 Bde., ’sGravenhage u.a. 1923–1940. Eine vollständige Bibliographie, zusammengestellt von T. KUIPERS, wird in Kürze erscheinen. 51 A. KUYPER, Encyclopaedie der heilige godgeleerdheid, 3 Bde., Amsterdam 1894. Ich zitiere nach der zweiten revidierten Auflage (1908–1909).

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des 19. Jahrhunderts entwickelt hat“.52 Andere bedeutsame Werke Kuypers bilden eine Pneumatologie in drei Bänden,53 eine Erklärung des Heidelberger Katechismus in vier Bänden,54 ein dreibändiges Werk über die allgemeine Gnade55 und ein Werk über die reformierte Liturgie.56 Ursprünglich erschienen diese Werke als Aufsatzserien im Wochenblatt „De Heraut“. Neben seiner Arbeit als Professor, Chef der „Antirevolutionären Partei“ und Chefredaktor eines Tageblattes sowie eines Wochenblattes setzt sich Kuyper auch in Kirchenfragen ein und bezieht Stellung. Unter anderem macht er seinen Einfluss als Kirchenältester in der Amsterdamer Kirche geltend. Seine Versuche, die Kirche von innen heraus zu reformieren, rufen viele Konflikte hervor. Im Jahre 1886 platzt die Bombe: Ein Streit über das Verfügungsrecht bezüglich kirchlicher Güter führt wider Kuypers Willen zu einer Kirchenspaltung. Etwa 200.000 Gläubige verlassen die reformierte („Hervormde“) Kirche.57 Sechs Jahre später (1892) vereinigen sie sich mit der Mehrzahl einer weiteren reformierten Gruppe, die sich schon in 1834 abgetrennt hatte.58 Zusammen formen sie die „Gereformeerde Kerken in Nederland“ (Reformierte Kirchen in den Niederlanden).59 Die Pluralform „Kirchen“ deutet bereits darauf hin, dass sich die einzelnen Ortskirchen in hohem Maße als autonom verstehen. Der Kirchenverbund repräsentiert eine freiwillig eingegangene Vereinigung zwischen diesen Partikularkirchen im Hinblick auf eine Einheit im Bekennen und Handeln.60 So wird kirchenrechtlich die Struktur der „Hervormde Kirche“ auf den Kopf gestellt. In der „Hervormde Kirche“ hat namentlich die nationale kirchliche Organisation den Vorrang.61 Zwei Jahre nach der Gründung der „Gereformeerde Kerken in Nederland“ wird Kuyper 1894 zum zweiten Mal als Abgeordneter in die zweite Kammer des niederländischen Parlaments gewählt. Dieses Mal hält er sich auf den Beinen. Seine Popularität wächst. Sieben Jahre später (1901) folgt ————— 52

DERS., Encyclopaedie der heilige godgeleerdheid, Bd. 1, VI. Vgl. D ERS., RwR, 187f. DERS., Het werk van den Heiligen Geest, Amsterdam 1888–1889. 54 DERS., E Voto Dordraceno, 4 Bde., Amsterdam 1892–1895. 55 DERS., De gemeene gratie, 3 Bde., Leiden / Amsterdam 1902–1904. 56 DERS., Onze Eeredienst, Kampen 1911. 57 Vgl. zu dieser Spaltung: W. BAKKER u.a. (Hg.), De Doleantie van 1886 en haar geschiedenis, Kampen 1986. 58 Vgl. zur Abtrennung von 1834: W. B AKKER u.a. (Hg.), De Afscheiding van 1834 en haar geschiedenis, Kampen 1984. 59 Vgl. zur Vereinigung von 1892: L.J. WOLTHUIS u.a. (Hg.), De Vereniging van 1892 en haar geschiedenis, Kampen 1992. 60 Vgl. KUYPER, RwR, 56. 61 Vgl. AUGUSTIJN, Abraham Kuyper, 297. Vor einigen Jahren (2004) haben sich die großen reformierten Kirchen („Hervormde Kerk“ und „Gereformeerde Kerken“) und die EvangelischLutherischen Kirche in den Niederlanden zur Protestantischen Kirche in den Niederlanden vereinigt. 53

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der große Triumph: Kuyper gewinnt mit seiner „Antirevolutionären Partei“ die Parlamentswahlen. Die Königin betraut ihn mit der Regierungsbildung. Kuyper wird Ministerpräsident. Vor allem die unteren Schichten der niederländischen Gesellschaft erwarten viel vom „Kabinett Kuyper“.62 Das hängt unter anderem damit zusammen, dass er zehn Jahre zuvor auf dem ersten sog. „christlich-sozialen Kongress“ eine vielbeachtete Rede gehalten hat, in der er eine „architektonische Kritik“ am sozial-ökonomischen Fundament der niederländischen Gesellschaft vorbringt und zur Reform drängt.63 Die geweckten Erwartungen werden nicht erfüllt. Die sozial-ökonomische Praxis erweist sich gegenüber den Gedanken aus der Studierstube als trotziger. Als die Regierung unter Kuyper im Jahre 1903 einen Streik von Eisenbahnbeamten bricht, sinkt seine Popularität dramatisch. Er verliert die Parlamentswahl von 1905. Enttäuscht zieht er sich zurück und geht wiederum ein ganzes Jahr lang auf Reisen.64 Nach seiner Rückkehr in die Niederlande hat Kuyper seine politische Rolle endgültig ausgespielt. Zwar wird er in „De Standaard“ und „De Heraut“ auch weiterhin das gesellschaftliche und kirchliche Leben kommentieren. Auch kehrt er im Jahre 1908 zurück in die zweite Kammer des Parlaments. Aber die erhoffte zweite Chance auf das Ministerpräsidentenamt bleibt aus. Als sich die Gelegenheit bietet, wird er übergangen zugunsten eines Jüngeren aus der „Antirevolutionären Partei“.65 Peinlich fällt in diesen Jahren die sog. „Dekorationsaffäre“ aus. Kuyper wird beschuldigt, jemandem aufgrund von Bestechung durch Spendengelder für die „Antirevolutionäre Partei“ einen Orden verliehen zu haben. Eine Untersuchungskommission stellt fest, dass die Beschuldigung haltlos ist. Trotzdem wird Kuyper nicht von jeglichem Verdacht reingewaschen. Er hat unvorsichtig gehandelt.66 Später (1913) vollzieht Kuyper noch den Übertritt in die erste Kammer des Parlamentes. Ende 1920 stirbt er.

————— 62

Vgl. zum „Kabinett Kuyper“: D.T. KUIPER / G.J. SCHUTTE (Hg.), Het kabinet-Kuyper (1901–1905), Zoetermeer 2001; KOCH, Abraham Kuyper, 439–490. 63 A. KUYPER, Het sociale vraagstuk en de christelijke religie, Amsterdam 1891. Vgl. H.E.S. WOLDRING, De sociale kwestie – meer dan een emancipatiestrijd, in: AUGUSTIJN u.a. (Hg.), Abraham Kuyper. Zijn volksdeel, zijn invloed, 123–145; H.E.S. WOLDRING / D.T. KUIPER, Reformatorische maatschappijkritiek. Ontwikkelingen op het gebied van de sociale filosofie en sociologie in de kring van het Nederlandse protestantisme van de 19e eeuw tot heden, Kampen 1980, 42–47; G.J. SCHUTTE, Het Calvinistisch Nederland, Hilversum 2000, 166ff. 64 Vgl. KOCH, Abraham Kuyper, 491–524. Unterwegs arbeitet er an einem Reisebericht, den er später in zwei Bänden herausgibt: A. KUYPER, Om de oude wereldzee, 2 Bde., Amsterdam 1907–1908. 65 Vgl. KOCH, Abraham Kuyper, 525ff. 66 Vgl. zur „Dekorationsaffäre“: J. DE BRUIJN, Het boetekleed ontsiert de man niet. Abraham Kuyper en de Lintjesffaire (1909–1910), Amsterdam 2005.

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Als Theologe und als Politiker hat dieser „begnadete Redner“ und „charismatische Führer“67 um die Jahrhundertwende in den Niederlanden eine überragende Rolle gespielt. Ohne Kuyper hätte die niederländische Gesellschaft anders ausgesehen. Neben und zwischen dem Theologen und Politiker steht der Journalist Kuyper. Mit seinem journalistischen Talent hat er sich eine Anhängerschaft und Basis seiner diversen Tätigkeiten im öffentlichen Leben geschaffen. Kuyper steht für eine Mischung aus kreativer und unabhängiger Theologie, tonangebendem politischem Engagement und angeborener journalistischer Begabung, die einzigartig in der niederländischen Geschichte ist. Niemand anderes als der sozialistische Karikaturist Albert Hahn hat das schöner gedeutet, als er Kuyper mit einer Mischung von Abscheu und Bewunderung als „Abraham den Gewaltigen“ bezeichnete.

3. Der (Neo-)Calvinismus Abraham Kuypers Kuypers Interpretation des Calvinismus hat sich im Laufe seines Lebens entwickelt.68 Anfänglich bevorzugt Kuyper den Begriff „reformiert“ (gereformeerd). Die Bezeichnung „Calvinismus“ spielt noch keine wichtige Rolle.69 Im Jahre 1874 hält er eine Ansprache mit dem Titel „Der Calvinismus. Ursprung und Gewähr unserer konstitutionellen Freiheiten“.70 Aber mehr als eine erste Skizze der Kuyperschen Sichtweise bietet diese Schrift nicht.71 Erst ab dem Jahr 1885 nimmt der Begriff „Calvinismus“ eine Schlüsselposition in seinem Denken ein und erhält den Sinn von „echt, konsequent reformiert“. Wer wissen möchte, was Kuyper damit meint, greife am besten zu seinen 1898 in Princeton gehaltenen „Lectures on Calvinism“. Hier findet man Kuypers Interpretation des Calvinismus in ausgereifter Form. Als Kuyper nach Princeton eingeladen wird, steht er auf dem Höhepunkt seines Ansehens und Schaffens. Alle von ihm geschaffenen Institutionen – „De Standaard“, „De Heraut“, die „Antirevolutionäre Partei“, die „Freie Universität“, die Reformierte Kirchen in den Niederlanden – funktionieren ————— 67

AUGUSTIJN, Abraham Kuyper, 299. Zur Entwicklung von Kuypers Denkens vgl. vor allem: VREE, Kuyper; AUGUSTIJN / VREE, Abraham Kuyper. 69 Vgl. zur Entwicklung des Begriffs „Calvinismus“: J. VREE, „Het Réveil“ en „het (neo-) Calvinisme“ in hun onderlinge samenhang (1856–1896), in: AUGUSTIJN / VREE, Abraham Kuyper, 54–85. 70 A. KUYPER, Het Calvinisme. Oorsprong en waarborg onzer constitutioneele vrijheden. Een Nederlandsche gedachte, Amsterdam 1874. 71 VREE, „Het Réveil“, 68. 68

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und haben einen nachhaltigen Einfluss auf das gesellschaftliche, politische und kirchliche Leben. Nur die Position des Regierungschefs hat er, ohne es zu wissen, lebensgeschichtlich noch vor sich.72 Zu diesem Kulminationspunkt passt, dass ihm die Princetoner Universität die Würde eines Ehrendoktorats verleiht. Diese Verleihung bildet den eigentlichen Anlass für Kuypers Reise nach Amerika.73 Das Princeton Theological Seminary nutzt diese Gelegenheit, um Kuyper zu den sog. „Stone Lectures“ einzuladen.74 Kuyper wählt als Thema den Calvinismus und hält eine Reihe von sechs Vorlesungen: Der Calvinismus und … 1. die Geschichte; 2. die Religion; 3. die Politik; 4. die Wissenschaft; 5. die Kunst; und 6. die Zukunft. Ein Jahr später werden diese Vorlesungen sowohl in Englisch als auch Niederländisch publiziert.75 Später wird das Buch auch ins Deutsche (1904),76 Japanische (1932), Koreanische (1971), Ungarische (2001) und Russische (2002) übersetzt. Eine chinesische Übersetzung ist in Vorbereitung.77 Die erste Vorlesung beginnt mit einer Positionsbestimmung. Von Anfang an will Kuyper seine Hörer wissen lassen, wo er steht. Darum macht er sofort massiv Front: „Zwei Weltanschauungen kämpfen miteinander auf Leben und Tod“. Die eine sei der aus der französischen Revolution (1789) hervorgegangene Modernismus.78 Seine Schlagworte – oder wie Kuyper sagt: „Unglaubensrufe“ – würden das „Nous ne voulons pas de Dieu“ und das „Ni Dieu ni maître“ bilden.79 Der Modernismus wolle „eine Welt aus dem natürlichen Menschen und diesen Menschen aus der Natur aufbauen“.80 Statt Gott die Ehre zu geben, setze der Modernismus ganz auf die Ehre des Menschen: „Gott in seiner Freimacht wird entthront und der Mensch mit seinem freien Willen auf den Thron gesetzt“.81 Das Grundprin————— 72

Vgl. KOCH, Abraham Kuyper, 434; G. HARINCK, Inleiding, in: A. KUYPER, Het Calvinisme. Zes Stone-lezingen in oktober 1898 te Princeton (N.J.) gehouden, hg. von G. HARINCK, Barneveld 52008, 10. 73 KOCH, Abraham Kuyper, 427; HARINCK, Inleiding, 11. Zu Kuypers Reise nach Amerika vgl. P.S. HESLAM, Creating a Christian Worldview. Abraham Kuyper’s Lectures on Calvinism, Grand Rapids u.a. 1998, 57–84. 74 Die „Stone Lectures“ wurden finanziert von der 1871 gegründeten „L.P. Stone Foundation“ und organisiert von den Professoren am Princeton Theological Seminary. So H ARINCK, Inleiding, 10. 75 A. KUYPER, Calvinism: Six Lectures delivered in the Theological Seminary at Princeton, New York o.J. [1899]; DERS., Het Calvinisme. Zes Stone-lezingen in october 1898 te Princeton (N.J.) gehouden, Amsterdam / Pretoria o.J. [1899]. Siehe zur Rezeption in den Vereinigten Staaten um 1900: G. HARINCK, A Triumphal Procession? The Reception of Kuyper in the USA (1900– 1940), in: VAN DER KOOI / DE BRUIJN (Hg.), Kuyper Reconsidered, 273–282. 76 Siehe Anm. 2. 77 HARINCK, Inleiding, 17. 78 Vgl. KUYPER, RwR, 4, 26.37. 79 Vgl. ebd., 4.18.27.80. 80 Ebd., 4. Vgl. ebd., 80.173f. 81 Ebd., 80. Vgl. ebd., 11.83.

