Bruch und Ende im seriellen Erzählen: Vom Feuilletonroman zur Fernsehserie 9783737004824, 9783847104827, 9783847004820

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Bruch und Ende im seriellen Erzählen: Vom Feuilletonroman zur Fernsehserie
 9783737004824, 9783847104827, 9783847004820

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Broken Narratives

Band 2

Herausgegeben von Matthias Meyer und Stefan Hulfeld

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Birgit Wagner (Hg.)

Bruch und Ende im seriellen Erzählen Vom Feuilletonroman zur Fernsehserie

Mit 23 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0482-7 ISBN 978-3-8470-0482-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0482-4 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen im Verlag V& R unipress GmbH. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Birgit Wagner (Meer bei Villasimius, Sardinien) Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Birgit Wagner Zur Einleitung: Serialität und Brucherzählung – ein Paradox?

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Matthias Hausmann »Une trilogie en quatre parties«: Narrative Brüche zur Ironisierung der zeitgenössischen Fortschrittseuphorie in Charles Nodiers Cycle du d¦riseur sens¦ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Tanja Weber Un-/endliche Geheimnisse. Die kulturellen Adaptionen von Sues Les MystÀres de Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Birgit Wagner Vampire und kein Ende. Louis Feuillades Les Vampires im Spannungsfeld von Schaulust und narrativer Kontinuität. Mit einem Exkurs zu Olivier Assayas’ Irma Vep . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Monika Meister und Stefan Hulfeld Slapstick und Story. Über das Wechselspiel von sequenzieller Narration und narrativem Momentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nicole Kandioler Utopie und Normalisierung. TV-Serien als Indikatoren und Mediatoren von gesellschaftlichen Brüchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Andrea B. Braidt Melancholie am Ende der Serie

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Zur Einleitung: Serialität und Brucherzählung – ein Paradox?

Serielles Erzählen ist ein zunehmend wichtiger Teil unserer Gegenwartskultur : Roman-Serien, Film-Serien, Fernsehserien binden große Zahlen von Lesern und Zusehern, formen den Publikumsgeschmack, schlagen sich im lifestyle nieder und werden als Orientierungshilfe im Leben genützt. In manchen nationalen Kulturen, zum Beispiel in Belgien und Frankreich, sind auch Comic-Serien nach wie vor von großer Relevanz. Darum gilt mehr als je zuvor, was Antonio Gramsci und Umberto Eco, beide vor langer Zeit, wenn auch in unterschiedlichen historischen Kontexten, feststellten: es ist unerlässlich, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen.1 Serielles Erzählen ist aber keineswegs eine Erfindung unserer Tage. In vieler Hinsicht kann man große Märchensammlungen wie Tausend und eine Nacht sowie die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Novellensammlungen, die, wie etwa bei Boccaccio oder Marguerite de Navarre, durch eine Rahmenhandlung zusammengehalten werden, als frühe, wenngleich anders konfigurierte Variationen des seriellen Prinzips auffassen: dieses wird durch den Rahmen geleistet, der die einzelnen Märchen oder Novellen zueinander in Beziehung setzt. Tausend und eine Nacht ist dabei ein interessantes Beispiel für jenes Prinzip, das grundlegend für jede Diskussion seriellen Erzählens ist: wie wird Kohärenz hergestellt, und wann und warum wird unterbrochen? Scheherazade (Schahrasad in Claudia Otts deutscher Version), die Binnenerzählerin der Märchen, spricht bekanntlich, um ihr Leben zu retten. Und da sie »klug, verständig, weise und gebildet«2 ist, wie ihr der »Erzähler und Verfasser«3 der Geschichte – das heißt ein extradiegetischer Erzähler – zubilligt, erfindet sie einen Erzählrhythmus, der ihr das Überleben sichert. Immer dann, wenn es am 1 Vgl. Gramsci 2012, Eco 1984. 2 Tausendundeine Nacht (2004), S. 20. Ich zitiere die deutsche Übersetzung Claudia Otts, die auf Muhsin Mahdis kritischer Edition des sogenannten manuscrit Galland, des ältesten erhaltenen zusammenhängenden Konvoluts der Märchen, beruht: vgl. Otts »Nachwort«, S. 651f. 3 Dieser wird manchmal so (z. B. S. 9), manchmal auch als »Überlieferer« (z. B. S. 17), manchmal auch als »Autor der Geschichte« (z. B. S. 19) bezeichnet.

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spannendsten wird, unterbricht sie ihre Geschichte, um den König zu einem Aufschub des Todesurteils zu bewegen: Da erreichte das Morgengrauen Schahrasad, und sie hörte auf zu erzählen. Aber das innere Gemüt des Königs Schahriyar verlangte nach der Fortsetzung der Geschichte. Und während die Morgendämmerung aufstieg, sagte Dinarasad zu ihrer Schwester Schahrazad: »Wie schön und spannend ist deine Geschichte!« – »Was ist das schon«, erwiderte sie, »gegen das, was ich dir morgen nacht erzählen werde, wenn ich dann noch lebe und mich dieser König verschont. Das wird noch viel schöner und spannender sein, als das, was ich dir heute erzählt habe.« Da sprach der König zu sich selbst: »Ich werde sie, bei Gott, nicht eher töten, als bis ich die Geschichte zu Ende gehört habe. Dann töte ich sie eben morgen nacht.«4

Dazu aber kommt es in der nächsten Nacht und überhaupt nicht. Ist Scheherazades Kunstgriff eine Vorform des cliffhangers, so wie er manchmal interpretiert wird? Im strengen Sinn nicht. Ein cliffhanger ist eine zeitliche Unterbrechung einer fortlaufenden Geschichte an exponierter Stelle, nicht aber ein Bruch in der Narration, wie ihn zum Beispiel avantgardistische Erzähler in Literatur und Film konstruiert haben.5 Derjenige, der in Tausend und eine Nacht den irritierenden Abbruch des Erzählens erlebt, ist der fiktionsinterne König Schahriyar. Textexterne Leser können sehr wohl einfach weiterlesen und zur Erzählung der nächsten Nacht forteilen (wie sich das ursprünglich bei mündlicher Erzählung gestaltet hat, sei dahingestellt). Scheherazades List macht aber jedenfalls deutlich, dass serielles Erzählen nach Unterbrechungen verlangt. Kein Leser, kein Zuseher kann eine solche umfangreiche Erzählung auf einmal konsumieren; sofern sie zum Zeitpunkt der Erstpublikation rezipiert wird (z. B. als Feuilletonroman in einer Zeitung oder zum regelmäßig wiederkehrenden Sendetermin einer TV-Serie), ist sie auch nicht als Ganzes verfügbar. Darüber hinaus informiert des Königs Neugier darüber, was die Leser/Zuseher seriellen Erzählens bei der Stange hält: wie geht es weiter? Warum werde ich aus dem mir eben lieb gewordenen fiktionalen Universum herausgerissen? ***

4 Tausendundeine Nacht, S. 33. 5 Als Beispiel für eine Brucherzählung, die narrative Kontinuität vortäuscht, in Wahrheit aber verweigert, mag der Avantgardefilm Un chien andalou (1928, Luis BuÇuel) stehen: Die im Stummfilm üblichen Schriftinserts, die eben dazu dienen, das narrative Universum zu erläutern, Chronologie und Kausallogik herzustellen, werden in diesem Film ausschließlich in irreführender Absicht verwendet und dienen gerade nicht der narrativen Kontinuität. Diese wird durch einen surrealistischen Bilderbogen, der zwar Erzählfragmente enthält, sich aber nie zu einem Ganzen schließt, unterlaufen.

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Die strukturalistische und die ›postklassische‹6 Erzähltheorie haben bisher dem Phänomen der ›Broken Narratives‹ wenig Aufmerksamkeit geschenkt;7 mutatis mutandis gilt das auch für die Forschungsgruppe »Unnatural Narratology«, die einen bestimmten Erzählmodus, nicht aber vorrangig Brüche in der Erzählung als Untersuchungsobjekt wählt.8 Diesen gilt hingegen das Interesse der Forschungsgruppe »Broken Narratives« der Universität Wien. Brüche im Erzählfluss gibt es jedenfalls nicht nur in experimentellen oder avantgardistischen Narrativen. Es mag paradox anmuten, doch gerade das serielle Erzählen, für das narrative Kontinuität konstitutiv ist, beruht zumindest auf habituellen Unterbrechungen: eine, wenn man so will, schwache Form von Bruch. In diesem Band werden serielle Erzählungen verschiedener Medien aber auch daraufhin untersucht, wie sie historische Brüche erzählen, Brüche in der Narration konstruieren beziehungsweise ästhetische Darstellungsmodalitäten wechseln, eine andere, vielleicht ebenfalls schwach zu nennende Manifestation von Bruch. Es sei zugegeben, dass sich diese Kategorien auf höchst unterschiedlichen Ebenen situieren; was sie gemeinsam haben, ist ihre Relevanz für die Analyse serieller Erzählungen, die eben nicht ausschließlich von narrativer Kontinuität geprägt sind. Eine Unterbrechung zieht den zeitlichen Aufschub der Rezeption nach sich, hat aber auch Konsequenzen auf der Produktionsseite: man denke nur an das bereits erwähnte Phänomen des cliffhangers, der eine äußerst konstruierte vorläufige Schließung der Episode verlangt, beziehungsweise an die Praxis des previously on… von Fernsehserien und ihrer Vorläufer im literarischen Erzählen, die den Zusehern/Lesern frühere Handlungsverläufe in Erinnerung rufen (Erzählteile, die sich auf metanarrativer Ebene situieren). Als Bruch in der Narration kann der Abbruch einer narrativen Sequenz gelten, der nicht aus der dem Plot inhärenten Kausalstruktur erwächst. Diese starke Form von ›Broken Narrative‹ ist gewiss in seriellen Erzählungen selten anzutreffen, doch es gibt 6 Zur postklassischen Erzähltheorie vgl. die Einleitung der Herausgeber in Nünning / Nünning 2002 sowie den Sammelband von Alber / Fludernik 2010 . 7 Vera und Ansgar Nünning haben in ihrem Vortrag an der Universität Wien (16. 6. 2014: »›Broken Narratives‹ als Herausforderung für die interdisziplinäre Erzählforschung: Konzepte, Methoden und Forschungsdesiderate aus narratologischer Sicht«) die »stiefmütterliche Behandlung von ›Broken Narratives‹ in der Narratologie« bestätigt. Vgl. ihren Beitrag in der Reihe Broken Narratives Bd. 1, hg. von Anna Babka, Marlen Bidwell-Steiner und Wolfgang Müller-Funk (erscheint 2016). 8 Vgl. etwa die Lemmata »Narrative sequencing and progression, unnatural« und »causality, unnatural« im Dictionary of unnatural narratology (www.projects.au.dk/narrativeres earchlab/unnatural/undictionary [22. 12. 2014]: das »Unnatürliche« von »unnatürlichen Narrativen« bezieht sich auf den Vergleich mit lebensweltlich situierten Erzählungen (»stories told by individuals to each other in a social setting«, Lemma »Narratives, unnatural«). Das ist ein anderer Ansatz als der hier verfolgte, der die Kategorie ›Bruch‹ mit jener der ›narrativen Kontinuität‹ in Beziehung setzt.

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sie.9 Ästhetische Brüche sind hingegen Möglichkeiten, den Realismuseffekt von Erzählungen momentan zu unterbinden und spezifische, mitunter reflexive Formen der Rezeption zu erzeugen: was von Bertolt Brecht bekanntlich im epischen Theater vorgeführt wurde, aber auch seriell verwirklicht werden kann. Schließlich können serielle Erzählungen historische Brüche einer bestimmten Gesellschaft auf der Inhaltsebene thematisieren und eine Reflexion über sie in Gang setzen, ja, sie sind in gewisser Weise prädestiniert dazu, da sie das Interesse der Rezipienten über lange Zeit zu fesseln imstande sind und komplexe historische Umstände ausführlich darstellen können. Die Aufmerksamkeit für ›Broken Narratives‹ im Universum des seriellen Erzählens ist, mit anderen Worten, ein innovativer Ansatz, der ein neues Licht auf diese beliebte Form des Erzählens zu werfen vermag. Das Ende eines narrativen Universums ist ebenfalls eine exponierte Stelle des (literarischen oder bildmedialen) Textes, ein Abbruch, der von Rezipienten als schmerzlich erlebt werden kann, als Hinauswurf aus einer fiktionalen Gegenwelt, die durch längere Zeit die freundliche Begleitmusik des eigenen Lebens darstellte. Zugleich ist es aber ein Zug des seriellen Erzählens, dass es virtuell unabschließbar ist und dazu einlädt, immer wieder neu weitergesponnen zu werden. Wie viele Nachfolgetexte hat nicht EugÀne Sues MystÀres de Paris gefunden? Und Louis Feuillades frühe, Kultstatus besitzende Film-Serie Les Vampires, hat sie nicht den zeitgenössischen Filmemacher Olivier Assayas dazu motiviert, eine avantgardistisch inspirierte Variation zu drehen, nämlich Irma Vep? Selbst Tausend und eine Nacht ist ein Corpus von Texten, das über Jahrhunderte erweitert wurde, zuletzt zu Beginn des 18. Jahrhunderts von Antoine Galland,10 um dann später der intertextuelle oder intermediale Ausgangspunkt von Romanen, Filmen und Fernsehserien zu werden. Das Ende einer seriellen Erzählung scheint immer ein vorläufiges zu sein: fanfictions, wie sie im Internet zirkulieren und serielle Fiktionen weitererzählen und variieren, belegen das eindrucksvoll.11 ***

9 Zum Beispiel auch als Inkohärenz in der Konstruktion der Erzählung: so werden etwa in der US-amerikanischen Fernsehserie The Sopranos, die so häufig für ihr exzellentes Script gepriesen wird, manche Erzählstränge, die für die Zuseher erwartbare Konsequenzen nach sich ziehen müssten, einfach fallengelassen. Der Beitrag von Matthias Hausmann in diesem Band führt jedoch ein Beispiel (literarischer) serieller Erzählung vor, in dem Brüche in der Narration konstitutiv für das Textganze und der Autorenintention zuzuschreiben sind. 10 Einige der heute bekanntesten Märchen, zum Beispiel Aladin und die Wunderlampe und Ali Baba und die vierzig Räuber, wurden erst von Galland, der auf seinen Reisen durch mündliche Erzählung von ihnen Kenntnis erlangte, dem Corpus von Tausend und eine Nacht einverleibt. 11 Zur tendenziellen Unabgeschlossenheit des seriellen Erzählens vgl. Kelleter 2012.

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In diesem Buch werden serielle Erzählungen verschiedener Medien und Kunstformen untersucht: ein Novellenzyklus, Feuilletonromane, Film-Serien, Theaterstücke und TV-Serien. Der historische Durchgang beginnt im frühen 19. Jahrhundert in Frankreich und endet bei einer der beliebtesten US-amerikanischen Serien des sogenannten quality-TV.12 Die Zusammenschau literarischer, bildmedialer und performativer kultureller Produkte ermöglicht eine differenzierte Sicht auf historische und mediale Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Seriellen, besonders im Hinblick auf die Spannung von narrativer Kontinuität und Bruch. Je zwei Beiträge bilden dabei ein Paar und werfen ein erhellendes, gelegentlich auch Kontraste schärfendes Licht aufeinander, wie im Folgenden argumentiert wird. Die ersten beiden Beiträge beschäftigen sich mit serieller Literatur im Zeitalter ihrer ›industriellen Produzierbarkeit‹, dem 19. Jahrhundert mit seiner technisch ermöglichten Beschleunigung von Druckverfahren. Der Beginn der Erfolgsgeschichte des Feuilletonromans ist in Frankreich mit dem Jahr 1836 anzusetzen. Umso überraschender ist es, dass Charles Nodier in seinem Cycle du d¦riseur sens¦, verfasst zwischen 1833 und 1836, serielle Erzählstrukturen bereits parodistisch verfremdet, wie Matthias Hausmann in seinem Artikel über die vier Teile dieser atypischen Fortsetzungsgeschichte herausarbeitet. Diese »frühe Sonderform der Serienliteratur« verwirklicht Brüche auf verschiedenen Ebenen. Auf der Inhaltsebene finden sich Unterbrechungen, Zeitsprünge und alogische Wendungen der Handlung, eine Erzählweise, die an Nodiers Vorbilder Diderot und Sterne erinnert. Mit dem Schlaf, der sukzessive Binnenerzähler und Binnenzuhörer, den extradiegetischen Erzähler sowie, wie vermutet wird, auch die Leser erfasst, führt das Phänomen Bruch die Ebenen der histoire und des discours zusammen, wie Nodier überhaupt eine Vorliebe für die Metalepse hegt, die die Grenze zwischen Handlungs- und Narrationsebene kollabieren lässt. Hausmann argumentiert schlüssig, dass Nodier mit seiner eigenwilligen, ›exzentrischen‹ Erzählweise unter anderem auch ein außerliterarisches Ziel verfolge, nämlich die Kritik an der Idee eines quasi bruchlosen Fortschritts, so wie sie seine Zeitgenossen hegten: diese Kritik wird in den vier Erzählungen explizit thematisiert, zugleich aber durch eine Erzählform, die letztlich zum Zyklischen tendiert, literarisch veranschaulicht. Insofern ist auch die Schließung des Zyklus atypisch zu nennen. Mit EugÀne Sues Les MystÀres de Paris (1842–43) thematisiert Tanja Weber hingegen jenen Feuilletonroman, der im 19. Jahrhundert in Frankreich und 12 Das ist insofern ein ungewöhnlicher Ansatz, als in aller Regel serielle Erzählungen getrennt nach Gattungen und Medien behandelt werden. Siehe aber Türschmann 2007 und Kelleter 2012, ansatzweise auch Blanchet et al. 2011. In dem von Kelleter herausgegebenen Sammelband werden serielle Erzählungen in verschiedenen medialen Formaten ebenfalls seit dem französischen Feuilletonroman bis zur Gegenwart behandelt.

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anderen Ländern die nachhaltigsten Reaktionen bei Lesern und Nachahmern hervorgerufen hat. Zunächst untersucht sie die Erzählweise Sues, bei der sich Strategien, die auf narrative Kontinuität abzielen, mit verschiedenen, im Vergleich zu Nodier gewiss schwächeren, Formen von Brüchen bzw. Unterbrechungen kreuzen. Die Struktur des Geheimnisses als Narrationsprinzip, heute auch aus zahlreichen Fernsehserien bekannt, liefert dabei den roten Faden der Handlung, die durch vielfältige Nebenhandlungen sowie Leseradressierungen unterbrochen wird. Letztere und auch die Einführung ›faktualer‹ Deskriptionsund Berichtspassagen entsprechen Sues politischem Engagement und führen eine Metaebene des Textes ein. Doch selbst die mystery-Struktur der Haupthandlung wird durch einen Spoiler gebrochen, wie Tanja Weber schreibt: die Leser erfahren das zentrale Geheimnis lange vor der Hauptfigur. Das doppelte Ende der MystÀres de Paris, ein zunächst suggeriertes happy end, das dann doch in ein sad end mündet, ist ein letztes Spiel mit den Lesererwartungen. Im zweiten Teil ihres Beitrags untersucht die Autorin eine der zahlreichen lokalen Adaptionen, nämlich Reynolds Mysteries of London (1844–1856), und ihre zum Teil gegenüber Sue erheblich veränderte Erzählhaltung, die unter anderem größere narrative Kontinuität erzeugt. Reynolds Feuilletonroman, der ebenso wie jener Sues in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, ist dabei ein Beispiel für die virtuelle Unabgeschlossenheit seriellen Erzählens. Der dritte und der vierte Beitrag gelten dem Phänomen des ästhetischen Bruchs in verschiedenen Medien bzw. Kunstformen, dem Serien-Film und der multimedialen und performativen Praxis des Theaterstücks. Birgit Wagner widmet sich der Spannung von Schaulust und narrativer Kontinuität in Louis Feuillades Film-Serie Les Vampires (1915/16). Eingangs bezieht sie sich auf die Forschungslinie der New Film History und situiert Les Vampires und Feuillades erste Film-Serie, Fantúmas, in der Filmgeschichte: in beiden Serien mischen sich Elemente des Early Cinema mit solchen des sich herausbildenden Kinos der Kontinuität. Die Analyse der Vampires macht zunächst eine Reihe von Elementen der Kontinuität sichtbar, um sich dann den ästhetischen Brüchen zu widmen: Illusionsbrüche, die durch komische Momente (Gestik, Mimik, aber auch In-die-Kamera-Schauen) erzeugt werden, sowie vor allem die vielen der Schaulust dienenden Sequenzen, die zentralperspektivische, bühnenartige Räume visualisieren und das Spannungsinteresse der Handlung vorübergehend deaktivieren – mit dem Resultat einer ›unreinen‹, hybriden Ästhetik. Der Beitrag schließt mit einer kurzen Besprechung von Olivier Assayas’ Irma Vep (1996), einem Film, der ein fiktives remake der Vampires darstellt und auf zahlreichen Ebenen, nicht zuletzt auch auf der des Filmmaterials, Brüche der Handlung und der Ästhetik verwirklicht. Monika Meister und Stefan Hulfeld präsentieren ein Gegenstück solch hybrider Ästhetik in der modernen Theaterpraxis, allerdings mit einer anderen

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Fragestellung. Sie stellen nämlich zur Diskussion, ob eine Slapstick-Einlage immer und überall als Unterbrechung des Narrativen zu werten sei oder nicht vielmehr eigenständige Formen des Erzählens bilde. Nach einem kurzen Rückblick auf die lazzi der Commedia dell’arte und die artistischen Nummern des (komödiantischen) Stummfilms analysieren die Autoren die Inszenierung, die Herbert Fritsch 2011 dem Bühnenschwank Die (s)panische Fliege13 gewidmet hat. Das Genre des Schwanks ist insofern dem seriellen Erzählen zumindest verwandt, als es mit den immer gleichen Versatzstücken von Betrug, Verheimlichung, Aufdeckung und letztlicher Herstellung von familiärer, bürgerlicher Harmonie und Moral arbeitet. Fritschs Inszenierung setzte dabei dezidiert auf Künstlichkeit und Vermeidung jedes Realismuseffekts. Die körperbetonten Slapsticks der Hauptfigur fungieren dabei insofern als »narratives Momentum«, als sie eine Mikroerzählung und einen leiblichen Kommentar zum ansonsten belanglosen Plot konstituieren und in kleinsten Zeiteinheiten Abgründe bürgerlicher, aber auch generell menschlicher Existenz darstellen und dem befreienden Lachen preisgeben. Die beiden letzten Beiträge widmen sich unter verschiedenen Aspekten der heute wirkungsmächtigsten Form des seriellen Erzählens, nämlich der TV-Serie. Nicole Kandioler analysiert zwei Serien der 1970er Jahre, Rainer Werner Fassbinders Acht Stunden sind kein Tag (1972/73) und Jaroslav Dudeks Zˇena za pultem (Die Frau hinter dem Ladentisch, 1977/78). Beide Serien vereinen Gattungsmerkmale der Familienserie und des Arbeiterfilms, und beide reagieren auf gesellschaftliche und politische Bruchsituationen: das Jahr 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und die Normalizace in der Tschechoslowakei nach dem Scheitern der Reformbemühungen Alexander Dubcˇeks. Dieser Vergleich, der zusammenführt, was zum Zeitpunkt der Erstausstrahlungen aus politischen Gründen getrennt bleiben musste, erlaubt eine differenzierte Sicht auf das europäische Fernsehen der 1970er Jahre.14 Während Fassbinder mit den Konventionen der damaligen TV-Familienserie bricht und auf der Ebene der Handlung Reaktionen auf die Ereignisse von 1968 thematisiert, zeichnet Zˇena za pultem das harmonische Bild eines solidarischen sozialistischen Kollektivs – Propagandafernsehen eben. Umso interessanter ist die lebhafte Rezeption, die diese tschechische Serie, auch in ihrer deutschen Version, in den letzten Jahren 13 Die spanische Fliege, von Fritsch bereits im Titel neu gedeutet, ist ein Stück des Erfolgsduos Franz Arnold und Ernst Bach aus dem Jahr 1913, somit in großer zeitlicher Nähe zu den Filmen Feuillades. 14 In den meisten deutschsprachigen Bänden, die sich dem Phänomen TV-Serie widmen, stammt das Untersuchungsmaterial fast ausschließlich aus den USA und Großbritannien; deutsche Produktionen werden an den englischsprachigen gemessen. Für eine Auseinandersetzung mit Serien aus anderen europäischen Ländern vgl. Türschmann / Wagner 2011 sowie Schrader / Winkler 2014.

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erfährt, wobei sie, je nach generationeller Zugehörigkeit, divergierende Lektüren erzeugt – von der Kritik am staatssozialistischen Fernsehen bis hin zu einer »reflexiven Nostalgie« als Form der Verarbeitung der Vergangenheit. Am Ende dieses Bandes steht ein Beitrag von Andrea B. Braidt, der vom Enden handelt. Auch die längste serielle Erzählung muss einmal einen (wie immer auch vorläufigen) Schlusspunkt setzen. Im Gegensatz zum Ende einer Episode oder einer Staffel ist der Schluss der Serie ein (für die Zuseher) definitiver Abbruch, der Melancholie erzeugt, und zwar, weil das Empathisieren mit dem erzählten Universum nicht weiter fortgesetzt werden kann. Andrea Braidt diskutiert zunächst die Forschungsgeschichte des Begriffs der Empathie, um dann diesen auf die Erlebnisweise von Zusehern und Zuseherinnen von Fernsehserien zu übertragen: Handlungen und Motivationen, die nur teilweise in der Erzählung dargestellt werden, können von Zusehern durch empathische Vorstellung ergänzt werden. Besonderes Gewicht gewinnt diese Einsicht, wenn es um das Ende einer Serie geht. Andrea Braidt expliziert das an der letzten Episode der US-amerikanischen Serie The Sopranos (1999–2007), die ihr eigenes Abbrechen symbolisch in Bild und Ton darstellt und somit – wie schon einige Male zuvor – eine Metaebene des Erzählens einführt. Die Autorin schließt mit einer Reverenz an Freuds Konzept der Melancholie, das für das »Zur-ErinnerungWerden« von Serien in Anspruch genommen wird. Dieser Band verdankt seine Entstehung den inter- und transdisziplinären Diskussionen an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, die 2010/2011 geführt wurden15 und sich schließlich bei der internationalen Tagung Broken Narratives (2013) konkretisiert haben. Mein herzlicher Dank ergeht an Martina Stemberger für die sorgfältige Lektorierung des Manuskripts sowie an Manuel Chemineau für die fachkundige Unterstützung bei der Bearbeitung der Illustrationen.

Bibliographie Alber, Jan / Fludernik, Monika (Hg.): Postclassical narratology. Approaches and analyses, Columbus 2010. Blanchet, Robert / Köhler, Kristina / Smid, Teresa / Zutavern, Julia (Hg.): Serielle Formen. Von den frühen Film-Serials zu aktuellen Quality TV- und Online-Serien, Marburg 2011. Dictionary of unnatural narratology, online: www.projects.au.dk/narrativeresearchlab/ unnatural/undictionary [22.12.2014]. 15 Die Initiative zu dieser interdisziplinären Forschungsgruppe ist Susanne Weigelin-Schwiedrzik zu verdanken. Durchgeführt wurde die Tagung unter der Leitung von Matthias Meyer, Wolfgang Müller-Funk und mir im Verein mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen.

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Eco, Umberto: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, aus dem Ital. von Max Loser, Frankfurt am Main 1984. Gramsci, Antonio: Literatur und Kultur, hg. im Auftrag des Instituts für Kritische Theorie von Ingo Lauggas, mit einem Vorwort von Birgit Wagner, Hamburg 2012, Abschnitt »Popularliterar«: S. 83–110. Kelleter, Frank: »Populäre Serialität. Eine Einführung«, in: ders. (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Bielefeld 2012, S. 11–46. Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (Hg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie, Trier 2002. Schrader, Sabine / Winkler, Daniel (Hg.): TV glokal. Europäische Fernsehserien und transnationale Qualitätsformate, Marburg 2014. Tausendundeine Nacht. Nach der ältesten arabischen Handschrift in der Ausgabe von Muhsin Mahdi erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott, München 2004. Türschmann, Jörg: »Spannung und serielles Erzählen: Vom Feuilletonroman zur Fernsehserie«, in: Ackermann, Kathrin / Moser-Kroiss, Judith (Hg.): Gespannte Erwartungen, Berlin 2007, S. 201–219. Türschmann, Jörg / Wagner, Birgit (Hg.): TV global. Erfolgreiche Fernseh-Formate im internationalen Vergleich, Bielefeld 2011.

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»Une trilogie en quatre parties«: Narrative Brüche zur Ironisierung der zeitgenössischen Fortschrittseuphorie in Charles Nodiers Cycle du dériseur sensé Dudar del progreso es el fflnico progreso. Nicol‚s Gûmez D‚vila

Brüche in Erzähltexten können nicht nur durch ästhetische Absichten motiviert sein, sondern auch als bewusste Reaktionen auf Entwicklungen in der außerliterarischen Welt erfolgen, zumal auf solche, die die Existenz von Brüchen zu überdecken, ja zu leugnen suchen. Ein solcher Einsatz eines »broken narrative« soll in diesem Beitrag am Beispiel von Charles Nodier vorgestellt werden, der mittels spezieller narrativer Verfahren gegen die euphorischen Vorstellungen seiner Zeitgenossen anschreibt, die einem Fortschritt das Wort reden, der keine Grenzen geschweige denn Unterbrechungen kennt.

Einleitung: Die Fortschrittseuphorie des französischen 19. Jahrhunderts oder »L’âge d’or est devant nous« Die Idee eines linearen und quasi bruchlosen Fortschritts hält im 19. Jahrhundert massiv Einzug in die Geistesgeschichte und beruht dabei grundlegend auf der Idee der perfectibilit¦, die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts von Turgot und Rousseau entwickelt wird, wobei letzterer den Begriff erstmals in einem schriftlichen Dokument, seinem Discours sur l’origine et les fondements de l’in¦galit¦ parmi les hommes (1755), verwendet.1 In der Folge verankert sich der Glaube an eine grenzenlose Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen fest im Bewusstsein vieler Zeitgenossen, wofür Condorcets Esquisse d’un tableau historique des progrÀs de l’esprit humain (1794) ein besonders nachdrückliches

1 Zum Begriff der »perfectibilit¦« und ihrer ersten Verwendung durch Turgot und Rousseau vgl. die entsprechende Anmerkung der Pl¦iade-Ausgabe zu Rousseaus Discours: Rousseau 1964, S. 1317–1319. Vgl. dazu außerdem den ausgezeichneten Artikel von Reinhart Koselleck zur Entwicklung des Fortschrittsgedankens: Koselleck 1975, insbesondere S. 375–378.

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Beispiel darstellt, eine Schrift, deren Autor kategorisch postuliert: »la perfectibilit¦ de l’homme est ind¦finie«.2 In der Literatur legt Louis-S¦bastien Mercier bereits einige Jahre zuvor mit der ersten in der Zukunft angesiedelten Utopie, L’An 2440 (1771), beredt Zeugnis von dieser Überzeugung ab.3 Zwar wird oft übersehen, dass es in den Paratexten von L’An 2440 durchaus auch pessimistische Untertöne gibt,4 im Haupttext ist aber ein unbeschränkter Optimismus im Hinblick auf die künftige Entwicklung der Menschheit zu konstatieren, welcher sich in einem Bild verdichtet, das Mercier einem Bewohner seines bereits enorm verbesserten Zukunftsparis in den Mund legt: »Il nous reste — faire plus que nous n’avons fait, nous ne sommes guÀre qu’— la moiti¦ de l’¦chelle.«5 Der Kontext des Werkes macht unmissverständlich deutlich, dass keinerlei Rückfälle auf dieser Leiter der gesellschaftlichen Entwicklungen zu erwarten sind, sondern vielmehr ein beständiges Voranschreiten der Welt in eine stetig bessere Zukunft erfolgen wird. Mercier ist ein wichtiges Vorbild für den Autor, um den es mir im Folgenden gehen wird: Charles Nodier, der vor allem seit den 1980er Jahren neu und wieder entdeckt wurde, wozu dieser Aufsatz einen weiteren Beitrag leisten möchte.6 Dabei wird im Zentrum stehen, wie sich Nodier trotz seiner Bewunderung für Mercier7 massiv gegen den Glauben an einen ununterbrochenen Fortschritt wendet, wie er in L’An 2440 vertreten wird. Diese Überzeugung ist im Frankreich von Nodiers Zeit noch virulenter geworden,8 und generell ist die Fortschrittseuphorie des 19. Jahrhunderts in Frankreich besonders markant, wie etwa John 2 Condorcet 1794, S. 379. 3 Mit diesem Text beginnt die Geschichte der Zeitutopie, die in der Folge die Raumutopie nahezu vollständig verdrängen wird, wobei diese Entwicklung wesentlich durch den Glauben an den Fortschritt bedingt ist, wie u. a. Joseph Jurt hervorhebt (1989, S. 385): »Son impact [celui de l’id¦e de progrÀs] se manifesta dans le domaine litt¦raire — travers la cr¦ation d’un nouveau genre: l’utopie de l’avenir.« Vgl. dazu außerdem die nach wie vor einschlägigste Geschichte der Utopie: Trousson 1999, S. 162–169. 4 Dies wurde zuletzt von Hinrich Hudde genau herausgearbeitet (2012, S. 69–78). 5 Mercier 1971, S. 232. [»Uns bleibt noch mehr zu tun als wir bisher getan haben; wir sind kaum auf der Hälfte der Leiter angelangt.« – Übersetzungen aus dem Französischen hier und in der Folge vom Verf.] 6 Zum Leben von Charles Nodier s. vor allem Zaragoza 1992. Zu Nodiers politischer Einstellung ist weiterhin Hans Peter Lunds Studie (1977) zu empfehlen. Zur ästhetischen Dimension seines Schaffens vgl. vor allem die Dissertation von Beate Ochsner (1998); dort wird auch herausgestellt, dass Nodiers Werk lange ein Schattendasein fristete und erst spät von der Forschung neu entdeckt wurde (S. 5–12). Vgl. dazu auch Sangsue 1987, S. 11, wo die Neuentdeckung Nodiers ab den 1980er Jahren deutlich wird. 7 Vgl. Ochsner 1998, S. 4: »[…] zusammen mit Senancour entwickelte er [Nodier] sich zu einem seiner [Merciers] eifrigsten Schüler.« 8 Dies kann hier nur grob angedeutet werden; vgl. dazu u. a. Meyer 2001, S. 283, wo dargelegt wird, wie insbesondere ab den 1830er Jahren Fortschritt »zum Leitbild«, ja »zur Religion« wird.

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Passmore hervorhebt: »[…] enthusiasm for progress was nowhere more marked than in France.«9 Dies zeigt sich prägnant in der oft zitierten Aussage von Claude-Henri de Saint-Simon, der 1825 sein Werk Opinions litt¦raires, philosophiques et industrielles mit folgendem Epigraph versieht, der pointiert die Sicht eines großen Teils der französischen Intellektuellen zusammenfasst: »L’–ge d’or, qu’une aveugle tradition a plac¦ jusqu’ici dans le pass¦, est devant nous.«10

Charles Nodiers Kampf gegen den Fortschrittsenthusiasmus und ein Blick auf den Komplex der »broken narratives« Gegen derartige Überzeugungen wendet sich Charles Nodier zeit seines Lebens in scharfer Form, wobei dies vielleicht am eindringlichsten im so genannten »Cycle du d¦riseur sens¦« erfolgt, einer Serie von vier contes, die in den Jahren 1833–36 entstanden sind und die sich als gutes Beispiel erweisen, um sich der Form der »broken narratives« zu nähern. Dazu ist nicht unwichtig in Erinnerung zu rufen, dass Nodier in einer Zeit historischer Brüche schreibt; er verfasst seine Werke in der politisch äußerst bewegten Zeit Frankreichs, die von den Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 geprägt ist, wobei für unsere Erzählungen insbesondere die Revolution von 1830 wichtig ist, über deren Ausgang Nodier tief enttäuscht war.11 Neben den politischen Brüchen erlebt diese Zeit auch viele mentalitäts- und sozialgeschichtliche Veränderungen, unter denen das skizzierte neue Zukunfts- und Fortschrittsverständnis nur eine ist, neben das etwa auch die »Industrialisierung des Buchmarktes« sowie die Etablierung einer starken Presse als direkter Konkurrenz zum traditionellen Buch tritt.12 Die Entwicklung der »litt¦rature industrielle« wird von Sainte-Beuve früh kommentiert,13 der zugleich ein genauer Kenner der Werke Nodiers ist und dessen Schaffen weitsichtig in die von vielerlei Brüchen geprägte Zeit einordnet, indem er in einem Porträt des Schriftstellers hervorhebt, dass Nodier in »[d]es temps

9 Passmore 1970, S. 261. 10 Saint-Simon 1825, o.S. Diesen Spruch wählt Saint-Simon später auch als Epigraph für seine Zeitschrift Le producteur. [»Das Goldene Zeitalter, das eine blinde Tradition bisher in der Vergangenheit situiert hat, liegt vor uns.«] 11 Vgl. dazu insbesondere Lund 1977, S. 186f., wo die Enttäuschung Nodiers über die Politik des Bürgerkönigs ausführlich thematisiert wird. 12 Dieser Wandel ist für Nodier ähnlich bedeutsam wie der des Fortschrittsverständnisses; zu Nodiers Beobachtungen zur »Industrialisierung des Buchmarktes« sowie zum Aufschwung der Presse vgl. Ochsner 1998, S. 125–127. 13 Zur »Industrialisierung der Literatur« und ihrer Kommentierung durch Sainte-Beuve s. insbesondere Lepenies 2006, S. 215–230.

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de r¦volution et de coupures si fr¦quentes«, in einer »¦poque convulsive« geschrieben habe.14 Derartig viele Brüche in der realen Welt können sich freilich auch in fiktionalen Texten niederschlagen, was nicht zuletzt von Nodier selbst kommentiert wird. Dieser hebt die Bedeutung von sozialen Umbrüchen für das Erzählen hervor, indem er mit Blick auf die Literaturgeschichte betont, dass »il n’¦toit pas ¦tonnant que le lien pu¦ril des sottes unit¦s de la rh¦torique se relach–t, quand l’immense unit¦ du monde social se rompoit de toutes parts.«15 Diese theoretischen Überlegungen zum Zusammenhang von außer- und innerliterarischen Brüchen setzt Nodier auch in seinen eigenen fiktionalen Werken um, und so ist es bezeichnend, dass die Nodier-Studie von Beate Ochsner »um die Metapher der Bruchstelle [kreist]; der Brüche zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen Form und Substanz, zwischen Struktur und Inhalt«.16 Daher ist Nodier ein Autor par excellence, um sich mit dem Komplex der »broken narratives« auseinanderzusetzen, die im Zentrum des vorliegenden Bandes stehen und über die nun kurz reflektiert sei. Der weit gefasste Terminus kann wohl als Bezeichnung für vier Formen erzählender Werke dienen: Texte, die von Brüchen der außerliterarischen Welt erzählen, solche, deren (binnenfiktionale) histoire Brüche aufweist, solche, die auf der Ebene des discours verschiedene Verfahren des Bruchs anwenden, oder schließlich Texte, die eine Kombination dieser Aspekte in sich vereinen.17 Der »Cycle du d¦riseur sens¦« gehört der vierten und umfassendsten Kategorie an, da er Brüche auf allen Ebenen realisiert bzw. nachvollzieht, was ihn bereits als exemplarisch für eine Beschäftigung mit Brüchen des Erzählens und Erzählen von Brüchen erscheinen lässt; dies gilt umso mehr, als man diesem Zyklus noch eine interessante Sonderrolle zuerkennen kann: Die Textserie inszeniert Brüche nicht nur als Reaktion auf die historischen Umbrüche von Nodiers Zeit, vielmehr dienen speziell die Brüche auf der Vermittlungsebene dem Angriff auf ein Zeitphänomen, das sich das Überspielen von Brüchen auf die Fahnen geschrieben hat, nämlich den Fortschrittsglauben: Nodier setzt in dieser Textserie bewusst auf narrative Verfahren, die Brüche erzeugen, um den Glauben seiner Zeitgenossen an einen bruchlosen Fortschritt zu karikieren. Dies ist die Leitthese des vorliegenden 14 Sainte-Beuve 1993, S. 304. 15 Nodier 1998 (»Du fantastique en litt¦rature«), S. 106. [»es war nicht überraschend, dass das kindische Band der törichten Einheiten der Rhetorik sich löste, als die große Einheit der sozialen Welt in ihre Einzelteile zerbarst.«] 16 Ochsner 1998, S. 14. 17 Diese Passage verdankt dem auf der Wiener »Broken Narratives«-Konferenz gehaltenen Vortrag »Unnatural Narratology and Un-Naturalizing Reading Strategies with a Specific View to Broken Narratives« von Henrik Skov Nielsen wichtige Anregungen. Die luziden Bemerkungen dieses Vortrags haben mir geholfen, mein eigenes Verständnis der »broken narratives« deutlich zu schärfen.

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Aufsatzes, der einerseits einen Beitrag zur Erforschung der »broken narratives« leisten will, indem er mit Nodier einen aufschlussreichen Sonderfall präsentiert, und andererseits die bestehenden Arbeiten zu Nodiers literarischem Schaffen18 um die Einsicht erweitern möchte, dass Nodier diese »broken narratives« mit einem starken außerliterarischen Ziel verbindet. Aufgrund der noch immer begrenzten Forschung zu Charles Nodier seien noch einige Worte über den Autor verloren, bevor seine ›gebrochenen Texte‹ in den Fokus rücken. Nodier gehört zur ersten Generation der französischen Romantiker und wird etwa von Victor Hugo sehr geschätzt, wobei man gerade im Vergleich zu Frankreichs berühmtestem Vertreter der romantischen Literatur auf einen für mein Thema wichtigen Umstand verweisen kann: Nodier bleibt im Gegensatz zu vielen anderen Romantikern sein Leben lang von konservativen Ansichten geprägt und macht die Wende von 1830 nicht mit, die viele andere zu liberalen Auffassungen führt. Vor allem aber lässt er sich nie auf den Glauben an den Fortschritt und eine bessere Zukunft ein, wie man ihn an Hugos Gedicht »VingtiÀme siÀcle« aus der ersten Serie der L¦gende des siÀcles (1859) idealtypisch nachvollziehen kann, in dem sich die zwei Teile »Pleine mer« und »Plein ciel« antithetisch gegenüberstehen: Während im ersten Teil mit der Vergangenheit abgerechnet wird, wird im zweiten Teil die Zukunft hymnisch gefeiert.19 Für Nodier bleibt der Glaube an einen solchen Fortschritt immer nur eine Schimäre,20 womit er sich gegen den Zeitgeist stellt. Dies kennzeichnet generell seine Literatur, wie Sainte-Beuve herausstellt, der in seinem bereits angesprochenen Porträt Nodiers zu dem Schluss kommt, dass dieser stets im Widerstreit zu seiner Zeit gelebt habe, dass er immer »ou trop tút ou trop tard«21 gewesen sei. In dieser Hinsicht kann man die Erzählungen, die uns hier beschäftigen, in einen größeren Kontext stellen, denn nach Wolfgang Müller-Funk sind Kulturen »immer auch als Erzählgemeinschaften anzusehen«, wobei »die wirksamsten Erzählungen [… diejenigen sind], die selbstverständlich geworden sind«;22 eben gegen einen solchen allmählich zum Allgemeingut werdenden Glauben an den

18 Besondere Anerkennung verdienen das schon mehrfach zitierte Buch von Beate Ochsner sowie die umfassende Studie Le r¦cit excentrique von Daniel Sangsue, die ich speziell im vorletzten Kapitel meines Beitrags noch häufig zu Rate ziehen werde. 19 Hugo 1962, S. 770–791. Auch in der zweiten Serie der L¦gende des siÀcles stellt Hugo die Zukunft in »Tout le pass¦ et tout le futur« ausgesprochen positiv dar. 20 Vgl. dazu auch Trousson 1996, S. 175: »A la diff¦rence de son ami Hugo, Charles Nodier ne partage pas la foi romantique dans le progrÀs de l’homme et de la soci¦t¦.« 21 Sainte-Beuve 1993, S. 304 (Kursivierung im Original). 22 Müller-Funk 2002, S. 14. Der Bezug auf diese Thesen von Müller-Funk scheint hier umso interessanter, als dieser explizit vom »common sense« spricht, der sich in solchen Erzählungen äußert, die nicht manifest zu sein brauchen – wir werden noch sehen, dass Nodier seiner Epoche just diesen »sens commun« abspricht.

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Fortschritt wendet sich Nodier und setzt seine vier Erzählungen als Konternarrative ein.