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zip des Modernismus, welches Kuyper auch im deutschen Pantheismus82 und in Darwins Evolutionismus wiedererkennt,83 sei darum im tiefsten Sinne „antichristlich“.84 Nach Kuypers Ansicht ist dieser Modernismus wie eine Infektion in das Christentum eingedrungen. Darum ruft er seinen Hörern alarmierend zu: „Das Christentum selbst ist in Gefahr“.85 Apologetik helfe hier nicht mehr weiter. Denn die Apologetik gebe immer wieder das angegriffene Bollwerk preis, um sich zurückzuziehen auf eine vermeintlich sicherere Verschanzung. Weil der Modernismus das Christentum mit einem „allumfassenden Prinzip“ bestürme, sei die einzige Möglichkeit, „Prinzip gegen Prinzip“, „Weltanschauung gegen Weltanschauung“ und „Geist gegen Geist“ zu stellen.86 Dieses konfrontative Prinzip im Sinne einer umfassenden Weltanschauung entdeckt Kuyper im Calvinismus: „Darin hat mein Herz Ruhe gefunden“, sagt er: „Daraus kam mir die Kraft, mitten im Streit der Meinungen Stellung zu nehmen“. „Reformation wider Revolution“, wie der Titel der deutschen Ausgabe von Kuypers Vorlesungen lautet, bringt den von ihm stilisierten Antagonismus treffend zur Sprache. Auf diesem semantischen Hintergrund muss man auch den Namen „Antirevolutionäre Partei“ verstehen.87 Dieses begriffliche Arrangement hat sich im Blick auf seinen positionellen Verweisungszusammenhang übrigens nicht Kuyper selbst neu ausgedacht. Es baut auf dem Werk des niederländischen Staatsmannes Guillaume Groen van Prinsterer auf, der im Jahre 1847 in seinem Buch „Unglaube und Revolution“ dieselbe Konstellation beschrieb und damit zum Vater der antirevolutionären Richtung avancierte.88 Der Begriff „antirevolutionär“ ————— 82

Vgl. ebd., 4.81f.124.175. Vgl. zu Kuypers Einschätzung des Pantheismus: D ERS., De verflauwing der grenzen, Amsterdam 1892. Nach Heslam zeigt sich in Kuypers Bestreitung des Pantheismus gerade auch dessen Einfluss: „In his attempt to repudiate a dualistic understanding of the world by stressing the comprehensive nature of the Calvinistic system, Kuyper demonstrated the extent to which he had been influenced by the pantheism he so violently opposed“. H ESLAM, Creating, 104. Vgl. ebd., 112. 83 Vgl. KUYPER, RwR, 4.124.176f. Vgl. zu Kuypers Einschätzung des Evolutionismus vor allem: DERS., Evolutie, Amsterdam / Pretoria 1899. Heslam weist mit Recht darauf hin, dass Kuyper den Evolutionismus nicht nur bestreitet, sondern auch von demselben beeinflusst ist: „In the end, Kuyper’s rejection of the evolutionary worldview was not as radical as he proposed, and indeed there are clear signs of its influence on his thought. His view of world history, for instance, […] was of a continual process of development which flowed in a single stream from east to west, Calvinism presenting the highest and most recent stage of development.“ P.S. H ESLAM, Creating, 108. Vgl. ebd., 112; AUGUSTIJN, Abraham Kuyper, 305. 84 KUYPER, RwR, 4.11.176. Vgl. HESLAM, Creating, 96ff. 85 KUYPER, RwR, 4. 86 Vgl. ebd., 5.125ff.153.186 –188.195. 87 Vgl. KUYPER, Ons program, 24ff. 88 G.G. VAN PRINSTERER, Ongeloof en revolutie. Eene reeks van historische voorlezingen, Leiden 1847. Vgl. R. KUIPER, „Geen muziek om van het blad te zingen“, in: F.G.M. BROEYER /

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steht demzufolge in Fundamentalopposition zu den Grundprinzipien der französischen Revolution und beabsichtigt, eine grundlegende Alternative darzubieten.89 Kuypers Calvinismus generiert sich als ein äußerst selbstbewusster Calvinismus. Er artikuliert sich etwa im Titel einer Rede Kuypers, gehalten zu Beginn einer Versammlung der „Antirevolutionären Partei“: „Wir, Calvinisten […]“.90 Nach Kuypers Überzeugung repräsentiert der Calvinismus die „am weitesten vorgeschobene“ und „reinste Offenbarung“ des Christentums.91 Er sei „eine selbständige Lebensrichtung, die aus einem eigenen Lebensprinzip eine eigene Form für unser Leben und unser Denken […] entwickelt hat“.92 Diese eigene Form stehe nicht nur in Beziehung zu Theologie und Kirche, sondern erstrecke sich weit darüber hinaus auf das politische und gesellschaftliche Leben, auf die Moral,93 und auf das Verhältnis von Natur und Gnade, von Christentum und Welt, von Kirche und Staat, von Kunst und Wissenschaft.94 Nur als ein „allumfassendes Lebenssystem“, als eine einheitliche Lebens- und Weltauffassung, die von einem Prinzip ausgeht, könne der Calvinismus dem Modernismus Widerstand leisten.95 Das eine Prinzip bildet Kuyper zufolge, der sich wieder einmal auf Calvin beruft, die Souveränität Gottes.96 Kuyper betont, dass sich diese Souveränität über das ganze Leben erstrecke.97 Sehr illustrativ ist in diesem Zusammenhang Kuypers oft zitiertes Wort: „Auf dem Erbe unseres menschlichen Lebens gibt es keinen Zollbreit, von dem Christus nicht ruft: Er ist Mein!“98 Coram Deo, vor dem Angesicht Gottes – hier stehen wir Menschen mit unserem ganzen Leben.99 Dies ist unser Standort. Der Sinn des Lebens besteht darum im Lobpreis Gottes und dem Erfüllen seines Willens, ————— D.T. KUIPER (Hg.), Is ’t waar of niet? Ophefmakende publicaties uit de ‚lange‘ negentiende eeuw, Zoetermeer 2005, 110–131; SCHUTTE, Nederland, 128ff. 89 Siehe auch: A. KUYPER, Niet de vrijheidsboom maar het kruis, Amsterdam o.J. [1889]. 90 DERS., Wij, Calvinisten … , Kampen 1909. Vgl. DERS., RwR, 97 („stolz und mannesmutig“), 130 („mit königlichem Stolz“), 191 („anstatt stolz die Fahne in frischen Farben zu entrollen“), 192 („klug und tapfer“). 91 Ebd., 5. Vgl. ebd., 140ff.169.183f. 92 Ebd., 8. Vgl. ebd., 169. 93 Vgl. ebd., 60–67. 94 Vgl. ebd., 9f. 95 Vgl. ebd., 11f. 96 Vgl. ebd., 15.39–41.52.72.78.82.90.95.112.151f.176.189. Vgl. auch SCHUTTE, Nederland, 135.154. 97 Vgl. KUYPER, RwR, 44–47.52.72. 98 DERS., Souvereiniteit in eigen kring, Amsterdam 1880, 35: „[…] en geen duimbreed is er op heel ’t erf van ons menschelijk leven, waarvan de Christus, die áller Souverein is, niet roept: ‚Mijn!‘“ (deutsche Übersetzung zit. nach KOLFHAUS, Dr. Abraham Kuyper, 162). 99 Vgl. KUYPER, RwR, 18.55.61–63.74.82.146f.

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wie sie in einem mit den Ordnungen Gottes übereinstimmenden Leben zum Ausdruck kommen.100 Der Calvinismus entwirft nach Kuyper eine eigene Auffassung der drei relationalen Grundverhältnisse menschlichen Lebens, nämlich unserer Beziehung 1. zu Gott, 2. untereinander und 3. zur Welt. 1. Charakteristisch für unser Verhältnis zu Gott ist gemäß Kuyper der Gedanke, „daß Gott, hoch in seiner Majestät über aller Kreatur stehend, dennoch mit dieser Kreatur unmittelbare Gemeinschaft hält durch seinen heiligen Geist“.101 Dieser Gedanke gibt Kuypers Theologie einerseits eine pneumatologische Dimension und einen mystischen Zug. Andererseits verursacht er aber auch innere Spannungen. Diese werden zum Beispiel sichtbar in seiner Lehre von der Heiligen Schrift. Nicht aufgegeben werden darf nach Kuyper das Bekenntnis, wonach Gott in der Gestalt des Heiligen Geistes unmittelbar in der Heiligen Schrift spricht. Zugleich erkennt Kuyper an, dass die Schrift von Menschenhänden geschrieben worden ist. Wie das möglich sei, versucht er mittels der Lehre von der organischen Inspiration der Bibel zu erläutern. Diese besagt, dass der Heilige Geist Menschen für das Schreiben der biblischen Schriften in Dienst genommen hat, ohne sie freilich von ihrer Persönlichkeit zu entfremden und von ihrem historischen Kontext zu trennen.102 Diese Theorie kann, obwohl sie lange Zeit in den Reformierten Kirchen sehr einflussreich gewesen ist, nicht überzeugen. Sie hat zur Folge, dass letztendlich das Göttliche und das Menschliche als in Konkurrenz zueinander stehend gedacht werden, wobei das Göttliche das Menschliche verdrängt.103 2. Das Verhältnis der Menschen untereinander wird von Kuyper aus unserer Stellung coram Deo abgeleitet: Stellt der Calvinismus unser ganzes Leben unmittelbar vor Gott, dann folgt hieraus, daß alle, ob Mann oder Frau, ob arm oder reich, ob schwach oder krank, ob talentvoll oder talentlos, als Gottes Geschöpfe und als verlorene Sünder, nichts, schlechterdings nichts einander gegenüber zu beanspruchen haben.104

————— 100

Vgl. ebd., 46f.60ff.74.95f.151f. Ebd., 14. Vgl. ebd., 24.41–44.52. 102 Vgl. DERS., Encyclopaedie 2. Bd., 294–518. Vgl. DERS., RwR, 47–51. 103 D. VAN KEULEN, Bijbel en dogmatiek. Schriftbeschouwing en schriftgebruik in het dogmatisch werk van A. Kuyper, H. Bavinck en G.C. Berkouwer, Kampen 2003, 20–67; DERS., The Internal Tension in Kuyper’s Doctrine of Organic Inspiration of Scripture, in: VAN DER KOOI / DE BRUIJN (Hg.), Kuyper Reconsidered, 123–130. 104 KUYPER, RwR, 20. 101

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Jeder Mensch sei geschaffen nach dem Bilde Gottes. Die Menschen würden einander darum als Gleichgestellte gegenüberstehen. Der Calvinismus erstrebe deswegen sowohl in der Kirche105 als auch in der Gesellschaft eine konsequent demokratische Lebensauffassung. Diese unterscheide sich prinzipiell von den Gleichheitsidealen der französischen Revolution, wie Kuyper anhand eines schroffen Gegensatzes klar zu machen versucht. Während es in Paris hieß: „alle zusammen gegen Gott“, laute die Parole im Calvinismus: „alle zusammen vor Gott niederkniend und entbrannt für seine Ehre“.106 3. Schließlich wird das Verhältnis zur Welt in Kuypers CalvinismusKonzeption bestimmt von verschiedenen, sich wechselseitig bestimmenden Konzepten. Man kann sie zusammenfassen in den Begriffen: a) Antithese, b) allgemeine Gnade (gemeene gratie), c) Souveränität im eigenen Bereich (soevereiniteit in eigen kring) und d) Unterscheidung zwischen Kirche als Institution und Kirche als Organismus. a) Zuerst die Antithese.107 Grundlegend für Kuypers Theologie ist der Gegensatz zwischen Glaube und Unglaube, zwischen denjenigen, die wiedergeboren sind, und denjenigen, die nicht wiedergeboren wurden. Dieser Gegensatz spaltet die Menschheit: Es gibt „zweierlei Menschen“.108 Weil die Religion nicht eine partielle, sondern eine universelle Bedeutung hat und „alles beherrschend“ ist, durchdringt dieser Gegensatz das ganze menschliche Leben.109 Ein gutes Beispiel ist die Wissenschaft.110 Aufgrund des Unterschiedes zwischen Wiedergeborenen und Nichtwiedergeborenen gibt es, so Kuyper, auch ein zweifaches menschliches Bewusstsein: Das eine hat, was dem anderen gebricht. Das eine kennt keinen Bruch und hält darum an dem Normalen fest; das andere hat Bruch und Umbildung [als Folge der Sünde; DvK] erfahren und hat also das Bewußtsein des Anormalen mit seinem Bewußtsein selbst gegeben.111

Deswegen stehen zwei wissenschaftliche Systeme „mit ihrem eigenen Glauben“112 einander gegenüber. Das eine weigert sich „mit anderen als ————— 105

Vgl. ebd., 55f. Ebd., 21. Dort z.T. kursiv. Vgl. auch ebd., 24.53.75ff.80f.100.177.190. 107 Vgl. C. AUGUSTIJN, Kuyper en de antithese, in: DERS. / VREE, Abraham Kuyper: vast en veranderlijk, 165–182. 108 Vgl. A. KUYPER, Encyclopaedie 2. Bd., 97ff. 109 DERS., RwR, 44f.; vgl. ebd., 38: „[…] nicht beschränkt neben dem Leben her, sondern das ganze Leben beanspruchend“. 110 Vgl. HESLAM, Creating, 167–195. 111 KUYPER, RwR, 129. 112 Ebd., 125; vgl. DERS., Encyclopaedie, 2. Bd., 102ff.: „Zweierlei Wissenschaft“. In seiner „Encyklopaedie“ gibt Kuyper eine breite Erläuterung. Nach seiner Ansicht gibt es keine Unter106

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natürlichen Voraussetzungen“113 zu rechnen. Das andere gibt den natürlichen Voraussetzungen zwar ihr Recht, anerkennt aber die Unentbehrlichkeit der Wiedergeburt und der Offenbarung Gottes.114 Dieser Gegensatz bildet die weltanschauliche Basis für die Gründung der „Freien Universität“.115 b) Der Gegensatz zwischen Glaube und Unglaube gibt Kuyper einerseits die Möglichkeit, eine eigene Gemeinschaft mit ausgeprägtem Identitätsbewusstsein zu formen. Andererseits reißt er eine tiefe Kluft in der Gesellschaft auf. Zugleich aber konzediert Kuyper, dass es in der Welt viel Gutes gibt. Die Welt erweist sich sogar oftmals besser als ihr Ruf, während die Kirche vielfach enttäuscht.116 Diese Einschätzung Kuypers wird auf dem Hintergrund seiner Lehre von der „allgemeinen Gnade“ verständlich, die er Calvins „Institutio“ entnimmt.117 Diese Lehre besagt in ihrem Kern, dass Gott angesichts der drohenden völligen Vernichtung der Schöpfung als Folge der Sünde mit seiner allgemeinen Gnade heilsam dazwischentritt und dem Fortwirken der Sünde wehrt. Diese allgemeine Gnade hat keine im eigentlichen Sinne soteriologische Bedeutung. Sie „tötet den Kern der Sünde durchaus nicht“ und „rettet in nichts zum ewigen Leben“118. In Gestalt der allgemeinen Gnade hält Gott aber die Welt und die Menschheit aufrecht und ermöglicht ihre Entwicklung. In seiner dreibändigen Studie über die allgemeine Gnade119 entwickelt Kuyper dieses Lehrstück zu einer umfassenden Kulturtheorie. Damit stellt er freilich Calvins Gedanken der allgemeinen Gnade genau auf den Kopf. Während Calvin in seiner „Institutio“ die Abhängigkeit der Menschen von Gottes Gnade pointiert festhält, gilt Kuypers Interesse deren Funktion und Wirkweise im Blick auf Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst.120 ————— schiede auf dem Gebiet der empirischen Forschung (ebd., 104f.); auch in den Geisteswissenschaften gibt es ein „gemeinschaftliches Gebiet“ (ebd., 106); die Wiedergeburt hat auch keinen Einfluss auf das formale Denken: „es gibt nur eine Logik“ (ebd., 107). Die Ausgangspunkte sind jedoch verschieden (vgl. ebd., 103). Vgl. zu Kuypers Wissenschaftslehre: R. VAN WOUDENBERG, Abraham Kuyper on Faith and Science, in: VAN DER KOOI / DE BRUIJN (Hg.), Kuyper Reconsidered, 147–157. 113 KUYPER, RwR, 124. 114 Vgl. ebd., 49. 115 Vgl. ebd., 131f. 116 Vgl. DERS., De gemeene gratie, 2. Bd., 13: „[…] dat de wereld mêe- en de kerk tegenvalt“; DERS., RwR, 113f. 117 Vgl. DERS., De gemeene gratie, 1. Bd., 10. Er bezieht sich auf: J. C ALVIN, Inst. (1559), II,3,3. 118 KUYPER, RwR, 116. Vgl. ebd., 23.47.84.110; DERS., De gemeene gratie, 1. Bd., 246f.; DERS., De gemeene gratie, 2. Bd., 61ff. 119 Vgl. Anm. 55. 120 Vgl. C. VAN DER KOOI, A Theology of Culture. A Critical Appraisal of Kuyper’s Doctrine of Common Grace, in: DERS. / DE BRUIJN (Hg.), Kuyper Reconsidered, 96f. AUGUSTIJN (Abraham Kuyper, 303) fragt, ob in Kuypers Theologie „der allgemeinen Gnade nicht eine so starke Eigenständigkeit zugesprochen wird, daß die besondere Gnade an Bedeutung einbüßt.“