Der »Cycle du dériseur sensé« und Nodiers Spiel mit der Serienliteratur Damit komme ich zu der Textserie, die meist unter dem Titel des »Cycle du d¦riseur sens¦« geführt wird und von der Forschung bislang eher stiefmütterlich behandelt wurde.23 Bevor ich mich den vier contes an sich zuwende, ist es höchst erhellend, den Blick auf vier theoretische Texte zu lenken, die Nodier in der Revue de Paris zwischen 1830 und 1832 veröffentlicht und in denen er seiner Überzeugung, der Fortschrittsglaube sei ein Irrglaube, nachdrücklich Ausdruck verleiht.24 Aus Platzgründen sei hier nur kurz auf den ersten dieser Aufsätze eingegangen, der den bezeichnenden Titel »De la perfectibilit¦ de l’homme« trägt und die oben skizzierte Vorstellung Condorcets, auf den er sich deutlich bezieht, scharf zurückweist. Nodier brandmarkt die Idee einer Perfektibilität des Menschen als widernatürlichen Trugschluss: »Dire que l’homme est perfectible, c’est supposer qu’il peut changer de nature; c’est demander la rose — l’hysope, et l’ananas au peuplier.«25 Diese vier Artikel bereiten die fiktionale Verarbeitung des Themas vor, die ein Jahr nach der Publikation des letzten theoretischen Aufsatzes beginnt und in die vier contes »Hurlubleu«, »L¦viathan le Long«, »Z¦rothoctro-Schah« und »Voyage 23 Als wichtige Beiträge zu dem Zyklus bzw. einzelnen Erzählungen und Aspekten sind insbesondere Sylvos 2005 und Trousson 1996 zu nennen. Zu Anfang des neuen Jahrtausends ist eine von Christine Marcandier-Colard vorzüglich kommentierte Neuausgabe dieses Zyklus erschienen (Marcandier-Colard 2001), die dank ihres reichhaltigen wissenschaftlichen Apparats als Grundlage jeder weiteren Beschäftigung mit diesen Erzählungen Nodiers dienen kann und in dieser Beziehung die Edition von Castex verdrängt hat (zu letzterer vgl. Anm. 27). Diese Ausgabe liegt auch diesem Beitrag zugrunde: Sämtliche Zitate sind ihr entnommen und werden mit Seitenangaben in Klammern direkt im Fließtext belegt. Die Bedeutung dieses Zyklus für Nodier wird auch durch die Biographie von Zaragoza unterstrichen, der »d¦riseur sens¦« explizit als Untertitel wählt. 24 Es handelt sich dabei um die Aufsätze »De la perfectibilit¦ de l’homme, et de l’influence de l’imprimerie sur la civilisation«, »De l’utilit¦ morale de l’instruction pour le peuple«, »De la fin prochaine du genre humain« und »De la paling¦n¦sie humaine et de la r¦surrection«, die 1835 allesamt in den Band V (RÞveries) der Gesamtausgabe von Nodiers Werken eingingen, welcher in einem Nachdruck von Slatkine Reprints vorliegt: Nodier 1998. Für eine genauere Darstellung aller vier Aufsätze und ihrer Bedeutung für die Schriften von Nodier vgl. Hausmann 2009, S. 155–164. 25 Nodier 1998 (»De la perfectibilit¦ de l’homme«), S. 240. [»Zu sagen, der Mensch sei perfektibel, bedeutet vorauszusetzen, dass er seine Natur ändern kann; das ist wie eine Rose vom Ysop zu verlangen und eine Ananas von der Pappel.«]

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dans le Paraguay-Roux« mündet.26 Die ersten beiden Erzählungen sind 1833 erschienen, die letzte 1836, während die dritte zwar im selben Zeitraum konzipiert, jedoch erst im 20. Jahrhundert erstmals veröffentlicht wurde.27 Die vier contes bilden eine Einheit, einen konzertierten Angriff Nodiers auf den Fortschrittsglauben seiner Zeitgenossen.28 Man kann in ihnen zudem eine frühe Sonderform der Serienliteratur sehen, was für unser Thema von Bedeutung ist, da Nodiers Spiel mit Serientexten unmittelbar mit seinem Spott über die Fortschrittsgläubigkeit verbunden ist, da er potentielle Fortsetzungs- und Anschlussfähigkeiten in jeder Hinsicht karikiert. Zudem entsteht ja genau zur selben Zeit eine wesentliche Ausprägung des seriellen Erzählens, nämlich der Feuilleton-Roman, dessen Erfolgsgeschichte 1836 und damit im Jahr des letzten Teils von Nodiers Zyklus beginnt.29 Man kann Nodiers Textserie daher als einen ersten wichtigen Vorläufer werten, der die Serialität schon vor ihrem massiven Aufkommen ironisch bricht.30 Nodier beobachtet den bereits angedeuteten Aufschwung der Presse im frühen 19. Jahrhundert äußerst kritisch, wie man etwa seiner zeitgleich zum »Cycle« erschienenen Schrift Bibliographie des fous (1835), die uns in anderem Zusammenhang später noch interessieren wird, 26 Die angegebenen Titel sind hier und im Folgenden um der Lesbarkeit willen abgekürzt. Die vollständigen Titel, auf die ich z. T. noch eingehen werde, lauten: »Hurlubleu. Grand Manifafa d’HurlubiÀre ou La Perfectibilit¦. Histoire progressive«, »L¦viathan le Long. Archikan des Patagons de l’„le savante ou La Perfectibilit¦ pour faire suite — Hurlubleu. Histoire progressive«, »Z¦rothoctro-Schah. Proto-Mystagogue de Bactriane« und »Voyage pittoresque et industriel dans le Paraguay-Roux et la Paling¦n¦sie australe. Par Tridace-Naf¦-Th¦obrome de Kaout’t’Chouk, etc.«. 27 »Hurlubleu« und »L¦viathan le Long« erschienen 1833 in der Revue de Paris, »Voyage dans le Paraguay-Roux« im Februar 1836 in derselben Zeitschrift, während »Z¦rothoctro-Schah« erst zu Beginn der 1960er Jahre erstmals gedruckt wurde, vgl. dazu den entsprechenden Hinweis von Pierre-Georges Castex in seiner Ausgabe von Nodiers Erzählungen, die bis zur Neupublikation durch Christine Marcandier-Colard die maßgebliche für den »Cycle du d¦riseur sens¦« war und in der »Z¦rothoctro-Schah« zum ersten Mal veröffentlicht wurde (Nodier 1961, S. 435): »Le conte Z¦rothoctro-Schah que nous publions […] pour la premiÀre fois.« 28 Eine ähnliche Tetralogie von Erzählungen, die den Fortschrittsglauben ihrer Zeit scharf angreifen, findet man rund 50 Jahre später bei Villiers de l’Isle-Adam und dessen so genannten »contes — appareils« – zu diesem Zyklus und seiner Fortschrittskritik s. demnächst Hausmann, Matthias: »Der Himmel als Werbefläche: Auguste de Villiers de l’Isle-Adam und die Herausforderung durch Fortschrittseuphorie und Positivismus«, in: Hufnagel, Henning / Ventarola, Barbara (Hg.): Literatur als Herausforderung, erscheint Würzburg 2015. 29 Zum Beginn des Feuilleton-Romans und der frühen Serienliteratur im Allgemeinen s. Neuschäfer 1976, S. 12–15 und Weber 2012, S. 192–199. 30 Eine solche Sicht auf Nodiers Zyklus – als Kritik an der Serie sozusagen avant la lettre – ist auch daher gerechtfertigt, da man mit Tanja Weber argumentieren kann, dass für eine Serie im modernen Sinne »ein technisches Kommunikationsmedium« zentral ist, weshalb man die Entstehung der modernen periodischen Presse, die u. a. durch die dampfbetriebenen Schnellpressen ab den 1810er Jahren ermöglicht wurden, als Ausgangspunkt von Serien nach einem modernen Verständnis sehen kann (vgl. Weber 2012, S. 189f.).

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entnehmen kann, wo er ausführt, dass früher »la folie ne vivoit que l’–ge d’un fou, et […] elle ne s’¦tendoit point aux –ges suivants comme une contagion triomphante, car la presse n’¦toit pas invent¦e.«31 Generell beklagt Nodier den »stetige[n] Abstieg der Literatur in die Niederungen einer gefälligen Konsum- und Massenliteratur«,32 welchen er durch die moderne Presse sowie die Industrialisierung des Buchmarktes bedingt sieht.33 Zu deren deutlichsten Ausdrucksformen kann man wohl das Aufkommen des seriellen Erzählens zählen, das daher von Nodier frühzeitig, als es vor allem noch als Möglichkeit in der Luft lag, aufgespießt wird.34 Sein Missfallen an dieser neuen Form liegt nicht zuletzt darin begründet, dass diese frühen FeuilletonSerien durch ökonomische Aspekte geprägt sind, wie sie Gabriele Schabacher für die aktuellen amerikanischen Fernsehserien herausgearbeitet hat, bei denen sie aufzeigt, »wie sich künstlerisch-narrative Gestaltung und kommerzielle Logik wechselseitig bedingen«.35 Gegen derartige ökonomischen Überlegungen im Bereich der Literatur wendet sich Nodier, und zwar insbesondere mittels einer Schreibweise, die einer solchen kommerziellen Logik bewusst zuwiderläuft,36 wie ich im »Cycle du d¦riseur sens¦« an den Verfahren des Bruches zeigen möchte. Der obige Rückgriff auf Thesen von Schabacher erfolgte bewusst, da man Nodiers Textzyklus auch mit ihren weiteren Überlegungen zu Fernsehserien verbinden kann, welche die Besonderheiten der Texte des Franzosen im Lichte dieser späteren Produktion hervorheben. Nodier experimentiert mit den Formen des Seriellen, und man kann seine vier contes verschiedenen der beiden Ausprägungen der Serialität zurechnen, die Schabacher resümierend beschreibt: Während man die ersten beiden Erzählungen des Zyklus als serials bezeichnen könnte, gehören die letzten beiden eher zur Gruppe der series.37 Da Schabacher weiterhin ausführt, dass es just das Spielen mit seriellen Mustern ist,

31 Nodier 1835, S. 21. [»…Verrücktheit nicht länger als das Leben eines Verrückten dauerte und […] sich nicht wie eine ansteckende Krankheit auf die folgenden Zeitalter ausdehnte, denn die Presse war nicht erfunden.«] 32 Ochnser 1998, S. 109. 33 Zu Nodiers Klage über den Niedergang traditioneller Bücher unter dem Einfluss der »litt¦rature industrielle«, s. auch Sangsue 1987, S. 34f. Zu seiner Skepsis gegen den Buchdruck vgl. zudem unten S. 32/33. 34 Deshalb scheint es auch von besonderem Interesse, Nodiers ironisches Spiel mit der Serienliteratur mit einem der größten frühen Serienerfolge zu vergleichen: EugÀne Sues MystÀres de Paris; s. dazu den Beitrag von Tanja Weber im vorliegenden Band. 35 Schabacher 2010, S. 35. 36 Vgl. dazu auch Ochsner 1998, S. 109: »[Nodiers] eigene Literaturproduktion […], die sich als nur schwer zugänglich erweist […], was ihr im Hinblick auf die Lesbarkeit und die Publikumsbeliebtheit nicht unbedingt Vorteile verschafft.« 37 Prägnant zu beiden Begriffen und ihrer heute üblichen Verwendung Schabacher 2010, S. 25f.

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welches die aktuellen US-Fernsehserien so originell macht,38 kann man schon hier ein innovatives Potential bei Nodier erkennen, das sich auf der Ebene der narrativen Verfahren bestätigen wird. Dabei wird Nodiers spielerische Herangehensweise an die Formen des Seriellen auch durch die Idee der »trilogie en quatre parties« offenkundig, die in der ersten Geschichte auftaucht und gleichermaßen einen Fingerzeig auf die Zusammengehörigkeit der vier Erzählungen gibt wie auch den satirischen Charakter der gesamten Unternehmung hervorhebt. Diese Idee gibt der ungeduldige Zuhörer dem Erzähler Berniquet ein, der sie sogleich aufgreift (66): »[Manifafa:] ›Tu ne risques rien […] de leur [aux gens pour qui tu ¦cris] lancer une trilogie en quatre parties.‹ [… Berniquet:] ›Une trilogie en quatre parties par le temps qui court? Pourquoi pas?‹«39 Vor einer solchen Trilogie in vier Teilen sieht sich der Leser sodann, wobei diese Benennung zum einen eine Ironisierung von Fortsetzungsgeschichten erkennen lässt, die später noch öfter von anderen Autoren aufgenommen wurde, etwa von Douglas Adams in seinem Hitchhiker’s Guide to the Galaxy.40 Zum anderen deutet schon dieser von Berniquet selbst gewählte Titel an, dass die Verteilung seiner Abenteuer auf mehrere Geschichten nicht in sich motiviert ist, was ein Grund mehr ist, in besonderer Weise darauf zu achten, welche Brüche in diesen Geschichten und ihren Verbindungen auftreten.

Ständige Unterbrechungen einer vorgeblichen »histoire progressive« als Fortschrittskritik: »Hurlubleu« und »Léviathan le Long« Damit sind wir bei den vier Geschichten angelangt, die allesamt von der Suche nach dem perfekten Menschen handeln, was die Perfektibilitätssehnsucht der Zeitgenossen Nodiers aufnimmt. Diese Suche vollzieht sich auf Forschungsreisen, die die Protagonisten über den kompletten Erdball und ins Erdinnere, aber auch in die Zukunft führen, wobei Nodier der gesamten Welt in Gegenwart wie Zukunft ein ausgesprochen negatives Zeugnis ausstellt. Ich werde mich in diesem Beitrag vornehmlich auf die ersten beiden contes konzentrieren und nur wenige Bemerkungen zu den beiden folgenden machen. Diese ersten zwei Erzählungen, »Hurlubleu« und »L¦viathan«, sind als direkte 38 Schabacher 2010, S. 27. 39 [»M: Du gehst keinerlei Risiko ein, wenn du deinen Lesern eine Trilogie in vier Teilen vorlegst. / B: Eine Trilogie in vier Teilen in der heutigen Zeit? Warum nicht?«] 40 Auch diese Serie war ursprünglich als »vierbändige Trilogie« konzipiert, wurde dann aber noch um zwei weitere Bände erweitert, so dass Adams das Spiel um den Untertitel noch weiter führte und der fünfte Band etwa als »The fifth book in the increasingly inaccurately named Hitchhiker’s Trilogy« beworben wurde.

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Fortsetzungen zueinander konzipiert, was bereits durch ihren jeweiligen Untertitel betont wird, der höchst ironisch ist: Beide contes werden nämlich als »Histoire progressive« betitelt, womit der allgegenwärtige Fortschritt von Nodier spöttisch anvisiert wird, der nun sogar schon die Narrativik erreicht hat. Diese satirische Dimension wird weiterhin dadurch hervorgehoben, dass Nodier alles daran setzt, keine fortlaufende Geschichte im klassischen Sinne zu erzählen, sondern bewusst Brüche auf der Ebene des discours wie der histoire einzuziehen. Um dies näher beschreiben zu können, soll zunächst knapp der Rahmen der Doppelgeschichte resümiert werden: Der Protagonist Berniquet erzählt dem »Manifafa« (d.i. Sultan) Hurlubleu, wie er in dessen Reich gekommen ist, das an der Stelle des heutigen Frankreichs liegt, aber in der Zukunft, genau gesagt 10.000 Jahre nach dem Beginn von Berniquets Reise 1833, womit bereits ein erster großer (zeitlicher) Bruch auf der Ebene der histoire offenbar wird. Im Paris des Jahres 1833 war Berniquet, der ein stolzer Vertreter des Fortschrittsgedankens ist, auf der Suche nach Z¦rothoctro-Schah, dem perfekten Menschen, von dessen Existenz er von einem Chinesen erfahren hat, was die ersten beiden Geschichten mit den beiden folgenden verbindet.41 Obwohl Berniquet und seine Forscherkollegen durch Berichte wissen, dass dieser perfekte Mensch im Erdinneren begraben wurde, beginnen sie die Suche auf den Weltmeeren, was die Wissenschaftler bereits in ihrer Gegenwart diskreditiert. Dies setzt sich in der Zukunft nahtlos fort, denn Berniquet bekleidet beim Sultan das Amt des Hofnarren, was den Fortschrittsgedanken weiter desavouiert: Verfechter des Fortschritts gelten in der Zukunft als Verrückte und sind zu nichts anderem nutze, als die Herrscher zu belustigen, was pointiert durch die Einschätzung von Berniquet seitens des Sultans unterstrichen wird (30): »tu n’as pas le sens commun«. In gewisser Weise verrückt ist auch der Beginn des Textes, in dessen Zentrum die Zeitreise von Berniquet stehen wird, denn »Hurlubleu« beginnt mit dem Ausruf (29): »Que le diable vous emporte!« Der Sultan äußert diese Beleidigung und scheint dabei direkt den Leser anzusprechen und ihn aufzufordern, das gerade erst aufgeschlagene Buch gleich wieder zuzuklappen und das Weite zu suchen: Mithin steht hier statt einer Einladung zum Lesen das Gegenteil42 – paradoxer kann man eine Geschichte kaum beginnen. So setzt der Text bereits mit einem gewissen Bruch ein, der die übliche Leserrolle karikiert, was sich zur Gesprächssituation innerhalb der Fiktion in Beziehung setzen lässt, in der mit der nächsten narrativen Konvention gebrochen wird: Der Sultan möchte von 41 Vgl. dazu Anm. 57 unten. 42 Vgl. dazu auch den Kommentar von Christine Marcandier-Colard (Nodier 2001, S. 15f.): »Le premier conte commence en effet par une exclamation presque injurieuse […], maniÀre paradoxale d’inviter le lecteur au voyage en le cong¦diant.«

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Berniquet wissen, wie er in die Zukunft gekommen ist, aber dies scheint nur auf den ersten Blick die typische epische Grundsituation zu evozieren, denn diese wird allein aufgerufen, um sofort dekonstruiert zu werden. Der Sultan will nämlich, dass ihm Berniquet etwas erzählt, damit er einschlafen kann (33):43 »Dis-moi ton histoire, Berniquet. Si elle est longue et ennuyeuse, tant mieux. Je n’aime que les histoires qui m’endorment.« Aber nicht nur der Erzählanlass bricht mit den Traditionen narrativer Literatur, vielmehr setzen sich die Brüche auch innerhalb der folgenden Erzählung von Berniquet fort, denn der Sultan unterbricht seinen Hofnarren ständig. Damit gebraucht Nodier ein Erzählverfahren, wie es Diderot und Sterne vielfach anwenden, und es ist interessant, das Vorgehen dieser drei Autoren zu vergleichen. Diderot liefert mit »Ceci n’est pas un conte« und Jacques le fataliste wohl die bekanntesten französischen Beispiele für durch dauernde Kommentare fortwährend unterbrochene Erzählungen und ist in dieser Hinsicht ohne Zweifel eine wesentliche Inspirationsquelle.44 Ebenso ist Sterne ein zentrales Vorbild für Nodier, der sich selbst als »plagiare des plagiaires de Sterne« bezeichnet45 und die ständigen Einwürfe des Manifafa auch in klarer Anlehnung an Tristram Shandy konzipiert, insbesondere indem der Sultan ständig auf spannendere Handlungen hofft, was an die Passage von Korporal Trim im Tristram Shandy erinnert, der nie zur Geschichte des Königs von Böhmen kommt, da er permanent durch seine Zuhörer unterbrochen wird. Nun ist es aber die These des vorliegenden Beitrags, dass Nodier im »Cycle du d¦riseur sens¦« Sterne und Diderot in der Technik der Unterbrechung stilistisch nacheifert, dies jedoch mit einer anderen Zielsetzung verbindet: Während Sterne und Diderot wohl vornehmlich inner- und metaliterarische Ziele verfolgen (worauf auch Diderots Titel »Ceci n’est pas un conte« hindeutet) und die Grenzen des Erzählens aufgrund ästhetischer Erwägungen und Effekte auszuloten suchen, scheinen die Brüche Nodiers auch einem klar außerliterarischen Ziel zu folgen: der Kritik am Fortschrittsglauben. Nodier will in seinem Zyklus über einen Anhänger des Perfektibilitätsglaubens auch durch die Struktur an43 Dieser Gesprächsanlass erinnert an Wielands Der goldne Spiegel, wo die Schilderung eines Staatswesens auch einem Sultan beim Einschlafen helfen soll. Da Nodier ein guter Kenner der deutschen Literatur ist, scheint es wahrscheinlich, dass er sich an diesem Rahmen inspiriert und ihn im Sinne seiner satirischen Absicht weiter ausgebaut hat. [Zitat: »Erzähle mir deine Geschichte, Berniquet. Wenn sie lange und langweilig ist, umso besser. Ich mag nur Geschichten, die mich zum Einschlafen bringen.«] 44 Schon der Textanfang von »Hurlubleu« erinnert bewusst an Diderot, da er deutlich wie ein exotisches Märchen des 18. Jahrhunderts gestaltet ist und die Gestalt des Manifafa ähnliche Sultane bei Diderot (etwa Mangogul in den Bijoux indiscrets) evoziert. Zur Bedeutung der Texte von Diderot für Nodier s. auch Sangsue 1987, S. 210f. 45 So ein Kommentar aus seinem Hauptwerk Histoire du Roi de BohÞme, zitiert nach Ochsner 1998, S. 141.

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zeigen, dass ein bruchloser Fortschritt ausgeschlossen ist (weshalb der Untertitel »Histoire progressive«, der durch diese Verfahren bewusst unterlaufen ist, besonders wichtig ist).

Schlaf auf allen Ebenen als extremer narrativer Bruch Dies manifestiert sich vor allem in der Rolle des Sultans, dessen viele Zwischenfragen auch enthüllen, dass er der Erzählung seines Untertanen oft nicht richtig zuhört, weil er mitunter eindöst, was uns zum größten Bruch in der Doppelgeschichte führt, der just am Einschnitt zwischen beiden contes zu finden ist und durch einen allumfassenden Schlaf gekennzeichnet ist. Berniquet ist in seiner Erzählung von der Jagd nach dem perfekten Menschen inzwischen auf einer Insel angekommen, deren Bewohner – Wissenschaftler – ihm einen Heiltrank anbieten, dann jedoch die Flaschen verwechseln und ihm versehentlich einen Trank für einen 10.000 Jahre währenden Schlaf einflößen, weshalb Berniquet in seiner Geschichte in einen fast endlosen Schlaf sinkt. Zugleich hat seine Erzählung in der Rahmenhandlung ihren Zweck erfüllt, denn auch der Sultan ist eingeschlafen. Dasselbe gilt für Berniquet zu seinen Füßen, der mithin von seiner eigenen Geschichte eingeschläfert worden ist. Damit aber nicht genug, denn nun meldet sich auch noch der extradiegetische Erzähler zu Wort, der bis dahin kaum in Erscheinung getreten ist, da man bislang einen nahezu mimetischen Dialog zwischen Berniquet und dem Sultan verfolgt hat, und auch diesem fällt vor Müdigkeit schon der Stift aus der Hand (67): »Moi qui ¦cris p¦niblement ceci, d’aprÀs les manuscrits de Berniquet, […] je sens la plume ¦chapper — mes doigts. Je m’endors. – Et vous madame?…«46 Mit seinem letzten Satz fragt er somit noch, ob nicht auch der (fiktive) Leser schon am Einschlafen ist, womit vom Leser über die verschiedenen Erzähler und Zuhörer bis hin zum Helden der innersten Handlung alle schlafen würden und die Ironisierung der klassischen Zuhörersituation auf die Spitze getrieben wird.47 Hier kann man einen extremen Bruch erkennen, der sich gut mit dem Konzept der »broken narratives« verbinden lässt, denn eine Wiener Forschungsgruppe zu diesem Phänomen betont die Bedeutung der fehlenden fiktionalen Motivierung der Unterbrechung: »In its most narrow definition, narrative ›rupture‹ is any cessation of a narrative sequence which contrary to narrative 46 [»Ich, der ich dies mühsam nach den Berniquets Manuskripten niederschreibe, […] spüre, wie die Feder meinen Fingern entgleitet. Ich schlafe ein. – Und Sie, meine Dame?…«] 47 Nodier führt in seinem Aufsatz »De la paling¦n¦sie humaine« mit offenkundiger Selbstironie aus, dass er oft beim Lesen seiner Schriften einschlafe (1998, S. 388): »un invincible sommeil […] me poursuit toujours quand je me suis relu.« In »Hurlubleu« schafft er ein augenzwinkerndes Beispiel dafür. Zu dieser »Einschlafkette« vgl. auch Hudde 1985, S. 26f.

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closure does not arise out of a story’s inherent causal logic and schematic framework.«48 Dies trifft auf diese Stelle bei Nodier zu, denn auch wenn der Schlaf auf der Ebene der histoire durch eine innere Logik der Erzählung gewährleistet scheint, wird er bereits dort durch die Dauer von 10.000 Jahren ironisch übersteigert; vor allem aber gibt es auf der Ebene oder vielmehr den Ebenen des discours gar keinen Grund für das allumfassende Einschlafen – außer der generellen Diskreditierung einer fortschreitenden Erzählung, durch die nicht nur die »histoire progressive«, sondern auch der ihr zugrundeliegende Gedanke des »progrÀs«, um den ja auch Berniquets Bericht fortwährend dreht, karikiert wird. Zudem lenkt Nodier so in mehrfacher Weise den Blick des Lesers auf die Fiktionalität seines Textes. Zum einen kann man in dem Schlaf auf allen Ebenen eine bewusste Engführung von histoire und discours erkennen, die zu Nodiers Methoden zu zählen ist, mit gängigen narrativen Konventionen zu brechen und so die Gemachtheit des Textes zu betonen. Man kann dies als eine Form der Syllepse werten, um auf die rezente Kategorisierung paradoxaler Erzählverfahren durch die Forschungsgruppe um den Hamburger Romanisten Klaus MeyerMinnemann zurückzugreifen,49 die uns bei der Analyse der letzten Geschichte von Nodiers Zyklus erneut begegnen wird. Zum anderen stellt Nodier durch diesen allgegenwärtigen Schlaf, der das Ende der ersten Erzählung kennzeichnet, die Grenzen seines Kunstwerks besonders heraus, was sich mit den Ideen von Jurij Lotman verbinden lässt, der nicht nur in seiner viel zitierten Sujettheorie, sondern auch an vielen anderen Stellen seines Grundwerks Die Struktur literarischer Texte auf die Bedeutung von Grenzen für künstlerische Werke verweist, weshalb sich seine Überlegungen in besonderer Weise für eine Beschäftigung mit »broken narratives« eignen. Insbesondere hebt Lotman hervor, dass jeder Text verschiedene Grenzen in sich trägt, da jedes seiner Subsysteme eigene Grenzen ausbildet, wobei ein Zusammenfall vieler Grenzen eine besonders starke Wirkung entfaltet, wie sie Nodier hier gelingt, indem er die verschachtelten Erzählebenen zusammenführt und 48 Meyer / Müller-Funk / Wagner 2011, S. 6. 49 Die Kategorisierung des paradoxalen Erzählens in vier Verfahren, zu denen zwei gehören, die ›Grenzen überschreiten‹ (Metalepse und Hyperlepse), und zwei, die ›Grenzen annullieren‹ (neben der Epanalepse oder mise en abyme die hier wesentliche Syllepse), wird in einem Aufsatz von Sabine Lang systematisch aufbereitet, der einen Sammelband mit wesentlichen Ergebnissen der Forschungsgruppe samt zugehörigen Textanalysen einleitet (Lang 2006). Zur Syllepse vgl. dort S. 32–36 und unten S. 33. Dass Christine Marcandier-Collard in ihrem Anmerkungsapparat zu Nodiers contes im beschriebenen Fall von einer »m¦talepse« spricht (S. 67, Anmerkung 1), spricht für die neue Kategorisierung nach Meyer-Minnemann, die eine größere Trennschärfe zwischen paradoxalen Erzählverfahren bietet und der oft etwas unklaren Verwendung des Begriffs »Metalepse« für verschiedene Formen erzählerischer Brüche (unter der auch die sonst so überzeugende Studie von Daniel Sangsue zu den »r¦cits excentriques« etwas leidet) entgegen tritt.

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durch den Schlaf auf allen von ihnen ihre jeweilige Begrenzung klar hervortreten lässt. So betont Nodier die Bedeutung der Grenze, die ohnehin in jedem Text »strukturell eine starke Position« einnimmt, da sie »dem Leser anzeigt, daß er es mit einem Text zu tun hat, und in seinem Bewußtsein das ganze System der entsprechenden künstlerischen Kodes wachruft«.50 Somit wird für den Leser klar, dass er es mit einer medial vermittelten Geschichte zu tun hat,51 und die Begrenzung lenkt den Blick auf die spezifische narrative Gestaltung des Zyklus mit ihrer satirisch-parodistischen Zielsetzung.52 Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die andere Seite dieser Grenze oder dieses Bruchs, also auf die folgende Geschichte »Leviathan le Long«. Diese setzt ein, als der Sultan aus seinem Schlaf erwacht, was Berniquet sofort dazu nutzt, um seine Geschichte weiterzuerzählen Er setzt damit ein, dass er in seiner Binnengeschichte aufwacht, womit auf den Schlaf auf allen Ebenen das allgemeine Aufwachen folgt. Hier ist noch zu ergänzen, dass der Schlaf einerseits wie gesehen einen großen Bruch in dieser Erzählung erzeugt, andererseits aber auch Kontinuität ermöglicht, da er als Mittel dient, eine enorme Zeitdistanz zu überbrücken, denn Berniquet erwacht 10.000 Jahre später, wodurch Nodier übrigens die erste körperliche Versetzung eines Helden in die Zukunft schafft, was seinem Zyklus eine zentrale Stellung innerhalb der Zukunftsliteratur zukommen lässt und ein weiterer Grund ist, sich mit diesen Geschichten verstärkt auseinanderzusetzen.53 Nach seinem Aufwachen setzt Berniquet seine Reise auf der Erde der Zukunft fort, wobei es nach den bereits skizzierten Überzeugungen Nodiers nicht zu überraschen vermag, dass die Welt des Jahres 11.833 deutlich schlechter ist als die der Gegenwart Berniquets im 19. Jahrhundert, die schon sehr negativ ge50 Lotman 1993, S. 85. 51 Dies gilt umso mehr, als die Grenzen verschachtelter Strukturen zusammenfallen, was Lotman an anderer Stelle erläutert, an der er sich des Komplexes von Erzählungen in Erzählungen näher annimmt: »Tan pronto se introduce el marco en el texto, el centro de la atenciûn del auditorio se desplaza del comunicado al cûdigo.« (1990, S. 67). [»Sobald der Rahmen in den Text eingeführt wird, verschiebt sich das Zentrum der Aufmerksamkeit der Zuhörer vom Inhalt auf den Kode.«] 52 Diese Betonung innerer Grenzen verbindet Nodiers Erzählungen zudem mit den »r¦cits excentriques«, in deren Kontext der Zyklus im vorletzten Kapitel dieses Aufsatzes gebracht wird; zur Bedeutung des »appareil d¦marcatif interne« dieser Sonderform des parodistischen Erzählens vgl. Sangsue 1987, S. 112. 53 Dies kann in diesem Rahmen nicht weiter ausgeführt werden; vgl. dazu Hausmann 2008, S. 172. Hierbei ist noch auf das interessante Faktum zu verweisen, dass Nodier sich sehr für den Traum als »literarische Produktivkraft« interessiert (vgl. dazu Ochsner 1998, S. 10); trotzdem – und obwohl er Mercier als Autor so schätzt – wählt er für seine Zukunftsgeschichten nicht den von Mercier eingeführten und für die Frühgeschichte der Zukunftsliteratur so erfolgreichen Traumrahmen, sondern entscheidet sich für die erste körperliche Versetzung eines Helden in die Zukunft, was diese Innovation noch bemerkenswerter erscheinen lässt.

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schildert worden war. Die Zukunftswelt hat keinerlei Eigenschaften, die sie erstrebenswert machen würde, und bildet somit einen Gegenpol zu Merciers Jahr 2440. Berniquet reist in dieser Zukunft mit einem ultramodernen, aber auch ultragefährlichen Fluggerät, mit dem er schließlich eine Bruchlandung im Palast des Sultans erleidet,54 womit die Erzählung ihren Anfang einholt und man mit dem Manifafa erfahren hat, wie Berniquet in dessen Reich gekommen ist. Damit ist aber Berniquets Geschichte nicht nur an ihr Ende gelangt (und dass dieses mit dem Anfang zusammenfällt, bildet einmal mehr ein Gegengewicht gegen lineare Fortschrittsgedanken), sondern hat auch erneut ihren diskreditierenden Sinn erfüllt, denn Hurlubleu ist schon wieder eingeschlafen. Allerdings wird die Rahmenerzählung nun von dem namenlosen Chronisten weitergeführt, der am Ende von »Hurlubleu« aufgetaucht ist und nun berichtet, wie Berniquet ins Erdinnere verbannt wird, nachdem er den Schlaf des Sultans genutzt hat, um sich mit einer seiner Frauen zu vergnügen, was die Verbindung zum folgenden conte ermöglicht.

Die weiteren Erzählungen des Zyklus und Nodier in der Rolle des »dériseur sensé« In dieser dritten Geschichte des Zyklus, »Z¦rothoctro-Schah«, wird ein IchErzähler, der seit mehr als 10.000 Jahren tot ist,55 im Jenseits Zeuge des Berichts von Berniquet, der nach seiner Verbannung im Inneren des Globus tatsächlich den perfekten Menschen gefunden hat, wobei sein Vortrag vor dem »congrÀs universel« der Perfektibilisten zu einer weiteren Wissenschaftssatire gerät. Sein Referat und damit der conte endet mit der Selbstvorstellung des entdeckten Männchens (116): »Je suis Zoroastre.« Damit fällt das letzte Wort der Erzählung mit ihrem Titel zusammen, womit wir uns wieder vor einer zyklischen Struktur befinden, wie sie auch schon, ein wenig anders konstruiert, in »Hurlubleu« und »L¦viathan« zu beobachten war. Überdies ist der Name Z¦rothoctro/Zoroastre, der Beginn und Schluss des conte bildet, in besonderer Weise mit einem zyklischen Weltbild verbunden, was man erneut mit dem Kampf gegen Perfektibilitätsbestrebungen in Zusammenhang bringen kann, der auch in dieser Geschichte sehr pointiert ist. Dies bestätigt die Ansicht von Beate Ochsner, die schreibt: »Gegen das lineare Denken des Positivismus reinstauriert Nodier ein 54 Es kommt auf Berniquets Reisen ständig zu Unfällen mit modernen Transportmitteln, was Nodiers Frontstellung gegen den Fortschritt besonders offensichtlich zutage treten lässt: Er attackiert den Fortschritt gerade auch auf jenem Gebiet, auf dem er zu Beginn des 19. Jahrhunderts die größten Innovationen erzielt hatte. 55 Er starb im Jahre 1834, wie er ausführt, was ein Indiz dafür sein kann, dass diese erst im 20. Jahrhundert veröffentlichte Geschichte in diesem Jahr abgefasst wurde.

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zyklisches Denken der Antike.«56 Dies wird wie gesehen nicht nur über die Inhalte, sondern auch über den jeweiligen Aufbau der Geschichten zum Ausdruck gebracht, wobei zyklische Strukturen gerade in unseren vier contes deutlich aufscheinen, weshalb ihre nachträgliche Bezeichnung als »Cycle« (du d¦riseur sens¦) doppelt zutreffend scheint. Diese Zyklik findet sich auch in der letzten Geschichte und ihren Verbindungen zu den vorherigen bestätigt. Erneut ist der Titel, »Voyage dans le Paraguay-Roux«, höchst ironisch, da die geschilderte Reise das dort angesprochene Land nie berührt. Der Protagonist, der Chinese Kaout’t’Chouk, kommt nach Paris,57 um dort die »Perfektibilität zu studieren«, wobei die französische Hauptstadt wie in den Geschichten zuvor als das Zentrum einer stets sarkastisch verspotteten Perfektionssehnsucht gestaltet ist. Von Paris aus tritt der Chinese eine Reise mit vielen Stationen an, die vor allem der Gegenwarts- und Fortschrittskritik dienen, wobei auch deutliche Kritik an den neuen Möglichkeiten des Buchdrucks durchscheint, dem Nodier höchst skeptisch gegenüber stand.58 Dabei lässt sich eine interessante Parallele zu einem deutlich früheren Text feststellen: Anton Francesco Doni setzt sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts in seinen Marmi mit den Folgen des Buchdrucks und insbesondere dessen Geschwindigkeit auseinander, die die Zeit zwischen Textproduktion und -rezeption ständig zu verkürzen scheint, wobei sich in seinem Werk in »drastischer Übertreibung […] die einzelnen Stationen des literarischen Zyklus […] umkehren [können]: Der Text wird rezipiert, bevor er überhaupt produziert ist.«59 Dieselbe Idee verwendet Nodier auf seiner »„le de la Civilisation«, der letzten und wichtigsten Reisestation seines Helden, einer Insel, auf der sich die »perfectibilit¦« durchgesetzt hat, wodurch man ein derart perfektioniertes Postwesen 56 Ochsner 1998, S. 14. Vgl. dazu auch Trousson 1996, S. 176: »[Nodier croit] — l’existence de r¦volutions cycliques: […] les civilisations naissent, se d¦veloppent, se d¦gradent et meurent pour Þtre remplac¦es par d’autres.« 57 Dies wird bereits in »Hurlubleu« erwähnt, wo Berniquet berichtet, wie ein Chinese die ersten Informationen zu Z¦rothoctro und dem perfekten Menschen geliefert habe (S. 37f.), wobei man diesen Chinesen als Kaout’t’Chouk identifizieren kann, womit diese Stelle die Zusammengehörigkeit der vier contes unterstreicht. 58 Nodiers Bedenken gegen die Folgen des Buchdrucks kommen insbesondere in seinem Aufsatz »De la perfectibilit¦ de l’homme« zum Tragen; vgl. dort etwa das folgende bezeichnende Zitat (1998, S. 251f.): »L’imprimerie est si peu une digue contre la barbarie, qu’on ne court aucun risque d’avancer qu’elle l’a rendue plus imminente et plus in¦vitable. Elle n’est pas l’aurore d’un jour sans fin; elle est le cr¦puscule d’une ¦ternelle nuit.« [»Der Druck ist so wenig ein Damm gegen die Barbarei, dass man ohne jedes Risiko sagen kann, dass er sie sogar noch drohender und unvermeidlicher gemacht hat. Er ist nicht der Sonnenaufgang vor einem endlosen Tag; er ist der Sonnenuntergang vor einer ewigen Nacht.«] 59 Häsner 2010, S. 165. Häsners Artikel bildet einen vorzüglichen Zugang zu diesem Text und seiner Verwendung paradoxaler Verfahren in Reaktion auf die Herausforderung des Buchdrucks.

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vorfindet, dass »Kaout’t’Chouk assure qu’il n’est pas rare de recevoir la r¦ponse d’une lettre qu’on n’a pas encore fait partir« (130).60 Diese Übereinstimmung deutet an, dass Nodier rund 300 Jahre nach Doni die enorme Beschleunigung des Drucks seit Beginn des 19. Jahrhunderts als ähnliche mediale Herausforderung erlebt wie der Italiener die Durchsetzung der Gutenberg-Erfindung.61 Noch bemerkenswerter ist, dass beide Autoren auf diese mediale Entwicklung nicht nur mit einem ähnlichen paradoxalen Bild, sondern vor allem mit einem bewussten Einsatz paradoxaler Erzählverfahren reagieren, denn während Doni seinen Dialog mit einer Vielzahl von Metalepsen anreichert,62 setzt Nodier in »Voyage dans le Paraguay-Roux« auf viele Kurzschlüsse zwischen histoire und discours in Form von Syllepsen, welche, ähnlich wie der Schlaf auf allen Ebenen in »Hurlubleu«, die Medialität der Erzählung in den Fokus rücken. Ein besonders eindrückliches Beispiel bildet dafür etwa der folgende Erzählerkommentar (128): »Il suffit pour cela de l’accompagner jusqu’aux „les de la Polyn¦sie, o¾ il [Kaout’t’Chouk] a eu le temps de parvenir, […] pendant que j’¦crivais les mots ci-dessus.«63 Hier kann man die klassische Form der Syllepse gut erkennen, die von Meyer-Minnemann als »nivelaciûn entre el mundo de la narraciûn y el mundo narrado« und damit letztlich als »simultaneizaciûn […] de lo no simult‚neo« definiert wird,64 und die in diesem conte extrem gehäuft auftritt, was eine Verbindung zu den vorhergehenden bildet.65 Diese Verbindung wird auch durch die Schlussworte geschaffen, denn die Geschichte um Kaout’t’Chouk endet mit den Worten »l’absence du sens commun« (142). Dieses Fehlen des gesunden Menschenverstandes, das hier auf die Staaten der Zeit Nodiers bezogen ist, bildet eine Klammer um die vier Erzählungen, da »Hurlubleu«, wie gesehen, damit beginnt, dass der Sultan Berniquet den »sens 60 [»Kaout’t’Chouk versichert, dass es nicht selten ist, dass man die Antwort auf einen Brief bekommt, den man noch gar nicht abgeschickt hat.«] 61 Vgl. dazu Weber (2012, S. 192), die verdeutlicht, welch enorme technische Weiterentwicklung und welche gewaltige Geschwindigkeitssteigerung die Schnellpressen, die ab 1810 in Verwendung sind, für den Druck bedeuten. 62 Vgl. dazu Häsner 2010, S. 166, wo hervorgehoben wird, dass Donis extrem gehäufte und systematische Verwendung von Metalepsen »innerhalb der Gattung des Dialogs […] beispiellos ist«. 63 [»Dafür genügt es, ihn bis auf die Polynesischen Inseln zu begleiten, wo er [Kaout’t’Chouk] in der Zeit angekommen ist, […] während der ich die obenstehenden Worte geschrieben habe.«] 64 Meyer-Minnemann 2006, S. 54. 65 Weitere Beispiele in »Voyage dans le Paraguay-Roux« finden sich etwa auf S. 125 (»Nous ne ferons pas une rel–che plus longue au cap de Bonne-Esp¦rance, o¾ Kaout’t’Chouk remarque fort spirituellement […].«) oder in enger Folge auf S. 123 (»Je le laisserai voguer […]«) und S. 124 (»Je ne peux pas me dispenser cependant de m’arrÞter un moment avec Kaout’t’Chouk sur le sommet du pic de T¦n¦riffe […]« ). In »L¦viathan le Long« könnte man unter anderem das folgende Beispiel anführen (83: »L’archikan poursuivant donc son discours o¾ nous l’avons laiss¦ […]«).

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commun« abspricht. Dies ist nicht nur als weiteres zyklisches Element wichtig, sondern vor allem da Nodier am Ende von »Voyage dans le Paraguay-Roux« die Erzählerrolle verlässt und nun als Autor in propria persona spricht. In essayistischer Form, wobei diese erneut die enge Verbindung zwischen dem Erzählzyklus und den vorhergehenden theoretischen Schriften betont, erläutert Nodier, dass es seinem Land in diesen Zeiten des intellektuellen und moralischen Niedergangs an Autoren mangele, wie sie früher mit Rabelais oder MoliÀre vorhanden waren. Frankreich fehle in extremer Weise ein ganz bestimmter Typus von Autor (138f.): »La post¦rit¦ aura sans doute beaucoup de choses — nous reprocher, […] mais ce qu’elle remarquera de plus caract¦ristique dans notre ¦poque, c’est l’absence presque totale du d¦riseur sens¦ qui a le bon esprit de se moquer des autres, et de protester par un m¦pris judicieux contre l’ignorance et la folie de ses contemporains.«66 Hier fällt der Begriff des »d¦riseur sens¦«, der später zur Benennung des Zyklus geführt hat.67 Zudem äußert Nodier hier und in der Folge ein engagiertes Literaturverständnis68 und fordert die Autoren seiner Zeit auf, sich in ihren Schriften gegen bedeutsame Fehlentwicklungen zu stellen. Dabei scheint klar, dass er auch sich selbst als einen »d¦riseur sens¦« im Blick hat, wobei er wohl vor allem gegen eine »folie de ses contemporains« anschreiben möchte, und zwar sowohl inhaltlich wie auch durch die Anwendung narrativer Strukturen, wie wir inzwischen vielfach gesehen haben, nämlich gegen undifferenzierte Hoffnungen in einen stetigen und linearen Fortschritt. Diese Rückkehr zum Anfang des Zyklus über den fehlenden »sens commun« kann dazu dienen, ein kurzes Resümee seiner Verfahren zu ziehen: Die Geschichten sind durch ständige überraschende und a-logische Wendungen gekennzeichnet, was zu einer »unpredictability« führt, die sich ebenso mit der 66 [»Die Nachwelt wird uns ohne Zweifel viele Dinge vorwerfen können, […] aber was sie als charakteristischsten Zug unserer Epoche bemerken wird, ist das fast vollkommene Fehlen des d¦riseur sens¦, der genug gesunden Menschenverstand hat, um sich über die anderen lustig zu machen und mittels kluger Verachtung gegen die Unwissenheit und die Verrücktheiten seiner Zeitgenossen zu protestieren.«] 67 Pierre-Georges Castex nahm diesen Terminus auf, um mit ihm die vier Erzählungen in seiner Ausgabe von Nodiers Contes unter einen Oberbegriff zusammenzufassen. Seitdem hat sich dieser Begriff fest eingebürgert, vgl. dazu auch die »Pr¦face« von Christine MarcandierColard (2001, S. 11, Anm. 1). 68 Dieses engagierte Literaturverständnis äußert sich nicht zuletzt darin, dass Nodier betont, die Aufgabe des Schriftstellers sei »plus qu’un m¦tier, c’est plus qu’un art, c’est un sacerdoce« (141) – damit ergibt sich eine große Ähnlichkeit zu den Überzeugungen von Mario Vargas Llosa, einem der wichtigsten gegenwärtigen Vertreter der engagierten Literatur, der in seiner programmatischen Schrift »La literatura es fuego« immer wieder hervorhebt, dass die »vocaciûn« eines Schriftstellers Verpflichtungen mit sich bringt, die weit über das gewöhnliche Maß hinausgehen (vgl. etwa Vargas Llosa 1986, S. 177: »esa vocaciûn […] reclama de sus adeptes una entrega total« [»diese Berufung […] verlangt von ihren Anhängern absolute Hingabe«]).