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Die Antithese und die Lehre der allgemeinen Gnade halten einander in Kuypers Theologie im Gleichgewicht. Mit der Antithese betont er vor allem die Kluft zwischen Glaube und Unglaube. In Gestalt seiner Lehre von der allgemeinen Gnade überbrückt er hingegen diese Kluft und ermöglicht auf diesem Theoriefundament die konstruktive Zusammenarbeit zwischen Christen und Nichtchristen.121 Diese Brücke erachtet Kuyper für unabdingbar notwendig, da Christen die Welt nicht meiden dürfen. Der Christ hat die „Pflicht, in der Welt Gott zu dienen, auch in seinem weltlichen […] Beruf“.122 c) Neben der Antithese und der Lehre der allgemeinen Gnade steht das Konzept der Souveränität im eigenen Bereich, kurz: „Sphärensouveränität“ genannt.123 Den Ausgangspunkt dieses Modells bildet die absolute Souveränität des dreieinigen Gottes über alles geschaffene Leben. Darum kennen wir auf Erden nur eine abgeleitete Souveränität. Kuyper macht dabei eine dreifache Unterscheidung zwischen Souveränität 1. im Staat, 2. in den Bereichen des Volkslebens und 3. in der Kirche.124 Der Staat stellt ein „unentbehrliches Rettungsmittel“125 dar, ein Instrument der allgemeinen Gnade Gottes.126 Er wurde von Gott installiert aufgrund der Sünde. Die Obrigkeit soll als Dienerin Gottes das Gute gegen das Böse schützen und „das Kunstwerk Gottes in seiner Schöpfung der Menschheit vor völligem Verderben […] bewahren“.127 Der Staat stellt allerdings auch ein Gefahrenpotential für unsere Freiheit dar.128 Auf dem Hintergrund desselben entwickelt Kuyper sein Konzept der Sphärensouveränität.129 Innerhalb der Gesellschaft sind mehrere Lebenskreise bzw. Sphären zu unterscheiden, die ihr Dasein nicht dem Staat verdanken noch ihr Lebensgesetz der Staatshoheit entlehnen, sondern einer hohen Autorität im eigenen Busen gehorchen, die, ebenso wie die Staatssouveränität, „von Gottes Gnaden“ herrscht.130

—————

121 Vgl. SCHUTTE, Nederland, 138.155; AUGUSTIJN, Kuypers theologie van de samenleving, in: DERS. / VREE, Abraham Kuyper: vast en veranderlijk, 24–53. 122 KUYPER, RwR, 23. Vgl. ebd., 63f. 123 Vgl. HESLAM, Creating, 142–166. 124 Ebd., 72. Vgl. ebd., 76f.; DERS., Souvereiniteit, 8ff. 125 DERS., RwR, 74. 126 DERS., Het Calvinisme, 74: „De Overheid een instrument van gemeene gratie, om de ongebondenheid en den gruwel te stuiten en den goede tegen den kwade te beschermen“. Dieser Satz fehlt in der deutschen Übersetzung. 127 DERS., RwR, 75. Vgl. ebd., 95. 128 Ebd., 74. Vgl. ebd., 83.89 (der Staat darf „keine Wucherpflanze sein, die alles Leben aufsaugt“); DERS., Souvereiniteit, 12ff. 129 Vgl. R.J. MOUW, Some Reflections on Sphere Sovereignty, in: LUGO (Hg.), Religion, 87– 109. 130 KUYPER, RwR, 83.

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Diese Lebenskreise, wie zum Beispiel die Familie, der Unterricht, die Wissenschaft, die Industrie, der Handel, die Kunst usw., besitzen also eine eigene „heilige Autonomie“ und haben nur ihrem eigenen, von Gott „einerschaffene[n] [!] Lebensgesetz“ zu gehorchen.131 Der Staat darf sich nur in diese Lebenssphären intervenierend einmischen, um ggf. 1. Konflikte zwischen unterschiedlichen Kreisen zu beenden, 2. einzelnen Individuen und Schwachen Schutz zu gewähren, und 3. die Bürgerinnen und Bürger zu zwingen, im Sinne des Allgemeinwohls ihren finanziellen Beitrag zur Instandhaltung der Einheit im Staat zu leisten.132 Ansonsten muss der Staat die Eigengesetzlichkeit der unterschiedlichen Sphären anerkennen und sich weiterer Eingriffe enthalten. Das Konzept der Sphärensouveränität beinhaltet mithin einerseits eine Begrenzung der Staatsmacht und bietet andererseits innerhalb der Sphären Raum für eigenständiges Handeln, eigene Initiativen und Verantwortlichkeit. Dieses Konzept liegt im Übrigen auch der Gründung der „Freien Universität“ in Amsterdam zugrunde. Deshalb dürfte es kein Zufall sein, dass Kuyper dieses Konzept in seiner Einweihungsrede thematisiert. d) Die Sphärensouveränität betrifft schließlich auch die Kirche.133 Deswegen darf sich der Staat auch nicht in kirchliche Angelegenheiten einmischen. Der Staat entbehrt der geistlichen Voraussetzungen, um darüber zu urteilen.134 Denn wie könnte die Obrigkeit feststellen, was wahre Kirche und was wahrer oder falscher Glaube ist? Kuyper wendet sich gegen den Artikel 36 des Niederländischen Glaubensbekenntnisses, welcher der Obrigkeit explizit die Aufgabe zuweist, „abzuwehren und auszurotten alle Abgötterei und falschen Gottesdienst, zu vernichten das Reich des Antichrists“.135 Im Jahre 1905 wird diese Passage unter Zustimmung Kuypers von den Reformierten Kirchen (Gereformeerde Kerken in Nederland) aus dem Bekenntnis gestrichen.136 Bedeutsam für die Verhältnisbestimmung von Kirche und Gesellschaft ist auch Kuypers Unterscheidung zwischen Kirche als Institution und Kirche als Organismus. Kuyper versteht Kirche als „Versammlung der Gläubigen“, „so wie sie durch ihren Glauben in Kontakt [stehen] mit dem Allmächtigen“. Sie bildet „de[n] Leib Christi, woran die wiedergeborenen ————— 131

Ebd., 88. Vgl. DERS., Souvereiniteit, 11. Vgl. DERS., RwR, 89. 133 Vgl. ebd., 95ff. 134 Vgl. ebd., 97. 135 BSRK, 248: „[…] omnemque idolatriam, et adulterium a Dei cultu submoveant et evertant: regnum Antichristi diruant.“ Vgl. KUYPER, RwR, 91, wo m.E. ein Druckfehler zu finden ist: „wahren“ statt „wehren“. 136 Vgl. K. VAN DER ZWAAG, Onverkort of gekortwiekt? Artikel 36 van de Nederlandse geloofsbelijdenis en de spanning tussen overheid en religie. Een systematisch-historische interpretatie van een ‘omstreden’ geloofsartikel, Heerenveen 1999, vor allem 311ff. 132

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Personen Glieder sind“.137 Die Kirche ist als Organismus nach Kuyper überall dort zu finden, „wo die Wiedergeborenen kraft ihres Glaubens auf die Welt einwirken“.138 Die Kirche als Institution ist „die durch die Ämter geleitete Kirche, in der die Gläubigen die Unterweisung und die Impulse empfangen, die sie für die Erfüllung ihrer Aufgabe in der Kirche als Organismus brauchen“.139 Die Kuyperschen Konzepte der Sphärensouveränität und der Kirche als Organismus spielen eine wichtige Rolle in der strukturellen Entwicklung der niederländischen Gesellschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die übergreifende Struktur, welche später unter dem Begriff „Verzuiling“ bekannt wird, ist durch einen Gesellschaftsaufbau gekennzeichnet, demzufolge einzelne Teile der Bevölkerung eigene – z.B. protestantische, römisch-katholische, liberale oder sozialistische – Organisationen bilden und mittels dieser Organisationen versuchen, ihre Ziele für die und in der weiteren Gesellschaft zu erreichen. Dieses Modell ermöglicht Emanzipation und Initiative zugleich. Weil der Kontakt zwischen den Organisationen nur auf der Ebene der Leitung stattfindet, hat dieses Gesellschaftsmodell im Laufe des 20. Jahrhunderts allerdings auch Segmentierung und Erstarrung zur Folge. Die Antithese, die Lehre von der allgemeinen Gnade, das Konzept der Sphärensouveränität und schließlich die Unterscheidung zwischen Kirche als Institution und Kirche als Organismus machen klar, dass Kuypers eigentliches Ziel in der erneuten Christianisierung der niederländischen Gesellschaft besteht.140

4. Aktualisierungen Abraham Kuyper ist in den Niederlanden noch nicht vergessen. Vor allem seine politischen Ideen tauchen immer mal wieder in Diskussionen über aktuelle gesellschaftliche und politische Fragen auf. Ein Beispiel habe ich vor einiger Zeit im Tageblatt „Trouw“ gefunden. Unter dem Titel „Wie der Islam von Kuyper lernen kann“, schreibt der Journalist Lodewijk Dros über die von Kuyper befürwortete Streichung des – wie er ihn nennt – „sharia-artigen“ Artikels 36 aus dem Niederländischen ————— 137

KUYPER, RwR, 55. Vgl. ebd., 14.23. AUGUSTIJN, Abraham Kuyper, 303. 139 Ebd., 303. Siehe z.B. KUYPER, De gemeene gratie, 2. Bd., 253ff. Kuypers Denken über Kirche als Institution und Kirche als Organismus ist während seines Lebens Wandlungen unterworfen. Diese werden beschrieben von J. VREE, Organisme en instituut. De ontwikkeling van Kuypers spreken over kerk-zijn (1867–1901), in: AUGUSTIJN / VREE, Abraham Kuyper, 86–108. 140 Vgl. KOCH, Abraham Kuyper, 61.573; SCHUTTE, Nederland, 154. 138

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Glaubensbekenntnis. Ebenso könne auch der Islam mit den heiligen Texten aus seiner eigenen Tradition verfahren.141 Sehr grundlegend ließ sich der Ministerpräsident Jan Peter Balkenende (2002–2010) von Kuyper inspirieren. So hat er zum Beispiel in zwei Ansprachen versucht, Kuypers Konzept von Sphärensouveränität zu aktualisieren.142 Seines Erachtens ist dieses Konzept noch immer auf mehreren Ebenen anwendbar. An erster Stelle nennt er die „civil society“. Kuypers Konzept wehre sich gegen den allmächtigen Staat. Balkenende fügt hinzu, dass man sich in unserer Zeit auch gegen einen allmächtigen Markt wehren müsse: „Es gibt mehr als einen Markt und eine Obrigkeit“. Innerhalb der Gemeinschaft werde auch viel Kreativität, Einsatz und Achtsamkeit sichtbar. Die Obrigkeit solle sich nicht in diese Bereiche einmischen, sondern hier Freiheit und Vertrauen gewähren. Bürgerliche Initiativen würden zu oft von Gesetzen und Vorschriften entmutigt. Deshalb solle der Bürokratismus vermindert werden. An zweiter Stelle nennt Balkenende die unterschiedlichen Religionen einer Gesellschaft. Kuyper ermutige Menschen, von ihren Überzeugungen ausgehend zu leben. Balkenende betont, dass wir das noch immer tun müssen. Raum zu schaffen für religiöse Differenzen, sei eine grundlegende Bedingung, aber keine Garantie für eine freie und friedliche Gesellschaft. Er plädiert darum für den Dialog, nicht nur zwischen den religiösen Führungsfiguren und Repräsentanten, sondern auch zwischen den Bürgern an der Basis. An dritter Stelle nennt Balkenende die Europäische Union. Man könne, so Balkenende, die verschiedenen Mitgliedsländer als verschiedene Kreise betrachten, die einen Teil ihrer Souveränität an den größeren Kreis der Union übertragen haben. Es bleibe aber immer notwendig, sich auf das Verhältnis zwischen den Kreisen zu besinnen. Dabei ist für Balkenende das Motto leitend: „Lasst uns auf nationaler Ebene tun, was auf nationaler Ebene getan werden kann – und auf europäischer Ebene, was auf ihr getan werden muss.“ Wie Kuyper sich einst gegen einen allmächtigen Staat wehrte, so will sich Balkenende gegen eine allmächtige Europäische Union wehren. Auf allen Ebene gelte aber, dass die bunte Gesamtheit von unterschiedlichen Kreisen mit eigenen Aufgaben und Interessen nur funktionieren könne ————— 141

L. DROS, Hoe de islam kan leren van Kuyper, in: Trouw, 29. Dezember 2007, 6f. J.P. BALKENENDE, Solid Values for a better Future, http://www.minaz.nl (14.4.2009); DERS., The Power of the Community and shared Values in a democratic Society, http://www.minaz.nl (14.4.2009). Vgl. auch E. S TORKEY, Sphere Sovereignty and the AngloAmerican Tradition, in: LUGO (Hg.), Religion, 189–204; B. GOUDZWAARD, Globalization, Regionalization, and Sphere Sovereignty, in: ebd., 325–341; B. HO SON, Relevance of Sphere Sovereignty to Korean Society, in: VAN DER KOOI / DE BRUIJN (Hg.), Kuyper Reconsidered, 179–189. 142

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unter einem Schirm von gemeinsamen und gemeinschaftlichen Werten und Normen, wie Demokratie, Freiheit (Religionsfreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung), Solidarität, Respekt, Gleichheit und Toleranz. Solche Neuinterpretationen zeigen, dass die Tradition des Neucalvinismus bis in die Gegenwart inspirierend geblieben ist und für manche noch heute ein hilfreiches Erbe bildet.

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Michael Beintker

Calvin und die Demokratie 1. Das Thema Calvin war ganz gewiss kein Demokrat. Es liefe auch auf einen Anachronismus hinaus, ihn als einen solchen bezeichnen zu wollen, denn die Demokratie als Verfassungsmodell ist damals nicht geschätzt worden. Dennoch lassen sich in seinem Denken einige prägnante Formelemente dessen ausmachen, was für eine Demokratie kennzeichnend ist. Erst recht werden bestimmte Zusammenhänge zwischen Calvins Denken und der modernen Demokratie sichtbar, wenn wir auf die weitere Geschichte des von Calvin beeinflussten reformierten Protestantismus achten.1 Der reformierte Protestantismus wies gegenüber der Ausprägung von blinder Obrigkeitshörigkeit eine deutliche Sprödigkeit auf. Natürlich gab es hier auch Ausnahmen, so zum Beispiel bei der Konversion von Fürstenhäusern im Zuge der so genannten „zweiten Reformation“ oder auch bei den hugenottischen Flüchtlingsgemeinden im absolutistischen Preußen. Aber die Ausnahmen bestätigen die Regel. In Westeuropa sowie in Ungarn und Siebenbürgen hatte sich der reformierte Protestantismus häufig gegen Unterdrückung und Verfolgung entfalten und behaupten müssen. Besonders dramatisch war die Lage im unmittelbaren französischen Einflussbereich Calvins. Sie erreichte mit der Pariser Bluthochzeit von 1572 – also acht Jahre nach Calvins Tod –, in deren Folge zwischen 10.000 und 20.000 Protestanten hingemordet wurden, ihren ersten grausamen Tiefpunkt. Ereignisse wie eine solche Hochzeit fördern keinen Untertanengeist, sondern üben in Widerständigkeit und rebellischen Geist ein. In Frankreich und in den reformierten Gebieten in ————— 1

Wichtige Hinweise zum Stand der Forschungen zum Thema bietet jetzt M. TURCHETTI, Der Beitrag Calvins und des Calvinismus zur Entstehung der modernen Demokratie, in: M.E. HIRZEL / M. SALLMANN (Hg.), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag, Zürich 2008, 237–266. Vgl. außerdem: J.T. MCNEILL, The Democratic Element in Calvin’s Thought, ChH 18, 1949, 153–171; R.M. KINGDON / R.D. LINDER (Hg.), Calvin and Calvinism. Source of Democracy?, Lexington, Mass., 1970; H. VAHLE, Calvinismus und Demokratie im Spiegel der Forschung, ARG 66, 1975, 182–212; J. STAEDTKE, Demokratische Traditionen im westlichen Protestantismus, in: DERS., Reformation und Zeugnis der Kirche. Gesammelte Studien, hg. von D. BLAUFUSS, Zürich 1978, 281–304; E. BUSCH, Calvin und die Demokratie, in: CH. STROHM (Hg.), Johannes a Lasco Bibliothek Große Kirche Emden und Reformation. Miszellen aus der Johannes a Lasco Bibliothek Emden, Wuppertal 2001, 117–149. Dem Beitrag des Calvinismus zur Entwicklung der Menschenrechte ist Dietrich Ritschl nachgegangen (vgl. D. RITSCHL, Konzepte. Ökumene, Medizin, Ethik. Gesammelte Aufsätze, München 1986, 301–315).