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Ästhetik des Bruchs verbinden lässt69 wie mit der Fortschrittskritik Nodiers: Dieser wendet sich damit gegen die Überzeugung, der Fortschritt sei prognostizierbar, wobei seine Auflösung jeglicher Logik und Ordnung70 natürlich auch der wissenschaftlichen Methode entgegengesetzt ist, die in den jeweiligen Geschichten stets evoziert, auf inhaltlicher Ebene karikiert und durch die Struktur des discours diskreditiert wird. Daher kann man Nodier auch als einen wesentlichen, wenn auch oft vergessenen Vorläufer der Moderne werten,71 der sich dem »versöhnenden Schein« linearen Erzählens verweigert und dem Leser bei der Lektüre keine »trügerische Gemütlichkeit« gestattet, was Wolfgang MüllerFunk als wesentliches Merkmal moderner Texte hervorgehoben hat.72 Dabei ist aber zu beachten, dass der Einsatz von Brüchen, der in der modernen Literatur zu einem wesentlichen ästhetischen Prinzip wird,73 bei Nodier weit mehr als eine rein ästhetische Entscheidung, sondern maßgeblich durch seinen Kampf gegen den Glauben an die Perfektibilität bedingt ist, wodurch man seine Texte in einen größeren Kontext einordnen kann, wie das folgende Kapitel zeigen soll.

Wider die lineare Linie des Fortschritts: Nodier und die »livres excentriques« Kehren wir dafür noch einmal zur ersten Geschichte des Zyklus und genauer zum Namen des Sultans zurück, der nicht zufällig gewählt ist: »Hurlubleu« leitet sich vom ungewöhnlichen Wort »hurluberlu« her, das sich in den Texten von 69 Vgl. dazu noch einmal das Konzept der Wiener Forschungsgruppe, die herausstellt, welche Aspekte für eine Beschäftigung mit den »broken narratives« wesentlich sind (Meyer / MüllerFunk / Wagner 2011, S. 7): »phenomena of non-coherence, unpredictability, frame-breaking and radical deviation«. 70 Zu dieser muss man auch die willkürliche Aufteilung der Geschichte auf vier contes zählen, die vor allem dazu dient, logische Zusammenhänge aufzulösen, vgl. dazu die Anmerkung von Marcandier-Colard in ihrer Ausgabe der Erzählungen (2001, S. 37f., Anm. 1): »ce morcellement de la di¦gÀse en plusieurs r¦cits participe ¦videmment de la volont¦ d’¦clatement du principe (narrato)logique.« 71 Dies ist generell der Standpunkt der Studie von Ochsner, die als weiteren gewichtigen Punkt anführt, dass Nodier die Materialität des Buches oft in den Vordergrund rückt (s. dazu Ochsner 1998, S. 124–181 und passim). 72 Müller-Funk 2002, S. 30. Dort kommentiert Müller-Funk auch: »Die Literatur der klassischen Moderne könnte man als jenes Korrektiv ansehen, das das Mißtrauen gegen die perspektivische Selbstverkürzung durch Linearität und gemütliche Distanznahme (im Akt des Erzählens und des narrativen Nachvollzuges) wachhält, ohne sie freilich je aufheben zu können.« 73 Vgl. Meyer / Müller-Funk / Wagner 2011, S. 12: »modern and avant-garde literature, theatre and film embrace rupture and turn it into an aesthetic principle […] This tradition of rupture as an aesthetic principle […]«.

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Nodiers Vorbild Rabelais findet und ein Synonym zu »excentrique« bildet,74 womit Nodier in einer Art Metakommentar seinen eigenen Schreibstil beschreibt. Zudem erlaubt diese Namensgebung den Brückenschlag zu einer seiner anderen Schriften, die diesen Schreibstil mit dem weiterer Autoren in Verbindung bringen kann. Nodier ist in dieser Zeit nämlich nicht der einzige, der ›exzentrisch‹ schreibt, er ist aber wohl der erste, der darüber theoretisch reflektiert: Er veröffentlicht im November 1835 den kleinen Text Bibliographie des fous, der mit dem Untertitel »De quelques livres excentriques« in zwei Lieferungen als Beilage des Bulletin du Bibliophile erscheint. Dieser Aufsatz entsteht somit im direkten zeitlichen Umfeld des »Cycle du d¦riseur sens¦«, und diese Verbindung erscheint umso enger, als Nodier auch in diesem Text den Mangel an gesundem Menschenverstand in seiner Epoche geißelt: »Il y avoit d’ailleurs dans l’antiquit¦ une puissance ¦minemment sociale qui maintenoit de siÀcle en siÀcle dans un constant ¦quilibre l’intelligence des peuples […] Cette puissance, tomb¦e en d¦su¦tude […] s’appeloit le sens commun.«75 Schon diese Nähe zu unseren Texten macht Nodiers Betrachtungen zu diesem Thema zu einer höchst interessanten Ergänzung unserer Überlegungen, und dies gilt besonders für die Definition des exzentrischen Schreibens, mit der er seinen Aufsatz einleitet: »J’entends ici par un livre excentrique un livre qui est fait hors de toutes les rÀgles communes de la composition et du style, et dont il est impossible ou trÀs difficile de deviner le but, quand il est arriv¦ par hasard que l’auteur e˜t un but en l’¦crivant.«76 Eben dieses Schreiben »hors de toutes les rÀgles« wurde für den Schweizer Literaturwissenschaftler Daniel Sangsue zum Ausgangspunkt seiner Studie Le R¦cit excentrique, in der er unter Rückgriff auf Nodiers Definition vier französische Autoren des 19. Jahrhunderts in den Blick nimmt, und zwar neben Nodier de Maistre, Nerval und Gautier.77 Diese vier durchbrechen die gängigen narrativen Konventionen ihrer Zeit, was wir an Nodiers Zyklus bereits exemplarisch sehen konnten,78 etwa anhand der Karikierung der epischen Grundsituation des 74 Vgl. dazu auch den Kommentar von Christine Marcandier-Colard in der ersten Anmerkung ihrer Ausgabe des »cycle du d¦riseur sens¦«: Nodier 2001, S. 27. 75 Nodier 1835, S. 21 (Kursivierung im Original). [»In der Antike gab es übrigens eine in hohem Maß soziale Macht, die die Intelligenz der Völker über Jahrhunderte in einem konstanten Geleichgewicht hielt. […] Diese Macht, die heute außer Gebrauch gekommen ist, […] hieß gesunder Menschenverstand.«] 76 Nodier 1835, S. 19 (Kursivierung im Original). [»Ich verstehe hier unter einem ›livre excentrique‹ ein Buch, das jenseits aller gängigen Kompositions- und Stilregeln verfasst wurde, und bei dem es unmöglich oder sehr schwer ist, sein Ziel zu erraten, wenn der Autor überhaupt zufälligerweise ein Ziel hatte, als er es schrieb.«] 77 Daniel Sangsue, Le r¦cit excentrique: Gautier, de Maistre, Nerval, Nodier, Paris 1987. 78 Sangsue behandelt den »cycle du d¦riseur sens¦« praktisch nicht und konzentriert sich im Teil zu Nodier auf Moi-mÞme und Histoire du Roi de BohÞme; unser Zyklus fügt sich aber als weiteres Beispiel gut in seine Thesen ein und kann sie ergänzen.

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Erzählens oder anhand der Brüche im Erzählvorgang. Gerade dieses Phänomen des Bruches hebt auch Sangsue als ein wesentliches Kennzeichen des »r¦cit excentrique« hervor, von dem er als »ce r¦cit en rupture et qui pratique la discontinuit¦« spricht.79 Die Hochzeit dieser Form wird von Sangsue auf das Jahrzehnt von 1830 bis 1840, mit einer besonderen Häufung von Texten in den Jahren 1830 bis 1834, datiert.80 Mithin ist der Großteil dieser Werke mit einem politisch-sozialen Bruch verbunden, nämlich der Juli-Revolution und dem folgenden Regime des Bürgerkönigs, das in vielen Bereichen Umwälzungen bringt, und dies gilt natürlich genauso für den ersten Text von Sangsues Korpus, de Maistres Voyage autour de ma chambre, der kurz nach der Revolution von 1789 verfasst wurde. Man findet sich also wiederum vor fiktionalen Werken, die durch interne »ruptures« gekennzeichnet und in Zeiten äußerer Umbrüche entstanden sind. Dies lässt die »r¦cits excentriques« als gute Beispiele für die in diesem Band verhandelten »broken narratives« erscheinen, wobei ich innerhalb dieser Textgruppe, analog wie ich es bisher für Nodier unternommen habe, eine Sonderform herausstreichen will. Während Sangsue in diesen Texten in erster Linie »une contestation du romanesque«81 erkennt und ihnen vor allem innerliterarische Ziele zuordnet, möchte ich seine glänzende Studie darum ergänzen, dass sich einige der »r¦cits excentriques« explizit gegen den Fortschrittsenthusiasmus wenden und damit auch ein außerliterarisches Ziel verfolgen. Dies haben wir bereits am Zyklus des »d¦riseur sens¦« gesehen, der genau in die vom Sangsue beschriebene Hochzeit des exzentrischen Schreibens fällt, während der Nodier zudem mit seinem gerade angesprochenen Artikel auch das »pendant th¦orique« dieser Texte liefert.82 Eine entsprechende Wendung gegen den Fortschrittsglauben bei anderen Autoren dieser Richtung kann man mit 79 Sangsue 1987, S. 56. Als eines der Verfahren, derartige »ruptures« zu erreichen, beschreibt Sangsue in der Folge die ständigen Unterbrechungen einer Erzählung durch Erzähler oder Zuhörer, wie wir sie in unseren Texten exemplarisch sehen konnten. 80 Vgl. Sangsue 1987, S. 27: »[D]ans la premiÀre moiti¦ du dix-neuviÀme siÀcle, un grand nombre de textes appellent l’attention par ce qu’on nommera, en attendant de la mieux d¦finir, leur excentricit¦; [… ces textes] se distribuent sur une plage temporelle remarquablement homogÀne: 1830 — 1840, avec une densit¦ exceptionnelle de 1830 — 1834 […].« (Kursivierung im Original) [»In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts macht eine große Zahl von Texten durch etwas auf sich aufmerksam, das man, bis man einen besseren Terminus findet, als ihre Exzentrizität bezeichnen könnte; [… diese Texte] verteilen sich auf einen bemerkenswert homogenen Zeitraum: 1830 bis 1840, mit einer besonderen Häufung von 1830 bis 1834.«] Vgl. auch S. 28: »De fait, l’excentricit¦ marque la litt¦rature des ann¦es 1830–1840 […].« [»Exzentrizität prägt in der Tat die Literatur der Jahre 1830–1840.«] 81 Sangsue 1987, S. 9. 82 Vgl. Sangsue 1987, S. 44: »La ›Bibliographie des fous‹ para„t en 1835, c’est-—-dire au plus fort des manifestations excentriques […]: cette contemporan¦it¦ fait de la d¦finition de Nodier le pendant th¦orique de ces textes.« (Kursivierung im Original). [»Die ›Bibliographie des fous‹ erscheint 1835, also auf dem Höhepunkt der exzentrischen Texte […]: Diese Gleichzeitigkeit macht die Definition von Nodier zum theoretischen Pendant dieser Texte.«]

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einer »exzentrischen« Linie in Verbindung bringen, die für die Schriftsteller des »r¦cit excentrique« höchste Bedeutung aufweist: der Zickzacklinie. Für diese ist Tristram Shandy das wesentliche Vorbild, wo der Korporal Trim mit seinem Stock eine Luftlinie zeichnet, die Sterne graphisch in seinen Roman einfügt und die im 19. Jahrhundert von französischen Autoren begierig aufgegriffen wird.83 Die bereits erörterte Bedeutung Sternes für Nodier wird in unserer Textserie noch dadurch unterstrichen, dass Nodier bei seiner Klage, seiner Zeit fehle ein »d¦riseur sens¦«, als eines der Vorbilder für diesen Autortypus Sterne nennt.84 Nun ist es meine These, dass sich manche Autoren dieser Zickzacklinie in einer ähnlichen Absicht bedienen, wie sie Nodiers Zyklus zugrunde liegt: Ihre Bevorzugung der Zickzacklinie lässt sich auch als impliziter Protest gegen die Idee eines scheinbar linearen Fortschritts deuten, wie ihn die Perfektibilitätsenthusiasten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeichnen. Dies soll an Gautier und einer seiner Schriften genauer nachvollzogen werden,85 wobei wiederum ein eher unbekannter und von Sangsue kaum besprochener Text gewählt wird, um die Thesen des Schweizers zu ergänzen. Wie Rodolphe Toepffer, der 1836 und 1838 seine zwei Voyages en zigzag vorlegt,86 führt Gautier die Zickzacklinie sogar zu Titelehren, indem er 1852 ein Buch Caprices et Zigzags nennt.87 In diesem Band ist ein essayistischer Text enthalten, der »Paris futur«88 übertitelt ist und sich in eine thematische Linie einschreibt, die im Frankreich des 19. Jahrhunderts sehr stark ist und auf den Erfolg von Merciers L’An 2440 zurückzuführen ist: Die Beschreibung von Paris in der Zukunft erlebt im 19. Jahrhundert eine ungeheure Konjunktur.89 Dabei setzt sich 83 Vgl. dazu Sangsue 1987, S. 22f. (mit Abbildungen der Linie bei Sterne und Balzac) und 24: »L’intertexte sternien travaille la litt¦rature de la premiÀre moiti¦ du dix-neuviÀme siÀcle.« 84 Nodier 2001 (»Voyage dans le Paraguay-Roux«), S. 137: »Voyez Cervantes, voyez Butler, voyez Swift, voyez Sterne […].« 85 Nodier übt übrigens großen Einfluss auf Gautier aus (vgl. Ochsner 1998, S. 7), und wie sein Vorbild zeigt Gautier auch ein theoretisches Interesse an »exzentrischen« Schriften, denen er in seiner Serie der Grotesques die Reverenz erweist. 86 Da Toepffer bekanntermaßen ein Pionier des Comics ist, kann man hier auch darauf verweisen, dass diese Kunstform in ihrer frühen Phase durch eine enge Beziehung zu der durch Sterne und andere populär gemachten Zickzacklinie geprägt ist, worauf mich Thierry Smolderen freundlicherweise hingewiesen hat. 87 1845 war bereits eine erste Version unter dem Titel Zigzags erschienen, was Gautiers Interesse an der Zickzacklinie prominent unterstreicht (die auch durch die Textserie »Pochades, zigzags et paradoxes« betont wird, die sich in der Sammlung befindet). Für unseren Zusammenhang ist die erweiterte Ausgabe der Caprices et Zigzags wichtig, da in dieser »Paris futur« enthalten ist. 88 Der Text war erstmals am 20. und 21. Dezember 1851 in zwei Teilen in der Zeitung Le Pays erschienen und mithin nur knapp drei Wochen nach dem Staatsstreich Napol¦ons III, dessen schon damals greifbare Pläne zu einer Umgestaltung von Paris wohl ein Auslöser für diese Zukunftsvisionen waren. 89 Vgl. dazu Hausmann 2007, S. 327.

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Gautiers Text, der als eines der gelungensten Beispiele dieser Kleingattung gelten kann, in bemerkenswerter Weise von Mercier ab: Sein Zukunftsparis ist zwar positiv, aber nur weil es so ist wie längst vergangene Städte, allen voran Babylon und Ninive – seine Zukunft verweist also auf die Vergangenheit, was die Zickzacklinie verdeutlicht, die für diese Autoren so wichtig ist. Dass das Neue so sein wird wie das Alte, kann man auch als Paradox sehen, zumal »le paradoxe constitu[e] une figure essentielle de la rh¦torique du recueil de Gautier«.90 Dies findet seine Bestätigung insbesondere in »Paris futur«, wo die Figur des Paradox sogar explizit thematisiert wird: »le paradoxe, fruit vert qui, m˜ri par le temps, devient une v¦rit¦ […]«.91 Dies kann man gut mit den paradoxalen Erzählverfahren verbinden, die wir bei Nodier bereits kennengelernt haben und die sich auch in den Werken der anderen Autoren, die den »r¦cit excentrique« kultivieren, als strukturbildendes Merkmal erweisen. Vor allem aber lässt sich diese Haltung, die Vergangenheit als Vorbild für die Zukunft zu betrachten, wie bei Nodier mit der fortschrittskritischen Einstellung des Autors verbinden, die in »Paris futur« eine besonders deutliche Ausprägung erhält: »sous pr¦texte de progrÀs, voil— tantút quatre ou cinq mille ans que nous reculons.«92 Damit verweist diese kleine Schrift Gautiers in vielerlei Hinsicht auf sein Vorwort zu Mademoiselle de Maupin, in dem er mit der Idee des Fortschritts und der Perfektibilität in scharfer Form abrechnet und die Meinung vertritt, man müsse »rayer — tout jamais de nos dictionnaires le mot perfectibilit¦«.93 Man könnte noch viele weitere Beispiele anführen, wobei das prominenteste wohl dieser Ausruf bildet: »Mon Dieu! que c’est une sotte chose que cette pr¦tendue perfectibilit¦ du genre humain dont on nous rebat les oreilles!«94 Damit liegt Gautier ganz auf einer Linie mit Nodier und streicht zudem heraus, wie penetrant der Gedanke der Perfektionierungsfähigkeit von Zeitgenossen vertreten wurde. Man sollte in diesem Zusammenhang daran erinnern, dass die »Pr¦face« auf 1834 datiert ist und damit genau in die Zeit fällt, in der Nodier seine scharfe Fortschrittskritik im »Cycle du d¦riseur sens¦« formuliert. Die 1830er Jahre erweisen sich somit nicht nur als eine Hochzeit des »r¦cit excentrique«, sondern zugleich als ein Jahrzehnt, in dem sich einige namhafte französische Autoren entschieden gegen den Fortschrittsenthusiasmus ihrer Landsleute stellen.95 90 Sangsue 1987, S. 290. 91 Gautier 1852, S. 308. [»das Paradox, eine unreife Frucht, die, durch die Zeit gereift, eine Wahrheit wird […].«] 92 Gautier 1852, S. 314. [»Unter dem vorgeblichen Fortschritt bewegen wir uns nun schon seit vier- oder fünftausend Jahre rückwärts.«] 93 Gautier 1966, S. 48 (Kursivierung im Original). 94 Gautier 1966, S. 47. [»Mein Gott, was ist diese angebliche Perfektibilität des menschlichen Geschlechts für ein dummes Geschwätz, mit dem man uns permanent in den Ohren liegt!«] 95 Dabei ist es wohl kein Zufall, dass diese Texte vor allem nach der Revolution von 1830 auftreten, da deren Ausgang nicht zu den erhofften Verbesserungen führte und das folgende

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Dazu nutzen Schriftsteller wie Gautier und Nodier auf Inhalts- wie Ausdrucksebene »exzentrische« Elemente, die man mittels einer Zickzacklinie veranschaulichen könnte, wobei dieses Bild zugleich ihre Wendung gegen Vorstellungen eines linearen Fortschritts verkörpert. Letztlich kann man noch anfügen, dass es angesichts von Gautiers Gegnerschaft zur Perfektibilität und mehr noch im Lichte der an »Paris futur« deutlich gewordenen Ansicht, die Antike als einen Höhepunkt zu betrachten, gegen den die Gegenwart lächerlich erscheint, keine Überraschung ist, dass er sich mit Vehemenz gegen die Überzeugung Saint-Simons von einem in der Zukunft liegenden »–ge d’or« wendet.96 Dies führt uns zurück zu Nodier, der in einem seiner oben erwähnten Artikel gegen die Perfektibilität ganz wörtlich auf das berühmte Diktum Saint-Simons Bezug nimmt: »Saint-Simon a dit textuellement: ›L’–ge d’or n’est pas derriÀre nous, il est devant.‹ C’est l— qu’il s’est tromp¦. L’–ge d’or n’est ni devant ni derriÀre la soci¦t¦ actuelle: il est dans le domaine imaginaire des vaines ambitions de l’homme.«97

Anstelle eines Fazits: Bruchloses Schreiben über Brüche im Erzählen? Das letzte Zitat des vorangehenden Abschnitts bezieht sich explizit auf dasjenige, mit dem ich mein erstes Kapitel beschlossen habe, und mit dieser Rückkehr zu Saint-Simon habe ich versucht, zu meinem Ausgangspunkt zurückzukommen, was auch ein Spiegel dafür sein soll, dass ich mich generell bemüht habe, von einem Punkt der Analyse möglichst organisch zum nächsten überzuleiten, um eine bruchlose Argumentation zu erreichen – ob mir dies gelungen ist, bleibt freilich dem Urteil des Lesers überlassen. Ich möchte diese Zielsetzung nun aber an sich betrachten und mit einer letzten Überlegung verbinden, die ich dem Konzeptpapier der Forschergruppe zu den »broken narratives« verdanke, Regime des Bürgerkönigs vielmehr viele Zeitgenossen arg enttäuschte, worin man wohl eine erste Erschütterung des Glaubens an einen bruchlosen linearen Fortschritt, zumindest im Bereich der Politik wie der Moral, erkennen kann. Dies sieht man auch am Vorwort Gautiers zu Mademoiselle de Maupin, das schon auf der ersten Seite bewusst einen Bezug zur JuliRevolution herstellt (1966, S. 25): »Je me souviens des quolibets lanc¦s avant la r¦volution (c’est de celle de juillet que je parle) […].« 96 Generell wird der Kult des Utilitarismus, für den Saint-Simon und seine Anhänger in dieser Zeit in besonderem Maße stehen, bekanntermaßen im gesamten Vorwort zu Mademoiselle de Maupin der Lächerlichkeit preisgegeben. 97 Nodier 1998 (»De la perfectibilit¦ de l’homme«), S. 250. [»Saint-Simon hat wörtlich gesagt: ›Das Goldene Zeitalter liegt nicht hinter, sondern vor uns.‹ Da hat er sich getäuscht. Das Goldene Zeitalter liegt weder vor noch hinter der aktuellen Gesellschaft: es gehört zum imaginären Bereich der eitlen Hoffnungen des Menschen.«]

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denn dort wird hervorgehoben, dass »it is also essential that we reflect on a metatheoretical level on the narratives we are producing ourselves. These narratives concern rupture, but too often they will talk about it in a coherent way, thus glossing over the very phenomenon they want to describe.«98 Damit wird nicht nur meine Zielsetzung in Frage gestellt, vielmehr werden zugleich weitreichende und sehr bedenkenswerte Fragen aufgeworfen: Kann man seinem Gegenstand überhaupt gerecht werden, wenn man in einem bruchlosen Text über Brüche (wie hier über diejenigen, die Nodier in seinen Werken ausstellt) reflektiert? Ist es sinnvoll, linear über etwas zu schreiben, das sich dieser Linearität bewusst verweigert, also eine Methode anzuwenden, die dem behandelten Gegenstand diametral entgegensteht?99 Sollte man nicht darauf verzichten, vorgebliche Kohärenz anzustreben, wenn man sich mit Texten beschäftigt, die Kohärenz explizit vermeiden?100 Kurzum: Wäre es nicht sinnvoll, wissenschaftliche Beiträge über »broken narratives« auch einmal eher unvermittelt zu unterbrechen bzw. abzubre…

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Un-/endliche Geheimnisse. Die kulturellen Adaptionen von Sues Les Mystères de Paris

Der Feuilletonroman Les MystÀres de Paris von EugÀne Sue erschien vom 19. Juni 1842 bis zum 15. Oktober 1843 im Journal des D¦bats, einem Meinungsblatt im gehobenen Preissegment. Mit »Mysterienwut«1 beschreibt ein Zeitgenosse die Wirkung, die der Feuilletonroman zunächst bei seinen Leserinnen und Lesern in Paris auslöste, eine ›Wut‹, die sich anschließend mittels unzähliger Übersetzungen und Adaptionen in ganz Europa bis nach Übersee ausbreitete.2 Die Gebrüder Grimm umschreiben ›Wut‹ mit »heftige seelisch-leibliche erregung und ihre äuszerungen«3. Diese Erregung spiegelt sich in zahlreichen Berichten und Anekdoten, die sich um die Mysterien ranken: lange Schlangen hätten sich bei neuen Folgen vor dem Ausgabebüro der Zeitung gebildet, und bei Erscheinen der Buchausgabe sei es gar zu Schlägereien in den Buchhandlungen gekommen.4 Die Gebrüder Grimm verweisen auch auf die lateinische Herkunft von ›Wut‹, nämlich va¯te¯s, was »weissager, seher«5 bedeutet. Auch diese Konnotation findet sich in den Reaktionen auf Les MystÀres de Paris, in denen Sues kritischer Blick auf die Gesellschaft gewürdigt wird. George Hesekiel begründet den ›Hype‹ (und ganz nebenbei auch seine Adaption Die Geheimnisse von Altenburg von 1845) damit, dass es »die Wahrheit, die entsetzliche Wahrheit, die den Leser auf jeder Blattseite angrinst«6 gewesen sei, die die »mysterymania«7 – eine andere zeitgenössische Zuschreibung – ausgelöst habe. Les MystÀres de Paris war also in aller Munde und wurde »d a s europäische 1 George Hesekiel: Die Bastardbrüder oder Geheimnisse von Altenburg. Aus dem Nachlaß eines Kriminalbeamten, Altenburg 1845. Zitiert nach Edler 1977, S. 93. 2 Bereits vor Beendigung des Romans wurden italienische, russische und holländische Übersetzungen vertrieben. Vgl. Eco 1976, S. 47. Die Nachfrage war so groß, dass allein in England ab 1844 sechs englische Fassungen erhältlich waren. Vgl. Chevasco 2008, S. 137. 3 [Art.] wut. In: Grimm / Grimm 1854–1960 , Bd. 30, Spalte 2475. 4 Vgl. Bachleitner 1993, S. 89f. 5 [Art.] wut. In: Grimm / Grimm 1854–1960, Bd. 30, Spalte 2475. 6 Hesekiel (1845). Zitiert nach Edler 1977, S. 94. 7 Alfred Crowquill: »Outline of Mysteries«, in: Bentley’s Miscellany, 17. Mai 1845, S. 529. Zitiert nach Chevasco 2008, S. 137.

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Buch«8. Was aber rezipierten diejenigen, die der ›mysterymania‹ verfallen waren? Handelte es sich um ein fast globales Phänomen, wie der Begriff impliziert, eine ähnliche Rezeptionserfahrung, wie sie weltweit mit Bonanza auf der »global Ponderosa«9 gemacht wurde? Lasen alle einen Text? Und wie sind die unzähligen Adaptionen zu bewerten? Bewegten sich die Leserinnen und Leser in einer storyworld, um einen aktuellen Begriff aufzugreifen, oder zumindest in einer Mythologie, wenn sie in lokalisierten Fassungen wie Die Geheimnisse von Wien (1844), Die Mysterien von Berlin (1844/45), Geheimnisse von Russland (1844), Die Mysterien von Brüssel (1846) oder The Mysteries and Miseries of New Orleans (1851) schmökerten? Um diese Fragen zu beantworten, wird zunächst eine kurze Definition des Feuilletonromans gegeben sowie der historische und medientechnische Rahmen skizziert, in welchem er entstanden ist. Die anschließende Analyse folgt der These, dass es sich bei Les MystÀres de Paris einerseits um ein ausuferndes Textkonvolut handelt, das über die Struktur des Geheimnisses als Narrationsprinzip die zahlreichen und sehr unterschiedlichen lokalisierten Fassungen unter dem Dach der ›mysterymania‹ subsumieren kann. Andererseits sind in der Fiktion, aber auch im formalen Aufbau des Textes und in seiner Präsentation in der Zeitung Leerstellen und Brüche eingearbeitet, die sich bis in die Adaptionen verfolgen lassen. Auf der narrativen Ebene bieten die als innovativ rezipierten Geheimnisse zahlreiche Anschlussmöglichkeiten zu anderen populären Stoffen und integrieren schon bekannte Motive und Figuren in die Erzählung, wie eine Untersuchung der Genres zeigen wird. Auf der medialen Ebene lässt sich die enge Verzahnung von Text und Produktions- und Distributionsmedien beobachten.

Kurze Definition des Feuilletonromans In der Forschungsliteratur wird der Fortsetzungsroman in der Zeitung je nach Fokus unterschiedlich benannt, zum Beispiel werden Sues Geheimnisse unter inhaltlichen Aspekten auch als Sozialroman oder Abenteuerroman bezeichnet. Letztlich hat sich der Terminus Feuilletonroman als allgemeine Bezeichnung durchgesetzt.10 Häufig wird davon ausgegangen, dass die Texte eine eigene literarische Sub-Gattung bilden, eigens für die Publikation in der Zeitung konzipiert wurden und der Trivialliteratur zuzurechnen seien. Damit ist auch die Auffassung verbunden, dass es einen ›typischen‹ Feuilletonroman mit festste8 Edler 1932, S. 9 (Herv. i. O.). 9 Horowitz 1978, S. 122. 10 Vgl. Weber 2012, S. 200.

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henden Merkmalen gebe. Dieser essentialistischen Sichtweise entsprechen allerdings nur wenige Romane in der Zeitung.11 Wenn dagegen die Präsentationsform fokussiert wird, ist jeder fiktionale Text, der über mehrere Folgen in der Zeitung abgedruckt wird, ein Feuilletonroman. Diese weite Definition macht allerdings eine Abgrenzung zu anderen fiktionalen Texten in der Zeitung problematisch.12 Daher schlägt Neuschäfer, auch aus forschungspragmatischen Gründen, ein quantitatives Mindestmaß von 20 Folgen vor: denn Texte mit diesem Umfang lassen sich aufgrund ihrer Länge von der Novelle abgrenzen.13 Damit wurde eine konsensfähige, ausreichend weite, aber dennoch anwendbare, nicht essentialistische Definition gefunden.14

Historische und medientechnische Rahmensetzung Um 1600 beginnt in Europa die periodische Presse, die zunächst sehr unregelmäßig sowohl bezüglich der Zeitabstände als auch der Beständigkeit der Zeitungen publiziert wurde.15 Als eine der ersten regelmäßig erscheinenden Zeitungen in Frankreich gilt die ab 1631 aufgelegte und mit königlichen Privilegien ausgestattete Gazette.16 Exponentiell ansteigender Informationsbedarf in politischen Krisen, wie etwa dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) oder der Französischen Revolution, führte zu einer stetigen Zunahme von zeitlicher wie auch herausgeberischer Kontinuität.17 Aufgrund eines neuen, liberalen Pressegesetzes im Jahr 1828 und der Abschaffung der Zensur in der Julimonarchie von 1830–1848 kam es in den Folgejahren zu einem regelrechten Aufschwung des Zeitungswesens.18 Noch eine dritte Komponente, neben steigendem Informationsbedarf und zunehmender Pressefreiheit, trug zu einem bis dato neuen Konzept von Tagespresse bei – nämlich die Weiterentwicklungen im Druckwesen. Zu diesen technologischen Verbesserungen zählten vor allem die Einführung einer schnellen mechanischen Druckerpresse, die Entwicklung von Stereotypen sowie die Optimierung von Tinte und Papier, die zusammen erst den Druck im großen 11 12 13 14 15

Vgl. Bachleitner 2012, S. 8f. Vgl. ebd., S. 10f. Vgl. Neuschäfer 1986, S. 11. Vgl. exemplarisch Bachleitner 2012, S. 11. Vgl. die verschiedenen Beiträge zur Entwicklung der Tagespresse in Europa in dem Sammelband von Welke / Wilke 2008. 16 Vgl. Wilke 2000, S. 66. 17 Vgl. Weber 2012, S. 191f. 18 Vgl. Bachleitner 2012, S. 22. In London kann bereits ab 1702 von einer Tagespresse gesprochen werden. Vgl. Winkler 2008, S. 139f.

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Umfang gestatteten.19 Am 1. Juli 1836 erschienen gleich zwei Blätter, Le SiÀcle und La Presse, die auf der vierten und letzten Seite ausschließlich Werbung und Anzeigen druckten und daher in der Lage waren, den jährlichen Abonnementpreis von den üblichen 80 Francs um die Hälfte auf 40 Francs zu senken. Die Halbierung des Abonnementpreises führt in nur zwei Jahrzehnten zu einer Verdoppelung der Auflagenstärke. Daher bezeichnet Judith Lyon-Caen die Neueinführung der beiden Zeitungen als die erste »rupture de 1836« auf dem Weg zum »triomphe du journal«.20 Roger Hagedorn untersucht die Entwicklung und kommerzielle Ausbeutung neu entstehender Technologien und stellt eine wichtige Rolle der Fortsetzungsserie in diesem Prozess fest: »It is my contention that the primary role of the serial is, in effect, to develop the commercial exploitation of a specific medium.«21 Dies lässt sich auch bei der Konsolidierung der Tagespresse als Massenmedium beobachten. Denn beide Zeitungen platzierten als weitere Innovation einen Feuilletonroman auf der ersten und zweiten Seite, der durch einen Strich, den sogenannten rez-de-chauss¦e, von den übrigen Nachrichten abgetrennt war und ungefähr ein Sechstel des Zeitungsumfangs einnahm.22 Mit dieser Strategie sollte eine ständig wachsende Leserschaft, darunter vor allem die Leserinnen, mit Lesestoff über die Nachrichten hinaus angesprochen werden: »which was particularly important in cultivating female readership, which had been trained, not to express an interest in politics«23. Fiktion wurde schon im 18. Jahrhundert zunächst in Form von Anekdoten oder kleinen Fabeln in den Zeitungen abgedruckt, jedoch nahm der Umfang stetig zu.24 Schließlich wurden bereits publizierte Romane in ›täglichen Häppchen‹ nachgedruckt, aber bereits ab Oktober 1836 wurde La vieille fille von Honor¦ de Balzac exklusiv in La Presse veröffentlicht. Daher stellt die Einführung des Feuilletonromans zwar eine fundamentale Innovation dar, die jedoch nicht plötzlich, sozusagen »brutalement«25, in den Zeitungen erscheint, sondern eine progressive Entwicklung aufweist.26 19 Zum Vergleich: Die Gutenberg-Presse druckte ca. 150 Seiten pro Stunde, eine Druckerpresse um 1846 schaffte bereits 8000 Seite pro Stunde. Vgl. Hagedorn 1988, S. 6. Für detaillierte Ausführungen zur Drucktechnologie im 19. Jahrhundert vgl. Feyel 2011, S. 97–140. 20 Beide Zitate: Lyon-Caen 2011, S. 29. 21 Ebd., S. 5. 22 Vgl. Walter 1986, S. 29ff. 23 Hagedorn 1988, S. 6f. 24 Vgl. Th¦renty 2007, S. 125f. und Bachleitner 1999, S. 25ff. Die ersten Feuilletonromane in England wurden bereits 1712 in der zweimal wöchentlich erscheinenden The British Mercury publiziert, wie etwa der anonym erschienene Schelmenroman The Rover (1714) in zwölf Kapiteln. Vgl. ebd., S. 56. 25 Th¦renty 2007, S. 125. 26 Vgl. ebd., S. 126.

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Dieses Konzept der (fast) täglich wiederkehrenden Fiktion setzte sich sehr schnell in der gesamten Tagespresse in Frankreich durch27 und trägt entscheidend zu ihrem Erfolg bei.28 Tagespresse meint in diesem Fall, dass die Zeitung zwar täglich erschien, die Leser sie aber nicht täglich erwerben konnten, sondern der Bezug über ein Jahresabonnement geregelt wurde. Bereits kurz nach seiner Konsolidierung lässt sich beobachten, wie der Feuilletonroman gezielt als kommerzielle Strategie eingesetzt wurde, um ein r¦abonnement am Ende des Jahres zu ›erzwingen‹: So pausierte beispielsweise der erfolgreiche Roman Le Comte de Monte-Cristo von Alexandre Dumas kurz vor Beendigung am 29. 11. 1845, und die gespannten Leser mussten erst ihr Jahresabonnement erneuern, um dann über die Weihnachtsfeiertage in den letzten acht Kapiteln die Generalabrechnung des Grafen genießen zu können.29 Der Feuilletonroman wurde aber nicht nur zur Kundenbindung eingesetzt, sondern auch um neue, zusätzliche Abonnenten zu gewinnen. Um seine Auflage zu steigern, schloss Le Constitutionnel einen Exklusivvertrag mit dem ›Starautor‹ EugÀne Sue für seinen Nachfolgeroman Le Juif Errant ab. Zudem versprach die Zeitung ihren Lesern eine Abdruckgarantie von vier bis fünf Kapiteln pro Woche sowie bei späterem Einstieg in das Jahresabonnement Gratisabdrucke der bereits erschienenen Folgen. In nur einem Dreivierteljahr konnte die Auflage von 3.428 Exemplaren im März 1844 auf 22.130 Ausgaben gesteigert werden.30 Die Bedeutung des Feuilletonromans für die Zeitungen lässt sich auch an den gezahlten Honoraren ablesen. So zahlte das Journal des D¦bats sowohl Alexandre Dumas für den Comte de Monte-Cristo als auch Sue für Les MystÀres de Paris die damals exorbitante Summe von je 30.000 Francs. Nach dem Erfolg der Geheimnisse war Sues Marktwert noch weiter gestiegen, so dass dem Herausgeber des Constitutionnel der Exklusivertrag sogar 100.000 Francs im Voraus wert war.31 Allerdings muss festgehalten werden, dass trotz aller Erfolge des Feuilletonromans das Hauptaugenmerk auf der politischen Berichterstattung lag, weshalb die Pariser Tageszeitungen bis 1860 auch als Meinungspresse bezeichnet werden.32 Wie die oben genannten Auflagezahlen zeigen, kann man gemessen an heutigen Standards nicht von einem Massenphänomen sprechen. Allerdings besagt die Auflagenstärke erst einmal nichts über die tatsächliche Leserschaft. Viele 27 Von den insgesamt 22 französischen Zeitungen, die Neuschäfer et al. im Stichjahr 1844 untersuchen, verzichteten lediglich zwei Zeitungen auf den Feuilletonroman. Vgl. Walter 1986, S. 26. 28 Vgl. Lyon-Caen 2011, S. 39. 29 Vgl. ebd., S. 37ff. 30 Walter spekuliert vorsichtig, der Feuilletonroman habe ca. 12.000 bis 14.000 neue Abonnenten binden können, während die restliche Auflagensteigerung der Neustrukturierung der Zeitung geschuldet sei. Vgl. ebd., S. 38ff., S. 83. 31 Vgl. Bachleitner 2012, S. 23. 32 Vgl. Walter 1986, S. 33.

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Caf¦s und Bistros hatten mehrere Zeitungen abonniert und ausgelegt. Zusätzlich konnte man die Tagespresse in sogenannten cabinets de lecture gegen ein Eintrittsgeld von 10 bis 20 Centimes für eine halbe Stunde in Augenschein nehmen. Diese sekundären Rezeptionskanäle waren für das Kleinbürgertum, das sich ein Jahresabonnement in der Höhe von ca. 3 % des Jahreseinkommens eines durchschnittlichen Handwerkers nicht leisten konnte, häufig die einzige Möglichkeit, am politischen Tagesgeschehen teilzunehmen.33 Zudem verhinderte der formale Aufbau der Zeitungen mit dem sehr klein gedruckten Schriftbild und den wenigen Absätzen eine rasche Informationsaufnahme. Die Tagespresse schien »nur für ein Publikum mit politischer Bildung und vor allem viel Freizeit«34 konzipiert worden zu sein und war als Feierabendlektüre schlichtweg unbrauchbar. Die zweite Zäsur in der Entwicklung des Zeitungswesens in Paris datiert Lyon-Caen auf 1863.35 Durch Reorganisation des Vertriebs und des Inhalts wurde die Tagespresse ab Mitte der 1860er Jahre für ein Massenpublikum attraktiv. Zeitungen wie La Petite Presse verkleinerten, wie die Titel impliziert, ihr Format und konnten daher ihren Preis für das Jahresabonnement auf nur 18 Francs senken. Außerdem konnte diese ›Billigpresse‹ wirklich täglich, ohne Abonnentenverpflichtung, für 5 Centimes (also einen Sou, daher auch ›presse — un sou‹) erworben werden. Dieser ›Dumpingpreis‹ konnte nur durch Umgehung der gesetzlichen Zeitungsbesteuerung kalkuliert werden, die auf Politik und Werbung in der Zeitung erhoben wurde. Daher zeichnete sich die Billigpresse durch unpolitische Sensationsberichterstattung mit »horribles d¦tails« über »Mord, Selbstmord, Totschlag, Mißhandlungen, Vergewaltigungen, Unfälle und Katastrophen«36 aus. Format und Inhalt präsentierten sich griffiger als die in jeder Hinsicht sperrigen Zeitungen der Meinungspresse und erschlossen sich mit dieser Aufmachung das Kleinbürgertum als Massenpublikum. Die Zahlen belegen, dass bereits 1867 Le Petit Journal mit einer Auflagenstärke von 240.000 Exemplaren eine breitere Leserschaft erreichte als das gesamte Konvolut der Presse zuvor.37 Insgesamt verfünffacht sich zwischen 1845 und 1870 die Auflagenstärke der Zeitungen in Paris und erreicht damit Millionenhöhe, der Anteil der »presse — un sou« am Siegeszug der Zeitung beträgt 600.000 Exemplare.38 Spätestens ab diesem Zeitpunkt hat sich die Zeitung in der Pariser Gesellschaft als Massenmedium etabliert. 33 Vgl. Weber 2012, S. 198. 34 Walter 1986, S. 34. Ähnlich wie ein Programmplatz weist das rez-de-chauss¦e dem Feuilletonroman einen festen und damit leicht zu findenden Platz im unübersichtlichen Layout zu. 35 Vgl. Lyon-Caen 2011, S. 29. 36 Beide Zitate ebd., S. 53, letzteres (Herv. i. O.). 37 Vgl. ebd., S. 52. 38 Vgl. Lyon-Caen 2011, S. 29.

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Les Mystères de Paris als un-/endlicher Text Les MystÀres de Paris werden also in einer Art Zwischenstadium der Mediendiffusion publiziert; die Tageszeitung ist bereits konsolidiert, aber noch kein Massenmedium im heutigen Sinne. Die insgesamt 159 Folgen und ein Epilog, die alle sowohl formell als auch inhaltlich sehr unterschiedlich gestaltet sind, stehen als textliche Einzeleinheiten sowohl für sich selbst als auch für die Serie. Der Feuilletonroman unterliegt wie alle Serien einer doppelten Formstruktur, wie Hickethier es formuliert. Jedes einzelne Textsegment, egal ob abgeschlossen oder fortgesetzt erzählt, verweist immer auf das, was noch kommen wird, aber unbekannt ist.39 Damit stellen Les MystÀres de Paris schon rein formell das Paradox eines bruchstückhaften (fast) Endlostextes dar. Diese Ambiguität zieht sich durch den gesamten Text. Nach den formalen Kriterien, die Aristoteles für die griechische Tragödie aufstellt, bildet der Feuilletonroman keine Einheit, denn »[e]in Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat«40 ; Les MystÀres de Paris beginnt aber zweimal. In einem Vorwort adressiert Sue gleich im ersten Satz seine idealen, literarisch gebildeten und wissbegierigen Wunschleser und erklärt ihnen sein weiteres Vorgehen.41 Er werde, analog zu den weltweit bekannten Abenteuergeschichten von J. F. Cooper, dem Autor der Leatherstocking Tales, von »Barbaren« berichten, die allerdings nicht in fernen Ländern, sondern »mitten unter uns« leben. Ähnlich wie die »Wilden« haben die ›Stadt-Barbaren‹ »ihre eigenen Sitten, ihre eigenen Weiber und ihre spezielle geheimnisvolle, von düsterer Bildhaftigkeit und bluttriefenden Anspielungen erfüllte Sprache«.42 Dieser – nach heutigen Maßstäben ethnologische – Zugang zwinge ihn, trotz »zwiefachem Widerwillen«, auch die »Grausamkeit« zu beschreiben. Damit weist er potenzielle Vorwürfe zurück, er habe »abstoßende Episoden ausgenützt«43, diese seien vielmehr von einem »künstlerischen Gesichtspunkt« notwendig, weil er an »die mächtige Wirkung der Kontraste« glaube. Für den Leser werde »diese Forschungsreise« zwar neu sein, aber wenn er sich erst einmal auf das Abenteuer eingelassen und »seinen Fuß auf die unterste Sprosse der sozialen Leiter gestellt« habe, werde sich im Erzählverlauf »die Atmosphäre Schritt für Schritt aufhellen«44. Dieses Vorwort hat den Charakter eines Appetizers: Es verspricht sex, crime, rock’n’roll, aber auf 39 Vgl. Hickethier 1991, S. 10. 40 Aristoteles [ca. 335 v. Chr.] 2001, S. 25. 41 Sue benutzt in seinen Leseradressierungen ausschließlich die männliche Singularform. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Kapiteleinteilungen sich je nach Ausgabe unterscheiden. Hier wird die deutsche Ausgabe des Insel-Verlags zitiert. 42 Alle Zitate Sue [1842–43] 2008, S. 9. 43 Alle Zitate ebd. 44 Alle Zitate ebd., S. 10.