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Ungarn und Siebenbürgen konnten sich auch keine Staatskirchen entwickeln. Vielmehr musste die kirchliche Organisation nach eigenen, binnenkirchlichen Organisationsmustern aufgebaut und gestaltet werden, wobei die synodale Vernetzung, die hohen Partizipationsgrade und die Vorbehalte gegenüber hierarchischen Leitungsstrukturen besonders auffällig sind. Natürlich muss man sich vor plakativen Verallgemeinerungen hüten. Man kann nicht einfach sagen, dass die moderne westeuropäische und nordamerikanische Demokratie aus dem Geist des Calvinismus hervorgegangen sei. Das wäre übertrieben. Einer unkritischen Handhabung der Weber-Troeltsch-These, nach der der Calvinismus der kapitalistischen Mentalität zum Durchbruch verholfen habe,2 soll hier keine voreilige Parallele auf der Ebene des modernen Demokratieverständnisses an die Seite gestellt werden. Wohl aber lassen sich gewisse Auswirkungen der Genfer Reformation auf die Entwicklung der Demokratie in Europa und Nordamerika vermuten. Und selbst wenn man diese Auswirkungen gänzlich bestreiten wollte, lässt sich wenigstens zeigen, dass die Entwicklung republikanischer Verhältnisse den politischen Auffassungen des Calvinismus entgegenkam. Auf gesichertem Boden ist man auch hier, wenn man Quellen und Texte befragt und zuallererst klärt, was Calvin selber zu dem uns interessierenden Problemfeld an Gedanken und Ideen beigesteuert hat, ob seine Anschauungen in die vermutete Richtung weisen oder ob sie ihr eher entgegenstehen. Von erheblicher Bedeutung ist das Schlusskapitel seines theologischen Hauptwerks, der „Institutio Christianae religionis“.3 Daneben verdienen die kleineren, meist aus einem aktuellen Anlass entstandenen Arbeiten Calvins und seine Bibelauslegungen und Korrespondenzen unsere Aufmerksamkeit, wobei sich hier noch sehr beachtliche Forschungsfelder auftun. Wichtig sind sodann seine Katechismustexte und seine Genfer Kirchenordnung, denn über diese Textgattungen hat Calvin zweifellos die größte Breitenwirkung erzielt.

2. Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Herrschaft Calvin hat unübersehbar zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft unterschieden und einer Vermischung beider widersprochen. Er konnte die —————

2 Vgl. M. WEBER, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [1905], in: DERS., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen 1920, 17–206; E. TROELTSCH, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, in: DERS., Gesammelte Schriften I, Tübingen 1912, bes. 706ff. 3 Den Ausführungen liegen folgende Ausgaben zugrunde: J. CALVIN, Unterricht in der christlichen Religion [1559], übersetzt u. bearbeitet von O. WEBER, Neukirchen-Vluyn 51988; Johannis Calvini Opera selecta, P. BARTH / G. NIESEL (Hg.), III–V, München 1928–1936.

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Profanität des Politischen hervorheben und hat dessen klerikale Überhöhung oder Instrumentalisierung hartnäckig zurückgewiesen. Das ging vor allem gegen die Fürstbischöfe. So heißt es in Calvins berühmtem Schreiben an Kardinal Sadolet: Haben wir nicht dem Magistrat die Schwertgewalt und andere Stücke der bürgerlichen Gerichtsbarkeit wieder zurückgegeben, die ihm unter der Maske der Unantastbarkeit Bischöfe und Priester betrügerisch entrissen und sich selbst angemaßt haben?4

Es kann nicht die Aufgabe der Kirche sein, die bürgerliche Ordnung, das äußere Zusammenleben der Menschen zu gestalten. Wenn Calvin von einem zweifachen Regiment im Menschen (duplex in homine regimen) spricht5 und zwischen dem geistlichen (regimen spirituale) und dem politischen (regimen politicum) Regiment unterscheidet6, berührt er sich unverkennbar mit einer Grundanschauung Luthers, die in der modernen Lutherinterpretation als „Zwei-Reiche-Lehre“ oder als „ZweiRegimenten-Lehre“ bezeichnet wird. Manche Reformierten haben zwar angezweifelt, dass auch Calvin eine solche Unterscheidungslehre vertreten habe, aber im Grundsatz stimmen beide Reformatoren darin überein, dass – um Calvins Ausdrucksweise zu bemühen – zwischen dem „regnum spirituale“ und dem „regnum politicum“7 klar zu unterscheiden ist. Und auch in der Begründung laufen Luthers und Calvins Argumentationen einigermaßen parallel. Die Sorge um das Gemeinwohl bedarf irdischer Machtmittel und ist zur Abwehr aller Gefahren auf die Anwendung von Gewalt – sei es die des Richtschwerts nach innen, sei es die der militärischen Abwehr nach außen – angewiesen. Eine Kirche kann und darf man so gerade nicht leiten: Sie steht unter der geistlichen Herrschaft Christi, und diese geistliche Herrschaft realisiert sich gewaltfrei, dadurch, dass Menschen das Evangelium hören und ihm Glauben schenken. Demgemäß ist Kirchenleitung eine geistliche Aufgabe, die sehr genau von der Führung eines Gemeinwesens auf der Basis von Rechtsmitteln und gegebenenfalls Gewaltanwendung zu unterscheiden ist. Und auch darin stimmen Luther und Calvin überein, dass sie die beiden Regimente in anthropologischer Blickrichtung mit der Innen- und der Außenseite der menschlichen Existenz verknüpfen. Die Dimension des Geistlichen zielt auf das Innere des Menschen, auf seine Seele, auf sein Gewissen. Die Dimension des Politischen erfasst nur das Äußere des Menschen ————— 4

CStA 1.2, ([337]346–429) 359, 9–13 (Antwort an Kardinal Sadolet, 1539); vgl. auch Inst. (1559), IV,11,8. 5 Inst. (1559), IV,20,1 (OS V, 471, 12). 6 Inst. (1559), III,19,15 (OS IV, 294, 5–7). 7 Ebd. (OS IV, 294, 16–17).

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und des menschlichen Zusammenlebens und hat es mit dem Frieden, der Wahrung des Rechts, mit der förmlichen Beachtung der Gesetze zu tun. Damit wird die Reichweite des Politischen begrenzt. Für das „Leben der Seele“8 ist die Politik nicht zuständig, und sie würde sich am Menschen vergehen, wenn sie sich an dieser Stelle eine Herrschaft anmaßen würde. „Über die Seele kann und will Gott niemand regieren lassen außer sich selbst“, hatte Luther in seiner Schrift über die Obrigkeit geschrieben.9 Das implizierte natürlich auch eine Begrenzung kirchenleitenden Handelns: Auch Bischöfe und Pfarrer haben keinen Auftrag zur Seelenherrschaft! Angesichts der Gefahr von Grenzüberschreitungen wird man solche Grenzziehungen, die ja den Boden für die Freiheit des Gewissens vorbereitet haben, zunächst von ihrer Idealtypik her zu begreifen haben. In der Praxis ist sowohl für die Obrigkeiten als auch für die Kirchenleitungen die Versuchung zur Vereinnahmung von Seele und Gewissen immer recht groß gewesen. Aber vom Ansatz her sollte gerade das ausgeschlossen sein. So konnte Calvin die Unterscheidung zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Regiment im Interesse der Unvermischbarkeit beider Sphären nachgerade dualisieren: Das eine Regiment beziehe sich auf das gegenwärtige Leben und seine Gestaltung, das andere habe seinen Sitz tief im Herzen des Menschen. Die beiden aber müsse man stets einzeln für sich betrachten; wenn man das eine ansehe, müsse man sich von der Betrachtung des anderen abwenden.10 Es gebe eben „im Menschen gewissermaßen zwei Welten, in denen auch verschiedene Könige und verschiedene Gesetze regieren können“.11 Christi geistliches Reich und die bürgerliche Ordnung seien „zwei völlig verschiedene Dinge [res esse plurimum sepositas]“.12 Schließlich gibt es auch darin eine Übereinstimmung mit Luther, dass Calvin die beiden Regimente nicht antithetisch einander entgegensetzt, sondern als zwei Strategien des göttlichen Wirkens begreift, die unbeschadet ihres kategorialen Verschiedenseins in einem Ergänzungsverhältnis stehen. In beiden Fällen geht es um die Abwehr des Bösen. Das weltliche Regiment wendet sich gegen das äußere Böse, das geistliche dient der Überwindung des Bösen im menschlichen Herzen. Während die Obrigkeit mit Zwang und gegebenenfalls auch mit dem Schwert gegen das öffentliche Böse vorgehen muss, richten sich Predigt und kirchliche Bußdisziplin gegen die Sünde als

————— 8

Ebd. (OS IV, 294, 11). M. LUTHER, Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei [1522], WA 11, ([229]245–281) 262 (Wortlaut modernisiert). 10 Inst. (1559), III,19,15 (OS IV, 294,8ff.). 11 Ebd. (OS IV, 294, 20–21). 12 Inst. (1559), IV,20,1 (OS V, 472, 16–17). 9

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Wurzel alles Bösen.13 Auf diese Weise tragen sie wirksam zur öffentlichen Ordnung bei und fördern sich gegenseitig. Freilich gibt es auch Unterschiede zu Luthers Sichtweise. Aber diese betreffen eigentlich nicht die Grundstruktur der Zwei-Reiche-Lehre, sondern vor allem ihre kontextuelle Einbindung und Ausformung. Darin sind sie freilich von ganz erheblichem Gewicht. Luther entwickelt seine Auffassungen im Schatten einer fürstlichen Residenz, Calvin in einer sich aus fürstlicher Vormundschaft gerade emanzipierenden Stadtrepublik mit gewählten Bürgervertretungen. Das ökonomische Milieu Luthers ist eine ländlich geprägte Stadt von Ackerbürgern und Handwerkern, Calvin hat Paris erlebt und befindet sich in Genf in einer vom Handel geprägten Metropole. Es ist ein erheblicher Unterschied, ob die Reformation unter der schützenden Hand eines mächtigen Landesvaters durchgeführt wird, oder ob sie nach parlamentarischer Beratung und dann auch Begleitung von einem Zürcher, Berner oder dann Genfer Magistrat eingeführt wird. Man tritt Luthers Obrigkeitsverständnis sicher nicht zu nahe, wenn man es als patriarchalisch charakterisiert. Calvin dachte ganz und gar nicht patriarchalisch, weil er bei seiner Konzeption die sich selbst verwaltende Genfer Gesellschaft vor Augen hatte. Schon das Wort „Obrigkeit“, das sich auch in den deutschen Übersetzungen der Texte Calvins findet, ist reichlich missverständlich. Allerdings gibt es auch in Calvins politischem Weltbild ein Oben und ein Unten und damit auch die Relationen von Ehrerbietung, Respekt und Gehorsam. Aber es sollte zu denken geben, dass da, wo unsere Übersetzer das Wort „Obrigkeit“ verwenden, im Original fast regelmäßig „magistratus/magistrat“ steht und dass die eigentliche „Obrigkeitslehre“ der Institutio unter der Überschrift „De politica administratione“ verhandelt wird.14 Calvins Sprachgebrauch assoziiert die öffentliche Verwaltung der politischen Angelegenheiten durch hoheitliche Magistrate, Ämter und Behörden und nimmt darin faktisch Elemente eines funktionalen Politikverständnisses vorweg. Eine weitere Differenz zu Luther besteht darin, dass Calvin sehr viel stärker als jener die Christlichkeit des politischen Gemeinwesens hervorhebt. Während Luther das weltliche Regiment an der Vernunft orientiert und sich durchaus vorstellen kann, dass auch noch die damals vor Wien stehenden Türken ihrer Aufgabe als Obrigkeit nachkommen, wenn sie nur ihre Vernunft recht gebrauchen,15 scheint eine solche Auffassung für Calvin ————— 13

Vgl. Inst. (1559), IV,11,3 und IV,20,2. Inst. (1559), IV,20 (OS V, 471–502). 15 Franz Lau sagt es so: „Luthers Zweireichelehre ist so konzipiert, daß das weltliche Reich zu seinem Bestand eigentlich keine Christen braucht, weder unter den Oberherren noch unter den Untertanen“ und verweist u.a. auf eine Predigt Luthers aus dem Jahr 1528: „Es genügt für den 14

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eher zweifelhaft zu sein. Er trifft sich mit Luther in der Wertschätzung der Vernunft in den politischen Angelegenheiten, aber akzentuiert doch wesentlich deutlicher als jener, dass das Gemeinwesen der christlichen Gottesverehrung verpflichtet sei. So wird die Geltung des Ersten Gebotes des Dekalogs betont auf das Gemeinwesen überhaupt ausgerichtet. Die Verehrung Gottes, so sagt Calvin, ist „die vornehmste Grundlage aller Gerechtigkeit; ist diese zerstört, so fallen alle anderen Stücke der Gerechtigkeit wie die auseinandergerissenen und zerbrochenen Teile eines Gebäudes zusammen“.16 Von daher obliegt dem politischen Regiment die Verantwortung dafür, dass sich die rechte Gottesverehrung im Gemeinwesen ungehindert entfalten und ausbreiten kann. Da es um den Bestand des menschlichen Zusammenlebens geht, liegt diese Verantwortung sogar im ureigensten Interesse der Politik. Calvin kann sich in diesem Zusammenhang auf die philosophische Tradition der Antike berufen und christliche Fürsten und Magistrate ermahnen, sich in der cura religionis von den Nichtchristen nicht übertreffen zu lassen.17 Wenn man es staatskirchenrechtlich betrachtet, ist hier nicht an obrigkeitliche Eingriffe in die inneren Angelegenheiten der Kirche gedacht, nicht an das ius in sacris, sondern an das ius circa sacra. Das bürgerliche Regiment soll die äußere Verehrung Gottes fördern und schützen und die gesunde Lehre der Frömmigkeit und das Ansehen der Kirche verteidigen.18 In Genf hieß das, dass der Rat die Reformation förderte und schützte; die gesunde Lehre war gleichbedeutend mit der evangelischen Predigt und evangelischer Frömmigkeit.

3. Die Aufgaben der politischen Administration Calvin hat von Anfang an eine klare und profilierte Sicht des politischen Regiments und seiner Aufgaben entwickelt. Eine besondere Nötigung dazu ergab sich aus den Vorgängen in Frankreich, die ihn, den aus seiner Heimat wegen seines Glaubens geflüchteten Franzosen, in der Situation eines Exils mit kirchenpolitischer Verantwortung ständig beschäftigen mussten. In beispielhafter Prägnanz hat Calvin seine Sicht bereits im Genfer Katechismus von 1537 dargelegt. Ausgehend von den einschlägigen biblischen Texten, die den Stand der Obrigkeiten (lestat des magistratz) auf die Anordnung Gottes zurückführen, werden die Regierenden mit den Worten aus ————— Kaiser, daß er Vernunft hat. So bewahrt der Herrgott das Reich der Tartaren und der Türken“ (F. LAU, Luthers Lehre von den beiden Reichen, Berlin 1952, 59; vgl. WA 27, 417). 16 Inst. (1559), II,8,11 (OS III, 352, 16–18). 17 Vgl. Inst. (1559), IV,20,9. 18 Vgl. Inst. (1559), IV,20,2.