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hohem Niveau. Die Sensationslust darf mit gutem Gewissen befriedigt werden, da die dargestellten ›Grausamkeiten‹ dem wissenschaftlichen Interesse dienen und mit künstlerischem Kalkül eingesetzt werden. Dieses verankert die Erzählung durch intertextuelle Verweise und metatextuelle Adressierungen innerhalb eines Genres und stellt somit die literarischen Kontinuitäten deutlich heraus. Durch die Betonung der Konstanz wird aber auch die Varianz augenfällig, denn die Forschungsreise zu den Kriminellen der Stadt wird als Innovation präsentiert. Damit verleiht sich der Text selbst einen Status der Einzigartigkeit und bricht mit den Erzähltraditionen. Mit den »abstoßende[n] Episoden« wird auf die Formstruktur des Textes als Serie verwiesen und für sie und für das abdruckende Distributionsmedium Journal des D¦bats geworben.45 Der erste Satz des zweiten Anfangs setzt dann die bereits im Vorwort erwähnte »Exposition unserer Geschichte an einem so scheußlichen Ort«46 in Szene und gleicht damit einem establishing shot: Am 13. Dezember 1838, einem regnerischen, kalten Abend, überquerte ein athletisch gebauter Mann in schlechter blauer Bluse den Pont-au-Change und drang in die Cit¦, die Altstadt mit ihrem Labyrinth finsterer enger, gewundener Gassen, das sich vom Justizpalast bis zur Notre-Dame erstreckt.47

Neben dem Protagonisten werden Zeit, Ort, geografische und meteorologische Gegebenheiten sowie die dadurch bedingte Atmosphäre vorgestellt. Im weiteren Verlauf kommen noch die Lichtsetzung, olfaktorische Beschreibungen und Milieuschilderungen hinzu, außerdem werden die Protagonisten eingeführt. Der serielle Aufbau der einzelnen Kapitel sowie des Feuilletonromans insgesamt ist bezüglich fortgesetzter und abgeschlossener Handlungsstränge sehr heterogen angelegt: So werden manche Handlungsstränge nur durch das Kapitelende unterbrochen und dann im Folgekapitel direkt, ohne zeitliche oder perspektivische Unterbrechung, weitererzählt. Der längste ununterbrochene Erzählstrang erstreckt sich über 14 Kapitel. Des Weiteren finden sich in der Erzählung kleine, singuläre und für den Fortlauf der Geschichte unbedeutende Handlungseinsprengsel, die in relativ großen Abständen immer wieder aufgenommen werden, wie zum Beispiel die komischen Nachstellungen eines Mieters, unter denen der Portier Pipelet zu leiden hat. Dieser Erzählstrang ist wie ein running gag konzipiert: Die Figur ist kein Handlungsträger, sondern hat die Funktion, Komik ohne narrative Herleitung zu erzeugen. Diese Witze tendieren dazu, die Handlung zu retardieren.48 Ein weiteres retardierendes Instrument 45 46 47 48

Vgl. Hagedorn 1995, S. 29. Sue [1842–43] 2008, S. 10. Ebd., S. 11. Zu den Techniken des abgeschlossenen Erzählens in Fortsetzungsserien vgl. Smith 2011, S. 100.

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sind Wiederholungen, die als Varianz lediglich einen Tempus-wechsel aufweisen. Die Figuren klagen seitenlang über ihre bedauernswerte Situation, dann werden sie errettet, und nun erzählen sie ausführlich, wie schlecht es ihnen ergangen war und wie sie errettet wurden.49 Als eine Art Meta-Erzählung für die gesamte Erzählung fungiert die Suche des Fürsten Rodolphe nach seiner verlorenen Tochter Fleur-de-Marie. Oder wie Walburga Hülk es formuliert: »Die MystÀres de Paris erzählen eine unendliche Familiengeschichte.«50 Diese Suche treibt selten die Handlung voran, sondern liefert vielmehr die Grundstruktur der Erzählung in Form einer Suchbewegung, daher ist sie als Grundvoraussetzung der Geschichte einzustufen.51 Auf der inhaltlichen Ebene unterbricht Sue diese Meta-Erzählung allerdings radikal, fast gewaltsam nach nur 30 Kapiteln und verrät das Geheimnis der Herkunft von Fleur-de-Marie. Die unten folgende Graphik soll das serielle Wirrwarr der Enthüllung verdeutlichen: In einem Rückblick über drei Folgen berichtet Sue von Rodolphes Jugend und seiner tragischen Liebe, der er aufgrund einer Intrige und seiner Unerfahrenheit erlegen war. Am Ende springt er dann wieder in die erzählerische Gegenwart und kündigt den zuvor unterbrochenen Handlungsstrang (Rodolphe wird einen Ball besuchen) an, den er dann im darauffolgenden Teil auch fortsetzt.52 Zwischen dem Ende der Rückblende (die Entdeckung von Sarahs Schwangerschaft: »Wir werden später von den Folgen der Entdeckung berichten, die große und schreckliche Ereignisse nach sich zog.«53) und dem Verweis auf das nächste Kapitel (der Ball: »Der Leser hat auch nicht vergessen, daß Rudolf nach seinem Besuch in der Rue du Temple […] einen Ball in der ***schen Gesandtschaft besuchen sollte.«54) fügt Sue einen (erzählerisch gänzlich unmotivierten) Spoiler ein, mit dessen Hilfe er gleichzeitig die Spannung für das Folgende heraufbeschwört sowie die Grundspannung der Erzählung radikal bricht: Nur eines können wir schon sagen, und der Leser hat es vielleicht schon erraten…, daß nämlich die Schallerin oder Marienblume die Frucht dieser unheilvollen Ehe war… Ja, sie war das Kind Rudolfs und Sarahs… jenes Kind, das die beiden tot glaubten.55

49 Eco nennt diesen Mechanismus nach einem Witz Meine Güte, was habe ich für einen Durst. Vgl. Eco 1976, S. 71f. 50 Hülk 1985, S. 15. 51 Vgl. Weber 2012, S. 205ff. 52 Der graphisch dargestellte Textabschnitt bezieht sich auf die folgenden Seitenangaben: Sue [1842–43] 2008, S. 303–359. 53 Ebd., S. 350. 54 Ebd. 55 Ebd. In der deutschen Ausgabe heißt Fleur-de-Marie Marienblume oder manchmal auch Schallerin. Hier werden mit Ausnahme von direkten Zitaten aus der deutschen Ausgabe die französischen Namen verwendet.

C2

C3

Cliffhanger C1: Sarahs Schwangerschaft Spoiler : Adressierung an die Leser : Fleur-de-Marie ist das ungeborene Kind Cliffhanger C2: Ball Rodolphe

C1

Rodolphes Jugend, sein guter Die unglückliche Liebe, Erzieher u. sein gottloser intrigant eingefädelt Seelsorger ; Begegnung mit Sarah

Sprung in die Vergangenheit: Einführung der beiden Antagonisten und der Intrige

Teil 3/ F 5 Die erste Liebe

Teil 3/ F 4 Sir Walter Murph und Abb¦ Polidori

Teil 3/ F 3 Tom und Sarah

Cliffhanger : Ankündigung: Rodolphe nimmt an einem Ball teil, aber…

C

Teil 3/ Teil 3/ F 2 Die vier F1 Herr Stockwerke Pipelet Erzählerische Gegenwart: Handlungsstrang Portier Pipelet und Rodolphe, der ein Zimmer in der Rue du Temple mietet Erzählerische Gegenwart: der Ball, die Ausstattung und die Intrigen

Teil 3/ F 6 Der Ball

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Fortan besteht eine geradezu paradoxe Erzählsituation: Formal folgt die Erzählung der Frage wer ist die geheimnisvolle Tochter? als Grundvoraussetzung für die Handlungen des Protagonisten Rodolphe. Folgerichtig erfahren die Figuren erst gegen Ende ihre ›wahren‹ Identitäten. Die Rezipienten aber lesen die Geschichte auf der Folie einer angepassten Fragestellung: Wann und wie erkennen sich Vater und Tochter? Die analysierte Textstelle steht exemplarisch für Sues Verflechten von Handlungssträngen: Er erzählt aus der Perspektive verschiedener Figuren, der Protagonisten und Nebenfiguren, die Intrigen der Widersacher und die Aktionen der ›guten‹ Figuren, dadurch wird die Erzählung facettenreich und komplex. Da er aber über längere Erzählstrecken an einem Handlungsort verbleibt, kehrt diesbezüglich eine gewisse Ruhe in die Erzählung ein, die Leser wissen im wahrsten Sinne des Wortes, wo sie sich gerade befinden. »Sinuskurven-Struktur«56 nennt Eco diesen multiperspektivischen Fluss des Erzählens. Am Ende der Kurve allerdings werden Handlungsort, Personal, eventuell noch die Erzählzeit und der Erzählmodus stakkatoartig gewechselt. In nur einem kurzen Abschnitt von wenigen Sätzen werden sämtliche Parameter neu gemischt, bevor dann wieder die verschiedenen Geschichten an einem anderen Handlungsort erzählt werden, im oben genannten Beispiel der Ball. Der »erzählerische Selbstmord«57, den Sue nach Meinung von Eco mit der Entlarvung von Fleur-de-Maries Identität begeht, ist auch Beleg für ein weiteres Instrument, das Sue häufig einsetzt, um den Erzählfluss zu unterbrechen, nämlich die direkte Anrede der Leser (die Leserinnen werden nicht extra adressiert). Damit wechselt Sue in einen anderen Erzählmodus und zwingt die Rezipienten zu einer Reflexion über die Artifizialität der Erzählung. Die Leseradressierung ist wie ein neckischer Flirt58 gestaltet: Sue enttäuscht die Erwartungen der Rezipienten, die eine intrigenreiche Geschichte, aber mit Happy End lesen wollen, und bricht sie, indem er das ›sichere‹ Happy End vorwegnimmt. Die Notwendigkeit dieses Vorgehens wird dann auch noch in Form einer Schmeichelei dem kompetenten und cleveren Leser zugeschrieben (»der Leser hat es vielleicht schon erraten«59), der sich somit nicht mehr beschweren kann. Die Textstelle zeigt, welches Bild Sue von seinen Modell-Lesern hat. Er entlarvt die leicht vorhersagbare Story als nebensächlich und degradiert sie zum Gerüst für die Beschreibung sozialer Missstände und Überlegungen zu Sozialreformen. 56 Eco 1976, S. 63 (Herv. i. O.). 57 Ebd., S. 65. 58 Robert Stam beschreibt die selbstreflexiven Strategien in Texten als Flirt und stellt deren spielerische und didaktische Qualitäten heraus. Vgl. Stam 1992, S. xiiff. 59 Sue [1842–43] 2008, S. 350. Damit interpretiere ich diese Textstelle anders als Eco. Seiner Meinung nach gelingt es Sue an dieser Stelle nicht, die Ungeduld dieses imaginären ModellLesers zu bremsen. Vgl. Eco [1987] 1990, S. 150.

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Diese realistischen Einschübe sind wie »Arien, die die Handlung des Melodrams unterbrechen«60. Die Nähe von Fiktion und Fakten stellt sich auch durch die Präsentation des Feuilletonromans in der Tageszeitung ein. Über dem Strich werden die Debatten abgedruckt, die unter dem Strich zumindest potenziell in Geschichten umgewandelt werden könnten. Diese Begrenzung im Layout entpuppt sich damit als zutiefst porös.61 Die sozialen Exkurse bilden die Grundlage für die oben zitierte ›grinsende Wahrheit‹, welche die zeitgenössischen Rezipienten in dem Werk erkannten. Victor Klemperer beschreibt und bewertet im Vorwort zu einer Neuauflage des Romans die Einschübe folgendermaßen: Es kommt ihm [= Sue, T.W.] dabei so sehr auf Wahrhaftigkeit an, daß er in jedem Augenblick seinen Roman unterbricht und agitatorische Exkurse einschiebt, Leitartikel und Kammerreden, daß er in Fußnoten auf sein Tatsachenmaterial hinweist. Vieles, was uns heute romanhaft übertrieben vorkommt, ist genaue Schilderung französischer Zustände zu jener Epoche.62

Aber Sue stört nicht nur einfach die Diegese, indem er immer wieder Fakten in die Geschichte einschiebt, sondern er jongliert »sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene mit fiktionalen und faktualen Elementen«63 und überbrückt damit gleichzeitig die Unterbrechung. Ein paradigmatisches Beispiel stellen die Kapitel rund um das Gefängnis La Force dar : Zuerst beschreibt Sue extradiegetisch den Aufbau des Gefängnisses und informiert über die aktuellen Haftbedingungen. Im Anschluss reflektiert er auf einer meta-reflexiven Ebene sein Vorgehen als Erzähler in Form einer direkten Leseradressierung. Man wird uns also entschuldigen, dass wir den dem Leser bereits bekannten Personen dieser Geschichte andere, sekundäre Figuren zugesellen, deren Rolle es sein wird, gewisse kritische Ideen zu verkörpern und diese Einführung in das Gefängnisleben zu vervollständigen.64

Dann wechselt er in die Fiktion und erzählt die Schicksale der neu eingeführten Nebenfiguren über insgesamt 13 Kapitel, die seine Reformvorschläge ›leben‹ oder zumindest erhoffen. Um sicherzugehen, dass seine Leser die inner- wie außerfiktionalen Reformideen verstanden haben, fügt er am Ende des sechsten Kapitels eine Art Merkzettel ein: »Fassen wir noch einmal kurz die praktischen und theoretischen Ideen zusammen.«65 Der Text wird also nicht nur aufgrund seiner seriellen Form ständig unterbrochen, sondern auch aufgrund des 60 61 62 63 64 65

Eco 1976, S. 70. Vgl. Th¦renty 2007, S. 127. Klemperer 1927, S. 9. Weber 2012, S. 212. Sue [1842–43] 2008, S. 1421. Ebd., S. 1609. Die Zitate markieren Beginn und Ende der Kapitel über das Gefängnis La Force.

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Wechselns zwischen Fiktion und Fakt, der Adressierung der Leser auf einer Meta-Ebene sowie dem Spiel mit Lesererwartungen. Alle narrativen Unterbrechungen bieten ihrerseits Verbindungen an, so dass es nicht zum Abbruch kommt, sondern der Text eine perforierte Einheit bildet. Sue übt mit seinen »Moralpredigten an Arm und Reich« keine Ideologiekritik, sondern die »geschwätzige Widersprüchlichkeit« der Geheimnisse deutet Walburga Hülk zufolge vielmehr auf die gesellschaftlichen Widersprüche und Ungereimtheiten ihrer Zeit hin. Die Erzählung kann somit als ein Symptom im Prozess der »Orientierung« interpretiert werden.66 Sue führt also mit seinen Lesern einen meta-reflexiven Para-Dialog, um seine ›kritischen Ideen‹ zu präsentieren, aber auch zur Diskussion zu stellen. Die Adressierung führte dazu, dass die Leser sich zu Wort meldeten und den Dialog auch außerhalb des Feuilletonromans mit dem Autor fortsetzten. Die Legende besagt, dass unzählige Briefe aus allen Schichten abgeschickt wurden: »Sue, das wußte man gleich, bekam Berge von Briefen – in Wirklichkeit waren es zwei oder drei am Tag.«67 Fakt ist, dass eine Sammlung von etwa 420 Briefen an Sue erhalten ist, die zwischen 1840 (also zwei Jahre vor Erscheinen der Geheimnisse) und 1844 geschrieben wurden. Einen Großteil machen Journalisten und andere Schriftsteller aus, Schenda nennt sie »Alltagsliteraten«68, die aus ganz unterschiedlichen Motiven schrieben, um zum Beispiel Kapitel ihrer Werke zu übersenden oder Kooperationen anzuregen. An diesen Briefen lassen sich die prekären Existenzbedingungen der ›Berufsschreiber‹ ablesen.69 Nichtsdestotrotz folgten einige Rezipienten der Einladung zur Diskussion, sandten wissenschaftliche Abhandlungen zu sozialen Themen oder schrieben ihre persönlichen Ideen oder Ergänzungen zur Verwirklichung der Reformen.70 Die in hohem Maße idealisierten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen (Jörg Türschmann bezeichnet sie als »utopischen Sozialismus«71) hatten für die zeitgenössischen gebildeten Leser ein hohes Attraktionspotential, weil aktuelle Probleme reflektiert wurden und die Geschichte somit eine gewisse Alltagsnähe bietet.72 Gleichzeitig räumte der Erzählmodus des Geheimnisses, in dem die Missstände geschildert wurden, genügend Distanz zu den Geschehnissen ein. Damit stehen konträr zur poten-

Alle Zitate Hülk 1985, S. 26. Schenda 1976, S. 74. Ebd. S. 87. Vgl. ebd., S. 79ff. Viele Leser, vor allem Leserinnen, schickten Solidaritätsbekundungen, in denen sie dem Autor ihre Sympathie versichern. Vgl. ebd., S. 97. Diese Briefe sind nicht Teil des Dialogs, sondern müssen als Ausdrucksformen des Fandoms angesehen werden. 71 Türschmann 2008, S. 228. 72 Zur Attraktivität von Alltagsnähe in Serien vgl. Prugger 1994, S. 102f.

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ziellen Alltagsnähe die ausgeprägte Dramatisierung der Themen, die Drastik der narrativen Umsetzung sowie die Phantastik der Präsentation. Nach Eco wurde Les MystÀres de Paris in der Absicht geschrieben, »einem gebildeten Publikum die pikante Lebensgeschichte einer pittoresken Armen und Elenden zu schildern«, jedoch wurden die Geheimnisse »vom Proletariat als klare und aufrichtige Beschreibung seiner Unterdrückung gelesen: sowie der Autor dies bemerkte, ging er gänzlich dazu über, das Buch für das Proletariat zu schreiben…«73 Im Bereich der Legendenbildung wurde Sue daher zum »Autor des Proletariats«74, was allerdings nicht durch die Analyse der Leserbriefe bestätigt werden kann, da nur sehr wenige Briefe aus dieser Schicht geschrieben wurden, daher kommt Schenda zu dem Schluss: »Mit dem Proletariat als Publikum ist im Falle der MystÀres de Paris kein Staat zu machen.«75 Nicht nur das Zielpublikum bleibt unbestimmt, sondern auch eine eindeutige Genrezuordnung muss unterbleiben. Je nach Lesart und Perspektive werden die Geheimnisse als Sozialroman bzw. Thesenroman, als Abenteuerroman oder als fantastischer Roman gelesen.76 »Die Rätselhaftigkeit des neuen industriellen Zeitalters« sorgt für eine »Grundspannung«77, die den gesamten Text durchzieht, immer in Abwechslung zu Abschnitten, die, wie oben bereits beschrieben wurde, durch ihre Wiederholungsstrukturen gerade nicht spannend sind. Der Protagonist Rodolphe kann als eine hochfiktionalisierte Figur mit SupermanQualitäten charakterisiert werden, der einem deus ex machina gleich in die Handlung eingreift und andere Figuren an einem scheinbaren point of no return errettet. Damit steht er gewissermaßen außerhalb des restlichen Ensembles, dessen Lebensumstände bis ins kleinste Detail und mit größter Genauigkeit geschildert werden, wie etwa die Wohnung und die Einkünfte der kleinbürgerlichen Näherin Rigolette.78 Die fantastischen Genres wie Science-Fiction, Fantasy, Mystery und Horror verbunden mit Action und Abenteuer tragen dazu bei, die Diffusion neuer Verbreitungsmedien, in diesem Fall das neue Konzept von Tageszeitung, voranzutreiben.79 Durch ihren Unterhaltungscharakter und die Einladung, die Geheimnisse zu entschlüsseln sowie Verschwörungstheorien zu bilden bzw. weiter zu ›spinnen‹, binden diese Texte ihre Rezipienten an sich und laden zur Interaktivität mit den Regeln des fiktionalen Universums ein. Die etablierte storyworld bleibt dabei geographisch überschaubar auf Paris und seine Umge73 74 75 76 77 78 79

Beide Zitate Eco (1987) 1990, S. 70. Schenda 1976, S. 103. Ebd. Vgl. Bachleitner 1993; Klotz 1979; Weber 2012, S. 209f. Beide Zitate Türschmann 2008, S. 245. Sue [1842–43] 2008, S. 644–687. Vgl. Weber 2012, S. 209f.

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bung beschränkt. Allerdings ist das Paris der Geheimnisse trotz eindeutiger topografischer Angaben wie Notre-Dame, die Seine oder die Straßen und Prachtbauten auf den Champs-Êlys¦es, ein ausgesprochen fiktionalisierter Ort, in dessen Straßen sich die Figuren entweder im Sumpf des Verbrechens oder in den mondänen Salons bewegen, einzig der Superheld Rodolphe beherrscht die Fähigkeit, in der gesamten Stadt zu operieren. Nach fünfzehn Monaten der Serienproduktion beendet Sue den Feuilletonroman mit einer Art dreifachen Stopp-Bremsung. Beim ersten Pseudo-Finale sind die Antagonisten bestraft und/oder gestorben, und die Sympathieträger treffen sich zu einer »going-away-party«80 in der Irrenanstalt, um den Steinschneider Morel zu besuchen, der in Folge der Taten des Antagonisten Ferrand wahnsinnig geworden ist. Der Besuch der Freunde wirkt sich so positiv auf Morel aus, dass er als geheilt entlassen werden kann. Die Leser erfahren außerdem, dass Rodolphe für alle Freunde gut vorgesorgt hat, zum Beispiel hat er Morel, Germain und Pipelet einen sicheren Lebensunterhalt als Angestellte der Armenbank verschafft. Kein Wunder, dass Morels Tochter prognostiziert: »wir werden alle glücklich sein.«81 Dieses sicher erscheinende zukünftige Happy End wird schon zum Kapitelende von einem Ereignis von »häßliche[m] Kontrast«82 überschattet, da am nächsten Tag, dem letzten Tag des Karnevals, eine doppelte Hinrichtung stattfinden wird und die Figuren befürchten, dass Tod und Maske eine unheilvolle Allianz eingehen werden. Diese Vorahnung erfüllt sich, denn Rodolphe und Fleur-de-Marie geraten am nächsten Tag in einen bedrohlichen Straßentumult. Damit bezieht sich Sue noch einmal auf die Straßenszene zu Beginn des Feuilletonromans, in der Rodolphe Fleur-de-Marie verteidigt und vor dem Messerstecher Schurimann beschützt, der daraufhin sein treuer Gefolgsmann wird. In der Schlussszene rettet der Messerstecher Vater und Tochter das Leben und wird dabei selbst erstochen. Obwohl in Sicherheit, erinnert sein Tod Fleur-de-Marie daran, dass sie ihrer Vergangenheit nicht entkommen kann, sie wird »wie von einer bösen Vorahnung ergriffen« und »der Gedanke an die Schande ihrer Jugend« prägt sich »unabwendlich in ihr«83 ein. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird klar, dass das prognostizierte Glück nicht stattfinden wird. Im darauffolgenden Epilog, der in Gerolstein spielt und in Briefform erzählt wird, erfahren dann die Leser, dass Fleur-de-Marie in ein Kloster eingetreten ist, aber auch dort die Schande nicht überwinden konnte und schließlich aus Kummer verstorben ist. Den einzigen kleinen Lichtblick dieser Szenerie mit dem vor Trauer gebrochenen Fürsten Rodolphe liefert der letzte 80 81 82 83

Mittell 2012–13, Kap. »Ends«. Sue [1842–43] 2008, S. 1822. Ebd., S. 1826. Beide Zitate ebd., S. 1868.

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Satz und damit das endgültige Ende des Romans: »Rudolf war nicht allein am Tage des Begräbnisses seiner Tochter Marienblume.«84 Das vorgetäuschte Happy End war nur der Auftakt zum absoluten sad end und ein letztes Spiel mit den Lesererwartungen. Die Handlungen der Figuren sind beendet, aber die Geheimnisse der Armut bestehen fort.

Mysterymania und Mysteries of London Es ranken sich nicht nur zahlreiche Mythen um die begeisterte Leserschaft von Les MystÀres de Paris im In- und Ausland,85 sondern auch um ihre weitere Distribution über Frankreichs Grenzen hinaus. Dieser Mythos hält aber einer Überprüfung stand, denn auch die bei Norbert Bachleitner von den zeitgenössischen Übertreibungen bereinigten Angaben zeigen eine beeindruckende Verbreitung hinsichtlich Raum, Zeit und Auflagen. Deutsche Rezipienten konnten beispielsweise die Geheimnisse sowohl als Feuilletonroman als auch als Romanwerk in der Pariser Originalfassung wie auch in belgischen Nachdrucken auf Französisch lesen. Zudem erfolgten die Übersetzungen in andere Sprachen, wiederum auf dem Zeitschriften- und Buchsektor, fast zeitgleich mit der Publikation im Journal des D¦bats.86 Ab 1844 kursierten in Deutschland mehr als zehn deutsche Übersetzungen,87 in England waren es sechs unterschiedliche englische Übersetzungen.88 Kein Wunder, dass die Zeitgenossen den Eindruck haben: »Alles liest die Mysterien …, hunderte von verschiedenen Ausgaben kreuzen den Buchhandel.«89 Aber auch die Kopier- und Adaptionspraktiken setzen fast zeitgleich ein. England wird hier als paradigmatisches Beispiel für Europa und Nordamerika herangezogen.90 Bereits ab Mitte 1843 waren die Geheimnisse als Theateradaptionen auf zahlreichen Bühnen Londons zu sehen, und im Frühjahr 1844, ein halbes Jahr, nachdem Sue das letzte Kapitel beendet hatte, erschienen wöchentlich die Revelations of London von William Harrison Ainsworth im Ainsworth’s Magazine, die in Deutschland wiederum unter dem Titel Die Geheimnisse von London vertrieben wurden. Wie eine ansteckende Krankheit breitete 84 Ebd., S. 1968. 85 Der Mythos wird auf die Spitze getrieben im Ausspruch des französischen Schriftstellers Th¦ophile Gautier : »Des malades ont attendu pour mourir la fin des MystÀres de Paris.« Zitiert nach Rigoulet 2009. 86 Vgl. Bachleitner 1993, S. 91f. 87 Vgl. Edler 1932, S. 49. 88 Vgl. Chevasco 2008, S. 137. 89 Anonym 1843, zit. nach Edler 1932, S. 9. 90 Für Angaben zu weiteren Adaptionen vgl. Weber 2012, S. 218ff.

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sich die Mysterymania aus und befiel Autoren und Leser gleichermaßen. »This mysterymania has crossed the channel. Authors are manufacturing vices by the gross…«91, schrieb Alfred Crowquill 1845 in der Zeitschrift Bentley’s Miscellany. Auch George William MacArthur Reynolds begann mit seinen Mysteries of London bereits im Oktober 1844. Bis 1846 erschienen im wöchentlichen Turnus insgesamt zwei Serien — vier Volumen, 1848 schloss er eine zweite ›Staffel‹ unter dem Titel The Mysteries of the Court of London im Umfang von vier Serien — acht Volumen an, die er nach einem Zeitraum von insgesamt zwölf Jahren im Jahr 1856 beendete. The Mysteries of London wurden im gleichen Verlagshaus wie das London Journal vertrieben, für das Reynolds zunächst auch Artikel schrieb und redigierte. Das London Journal war neben dem Family Herald eine der beiden ›billigen‹ populären Zeitungen in London. Die Nähe von Autor und Verlag zur Sensationspresse zieht sich auch durch The Mysteries of London, denn ein Teil der Berichterstattung über die Not der Armen scheint direkt aus dem London Journal zu kommen. Wie Sue setzt sich auch Reynolds beispielsweise für die Abschaffung der Todesstrafe und für Gefängnisreformen ein, aber diese Einschübe sind im journalistischen Schreibstil gestaltet. Flankiert werden die Berichterstattungen von fiktionalen Lebensgeschichten, die einzelne Figuren wie zum Beispiel eine Minenarbeiterin oder eine Prostituierte erzählen, angereichert mit Fakten zu Einkünften, Arbeitszeiten und Strategien der Ausbeutung von Seiten der Arbeitgeber. Um seine Ausführungen zu beglaubigen, fügt Reynolds die Quelle der Fakten an und verweist in einer Fußnote auf den Report of the Children’s Employment.92 Mit diesen fiktiven Autobiografien im Stil der Reportage verleiht Reynolds gesellschaftlichen Randgruppen eine Stimme und stellt eine kausale Verbindung zwischen Kriminalität und einer extrem ungerechten Gesellschaft her.93 Der Bruch, den Sue mit seinen realistischen Einschüben und seinen Ideen zu Reformen vollzieht, wird hier durch den Schreibstil abgemildert. Die Reportage fügt sich organischer in den Romantext ein. Auch die Präsentationsform trägt zu mehr Einheit bei, denn The Mysteries of London erschien nicht als fiktionaler Text neben Nachrichten in einer Tageszeitung, sondern als eigenes Heft. Zwar wurde wie schon zuvor in Paris auch in London der Konkurrenzkampf über die Feuilletonromane ausgefochten, aber nicht mit den englischen, sondern mit den französischen Zeitungsromanen. Englische serielle Fiktion wurde hingegen wöchentlich oder monatlich in eigenen Heftausgaben, sogenannten penny numbers, vertrieben.94 Anders als Sue richtete sich Reynolds von Anfang an an die ständig wach91 92 93 94

Zitiert nach Chevasco 2008, S. 137. Vgl. Thomas: Zwischenkommentar zu Kapitel CXVI. In Reynolds [1844–46] 1996, S. 172. Vgl. Thomas 2002, S. 65. Vgl. Weber 2012, S. 229.

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sende Leserschaft der Arbeiterklasse, was sich nicht zuletzt auch im Format des Vertriebs in penny numbers widerspiegelt. Damit oszilliert Reynolds nicht wie Sue zwischen unterschiedlichen Zielgruppen hin und her, sondern schreibt klar für die impliziten Leser der industrious classes. Dies schlägt sich auch in der Sprache nieder, die generell aufrührerisch und reißerisch ist. Um die Londoner Geheimnisse auch kulturell an die Erwartungen seiner Leser anzupassen, fügte Reynolds Elemente der populären Literatur, nämlich Gothic und Horror, sowie theatrale Komponenten ein. Dieser Genrewechsel wirkt sich auf alle Ebenen der Erzählung aus, wie sich in der Analyse zeigen wird. Reynolds Mysteries fanden reißenden Absatz. Bereits kurz nach der Einführung wurden Auflagen von 30.000 bis 40.000 Heften pro Woche vertrieben, nicht nur in London, sondern auch in anderen Städten, wie zum Beispiel in Manchester. Außerdem konnten die Zeitgenossen die Mysteries auch monatlich in Form von vier gebundenen Heften erwerben, die mit einem Holzschnitt als Cover versehen waren – hier lassen sich die auch heute üblichen Zweitverwertungstechniken ablesen. Die Serie wurde ebenfalls in zahlreiche europäische Sprachen übersetzt und bis nach Russland und Übersee vertrieben. Damit partizipierten und profitierten The Mysteries of London an bzw. von der Mysterymania und potenzierten und transformierten diese gleichzeitig. Es kann noch ein weiterer Twist beobachtet werden, denn der Autor und sein Text erlangten Kultstatus und wurden als dezidiert nationales Phänomen gelesen und gefeiert bzw. von Kritikern geächtet und zu einer nationalen Debatte über die Auswirkungen der billigen populären Fiktionen genutzt.95 Damit wird die vormals fast weltweit zu nennende Mysterienwut wieder in den nationalen Diskurs überführt und die Verbindung zum Sue’schen Text immer weiter aufgeweicht. Im Folgenden wird die ›erste Staffel‹ untersucht. Gemäß dem Vorbild eröffnet Reynolds seine Erzählung mit einem Prolog und kreiert damit ebenfalls einen doppelten Anfang. Der Prolog setzt das Thema: Wie bei Sue soll es um Kontraste gehen, die aber vor allem in London und in spezifischer Ausprägung zu finden seien: »Amongst these cities there is one in which contrasts of a strange nature exist. The most unbounded wealth is the neighbour of the most hideous poverty.«96 Anders als bei Sue führt Reynolds aber nicht nur das Thema und die lokale Verortung ein, sondern auch noch die beiden Hauptfiguren, deren Handlungen durch die Infrastruktur der Stadt bestimmt sind: »From this city of strange contrasts branch off two roads, leading to two points totally distinct the one from the other.«97 Die Protagonisten sind die zwei Brüder Eugene und Richard Markham, die beide ihren Weg durch die Stadt suchen. Richard wird als 95 Vgl. ebd., S. 230. 96 Reynolds [1844–46] 1996, S. 3. 97 Ebd., S. 5.

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»representative of virtue« charakterisiert, während Eugene die »personification of vice«98 ist. Die Namenswahl des Antagonisten zeigt das ironische Spiel mit dem französischen Vorbild. Durch die Charakterzeichnung der beiden Hauptfiguren in Schwarz-und-Weiß bleibt kein Raum für Ambiguität, wie etwa beim Fürsten Rodolphe, der trotz seiner Tugendhaftigkeit durchaus auch seine Rachegefühle in Form von furchtbaren Strafen auslebt. Der ›böse‹ Eugene agiert wie zu erwarten böse und unter zahlreichen Synonymen. Er fächert sich somit narrativ in verschiedene Antagonisten auf, in seiner Funktion entspricht er dem ›bösen‹ Notar Ferrand bei Sue. Durch den Genrewechsel sind die anderen Antagonisten dem Figurenarsenal des Horrors geschuldet, die mit bestimmten ›Professionen‹ verbunden sind. So übt zum Beispiel der Resurrection Man das Handwerk des Leichenfledderers aus. Der Resurrection Man ist die personifizierte Wiederholung in Form von ›Auferstehungen‹, denn der Wiedergänger überlebt jede auch noch so ausweglose Situation, wie zum Beispiel das Pestschiff. Damit setzen sich die Antagonisten zum einen aus etablierten Figuren der populären Literatur und zum anderen aus vergleichsweise neuen Figurentypen wie dem betrügerischen Stadtfinanzier, dem korrupten Parlamentarier oder dem skrupellosen Anwalt zusammen.99 Auch die Figur von Fleur-de-Marie wird in verschiedene Frauenfiguren aufgespalten. Die tugendhafte Seite wird auf die Figur Isabella übertragen, die zum Ende der Serie den ›guten‹ Richard heiratet, die sündhafte Seite verkörpert die Stickerin Ellen. Die ›lasterhafte‹ Vergangenheit, in der Fleur-de-Marie sich aufgrund einer Zwangslage prostituieren musste und die den Lesern der MystÀres de Paris nur aus der Retrospektive und durch Andeutungen bekannt war, buchstabiert Reynolds hingegen explizit aus und koppelt die Gründe für ein solches Leben unmissverständlich an die Armut. Ähnlich wie bei der französischen Näherin Rigolette rechnet Reynolds den Lesern den kümmerlichen Lohn der Strickerin Ellen vor. Aber während die idealisierte Rigolette es schafft, aufgrund ihrer Bescheidenheit und Sparsamkeit ›rein‹ zu bleiben, und Fleur-de-Marie sich in all dem Elend eine ›reine Seele‹ bewahrt, wohnen die Rezipienten der Mysteries of London dem körperlichen und dem moralischen ›Fall‹ von Ellen Schritt für Schritt bei. Dieser zweifache Verfall ist an Medien gekoppelt. Ellen verkauft sich sukzessive: erst ihr Antlitz an einen Maler, dann ihre Büste an einen Bildhauer und schließlich ihren Körper an einen Daguerrotypisten. Nach diesem körperlichen Ausverkauf verliert sie ihre geistige Unschuld bei einem Mesmeristen, bei dem sie eine einstudierte Rolle als hypnotisiertes Medium spielt. Zum Schluss wird sie Tänzerin und Schauspielerin. Ähnlich wie der Resurrection Man bietet die Figur Ellen Reynolds die Möglichkeit, Handlungsstränge leicht variierend zu wiederholen. Statt der 98 Beide Zitate ebd., S. 252. 99 Vgl. Humpherys 1991, S. 458.

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Strategie eines Tempuswechsels, den Sue bevorzugt einsetzt, können hier die verschiedenen Medien durchdekliniert werden, Ellen vollführt einen sich immer wiederholenden »narrativen Striptease«100. Die Annäherungen an Gothic und Horror zeigen sich deutlich im zweiten Kapitel, mit dem der Feuilletonroman noch einmal beginnt. The night was dark and stormy. […] The blue portions of the sky that here and there appeared before the sunset, were now rapidly covered over with those murky clouds which are the hiding places of the storm […] He was a youth, apparently not more than sixteen years of age, although taller than boys usually are at that period of life.

Es folgt eine eingehende Charakterisierung des Jugendlichen, bevor die Handlung dann wieder einsetzt und dieser sich in ein dunkles, leerstehendes Haus flüchtet, auf der düsteren Treppe hinter sich Schritte hört und sich daraufhin hinter einer verborgenen Türe versteckt. He closed the door, and placed himself against it with all his strength – forgetful, poor youth! that his fragile form was unavailing, with all its power, against even the single arm of a man of ordinary strength. Meanwhile the new-comers ascend the stairs.101

Reynolds greift mit der stürmischen Nacht, dem Spukhaus und der geheimnisvollen Türe Motive der populären Literatur auf und generiert demgemäß mittels Kontrastierung Spannung: der attraktive und zu beschützende Jugendliche in einer abscheulichen Umgebung. Damit bezieht sich der Text einerseits auf Sues Anfangsszene, verweist aber gleichzeitig auf die Spezifika seiner Ausführungen und damit letztendlich auf die Differenzen. Die SchwarzweißZeichnung der Protagonisten (Richard/Eugene, Isabella/Ellen) und die Hinzunahme von tradierten Antagonisten aus Gothic und Horror scheinen erst einmal eine Simplifizierung des Personals darzustellen. Jedoch reflektiert der Text jene dichotomischen Typisierungen, indem vieles nicht das ist, was es zu sein scheint: blinde Spiegel schmücken Boudoirs, Statuen erwachen plötzlich zum Leben, Figuren geben sich für andere aus und operieren unter falschen Identitäten. So entpuppt sich der Jugendliche aus der Anfangsszene schließlich als eine Figur, deren Geschlecht unbestimmbar ist, entweder »a man of strange feminine taste, or a woman of extraordinary masculine ones.«102 Nur männliche oder scheinbar männliche Figuren können sich gefahrlos in der Stadt bewegen, auf deren Bedeutung im Folgenden kurz eingegangen werden soll. Von den großen Wahrzeichen Londons werden lediglich St. Paul’s und der Buckingham Palace aufgerufen. »Die Lokalisierung und Authentifizierung erfolgt über die genaue 100 Weber 2012, S. 236. 101 Beide Zitate Reynolds [1844–46] 1996, S. 5ff. 102 Ebd., S. 22.

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Kenntnis der ›Pestflecken‹ innerhalb der Topographie der Stadt.«103 Die Armutsviertel befinden sich nicht mehr an geografisch bestimmbaren, traditionell gewachsenen Orten, sondern sie scheinen vielmehr zu zirkulieren. Nach Anne Humpherys zeigen sich in der Pluralität der Armut die inkohärenten Erfahrungen der Zeitgenossen mit der modernen Stadt, die als solche um 1830 bis 1850 sichtbar wird. Nach 1850 veränderten sich sowohl die Städte als auch die Erzählungen über sie.104 Nach Anne Humpherys fungiert die mystery novel der 1840er Jahre als literarische Brücke: sie löst die Newgate novel der 1830er Jahre mit ihren schon mythisch und öffentlich zu nennenden Figuren wie Jack Shepard ab und leitet über zur sensation novel der 1860er Jahre, die sich ganz im Fiktiven und Privaten abspielt.105 Demnach reflektiert die mystery novel eben jene fragile Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, was sich sowohl im Figurenensemble mit den etablierten Horrorfiguren und den neuen Antagonisten widerspiegelt wie auch die Fiktion durchdringt. So geht beispielsweise ein Baron als Held aus einem bekannt gewordenen Schmuggelskandal hervor, die darauf folgende Eheschließung mit einer Küchenmagd führt jedoch zu seiner sozialen Ächtung. Damit zeigt sich noch eine weitere Differenz zu Les MystÀres de Paris. Während bei Sue die Reichen im schlimmsten Falle unwissend sind und die Verhältnisse ändern würden, wenn sie »nur wüssten!«106, ist der Adel bei Reynolds zutiefst unmoralisch und bigott und der eigentliche Feind des Volkes. Wer nach seiner Ansicht die Regierungsgewalt haben sollte, zeigt die Szene, in der ein Töpferjunge in den Buckingham Palace eindringt und sich dort auf den Thron setzt. Um nicht entdeckt zu werden, versteckt er sich und beobachtet die Vorgänge. Die Inthronisierung des Töpferjungen zeigt nicht nur Reynolds politische Gesinnung, sondern offenbart auch seine Nähe zur Sensationspresse. Denn anders als bei Sue, der voyeuristische Figuren bestraft – so wird beispielsweise der Antagonist Ferrand durch das Schlüsselloch von der femme fatale C¦cily visuell verführt und verfällt infolgedessen dem Wahnsinn107 –, befriedigt hier der Paparazzi-Blick ungestraft den Voyeurismus der Leserschaft. Der Horror bestimmt nicht nur Figuren und Motive der Erzählung, wie oben bereits aufgeführt, sondern auch die Schilderungen der Armut. Während Sue Tableaus des Elends zeichnet, zum Beispiel die Dachstube des Steinschleifers, inszeniert Reynolds den Horror der Armut in Ekelszenen: in den Unterkünften der Armen, die eine »apology of dirt« sind, hausen Mensch, Tier und Ungeziefer zusammen; Leichen verwesen, Schweine fallen über verstorbene Kinder (»fea103 104 105 106 107

Weber 2012, S. 239. Vgl. Humpherys 1991, S. 456 und 470. Vgl. ebd., S. 455. Sue [1842–43] 2008, S. 615. Ebd., S. 1368ff.

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sted upon the dead child’s face«) und Familienmitglieder übereinander her, die enge Behausung verführe zum »crime of incest!«108 Die Zitate belegen, dass Armut, Kriminalität und Sex für Reynolds Hand in Hand gehen; er schmückt alle die genannten Themenkomplexe explizit und in drastischer Sprache aus. Während Sue Vergewaltigungen und Verführungen metaphorisch und ohne erzählerischen Körperkontakt umschreibt, bewegt sich Reynolds an der Grenze zur Pornografie. Die Rezipienten werden dabei häufig, wie oben bereits beschrieben, in eine voyeuristische Position gedrängt, denn die Figuren werden bevorzugt bei der ›Toilette‹ beobachtet. Damit entsprechen The Mysteries of London ganz und gar nicht dem »indirect approach typical of ›respectable‹ Victorian fiction«109 und polarisieren die Rezipienten in Fans und Gegner. Und obwohl Reynolds ausgeprägtes ›Aristokraten-Bashing‹ betreibt, wird von den Zeitgenossen vor allem die »licentiousness«110 des Textes kritisiert, also seine ›Liederlichkeit‹. Sowohl die aufrührerische als auch die pornografische Perspektive brechen radikal mit der sozial-realistisch geprägten Erzählhaltung von Les MystÀres de Paris. Damit enthalten The Mysteries of London neben den Horror-Beschreibungen der Armut auch sehr viele Enthüllungen von privaten Geheimnissen.

Brücken und Brüche in den Geheimnissen Les MystÀres de Paris erweist sich in der Analyse als zutiefst ambiguer Text, der zahlreiche Anschlussmöglichkeiten durch seine Genrehybridität, seine serielle Struktur und die durch seinen Erzählmodus generierte storyworld bietet. In der neueren Forschung werden solche Texte als ideal für transmediales Erzählen angesehen. In ganz bescheidenem Umfang entstehen auch Texte in anderen Medien, die sich um den Haupttext gruppieren, wie zum Beispiel das als »unerlässliches Werk zum Verständnis der ›MystÀres de Paris‹ von M. EugÀne Sue«111 angepriesene Wörterbuch. Was die Geheimnisse aber wahrhaftig auslösen, ist eine Adaptionsflut, die die Mysterienwut der Zeitgenossen zu befriedigen versucht. Hierbei wird die »Formel des Buches«112 lokalisiert und an die jeweiligen Erwartungen der Leser angepasst. Die mediale Umgebung schreibt sich ebenfalls in die Texte ein und transformiert sie. Produzenten wie Rezipienten nehmen durch die unzähligen Vervielfältigungen an einem Phänomen teil, aber in lokal sehr spezifischen und differenzierten Ausformungen. Die jeweils lokalisierten 108 109 110 111 112

Alle Zitate Reynolds [1844–46] 1996, S. 38. Chevasco 2003, S. 133. Humpherys 1991, S. 459. Eco 1976, S. 47. Ebd., S. 48.

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Fassungen sind noch erkennbar unter dem Label Mysterymania zu fassen, was zu weiten Teilen allein schon über den Titel erreicht wird, und bilden damit Brücken zu allen Geheimnis-Texten. Die Leserschaft bildet damit eine imagined community im Sinne Benedict Andersons, die sich der Pluralität der Lokalversionen bewusst ist und die infolgedessen die Variationen als nationale bzw. lokale Ausprägung genießen kann. Gleichzeitig vollziehen die einzelnen Versionen auf allen Ebenen auch zum Teil radikale Brüche, bis sie schließlich, wie im Falle von Reynolds, Teil einer national eigenständigen Debatte werden.

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Birgit Wagner

Vampire und kein Ende. Louis Feuillades Les Vampires im Spannungsfeld von Schaulust und narrativer Kontinuität. Mit einem Exkurs zu Olivier Assayas’ Irma Vep Des nuits sans lune ils sont les Rois, Les t¦nÀbres sont leur empire, Portant la mort, semant l’effroi. Voici le vol noir des Vampires. Louis Feuillade

»En toute chose, il faut consid¦rer la fin« (»es gilt immer das Ende zu bedenken«) – das ist der letzte Vers von La Fontaines Fabel Le Renard et le Bouc, und es ist der Satz, mit dem der Journalist Philippe Gu¦rande sich und seinen Helfer über die Tatsache trösten will, dass die kriminelle Bande der Vampire ihm und der Polizei wieder einmal entwischt ist. Das ›Ende‹ ist aber auch eine Herausforderung für jeden Erzähler, jede Erzählerin, im Kino so wie in der Literatur. Serielles Erzählen, das dem (Kino-)Publikum portioniert in zeitlichem Abstand geliefert wird, hat wiederum eine Reihe von vorläufigen Schließungen zu bewältigen, die zugleich Brücken zum weiteren Verlauf der Handlung sein müssen – all das ist den an TV-Serien geschulten Zusehern des 21. Jahrhunderts überaus geläufig, so sehr, dass diese Sehgewohnheiten als selbstverständliche Norm (mit lustvollen Varianten) empfunden werden. Dennoch sind sie nicht ›natürlich‹, sondern Konventionen, die sowohl eine medienspezifische als auch eine transmediale1 Geschichte haben. Es ist davon auszugehen, dass die Regisseure der frühen Filmserien aus der Mitte der 1910er Jahre den Rhythmus von vorläufiger Schließung und Kontinuität des Erzählens in Analogie zu den narrativen Techniken des um gut achtzig Jahre älteren Feuilletonromans2 konzipiert haben. Medienspezifisch situieren sie sich jedoch in einem Moment der Filmgeschichte, in dem sich Elemente des 1 Transmedial hier im Sinn von Irina Rajewsky : »Medienunspezifische Phänomene, die in verschiedensten Medien mit den dem jeweiligen Medium eigenen Mitteln ausgetragen werden können« (Rajewsky 2002, S. 13) – serielles Erzählen mit seinen Medien Wort/Schrift, Film, Comic und TV besitzt eine solche transmediale Komponente. 2 Der Siegeszug des Feuilletonromans in Frankreich begann in den 1830er Jahren. Vgl. die Beiträge von Matthias Hausmann und Tanja Weber in diesem Band.

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Frühen Kinos (bis 1906/7) mit solchen des sich herausbildenden Kinos der narrativen Kontinuität vermischen und eine hybride Ästhetik erzeugen, wie sie in der Ära des Tonfilms auch manchen Filmgenres wie dem Musikfilm und der auf Gags fokussierten comedy zu eigen sein wird.

Feuillades Serienfilme im Licht der New Film History Louis Feuillade ist, nach Victorin Jasset3 und gleichzeitig mit dem in New York arbeitenden Louis Gasnier4, einer der ersten französischen Filmemacher, die den narrativen Serienfilm mit gleichbleibendem Figureninventar konzipieren und mit ihm große Erfolge feiern.5 Seine beiden feuilletonesken Krimi-Serien Fantúmas (1913/14) und Les Vampires (1915/16) sind, wie noch zu zeigen sein wird, ihrer Erzähllogik nach eindeutig dem Kino der narrativen Kontinuität zuzuordnen, enthalten aber nicht wenige Filmsequenzen, die diese Kontinuität momentan suspendieren: Brüche oder zumindest Unterbrechungen des Erzählflusses, die nicht primär narrativen Zwecken dienen, den artistischen Nummern des Early Cinema, aber auch populärer Theatergenres vergleichbar. Wie situiert sich diese Ästhetik im Rahmen der Geschichte des Stummfilms? Diese ist bekanntlich in den letzten Jahrzehnten von der New Film History6 neu- und umgeschrieben worden. Eines der Anliegen dieser neuen Filmgeschichtsschreibung ist es, einen ›teleologischen‹ Verlauf der Filmgeschichte, so wie sie vom mainstream der Kritik behauptet wurde, als Konstrukt post festum zu enthüllen: die ›alte‹ Filmgeschichte pflegte eine kontinuierliche und gleichsam notwendige Entwicklung vom frühen Kino der Attraktionen7 hin zu ›Rea3 Regisseur von Nick Carter (1909). 4 Gasnier, Leiter der New Yorker Filiale der Produktionsfirma Path¦, dreht in den USA mit der Schauspielerin Pearl White jene Serie, die unter dem an EugÀnes Sues Erfolg anknüpfenden Titel Les MystÀres de New York 1915 in Frankreich Furore macht (in den USA: The exploits of Elaine) und eine ernsthafte Konkurrenz für Feuillades Produktionsfirma Gaumont darstellt. Feuillade gelingt es, der französischen PremiÀre von Gasniers serial um einige Wochen zuvorzukommen. Vgl. Albersmeier 1985, S. 103–104, Lacassin 1995, S. 202–212. 5 Feuillades frühe ›Serie‹ La vie telle qu’elle est bezeichnet das, was heute ein Genre oder Subgenre genannt wird, nicht eine Filmserie mit fortgesetztem Narrativ, vgl. Gauthier / Lacassin 2006. 6 Als Gründungsdatum der New Film History gilt das Treffen der FIAS (International Association of Film Archives) in Brighton im Jahre 1978; vgl. Elsaesser 2002, S. 16–19 und Elsaesser 2012, S. 593. Für die New Film History repräsentative Sammelbände sind die folgenden: Elsaesser 1990, Grieveson / Krämer 2004, Gaudreault / Dulac / Hidalgo 2012. S. auch Bean / Negra 2002. 7 Vgl. Tom Gunnings Beitrag in: Elsaesser 1990, S. 56–62: Das Kino der Attraktionen, ein Begriff, der sich auf die Filmgeschichte bis ca. 1906/7 bezieht, ist »a way of presenting a series of views to the audience«, ein »exhibitionistisches Kino«, dem Narrative allenfalls als Rahmen

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lismus‹ und narrativer Kontinuität zu behaupten. Die Repräsentanten der Neuen Filmgeschichte haben sich daher vornehmlich mit dem Frühen Kino und dessen ›Alterität‹ beschäftigt, die es erlaubt, spätere Sehgewohnheiten und deren Niederschlag in der Forschung zu denaturalisieren. ›Erzählen‹ vs. ›Zeigen‹8 ist dabei nur eine der Trennlinien, eine andere läuft entlang der genuin filmischen Techniken. NoÚl Burch, der letztere in den Vordergrund stellt, hat für die Jahrzehnte des Stummfilms die Begriffe »primitive mode of representation (PMR)« und »institutional mode of representation (IMR) eingeführt: ersterer Darstellungsmodus ist gekennzeichnet durch die »autarky of the tableau (even after the introduction of the syntagma of succession), horizontal and frontal camera placement, maintainance of long shot and ›centrifugality‹«9. Charakteristika des PMR sowie Rückgriffe auf das Kino der Attraktionen können sich, wie gerade Feuillades Vampires zeigen, sehr wohl mit narrativer Kontinuität verbinden und erzeugen dabei jene hybride Ästhetik, die für Feuillades erste Serienfilme kennzeichnend ist und die diese für die französischen Avantgardisten der 1920er Jahre so anziehend machen wird, obwohl oder gerade weil sie auf der Basis einer kommerziellen Strategie als popularkulturelle Unterhaltung konzipiert worden waren.

Vorspann: Fantômas Feuillade, der in seinem Leben Hunderte Streifen gedreht hat,10 ist schon aus schierer Notwendigkeit ein Meister im Recyclen; so ist auch Les Vampires in mancher Hinsicht keineswegs ein remake, aber doch eine Variation der Vorkriegsserie Fantúmas. Ein kurzer Blick auf diese soll deutlich machen, welche narrativen Strategien und Verfahren der mise-en-scÀne hier bereits zum Einsatz kamen, die auch für Les Vampires kennzeichnend sind. Die fünf Folgen von Fantúmas beruhen auf der Vorlage des von Februar 1911 bis September 1913 publizierten, äußerst erfolgreichen gleichnamigen Feuilletonromans von Marcel Allain und Pierre Souvestre. Sie erzählen von Fantúmas, dienen und das sein Vorbild in popularkulturellen Formen des Amüsements wie dem Zaubertheater, dem Caf¦ Concert und dem Zirkus hat. 8 Vgl. Andr¦ Gaudr¦ault in: Elsaesser 1990, S. 274–281. 9 Burch in: Elsaesser 1990, S. 220. Ausführlicher zu lesen in dem auf Französisch publizierten Buch La lucarne de l’infini (2007a [1991]), vgl. das Vorwort (zu »mode de repr¦sentation primitif« und »mode de repr¦sentation institutionnel«) sowie S. 86ff. und S. 202ff. Für den Zeitpunkt der flächendeckenden Durchsetzung des IMR noch in der Epoche des Stummfilms gibt Burch als Richtwert das Jahr 1925 an (S. 255). 10 Die Filmographie, die im Anhang der Feuillade-Nummer der Zs. 1895 abgedruckt ist und als unvollständig (!) ausgewiesen wird, listet 636 Filmtitel, darunter natürlich viele kurze Streifen aus der Frühzeit, auf: Champreux / Carou 2000, S. 364–391.

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einem skrupellosen Verbrecher, der maskiert auftritt, und von seiner Bande, die von Inspektor Juve mit Unterstützung des Journalisten Fandor gejagt werden. Trotz einiger Zwischenerfolge dieser beiden gelingt es Fantúmas, am Ende der fünften und letzten Folge erneut zu entkommen. Filmtechnisch ist die Serie dem »primitive mode of representation« zuzuordnen: das Vorherrschen der Frontalperspektive und des fixen Blickwinkels in den in Innenräumen spielenden Sequenzen, die Raumtiefe11, das Überwiegen der Einstellungsgrößen Totale und Halbtotale, unterbrochen von einigen Detailaufnahmen (meist von Schriftstücken, z. B. von Fantúmas’ Visitenkarte, die zunächst leer ist, auf der dann langsam sein Name hervortritt), Dialogszenen, die gleichzeitig eine Figur frontal und die zweite im Halbprofil aufnehmen12 – all das sind filmtechnische Charakteristika, die ebenso für Les Vampires gelten. Die narrative Anbindung der Folgen an die jeweils vorangehende erfolgt mittels eines resümierenden Schriftinserts, das zu Beginn gezeigt wird, das heutige »previously on« von Fernsehserien vorwegnehmend; allerdings sind die Folgen als in sich geschlossene narrative Einheiten konzipiert – Folgen einer Serie, nicht eines serial.13 In vier von fünf Folgen werden Sequenzen eingefügt, die sich durch ihre Theatralität auszeichnen (Räume, die Bühnencharakter haben, und Szenen, die vorwiegend der Schaulust dienen, obwohl sie narrativ in den Plot eingebunden sind). Auch das findet sich in Les Vampires wieder. In vieler Hinsicht schlachtet also Feuillade den Erfolg seiner Filmserie für eine weitere Produktion aus. Allerdings – es gibt keine literarische Vorlage mehr, die Handlung wurde von Feuillade selbst konzipiert, und er fügt zwei Elemente hinzu, die in Fantúmas fehlten: eine weibliche Hauptfigur und einen komischen Charakter. Beides zieht auch Änderungen auf der Ebene der filmischen Technik und Ästhetik nach sich.

Tanz der Vampire Im Herbst 1915, zu Beginn der Dreharbeiten an Les Vampires, befindet sich Frankreich das zweite Jahr in einem mörderischen Krieg. Der vom Publikum geliebte Filmemacher Feuillade ist im März des Jahres einberufen worden, al11 Raumtiefe, verbunden mit einer verspäteten Einführung der von den amerikanischen Stummfilmern entwickelten Montagetechnik, zeichnet nach Burch die zweite Generation der französischen Filmemacher aus: Feuillade, Perret, Jasset. Vgl. Burch 2007a, S. 186. 12 Die ›laterale‹ Nutzung des gefilmten Raums ist ein weiteres Kennzeichen des PMR, Burch 2007a, S. 189 und 195. 13 Ausnahme ist die zweite Episode, bei der die Zuseher am Ende im Ungewissen bleiben, ob Juve und Fandor ums Leben gekommen sind oder nicht – was in der nächsten Episode dazu genützt wird, Juve in Verkleidung auftreten zu lassen: hier wird ein Handlungsbogen weitergeführt.

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lerdings nicht an die Front, sondern für den Nachschub der Armee.14 Doch seine Gesundheit spielt nicht mit, nach einem schweren Herzanfall wird er im Juli desselben Jahres bereits wieder aus dem Militärdienst entlassen und kann nach Paris zurückkehren. Die Gaumont-Filmstudios, deren künstlerischer Direktor er seit 1907 ist, sind so gut wie verwaist: Schauspieler, Techniker und Dekorateure eingezogen, Filmmaterial kaum zu erwerben und die elektrische Energie knapp. In dieser für L¦on Gaumont, den mächtigen Patron der Produktionsfirma, ökonomisch bedrohlichen Situation produziert Feuillade sein, wie Filmhistoriker und Fans meinen, schönstes, verrücktestes, proto-surrealistisches Filmserial, Les Vampires: zehn Episoden, gedreht zwischen Herbst 1915 und Frühsommer 1916, fast im Rhythmus einer heutigen Fernsehserie. Während an der Front gestorben wird und Tausende Verletzte und Verstümmelte ins Hinterland gebracht werden, während die französische Kriegspropaganda die Figur der Jeanne d’Arc revalorisiert,15 begeistert sich das Pariser Publikum für eine Serie von Filmen, die die kriminellen Machenschaften einer Bande inszenieren. Als Vampire verkleidet, stehlen, betrügen und morden sie, erklettern Insekten gleich Fassaden und laufen leichtfüßig über die Pariser Dachlandschaft. Ihre Anführer wechseln im Lauf der Episoden, nur ihr berühmtestes Mitglied bleibt sich selbst gleich und dem Publikum erhalten: Irma Vep, skrupellos und hoch erotisch, der weibliche Vampir, der Vamp.16 Dieser Figur, einer genialen Variante zu Fantúmas, dem Helden der Vorkriegsserie, gilt im Zeichen der Gender Studies ein Gutteil der neueren Kritik, die sich mit dieser Filmserie beschäftigt.17 Denn in der Tat, die Einführung der Figur Irma Vep verändert einige grundlegende Koordinaten, auch für jenen Aspekt, der in diesem Beitrag im Vordergrund steht, nämlich die Konstruktion von narrativer Kontinuität sowie die Darstellungsmodi, die dieser Kontinuität zuwider laufen und Brüche im Erzählfluss erzeugen. Diskontinuität muss allerdings nicht immer eine Darstellungsstrategie sein, sie kann auch von Produktionsumständen erzeugt werden, zumal in Kriegszeiten. In einem Interview des Jahres 1922 erzählt Feuillade: J’entreprenais ce sc¦nario avec qui? Parbleu! avec des artistes r¦form¦s, exempt¦s … et tous les huit jours visit¦s par l’autorit¦ militaire, menac¦s de r¦cup¦ration […]. Ah, 14 Vgl. Champreux in: Champreux / Carou 2000, S. 133. 15 Vgl. Gauthier / Lacassin 2006, S. 74. 16 Interessanterweise taucht der ›Vamp‹ im selben Jahr im amerikanischen Kino auf, mit der Schauspielerin Theda Bara (deren Name als Anagramm von »arab death« vermarktet wurde): im Streifen A Fool There Was (vgl. Marigny 1993, S. 20). In diesem Film, wie in den Vampires, sind Vampire ausschließlich metaphorisch zu verstehen: es handelt sich daher nicht um den Beginn der langlebigen Vampirfilm-Tradition. 17 S. zum Beispiel Kristine J. Butlers Aufsatz »Irma Vep, Vamp in the City : Mapping the Criminal Feminine in Early French Series«, in: Bean / Negra 2002, S. 195–220.

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c’¦tait gai! Du jour au lendemain, mes interprÀtes pouvaient me faire d¦faut. Mais j’¦tais l’auteur. Je pouvais modifier mon sc¦nario. […] Sans s’en douter, l’autorit¦ militaire collaborait avec moi! Quand un interprÀte m’¦tait pris, eh bien! je modifiais le sc¦nario.18

Dieser Umstand erklärt den steten Wechsel im Personalstand der Vampirbande – vier Anführer lösen einander ab; fiktionsintern werden sie durch Tod entsorgt.19 Aber freilich, die Hauptdarsteller bleiben dieselben: die Vari¦t¦-Künstlerin Musidora20, die Irma Vep ihren Körper und ihre faszinierenden Augen leiht, Êdouard Math¦, der Darsteller des Journalisten Philippe Gu¦rande, der in der Fiktion der Vertreter des Guten und der Gegenspieler der Vampir-Bande ist. Math¦ konnte auf Grund seiner australischen Staatsangehörigkeit nicht einberufen werden. Der schon etwas ältere Marcel L¦vesque, der Philippes treuen Helfer Mazamette gibt und als komische Figur wesentlich zum Erfolg der Filmserie beitrug, war vom Wehrdienst befreit.21 Als eine weitere kriegsbedingte Diskontinuität muss man wohl die unterschiedliche Dauer der zehn Episoden verbuchen – sie schwankt zwischen 12 und 54 Minuten, wobei die Filmlänge der einzelnen Folgen gegen Ende der Serie zunimmt. Bedenkt man, dass hingegen die Dauer der Folgen der Fantúmas-Serie relativ konstant bei durchschnittlich 67 Minuten liegt, liegt die Vermutung nahe, dass äußere Einflüsse wie Materialmangel und Personalwechsel hier ebenfalls mit im Spiel waren.22 Ebenso ist die im Durchschnitt kürzere Einstellungslänge sowie der dadurch bedingte raschere Rhythmus der Montage unter Umständen

18 Zit. von Champreux in: Champreux / Carou 2000, S. 135. [«Mit wem begann ich die Dreharbeiten? Bei Gott! Mit aus dem Wehrdienst entlassenen, vom Wehrdienst freigestellten Schauspielern … die alle acht Tage von den militärischen Autoritäten kontrolliert wurden, ständig in Gefahr, wieder eingezogen zu werden […]. Ja, das war lustig! Von heute auf morgen konnten mir meine Darsteller abhandenkommen. Aber ich war der Autor. Ich konnte mein Drehbuch ändern. […] Ohne es zu ahnen, arbeiteten die militärischen Autoritäten mir zu! Wenn ich einen Schauspieler verlor, nun, dann änderte ich einfach das Drehbuch.» [Übersetzung hier und in der Folge von der Verf.] 19 Das gilt nicht für den Schauspieler Jean Ayme, den ersten »Grand Vampire«, der von Feuillade entlassen wurde, weil er kontinuierlich zu spät zu den Drehs erschien, vgl. Lacassin 1995, S. 213f., Tierchant 2014, S. 91f. 20 Künstlername für : Jeanne Roque. 21 Vgl. Champreux / Carou 2000, S. 135. 22 Minutenangabe nach den jeweiligen DVD-Editionen. Präziser sind die Angaben der Längen der Filmrollen: für Fantúmas schwanken sie zwischen 1100 und 1740 m, für Les Vampires zwischen 350 und 1337 m: die Folgen sind also im Durchschnitt auch kürzer. Vgl. Champreux / Carou 2000, S. 374f. bzw. 389f. Feuillades Vertrag mit Gaumont sah übrigens noch 1914 vor, dass er nach der Anzahl der belichteten Meter Filmrolle bezahlt wurde: vgl. Laurent Le Forestier in: Gaudreault / Dulac / Hidalgo 2012, S. 192.

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auf die Produktionsumstände zu Kriegszeiten zurückzuführen und hat ein rascheres Erzähltempo zur Folge.23 In der Folge möchte ich Elemente der narrativen Kontinuität und solche des Bruchs analysieren, wobei beide für diese Filmserie, die sich allmählich zum serial entwickelt, konstitutiv sind. Ein wichtiges Element der seriellen Kontinuität ist die Herstellung von Serienwissen in den Köpfen der Rezipienten. Feuillade bedient sich dazu, wie schon in Fantúmas, der Stummfilm-Variante des »previously on…«: Ab der dritten Episode werden die Zuseher eingangs durch Schriftinserts an die Handlung der vorangegangenen Folge erinnert, manche dieser Schriftinserts verweisen sogar auf weiter zurückliegende Folgen. Die einzelnen Episoden enden immer mit der detektivischen Aufklärung des jeweiligen Falls sowie der Befreiung Philippes und seiner Familie aus jeglicher Gefahr, doch den Vampiren gelingt es stets zu entwischen; das hat Feuillade zu einem weiteren Element der Kontinuität veranlasst, nämlich einem abschließenden Trost- und Moralspruch vom Typus »wir werden sie schon noch kriegen«; einmal wird dazu sogar der bereits erwähnte perfekte Alexandriner aus den Fabeln von La Fontaine zitiert: »En toute chose, il faut consid¦rer la fin«. Dieser verbale Schlusstopos dient einem doppelten Zweck, nämlich der Aufrechterhaltung der Publikumsneugier sowie der Befriedung der Zensurbehörde24, wobei der Topos gelegentlich durchaus als böse Ironie lesbar werden kann (wie am Ende der Episode sechs, als Mazamette feststellt: »La Vertu est toujours recompens¦e«: die Tugend wird immer belohnt). Die allerletzte Episode mit dem vorausdeutenden Titel Noces de sang (Bluthochzeit) endet, wie vorhersehbar, mit der Niederlage der Bande und Irmas Tod. Insgesamt wird also eine Geschichte erzählt, die vor allem zu Beginn in einzelne, abgeschlossene Episoden zerfällt, mitunter aber einen Handlungsbogen über mehrere Episoden hinweg durchhalten kann, dies vor allem in den letzten Folgen: Feuillade vollzieht damit, deutlicher als in Fantúmas, den Schritt von der Serie zum serial. Die Technik des Cliffhangers25 kommt dabei nicht zum Einsatz, keine Figur bleibt am Ende einer Episode in existentieller Gefahr zurück, im Gegenteil, manche Folgen enden mit einer ›falschen‹ Schließung, wie etwa die Folge sieben, in der Irma und ein Komplize in der letzten Sequenz von der Polizei festgenommen werden und Philippe und Mazamette sich dazu gra23 Diese Aussage beruht auf einem – subjektiv bleibenden – Eindruck, nicht einer exakten Average Shot Length-Analyse. 24 Vgl. Gauthier / Lacassin 2006, S. 70. 25 Benannt nach der sensationellen und spannungssteigernden Nicht-Schließung einer Episode von Thomas Hardys in monatlichen Fortsetzungen erscheinendem Roman A Pair of Blue Eyes (1873), doch auch schon präsent bei Dickens, EugÀne Sue und anderen Autoren des 19. Jahrhunderts, wird der Cliffhanger, entgegen mancher publizierter Meinung (vgl. den Eintrag »s¦rial« in Journot 2011, S. 109), in den Vampires nicht verwendet.

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tulieren können. Kontinuität erzeugen auch wiederkehrende Bildtopoi wie die Silhouetten der über die Dächer kletternden Vampire, die sich schwarz gegen den hellen Himmel abheben, wiederholt verwendete Schauplätze wie Philippes Zimmer, aber auch Souterrains und Geheimgänge, wiederkehrende Motive wie Hypnose, Schlafwandeln und der Einsatz von Betäubungsmittel sowie wiederkehrende Objekte, die alle aus Jules Vernes fantastischem Waffenarsenal stammen könnten: Kanonen, Schleudern, Sprengbomben, Stachelhandschuhe, die per Handdruck Betäubungsmittel übertragen, ein Zylinderhut mit eingebauter Bombe, durchwegs Phantasiemaschinen, deren popularkultureller Reiz gewiss auf die ersten Zuseher wirkte wie Captain Kirks Kommunikator auf die Fans von Star Trek vor der Erfindung des Mobiltelefons. Im Figurenrepertoire lassen sich Elemente der Kontinuität und der Diskontinuität ausmachen. Von den äußeren, kriegsbedingten Einflüssen war bereits die Rede, ebenso davon, dass die Hauptfiguren – der Journalist Philippe, sein Helfer Mazamette und die femme fatale Irma – die tragenden Säulen der Handlung bilden, wobei sie ihrem fiktiven Charakter gleich bleiben und keine Entwicklung durchlaufen. Ansonsten aber tauchen Figuren auf und verschwinden wieder, ohne dass es dafür eine fiktionsinterne Erklärung gäbe. Mazamette wird zu Beginn der ersten Episode als Vater dreier Kinder eingeführt, deren Fotographie er stets bei sich trägt. Doch erst in der achten Episode spielt eines dieser Kinder eine Rolle, der Lausbub Eustache, der als Kinderstar der Firma Gaumont in Feuillades Bout-de-zan-Filmen Bekanntheit erlangt hatte. In dieser Episode hat er sogar das letzte Wort: »on les aura, c’est moi qui vous le dis« (»wir kriegen sie noch, das sag ich euch«), nur um darauf wieder von der Bildfläche zu verschwinden. In der letzten Episode, in der sich Mazamette mit der jungen Witwe Augustine verlobt, ist keine Rede mehr davon, dass er Vater dreier Kinder ist. Ähnliche Nonchalance gilt für den Einsatz einer weiblichen Figur, nämlich Philippes Mutter, die in den ersten drei Episoden eine wichtige Rolle spielt, um dann erst in Episode acht wieder aufzutauchen. Die letzten beiden Episoden führen zwei neue Figuren ein, Philippes Verlobte und spätere Frau, sowie die eben genannte Augustine, die in Folge neun verwitwet und in Folge zehn Mazamettes Werben nachgibt. Das erlaubt, am Ende der Serie die beiden Haupthelden verliebt zu zeigen, Philippe ernst wie die innamorati der Commedia dell’arte, und Mazamette in der komischen Variante dazu. Die eigentliche erotische Spannung aber geht natürlich von Irma Vep aus und bildet ein starkes Element der Kontinuität. Schriftinserts sind für den Stummfilm seit etwa 1903 nachweisbar ;26 auch Feuillade bedient sich ihrer : unvermeidlicherweise erzeugen sie durch den Wechsel vom bewegten Bild zur statischen Schrifttafel einen ästhetischen Bruch, 26 Vgl. Andr¦ Gaudr¦ault in: Elsaesser 1990, S. 277.

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der aber 1915/16 als konventionalisiert gelten muss. Dennoch bemüht sich Feuillade auf kreative Weise, den Einsatz von Schriftinserts zu minimieren, indem ihm ein anderes Schrift-Element als narrativer Kitt dient, und zwar innerhalb des bewegten Bildes: die Rede ist von der Rolle der fiktionsinternen Schriftstücke. Notizbücher, Adressenbücher, Zeitungsartikel, Telegramme und Visitenkarten, ein Kryptogramm, ein Menüplan, ein Schatzplan: all diese Schriftstücke sind fiktionsintern motiviert, vermitteln aber den Zusehern ein Wissen, das sie ansonsten über die Schriftinserts erhalten hätten. So gut wie alle Schriftstücke, die aus den Händen der Vampir-Bande kommen, sind übrigens gefälscht: gefälschte Schecks, Visitenkarten, Empfehlungsbriefe und dergleichen, die den Zusehern, die über die Fälschung informiert werden, jeweils einen Informationsvorsprung gegenüber den fiktiven Charakteren verschaffen. Gezeigt werden sie manchmal in Großaufnahme, oft aber in einer Über-dieSchulter-Einstellung aus der Blickrichtung der lesenden Figur ; narratologisch gesehen, erfüllen sie die Rolle der Schriftinserts und vermeiden zugleich den harten Schnitt vom bewegten Bild zur Schrifttafel. Sie sind lesbar als eine Anstrengung des Regisseurs, die Kontinuität der Fiktion soweit aufrecht zu halten, wie das im Stummfilm möglich ist.27 Feuillade situiert sich also auch mit Les Vampires eindeutig im Kino der narrativen Kontinuität; er kann komplexe Geschichten erzählen, deren Handlungsführung in all ihrer Absurdität stimmig und deren filmische Umsetzung überzeugend ist. Sein Beitrag zur Ausbildung der kinematographischen Sprache des Narrativen ist von den Spezialisten der Stummfilmära lange Zeit nicht gewürdigt worden – vermutlich, weil seine Filme, die alle popularkulturelle Genres bedienen, aus diesem Grund nicht das Interesse der traditionell elitären Cin¦philie erregen konnten.28 Seine typisch französische (europäische, sich von amerikanischen Filmemachern unterscheidende) Form der narrativen Kontinuität ist aber nur die eine Seite dieser Filmserie. Denn Feuillade baut in jede der Episoden Brüche auf der Ebene der Ästhetik ein, die, wie wir sehen werden, einerseits der Komik und andererseits der Schaulust dienen. Die Figur Mazamette ist der wichtigste Träger der Komik. Diese ist zum einen Situationskomik und als solche innerhalb der Fiktion verortet. Zum anderen aber gibt es nicht wenige Momente des Illusionsbruchs: Marcel L¦vesque blickt direkt in die Kamera, Mimik und Gestik richten sich an die Zuseher, die so gleichsam beiseite genommen und zu Komplizen gemacht werden, vergleichbar

27 Zum Gebrauch der Zwischentitel im »primitive mode of representation« vgl. Burch 2007a, 204ff. 28 Vgl. Burch 2007b, S. 23 und 83. Burchs Buch wird von einer scharfen Polemik gegen die traditionelle »cin¦philie« der französischen Kritik getragen, vgl. den Untertitel: »Pour r¦habiliter le sens au cin¦ma et ailleurs«.

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dem a parte-Sprechen auf der Theaterbühne: filmischer ›Realismus‹ wird damit momentan suspendiert.

Fig. 1. Blickkontakt mit dem Publikum (Episode 5)

Mit Mazamette wird eine Figur aufgebaut, die sozusagen durchgehend den Blickkontakt zum Publikum hält, während Philippe das niemals tut: die Komik gewinnt dadurch eine kommentierende Funktion. Das Kind Eustache, Mazamettes Sohn, in der achten Folge kaspert nahezu ununterbrochen – und offensichtlich vom Regisseur angeleitet – in die Kamera hinein. Auch in anderer Funktion friert die Komik momentan die Handlung ein: ein Tathergang, der den Zusehern bereits bekannt ist, soll fiktionsintern einer Figur erzählt werden. Das führt jeweils zu einer Kaskade von Gesten und Verrenkungen, begleitet von entsprechendem Mienenspiel, all das ausschließlich zur Unterhaltung des Publikums und ohne die Handlung im Mindesten voranzutreiben. Gelegentlich kommt auch Slapstick-Komik zum Einsatz, zum Beispiel Ohrfeigen, die den Falschen treffen, und dergleichen mehr. Steht Mazamette für die Komik und die Lachlust, so steht Irma Vep für das Böse, das unheimlich Weibliche, die Erotik und die Schaulust. Man wird gut daran tun, für sie nicht vorschnell die Kategorie in Anspruch zu nehmen, die Laura Mulvey als »to-be-looked-at-ness« bezeichnet hat: die Funktion des weiblichen Stars im klassischen Hollywood-Kino, als Objekt der Schaulust zu dienen und die Handlung zu unterbrechen, wofür als filmisches Darstellungs-

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mittel das close-up dient.29 Gewiss, die wenigen close-ups, die es in Les Vampires gibt, gelten – fast – alle Irma. Doch sie ist beides: Objekt der scopophilia, um Mulveys Terminus zu bemühen, und Motor der Handlung.30 Wir sehen sie immer auch in Aktion, verwickelt in gefährliche und häufig halsbrecherische Unternehmungen, sie ist die eigentliche Gegenspielerin Philippes, nicht die wechselnden Anführer der Bande. Sie ist aber auch das Zentrum einiger Sequenzen, die eine Ästhetik des Spektakels bedienen und das Überhandnehmen der Schaulust befördern. Feuillade hat in sieben von zehn Episoden solche Sequenzen eingebaut. In Episode zwei ist es eine Ballettaufführung mit dem Titel »Les Vampires«, also eine spielerische mise-en-abyme seines Unternehmens; die Tänzerin, die in einem Fledermauskostüm auftritt und sich anschickt, ihr weibliches (!) Opfer zu beißen,31 wird nicht von Musidora gespielt; sie ist gewissermaßen der schwarze (Theater-)Engel, der ihr Erscheinen ankündigt. Andere Episoden visualisieren Feste in der mondänen Pariser Gesellschaft: eine Ballnacht in Episode fünf und ein luxuriöses Kabarett in Episode sieben. Einmal wird ein Kinosaal gezeigt, in dem Philippe und Mazamette das epochentypische Genre »actualit¦s« sehen (Folge sechs).32 Alle diese theatralisch inszenierten Darbietungen sind einerseits in die Narration eingebunden, werden andererseits aber in der Manier der frühen Theaterverfilmung gedreht und der Schaulust angeboten: ein Blick in die Vergnügungen der Reichen und Mächtigen sowie ein Spiegel des eigenen Zuschauerstatus im Fall des Kinos. Dasselbe gilt für drei theatralisch inszenierte Darbietungen, die in die (Unter-) Welt der Vampire führen und soziale Exotik anbieten: ein Hochzeitsbankett der Vampire mit Tanzeinlage in Folge zehn und gleich zweimal, in der dritten und in der achten Episode, eine doppelte theatralische Darbietung im »Cabaret du Chat Huant, l’un des beuglants les plus malfam¦s de Paris« (»Kabarett zur pfeifenden Katze, eines der verruchtesten Etablissements von Paris«). In all den genannten Sequenzen ändert sich der filmische Darstellungsstil 29 Mulvey 1999. 30 Vgl. auch K. J. Butler in: Bean / Negra 2002, S. 217. 31 Die nunmehr in der Kulturgeschichte durch Literatur, Malerei und Film verfestigte Assoziation von Vampirismus und Fledermäusen tritt historisch das erste Mal im 18. Jahrhundert auf, als Folge von Buffons Naturgeschichte, in der er eine blutsaugende Art der Fledermaus beschreibt. Vgl. Marigny 1993, S. 19. 32 Den Erzählduktus unterbricht auch die gefilmte Darstellung des Ausschnitts einer fiktiven Autobiographie, die in Folge sechs zur Verlesung kommt: ein Nebenplot, der Anfang des 19. Jahrhunderts in Spanien spielt und es Feuillade erlaubt, einer seiner Passionen zu frönen: der Tauromachie (Feuillade stammt aus dem südwestfranzösischen Städtchen Lunel und begann sein Berufsleben u. a. als Beiträger der Zeitschrift Paris-Toros). Feuillade verwendet für diese Sequenzen Filmmaterial, das er vor Kriegsbeginn gedreht hatte, vgl. Tierchant 2014, S. 90.

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radikal: der establishing shot der Sequenz erfolgt gefilmt aus der Zentralperspektive, ins Bild kommen Räume, die ein bühnenartiges Dispositiv bilden und mit Tiefenschärfe aufgenommen werden, meist über die Köpfe fiktionsinterner Zuseher hinweg, was die Zuseher im Kino in den Raum des Spektakels einbezieht und ihre Trennung von der fiktionalen Welt vorübergehend aufhebt. Diese Bühnen oder zumindest bühnenartigen Räume besitzen zudem häufig, wie auf dem Theater, Seiten- und Hinterausgänge, durch die dann gegebenenfalls die Vampire als schwarze Silhouetten im Gegenlicht auftauchen können. Die jeweiligen Aufführungen inszenieren vor allem Körper, übrigens auch Männerkörper. Hier sei eine der beiden Darbietungen im Cabaret du Chat Huant beschrieben, die jeweils zwei übereinanderliegende Bühnenräume konstruieren, nicht zu ebener Erde und im ersten Stock, sondern zu ebener Erde und im Soussol. Folge acht: Irma Veps überraschender Auftritt im Kabarett – überraschend, weil sie zu diesem Zeitpunkt von der Bande für tot gehalten wird – erlaubt es, ihre schwarze Erotik dem fiktiven und dem Kinopublikum eindringlich zu präsentieren, während im zweiten Teil der Sequenz im Sous-sol die Vampirbande unter sich ist und sich ausgelassenen Tänzen hingibt: gezeigt werden dabei die körperliche Attraktivität und die proletarisch-erotische Ausstrahlung der sogenannten apaches, eine Bezeichnung für die hübschen Jungs und Mädels aus der Pariser Unterwelt, die auch in zahlreichen Romanen der 1910er und 1920er Jahre unter demselben Beinamen beschworen und gefeiert werden. Der Ausschnitt, den ich kommentiere, dauert etwas mehr als zwei Minuten, wobei zwei der insgesamt acht Einstellungen durch ihre Länge auffallen – 45 bzw. 30 Sekunden. Diese beiden Einstellungen praktizieren das editing within the frame, ein für den französischen Stummfilm dieser Periode kennzeichnendes Verfahren, das notwendigerweise längere Einstellungen erzeugt.33 In der ersten der beiden sieht man, als Totale, über die Köpfe der fiktiven Gäste hinweg die Bühne des Kabaretts mit ihrem gemalten Bühnenbild sowie einem Conf¦rencier (oder Sänger?), der sich vergeblich abmüht, die Aufmerksamkeit des Publikums an sich zu binden; darauf tritt eine verhüllte Figur auf – Irma –, die vom Kellner zuerst weggewiesen und dann erkannt wird; er geleitet sie zur Bühne, auf der Irma, immer noch verhüllt, einige Tanzschritte vollführt – das alles in einer Einstellung, die von den Kinozusehern verlangt, sich abwechselnd

33 »[…] European cinema developed its system of causality, its temporality and narration by a division of space into different playing areas, by deep staging, by action overlap, by ›editing within the frame‹ via door frames, apertures, by figure composition and frontality, and by a use of the look to generate off-screen space as an indeterminate space, rather than one folded back into diegesis via point-of-view structure. By necessity, such a style implies longer takes and a greater degree of autonomy of the shot.« Thomas Elsaesser / Adam Barker in: Elsaesser1990, S. 309.

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auf den Vordergrund bzw. den Hintergrund der Szene zu konzentrieren und die der Theaterszene verwandt ist.

Fig. 2. Le Cabaret du Chat Huant (Episode 8)

Die Wiedererkennung der Totgeglaubten durch das Publikum wird durch einen Zwischentitel mitgeteilt – »C’est la voix d’Irma Vep!« (»Das ist Irma Veps Stimme!«) – worauf dann ein close-up Irmas folgt (eine insgesamt in den Vampires noch sehr seltene Einstellungsgröße). Die Großaufnahmen entsprechen auch insofern noch nicht den späteren Standards, als jeweils ein Gutteil des Raums über Irmas Kopf mit ins Bild kommt. Doch zweifellos wird hier, in der Fiktion sowie für die realen Zuseher, ein Star präsentiert: Zeigen, nicht Erzählen steht hier im Zentrum. Die Szene im Sous-sol – der ausgelassene Tanz des Unterweltpärchens, vielleicht ein Tango, bei dem der Tänzer seine Partnerin an den Haaren fasst und wild herumwirbelt – ist wieder ein Fall von editing within the frame, zeigt zugleich Irma, die gestische Erzählung ihrer Rettung, die Ankunft ihrer Freundin und Komplizin Fleur-de-lys sowie die Tanzszene; letztere bietet, wie schon in Folge drei, den Nervenkitzel eines Einblicks in die ›freie‹ Erotik der Pariser Unterwelt. Beendet werden die festlichen Darbietungen durch das Eintreffen eines Vampirs, der den Tod des Bandenchefs (zu diesem Zeitpunkt die Figur Satanas) mitteilt, wodurch das Erzählen wieder in den Vordergrund tritt. Was sind die Funktionen dieser und der verwandten Sequenzen, die einer

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Fig. 3. Irma im close-up (Episode 8)

Fig. 4. Sous-sol: Tanz der Apachen (Episode 8)

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Ästhetik des Spektakels verpflichtet sind? Zuallererst die Schaulust. Ich ziehe, einem kurzen Essay Volker Roloffs folgend, den Begriff Schaulust dem durch eine Geschichte der Pathologisierung belasteten Begriff des Voyeurismus vor. Die Schaulust ist als ein Grundelement der Sinnlichkeit der spektakulärste Beweis für den unauflösbaren Zusammenhang von Ästhetik, Erotik und Kreativität […] [So] tendiert die Schaulust als eine Form des Begehrens zwangsläufig zur Repräsentation, zur Simulation und zum Simulacrum, zur Schaffung von Ikonen, Mythen, Fetischen.34

Das trifft in vollem Umfang auf Irma Vep zu. Nicht nur hat diese Filmfigur die erotischen Phantasien der Surrealisten beflügelt, sie hat auch in Olivier Assayas’ Film Irma Vep von 1996, mit der großartigen Maggie Cheung in der Titelrolle, eine filmische Renaissance erlebt, die sich intramedial mit ihrem Vorbild aus der Stummfilmära auseinandersetzt (darüber später). Doch zurück in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Filmserie Les Vampires ist so gestaltet, dass sie Irma Vep dem Publikum als ein gar nicht obskures Objekt des Begehrens anbietet. Die Schaulust bedient Feuillade auf zwei Arten: zum ersten, indem er Musidora in dem berühmten schwarzen Ganzkörpertrikot auftreten lässt, unter dem ihr Körper durchschimmert und sie eine katzenartige Grazie annimmt – allerdings sieht man sie nur einige wenige Male in diesem für seine Zeit äußerst gewagten outfit. Und zum zweiten eben in den Sequenzen, in denen die Theatralität des Dargestellten das Hauptattraktivum darstellt. Obwohl alle diese Sequenzen narrativ gut motiviert sind, tritt in ihnen die Handlung – Philippe vs. Irma, Recht und Ordnung vs. Verbrechen – in den Hintergrund, und mit ihr die Spannung, die die Handlung erzeugt hat. Dazu trägt ganz wesentlich der filmästhetische Bruch bei, den ich oben analysiert habe: ein Filmen, das das Dispositiv des Theaters nachahmt und eine andere Art von spectatorship erzeugt als das narrative Kino der Kontinuität. Das Faszinosum des Spektakels, v. a. das Faszinosum Irma Vep, arbeitet somit gegen die vordergründige Plotlinie, die Philippe, einen attraktiven jungen Mann, einen Vertreter der Rechtstaatlichkeit und klugen Detektiv, stark macht, so dass er, rein nach der Logik des Plots, die Hauptfigur abgeben sollte. Insofern kann man argumentieren, dass die theatralischen Einlagen, obwohl sie den Handlungsfluss vorübergehend einfrieren, auf ihre Weise – und das heißt über die Aktivierung der Schaulust und die Deaktivierung des Spannungsinteresses – auch zur narrativen Sinnbildung beitragen und es dem Publikum erlauben, insgeheim oder offen – wie die späteren Surrealisten – ihr Herz an eine Figur zu hängen, die die Rolle einer Betrügerin und Mörderin innehat. Man könnte auch sagen, dass die hauptsächliche Plotlinie, gedreht mit den Mitteln narrativer Kontinuität, an der Oberfläche eine Botschaft von Recht und Ordnung sowie eines traditionellen Geschlechterver34 Roloff 2003, S. 28 bzw. 29.