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Römer 13,1–7 als „Gottes Diener“, also als im Auftrag Gottes handelnde Akteure angesprochen.19 Deshalb seien Fürsten und Magistrate „verpflichtet, sich Rechenschaft zu geben, wem sie in ihrem Amte dienen, und nichts zu tun, was Dienern und Statthaltern Gottes unwürdig ist“.20 Alle ihre Fürsorge soll sich darauf richten: [1.] die öffentliche Gestalt der Religion (la forme publique de religion) in echter Reinheit zu bewahren, [2.] das Leben des Volkes durch vorzügliche Gesetze zu regeln und [3.] für Wohl und Ruhe ihrer Untertanen sowohl im öffentlichen wie im privaten Leben zu sorgen.21 Dies könne im Sinne von Jeremia 22,3 nur durch Gerechtigkeit und Gericht erreicht werden. Gerechtigkeit bestehe darin, die Unschuldigen zu schützen und zu stützen, zu bewahren und zu befreien. Gericht bestehe darin, der Frechheit der Bösen zu widerstehen, Gewalttätigkeit zu verhindern und die Verbrechen zu bestrafen.22 Dahinter verbirgt sich ein wohldurchdachtes Konzept, in dem Recht und Gesetz die tragende Rolle spielen und die Wohlfahrt des politischen Gemeinwesens – ein sozial ausbalancierter Zustand, in dem alle in Frieden miteinander leben können – als Kriterium gehandhabt wird. Es ist im Sinne der theologischen Argumentationslogik, dass die cura religionis am Anfang steht,23 und es entspricht der von Calvin befürworteten Vielfalt von Regierungsformen, dass explizit Fürsten und Magistrate aufgeführt werden. Es fällt auf, dass Calvin im Laufe der Jahre neben der Wahrung der Gerechtigkeit auch den Schutz der Freiheit zu einer obrigkeitlichen Aufgabe erklärt. Dabei hat er nicht die „libertas Christiana“ vor Augen, also die aus dem Glauben erwachsende Freiheit des Christenmenschen, die sich in erster Linie unter dem „regnum spirituale“ entfalten soll,24 sondern die Freiheit in einem bestimmten politischen Verständnis. Aber was verstand ein Autor des 16. Jahrhunderts, der von der neuzeitlichen Geschichte des Freiheitsgedankens noch unberührt war, unter solcher Freiheit? Die Magistrate, so kann Calvin in der 1543er Auflage der Institutio schreiben, müssen mit höchster Anstrengung danach streben, dass sie es nicht zulassen, dass die Freiheit, zu deren Beschützern sie eingesetzt sind, in irgendeinem Stück gemindert, geschweige denn verletzt wird; wenn sie dabei zu nachlässig sind oder zu wenig

————— 19

CStA 1.1, ([131]138–223) 205 (Genfer Katechismus und Glaubensbekenntnis, 1537). Ebd., 205, 34–36. 21 Vgl. ebd., 205, 32–40. 22 Vgl. ebd., 40–46. 23 Vgl. auch Inst. (1559), IV,20,9; sowie CStA 3, ([267]280–367) 361 (Brieve instruction, pour armer tous bons fideles contre les erreurs de la secte commune des Anabaptistes, 1544). 24 Vgl. dazu Inst. (1559), III,19. 20

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Sorgfalt walten lassen, dann sind sie treulos in ihrem Amt und Verräter an ihrem Vaterlande [patriae suae proditores].25

Die Anspielung auf Vaterlandsverrat lässt bei der Freiheit an die autonome Selbstbestimmung eines politischen Gemeinwesens denken, die nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf und entschlossen gegen fremde Machtinteressen zu verteidigen ist. So war etwa die Freiheit Genfs und seiner Bürger gegenüber den Machtinteressen des Herzogtums Savoyen zu bewahren. Aber auch die Freiheit von Unrecht und Ungerechtigkeit im Gemeinwesen selbst kommt in den Blick: Gerechtigkeit, so in der Auslegung von Jeremia 21,12 und 22,3 bedeute, „die Unschuldigen in seine Hut zu nehmen, sie zu schirmen, zu schützen, zu verteidigen und frei zu machen [liberare]“.26 Gemeint ist hier vor allem die Herstellung der Rechtsfähigkeit von rechtlosen Personen. Auf dieser Linie liegt vermutlich auch der Gedanke der „libertas populi“, der schon 1536 auftaucht.27 Calvin wendet ihn gegen die ‚wilde Ungebundenheit der Könige‘ und macht es den ständischen Vertretungen zur Pflicht, diese zu mäßigen. Wenn die drei Stände zusehen würden, wie Könige maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, dann würden sie die Freiheit des Volkes verraten, zu deren Beschützern sie von Gott eingesetzt sind.28

4. Welche Regierungsform ist die beste? Es spricht für Calvins politische Aufmerksamkeit, dass er die Frage nach der dem politischen Gemeinwesen förderlichsten Verfassung oder Regierungsform ausdrücklich erörtert hat. Obwohl grundsätzlich jede Regierung die Ehrerbietung und den Gehorsam der Regierten verdient, gibt es doch erhebliche Unterschiede zwischen den Regierungsformen, die wiederum eindeutige Präferenzen nach sich ziehen. Unter dem Einfluss der antiken Politiktheorie hat Calvin drei politische Verfassungen unterschieden:29 das Königtum, die Aristokratie (Herrschaft der Besten) und die Volksherrschaft („popularis dominatio“, in der französischen Ausgabe der Institutio: „Democratie“30). Jede dieser Verfassungen kann als eine legitime Regierungsform bejaht werden, aber jede dieser Verfassungen trägt auch den Keim zu ihrer Pervertierung in sich. Daraus ergibt ————— 25 26 27 28 29 30

Inst. (1559), IV,20,8 (OS V, 479, 12–16). Inst. (1559), IV,20,9 (OS V, 481, 23–25). Inst. (1559), IV,20,31 (OS V, 501, 26). Vgl. ebd. (OS V, 501, 20–27). Vgl. hierzu und zum Folgenden: Inst. (1559), IV,20,8. OS V, 478, 21 sowie 35–36.

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sich eine zweite Dreierreihe: Das Königtum kann zur Tyrannis entarten, die Aristokratie kann in die Herrschaft weniger, also in Oligarchie, umschlagen und die Demokratie in einen Zustand, der jede Verfassung außer Kraft setzt: in Aufruhr. Keine der legitimen Regierungsformen ist als solche ideal. Wenn man die ihnen innewohnenden Gefährdungen so weit wie möglich bannen will, muss man sich für eine Mischform entscheiden. Das wäre nach Calvin die Herrschaft der Besten, also die Aristokratie, gemäßigt durch Elemente der bürgerlichen Gewalt (politia), also etwa durch eine zeitliche Begrenzung der Amtsdauer.31 Auf jeden Fall ist es für ein Gemeinwesen besser, wenn es von mehreren dazu geeigneten Personen regiert wird und nicht nur von einer einzelnen Person. Die Fehlbarkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen macht es sicherer und für alle erträglicher, wenn mehrere das Steuerruder halten, so daß sie also einander gegenseitig beistehen, sich gegenseitig belehren und ermahnen, und wenn sich einer mehr als billig erhebt, mehrere Aufseher [censores] und Lehrer da sind, um seine Willkür im Zaume zu halten.32

Mit der Bevorzugung der Regierungsform der Aristokratie befand sich Calvin in bester Übereinstimmung mit Platon und Aristoteles. Auch sonst ergeben sich hier mancherlei Berührungen mit der politischen Ethik des Aristoteles. Dessen Trias von Königtum, Aristokratie und Politie (als legitimer Volksherrschaft) stand Calvin zweifellos vor Augen, als er über die Staatsformen nachdachte, und auch die Entartungen in Tyrannis und Oligarchie waren bei Aristoteles nachzulesen.33 Calvin urteilte in einer Denktradition, der die Volksherrschaft suspekt war. Hier haben die antiken Erfahrungen mit demokratischen bzw. plebiszitären Verfassungen bis in das 19. Jahrhundert hinein verstörend gewirkt. Der Gedanke der Volkssouveränität, nach der die Staatsgewalt vom Volk ausgeht und vor ihm zu verantworten ist, war damals kaum geläufig. Dagegen standen unbestreitbare Negativphänomene der Demokratie wie Verschleppung von Problemlösungen, Populismus, Inkompetenz und Korruption so im Vordergrund, dass sich die Aristokratie – die „Herrschaft der Besten“ – für die Steuerung des politischen Gemeinwesens fast von selbst empfahl. Da jedoch auch die Aristokratie nicht vor Machtmissbrauch geschützt war, musste dafür Sorge getragen werden, dass die Besten gewählt und auch wieder abgewählt werden konnten. In der idealen Regierungsform waren höchste Regierungskompetenz und zeitliche Befristung der Macht————— 31 32 33

Vgl. ebd., 478, 23–24 sowie 479, 7–12. Inst. (1559), IV,20,8 (OS V, 478, 28 – 479, 2). Vgl. ARISTOTELES, Politik 1279a, 32 – 1279b, 10.

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ausübung miteinander zu kombinieren. Das war der aus der Aristokratie und der bürgerlichen Gewalt ‚gemischte Zustand‘.34 Calvin war freilich Theologe. Als solcher wollte er seine Anschauungen aus der Bibel gewinnen und vor biblischen Anschauungen bewähren. Das gilt auch für die Verfassungslehre. Die Spur führt hier in das Alte Testament, genauer in die frühstaatliche Zeit Israels, in der die so genannten Richter das Volk Israel regierten und gegen Angriffe von außen verteidigten. Bei den Richtern handelte es sich um qualifizierte Führerpersönlichkeiten, die für die Lösung der ihnen zugedachten Aufgaben jeweils bestens geeignet waren, auf Zeit (also ohne Erbfolge) agierten und nachgerade ideal in die Ahnengalerie der später von Max Weber porträtierten charismatischen Herrschaft passten.35 Dass die Herrschaft der Besten wünschenswert sei, werde nicht nur durch die Erfahrung belegt, sondern auch durch die Autorität Gottes selbst, der die Israeliten bis zur Zeit Davids „in dem bestmöglichen Zustand halten wollte“ und deshalb „eine Aristokratie einrichtete, die an die bürgerliche Regierungsform angrenzte“.36 Was das im Einzelnen bedeutete, lässt sich anhand von Calvins Auslegung des Deuteronomiums und des 1. Samuelisbuches konkretisieren.37 So hat Calvin die Richterzeit als Vorbild für die Gewinnung der besten Regierungsform betrachtet. Denn die Regierung der Richter – Calvin kann sie mit „gouverneurs“ vergleichen38 – habe die Freiheit Israels nachhaltig geschützt und gewährleistet. Damit stoßen wir wieder auf den Freiheitsgedanken, den Calvin in seinen Auslegungen in bemerkenswerter Weise vertieft. Freiheit erscheint im Blick auf die Richterzeit als ein politischer Zustand, der durch zwei Merkmale bezeichnet wird: 1. durch die souveräne Herrschaft Gottes, die sich in einem unmittelbaren Eingreifen Gottes und der unbedingten Geltung seiner Gesetze offenbart […]; 2. durch das Recht des Volkes, die Träger der Obrigkeit durch Wahl selbst zu bestimmen.39

Die Bedeutung der Verfassung, die bis zu Saul, dem ersten König Israels, galt, bestand in dem vorbildlichen Zusammenspiel von Gottes souveräner Herrschaft mit einem vom Volk gewählten aristokratischen Regiment, dem —————

34 Inst. (1559), IV,20,8 (OS V, 478, 24f.). Bei der „bürgerlichen Gewalt“ handelt es sich um die „Politie“ bei Aristoteles, also um die Herrschaft einer gewählten Elite. In diesem Sinne entsprach auch die Genfer Verfassung der Herrschaftsform der Politie. 35 Vgl. M. WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 51972, 140–142. 36 Inst. (1559), IV,20,8 (OS V, 479, 2–6). 37 Vgl. zum Folgenden: G. BEYERHAUS, Studien zur Staatsanschauung Calvins. Mit besonderer Berücksichtigung seines Souveränitätsbegriffs, [Berlin 1910] Aalen 1973, 130–147. 38 Vgl. CO 29, 187 (Predigt zu Dtn 33,20–25). 39 BEYERHAUS, Studien, 135f. Vgl. dazu CO 29, 121 (Predigt über Dtn 33, 3–7) und 535 (Hom. 27 zu 1Sam 8,1–6); CO 24, 190f. (Comm. zu Ex 28).

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Zusammenwirken von gebieterischer göttlicher Gewalt und Entscheidung des Volkes.40 Die göttliche Berufung der Richter in Israel und zugleich ihre Wahl durch das Volk, das Hören auf Gott und zugleich das kluge politische Agieren in der Unterscheidung der beiden Regimente war das, was Calvin an jener biblischen Epoche faszinierte. Von daher verschärft sich auch Calvins Bewertung des Königtums. Die auf die Richterzeit folgende Königszeit betrachtete er als Abfall von der wahren und richtigen Verfassung. Mit besonderer Genugtuung hat Calvin die berühmte Rede Samuels ausgelegt, in der Israel, das nun auch einen König begehrte wie die Nachbarvölker, noch einmal gewarnt wird: Der König werde das Volk bedrücken, auf seine Kosten leben, die Männer für seine Zwecke in den Krieg führen und – statt Freiheit – Knechtschaft erzeugen (vgl. 1Sam 8,10–20).41 Der Wunsch Israels nach einem König ist Calvin wie ein politischer Sündenfall vorgekommen. Als solcher wird er ja auch unmissverständlich in den alttestamentlichen Texten beschrieben. Das Unglück Sauls, des ersten Königs Israels, steht wie ein dunkles Omen über der ganzen Königszeit, die nur wenige Lichtgestalten wie David und Salomo kennt, wobei auch diese schonungslos mit ihren Schattenseiten gezeichnet wurden. Die Ambivalenz der Monarchie, ihre ständigen Gefährdungen durch Inkompetenz, Machtgier, Ränkespiele und Abfall vom wahren Gott war im Alten Testament so scharf beleuchtet worden, dass man kaum noch Aristoteles zu lesen brauchte, um die monarchische Verfassung problematisch zu finden. Die Monarchie steht jener Herrschaft der vom Volk gewählten Aristokraten, wie sie Calvin beispielhaft im Richterbuch findet, im Wege und ist deshalb ein suboptimales Herrschaftsmodell. Nur das Königtum Davids und die damit eröffnete Königslinie des Hauses Juda wurde von dieser Lesart ausgenommen. Dafür gab es einen entscheidenden theologischen Grund, den ein Schriftausleger wie Calvin unbedingt ernst zu nehmen hatte: Der verheißene Messias wird von David abstammen (vgl. Gen 49,10; Jes 9,6; Lk 1,32); mit dem Hause David wird die Genealogie eröffnet, die zu Jesus Christus führt. Die Könige aus dem Hause David gelten Calvin als „typus Christi“, und sie verloren diesen Adel auch dann nicht, wenn sie in ihrer Herrschaft „völlig entartet“ waren.42 Calvin hat nicht in Frage gestellt, dass es weiterhin Könige und Monarchien gibt. Den französischen König, der die evangelischen Christen verfolgte, hatte er ja unmittelbar vor Augen. Die Tatsache, dass es Könige gibt und geben wird, verdankt sich Gottes Willen, der bei allen politischen Vor————— 40

Vgl. BEYERHAUS, Studien, 136. Vgl. CO 29, 535–563 (Hom 27–29 zu 1Sam 8). 42 BEYERHAUS, Studien, 141; vgl. auch Inst. (1559), IV,20,6 (OS V, 479, 6): „[…] donec [Dominus] imaginem Christi produceret in Davide“. 41

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gängen immer mit in Rechnung zu stellen ist.43 Aber ohne dass Gott es will und zulässt, kann niemand König sein. So schrieb Calvin etwa im Blick auf den babylonischen König Nebukadnezar (vgl. Jer 27,6.17): Wenn es also feststeht, daß das Königtum jemandem übertragen ist, so wollen wir nicht daran zweifeln, daß wir ihm dienen sollen, er mag sein wer er will. Und sobald der Herr jemanden zu königlicher Hoheit erhebt, bezeugt er uns damit seinen Willen: er will, daß er königlich regiert! Darüber nämlich bestehen allgemeine Zeugnisse der Schrift.44

Jedoch aus heilsgeschichtlicher Perspektive musste das Königtum trotz allen Respekts, den wir den Herrschern schulden, unweigerlich wie eine überholte Einrichtung wirken; es war in seinen Ansprüchen eindeutig relativiert. Jede religiöse Überhöhung des Königtums verbot sich von selbst. Das kann man auch daran ablesen, dass Calvin den in Frankreich und anderswo hoch geschätzten Ritus der Königssalbung abgelehnt hat.45 Hinzu kam, dass das Königtum dem Calvinschen Ideal von der besten Verfassung des Gemeinwesens nicht entsprach; es war als geschichtliche Gegebenheit hinzunehmen, aber nicht zu verklären.