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hältnisses vermittelt, während die ästhetischen Brüche – Mazamettes komische Einlagen und die theatralischen Sequenzen – mit Anleihen aus dem Early Cinema arbeiten und eine gegenläufige Botschaft fröhlicher Anarchie befördern. Zusammenfassend: Feuillade arbeitet also mit zwei verschiedenen Varianten des ästhetischen Bruchs. Die komischen Einlagen Mazamettes durchbrechen die Illusion und erinnern die Zuseher daran, dass sie einem Kinospektakel beiwohnen. Die theatralischen Sequenzen wiederum vollziehen einen Stilbruch, indem sie frühere, vom ernsten Erzählkino bereits verworfene Darstellungsstrategien einsetzen. Gerade durch diese beiden Strategien gewinnt die Filmserie ihr subversives Potential: das Ludische und die Parodie sind nicht die alleinigen Kennzeichen des späteren französischen Avantgarde-Kinos, sie werden vielmehr vom Popularkino, in Frankreich vor allem von Feuillade, vorbereitet. Die Surrealisten wussten das. In einer avantgardistischen Szenenfolge, die 1928 anlässlich einer »Gala Judex«35 aufgeführt werden sollte (wozu es nicht kam) und die 1929 in der Zeitschrift Vari¦t¦s publiziert wurde, hätte Musidora als Figur Mad Souris – ein leicht zu entschlüsselndes Anagramm – auftreten sollen: als »rat d’hútel«, eine ins Dämonische gesteigerte Hoteldiebin. Im »Prologue« schreiben Breton und Aragon: […] il n’y eut rien de plus r¦aliste et de plus po¦tique — la fois que le cin¦-feuilleton qui faisait naguÀre la joie des esprits forts. C’est dans les MystÀres de New York, c’est dans Les Vampires qu’il faudra chercher la grande r¦alit¦ de ce siÀcle. Au-del— de la mode, au-del— du go˜t.36

Suchen und finden die Surrealisten ihre subversive Lesart von Les Vampires, erheben sie Musidora zu einer ihrer Musen, so ist die Filmserie Feuillades aus dem Blickwinkel heutiger Stummfilm-Kritik ein Paradebeispiel für ein ›unreines‹ Kino, ein Kino ästhetischer Hybridität, das nicht in eine vermeintliche Fortschrittsgeschichte des narrativen Films passt und gerade deswegen seinen Platz in der Filmgeschichte behaupten kann. Was Elsaesser in einem anderen Zusammenhang feststellt, gilt auch für Les Vampires: […] tableau scenes and other forms of elaborate staging are not necessarily the sign of ›primitive‹ or ›retarded‹ practice. Rather, they are specific choices or strategies, available alternatives to editing.37

35 Judex ist eine weitere Filmserie Feuillades aus der Zeit des Ersten Weltkriegs. 36 Aragon / Breton in: Breton 1988, S. 995. [« […] nichts war realistischer und zugleich poetischer als die Filmserien, die noch vor kurzem das Entzücken der Freigeister auslösten. In den MystÀres de New York, in Les Vampires wird man die wahre Realität dieses Jahrhunderts suchen müssen. Jenseits der Mode, jenseits des Geschmacks.»] Zur Entstehungs- und Aufführungsgeschichte des Stücks vgl. die ›Notes‹ S. 1743–1749. 37 Elsaesser 1990, S. 12.

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Feuillades Rückgriff auf Darstellungsmodi des Early Cinema, sein ungescheuter Einsatz von Illusionsbrüchen, Spannungsdeaktivierung und stilistischen Diskontinuitäten sind kein Zeichen von Rückschrittlichkeit, sondern reihen seine Filmserie in eine Tradition popularkultureller Unterhaltungsmedien, die von der Operette bis zu den späteren Filmmusicals und Musikfilmen reicht: tendenziell fröhliche Anarchie eben. Das Ende der Filmserie präsentiert eine klassische Form der closure, allerdings, wie ich meine, in parodistischer Absicht, oder zumindest eine Lektüre als Parodie erlaubend: die Bösen verlieren, die Guten gewinnen und heiraten zudem die braven Mädchen, die sie verdienen, wobei Letzteres mit wenig Ernst in Szene gesetzt wird. Irma hingegen stirbt: und interessant dabei ist, dass sie nicht von Philippe, sondern von dessen junger Frau erschossen wird. Diese war zuvor das Objekt eines für das Kino dieses Jahrzehnts absolut typischen Rettungsszenarios: der mutige und listenreiche Philippe eilt herbei, um seine in einem Kellerverlies schmachtende und klagende Geliebte zu retten. Diese, die bis zu diesem Zeitpunkt ganz und gar stereotyp als schwaches und hilfsbedürftiges weibliches Wesen gezeigt wurde, zückt unerwartet eine Pistole und erledigt Irma, die das in ihren letzten Lebensmomenten kaum glauben kann. Dasselbe gilt für die Zuseher. Irma ist tot, aber wiederum auch nicht: ihr Ende entspricht nicht der persona, die zuvor aufgebaut wurde, es ist sozusagen ein schwacher Tod, der ihr zuteil wird. Die Schließung, die Feuillade in der Episode zehn vornimmt, ist eine, die eine gegenläufige Lektüre, eine Rezeption im Zeichen der Parodie erlaubt.38 Nicht nur, aber unter anderem darum darf Irma Vep auch weiterleben im kollektiven Imaginaire.

Nachspann: Irma Vep von Olivier Assayas Irma Vep (1996) gehört zu dem selbstreflexiven Genre, das einen Film im Film inszeniert und erzählt, wie ein fiktiver Regisseur (Ren¦ Vidal), gespielt von JeanPierre L¦aud, ein Filmprojekt vorantreibt, das Les Vampires neu auf Filmbilder bannen soll. Die fiktive Hauptdarstellerin, die für die Rolle von Irma Vep ausgesucht wird, wird mit der im Hongkong-Film bekannt gewordenen Maggie Cheung besetzt, die in den entscheidenden Sequenzen anstelle von Musidoras legendärem Ganzkörpertrikot einen Latexanzug trägt: Erotik updated. Zu Assayas’ Film kann man sich viele Fragen stellen: zum Beispiel, warum der Regisseur Maggie Cheung als Hauptdarstellerin seines fiktiven remake wählt, eine Figur der ethnischen Alterität, die die französische Starikone Musidora 38 Vgl. Ecos Bemerkungen zu den zwei Lektüremodi, die Ian Flemings Bond-Romane anbieten: Eco 1984.

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verkörpert/verfremdet und somit in eine globale/glokale Dimension verschiebt. Oder, auf welche Weise Assayas den Status des französischen auteur-Filmemachers in Frage stellt: als Selbstparodie, als kritische Reflexion über dessen in die Jahre gekommenes Prestige (wozu beiträgt, dass der fiktive Regisseur von JeanPierre L¦aud gespielt wird, dem vormaligen Starschauspieler Truffauts).39 Hier aber soll die Reflexion im Vordergrund stehen, inwiefern in diesem Film Brüche auf der Ebene der Handlung sowie der Ebene der Filmästhetik zum Einsatz kommen und ob und wie sich der Regisseur dabei auf die Stummfilmvorlage bezieht. Der Film zeigt Ausschnitte aus Les Vampires, Proben für den Film im Film, Szenen der fiktiven Dreharbeiten sowie Ausschnitte des fiktiven Filmprodukts, ferner ein Stück eines Films im Fernsehen (ein ›alter Film Vidals‹); es gibt auch Sequenzen, die der spezifischen Montage des Videoclips gehorchen und dazu die passende Musik einspielen. Insgesamt wird ein hochkomplexes Spiel mit verschiedenen Stadien der Filmgeschichte in Gang gesetzt; die jeweils medial bedingte Ästhetik wechselt ständig. Die Hotelsequenz aus der Folge sechs der Feuillade’schen Filmserie stellt ein Filmzitat in s/w dar, dazu ertönt in voice-over die Stimme des Regisseurs, der Maggie Cheung seine Sicht der Serie erläutert. Die Dreharbeiten (Feuillades Folge sechs: Irma Vep und ihre Doppelgängerin, beide in Hypnose, in der Macht von Mor¦no, einem der späteren Bandenchefs) spielen in einem Setting, das das Hotelzimmer des Stummfilms nachbaut, gezeigt werden sie in Farbe, mit im Bild ist häufig die Crew, über deren Schultern die Zuseher auf die Szene blicken. Werden jedoch bereits gedrehte Sequenzen von Regisseur und Crew gesichtet, so sind sie in s/w: das ist nicht der einzige Hinweis auf die ›Treue‹, mit der Vidal vorgeht und für die er von seinen eigenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kritisiert wird. Maggie Cheung (die unter ihrem Namen auftritt), im Latexanzug, spielt beispielsweise eine im Hotel situierte Szene (Irma als »rat d’hútel«) nahezu Einstellung für Einstellung getreu nach (allerdings kommen auch close-ups zum Einsatz, die Feuillade an dieser Stelle nicht – wie überhaupt selten – verwendet). Etwa in der Mitte von Assayas’ Film setzt auf der Ebene der Handlung eine gegenläufige Entwicklung ein: während Vidal immer mehr an seinem Projekt zweifelt und letztlich einen Nervenzusammenbruch erleidet, scheint die Figur »Maggie« eine phantasmatische Identifikation mit ihrer Rolle zu entwickeln: in ihrem Pariser Hotel, spätnachts immer noch im Irma-Vep-Kostüm, ›lebt‹ sie Irma, schleicht durch die Hotelgänge, dringt in ein Zimmer ein, entwendet ein 39 Dazu Assayas: »Comme tout le monde, j’ai des id¦es sur la th¦orie des auteurs. Et pour Þtre tout — fait franc, la principale est que la question est close.« [»Wie jedermann, habe auch ich Ideen zur Autor-Theorie. Und um ganz ehrlich zu sein, diese Frage hat sich erledigt.«] Zit. nach de Baecque 2001a, S. 175. Vgl. auch Jones’ Beitrag in: Jones 2012.

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Schmuckstück – wie ferngesteuert von der Rolle, die sie verkörpert. Schließlich erklimmt sie bei strömendem Regen die Dachlandschaft des Hotels – Irma/ Maggie auf den Dächern von Paris, auch das ein Bildzitat – und lässt den Schmuck in die Tiefe fallen: eine Sequenz »purer Poesie«40, anders gesagt: Filmbilder, die der Schaulust dargeboten werden.

Fig. 5. Maggie/Irma auf den Dächern von Paris (58:29)

Hochkomplexe (und hier nur andeutungsweise geschilderte) Zitatpraxen, steter Wechsel verschiedener medialer Ästhetiken, diegetische und extradiegetische Musik, die höchst unterschiedliche Assoziationen auslösen: das alles entspricht den Gepflogenheiten des französischen auteur-Films. Doch gerade diese werden nicht nur angewendet, sondern zugleich in Frage gestellt und durch verschiedene Verfahren, z. B. ein fiktives Interview eines Journalisten mit »Maggie«, ironisiert. Der Regisseur Vidal vollzieht auf der Ebene der Handlung einen entscheidenden Bruch: er gibt auf. Assayas’ Film erzählt also die Geschichte eines Filmprojekts, das scheitert. »Maggie« reist ab, ein anderer Regisseur springt ein, eine neue Darstellerin für Irma wird gefunden: eine Französin, deren Casting durch den neuen Regisseur durchaus als ironisch lesbar wird. Der Bruch scheint also irgendwie gekittet, doch … Assayas lässt ihn endgültig werden: Die neue Crew versammelt sich, um die bisher gedrehten Sequenzen zu sichten – das Filmmaterial ist jedoch verdorben, zerkratzt, mit geometrischen Figuren gesprenkelt, Irma/Maggie stirbt – metaphorisch – ein zweites Mal, geht

40 St¦phane Bouquet in: de Baecque 2001b, S. 218: »une s¦quence qui est pure po¦sie«.

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ein in eine schöne Welt abstrakter Filmbilder, die in ihrer Wirkung an Man Rays Rayographien aus den 1920er Jahren erinnern.

Fig. 6. Irmas zweiter Tod (1:31:00)

Das Filmende fällt also mit einem radikalen ästhetischen Bruch zusammen. Olivier Assayas bestätigt in einem Brief an Edward Yang seine ›brüchige‹ Strategie: »As a stand-alone work [gemeint ist der Film im Film, B.W.] within a work that also cuts off the film itself in mid-stride, it indicates how much the whole movie thrives on the freedom not to have to tie up every plot point or relationship«41 – eine Form von »broken narrative«.

Bibliographie Albersmeier, Franz-Josef: Theater Film Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992. Aragon, Louis / Breton, Andr¦: »Le Tr¦sor des J¦suites«, in: Andr¦ Breton, Œuvres complÀtes, Bd. 1, BibliothÀque de la Pl¦iade, Paris 1988, S. 994–1014. Baecque, Antoine de (Hg., unter Mitarbeit von Gabrielle Lucantonio): La politique des auteurs, Paris 2001a. Baecque, Antoine de (Hg., unter Mitarbeit von Gabrielle Lucantonio): Vive le cin¦ma franÅais! 50 ans de cin¦ma franÅais dans les Cahiers du cin¦ma, Paris 2001b. Bean, Jennifer M. / Negra, Diane (Hg.): A Feminist Reader in Early Cinema, Durham / London 2002. 41 Zit. nach Howard Hampton in: Jones 2012, S. 101.

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Blonde, Didier : Les Fantúmes du Muet, Paris 2007. Burch, NoÚl: La lucarne de l’infini. Naissance du langage cin¦matographique, Paris 2007a [1991]. Burch, NoÚl: De la beaut¦ des latrines. Pour r¦habiliter le sens au cin¦ma et ailleurs, Paris 2007b. Champreux, Jacques / Carou, Alain (Hg.): Louis Feuillade. Sondernummer der Zs. 1895. Revue de l’association franÅaise de recherche sur l’histoire du cin¦ma, Paris 2000. Eco, Umberto: »Die erzählerischen Strukturen im Werk von Ian Fleming«, in: ders., Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Aus dem Ital. von Max Loser, Frankfurt am Main 1984, S. 273–312. Elsaesser, Thomas (Hg.): Early Cinema. Space, frame, narrative, London 1990. Elsaesser, Thomas: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels, München 2002. Gaudreault, Andr¦ / Dulac, Nicolas / Hidalgo, Santiago (Hg.): A Companion to Early Cinema, Malden 2012. Gauthier, Patrice / Lacassin, Francis: Louis Feuillade. Ma„tre du cin¦ma populaire, Paris 2006. Grieveson, Lee / Krämer, Peter (Hg.): The Silent Cinema Reader, London / New York 2004. Jones, Kent (Hg.): Olivier Assayas, Wien 2012. Journot, Marie-Th¦rÀse: Le vocabulaire du cin¦ma. 3e ¦dition, Paris 2011. Marigny, Jean: »Le vampirisme, de la l¦gende — la m¦taphore«, in: Les Vampires. Colloque de Cerisy (Cahiers de l’Herm¦tisme), Paris 1993, S. 17–27. Lacassin, Francis: Louis Feuillade. Ma„tre des lions et des vampires, Paris 1995. Mulvey, Laura: »Visual Pleasure and Narrative Cinema« [1975], in: Thornham, Sue (Hg.), Feminist Film Theory. A Reader, Edinburgh University Press 1999, S. 58–69. Rajewsky, Irina: Intermedialität, Tübingen / Basel 2002. Roloff, Volker : »Anmerkungen zum Begriff der Schaulust«, in: Hartl, Lydia / Hoffmann, Yasmin / Hülk, Walburga / Roloff, Volker (Hg.): Die Ästhetik des Voyeur/ L’Esth¦tique du voyeur, Heidelberg 2003, S. 26–31. Tierchant, H¦lÀne: Musidora. La premiÀre Vamp, Paris 2014.

Filmographie Assayas, Olivier : Irma Vep (1996). DVD Second Sight. Feuillade, Louis: Les Vampires (1915–1916). DVD Artificial Eye (3 disc collector’s edition).

Monika Meister und Stefan Hulfeld

Slapstick und Story. Über das Wechselspiel von sequenzieller Narration und narrativem Momentum

Sequenzielle Narration und narratives Momentum Wenn ein weiteres Mal Ibsens Nora, Tschechows Der Kirschgarten oder Horv‚ths Glaube, Liebe, Hoffnung inszeniert werden und die Spielenden dabei artistische Nummern einflechten oder zeitweilig der Eigenlogik des Spiels mehr Beachtung schenken als der Rolleninterpretation, spricht die Theaterkritik reflexartig von »Slapstick-Einlagen«. Meist ist das pejorativ gemeint, und nicht selten schwingt im Bericht über Slapstick-Nummern in Klassikerinszenierungen die Angst vor dem Sinnverlust mit. Der ›billige Lacher‹ oder die Absenz des ›Erkennenden im Lachen‹ wird moniert.1 Dieses Denkmuster geht davon aus, dass Slapstick die im Drama angelegte Narration, also die Story bzw. Fabel, auf jeden Fall unterbreche und damit deren Sinnhaftigkeit gefährde, während es gleichzeitig ein narratives Potenzial des Slapsticks negiert. Das ›Sinnhafte‹ einer Theateraufführung würde demgemäß immer in der Fabel liegen, nie im Slapstick. – Das scheint zu einfach gedacht, weshalb wir in diesem Beitrag eine andere Sichtweise erproben. Zunächst sei aber daran erinnert, dass die Koexistenz von Slapstick und Story als dramaturgisches Problem die Herausbildung eines dramenbasierten Theaters in der Neuzeit begleitet. In diesem Prozess mussten die Berufsschauspielerinnen und -schauspieler zunehmend ihre genuinen Spiel- und Improvisationsnummern aufgeben, um sich in das von Dramenautoren konzipierte Ensemblespiel zu fügen. Bereits im 17. Jahrhundert prägen beispielsweise diesbezügliche Konflikte zwischen eigenwilligen Buffoni oder Diven und dramaturgisch sensiblen Prinzipalen die Entwicklung der Commedia dell’arte.2 Als lazzi werden in der Commedia die komödiantisch-artistischen Nummern der Improvisationsakteure bezeichnet; sie entsprechen damit dem, was heute mehrheitlich Slapstick genannt wird. Ein re1 Verifizieren lassen sich diese Aussagen beispielsweise, indem auf der Plattform www.nachtkritik.de der Suchbegriff »Slapstick« eingegeben wird. Am 27. März 2013 waren auf diese Weise 354 Treffer zu erzielen, die u. a. die drei genannten Stücke betrafen. 2 Ferrone 1983, S. 41–53.

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formorientierter Commedia-Prinzipal, Luigi Riccoboni, problematisierte in seiner Histoire du th¦–tre italien (1728) deshalb aus gutem Grund das Verhältnis dieser lazzi zur Fabel, indem er sich am Beispiel des sogenannten Fliegen-lazzo im Stück D¦valiseur de maisons die Frage stellte, inwiefern der lazzo die Handlung der Szene unterbreche. Er kam zum Schluss, dass dieses Spielelement zwar als Aussetzen der Erzählung gewertet werden kann, sich jedoch auf anderer Ebene in den Dienst der thematischen Intention der Szene stelle, womit lazzi die Aufführungssituation dynamisieren und dramaturgische Kohäsionskräfte letztlich stärken würden.3 Commedia-Forschende des 20. Jahrhunderts sahen in den lazzi tendenziell »Gags« oder »comic routines«, ohne die Frage nach einem Erzählpotenzial zu stellen.4 Vereinzelt wurde aber der von Riccoboni eingeschlagene Weg weiter verfolgt und über das Verhältnis von Fabel und lazzi als ineinander verwobene, eigenständige Strategien theatralen Erzählens nachgedacht.5 – Eine analoge dramaturgische Problemlage formierte sich in der Entwicklung des Stummfilms, indem (die meist in Unterhaltungstheaterformen ausgebildeten) Akteure und Akteurinnen das Verhältnis von Slapstick und Story mit zunehmender Spieldauer und dramaturgischen Ambitionen der Filme neu auszutarieren hatten. Deshalb gibt es auch eine entsprechende filmwissenschaftliche Debatte, die Tom Gunning mit seinem Aufsatz Das Kino der Attraktionen initiiert hat.6 Wie Klaus Nüchtern in seiner Studie über frühe Buster-Keaton-Filme festhält, wird diese Diskussion zwischen »zwei Lagern ausgetragen«, wobei die einen als »Narrativisten«, die anderen als »Disruptivisten« bezeichnet werden können. »Stark vereinfacht ausgedrückt betonen die Narrativisten die Kontinuität der Filmerzählung, wohingegen die Disruptivisten das Augenmerk auf die Sprengkraft des Gags richten.«7 Die einen heben also die Fabel hervor und orten im Slapstick ein diese sprengendes Potenzial. Den Gags wird als einem »Phänomen des Bruchs« subversive Funktion zugeschrieben. Für Donald Crafton eignet dem Gag in diesem Sinne sogar »das anti-narrative Paradigma schlechthin«.8 Die Gegner dieser Position sprechen hingegen von einer narrativen Funktion des Slapsticks, der die sequenzielle Erzählung zu spiegeln oder zu parodieren vermöge. Schon diese rudimentäre und selektive Sicht auf historische Entwicklungen 3 Riccoboni 1728, S. 68: »[…] ces Lazzi, quoiqu’inutiles — la Scene, parce-que, si Arlequin ne les faisoit pas, l’action marcheroit to˜jours sans qu’il manqu–t rien: quoiqu’absolument inutiles, dis-je, ils ne s’¦loignent point de l’intention de la Scene, car s’ils la coupent plusieurs fois, ils la renouent par la mÞme badinerie, qui est tir¦e du fond de l’intention de la Scene.« 4 Vgl. Gordon 1996 oder Capozza 2006. 5 Vgl. Apollonio 1930, S. 137–188 sowie Hulfeld 2014, S. 80–105. 6 Gunning 1996, S. 25–34. 7 Nüchtern 2012, S. 40. 8 Ebd., S. 41.

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lässt erahnen, dass das Slapstick/Story-Problem für seriell produzierte und distribuierte, populäre Theater- oder Filmgenres symptomatisch ist, insbesondere wenn diese nach einer akteurs- und nummernbasierten Formierungsphase komplexere dramaturgische Strukturen zu entwickeln beginnen. Auffallend und für die westliche Geistesgeschichte kennzeichnend ist, dass die parallel zu diesen Entwicklungen entfachten Debatten sowie große Teile der wissenschaftlichen Perspektivierungen von einer Präferenz eines Erzählbegriffs geprägt sind, der an den Logos zurückgebunden werden kann. Komplementär erfahren die vom ostentativen, artistischen Körper sowie von Schaulust abhängigen Spielelemente eine skeptische Bewertung, ja tendenziell wird ihnen das Erzählpotenzial abgesprochen. Weil also der Schauwert des Slapsticks und die Narration der Story tendenziell als Oppositionsbeziehung begriffen werden, entwickeln wir nachfolgend eine Sichtweise, die nach der spezifischen Verbindung dieser unterschiedlichen Erzählmöglichkeiten fragt. Denn zum einen scheint das Problem an einem zu einseitigen Dramaturgie-Verständnis modelliert, das voraussetzt, die Erwartungshaltung von Theater- oder Filmrezipierenden ziele auf das Erzählen einer Story. Zum anderen bestimmen traditionelle Termini die Diskussion, womit das narrative Potenzial des Slapsticks nur in Rückbindung an die Fabel diskutierbar wird. Wir unterscheiden deshalb zwischen der sequenziellen Narration (Mythos, Fabel, Story, Plot etc.) und einem narrativen Momentum (lazzo, Slapstick, Artistik, Attraktion etc.) und plädieren dafür, die Verbindung von Story und Slapstick als formale Spannung im Rahmen einer populären Erzählstrategie zu sehen. Unsere Überlegungen beziehen sich bewusst auf ein Theatergenre, das offensichtlich dem Schematismus und der Serialität verpflichtet ist, nämlich dem Bühnenschwank. Das 1913 uraufgeführte Stück Die spanische Fliege des Erfolgsduos Arnold & Bach in der Inszenierung von Herbert Fritsch dient als exemplarischer Gegenstand. Diese Produktion erlebte an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz am 29. Juni 2011 ihre Premiere und wurde zum Berliner Theatertreffen 2012 eingeladen.9 Zunächst geht der Beitrag darauf ein, wie innerhalb des Genres Schwank sequenzielle Narration funktioniert, wobei auch die Story dieses heute weitgehend unbekannten Stückes zu skizzieren sein wird. Danach sind Eigenheiten des Theaterschaffenden Herbert Fritsch zu erläutern, um schließlich anhand einer Szene aus Die (s)panische Fliege das Wechselspiel von narrativem Momentum und Fabel zu problematisieren.

9 Die (s)panische Fliege. Premiere am 29. 06. 2011, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Regie und Bühne: Herbert Fritsch, Kostüme: Victoria Behr, Licht: Torsten König, Musik: Ingo Günther, Dramaturgie: Sabrina Zwach. Mit Wolfram Koch, Sophie Rois, Mandy Rudski, Hans Schenker, Inka Löwendorf, Werner Eng, Christoph Letkowski, Harald Warmbrunn, Stefan Staudinger, ChrisTine [sic] Urspruch, Bastian Reiber und Betty Freudenberg.

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Die spanische Fliege von Arnold & Bach, ein Schwank Zwischen 1850 und 1930, also im Zuge der oftmals als »Proliferation der Gattungen« beschriebenen quantitativen Zunahme und soziologischen Ausdifferenzierung des Unterhaltungsangebots unter dem Einfluss der Industrialisierung und Urbanisierung,10 entwickelte und behauptete sich der Schwank als theatrales Refugium des mittleren Bürgertums. Diesem gehören die Figuren des Schwanks an, wobei das Movens der sequenziellen Narration stets aus einer Dissonanz in der moralischen und ökonomischen Verfasstheit einer Familie resultiert, die es wieder in eine allgemein akzeptierte Harmonie zu bringen gilt.11 Das Autorenduo, die Komödianten Franz Arnold und Ernst Bach, bescherten diesem Genre in den 10er und 20er Jahren des 20. Jahrhunderts Höhepunkt und Ende zugleich. Die spanische Fliege zeigt sich einer traditionellen Komödienstruktur verpflichtet: Paula Klinke verliebt sich, die Mutter ist mit der Partnerwahl nicht einverstanden und bestellt einen Wunschschwiegersohn ins Haus, am Ende setzt sich die Tochter durch und vollzieht die Liebesheirat. Das bleibt aber eine Hilfskonstruktion, denn die Narration ist nicht im Geringsten auf dieses Happy End fokussiert. Vielmehr stellt sie die Widerstände des jugendlichen Liebesverlangens ins Zentrum, und zwar deshalb, weil diese mit einem in der Elterngeneration drohenden ›Skandal‹ in Verbindung stehen. Dieser ist die Triebfeder der sequenziellen Narration, womit ein gewisser Ludwig Klinke, ein forscher und durchaus pragmatischer Senffabrikant, in das Zentrum des Interesses rückt. Sein ›Vorleben‹ droht nach 25 Jahren ihn und seine Familie zu ruinieren. Im Tivoli einer größeren deutschen Provinzstadt hat er sich 1888 mit der Tänzerin SeÇorita Rosita eingelassen, die als »Die spanische Fliege« Furore machte. Die offenbar erotisierende Frauengestalt entpuppte sich als Röschen Zippel aus Bautzen, von der Klinke per Post ein Baby-Foto erhielt, auf dessen Rückseite geschrieben stand: »Freu dich Papa, nun bin ich da!«. Seither leistet der Senffabrikant Unterhaltszahlungen für einen unehelichen Sohn. 1913 kümmert er sich also um die Senffabrik und erhält so seine Kleinfamilie, während seine Frau einem Verein vorsteht, der sich um den Mutterschutz verdient macht. Dieser um Emma Klinke versammelte Verein schreckt auch nicht davor zurück, das Privatleben anderer zu bespitzeln, wenn es der »Hebung der Sitten« dient. Klinkes Tochter beispielsweise will einen Rechtsanwalt heiraten, der jedoch mit seinen (vom Verein eruierten) acht Liaisons in sechs Jahren nicht als Schwiegersohn in Frage kommt. Stattdessen hat Frau Klinke bereits die Verheiratung ihrer Tochter mit dem Sohn einer in Chemnitz tätigen Bundesgenossin im Kampf um die 10 Marx 2007, S. 133–149. 11 Klotz 2000, S. 271–296.

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Sittlichkeit arrangiert. Und dieser, ein promovierter Assyriologe, besucht nun also die Klinkes just zu dem Zeitpunkt, als das Vorleben des Vaters ruchbar zu werden droht. Wie Volker Klotz nachgewiesen hat, liegt in der Abwehr eines Skandals die stets identische Triebkraft und Struktur der sequenziellen Narration des Schwanks.12 Die Frauen sind als Hüterinnen jener Moral definiert, die gleichzeitig als Grundlage des ökonomischen Überlebens der Familie verstanden wird. Die Patriarchen gefährden diese Existenzgrundlage durch außereheliche erotische Ambitionen, so dass die Handlung entlang eines Genderantagonismus hinund hergetrieben wird, bis es gelingt, den Skandal (oder zumindest dessen Aufdeckung) im letzten Moment abzuwenden. Die sequenzielle Narration steht damit im Dienst des Verstellens, des Verwechselns, des Lügens, des Hintertreibens, des Offenbarens und vermeintlichen Aufdeckens etc., um am Ende wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Alles, was sich im Schwank ereignet, zielt darauf, dass sich nichts ereigne – und dafür muss viel getan werden. Warum der weltfremde Assyriologe aus Chemnitz Klinke just mit den Worten »Freu dich Papa, nun bin ich da!« begrüßt, sei dahingestellt. Er tut es, und die Raffinesse der Autoren liegt darin, Missverständnisse und Verwechslungen auf die Spitze zu treiben. Nicht weniger als fünf honorige Bürger stehen am Ende im Verdacht, den unehelichen Sohn der spanischen Tänzerin aus Bautzen gezeugt zu haben. Mindestens einer, nämlich der schärfste Spürhund des Sittlichkeitsvereins, hat ebenfalls 25 Jahre lang Unterhaltszahlungen geleistet. Die fromme Frau Stadträtin aus Chemnitz wird von den früher im Tivoli verkehrenden Männern für die ›Spanische Fliege‹ gehalten. Damit ist dann der Gipfel der Peinlichkeiten erreicht, der Reigen der Verwechslungen bald vorbei. Kaum haben sich auf der Ebene der Kinder zwei Hochzeitspaare mit dem Segen der Eltern gefunden, kann getan werden, als ob nichts gewesen sei. – Die aus Sicht der bürgerlichen Moral so gefährliche Vergeudung von Trieben und Geld mag real gewesen sein. Vorhang. Am Ende sei alles wieder gut, zumindest bis der nächste Schwank droht.13 Die sequenzielle Narration entfernt sich unter den Bedingungen eines kommerziellen und auf Breitenwirkung ausgerichteten Theaterbetriebs weit von der Idee eines nach Maßgabe freien Willens handelnden Subjekts. Und auch der ins Kritische gewendete Handlungsbegriff, der das Subjekt konsequent als Resultat einer Klasse oder gesellschaftlicher Verhältnisse versteht, liegt außerhalb der Intention der Schwank-Autoren Arnold & Bach. Das Schematische und Konventionelle prägt die sequenzielle Narration, die sich nicht um Plausibilität, sondern um die Maximierung pikanter Verwechslungen bemüht zeigt, aber gleichzeitig so konstruiert sein muss, dass am Ende alles zum Sturm im Was12 Ebd., S. 288–290. 13 Vgl. die Ausführungen zum Schwank in Klotz 1984, S. 151–182.

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serglas umgedeutet werden kann, der die umspielten Moralvorstellungen bekräftigt. Die spanische Fliege wirkt in ihrer weniger um Plausibilität als um Knalleffekte bemühten Erzählung schon fast als Parodie des Genres. Volker Klotz spricht aber von »ungewollten Realismen«. Denn die Eskapaden eines Senffabrikanten und die Schwänke seiner Familie und Klasse seien innerhalb einer von Banken, Börsen und Trusts dominierten Ökonomie genau so geartet, wie sie im Bühnenschwank manifest würden: nämlich schlicht bedeutungslos. Den Bühnenfiguren innerhalb dieses Genres sei es weder möglich noch erlaubt, sich als selbständiges Subjekt hervorzutun, das aus eigenem Antrieb etwas will und erreicht. Verdonnert zum Objekt, können sie sich nur abstrampeln in vorgeprägten ferngesteuerten Situationen, die sie nicht beherrschen.14

Das mag eine Erklärung dafür sein, warum sich der Schwank als einigermaßen resistentes Genre erweist und Die spanische Fliege 2012 sowohl im Wiener Gloria Theater (Floridsdorf) als auch an der Volksbühne Berlin jeweils ausverkauft war, in Inszenierungen, die trotz immenser Unterschiede bezüglich Bühnenästhetik und Zielpublikum bei den Schreibenden letztlich keinen unähnlichen Eindruck hinterlassen haben.15 – Wenn also bislang spezifiziert wurde, welche Art von sequenzieller Narration sich besonders dazu anbietet, vom Slapstick durchkreuzt und von dessen narrativer Potenz ergänzt oder hintergangen zu werden, so ist nun die dramaturgische Problematik anhand der Berliner Inszenierung und eines ausgewählten narrativen Momentums weiter zu verfolgen.

Die (s)panische Fliege von Herbert Fritsch (2011) »Das ist eigentlich eine ziemlich ernste Angelegenheit mit der Komik«16, postuliert Herbert Fritsch, dessen Regiearbeiten dadurch gekennzeichnet sind, dass sie nicht vorgeben, Realität abzubilden, sondern im Wissen um die Unmöglichkeit dieses Anspruchs die Voraussetzung theatralen Spiels erblicken. Die Essenz desselben liegt in der offensichtlichen Behauptung des Als-ob, das reflektiert ins Absurde getrieben wird und dadurch die Konstruktion von Wirklichkeiten zu kommentieren vermag. Angestrebt wird eine offensive, dem Authentizitätsanspruch entgegengesetzte Künstlichkeit, die Figuren zu den unglaublichsten Verrenkungen zwingt und artistische Virtuosität voraussetzt. 14 Klotz 2000, S. 286. 15 Die spanische Fliege. Premiere am 09. 11. 2012, Gloria Theater Wien-Floridsdorf. Regie: Gerald Pichowetz. Mit Susanna Hohlrieder, Lotte Loebenstein, Nina Neumann, Elisabeth Osterberger, Isabell Pannagl, Marcus Ganser, Jürgen Grill, Peter Lodynski, Robert Notsch, Franz Mifkovic, Rudi Pfister, Josef Pechhacker und Gerald Pichowetz. 16 Fritsch 2012, S. 13.

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Den Vorwurf des Betrugs, gegen den Berufsschauspielerinnen und -spieler über einige Jahrhunderte hinweg opponierten und auf den die Erfindung einer ›authentischen‹ Kunst der Menschendarstellung reagierte, wendet Fritsch ins Positive. […] wir sind Betrüger, wir machen den Leuten was vor. Grimassenschneiden und Körperverrenken und seltsam Sprechen [sic] – das sind ganz naive Grundelemente von Theater, die mir riesigen Spaß machen.17

Dieses Bekenntnis zu den »naiven Grundelementen« legt nahe, warum der Modus des Spielens als Abspulen des Geschehens, wie es das Boulevardtheater und insbesondere der Schwank vornimmt, ein kongeniales Material für die Bühnenanordnungen von Fritsch darstellt. Hier zeigt der Regisseur seine ausdifferenzierte Kenntnis komödiantischer Körpertechniken als Komposition im präzise entworfenen Raum. Voraussetzung solcher Körper-Grammatik des Slapsticks ist die ebenso präzise Zeitdramaturgie, die der Notwendigkeit des raschen Tempos von Körperpointen Rechnung trägt. Ein kennzeichnendes Element des Slapsticks ist dessen antipsychologische Struktur und Wirkungsdimension, in der ethische und moralische Ordnungen vorübergehend außer Kraft treten. An deren Stelle tritt die physiologische Formation, die Kunst der Körpertechniken (die artistic acts) – kurz das technisch organisierte Spiel mit dem Körper und den Dingen. Fritsch bezeichnet sich und seine Akteurinnen und Akteure denn nicht als »Menschendarsteller«, die von August Wilhelm Iffland propagierte Berufsbezeichnung negierend18, sondern als »Komödianten«, »Monsterdarsteller« oder »Möbeldarsteller«: »So als Schrank auf die Bühne zu kommen…«19 Die Mechanik der Verwechslungskomödie mit ihren antipsychologischen Stereotypen kommt diesem Verfahren entgegen. Herbert Fritschs Inszenierung Die (s)panische Fliege bleibt buchstäblich genau am Text, nimmt dessen narrative Struktur ernst und findet in den Slapstick-Sequenzen mit ihren Eigendynamiken einen zusätzlichen Narrationsmodus. In der Inszenierung lässt sich studieren, welchen Stellenwert dem Timing der Choreographie in Hinblick auf die Kollision von Körper und Ding, von Hier und Fort, von Sprung und Stand, von Luft und Boden zukommt. Die Zeitkomposition bestimmt nicht nur das 17 Herbert Fritsch in Behrendt 2011, S. 7. Fritschs Bekenntnis zur theatralen Betrügerei erinnert an die Ausführungen von Wsewolod Meyerhold über den ebenfalls mit dem Betrugsvorwurf konnotierten Begriff »cabotin« bzw. »cabotinage«, vgl. Meyerhold 1979, S. 203: »Die ›cabotinage‹, die […] zusammen mit der Erneuerung des alten Theaters aufleben wird, kann dem heutigen Schauspieler helfen, sich den Grundgesetzen des Theatralischen zuzuwenden.« 18 Ifflands Fragmente über Menschendarstellung wurden 1785 erstmals publiziert und finden sich abgedruckt in Iffland 2009, S. 26–91. 19 Fritsch 2011, S. 74.

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hohe Tempo, in dem das Spiel abläuft, sondern sie überrumpelt permanent die sequenzielle Narration. Keine Zeit für diskursive Entfaltung, vielmehr ist es das Moment des Exzessiven, des Überschießenden, das Fritsch interessiert. Er ist Schauspieler, Regisseur und Bühnenbildner. Seine Inszenierungen und Bühnenräume zeichnen sich durch ästhetisch präzise komponierte Choreographien aus: Körper und Sprache, Klang und Rhythmus, Akrobatik und stilisiertes, die Übertreibung ausstellendes Kostüm kennzeichnen seine Arbeiten seit einigen Jahren. Theaterästhetisch nahe den Arbeitsweisen der Berliner Volksbühne (von 1992 bis 2007 war er dort als Schauspieler engagiert) und geprägt von Frank Castorfs Inszenierungen, das heißt in Grenzüberschreitungen geübt, entwirft Fritsch sein Theater als perfekt funktionierende maschinelle Anordnung: Disziplin vorausgesetzt, entspringt aus dieser momenthaft der Exzess, die Verausgabung in der Situation. Das beinhaltet auch die Möglichkeit der Improvisation, des an die Grenzen sich katapultierenden Körpers, des Nicht-Festgelegten, das der spontanen Fantasie der Akteure Raum gibt. Das ist das lustvolle Reservoir dieses aufregenden, ausufernden, exzentrischen Spiels, das am Ende wieder dort ist, wo es seinen Anfang nahm. Für Fritsch ist das Theater »keine Kirche, keine Schule, sondern ein Kraftwerk« erneuerbarer Energien, die das Publikum hysterisieren sollen.20 Dezidierte Gesten und Haltungen verweisen auf einen Körpergebrauch, dem das ästhetische Verfahren der Verfremdung, des in StaunenVersetzens Grundlage ist und dieses zugleich ins Absurde oder Groteske hebt. Kennzeichnend für die Inszenierung sind auch die Kostüme von Victoria Behr, die dem Grundkonzept der Übertreibung entsprechen und in dieser ihrer Übertreibung als ›Klamotten‹ den lustvollen Nonsens akzentuieren.21 Welche Funktion(en) erfüllen aber die Slapstick-Szenen in der Fritsch-Inszenierung Die (s)panische Fliege, und wie wirkt die Sprengkraft der SlapstickNummern auf das Kontinuum? Kann der Slapstick als anti-narratives Paradigma gelten oder als eigenständige narrative Struktur? Schafft er Vergnügen oder kritische Distanz – oder beides in einem?

Ein Versteckspiel offenbart das Corpus Delicti Bereits die Klammer im Titel der Inszenierung gibt die Richtung an, das »s« von »spanische« ist gleichsam auf unsicheren Grund gesetzt. Die Einklammerung verweist auf ein Spiel mit der Dimension des Panischen, also der Ängste und Begierden, die im Kontext bürgerlicher Familienstruktur blühen. Fritsch interessiert der Rausch, der Exzess, das Geisterfahren. Das Aus-der-Rolle-Fallen auf 20 Vgl. Behrendt 2011, S. 8f. 21 Vgl. Burckhardt 2011.

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allen Ebenen, wie es so nur Theater zeigen kann, wenn die Rolle konstitutiv präsent ist. Der Titel des Schwanks Die spanische Fliege spielt auf ein Aphrodisiakum an, auf berauschende potenzsteigernde Tropfen, die für Fritschs Konzeption nicht ohne Bedeutung sind, da sie in ihrer Doppeldeutigkeit auch auf ihre Wirkung als Nervengift hinweisen. Berauschend und vergiftend, beide Attribute treffen sich im Begriff des Pharmakon, in dessen Kontext auch von der Katharsis die Rede ist. Deutlich markiert ist das Rauschhafte mit den Mitteln der Komik, deren andere Seite des Tragischen immer präsent ist. So wie das Lachen über die stolpernden Körper begründungslos ist und dennoch eine unterirdische Verbindung zur Trauer aufweist, indem es uns über das Misslingen der Perfektion Trost spendet, so präsentieren sich die Figuren in der (s)panischen Fliege von Fritsch in ihrer doppelten Funktion als komische und damit auch tröstende. In jedem Fall geht es darum, den Normalzustand ins Schwanken zu bringen, zu unter- und zu überbieten, überhaupt der immer auch komischen Hinfälligkeit menschlicher Existenz eine Bühne zu geben.

Die (s)panische Fliege, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Ó Thomas Aurin, Berlin v.l.n.r. Betty Freudenberg (Marie, Haushälterin), Wolfram Koch (Ludwig Klinke), Sophie Rois (Emma Klinke)

Beispielhaft ist das körperbetonte, in Fahrt kommende Spiel an jener Szene zu analysieren, in der das verheimlichte amouröse Abenteuer das Bühnengeschehen bestimmt. Es geht in der zur Diskussion stehenden Szene (in der Schwankvorlage den Szenen I, 10 und I, 11 entsprechend) darum, das in Ak-

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tenordnern aufbewahrte Corpus Delicti, nämlich die administrativen Folgeerscheinungen des einstigen Fehltritts von Klinke, sofort verschwinden zu lassen, weil soeben die sittenstrenge Ehefrau die Bühne betritt. Nun muss Klinke alles daran setzen, dass diese von der längst verjährten Ausschweifung und den andauernden Unterhaltszahlungen nichts erfährt. Soweit die dem Schwank zugehörige Fabelsequenz, die bereits auf die Parodie des Schwanks abzuzielen scheint. Die Mechanik der Story, die Auf- und Abtritte etc. sind gekennzeichnet durch Übertreibung, durch übermäßiges Verdeutlichen der Intentionen der Figuren, des Versteckens von Dingen, kurz, alle Attribute der Verwechslungskomödie finden hier Anwendung. Jeder Auftritt signalisiert aufs Neue die Austauschbarkeit der Figuren. Die dramaturgischen Regeln der Wahrscheinlichkeit und Motiviertheit sind hier außer Kraft gesetzt. Das heißt, dass die Fabelerzählung narrative Strukturen parodiert und diese in ihrer Künstlichkeit abspult. Die Fabel beschreibt das Unter-den-Teppich-Kehren, das Fritsch buchstäblich in den Bühnenraum setzt: Der Bühnenboden ist ausgelegt mit einem riesigen Orient-Teppich, der im hinteren Teil der Bühne sich zu einer Erhebung über die gesamte Bühnenbreite wellt und der für die szenischen Vorgänge bestimmend und aussagekräftig ist. Unter dem Teppich ist ein Trampolin installiert, das die Schauspieler gleich Springteufeln in die Lüfte katapultiert, sie wieder am Boden landen lässt, um abermals ihre Zirkusnummern gleichenden acts abzuliefern. Es gibt keine Türen, die Sichtbarmachung des vom Teppich Verborgenen findet konkret statt, nämlich indem die Figuren aus diesem herauskriechen und -hüpfen. Direkter und zugleich akrobatischer geht das nicht. Fritsch experimentiert mit dem Trampolin, den Sprungfedern, die Körper als mechanisch bewegte Dinge ausstellen. Statt einer Tür. Mich interessiert, wie ich den Tür-auf-Tür-zu-Effekt der Komödie ohne Tür auf der Bühne hinbekomme. Wie macht man das, dass da plötzlich – zack! – jemand präsent ist?22

Bei jedem Sprung der Akteurinnen und Akteure auf dem Trampolin ertönt ein bestimmter Sound, der das Mechanische des Vorgangs verstärkt. Artistik und Metapher zugleich. Die Rezension auf nachtkritik.de von Wolfgang Behrens ist mit »Adornos Trampolin« überschrieben: Es ist eine Art Slapstick-Fibel, die Herbert Fritsch mit all diesen zum Furor des Chargierens befreiten Darstellern aufblättert, ein Lexikon der Komik: Da sind die Marx Brothers so präsent wie Laurel und Hardy, wie Chaplin, Harold Lloyd oder Buster

22 Fritsch 2012, S.13.

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Keaton. Und nicht zuletzt scheint sich Fritschs Ästhetik aus frühen Zeichentrickfilmen zu speisen.23

Der Hinweis auf Adornos in der Dialektik der Aufklärung dargelegten Gedanken, dass »die Trickfilme einmal als Exponenten der Phantasie gegen den Rationalismus« zu betrachten sind sowie als Fortsetzung der Slapstick Comedy gelten können, erklärt die Pointe des Titels.24 Auf einer möglichen Sinnebene geht es um nichts anderes als um die lustvolle, weil entlastende Wahrnehmung der Doppelmoral bürgerlicher Familienverhältnisse. Genau das bestimmt, was jetzt geschieht: die Aktenordner mit den Zahlungsbelegen werden vom Protagonisten in einer ersten Sequenz unter dem Teppich hervorgeholt. Sodann besteht das Spiel darin, diese in irgendeiner Form zum Verschwinden zu bringen, und zwar mittels des umständehalber primär hinter dem Rücken ausgeführten artistischen Agierens und Gestikulierens. Das Spiel mit den Akten sowie das, worum es dabei geht, ist offensichtlich. Der Schauspieler führt eine Folge von SlapstickNummern aus, eine Kaskade körpertechnisch perfekter Vorgänge: stolpern, fallen, schieben, torkeln, springen, das in jedem Augenblick hervorgebrachte Zuviel an gestischer Artikulation, das ebenso augenblicklich zusammenbricht, neu anhebt, dabei den weiten Bühnenraum von einer Seite zur anderen bespielt. Der Körper misst den Raum aus, die Diagonalen, das Vor und Zurück, die Seiten der Bühne, die Rampe. Alles, um das Ding zum Verschwinden zu bringen, um das, was jeder sieht, als Geheimnis zu markieren. Am ausgewählten Beispiel lassen sich die Strukturen des Narrativen sowohl bezogen auf die Fabel als auch auf die Slapstick-Erzählung aufzeigen und in Hinblick auf unsere Frage analysieren. Hier etabliert sich exemplarisch, welche Energie und Aussagekraft einer puren Akrobatik als einer hohen Kunst des Theaters zukommt. Der Körper in seinen ungebremsten komischen Ausdrucksformen steht im Zentrum, nicht das Sprechen. Und dennoch wird, in anderer Form, gesprochen. Diese neue Sachlichkeit heutzutage halte ich für einen großen Irrtum. Wir erleben doch auch nur eine inszenierte Realität. […] Da ist es doch interessant zu sagen: Ich spreche jetzt einfach mal ganz anders.25

»Unecht«, fügt Fritsch hinzu. Dabei wird Sprache als Klang interessant, als artifiziell gesteigerte Ausdrucksform, der jedes realitätssüchtige Verfahren entgegensteht. In seiner Inszenierung wird daraus eine Körpererzählung par excellence, eine Serie von Slapsticks, die dem Reihenprinzip gleichartiger Vorgänge mit Varia23 Behrens 2011. 24 Ebd. 25 Fritsch 2012, S. 13.