5. Reformierte Kirchenordnung Nach dem Durchgang durch die Welt der politischen Anschauungen Calvins werfen wir nunmehr einen Blick in seine Vorstellungen vom organisatorischen Aufbau und der Leitung der Kirche. Hier hat der Reformator ein erstaunliches konzeptionelles und gestalterisches Geschick bewiesen. Man kann sogar sagen, dass der Einfluss der reformierten Kirche und Theologie auf die politische Entwicklung in Westeuropa und Nordamerika nicht nur durch die theologische Gedankenwelt Calvins und seiner Schüler gefördert worden ist, sondern ebenso – und hier vielleicht noch intensiver – durch die Erfahrungen, die die Reformierten mit der Organisation ihres Kirchentums gesammelt haben. Diese Organisation wies eine starke Tendenz zu demokratischen Formelementen auf, und sie vermied ausdrücklich hierarchische und zentralistische Strukturen. Sie sah auf allen Ebenen Wahlen vor. Von Anfang an gab es Presbyterien, also kollegiale Organe der Gemeindeleitung. Und um die Gemeinschaft der reformierten Gemeinden zu verknüpfen, entstanden sehr bald auch Synoden, so in Frankreich, in den Niederlanden, am Niederrhein ————— 43 44 45

Vgl. etwa Inst. (1559), IV,20,26–28. Inst. (1559), IV,20,28 (OS V, 498, 16–21). Vgl. BEYERHAUS, Studien, 143f.

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Calvin und die Demokratie

und in Nordwestdeutschland oder in Ungarn und in Siebenbürgen. Das Neue an den Presbyterien und Synoden bestand darin, dass hier Prediger und Älteste, Theologen und Nichttheologen gleichberechtigt zusammenarbeiteten und miteinander die Kirche leiteten. Die auf diese Weise entstandene presbyterial-synodale Ordnung der evangelischen Kirche ist uns Heutigen selbstverständlich. Nur den wenigsten ist noch bekannt, dass die Reformierten mit dieser Verfassung mehrere Jahrhunderte allein standen und dass sie sich als Ordnungsprinzip der ganzen evangelischen Kirche überhaupt erst im 19. Jahrhundert durchgesetzt hat. Die grundlegenden Anfänge gehen auf Huldrych Zwingli, Martin Bucer und vor allem auf Calvin zurück. Nach seiner Rückkehr nach Genf im Jahr 1541 erarbeitete Calvin mit den „Ordonnances ecclésiastiques de l’Eglise de Genève“ die berühmte Genfer Kirchenordnung. Die letzte von ihm bearbeitete Fassung dieser Ordnung, in der die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber den Genfer Behörden nach mancherlei leidvollen Auseinandersetzungen mit dem Magistrat wieder stärker zum Ausdruck kam, wurde zwanzig Jahre später 1561 verabschiedet.46 In enger Anlehnung an Eph 4,11 und andere neutestamentliche Ämterlisten entwickelte Calvin eine Struktur von vier Ämtern, die nach der Einsetzung Christi dem Kirchenregiment vorstehen sollten: das Amt des Pastors, das Amt des Doktors bzw. Lehrers, das Amt des Ältesten und das Amt des Diakonen. Die Aufgabe des Pastorenamts besteht in Verkündigung und Sakramentsverwaltung. Die Ältesten nehmen vor allem die Verantwortung für die Gemeindedisziplin und die damit verbundene Seelsorge wahr. Doktoren bzw. Lehrer sollen im Glauben unterrichten und unterweisen, sie widmen sich der Wahrnehmung des kirchlichen Bildungsauftrags. Die Diakone kümmern sich um die Armen und Kranken und verwalten das Vermögen der Gemeinde.47 Die Inhaber dieser vier Ämter leiteten gemeinsam die Gemeinde. Andere Ämter wie z.B. Oberprediger, Konsistorialrat oder gar Bischof waren nicht vorgesehen. Weil Jesus Christus unser einziger Herr und Bischof ist, kann kein Pastor die Obergewalt über andere Pastoren, kein Ältester die Herrschaft über andere Älteste und keine Gemeinde den Vorrang über andere Gemeinden beanspruchen.48 Das richtete sich gegen jede Form der Hierarchie in der evangelischen Kirche. Und obwohl dem Amt des Pastors eine zentrale Rolle zufällt, die in seiner Bevollmächtigung zur gottesdienstlichen Verkündigung wurzelt, sollte daraus kein pastorenzentrierter Herrschafts————— 46

CStA 2, (228) 238–303 (Les Ordonnances ecclésiastiques de 1561); vgl. auch Inst. (1559),

IV/3.

47 48

Vgl. CStA 2, 239–259. Vgl. dazu Confession de foy 1559, 30 (BSKORK, 73).

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anspruch abgeleitet werden. Bei genauer Beschreibung der jeweiligen Kompetenzen realisiert sich Kirchen- und Gemeindeleitung im kollegialen Zusammenspiel von geistlicher und presbyterialer Bevollmächtigung. Großen Wert legte Calvin auf die Beteiligung der Gemeinde an der Bestellung der Amtsträger durch Wahlen. Als Beispiel konnte er Paulus und Barnabas anführen, die in den von ihnen gegründeten Gemeinden Älteste einsetzten (vgl. Apg 14,23). Calvin interpretierte diese Einsetzung so: „Paulus und Barnabas selbst wählten zwei Männer, die ganze Menge aber bezeugte, wie das die Griechen bei Wahlen gewohnt waren, mit aufgehobener Hand, welchen (von den beiden) sie haben wollte.“49 Die Berufung eines Pfarrers sei nach Gottes Wort dann legitim, „wo auf Grund der einhelligen Meinung [consensu] und der Billigung [approbatione] des Volkes diejenigen gewählt werden, die als geeignet erschienen sind“.50 Um bei der Wahl alle Unregelmäßigkeiten auszuschalten, sollen andere (d.h. unparteiische) Pastoren die Wahl leiten, „damit sich die Menge nicht etwa durch Leichtfertigkeit, falschen Eifer oder auch Tumulte versündigt“.51 In den „Ordonnances ecclésiastique“ von 1561 wird diese Praxis variiert: Die Pfarrer wählen den Kandidaten aus und stellen ihn dem Kleinen und dem Großen Rat vor. Wenn er als geeignet erscheint, wird er dem Volk im Gottesdienst vorgestellt, „damit er so durch die allgemeine Zustimmung der Gemeinde der Gläubigen angenommen wird“.52 In einem Zusatzbeschluss wird mit großer Entschiedenheit betont, dass das Volk ausdrücklich um sein Einverständnis gebeten werden müsse (Das Volk hat also kein Auswahl-, wohl aber ein Veto-Recht). Man habe nämlich in Genf zeitweise davon abgesehen: „Damit wurde aber das Volk und der ganze Leib Christi um seine Entscheidungsmöglichkeit gebracht […]“.53 Und ferner wurde zur Abstellung dieses Missbrauchs verfügt: Bei der Wahl eines Pfarrers soll sein Name öffentlich bekannt gemacht werden. Dann kann, wer etwas gegen ihn einzuwenden hat, dies vor dem Tag der Vorstellung tun, damit man, falls er wirklich zum Amt ungeeignet ist, eine neue Wahl treffen kann. 54

Gemeinden, die in dieser Weise an den maßgeblichen Personalentscheidungen der Kirche beteiligt werden, die es gewohnt sind, ihre Gemeindeleitungen zu wählen und ihre Synoden zu beschicken, werden in eine parlamentarische Praxis der Mitberatung und Mitentscheidung eingeübt. Die Protokolle der damaligen reformierten Presbyterien und Synoden zeigen uns, wie ————— 49 50 51 52 53 54

Inst. (1559), IV,3,15 (OS V, 55, 22–27). Ebd. (OS V, 56, 14–16). Ebd. (OS V, 56, 16–18). Ordonnances ecclésiastiques (s. Anm. 46), 241. Ebd., 243. Ebd.

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gut das funktionierte und wie lebendig das ablief.55 Hier kann man ohne Übertreibung sagen: Die parlamentarische Praxis der neuzeitlichen Bürgergesellschaft ist nicht zuletzt auch in Presbyterien und Synoden eingeübt worden. In der westeuropäischen und nordamerikanischen Geschichte hat sich auch etwas von dem ereignet, was dann die Christen in der DDR 1989 und 1990 erlebt haben, die auf den kompetenten Umgang mit demokratischen Regularien, Rederecht, Geschäftsordnungen und Entscheidungsprozeduren in ihren Gemeindekirchenräten und Synoden vorbereitet worden waren.

6. Ein Fazit Calvin und der von ihm inspirierte Calvinismus sind aus der Geschichte der modernen Demokratie nicht wegzudenken. Dieser Sachverhalt erschließt sich freilich erst auf den zweiten Blick. Zunächst erscheint Calvin eher als theologischer und kirchenleitender Aristokrat, der die Unbändigkeit und Unberechenbarkeit des Volkes mit Argwohn betrachtet hat. Die Tatsache, dass man seine kirchenleitende Dominanz in Genf jüngst sogar als „Tyrannei der Tugend“56 interpretieren konnte, spricht auch nicht gerade für demokratische Tendenzen. Auch der von ihm beeinflusste reformierte Protestantismus trug immer auch Züge, die noch weit von unserem heutigen Demokratieverständnis entfernt waren. Auf der anderen Seite beobachten wir jedoch beachtliche Formelemente demokratischen Gedankenguts: Calvins Plädoyer für die Freiheit, sein funktionales Verständnis der Politik, die Abneigung gegen jegliche Obrigkeitsverklärung, die Absage an die sakrale Überhöhung der Monarchie, das Eintreten für Wahlen und die Befristung von Ämtern, die antihierarchisch gebaute Leitungsstruktur der reformierten Kirchenordnungen, die Mitwirkungsrechte des Volkes bei Entscheidungen von grundlegender Bedeutung, das Kollegialitätsprinzip der Leitungsgremien. Für das Jahrhundert Calvins, in dem der fürstliche Absolutismus begann, die unbeschränkte Macht des Herrschers zu inszenieren und zu realisieren, waren das aufregende und unbequeme Gedanken. Insofern ist bei näherem Hinsehen ein Zusammenhang zwischen Calvinismus und Demokratie nicht von der Hand zu weisen. —————

55 Zu den Konflikten mit autoritären fürstlichen Obrigkeiten, die aus der presbyterialsynodalen Gemeindeordnung erwachsen sind, vgl. M. BEINTKER, Konsequenzen der „Discipline Ecclésiastique“ für Kirchenverfassung und Gemeindeordnung in Brandenburg–Preußen?, in: M. STOLPE / F. WINTER (Hg.), Wege und Grenzen der Toleranz. Edikt von Potsdam 1685–1985, Berlin 1987, 51–68. 56 Vgl. V. REINHARDT, Die Tyrannei der Tugend. Calvin und die Reformation in Genf, München 2009.

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Epilog Wolfgang Lienemann

Historia vitae magistra, oder: Was ist kritische Rezeption? Pluralismus der Geschichtsbilder Im Unterschied zu zivilrechtlichen Erbverhältnissen kann man mit einem kulturellen Erbe überaus frei umgehen. Man kann es glorifizieren, konservieren, ignorieren, manipulieren, destruieren. Niemand vermag Calvin und sein Werk zuverlässig dagegen zu schützen, missverstanden oder missdeutet zu werden. Die Beiträge dieses Buches haben ein überaus großes Spektrum des Umganges mit Calvins Erbe gezeigt. Geschichtliches Erbe ist dem Zugriff der später Geborenen zwar nicht völlig schutzlos ausgesetzt, aber Rezeptions- und Vergegenwärtigungsprozesse unterliegen ebenso wie Verdrängen und Vergessen einer unvorhersehbaren Eigendynamik menschlichen Eingedenkens. Aus der Geschichte zu lernen, kann man niemandem befehlen. Man kann Geschichte in Schulen und Universitäten lehren, aber ein allgemeines Geschichtsbewusstsein, ein kritisches zumal, lässt sich nicht autoritär verordnen und durchsetzen. Selbst Diktatoren scheinen zumindest langfristig mit dem Versuch einer „Geschichtspolitik“1 erfolglos zu sein. Ideologisch motivierte, manipulativ-instrumentelle Geschichtsdeutungen – von der Unterdrückung und Fälschung über die verklärende Mythenbildung bis zur politischen Selbstlegitimation der Machthaber – sind verbreitet und haben – Gott sei Dank – in der Regel nur kurze Beine.2 Dies alles gilt auch für die Kirchengeschichte als Teil der allgemeinen Geschichte. Natürlich gibt es Grenzen im freien Umgang mit einem geschichtlichen Erbe – testamentarische Verfügungen des Erblassers, Rechte der gesetzmäßigen Erben, Verlagsrechte, Standards akademischer Arbeit. Aber historische Gestalten, ihre Texte und sonstigen Produktionen, die von ihnen ausgegangenen Wirkungen stehen weithin zur freien Aneignung, Deutung und Verfügung der Nachgeborenen, sofern nicht rechtswirksam anderes be————— 1

Siehe zahlreiche Veröffentlichungen von A. ASSMANN, inbesondere: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. 2 Daran wirkt nicht zuletzt auch die Geschichtswissenschaft selbst häufig mit; siehe dazu exemplarisch L. MÜLLER, Diktatur und Revolution. Reformation und Bauernkrieg in der Geschichtsschreibung des ‚Dritten Reiches‘ und der DDR, Stuttgart 2004.

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Epilog

stimmt ist. Die historischen Sachverhalte, bisweilen „Tatsachen“ genannt3, sind das Eine, die Vielfalt der Interpretationen mit ihren Perspektiven, Deutungsspielräumen und Wertungen ist das Andere. Historische Ereignisse, Entwicklungen und Entscheidungen können als Exempla, Vorbilder und Autoritäten erinnert und aufgerufen oder, wenn es geboten oder opportun erscheint, polemisch gegen den Strich gebürstet4, manchmal sogar gegen das klare Zeugnis der Quellen bestritten werden, und zwar unter Berufung auf das Menschenrecht der Meinungsfreiheit, das auch Dummheit und Irrtum erlaubt.5 Man kann phantasievolle Romane und Dramen über historische Figuren entwerfen, und die Konstrukteure einer Fiktion haben dabei alle Freiheitsrechte auf ihrer Seite, auch um den Preis der Vereinfachung, Parteilichkeit, sogar der Entstellung und Verzerrung. Und so sind auch die Calvin-Bilder, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden sind, in ihrer bisweilen verstörenden Mannigfaltigkeit zuerst einmal hinzunehmen. Die Wege: Königswege, Umwege und Irrwege von Rezeptionsprozessen sind begleitet von Einseitigkeiten und Willkür, und niemand kann autoritativ Rezeptionsstandards mit Richtigkeitsgarantie verfügen.

Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte Seit einigen Jahrzehnten ist die Rede von Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte „fast inflationär geworden“.6 Dass sinnhafte Kommunikationen über Sachverhalte einer vergangenen Gegenwart immer wieder tradiert, rezipiert und aktualisiert werden, ist Teil aller symbolischen kulturellen Interaktion und konstituiert das kulturelle Gedächtnis der Menschen. Dabei mögen sich die Kommunikationsvoraussetzungen und Wirkungen, die Formen, Medien, Codes, Zugangsweisen und Partizipationsmöglichkeiten vielfach unterscheiden, aber dass von Menschen gemachte Symbolsysteme ihre Wirkungen auf rezeptionsfähige Menschen entfalten, ist an sich trivial. Das bringt schon die alte Formel zum Ausdruck, die Thomas v. Aquin im Blick auf die anima intellectiva verwendet hat: „Quod omne quod recipitur in aliquo, recipitur in eo ad modum recipientis“ (alles, was von irgendei————— 3 Vgl. R. STAATS, Der theologiegeschichtliche Hintergrund des Begriffes „Tatsache“, ZThK 70, 1973, 316–345. 4 Karlheinz Deschners auf zehn Bände angelegte „Kriminalgeschichte des Christentums“ (seit 1986 sind neun Bände erschienen) ist wohl das bekannteste und umfangreichste Beispiel dafür. 5 Eine wichtige Grenze markiert in Deutschland § 130 StGB, der den Tatbestand der Volksverhetzung bestimmt und darin auch (seit 1994) die öffentliche Holocaust-Leugnung einschließt (Abs. 3 und 4), in der Schweiz entsprechend (1995) Art. 261bis StGB. 6 U. LUZ, Art. Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, III. 2: Neutestamentliche Wissenschaft, RGG4 8 (2005), (1600f.) 1600.

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nem rezipiert wird, wird darin nach der Art des Rezipienten rezipiert).7 Es waren vor allem die Literaturwissenschaftler, die, vielfach von der Hermeneutik Gadamers beeinflusst, den Blick darauf gelenkt haben, dass alle Literatur und Kunst der rezeptiven Aktivität der Leser, Hörer und Beobachter bedarf, dass Texte, Bilder, Predigten, Inszenierungen usw. auf die Resonanz angelegt sind, die sie hervorrufen, und dass Kunstwerke insofern „offen“ sind, als sie mannigfache, oft latente Deutungsmöglichkeiten und „Sinnpotentiale“ enthalten, die ihnen erst in dem Vorgang ihrer (Neu-)Interpretation und Aktualisierung abgewonnen werden können.8 Diese Dreiheit von (realem oder fiktivem) Autor, Werk und Rezipient gilt selbstverständlich auch für historische Zeugnisse und Gestalten wie Calvin und jene historischen Ereignisse und Konstellationen, die durch ihn mit geprägt worden sind. Allerdings fallen Wirkung und Rezeption nicht umstandslos zusammen. Vor allem scheinen sich die Kriterien legitimer Rezeption bei historischen Quellen und fiktionaler Literatur signifikant zu unterscheiden. Auch wenn die intentio auctoris in beiden Fallgruppen bisweilen schwer zu bestimmen sein mag – wer weiß schon, welche Intention der Prediger Calvin an einem bestimmten Tage bei einer bestimmten Gruppe von Predigthörern tatsächlich verfolgte? –, so gilt doch, dass man ihm als Interpret jedenfalls nicht Meinungen in den Mund und Sinn legen darf, die er explizit zurückweist. Allgemeiner gesagt: Im Blick auf geschichtliche Überlieferungen und historisches Erbe gibt es sehr unterschiedliche Perspektiven der Wahrnehmung und Zuordnung von Ereignissen und mithin enorme Interpretationsspielräume, aber es gilt auch und stets das „Vetorecht der Quellen“9 – zumindest sollte es gelten. Umgekehrt ist es aber auch unmöglich, ja unsinnig, aufgrund der Quellen und den in ihnen festgehaltenen Sachverhalten beispielsweise die Frage entscheiden zu wollen, ob die Hinrichtung Michel Servets in Genf ein Akt legitimer Rechtsdurchsetzung oder Ausdruck eifernder religiöser Intoleranz war. Das Urteil, mit dem wir geschichtliche Ereignisse und Entwicklungen versehen, müssen wir selbständig verantworten, und die Zurechnungen, die wir dabei vornehmen, sind gedankliche Operationen, die wir – als Nachgeborene – nur auf eigene Rechnung anstellen können. Das gilt insbesondere für ausgreifende historische (Re-)Konstruktionen wie die eines Zusammenhanges von Calvinismus und Kapitalismus, welche interessante hypothetische Entwürfe sein mögen, die sich ————— 7

STh I, q. 75, 5. Siehe U. ECO, Das offene Kunstwerk (zuerst 1962), deutsch von Günter Memmert, Frankfurt a.M. 1973. Eco wurde 1954 mit einer Diss. über die Ästhetik Thomas’ von Aquin promoviert. Siehe auch H.R. JAUSS, Art. Rezeption, Rezeptionsästhetik, HWP 8 (1992), 996–1004. 9 So R. KOSELLECK, Ist Geschichte eine Fiktion? (Interview), in: NZZ Folio 3/1995. 8

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Epilog

aber der Differenzierung, Kritik und Überbietung durch andere Entwürfe stellen müssen.

Hermeneutisch-historische und argumentativ-analytische Rezeption Zwei hervorragende Weisen, ein historisch-kulturelles Erbe zu erwerben, schälen sich so heraus. Auf der einen Seite erweist sich ein Werk wie das Calvins darin als vorbildlich, aktuell und unausgeschöpft, dass es auch und gerade in den Augen einer späteren Epoche Einsichten ermöglicht, die sich den ursprünglichen Zeitgenossen in gleicher Weise noch nicht erschlossen haben. Der durch und durch geschichtliche und zeitbedingte Charakter des Werkes erweist sich als Herausforderung und Quelle für produktive Neuaneignungen. Jedenfalls scheint mir dies beispielsweise für einige Elemente der politischen Theorie Calvins und seiner Nachfolger (etwa im Blick auf die zugleich religiöse wie politische Bedeutung der Figur des Bundes oder auf das Rechtsverständnis) ebenso zu gelten wie für das ökumenische Potential der Theologie Calvins, welches unter den Umständen der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts keine Chance zur Entfaltung hatte. Ebenso kann man darauf verweisen, dass die dezidiert trinitätstheologisch fundierte und aufgebaute Institutio einen theologischen Gesamtentwurf darstellt, der die konfessionellen Unterschiede weit übergreift, auch wenn das vielen von Calvins Zeitgenossen verschlossen geblieben ist. Auf der anderen Seite lädt das Werk Calvins vor allem aufgrund seiner systematischen Klarheit und begrifflichen Präzision dazu ein, nach der keineswegs zeitbedingten Stringenz seiner Argumente und Begründungen zu fragen und diese in systematischer Absicht mit anderen Positionen kritisch zu konfrontieren, um so zu theologischen Aussagen mit einem starken Wahrheitswert zu gelangen. So gesehen, ist das Werk Calvins sowohl für eine historisierende, die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte betonende Vergegenwärtigung wie für eine analytische, die logische Tragfähigkeit und (sit venia verbo) Beweiskraft seiner Argumente auslotende kritische Prüfung offen. In beiden Fällen kommt es darauf an, mit Calvin wie mit einem kritischen Zeitgenossen in ein durchaus kontroverses Gespräch einzutreten, bei dem man den Partner ausreden lässt und ihm aufmerksam zuhört, ihm aber ebenso mit Gründen widersprechen kann und eventuell muss. Darin mag die historia dann zur magistra werden.10 —————

10 Zur Geschichte des Topos von der Geschichte als Lehrmeisterin siehe R. KOSELLECK, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte (zuerst 1967), in: DERS., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, 38–66.

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Wolfgang Lienemann

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Jenseits der Wirkungsgeschichte: Cognitio Dei et hominis Es zeigt sich freilich bei näherem Zusehen noch eine dritte Weise, in der das Werk Calvins sich buchstäblich imponiert. Dafür hat Karl Barth wohl wie kein anderer das richtige Gespür gehabt. Man sollte Calvins Äußerungen ernst nehmen, denen zufolge er sich durch den im Wort der Bibel offenbaren Gott und die von ihm geschaffene Kirche in den Dienst genommen wusste, nicht um seine eigenen Einsichten und Einfälle zu propagieren, sondern um zum Zeugen einer Sache und eines Wortes zu werden, die er sich nicht ausgesucht und zurechtgelegt hat. Die hermeneutische Unterscheidung von Wort und Geist, die für Calvins Bibelhermeneutik grundlegend ist, gilt es auf Calvin selbst anzuwenden: Das wirkliche Erbe Calvins ist nicht sein in den Bänden des Corpus Reformatorum gedrucktes, fehlbares Menschenwerk, sondern die Wahrheit des ewigreichen Gottes, von dem dieses Werk Zeugnis abzulegen vermag. Weil und soweit es diese Funktion wahrnimmt, lädt dieses Erbe dazu ein, in Freiheit angeeignet zu werden. In dieser Perspektive ist die Calvin-Rezeption alles andere als ein „Alp auf dem Gehirne der Lebenden“. Sie kann vielmehr, wenn und wo sie gelingt, „eine schwache messianische Kraft“ erfahren und entfalten, „an welche die Vergangenheit Anspruch hat“, wie Walter Benjamin notiert hat. „Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen.“11

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11 Über den Begriff der Geschichte (Erstveröffentlichung 1942), in: Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt a.M. 1974, (691–704) 694.

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Abkürzungen Die Siglen und bibliographischen Abkürzungen richten sich nach SIEGFRIED M. SCHWERTNER, Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete (IATG), 2. überarb. u. erw. Aufl., Berlin u.a. 1992 = DERS., Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, 2. Aufl., Berlin u.a. 1994. Im Folgenden sind Werke und Siglen verzeichnet, die bei Schwertner nicht oder unter einer abweichenden Abkürzung geführt werden. BuS

Heinrich Bullinger Schriften, Bde. I–VII, hg. von E. CAMPI / D. ROTH / P. STOTZ, Zürich 2004.

CO

Ioannis Calvini Opera quae supersunt omnia, 58 Bde., hg. von W. BAUM / E. KUNITZ / E. REUSS, CR 29–87, Braunschweig 1863–1900.

COR

Ioannis Calvini opera omnia. Denuo recognita et adnotatione critica instructa notisque illustrata/auspiciis praesidii Conventus internationalis studiis calvinianis fovendis, Ser. 1–6, hg. v. B.G. ARMSTRONG / I. BACKUS / C.P.M. BURGER u.a., Genf seit 1992.

CStA

Calvin-Studienausgabe, hg. von E. BUSCH / A.I.C. HERON / CHR. LINK u.a., Neukirchen-Vluyn seit 1994.

DwÜ

Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, 3 Bde, hg. von H. MEYER / H.J. URBAN / L. VISCHER, Paderborn u.a. 1983–2003.

EBzrP

Emder Beiträge zum reformierten Protestantismus, hg. von M. FREUDENBERG / A.I.C. HERON / J.M.J. LANGE VAN RAVENSWAAY u.a., Bde. 1–10, Wuppertal 1999–2008, ab Bd. 11, Neukirchen-Vluyn seit 2009.

EuroJTh

European Journal of Theology, im Auftrag von der Gemeinschaft europäischer evangelikaler Theologen hg. von G. MCCONVILLE, Carlisle seit 1992.

EThD

Ethik im theologischen Diskurs, hg. von M. HEIMBACH-STEINS / H.G. ULRICH / B. WANNENWETSCH, Münster seit 2002.

GARS

M. WEBER, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bde., Tübingen 1921–1922.

GdP

Geschichte des Pietismus, Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert, hg. von MARTIN BRECHT, Göttingen 1993; Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert, hg. von MARTIN BRECHT / KLAUS DEPPERMANN, Göttingen 1995; Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, hg. von ULRICH GÄBLER, Göttingen 2000; Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten, hg. von HARTMUT LEHMANN, Göttingen 2004.

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Abkürzungen

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Inst.

Institutio Christianae religionis, letzte Ausg. 1559.

KGA

F.D.E. SCHLEIERMACHER, Kritische Gesamtausgabe, hg. von H. FISCHER / U. BARTH / K. CRAMER u.a., Berlin seit 1980.

MWG

M. WEBER, Gesamtausgabe, im Auftrag der Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. von H. BAIER / M.R. LEPSIUS / W.J. MOMMSEN u.a., Tübingen seit 1984.

OS

Ioannis Calvini Opera Selecta, 5 Bde., hg. von P. BARTH / W. NIESEL, München 1926–1936.

STh

THOMAS VON AQUIN, Summa theologiae.

StSSTh

Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, hg. von G. GRESHAKE / M. KEHL / W. LÖSER, Würzburg seit 1990.

VWGTh

Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, hg. von der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie, Gütersloh seit 1980.

WJE

The works of Jonathan Edwards, hg. von H.S. STOUT, New Haven seit 1957 (Elektronische Ausgabe online unter ).

Z

Huldreich Zwinglis Sämtliche Werke, 14 Bde., hg. von E. EGLI / W. KÖHLER / F. BLANKE u.a., CR 88–101, Berlin u.a. 1905–1991.

ZDTh

Zeitschrift für dialektische Theologie, hg. vom Komitee zur Förderung des Studiums der dialektischen Theologie, Kampen seit 1985.

Zwa

Zwingliana. Beiträge zur Geschichte Zwinglis, der Reformation und des Protestatismus in der Schweiz, hg. vom Zwingliverein, Zürich seit 1897 (Elektronische Ausgabe online unter ).

ZwS

Huldrych Zwingli Schriften, Bde. I–IV, hg. von T. BRUNNSCHWEILER / S. LUTZ, Zürich 1995.

Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils AA

Apostolicam actuositatem. Dekret über das Laienapostolat vom 18.11.1965.

CD

Christus Dominus. Dekret über die Hirtenaufgabe der Bischöfe in der Kirche vom 28.10.1965.

LG

Lumen gentium. Dogmatische Konstitution über die Kirche vom 21.11.1964.

PO

Presbyterorum Ordinis. Dekret über Dienst und Leben der Priester vom 7.12.1965.

UR

Unitatis redintegratio. Dekret über den Ökumenismus vom 21.11.1964.

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Autorinnen und Autoren Beintker, Michael, geb. 1947, Prof. Dr. Dr. h.c., Professor für Systematische Theologie und Direktor des Seminars für Reformierte Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; Forschungsschwerpunkte: Gotteslehre, Soteriologie und Ekklesiologie im Kontext der reformierten Bekenntnisbindung, Theologie der Neuzeit, insbesondere Karl Barth und sein Umfeld; Veröffentlichungen (Auswahl): Die Dialektik in der „dialektischen Theologie“ Karl Barths, München 1987; Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt, Tübingen 1998; als Hg. (mit Christian Link und Michael Trowitzsch), Karl Barth in Deutschland (1921–1935), Zürich 2005; als Hg. (mit Christian Link und Michael Trowitzsch), Karl Barth im europäischen Zeitgeschehen (1935–1950), Zürich 2010. Busch, Eberhard, geb. 1937, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Professor em. für Reformierte Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen, Leiter der Karl Barth-Forschungsstelle; Forschungsschwerpunkte: Johannes Calvin, Karl Barth, Theologie und Kirche im Nationalsozialismus; Veröffentlichungen (Auswahl): Karl Barths Lebenslauf, Gütersloh 62005; Der Freiheit zugetan. Gespräch mit dem Heidelberger Katechismus, Neukirchen-Vluyn 1998; Gotteserkenntnis und Menschlichkeit. Einsichten in die Theologie Johannes Calvins, Zürich 2005; Reformiert. Profil einer Konfession, Zürich 2007, als Hg. (mit Christian Link u.a.), Calvin Studienausgabe, NeukirchenVluyn 1994ff.; als Hg. (mit Heinrich Stoevesandt / Hans-Anton Drewes), Karl Barth Gesamtausgabe, Zürich 1971ff.; als Hg. (mit Heiner Faulenbach), Reformierte Bekenntnisschriften, Neukirchen-Vluyn 2002ff. Dellsperger, Rudolf, geb. 1943, Prof. Dr., Prof. em. für Neuere Kirchengeschichte, Theologiegeschichte und Konfessionskunde an der Universität Bern; Forschungsschwerpunkte: Kirchen- und Theologiegeschichte der Reformation, des Pietismus und des 19. Jahrhunderts, Schweizerische Kirchengeschichte; Veröffentlichungen (Auswahl): Die Anfänge des Pietismus in Bern, Göttingen 1984; als Hg. (mit Lukas Vischer, Lukas Schenker), Ökumenische Kirchengeschichte der Schweiz, Freiburg i. Ue. u.a. 21998; Wolfgang Musculus und die oberdeutsche Reformation, Berlin 1997; als Hg. (mit Rudolf Freudenberger und Wolfgang Weber), Kirchengemeinschaft und Gewissensfreiheit. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte der reformierten Schweiz, Bern u.a. 2001; als Hg. (mit Hans Rudolf Lavater), Die Wahrheit ist untödlich, Bern 2007.