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tion entsprechen. Die vorgegebenen Regeln von Wiederholung und Variation der Gesten und Bewegungen, allesamt eigenständige Pointen und Kommentare des Geschehens, setzen sich in Beziehung zur subjektiven Kreation und Erfindung des Akteurs, die von seinem artistischen Vermögen, seinem Einfallsreichtum, abhängen. Die sehr lässig und perfekt absolvierten Slapsticknummern werden gerne mal überdreht und überdehnt ins völlig sinnfreie Spiel. Statt auf eine wohl kalkulierte Ökonomie der Pointen zu setzen, geht Fritschs Regie lieber in die Verschwendung und die Übertreibung.26

Der ehemalige Kunstturner Wolfram Koch zeigt in der Rolle des Mostrichfabrikanten und Schwerenöters Klinke in seiner Akrobatik und Gestikulation gleichsam auf einer Kommentarebene zum Eigenleben des Corpus Delicti, wie weit entfernt und nah zugleich der Körper dem Ding ist. In der Rezension der Süddeutschen Zeitung beschreibt der Theaterkritiker Peter Laudenbach Kochs Spielgestus folgendermaßen: Mit […] Nonchalance rennt Koch, als käme er direkt aus einem Film der Marx-Brothers, beim Abgehen scheppernd gegen Scheinwerfer, lässt gekonnt seinen angeklebten Schnäuzer baumeln oder entwickelt im Ganzkörpereinsatz eine wahre Choreographie in der Kunst, aus der Vertikalen in die Horizontale zu fallen.27

Die Gefährdung und die Schutzlosigkeit, die Grenze zum Absturz und zur Verletzung sind immer präsent. Das narrative Momentum zeigt die KörperVeranstaltungen des Versteckens, eigentlich den vergeblichen Versuch des Unter-den-Teppich-Kehrens verheimlichten Begehrens, die lustvolle Darbietung des peinlich zu Verschweigenden. Die Wiederkehr des Verdrängten ist die logische Konsequenz. Dass das aus der Not geborene Spiel mit dem Verheimlichten dieses erst recht offensichtlich macht, ist dem Genre eigen und beschreibt die ironisch lustvolle Doppelfunktion der Lüge. Durch das Verstecken wird das Corpus Delicti so präsent, dass geradezu von einer Peripetie, einem Umschlag des Erstrebten in sein Gegenteil, zu sprechen ist. Ein zentrales, auf den Protagonisten bezogenes Formelement der klassischen Tragödie leuchtet damit in der anti-heroischen, im Momentum komprimierten Gestikulation aus dem Slapstick von Koch/Klinke hervor. In den grotesken und komischen Formen von Theater findet der Umschlag von Sprechen in physische Aktion statt, eine spezifische Form von Verausgabung, der die Gefährdung immanent ist: ein kalkulierter Exzess. Riskante Kapriolen des Körpers strukturieren den Slapstick, mit einfachsten Mitteln und perfekter Technik werden höchste akrobatische Kunststücke ausgeführt. Derart generiert der Akteur einen anachronistischen 26 Laudenbach 2011, S. 12. 27 Ebd.

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Kosmos von Sinn und Unsinn, der sich im ostentativen Stürzen und Stolpern manifestiert sowie in den buchstäblichen Fehltritten, die die elementaren Funktionen des menschlichen Körpers sichtbar machen. Es ist der bewusst in Szene gesetzte Lapsus, der mechanisch einem aufgezogenen Räderwerk vergleichbare Ablauf von intendiert misslingenden Bewegungsfolgen. Der Körper als Hindernis – diese Tradition des Komödiantischen, dieses Über-die-eigenenFüße-Stolpern, das auch der Komödienautor Heinrich von Kleist erinnert, wenn er Dorfrichter Adam lapidar lügen lässt: Ja, seht. Zum Straucheln braucht’s doch nichts, als Füße. Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier? Gestrauchelt bin ich hier ; denn jeder trägt Den leid’gen Stein zum Anstoß in sich selbst.28

Witzig, zum Tränen Lachen und zugleich die Unzulänglichkeiten und Gefährdungen menschlichen Lebens zeigend, verharren die Bühnen-Aktionen im Momentum des Slapsticks knapp vor dem Umkippen ins Melancholische und Tragische. Der Slapstick bildet also innerhalb konventioneller Narration Momente der Attraktion, die auf einem zugleich komprimierten und abstrahierten Niveau in größtmöglicher Konkretheit das Drama einer sozialen Existenz erzählen. Insofern erzählt der Slapstick in Sekundenbruchteilen und sofort sichtbar über einen für alle Zuschauenden verständlichen Abgrund, während die Story spezifiziert, dass das Versuchssubjekt in diesem Falle Klinke heiße und Senffabrikant sei.

Erzähltechnik der Ambivalenz komödiantischer Weltsicht Das ausgewählte Beispiel verweist darauf, wie eingangs bereits erörtert, dass der Slapstick nicht sinnvollerweise als Unterbrechung der Handlung gewertet werden kann. Die sequenzielle Narration und das narrative Momentum vermögen spannungsreiche Verbindungen einzugehen und in Bezug auf das theatrale Erzählen jeweils ganz Unterschiedliches zu leisten. Der Schwank aus der Produktion von Arnold & Bach liefert Fritsch einen Erzählrahmen, der von Betrug, Bigotterie und Verwechslung handelt und damit dem Regisseur ein Feld für sein lust- und planvolles Lügentheater öffnet.29 Der Widerspruch zwischen den ge28 Kleist 1981, S. 5. 29 Auch Robert Walser fügt sich, eigenwillig argumentierend, in die schmale Traditionslinie der Verfechter eines Lügentheaters ein, vgl. Walser 1985, S. 35: »Die Sache ist die: je lebhafter und natürlicher es auf dem Theater aussieht, desto ängstlicher, behüteter, geärgerter und gepolsterter wird es im täglichen Leben ausschauen. Die Bühne übt, wenn sie Wahrheiten ausklopft, einen verschüchternden Einfluß aus; wenn sie aber, was sie etwa früher noch ein

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sellschaftskonstituierenden Moralvorstellungen und der Triebhaftigkeit einzelner Subjekte erfährt keine kritische Wendung, er wird als Triebfeder einer konventionellen Komödienhandlung genutzt und einer historisch konkreten Lebenswelt anverwandelt. »Das Stück spielt in einer größeren deutschen Provinzstadt in der Gegenwart«30, steht in der Vorlage der Schwankautoren, womit sich Ort und Zeit in einzelnen Aufführungen konkretisieren und aktualisieren. Trotzdem haftet den Figuren, ihrer Sprache und den Handlungsmustern die historische Konkretheit der 1910er Jahre an, die allerdings durch die Technik der sequenziellen Narration sowie die narrativen Slapstick-Momente in zweifacher Hinsicht gebrochen wird und dadurch erst Interesse auf sich zu ziehen vermag. Die Fabel vertraut nicht darauf, dass sie oder ihre Figuren per se ein Publikum zu interessieren vermögen. Durch die Maximierung der Verwechslungsmöglichkeiten und Peinlichkeiten entgegen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit wird vielmehr erst sicher gestellt, dass sich auch noch ein Publikum des 21. Jahrhunderts an der ›uninteressanten‹ Story ergötzen kann. Denn die Komödienautoren vertrauen schlicht darauf, dass sich zwischen postulierten Moralvorstellungen und individuellem Handeln immer und überall Abgründe öffnen. Aber erst der Slapstick ergänzt diese dramaturgische Technik, indem er von der conditio humana in komödiantischer Perspektivierung erzählt. Das in den Mittelpunkt gerückte Momentum, in dem das offenbarende Verstecken des Corpus Delicti ausagiert wird, enthält die dramaturgische Essenz des ganzen Schwankes, während die sequenzielle Narration diese Mikroerzählung in eine Erzähllogik und -struktur einbettet. Auch anhand von weiteren Slapstick-Momenten in Fritschs Inszenierung lässt sich zeigen, dass diese szenischen Vorgänge existenzielle Erfahrungen, Wunschvorstellungen und Ängste in »tätiger Reflexion« zu verhandeln vermögen. Dabei überwindet der Slapstick grundlegende Probleme theatralen Zeigens durch die körpertechnisch kreative Position des Akteurs, beispielsweise indem dieser das Amorphe oder Dauerhafte szenisch in ein Momentum verwandelt oder dem Abrupten eine rhythmisierte Mindestdauer verleiht. Spieltechnisch kann nur artistische Prägnanz, also ein hohes Maß an Körper- und Sprachbeherrschung, den szenischen Vorgängen dazu verhelfen, dass sie schneller sichtbar werden als die rationalen Kategorien der Verarbeitung sinnlicher Eindrücke aktiviert sind. Für dieses unmittelbare, vorsprachliche (hypologische) Verstehen scheint, neben der komödiantischen Tendenz zur Verwirrung kategorialer Ordnungen, das dynamische Oszillieren zwischen der Erzeugung konkreter Vorgänge und deren Abstraktion durch Stilisierung webißchen getan hat, goldene, ideale Lügen in großer, unnatürlich-schöner Form ausspinnt, so wirkt sie aufreizend und ermunternd und fördert wiederum die schönen, krassen Gemeinheiten des Lebens. […] Gebt acht mit euern ungezügelten Naturstücken, daß das Leben nicht eines Tages versickert. Ich bin für ein Lügentheater, Gott helfe mir.« 30 Arnold / Bach 2000, S. 196.

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sentlich zu sein. Letztlich zeigen sich die Erzählungen des Slapsticks an das alles entscheidende ›richtige Timing‹ gebunden, von dem es abhängt, ob der sinnliche Eindruck dann trifft, wenn das schauende Subjekt ein Stück kitzlige Haut31 entblößt hält. Deshalb ist der Slapstick keine Unterbrechung der Story, sondern eine eigene Erzählung, die sich mit dieser in dynamische Korrespondenzen setzt. Die groteske Körperkomik schert aus der Erzählung aus und liefert ein in sich abgeschlossenes und autarkes Erzählmoment, das durch seine Einbettung in die sequenzielle Narration wiederum als leiblicher Kommentar verstanden werden kann, für den es kein sprachliches Äquivalent gibt. Der Schwank setzt sich aus dem Sagbaren der Story und dem Unsagbaren des Slapsticks zusammen und treibt so insgesamt mit dem Panischen ein Spiel, das kontinuierlich ambivalent bleibt. Vermutlich vermag erst die Verbindung der so unterschiedlichen Erzählmöglichkeiten von Story und Slapstick, die mit- und gegeneinander arbeiten bzw. in Analogie und Kontrast geraten können, den Ausnahmezustand der Ambivalenz während einer Theateraufführung aufrechtzuerhalten. So gesehen wäre das Wechselspiel von sequenzieller Narration und narrativem Momentum eine Grundbedingung für die theatrale Entfaltung der komödiantischen Weltsicht.

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Nicole Kandioler

Utopie und Normalisierung. TV-Serien als Indikatoren und Mediatoren von gesellschaftlichen Brüchen

Auf die grundlegende Bedeutung von sozialistischen TV-Programmen für die Programmpolitik des aktuellen postsozialistischen Fernsehens haben Anikû Imre, Timothy Havens und Katalin Lustyik in ihrem kürzlich gemeinsam herausgegebenen Buch Popular Television in Eastern Europe During and Since Postsocialism hingewiesen. Sozialistische Fernsehfilme und Serien, Animationsfilme für Kinder und Jugendliche, sogar Werbeeinspielungen, so Imre, Havens und Lustyik in der Einleitung, have re-appeared on local programming since 1989 as an irreplaceable source of national and regional memory and identity and have also inspired serious historical and critical scholarship.1

Die transnationalen Kontinuitäten der postsozialistischen TV-Kulturen verweisen auf die Funktion des Fernsehens als Medium der Erinnerung, das den gesellschaftspolitischen Umgang mit Vergangenheit in Osteuropa wesentlich prägt. Der Systembruch und der Übergang vom Staatssozialismus zum liberalen Kapitalismus werden somit Teil einer Fernsehpolitik, die, wie ich im Folgenden zeigen werde, einerseits Brüche sichtbar macht, auf die sie andererseits mit Kontinuitäten reagiert. Wie televisuelle Texte zwischen Bedeutungsspektren der Vergangenheit und der Gegenwart oszillieren, wie sie mitunter konträre Lektüren ermöglichen, ist außerdem Thema dieses Artikels.2 Den Hintergrund dieser Fragestellung bildet der Vergleich zweier TV-Serien aus den 1970er Jahren, in dessen Mittelpunkt die Gender-Inszenierungen des Arbeiters und der Arbeiterin vor der Folie der beiden gesellschaftspolitischen 1 Imre / Havens / Lustyik 2013, S. 3. 2 In meiner Dissertation (Abschluss voraussichtlich 2015) Postsozialismus, Nostalgie und Remediatisierung. Double Features aus dem zentraleuropäischen Film und Fernsehen beschäftige ich mich mit dem Nexus von Erinnerung und Identität im Kontext von Film- und TVKulturen aus Österreich, Tschechien, Polen, Rumänien und Ungarn. Im Kapitel ›Private Universe‹. Fernsehen, Feminismus und nationale Identität werden den beiden im vorliegenden Artikel behandelten Serien dokumentarische TV-Produktionen gegenübergestellt.

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Systeme des Kommunismus und des Kapitalismus stehen. Ich werde anhand einer dreistufigen Analyse von jeweils einer maßgeblichen Sequenz (illustriert durch Stills) aus den beiden TV-Serien zeigen, wie progressive und konservative Narrative in ihrem historischen Kontext situiert aus heutiger Perspektive divergente Lektüren ergeben und wie das postsozialistische Fernsehen im Fall der tschechoslowakischen TV-Serie in die Erzählung bzw. die Reflexion der Vergangenheit eingreift. Dazu wird auch das Youtube-Video einer Aufzeichnung des tschechischen Fernsehens herangezogen, das eine kleine Debatte in der tschechischen Internetcommunity ausgelöst hat und anhand dessen analysiert werden wird, wie Fernsehzuschauerinnen und Fernsehzuschauer an der Diskussion verschiedener Erinnerungsgenres partizipieren. Im Fokus des Vergleichs stehen die medialen Adressierungen des Arbeiters und der Arbeiterin in den beiden TV-Serien. Folie der Untersuchung sind die historischen gesellschaftspolitischen Brüche 1968 und 1971 und ihre jeweiligen televisuellen Inszenierungen im Osten und im Westen Europas. Während mit westeuropäischen revolutionären Entwürfen einer gesellschaftlichen Utopie patriarchale Strukturen und (hetero-)normative Narrative in Frage gestellt werden (1968), folgt auf die Aufbruchsstimmung der Tauwetterperiode und des Prager Frühlings die Normalizace (1971), mit der die Wiederherstellung der Bedingungen vor den Reformversuchen unter Alexander Dubcˇek und die Einebnung jeglichen politisch subversiven Potentials gemeint sind. Feministischer Aktivismus ist in diesem Kontext, wie ich noch ausführen werde, nicht notwendigerweise als subversiv zu verstehen, sondern gilt als konform zur Staatsideologie. Die Geschlechterdifferenz tritt im Kontext der beiden Ideologien jeweils spezifisch als konstruktives Moment zutage, das die sozialistische oder die kapitalistische Gesellschaft unterschiedlich konstituiert. Ausgehend von der These von Teresa de Lauretis, dass »das sex-gender-System stets in enger Verbindung zu den politischen und ökonomischen Faktoren der jeweiligen Gesellschaft«3 steht, werden die ineinander verschränkten Wirkungsweisen von Gender, Ideologie und Medium anhand der beiden TV-Serien beleuchtet. Auf die Wechselwirkungen zwischen Ideologie und Individuum hat schon Louis Althusser in Ideologie und Ideologische Staatsapparate hingewiesen. De Lauretis greift seine Überlegungen auf und erweitert Althussers ideologische Konstituierung von »konkreten Individuen« zur Konstituierung von konkreten Individuen »zu Männern und Frauen«. Während es bei Althusser heißt: »[…] jede Ideologie [hat] die (sie definierende) Funktion, konkrete Individuen zu ›konstituieren‹«,4 liest man paraphrasiert bei de Lauretis: »Das (soziale) Geschlecht hat die (es definierende) Funktion, konkrete Individuen zu 3 De Lauretis 1996, S. 62. 4 Althusser 1977, S. 140; de Lauretis 1996, S. 63.

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Männern und Frauen zu konstituieren.«5 Gerade die soziale Dimension von Geschlecht und die Art und Weise, wie Geschlecht sozial ausagiert wird, bestimmt den komplexen Bedeutungszusammenhang dessen, was in einer Gesellschaft als männliche oder weibliche Identität gefasst wird. Wie das öffentliche Fernsehen als maßgeblicher Agent des ideologischen Apparates also männliche und weibliche soziale Individuen inszeniert und adressiert, erfolgt demnach immer nach den ideologischen Prämissen des jeweiligen sex-gendersystems. Sandra Dudek von Radio Prag berichtete am 26. September 20056 von der Initiative des ODS -Abgeordneten7 Josef Pavlata, den »Internationalen Frauentag«, diesen »widerwärtigsten kommunistischen Feiertag«, aus dem Kalender zu streichen und stattdessen den katholischen Karfreitag als offiziellen Feiertag in den tschechischen Kalender aufzunehmen.8 Hana Havelkov‚, Professorin am Institut für Gender Studies an der Karlsuniversität in Prag, bezeichnet diesen Backlash in der gegenwärtigen tschechischen Gleichstellungspolitik als ein Phänomen der »Retraditionalisierung«, das seine Wurzeln bereits im Kommunismus hat: Diese traditionellen Haltungen waren eigentlich eine Reaktion auf die offizielle Politik, die ja pro-emanzipatorisch war. In den 50er Jahren war die Gesellschaft Veränderungen gegenüber relativ offen, aber dann, in der Opposition zum Regime, haben die traditionellen Werte einen neuen, speziellen Stellenwert bekommen.9

Feministische Politik wurde entsprechend sehr stark als sozialistische Pflichtübung, als ideologischer Zwang wahrgenommen, auf den u. a. mit reaktionären, antifeministischen gesellschaftlichen Positionen reagiert wurde. Vor der kommunistischen Machtübernahme, führt Havelkov‚ weiter aus, habe es in der Tschechoslowakei hingegen eine sehr aktive feministische Szene gegeben: Hier gab es eine der ersten Modernisierungen des Familienrechts in Europa überhaupt, es gab seit 1950 kein Familienoberhaupt in unserem Rechtssystem, also das war sehr progressiv.10

5 De Lauretis 1996, S. 64. 6 Dudek 2005. 7 ODS – Obcˇansk‚ demokratick‚ strana: Im Senat nach den Sozialdemokraten zurzeit die zweitstärkste Partei in Tschechien. Vertreter sind der ehemalige Präsident der Tschechischen Republik, V‚clav Klaus, der ehemalige Premierminister, Mirek Topol‚nek, und der ehemalige Regierungschef Petr Necˇas. Vgl. den Wikipedia-Artikel ›Obcˇansk‚ demokratick‚ strana‹. 8 Dudek 2005. 9 Ebd. 10 Ebd.

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In ihrem Artikel »The Public and the Private from a Feminist Perspective«11 stellt die Sozialwissenschafterin Zuzana Kiczkov‚ die These auf, dass Frauen in der kommunistischen Tschechoslowakei der 1980er Jahre weniger von einem Ausschluss aus der Sphäre des Öffentlichen betroffen waren, als vielmehr von den Schwierigkeiten, die mit einer Doppelbelastung durch Ansprüche an das private und an das öffentliche Leben einhergingen. Socialism needed women as a production force and it paternalistically created conditions for them (their children were looked after in pre-school cheap institutions like crÀches or nursery schools while they were working) but at the same time, it also underestimated their work and homemaking.12

Gleichzeitig spricht Kiczkov‚ von einer Aufwertung der Sphäre des Privaten und des sozialen Kapitals, die mit der gleichzeitigen Abwertung des ökonomischen Kapitals einherging.13 In Ermangelung einer Zivilgesellschaft und sozialer Organisationen gewann der Arbeitsplatz als elementarer Knotenpunkt des Soziallebens zunehmend an Bedeutung.14 Frauen als Expertinnen des Privaten übernahmen im Kontext sozialer Kontaktnetze und beim Networking eine zentrale Rolle und hatten direkt an der »Hervorbildung und der Reproduktion des sozialen Kapitals [Anteil]«15. Vor diesem historischen Hintergrund scheint es besonders interessant, die tschechoslowakische TV-Serie Zˇena za pultem (dt. Die Frau hinter dem Laˇ ST 1977/78, 1 Staffel, 12 Folgen — 44–56 min.) zu untersuchen. Zˇena za dentisch, C pultem gilt als ein Meisterstück des Sozialistischen Realismus, das heute noch (bzw. wieder) Kultstatus hat und dessen Lektüre sich als überaus ambivalent erweist. Während, wie ich ausführen werde, sich die Serie immer noch einer gewissen Beliebtheit erfreut, gilt sie in ihrem die Realität bis zur Unkenntlichkeit verschönernden Gestus andererseits als Musterbeispiel des Propagandafernsehens schlechthin. Die Protagonistin der Serie, Anna Holubov‚, dargestellt von der beliebten – wenn auch heute aufgrund ihrer bis zum Fall des Kommunismus unbeirrbar regime-unkritischen Haltung umstrittenen – tschechischen Fernsehschauspielerin Jirˇina Sˇvorcov‚16, ist eine Verkäuferin in einem Feinkostladen in Prag. Mit ihrer gleichzeitig offenherzigen wie auch pragmatischen Einstellung meistert die Figur die Schwierigkeiten sowohl des Alltags im Geschäft als auch 11 12 13 14 15 16

Kiczkov‚ 2003. Kiczkov‚ 2003, Fußnote 1. Vgl. Kiczkov‚ 2003. Ebd. Ebd. Jirˇina Sˇvorcov‚ verstarb am 8. August 2011 in Prag. Ihre Rolle in der TV-Serie Zˇena za pultem prägte ihre gesamte Karriere. Sehr oft »verkörperte sie den Rollentypus der selbstbewussten, modernen und in die kommunistische Gesellschaft eingebundenen jungen Frau«; vgl. den Wikipedia-Eintrag ›Jirˇina_Sˇvorcov‚‹.

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ihres nicht konfliktfreien Familienlebens: Auseinandersetzungen zwischen den Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern und dem Abteilungsleiter, die Nachwirkungen ihrer Scheidung und die Spannungen zwischen ihrem Ex-Mann und ihren beiden pubertierenden Kindern. Die fiktionale Figur der 1970er Jahre ist also, wie Kiczkov‚ das in ihrem Artikel über Frauen in der Tschechoslowakei der 1980er Jahre behauptet, einer Doppelbelastung ausgesetzt, die sie jedoch – wir befinden uns im Grenzbereich von Fiktion und Propaganda – vorbildhaft als positive Herausforderung begreift und meistert. Anna Holubov‚ wird als selbstbewusste, eigenständige Frau inszeniert, die Verantwortung übernimmt und, falls notwendig, ›Führungsqualitäten‹ vorweisen kann, um gleichzeitig ihre weiblichen Pflichten und den ihr von der Gesellschaft zugewiesenen Platz als Mutter und Hausfrau selbstverständlich anzunehmen. Zˇena za pultem von Jaroslav Dudek wird im Folgenden mit der deutschen TVSerie Acht Stunden sind kein Tag17 von Rainer Werner Fassbinder verglichen. Trotz weitgehend positiver Reaktionen seitens der Fernsehzuschauer und -zuschauerinnen fiel Fassbinders Serie sowohl bei der konservativen als auch bei der liberalen und linken deutschen Filmkritik durch.18 Das Bild der Arbeiter sei zu wenig realistisch gezeichnet, die mise-en-scÀne entspräche zu sehr den »Klischees der Unterhaltungsindustrie«.19 Das Fernsehen als Medium leichter Unterhaltung hatte zu dieser Zeit keinen positiven Stellenwert, was, wie Jansen und Schütte mutmaßen, mit einer durch Adorno geprägten neomarxistischen Medientheorie zusammenhängt, die maßgeblich für die neue deutsche Filmkritik und auch für das Selbstverständnis deutscher Regisseure der 1970er und 1980er Jahre war.20 In fünf Folgen, die mit Namen von Paaren betitelt sind, inszeniert Fassbinder deutsche »Lebenszusammenhänge«21 der frühen 1970er Jahre, als die Fahndung nach den Mitgliedern der Roten Armee Fraktion (RAF) unter Willy Brandt gerade ihren Höhepunkt erreichte. Anhand von Protagonistinnen und Protagonisten aus dem Arbeitermilieu – dargestellt u. a. von Hanna Schygulla, Irm Hermann, Kurt Raab – behandelt Fassbinder alltagspo17 Acht Stunden sind kein Tag (WDR 1972/73, 1 Staffel, 5 Folgen unterschiedlicher Länge, von 88 bis 101 Minuten). 18 Vgl. Jansen / Schütte 1992, S. 159f. 19 Jansen / Schütte 1992, S. 161. 20 Ebd. 21 Vgl. Jansen / Schütte 1992, S. 64: »Erst im Rückblick – und vielleicht braucht dieser Blick noch eine größere Distanz, um sich dessen bewusst zu werden – wird man inne, welche Com¦die humaine Rainer Werner Fassbinder in seinem Œuvre hinterlassen hat, wie intensiv seine filmischen Erzählungen von Menschen durchtränkt sind, von der Politik, der Geschichte und dem Alltag, den Wechseln und den Kontinuitäten im Lebenszusammenhang Deutschlands – gerade auch dort, wo er das Land und seine Geschichte nicht in paradigmatischen Augenblicken und Menschen […] sich zu imaginieren versuchte.« (Hervorhebung durch d. Verf.)

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litische Themen wie den Nulltarif in öffentlichen Verkehrsmitteln, die Mitbestimmung der Arbeiter im Betrieb, hohe Mieten und die Macht der Wohnungsmakler, Geschlechterbeziehungen und Ehe, antiautoritäre Kindererziehung und Vorurteile gegen Arbeiter und Gastarbeiter. Fassbinder zitiert vor allem kamera- und mise-en-scÀne-spezifische Konventionen der TV-Serie – die Folie wären hier vor allem frühe deutsche Familienserien wie die zunächst als ein Hörspiel des Hessischen Rundfunks ausgestrahlte Familie Hesselbach22 und die erste deutsche TV-Familienserie Unsere Nachbarn heute Abend: Familie Schölermann23 oder auch die erste britische Seifenoper, Coronation Street24, die erstmals ausgestrahlt 1960 mit der amerikanischen Tradition brach und die Narration im Arbeitermilieu situierte.25 Fassbinder spielt mit diesen gerade entstehenden Konventionen, indem die Narration von Acht Stunden sind kein Tag einer verfremdeten Dialogdynamik und der Darstellung sozialer Realitäten wie in der Petrischale eines Experiments verpflichtet ist. In der Szene, wo Gottfried John zum ersten Mal auf Hanna Schygulla trifft,26 verwendet Fassbinder also konventionelle fernsehtechnische Mittel wie beispielsweise einen ästhetisch motivierten Zoom auf Johns Gesicht, als dieser erfährt, dass Schygulla nicht verheiratet ist. Andererseits verfügt der Dialog selbst über theatralisch anmutende Passagen (Wiederholungen, Mischung von Elementen aus Umgangs- und Hochsprache), die in dieser Form nicht in den zu dieser Zeit gängigen Serienformaten zu finden sind. Die Bilder verweisen also vor allem hinsichtlich ihrer Form auf die Bilder der ›Heile Welt-Serien‹ und transzendieren diese gleichzeitig, indem sie als politische Utopie lesbar sind. Die Themenkomplexe ›Arbeit‹ und zwischenmenschliche ›Beziehungen‹ bilden auch die Grundpfeiler des Mikrokosmos der dem sozialistischen Realismus verpflichteten TV-Serie von Jaroslav Dudek Zˇena za pultem. Während aber Fassbinder den Fokus der Aufmerksamkeit auf die Selbstbestimmung und die Emanzipation der (männlichen) Arbeiter von Vorgesetzten und ökonomischen Zwängen legt, spielt in Zˇena za pultem das durch scheinbar flache Hierarchien geprägte Kollektiv der Genossinnen und Genossen lediglich als Kontext 22 Familie Hesselbach (auch Die Hesselbachs) startete als Hörspiel des Hessischen Rundfunks am 17. September 1949. 1960 bis 1961 zeigte die ARD die Fernsehserie unter dem Titel Die Firma Hesselbach (1. Staffel). Ende 1961 ging die zweite Staffel Die Familie Hesselbach auf Sendung, und die dritte Staffel wurde 1966 bis 1967 unter dem Titel Herr Hesselbach und … ausgestrahlt. Vgl. den Wikipedia-Eintrag Die Hesselbachs. 23 Unsere Nachbarn heute Abend: Familie Schölermann (NWDR 1954–1960, 111 Folgen). 24 Coronation Street (ITV, STV, UTV, seit 1960, über 8.000 Folgen). 25 Die US-amerikanischen Prototypen der Seifenoper Dallas (CBS 1978–1991, 14 Staffeln, 357 Folgen) und Dynasty (ABC 1981–1989, 218 Folgen; dt. Titel Der Denver-Clan) werden erst fast zehn Jahre später produziert werden. 26 Acht Stunden sind kein Tag (WDR 1972/73, Rainer Werner Fassbinder), Folge 1: »Jochen und Marion«, Minute 8:40.

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von Erzählungen eine Rolle, die ganz einem apolitischen Individuum und seinen Eigenarten gewidmet sind. Jaroslav Dudek und Drehbuchautor Jaroslav Dietl mischen also Elemente der klassischen Familienserie und des Arbeiterfilms27, indem sie ihre Serie wohl in das Arbeitermilieu versetzen, das Hauptthema aber nicht die Problematisierung des Arbeitsalltags, Interessenkonflikte zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, sondern vor allem zwischenmenschliche Beziehungen vor dem Hintergrund des Arbeitsplatzes sind. Zˇena za pultem beinhaltet 12 Folgen in einer einzigen Staffel, die nach den Monaten benannt sind. In der ersten Folge, »Jänner – Anna wird angestellt«, nimmt die Figur Anna Holubov‚ ihre Tätigkeit als Leiterin der Feinkostabteilung in einer Kaufhalle im Prager Stadtteil Sm†chov auf. In der letzten Folge, »Dezember – Anna Holubov‚s Weihnachten«, wird sie zur Abteilungsleiterin ernannt und hat einen neuen Partner gefunden. Das von Jaroslav Dietl verfasste Drehbuch thematisiert das alltägliche Leben von Anna Holubov‚ und ihren Arbeitskolleginnen und -kollegen, Themen sind Liebes- und sonstige Beziehungen, Ehe, Freundschaft, Solidarität, Kindererziehung, alleinerziehende Mütter, Alltag, sozialistische Feiertage und damit einhergehende Anforderungen an den Betrieb. »Menschlich«, »herzerwärmend«, »liebevoll« und »voll aus dem Leben gegriffen« – so lauten die am häufigsten gebrauchten Adjektive in aktuellen Kundinnen- und Kundenbewertungen anlässlich des Erscheinens der deutschen Synchronfassung der Serie auf DVD auf der Webseite www.buchredaktion.de.28 Die anhaltende Beliebtheit der Serie bei tschechischen, slowakischen, polnischen und deutschen Zuschauerinnen und Zuschauern sowie die wiederholte Ausstrahlung im tschechischen Fernsehen ist mehrfach zu begründen: Zum einen fungiert die Serie für jenen Teil des Publikums, der die Serie zur Zeit ihrer Erstausstrahlung gesehen hat, als das, was Carpentier-Reifov‚, Gillarov‚ und Hlad†k als »Retro-Signifier«29 bezeichnen, sowie als affektives Symbol, mit dem die eigene Kindheit oder Jugend eng verhaftet ist. Für jenen Teil des Publikums, der der postsozialistischen Generation angehört, hat die Serie weniger informativen Gehalt, als dass sie das Versprechen beinhaltet, etwas über die affektiven Erfahrungen der vorhergehenden Generation (i. e. in vielen Fällen der Eltern) preiszugeben. Besonders auffällig erscheint aus heutiger Perspektive die Darstellung von Luxus und Überfluss an Waren, die mit der Realität der Mangelwirtschaft und mit Berichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von leeren Regalen in den Supermärkten und der Exotisierung von Früchten wie Bananen

27 Zur Definition des Genres Arbeiterfilm, dessen Genealogie sehr stark mit dem Westdeutschen Rundfunk verbunden ist, vgl. Collins / Porter 1981. 28 Vgl. den Internetauftritt von Buchredaktion.de, verfügbar unter : http://www.buchredaktion. de/die-frau-hinter-dem-ladentisch.html [01. 05. 2014] 29 Carpentier-Reifov‚ / Gillarov‚ / Hlad†k 2013, S. 207ff.

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und Mandarinen, die man nur selten in tschechoslowakischen Supermärkten kaufen konnte, nicht konform geht. Die Eröffnungssequenz zeigt die Protagonistinnen und die Protagonisten (kantige und dennoch herzliche Verkäuferinnen und Verkäufer, geschäftige Kundinnen und Kunden) und das Lebensmittelgeschäft (großzügig angefüllte Vitrinen und Regale, Delikatessen und Feinkostwaren) mit close-ups von farbenfrohem Obst, Gemüse, Brot, Konserven und Luxusgütern. Diesen Kontrast zwischen Darstellungen des sozialistischen Alltags durch Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und der Erzählung dieses Alltags durch die propagandistische Serie evoziert ein interessantes Youtube-Video30, das die hochbetagte Jirˇina Sˇvorcov‚ ˇ esk‚ Televize 231) zeigt. in einem Interview mit dem tschechischen Fernsehen (C Das Video erhielt 57.159 Klicks, 79 Likes und 12 Dislikes und löste eine Diskussion unter den Usern und Userinnen aus, die sich in 371 Wortmeldungen niederschlug. Die Aufnahmen des Gesprächs, das sich ästhetisch an den Stil des Cin¦ma V¦rit¦ anlehnt, sind in over shoulder shots auf Sˇvorcov‚ aufgelöst, die von zwei Kameras mit verschiedenen Farbfiltern aufgezeichnet sind. Das unruhige Wechseln zwischen den beiden Kameraperspektiven (statisch und bewegt), die Zooms auf Sˇvorcov‚ suggerieren, dass sich die Sendung der Schauspielerin aus allen Perspektiven annähert, dass nichts versteckt bleiben kann und dass die ganze Wahrheit ans Tageslicht kommt. Mit Ausschnitten aus Zˇena za pultem sowie undatierten Archivaufnahmen aus der Zeit des Kommunismus kontrastiert, konzentrieren sich die Fragen der Interviewerin Vrbov‚ vor allem auf die Darstellung des Lebensmittelladens. Sie befragt Sˇvorcov‚ dahingehend, ob ihre individuellen Erfahrungen mit der Art und Weise, wie die Kaufhalle in Zˇena za pultem inszeniert wird, denn übereinstimmen: »Ich kann mich erinnern«, sagt die Interviewerin, »dass es damals sehr schwierig war, Fleisch zu bekommen und dass man dafür lange Schlange stehen musste. Bei Ihnen sieht es aber so aus, als hätte es an nichts gemangelt und als hätte es alles gegeben.« Die Ausgangssituation des Clips ist insofern ambivalent, als die Interviewerin der (immerhin fiktionalen!) Serie unterstellt, die Wirklichkeit verschönt abzubil30 Der Clip mit dem Titel Jirˇina Sˇvorcov‚ dauert ca. 4,5 min. und zirkuliert auf dem InternetVideoportal der Google Incorporation, youtube. Hochgeladen wurde er am 9. 11. 2008 vom User carlosotono. Verfügbar auf: http://www.youtube.com/watch?v=AKkJ1Csgf_A [01. 05. 2014]. 31 Es handelt sich um einen Ausschnitt aus der Sendung Retro vom 31. 12. 2013, Folge »Selbstbedienungsläden«. Produzent der Serie ist Michal Petrov, Dramaturg ist Jan Rozkosˇny´. Retro existiert seit dem 6. Februar 2008 und verfolgt das Ziel, so kann man es auf der Homepage des Tschechischen Fernsehens nachlesen, »das Design und die Trends der Tschechoslowakei nach dem 2. Weltkrieg abzubilden. […] Es geht hier nicht um Nostalgie, sondern um eine Reflexion, die uns heute noch immer fehlt.« Vgl. www.ceskatelevize.cz/ porady/10176269182-retro/2234-poslani-a-autori-poradu/ [01. 05. 2014]. Übersetzungen aus dem Tschechischen hier und in der Folge von der Verf.

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den, und Sˇvorcov‚ auf diesen Vorwurf reagierend die dokumentarische ›Abbildungsleistung‹ der Serie zu verteidigen versucht. Der naiv-provokative Fragemodus von Vrbov‚, die der postsozialistischen Generation angehört und die die 70er Jahre als Kleinkind erlebt hat, fordert eine Konfrontation mit der Schauspielerin heraus, die zwischen mehreren Erinnerungsgenres32 oszilliert und die allgemeine Gültigkeit für den Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit hat. Die Interventionen der Interviewerin, die den dokumentarischen Wahrheitsgehalt der fiktionalen Serie offensiv in Frage stellen, provozieren bei Sˇvorcov‚ abwechselnd Widerstand (Berichtigung von überlieferter Geschichte durch ihre Expertise als Zeitzeugin – »Es gab genug zu essen, man musste nicht hungern«), Verdrängung (Amnesie – »Ich kann mich daran nicht erinnern, ich erinnere mich viel besser an die Gedichte, die wir in der Schule gelernt haben«) und Relativierung (»Anscheinend gab es damals wichtigere Dinge in unserem Leben als Bananen und Mandarinen«). Die Diskussion unter den Usern und Userinnen, die das Regime zum Teil nur als Kinder erlebt haben, spaltet sich im Wesentlichen in zwei Lager : in das kleinere Lager derjenigen, die zur Ehrenrettung von Sˇvorcov‚ antreten, und in das größere Lager derjenigen, die wie die Interviewerin unter Bezugnahme auf ihre eigenen Erfahrungen oder jene ihrer Eltern die Aussagen Sˇvorcov‚s kritisieren.

Sequenzen im Vergleich Die beiden Sequenzen, die ich im Folgenden vergleichen werde, zeigen die Arbeiterinnen und Arbeiter in Konflikt mit ihrem jeweiligen Vorgesetzten. In Zˇena za pultem fordert der Verkaufsstellenleiter, verkörpert von Vladim†r Mensˇ†k, von seinen Mitarbeiterinnen, dass sie alle am Freitag vor den Osterfeiertagen ausnahmsweise länger arbeiten und jeweils zwei Schichten anstatt nur einer übernehmen. Den spontan aufkeimenden Protest beruhigt der Vorgesetzte, indem er an den ›gesunden Menschenverstand‹ seiner Untergebenen appelliert: »Da kann man gar nichts machen. Wir haben uns alle nun einmal für dieses Gewerbe entschieden und müssen nun mit seinen Vorteilen und mit seinen Nachteilen leben.«33 Das überzeugt das Kollektiv zwar nicht restlos, aber bei der anschließenden Abstimmung ist trotzdem keiner gegen die verlängerte Arbeitszeit. Am Ende der Sequenz soll noch eine ›Vertrauensbeauftragte‹ – sozialistisches Surrogat des Betriebsrats – gewählt werden. Die stotternde Jirˇinka schlägt Anna vor, die das zunächst ostentativ bescheiden ablehnt, da sie findet, noch nicht lange genug im Betrieb zu sein, um eine solche Position des Ver32 Carpentier-Reifov‚ / Gillarov‚ / Hlad†k 2013, S. 201ff. 33 Zˇena za pultem, Folge 3, »Die Geschichte des Stellvertreters vom Chef«, Minute 8:43.

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trauens zu übernehmen. Trotzdem wird sie einstimmig gewählt. Der Abteilungsleiter kommentiert scherzend, dass er es mit einer solchen Opponentin wohl eher schwer haben werde (weil er ihr nichts abschlagen könne). In Fassbinders Acht Stunden sind kein Tag verweigert der ›Meister‹ den Arbeitern eine Leistungszulage, die sie aufgrund der frühzeitigen Erledigung eines Auftrages erhalten sollten.34 Begründet wird die Streichung der Prämie mit dem Argument, dass der Arbeiter Jochen, verkörpert von Gottfried John, eine Vorrichtung erfunden habe, die die Arbeit erleichtert und somit beschleunigt hätte. Der Vergleich der beiden Sequenzen scheint mir auf drei Ebenen interessant: 1. hinsichtlich der Inszenierung des Kollektivs der Arbeiterinnen und der Arbeiter, 2. hinsichtlich der Darstellung des/der Einzelnen in Konfrontation oder in Harmonie mit dem Kollektiv und 3. hinsichtlich des klar hierarchischen oder scheinbar gleichberechtigten Verhältnisses von Angestellten und Abteilungsleitern.

Das Kollektiv der Arbeiterinnen und der Arbeiter Vergleicht man die beiden Sequenzen oberflächlich, zeigen sich auf den ersten Blick Ähnlichkeiten, die sich bei näherer Betrachtung auflösen: Die Szene ist bei Dudek durch medium shots aufgelöst, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kaufhalle sitzen und stehen in scheinbar zufälliger Anordnung rund um einen Tisch, einige beteiligen sich stärker am Gespräch, einige sieht man nur von hinten; die Kamera schwenkt zwischen den einzelnen Gesichtern. Der Verkaufsstellenleiter und Anna bilden jeweils zwei symmetrische Pole einer horizontalen Achse im Raum und sind nicht gleichzeitig zu sehen. Dass Anna, obwohl nur eine einfache Mitarbeiterin, mit ihm ›auf gleicher Höhe‹ ist – in der letzten Folge der Serie wird sie seine Stelle übernehmen – wird hier bereits angedeutet. Fassbinder bedient sich einer amerikanischen Einstellung mit leichter Aufsicht, die Mitarbeiter Jochens scheinen allerdings nicht zufällig angeordnet, sie stehen im Halbkreis um eine Maschine und bilden in diesem solchermaßen formstrengen Bild alle relativ gleichberechtigt das Gegenüber für Jochen, der für sich alleine steht und den man von hinten sieht: das Gespräch zwischen ihnen wird durch eine Schuss-Gegenschuss-Sequenz realisiert.