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Autorinnen und Autoren

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Faber, Eva-Maria, geb. 1964, Prof. Dr., Professorin für Dogmatik und Fundamentaltheologie an der Theologischen Hochschule Chur; Forschungsschwerpunkte: Ökumene, Theologie Johannes Calvins; Veröffentlichungen (Auswahl): Kirche zwischen Identität und Differenz. Die ekklesiologischen Entwürfe von Romano Guardini und Erich Przywara, Würzburg 1993; Kirche – Gottes Weg und die Träume der Menschen, Würzburg 1994; Symphonie von Gott und Mensch. Die responsorische Struktur von Vermittlung in der Theologie Johannes Calvins, Neukirchen-Vluyn 1999; Du neigst dich mir zu und machst mich groß. Zur Theologie von Gnade und Rechtfertigung, Regensburg 2005; Zusammen mit Peter Dettwiler, Eucharistie und Abendmahl, Paderborn/Frankfurt a.M. 2008; Einführung in die katholische Sakramentenlehre, Darmstadt 22009. Freudenberg, Matthias, geb. 1962, Prof. Dr., Professor für Systematische Theologie (Schwerpunkt Reformierte Theologie) an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel und Pfarrer der Ev.-ref. Kirchengemeinde Wuppertal-Schöller; Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Lehre der reformierten Kirchen, Theologie Johannes Calvins und Karl Barths, reformierte Bekenntnisschriften und Katechismen; Veröffentlichungen (Auswahl): Karl Barth und die reformierte Theologie, Neukirchen-Vluyn 1997; als Hg., Profile des reformierten Protestantismus, Wuppertal 1999; als Hg. (mit Georg Plasger), Erinnerung und Erneuerung, Wuppertal 2007; als Hg. (mit J. Marius J. Lange van Ravenswaay), Calvin und seine Wirkungen, Neukirchen-Vluyn 2009. Greyerz, Kaspar von, geb. 1947, Prof. Dr., Professor für neuere Geschichte an der Universität Basel; Forschungsschwerpunkte: Religionsgeschichte, insbesondere des 16. und 17. Jahrhunderts, historische Selbstzeugnisforschung, Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit; Veröffentlichungen (Auswahl): Religion und Kultur, Europa 1500–1800, Göttingen 2000; als Hg. (mit Kim Siebenhüner), Religion und Gewalt. Konflikte, Rituale, Deutungen (1500–1800), Göttingen 2006; Passagen und Stationen. Lebensstufen zwischen Mittelalter und Moderne, Göttingen 2010. Hofheinz, Marco, geb. 1973, PD Dr., z.Zt. Vertretungsprofessor für Systematische Theologie an der Leuphana Universität Lüneburg; Forschungsschwerpunkte: Friedensethik, Biomedizinische Ethik, Christologie und Trinitätstheologie, Theologie und Geschichte des reformierten Protestantismus, Ethisches Lernen im Religionsunterricht; Veröffentlichungen (Auswahl): Der Gott des Grundgesetzes. Zur Problematik der Rede von Gott in deutschen Verfassungstexten, Waltrop 2001; Gezeugt, nicht gemacht. In-vitro-Fertilisation in theologischer Perspektive, Münster 2008; als

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Autorinnen und Autoren

Hg. (mit Frank Mathwig und Matthias Zeindler), Ethik und Erzählung. Philosophische und theologische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009; als Hg. (mit Frank Mathwig und Matthias Zeindler), Wie kommt die Bibel in die Ethik?, Zürich 2011. Keulen, Dirk van, geb. 1963, Dr. theol., Postdoc an der Protestantische Theologische Universität in den Niederlanden; Forschungsschwerpunkte: (Niederländische) Theologiegeschichte, reformierte Theologie; Veröffentlichungen (Auswahl): Bijbel en dogmatiek. Schriftbeschouwing en schriftgebruik in het dogmatisch werk van A. Kuyper, H. Bavinck en G.C. Berkouwer, Kampen 2003; als Hg., A.A. van Ruler, Verzameld Werk, Band 1– 4B, Zoetermeer 2007–2011; als Hg. (mit Eddy van der Borght und Martien E. Brinkman), Studies in Reformed Theology, Volume 1–11, Zoetermeer 1996–2005. Wolfgang Lienemann, geb. 1944, Prof. Dr., Prof. em. für Ethik an der Theologischen Fakultät der Universität Bern; Forschungsschwerpunkte: Religionswechsel/religiöse Konversionen, Religionsrecht, Ökumenische Friedensethik, Rechtsethik, Karl Barth, Immanuel Kant; Veröffentlichungen (Auswahl): als Hg. (mit Hans-Richard Reuter), Das Recht der Religionsgemeinschaften in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, Baden-Baden 2005; als Hg. (mit Frank Mathwig), Schweizer Ethiker im 20. Jahrhundert, Zürich 2005; als Hg. (mit Christine Lienemann-Perrin), Kirche und Öffentlichkeit in Transformationsgesellschaften, Stuttgart 2006; Grundinformation Theologische Ethik, Göttingen 2008; als Hg. (mit Mathias Tanner u.a.), Streit um das Minarett. Zusammenleben in der religiös pluralistischen Gesellschaft, Zürich 2009; als Hg. (mit Walter Dietrich), Religionen – Wahrheitsansprüche – Konflikte. Theologische Perspektiven, Zürich 2010. Plasger, Georg, geb. 1961, Prof. Dr., Professor für Systematische und Ökumenische Theologie an der Universität Siegen; Forschungsschwerpunkte: Theologie Karl Barths, reformierte Theologie und Theologiegeschichte, Sozial-, Friedens- und Bioethik, niederländische Theologie des 20. Jahrhunderts; Veröffentlichungen (Auswahl): Die relative Autorität des Bekenntnisses bei Karl Barth, Neukirchen-Vluyn 2000; Johannes Calvins Theologie – Eine Einführung, Göttingen 2008; als Hg., Calvins Theologie für heute und morgen. Beiträge des Siegener Calvin-Kongresses 2009, Wuppertal 2010. Sallmann, Martin, geb. 1963, Prof. Dr., außerordentlicher Professor für Neuere Kirchen- und Theologiegeschichte und Konfessionskunde an der Universität Bern; Forschungsschwerpunkte: Reformation und Konfessiona-

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Autorinnen und Autoren

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lisierung, Pietismus und Erweckungsbewegung, Geschichte des Christentums in der Schweiz; Veröffentlichungen (Auswahl): Zwischen Gott und Mensch. Huldrych Zwinglis theologischer Denkweg im De vera et falsa religione commentarius (1525), Tübingen 1999; Predigten in Basel 1580 bis 1650. Städtische Gesellschaft und reformierte Konfessionskultur, Basel 2003 (Manuskript der Habilitationsschrift); als Hg. (mit Martin Ernst Hirzel), 1509 – Johannes Calvin – 2009. Sein Wirken in Kirche und Gesellschaft. Essays zum 500. Geburtstag, Zürich 2008; als Hg. (mit Ulrich Gäbler und Hans Schneider), Schweizer Kirchengeschichte – neu reflektiert. Festschrift für Rudolf Dellsperger zum 65. Geburtstag, Bern u.a. 2011. Strohm, Christoph, geb. 1958, Prof. Dr., Professor für Kirchengeschichte (Reformationsgeschichte und Neuere Kirchengeschichte) an der Universität Heidelberg und Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften; Forschungsschwerpunkte: Reformation und Recht, „kleinere“ Reformatoren, Calvin-Forschung, Protestantismus und Widerstandsrecht; Veröffentlichungen (Auswahl): Ethik im Kampf gegen den Nationalsozialismus, München 1989; Ethik im frühen Calvinismus, Berlin/New York 1996; Calvinismus und Recht, Tübingen 2008; Calvin, München 2009; Die Kirchen im Dritten Reich, München 2011; als Hg., Martin Bucers Deutsche Schriften. Weinrich, Michael, geb. 1950, Prof. Dr. Dr. h.c., Professor für Systematische Theologie: Ökumenik und Dogmatik und Leiter des Ökumenischen Instituts der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum; Forschungsschwerpunkte: Ökumene und Theologie der Religionen, reformatorische Dogmatik, Karl Barth, Religionskritik und Religionsbegründung; Veröffentlichungen (Auswahl): Der Wirklichkeit begegnen. Studien zu Buber, Grisebach, Gogarten, Bonhoeffer und Hirsch, Neukirchen-Vluyn 1980; Ökumene am Ende? Plädoyer für einen neuen Realismus, Neukirchen-Vluyn 1995; Kirche glauben. Evangelische Annäherungen an eine ökumenische Ekklesiologie, Wuppertal 1998; als Hg. (mit John P. Burgess), What is justification about?, Grand Rapids 2009; als Hg. (mit Ulrich Möller), Calvin heute, Neukirchen-Vluyn 22010. Werner, Ilka, geb. 1964, Dr., Pfarrerin in Neuss; seit 2009 Vorsitzende des Ständigen Theologischen Ausschusses der Evangelischen Kirche im Rheinland; Arbeitsschwerpunkte: evangelischer Religionsunterricht am Berufskolleg, feministische Theologie, kirchliche Reformprozesse; Veröffentlichungen (Auswahl): Calvin und Schleiermacher im Gespräch mit der Weltweisheit, Neukirchen-Vluyn 1999.

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Autorinnen und Autoren

Zeindler, Matthias, geb. 1958, PD Dr., Leiter des Bereichs Theologie der Reformierten Kirche Bern – Jura – Solothurn; Forschungsschwerpunkte: Reformierte Theologie, Fundamentaltheologie, theologische Ästhetik; Veröffentlichungen (Auswahl): Gotteserfahrung in der christlichen Gemeinde. Eine systematisch-theologische Untersuchung, Stuttgart u.a. 2001; Gott der Richter. Zu einem unverzichtbaren Aspekt christlichen Glaubens, Zürich 2 2005; Erwählung. Gottes Weg in der Welt, Zürich 2009; als Hg. (mit Marco Hofheinz und Frank Mathwig), Ethik und Erzählung. Philosophische und theologische Beiträge zur narrativen Ethik, Zürich 2009; als Hg. (mit Frank Mathwig und Matthias Zeindler), Wie kommt die Bibel in die Ethik?, Zürich 2011.

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Reformed Historical Theology 17: Michael A.G. Haykin / Mark Jones (Hg.)

13: Mark Jones

Drawn into Controversie

Why Heaven Kissed Earth

Reformed Theological Diversity and Debates Within Seventeenth-Century British Puritanism 2011. 336 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56945-0 Die theologischen Debatten unter den Englischen Puritanern in der Zeit des 17. Jahrhunderts sind Gegenstand dieser Untersuchung.

The Christology of the Puritan Reformed Orthodox theologian, Thomas Goodwin (1600-1680) 2010. 255 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56905-4 Mark Jones erklärt, warum der Himmel die Erde küsste, d.h. warum Gott Mensch wurde.

16: Arnold Huijgen

Divine Accommodation in John Calvin’s Theology Analysis and Assessment 2011. 416 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56944-3 Arnold Huijgen analysiert und bewertet den Akkommodationsbegriff in der Theologie Johannes Calvins.

15: Robert J. McKelvey

Histories that Mansoul and Her Wars Anatomize The Drama of Redemption in John Bunyan’s Holy War 2011. 336 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56939-9 Robert McKelvey belegt, dass John Bunyan’s Heiliger Krieg die sinnbildliche Fortsetzung eines kosmischen Dramas über individuelle und gesellschaftliche Erlösung darstellt.

14: William den Boer

God’s Twofold Love The Theology of Jacob Arminius (1559-1609) 2010. 336 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56908-5 William den Boer belegt, dass das Leitmotiv der Theologie von Jacob Arminius (15591609) in einer vorsichtigen Verteidigung der Gerechtigkeit Gottes liegt.

12: Frederik A.V. Harms

In God´s Custody: The Church, a History of Divine Protection A Study of John Calvin´s Ecclesiology based on his Commentary on the Minor Prophets 2010. 248 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56922-1 Harms untersucht Calvins Ekklesiologie ausgehend von dessen Kommentar zu den Kleinen Propheten von 1557–1559. Eine Studie aus historisch-systematischer Sicht mit einem Überblick über die Auslegungs-geschichte der Kleinen Propheten.

11: Jason Van Vliet

Children of God The Imago Dei in John Calvin and His Context 2009. 285 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56918-4 Calvin hatte großes Interesse daran, was die Bibel über den Menschen lehrt, wer er ist, was er tut, was seine Rolle und Verantwortung in der Welt ist. Für ihn war klar: Der Menschen ist im Ebenbild Gottes erschaffen.

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Reformed Historical Theology 10: Nam Kyu Lee

6: Wilhelm H. Neuser

Die Prädestinationslehre der Heidelberger Theologen 1583-1622

Johann Calvin – Leben und Werk in seiner Frühzeit 1509–1541

Georg Sohn (1551-1589), Herman Rennecherus (1550-?), Jacob Kimedoncius (1554-1596), Daniel Tossanus (1541-1602) 2009. 211 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56870-5 Nam Kyu Lee geht der Frage nach, wie man in der Periode von 1583 bis 1622 an der Heidelberger Fakultät die Prädestinationslehre unterrichtet hat.

8: Aaron C. Denlinger

Omnes in Adam ex pacto Dei Ambrogio Catarino’s Doctrine of Covenantal Solidarity and Its Influence on PostReformation Reformed Theologians 2010. 306 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56920-7 Aaron C. Denlinger fragt, wie es zur reformierten Lehre von Adam als Repräsentanten des Bundes kam.

7: Brian J. Lee

Johannes Cocceius and the Exegetical Roots of Federal Theology Reformation Developments in the Interpretation of Hebrews 7-10 2009. 215 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56913-9 Auf dem Hintergrund des Hebräerkommentars von Johannes Cocceius erörtert Brian J. Lee die biblischen Wurzeln der reformierten Bundestheologie.

2009. 352 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56915-3 Diese Biographie stellt die verschiedenen Zusammenhänge des frühen Lebens von Johannes Calvin dar. Der Autor fokussiert insbesondere auch die Personen und die Ideen, die sich einflussreich auf Calvin auswirkten.

5: Herman J. Selderhuis (Hg.)

Calvinus sacrarum literarum interpres Papers of the International Congress on Calvin Research 2008. 302 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56914-6 Dieser Band wird zu einem Wegweiser für die künftige Richtung der Calvinforschung und mitbestimmend für die Reformationsforschung im Allgemeinen, denn seine Beiträge reflektieren die neuesten Forschungen zur Biographie und Theologie von Johannes Calvin.

4: Jason Zuidema

Peter Martyr Vermigli (1499–1562) and the Outward Instruments of Divine Grace 2008. 196 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56916-0 Ein tieferer Blick in Vermiglis Theologie, wie ihn Zuidema wagt, lohnt sich, um die inneren theologischen Vernetzungen seiner Zeit besser kennen zu lernen.

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