34 Acht Stunden sind kein Tag, Folge 1, »Jochen und Marion«, Minute 65:55.

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Fig. 1. Still aus Zˇena za pultem, Folge 3, »Die Geschichte des Stellvertreters vom Chef«

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Fig. 2. Still aus Acht Stunden sind kein Tag, Folge 1, »Jochen und Marion«

Auf der Tonebene fällt auf, dass die Sprache in der tschechischen Serie sich sehr stark an Spontanäußerungen und Umgangssprache orientiert. Teilweise sprechen alle gleichzeitig, vermittelt werden Authentizität und Unmittelbarkeit. Bei Fassbinder herrscht auf der Tonebene die so charakteristische Mischung aus Künstlichkeit und Umgangssprache vor. Durch Wiederholung und Pathos gewinnt die Sprache eine verfremdende Dimension, die der Erzählung immer auch ein selbstreflexives Moment einschreibt. In Zˇena za pultem sticht die kurze Sequenz der stotternden Jirˇinka hervor, die innerhalb des gleichberechtigten Kollektivs zu Wort kommen kann und einen Vorschlag macht, den schließlich alle aufgreifen. Im sozialistischen Kollektiv sind alle gleich, ist die Message. In Acht Stunden sind kein Tag hingegen gilt das Faustrecht. Der von der Meinung der anderen abweichende Kollege fängt sich einen Schlag ins Gesicht ein. Beide Szenen inszenieren hier auf der Folie ihrer ideologischen Hintergründe verschiedene Narrative des Arbeiters: Im Falle Fassbinders das Narrativ des ehrlichen und einfachen (männlichen) Arbeiters, der Konflikte schon mal mit der Faust austrägt. Im Falle Dudeks das Narrativ des gleichberechtigten und schützenden Arbeiterkollektivs, in dem jede und jeder zu Wort kommen kann und gehört wird.

Der und die Einzelne Während bei Fassbinder die Hauptfigur Jochen (Gottfried John) ganz klar für sich steht und räumlich sozusagen zwischen den Arbeitern und dem Meister positioniert ist, ist Anna (Jirˇina Sˇvorcov‚) Teil des Kollektivs. Andererseits bildet sie auch das Pendant des Verkaufsstellenleiters, dessen Gegenüber (off frame) sie in der Einstellung der Gruppenbesprechung ist. Sowohl Jochen als auch Anna fungieren aber auch als Vermittler zwischen dem Kollektiv der Arbeiterinnen und der Arbeiter auf der einen Seite und den Abteilungsleitern auf

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der anderen Seite. Während das Verhältnis von Anna zu den beiden Leitern sexualisiert ist (der Chef der Kaufhalle deutet immer wieder an, wie attraktiv er Anna findet; der stellvertretende Chef verliebt sich in der Folge 3 sogar leidenschaftlich in sie, blitzt allerdings, da er verheiratet ist, bei ihr ab), ist das Verhältnis Jochens zum Meister von Pragmatismus und betrieblicher Aushandlung geprägt. Allerdings ist es auch unmissverständlich hierarchisch.

Fig. 3. Still aus Zˇena za pultem, Folge 3, »Die Geschichte des Stellvertreters vom Chef«

Fig. 4. Still aus Acht Stunden sind kein Tag, Folge 1, »Jochen und Marion«

Angestellte und Autoritäten Auch auf der Ebene der Beziehungen zwischen Angestellten und betrieblichen Autoritäten zeigen sich deutliche Unterschiede in der medialen Adressierung der Arbeiter und Arbeiterinnen. Bei Dudek sind sowohl der Verkaufsstellenleiter als auch der stellvertretende Chef Teil des Kollektivs. Letzterer kommt nicht einmal zu Wort, sondern steht sozusagen als teilnahmsloser Beobachter in der zweiten Reihe. Auch der Verkaufsstellenleiter sitzt nicht im Vordergrund, sondern hinter den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, quasi als einer von ihnen. Lediglich durch die weißen Mäntel unterscheiden sich die beiden von den anderen. Bei Fassbinder hingegen ist der Meister räumlich klar getrennt von den Arbeitenden, er sitzt in einem durch ein Gitterfenster abgetrennten Raum, aus dem er die Arbeiter sehen, aber nicht hören kann. Die räumliche Schwelle, die hier ins Bild kommt und bei Fassbinder als Motiv sehr rekurrent ist, verweist auf die Grenzen, die Abgrenzungen, die Markierungen der Räume, auf die Gegenstände und sozialen Barrieren, die zwischen den Menschen stehen.35 Auch Zˇena za pultem greift das Motiv der Schwelle (nicht zuletzt schon im Titel der Serie) 35 Elsaesser 2012, S. 344ff.

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auf. Die Schwelle in der tschechoslowakischen Serie ist ein metonymischer Gegenstand, der Ladentisch. Aber schon der Titel deutet darauf hin, dass es nicht um den Ladentisch (oder die Verkaufshalle), sondern um die Frau dahinter gehen soll. In den Fokus der Aufmerksamkeit soll der Mensch treten und nicht die soziale Klassifizierung, der Beruf der Verkäuferin, der nur als Teil der Identität von Anna Holubov‚ dargestellt wird. Diese Dimension des Privaten wird auch durch den Titel von Fassbinders Serie evoziert, der andeutet, dass das Leben eines Arbeiters eben nicht nur aus seiner Arbeitszeit besteht.

Fig. 5. Still aus Zˇena za pultem, Folge 3, »Die Geschichte des Stellvertreters vom Chef«

Fig. 6. Still aus Acht Stunden sind kein Tag, Folge 1, »Jochen und Marion«

Trotz ihrer Beliebtheit wurde die Serie Zˇena za pultem nach der ersten Staffel eingestellt. Man könnte sich nun fragen, ob das damit zu tun hat, dass die Erzählung von der einfachen Verkäuferin nach ihrem Aufstieg zur Abteilungsleiterin für das Programm des Sozialen Realismus uninteressant geworden war. Die angedeuteten flachen Hierarchien, die fröhliche und herzliche Atmosphäre im Lebensmittelgeschäft haben ihre Ursache nicht zuletzt in einer heterosexualisierten Grundstimmung zwischen männlichen Leitern (und Kunden) und weiblichen Angestellten. Die Geschlechterdifferenz dämpft die Klassendifferenz und sie verflacht die beruflichen Hierarchien. Dass die Stimmung unter Frauen weniger herzerwärmend wäre, scheint die Serie selbst zu glauben und deutet dies in der Szene an, als Anna eine Verkäuferinnenkollegin zurechtweist36 – einer der autoritärsten Momente der Protagonistin in Zˇena za pultem. Die traditionelle Darstellung der Geschlechterrollen in der tschechoslowakischen Serie Zˇena za pultem lediglich als konservativ abzutun, wäre allerdings zu kurz gegriffen. Der Rückgriff auf ein konservativeres Frauenbild muss historisch – in der Argumentation von Hana Havelkov‚ – ja auch als potentielle Kritik am sozialistischen System verstanden werden. Was aus heutiger Perspektive reaktionär anmutet, könnte im historischen Kontext des totalitären 36 Zˇena za pultem, Werbeclip in der deutschen synchronisierten Version auf http://www. buchredaktion.de/die-frau-hinter-dem-ladentisch.html.

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Regimes eine durchaus gewollte Kritik am sowjetischen Kommunismus (und am kommunistischen Staatsfeminismus) sein. Die wiederholte Ausstrahlung von Zˇena za pultem im tschechischen Fernsehen sowie der Vertrieb der DVD auf Tschechisch und auf Deutsch (in der Synchronfassung des Rundfunks der DDR) verweisen auf die Funktion, die sozialistische Fernsehprogramme in der Aushandlung und der Verarbeitung der sozialistischen Vergangenheit einnehmen können. Die mnemotechnische Dimension des Fernsehens sowie sein Anspruch, in der »Produktion, der Kontinuität und der Untersuchung kultureller Erinnerung«37 eine Rolle zu spielen einerseits, und die partizipativen Strukturen zeitgenössischer Fernsehprogrammierung andererseits, ermöglichen einen Blick auf die Vergangenheit, der diese immer auch als gegenwärtig erfasst. Die Vergangenheit als unabgeschlossen zu denken, forderte auch Hayden White, der in den 2007 erschienen Manifestos for History für eine Auffassung von Geschichte plädierte, die die Gegenwart insofern immer schon als historisch begreifen will, als sie Gegenwart und Vergangenheit als ständig korrespondierende Entitäten begreift. Wie White ausführt: […] if by history we mean not simply ›the past‹ but the relation between the ›present‹ understood as a part of ›history‹ and the ›past‹, then it is incumbent upon us to think about the possibility of the present as history.38

Die gegenwärtige Ausstrahlung von Fernsehproduktionen aus den 1970er Jahren wie Zˇena za pultem und Acht Stunden sind kein Tag sowie der Dialog dieser beiden so verschiedenen Produktionen, der durch den Vergleich entsteht, gibt Aufschluss nicht nur über die west- und osteuropäische Vergangenheit oder Gegenwart als abgeschlossenen Entitäten, sondern sie erlaubt eine Auseinandersetzung mit den Bildern der Geschichte(n), die zu divergenten Lektüren gesellschaftspolitischer Positionen und Brüche führen kann und ständig neu gedacht werden muss. Wie ich im vorliegenden Text zu zeigen versucht habe, lassen sich Brüche innerhalb und im Kontext der beiden TV-Produktionen auf unterschiedlichen Ebenen beschreiben: Fassbinder bricht einerseits mit formal-ästhetischen Konventionen des aufkommenden TV-Genres Familienserie. Andererseits zeigen sich in Acht Stunden sind kein Tag Brüche auch auf der Ebene des Narrativs in der Art und Weise, wie gesellschaftspolitische, postrevolutionäre Veränderungen der 1970er Jahre repräsentiert werden: Kritik am kapitalistischen System und der Ausbeutung der Arbeiter ; Kritik an Autoritätsverhältnissen (Familie) und am Patriarchat (Beziehungen zwischen Männern und Frauen). In der kommunistischen TV-Serie Zˇena za pultem hingegen zeigen sich Brüche vor 37 Imre / Havens / Lustyik 2013, S. 5. 38 White 2007, S. 224.

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allem auf der Ebene der Rezeption der Serie nach 1989. Während die systemkritischen Fernsehzuschauerinnen und Fernsehzuschauer zur Zeit der Erstausstrahlung in der Tschechoslowakei sich von den propagandistischen Aspekten der Serie abschrecken lassen mochten oder sich »ironisch« mit der Serie »überidentifizierten«39, eignet sich das heutige TV-Publikum die Serie affektiv an, indem es sich einer Form der Nostalgie anheimgibt, die weder unter einem ausschließlich unkritischen und idealisierenden Blick auf die Vergangenheit zu subsumieren wäre, noch als rationalisierte, distanzierte Form der Vergangenheitsbewältigung gedacht werden darf. Mit Svetlana Boym ist diese spezifische Form der Nostalgie, die sie als »reflective nostalgia«40 konzeptualisiert, als ein sinnstiftender Zugriff auf die Vergangenheit zu verstehen, der den Systembruch nicht so sehr als eindeutig fassbare Schwelle denkt, denn als Prozess eines polymorphen Überganges, der bis heute nicht gänzlich abgeschlossen ist. Während Fassbinders Serie also formale, ästhetische und narrative Brüche vorweist, die vor allem darauf abzielen, das Genre TV-Serie in Richtung Utopie zu transzendieren, werden Brüche in der Serie von Dudek und Dietl an zwei Stellen sichtbar : Zum einen, wenn die Botschaft der traditionellen Frauenfigur Anna retrospektiv als Kritik am sozialistischen Regime und am sowjetischen Staatsfeminismus lesbar wird, zum anderen, wenn das postsozialistische Fernsehen die Serie wiederausstrahlt und sich aktuelle Rezeptionsweisen von einer ironischen Überidentifikation distanziert und in eine nostalgisch-kritische Reflexion von Narrativen der Normalisierung transformiert haben.41

Bibliographie Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg / Westberlin 1977. Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia, New York 2001. Carpentier-Reifov‚, Irena / Gillarov‚, Katerina / Hlad†k, Radim: »The Way We Applauded. How Popular Culture Stimulates Collective Memory of the Socialist Past in Czechos39 Vgl. Imre 2012, S. 67: »The gap between the projective ideals and the actual experiential realities of socialism created a layer of ironic distance between television and its viewers. This was exacerbated by the increasing influx of information about capitalist lifestyles and consumer products despite even the most repressive states’ efforts to minimize it. By the 1980s of late socialism, television had turned into the primary medium of a mode of ironic overidentification, which characterized life under late socialism in most countries of the region.« (Hervorhebung d. Verf.) 40 Vgl. Boym 2001, S. XVIIIff. 41 Dieser Artikel entstand im Rahmen eines Marietta Blau Dissertationsstipendiums der OeAD-GmbH, finanziert aus Mitteln des Österreichischen Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung (BMWF), das ich an der Amsterdam School for Cultural Analysis absolvierte.

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Nicole Kandioler

lovakia – The Case of the Television Serial Vypraveˇj and its Viewers«, in: Imre, Anikû et al. (Hg.): Introduction of Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism, London / New York 2013, S. 199–220. Collins, Richard / Porter, Vincent: WDR and the Arbeiterfilm: Fassbinder, Ziewer and others, London 1981. De Lauretis, Teresa: »Die Technologie des Geschlechts« [1987], in: Scheich, Elvira (Hg.): Vermittelte Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie, Hamburg 1996, S. 57–94. Dudek, Sandra: »Alle Menschen sind gleich, nur Männer sind gleicher. Gleichstellungspolitik in Tschechien nicht prioritär.« 2005, verfügbar unter : http://www.radio.cz/de/ rubrik/eurodomino/alle-menschen-sind-gleich-nur-maenner-sind-gleicher-gleich stellungspolitik-in-tschechien-nicht-prioritaer [01. 05. 2014]. Elsaesser, Thomas: Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2012. Imre, Anikû: »Why should we study socialist commercials?«, in: View. Journal of European Television History and Culture. Volume 3 / Issue 2 / 2012, S. 65–76. Imre, Anikû / Havens, Timothy / Lustyik, Katalin (Hg.): Popular Television in Eastern Europe During and Since Socialism, New York / London 2013. Jansen, Peter W. / Schütte, Wolfram (Hg.): Rainer Werner Fassbinder, Frankfurt am Main 1992. Kiczkov‚, Zuzana: »The Public and the Private from a Feminist Perspective«, in: Human Affairs 2003/1, S. 44–58, verfügbar unter : Central and Eastern European Online Library www.ceeol.com [01. 05. 2014]. White, Hayden: »Afterword: Manifesto time«, in: Jenkins, Keith / Morgan, Sue / Munslow, Alun (Hg.): Manifestos for History, New York 2007, S. 220–231.

Andrea B. Braidt

Melancholie am Ende der Serie »… no narrative can show either its beginning or its ending. It always begins and ends still in medias res, presupposing as a future anterior some part of itself outside itself.«1 (John Hillis Miller, 1978) »When I first saw the ending, I said, ›What the f–k?‹ I mean, after all I went through, all this death, and then it’s over like that?«2 (James Gandolfini, Darsteller von Tony Soprano in The Sopranos)

Anfang: Über dreierlei Enden3 Was Miller in der Hochphase poststrukturalistischer Literaturtheorie über das Ende der »Erzählung« (narrative) sagte, gilt heute, im Zusammenhang meiner Ausführungen, in bestimmter Weise immer noch. Allerdings bedarf es einer Umformulierung für die hier vorgeschlagene neoformalistische Zugangsweise zu den Enden von Fernsehserien als Erzählbrüchen. Eine Umformulierung, die insbesondere die mit den Enden verbundenen Zuschauer_innen-Partizipation fassen kann: Der Plot eines audiovisuellen Medienangebots zeigt als Beginn und Ende jenen Teil der Story, mit dem er einsetzt bzw. aussteigt. Während die Story (fabula) gewissermaßen unendlich ist und viele Beginne und Enden aus unterschiedlichen Perspektiven der Vermittlung gefunden werden können, beginnt und endet jeder Plot (syuzhet) an einem sehr genau bestimmbaren und beschreibbaren Punkt. Oder mit Christine Noll Brinckmann: »Das ›Syuzhet‹ ›schneidet‹ sich ein Stück aus der Fabel aus, das es auspolstert und gestaltet.«4 Am Beginn und am Ende sind diese narrativen ›Auspolsterungen‹ besonders opulent, was einerseits produktionstechnische Gründe hat, und andererseits mit den Zuschauer_innenerwartungen zusammenhängt. Am Beginn müssen Erwartungen intensiv geschürt werden, um die Zuschauer_innen zum Weiter1 Miller 1978, S. 7. 2 TV Blog xfinity, http://xfinity.comcast.net/blogs/tv/2012/03/01/the-sopranos-stars-finally-talkabout-that-ending/ [01. 07. 2014]. 3 Ich danke der Herausgeberin des Bandes, Birgit Wagner, für punktgenaue editorische Betreuung und wertvolle weiterführende Hinweise. 4 Brinckmann 2003, S. 153.

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schauen zu verführen; am Ende werden die narrativen Elemente der Erzählung in der Regel so zusammengeführt, dass keine ›losen Enden‹ übrigbleiben und allen Erwartungen und Detailerwartungen, die zu Beginn initiiert wurden, entsprochen werden kann. Das Eingehen auf die Erwartungen bedeutet jedoch nicht immer Erwartungserfüllung: In Bezug auf die Literatur des 19. Jahrhunderts spricht John Kucich von mehr oder weniger »crucial endings« – also mehr oder weniger »wesentlichen, sinnstiftenden Enden« – und zwar je nachdem, wie sehr das Ende den Effekt des »Pleromas«, also einen Zustand geistig-göttlicher Fülle, erzeugt. Die Erfüllung wird in dieser Literatur, so Kucich, dadurch bewerkstelligt, dass das Zeitempfinden des Lesers (sic) mit der Zeit der Fiktion gleichgeführt wird, und der Endpunkt, den die Erzählung wählt, gewissermaßen als »natürlich« empfunden wird. »Gelungene Fiktion« strebe ein möglichst »wesentliches Ende« an, ein Ende, das in jenem Sinne Vollkommenheit erzeugt, wie das Neue Testament als »Ende« des Alten Testaments »göttliche Fülle/Vollkommenheit« zeitigt.5 Um dem Phänomen der Enden von Fernsehserien des 21. Jahrhunderts analytisch näherzukommen, sind zunächst drei Typen von Enden zu unterscheiden: 1. Das Ende einer Folge. Am Ende einer Folge (oder Episode) kommt es in der Regel zum Abschluss einer Handlungseinheit, wobei diese Handlungseinheit im Umfang stark variieren kann: während bei Sitcoms meist jedes narrative Element von dieser Handlungseinheit bestimmt ist, kommen bei »Drama«Serien oder so genannten »Qualitätsserien«6 meist nur kleine Handlungsdetails zum Abschluss. Das Episodenende erfolgt in der Regel durch Schließung (alle Fäden werden zusammengeführt, alle narrativen Rätsel gelöst) oder Cliffhanger. Letzterer wird in vielen Serien als stilistisches Merkmal inszeniert – z. B. in der am längsten laufenden Fernsehserie des deutschen Sprachraums, der Lindenstraße: das finale close-up auf ein meist emotional verzerrtes Gesicht wird von einem dramatischen Streichercrescendo begleitet, das nach einer kurzen Zäsur in die versöhnlich gestaltete Abspannmelodie mündet. 2. Das Ende einer Staffel. Eine Serienstaffel umfasst Episoden, deren Anzahl je nach Produktionszusammenhang und Genrekonvention stark variieren kann. Miniserien umfassen mindestens 2 bis 6 Episoden, die durchschnittliche HBO Drama-Serie umfasst 12 oder 13 Episoden, manchmal aber auch 5 Vgl. Kucich in: Kermode 1978, S. 155. 6 Der Begriff des Quality TV wurde erstmals von Jane Feuer (Feuer / Kerr / Vahimagi 1984) entwickelt und erlebt seit den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts eine regelrechte Renaissance, die insbesondere mit der starken Verbreitung des pay-channels HBO in Zusammenhang zu bringen ist. Andernorts habe ich eine filmästhetische Bestimmung des Begriffs des »Qualitätsfernsehens« als »Cinematic Television« vorgeschlagen, s. Braidt 2011.

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bis zu 24 Episoden.7 Das Staffelende stellt in der Regel einen Umschlagplatz für große Veränderungen im Leben der Protagonist_innen dar, bietet Anknüpfungspunkte für die Fortsetzung der Handlung in der nächsten Staffel. So erreicht beispielsweise der Protagonist der Serie House of Cards (USA, Netflix Original 2013-) am Ende der zweiten Staffel endlich jenes Ziel, das er von Anfang an durch jede seine Handlungen verfolgt und an dessen Umsetzung er minutiös gearbeitet hat, nämlich Präsident der USA zu werden. Nach diesem Ende ist die Aussicht auf die dritte Staffel der Serie besonders spannungsreich, da eine vollkommen neue Erzählperspektivierung zu erwarten ist. 3. Das Ende der Serie. Technisch ist dies das Ende der letzten Folge der letzten Staffel einer Serie, dramaturgisch kann dieses Ende jedoch sehr unterschiedlich ausgedehnt werden, von einem plötzlichen, unerwarteten Ende – zum Beispiel durch Tod des Protagonisten in der letzten Folge wie in Big Love (USA, 5 Staffeln, HBO 2006–2011) – bis hin zu einem langen, über mehrere Episoden hinweg angekündigten Serienende, wie beispielsweise in The LWord (USA, 6 Staffeln, Showtime 2004–2009), wo das Ende proleptisch in der ersten Folge der letzten Staffel inszeniert und über die gesamte Staffel hinweg in Rückblenden bis in die Erzählgegenwart hinein aufgerollt wird, oder selbstverständlich in dem legendären medias-in-res-Ende der Serie The Sopranos (USA, 6 Staffeln, HBO 1999–2007). Im folgenden Text möchte ich mich mit dem Ende der Serie als Erzählbruch auseinandersetzen, insbesondere mit der durch die Erzählstruktur des Serienendes geschaffenen Rezeptionserfahrung. Die Empirie der Selbstbeobachtung und die (zugegebenermaßen unsystematische) Erhebung von Schauerfahrungen von Freundinnen zeigt, dass die Art und Weise, wie Serien ihre Enden narrativ strukturieren, eine Schauerfahrung hervorbringt, die sich in vielen Fällen als tiefempfundene Traurigkeit bezeichnen lässt. Diese Traurigkeit wird durchaus über längere Zeit hinweg empfunden, ist also mehr als eine unmittelbare Schaureaktion, wie etwa das Erschrecken im Horrorfilm oder ein Alptraum nach einem Thriller, und artet fallweise in nachhaltige Melancholie aus. Meine These lautet, dass der endgültige Abbruch des Erzählens am Ende der Serie deshalb bei den Zuschauer_innen ein Gefühl der Melancholie erzeugt, weil dieser Bruch ein Ende des Empathisierens mit dem erzählten Universum be7 Die Begrifflichkeit dessen, was als »Miniserie«, »Serie« usw. gefasst wird, variiert auch stark je nach nationalen Formatbezeichnungen und Produktionsstandards. So wird in Italien etwa auch eine zweiteilige Fernsehproduktion als »miniserie televisiva« bezeichnet (vgl. zu verschiedenen Formaten Türschmann / Wagner 2011). Meine Ausführungen zum seriellen Erzählen basieren v. a. auf der Sichtung US-amerikanischer, britischer sowie deutscher und österreichischer Produktionen.

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deutet. Fernsehserien epischen Charakters bedingen ein hochkomplexes Einfühlungsgefüge, da die Handlungen meist zahlreicher Figuren über einen langen Zeitraum und bis in kleine Details ihres Gefühlspektrums nachvollzogen werden können bzw. müssen. Durch die narrative Gestaltetheit der Serien wird ein stabiles empathisches Feld erzeugt, durch das die Zuschauer_innen im Rezeptionsprozess wandeln. Das Ende der Serie schafft durch eine ganz besondere Inszenierung eine Situation des Abschieds von der erzählten Welt. Es wird den Zuschauer_innen unmissverständlich klar gemacht, dass das Feld, das sie die letzten Monate oder gar Jahre empathisch nachvollzogen haben, nicht mehr existieren wird. Im Folgenden werde ich also nach einer kurzen Bestimmung des Konzepts der Empathie im Zusammenhang mit der Rezeption von Medienangeboten auf die narrative Situation am Ende der Serie eingehen und anhand eines Beispiels demonstrieren, wie uns dieser Erzählabbruch in Traurigkeit versetzen kann.

Empathie Das Konzept der Empathie kann als eines der produktivsten, aber auch kontroversesten Denkkonzepte des (langen) 20. Jahrhunderts bezeichnet werden. Erstmals vom Kunsthistoriker Robert Vischer als Schlüsselbegriff für die Ästhetik entfaltet um zu erklären, wie die »Einfühlung« den Genuss der Schönheit von Kunstwerken ermöglicht,8 wurde Empathie für Theodor Lipps zur Jahrhundertwende zum allübergreifenden Ansatz für die Künste.9 Für die Psychologie wurde der Begriff von Edward Tichener entwickelt, und in der Folge arbeiteten George Herbert Mead und, am wohl prominentesten, Jean Piaget mit dem Konzept. Die Fähigkeit, sich selbst in die Situation eines anderen zu versetzen, ermöglicht uns die angemessene Reaktion auf andere bzw. Kommunikation mit ihnen. In diesem Vermögen sieht Piaget die Basis für jedwede soziale Beziehung. Grundlegend können wir durch Empathisieren verstehen, »was passiert«, denn nur durch das »Einnehmen von Perspektiven« bzw. das »Hineinversetzen in Rollen« können wir eine Situation angemessen beurteilen und dem Urteil folgend handeln. Das Meistern des Alltagslebens hängt zu einem Gutteil davon ab, wie wir die Perspektiven anderer wahrnehmen, analysieren und einzunehmen im Stande sind. »Sich in den anderen hineinzuversetzen«, also sich vorstellen zu können, wie andere fühlen und denken, gehört zu den

8 Vgl. Vischer 1873. 9 Vgl. Lipps 1903 sowie Lipps 1913.

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wichtigsten sozialen Fähigkeiten, die uns dabei helfen, komplexe und schwierige Situationen zu meistern.10 Diese Erkenntnisse für die Rezeptionssituation von audiovisuellen Medienangeboten weiterzudenken heißt, dass Empathisieren den Zuschauer_innen das Verstehen von komplexen narrativen Systemen ermöglicht. Durch Empathie mit den Figuren, durch das Hineinversetzen in deren Gefühlswelt, können etwa tiefe Schichten der Motive verstanden werden, die für die Figuren handlungsanleitend sind; Handlungen, die nur teilweise in der Erzählung repräsentiert werden, können durch empathische Vorstellung ergänzt werden, durch das Empathisieren können die Zuschauer_innen die Gefühle der Figuren zueinander verstehen. Für die Beschreibung des Verhältnisses von Zuschauer_innen zur Erzählung stellt Empathie im Zusammenhang mit meinen Ausführungen das zentrale Konzept dar. In der Filmwissenschaft wird die Empathie heute weitestgehend als Erklärungsmodell für den Prozess beim Zuschauen akzeptiert und hat somit das in den 1970er Jahren entwickelte Konzept der Identifikation abgelöst.11 Beschrieben werden diverse Prozesse der Zuschauer_innen, die mit Figuren empathisieren. Die Spannbreite dieser Prozesse reicht von einer mehr oder weniger als automatisch bezeichneten Mimikry des Gefühlszustands der Figur, in dem körperliche Signifikanten als Stichworte für diese Mimikry fungieren (Margrethe Bruun Vaage bezeichnet diese Form als »verkörperte Empathie«12), bis hin zu ziemlich bewussten Akten der imaginativen Empathie, das heißt dem aktiven Hineinversetzen in die Situation der Figur, ihre Perspektive einnehmend. Obwohl davon ausgegangen wird, dass die Erzählung für die imaginative Empathie eine größere Rolle spielt als für die verkörperte Empathie (deren Grundlage ja die Repräsentation der Körper der Figuren ist), kommt der Perspektivierung der Erzählung in beiden Fällen eine Schlüsselrolle für die Steuerung der Zuschauer_innenteilnahme an der Erzählung zu. Die Art und Weise, wie die Erzählung perspektiviert, ist für das Empathisieren der Zuschauer_innen ausschlaggebend. Besonders weitreichend wird diese These, wenn wir bedenken, dass Empathisieren nicht auf individuelle Figuren oder Protagonisten beschränkt bleibt, sondern das gesamte narrative System als »fiktive soziale Handlungswelt«13 betrifft. Hans-Jürgen Wulff hat darauf aufmerksam gemacht, dass dies der wesentliche Grund dafür ist, warum Perspektivierung eine derart wichtige Rolle für das Empathisieren einnimmt: »weil sie die thematische Gewichtung der Figuren 10 11 12 13

Vgl. Piaget 1992. Hediger 2002. Bruun Vaage 2007, S. 101. Wulff 2007, S. 157.

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festlegt, weil sie die fundamentalen dramatischen Rollen von Protagonist und Antagonist festlegt, weil sie die Verteilung und das Maß der Sympathie reguliert.«14 Der Prozess des Empathisierens kann also als Art »Nachbilden der intentionalen Orientierung aller in der Erzählung partizipierenden Figuren« beschrieben werden, wobei Empathie und Konterempathie (also das Einfühlen in die Wahrnehmung einer zweiten Figur durch die erste Figur) in ein »empathisches Feld« synthetisiert werden. »Empathien wie Konterempathien beschreiben denjenigen, auf den sie gerichtet sind, umfassen wesentlich Handlungs- oder Ereigniserwartungen; und sie stehen nicht allein; Empathien sind von Konterempathien, Konterempathien von Empathien begleitet, bedingen sie, bringen sie hervor. Das empathische Feld ist ein Gefüge reziproker Figurenentwürfe.«15 Und die Perspektivierung der Erzählung ist der Kompass, mit dem die Zuschauer_innen durch dieses Feld navigieren.

Erzählperspektivierung (am Ende) der Serie Die Perspektivierung ist die grundlegende Voraussetzung für jede Art der Erzählung. Bevor ein_e Erzähler_in beginnt, eine Geschichte zu erzählen – gleichgültig ob fiktional oder nicht-fiktional –, muss jener Punkt gewählt werden, von dem aus die Geschehnisse vermittelt werden.16 Vom ersten Moment an bedingt die Erzählperspektive Weite und Tiefe des Wissens über das Erzählte, den Grad an Selbstbewusstheit, den der Erzähler_die Erzählerin einnimmt, die Nähe und Distanz zu den Figuren usw. Zur Frage nach der Agentur des Erzählens (»dem Erzähler«) tritt in audiovisuellen Erzählungen die Frage nach den Schauund Hörbeziehungen, die für die Perspektivierung der Erzählung zentral sind. Welche Figur ›sieht‹, was passiert und fungiert als ›Fokalisierer‹ einer Szene, einer Sequenz, einer Episode oder einer ganzen Serie? (Denken wir etwa an die voice-over der verstorbenen Figur in Desperate Housewives [USA, 8 Staffeln, ABC 2004–2012], die als allwissende Erzählerin jede Episode und somit die ganze Serie rahmt.) Welchen Abstand nimmt der Fokalisierer zur Erzählung (als homodiegetischer oder heterodiegetischer Erzähler, oder als nichtpersonalisierter filmischer Erzähler)? Wie sind Erzähler, Fokalisierer und nichtpersonalisierter Erzähler im Zusammenhang mit mentaler Perspektive (also etwa der 14 Ebd. 15 Wulff 2003, S. 152. 16 Willie van Peer und Seymour Chatman definieren Erzählperspektive folgendermaßen: »the location from which events in a story are presented to the reader. Literally, ›perspective‹ refers to the spatiotemporal coordinates of an agent or observer ; figuratively, it signifies the norms, attitudes, and values held by such an agent or observer.« (van Peer / Chatman 2001, S. 5).

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ideologischen Haltung von Figur und Erzähler) positioniert? Perspektive spielt so eine fundamentale Rolle in Erzählungen, »weil sie alle Interaktionen zwischen den Subjekten und Objekten in der Zeit und dem Raum der Erzählung vermittelt«.17 Die Erzählperspektive fügt das Verständnis einer Erzählung mit der Konfiguration der Involviertheit der Zuschauer_innen, also deren Empathie, zusammen. In diesem Sinne werden durch die Perspektive des Erzählens die Elemente der Erzählung zueinander in Verbindung gesetzt und an der Welt der Geschichte, also am größeren Erzählzusammenhang, ausgerichtet. Während die Frage danach, wer erzählt, wer fokalisiert und wer im Spielfilm sieht, schon komplex genug ist, kann sie sich in Erzählungen, die über viele Episoden zahlreicher Staffeln gezogen werden, noch viel komplexer gestalten. Obwohl jede Episode einer Serie neu beginnen muss – so wie jede Erzählung einen Anfang nehmen muss – und eine der gesamten Erzählung untergeordnete Geschichte vermittelt, orientieren sich die Zuschauer_innen im Netz der Figuren mithilfe des Wissens, das aus vorangegangenen Folgen vermittelt wurde. Eine einfache Szene zwischen zwei Figuren etwa kann im Kontext einer langen Serie zu einem komplexen Empathisieren führen, da durch das Wissen um die Figuren zahlreiche Perspektivierungen des Erzählten möglich werden. Nehmen wir als Beispiel einen einfachen Ehestreit zwischen Tony Soprano und seiner Frau Carmela aus der ersten Staffel der Sopranos. Wir empathisieren mit Tony, der sich von seiner Frau zusätzlich unter Druck gebracht fühlt, denn wir kennen seine Stress-Situation, die vor allem daraus resultiert, dass er sein Mafialeben von seinem Privatleben nach Möglichkeit trennen möchte. Er muss seiner Frau also viele Details verheimlichen, die Heimlichkeit ist ihm zur zweiten Natur geworden. Doch wir empathisieren auch mit Carmela. Sie weiß zwar grundsätzlich von Tonys Mafialeben, kennt jedoch nicht die Details, die uns als Zuschauer_innen bekannt sind und von denen wir wissen, dass Tony sie vor Carmela – um sie zu schützen und um ein bürgerliches Familienidyll aufrechtzuerhalten – verheimlicht. Im Falle dieses Streits geht es darum, dass Tony sich durchringen muss, einen engen Gefährten ermorden zu lassen. Dieses Detail wiederum vertraut Tony Dr. Melfi, seiner Therapeutin, an. Wüsste Carmela, dass Tony eine Therapeutin hat, wäre sie wesentlich großzügiger mit ihm, drängt sie ihn doch immer wieder, etwas gegen seine Panikattacken zu unternehmen. Doch Tony kann Carmela zu diesem Zeitpunkt der Erzählung noch nichts von Dr. Melfi sagen, einerseits weil das Verheimlichen Teil seiner Persönlichkeit ist, andererseits aber auch, weil er sich schämt, eine Therapeutin aufzusuchen. Selbstverständlich auch, weil er im tiefen Inneren als italienischer Mafia-Macho daran glaubt, mit der attraktiven Dr. Melfi eigentlich auch so etwas wie eine Liebesbeziehung zu haben (das Konzept der Übertragung wird ihn noch be17 Chamberlain 1978.

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schäftigen) und er auch aus diesem Grund gegenüber Carmela die regelmäßigen Sitzungen verheimlicht. Jedoch weiß auch Tony nicht alles von Carmela, und die Konterempathie der Zuschauer_innen wird von diesem Wissen gesteuert. Das empathische Feld wird noch dichter, wenn wir – im späteren Verlauf der Serie – auch immer mehr darüber erfahren, was Dr. Melfi von ihrem Klienten hält. Dies vollziehen wir in den Szenen zwischen Melfi und ihrem Supervisor nach. Ein einfacher Streit zwischen zwei Eheleuten, der in einer kürzeren Erzählung vielleicht nur dazu dient, bestimmte Informationen, die für den Verlauf der Erzählung wichtig sind, zu vermittelten, wird im Zusammenhang einer Serie zu einem komplexen Kristallisationspunkt für die Orientierung des Empathisierens. Doch wie ergeht es uns am Ende der Serie, wenn der Abbruch der Erzählung das Empathisieren zu einem jähen Ende bringt?

Zum Beispiel Das Ende der Serie The Sopranos18 entlässt die Zuschauer_innen nicht nur in eine Melancholie darüber, dass sie von nun an die lustvolle Tätigkeit des Empathisierens mit den Figuren aus der Serie nicht mehr vollziehen können. Am Ende dieser Serie gelingt die symbolisierte Repräsentation dieses Gefühls der Traurigkeit, wodurch die Serie – wie schon so oft – auch an ihrem Ende die Ebene der Metaerzählung einführt. Die viereinhalb Minuten der letzten Episode der Serie19 (Minute 54’05–58’54) inszenieren ein »letztes Abendmahl« der Soprano-Familie in einem Fast-FoodRestaurant. Tony betritt als erster das Lokal und stellt mit seinem Blick auf den Tisch, an dem er gleich Platz nehmen wird, den zentralperspektivischen Rahmen für die folgende Szene zur Verfügung.

18 Die HBO-Serie The Sopranos war eine gleichermaßen bei Publikum und Kritik beliebte und geachtete Serie, die gewissermaßen als »Mutter« des neuen Qualitätsfernsehens im 21. Jahrhunderts gilt. Wesentlicher Grund für den Erfolg der Serie war sicherlich die absurd anmutende Integration des psychoanalytischen Diskurses in die epische Erzählung der Machenschaften einer Mafia-Familie. Die Figur der Dr. Jennifer Melfi, Psychoanalytikerin und Therapeutin, wurde wegen der so differenzierten Verkörperung ihrer Tätigkeit mehrmals von der American Association for Psychoanalysis (!) ausgezeichnet (vgl. Boxer 2001, S. 15). 19 Episode »Made in America« (Staffel 6, Episode 21), Regie, Drehbuch, Produktion: David Chase, Darsteller_innen u. a. James Gandolfini, Lorraine Bracco, Edie Falco, Michael Imperioli. Ca. 58 Min. USA: HBO, 2007 (Erstausstrahlung 10. 6. 2007; dt. Erstausstrahlung 6. 2. 2008 auf PREMIERE).

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Durch eine Folge aus point glance, point object, point glance und point objectEinstellungen wird der Eindruck erzeugt, dass Tony Soprano sich selbst am Tisch sitzen sieht. Die Etablierung dieser dominanten optischen Perspektive und die ungewöhnliche Schnittfolge zwischen den letzten beiden Einstellungen – konventionell würde nach den ersten beiden Einstellungen gezeigt, wie Tony zum Tisch geht, oder es würde auf die dritte und vierte Einstellung verzichtet – stellt die Rahmung für die letzte Szene dar. Tony wird primärer Fokalisierer sein (wenngleich nicht der einzige), aus seiner Perspektive wird ein Spannungselement abgeleitet: sein wiederholter Blick zur Tür, ausgelöst durch das akustische Signal der Türglocke. Während dieser wiederholten Blicke zur Tür blättert Tony durch das Auswahlmenü der Jukebox: »Who will you run to«, »This magic moment« und schließlich »Don’t stop believing«. Die im Zentrum der drei Einstellungen zu lesenden Titel kommentieren die Szene, in der ein letztes Mal diese den Zuschauer_innen ans Herz gewachsene Familie zusammenkommt.

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Ein Spannungselement resultiert aus der Gegenwart des Mannes an der Bar, der – ist man mit der sozialen Handlungswelt der Serie vertraut – alle Eigenschaften eines Auftragskillers hat. Die Zuschauer_innen warten gespannt darauf, ob er an einem Punkt der Szene eine Waffe zücken und die Familie ermorden wird. Ein drittes Spannungselement resultiert aus der mit der Dinnerszene gegengeschnittenen Straßenszene der einparkenden Tochter. Diese auktorial erzählten Einstellungen bauen deren Ankunft als spannungsgeladenes Deadline-Element auf. Was wird passieren, wenn sie das Lokal betritt? Wird sie es überhaupt betreten oder vielleicht vorher im Auto explodieren? Oder beim Überqueren der Straße niedergefahren werden? Verhandelt wird in der Szene ein sehr normales Familiengespräch. Es geht um die Wahl des Menüs, die mutmaßliche Zeugenaussage, die Tony belasten wird, AJs, des Sohnes, neue Arbeitsstelle als Produktionsassistent bei einer Filmfirma, und um die Situation selbst – eine Situation, die als »glückliche« erinnert werden soll, so der Sohn zum Vater, ihn an seine eigenen Worte erinnernd. Die Tonspur wird von einem Popsong dominiert, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass von der Szene als »Musiknummer« gesprochen werden kann.20 »Don’t stop believing« der US-amerikanischen Rockband »Journey«, selbstreferenzieller und ironischer könnte die Aufforderung aus heterodiegetischer Perspektive an die Zuschauer_innen am Ende einer Serie kaum formuliert werden. Selbstverständlich funktioniert die Aufforderung auch aus homodiegetischer Perspektive an die Figuren selbst, schließlich wählt Tony den Song aus. Es möge bitte niemand in der Familie aufhören, an das gute Ende zu glauben, nicht aufhören daran zu glauben, dass aus den Gewaltverbrechen, die Tony in seinem »Berufsleben« begeht, auch etwas Gutes werden kann. Doch das Ende dieses Familienlebens und das Ende des Empathisierens der Zuschauer_innen mit dem von der Serie entworfenen Feld steht unmittelbar bevor : nach einem close-up auf Tonys Gesicht (point glance) folgt ein smash cut auf tonlosen Schwarzfilm, der erst nach 11 Sekunden in den Abspann mündet. Die Tonspur wird im Refrain des Songs geschnitten und reduziert die Aufforderung auf »Don’t stop«. In Kombination mit dem darauffolgenden Schwarzfilm wird diese Aufforderung zur sehnsüchtig geäußerten Bitte der Zuschauer_innen an die Serie: »Bitte, Serie, höre nicht auf!« Selbstverständlich kann die Serie nicht anders antworten als mit Schwarzbild, ist sie als Begehrensobjekt doch immer nur Produkt der imaginativen oder verkörperten Empathie der Zuschauer_innen. Und hier liegt der Grund für das schwarze Loch, in das wir als Zuschauer_innen am Ende der Serie fallen: das empathische Feld, durch das wir uns orientierten und das uns auch Orientierung gab, wird uns entzogen. Nicht das Ende der Figuren durch den Erzählabbruch macht uns 20 Vgl. Braidt 2008.

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traurig; wir trauern ihnen nicht wie verstorbenen Verwandten nach, die nicht mehr Teil unseres Lebens sind. Vielmehr hindert uns der Abbruch der Serienerzählung daran, weiter in der Handlung des Empathisierens zu schwelgen. Obgleich (zumindest die meisten) Zuschauer_innen wissend um die Fiktionalität der Serie quasi sehenden Auges das Ritual des »so tun als ob« vollziehen, ist der Entzug der Grundlage für dieses Ritual schmerzlich. Das Ende von The Sopranos zielt auf diesen Schmerz und gibt ihm gleichzeitig ein überaus angemessenes Bild: das schwarze Loch der Sinnlosigkeit, die uns am Ende der Serie überfallen kann.

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Ende: Melancholie Ein Text, der »Melancholie« in seinem Titel trägt, soll nicht enden, ohne Sigmund Freud die Reverenz zu erweisen. Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert.21

Wenngleich der pathologische Zustand der Melancholie zur Beschreibung der Reaktion auf das Ende einer Serie auch übertrieben wirken mag, so können wir mit dem Konzept doch ein Symptom fokussieren, das die Krankheit laut Freud charakterisiert, nämlich den Verlust der Liebesfähigkeit. Nicht mehr lieben zu können, also ein Liebesobjekt verloren zu haben, kann Auslöser des Gefühls der Melancholie sein. Doch anders als beim Tod eines geliebten Menschen und dem damit einhergehenden Verlust der Liebesfähigkeit handelt es sich bei der Melancholie, und das ist für unseren Zusammenhang interessant, um einen abstrakteren Zusammenhang zwischen Objektverlust und Gefühl: Das Objekt ist nicht etwa real gestorben, aber es ist als Liebesobjekt verlorengegangen (z. B. der Fall einer verlassenen Braut). In noch anderen Fällen glaubt man an der Annahme eines solchen Verlustes festhalten zu sollen, aber man kann nicht deutlich erkennen, was verloren wurde, und darf um so eher annehmen, daß auch der Kranke nicht bewußt erfassen kann, was er verloren hat. Ja, dieser Fall könnte auch dann noch vorliegen, wenn der die Melancholie veranlassende Verlust dem Kranken bekannt ist, indem er zwar weiß wen, aber nicht, was er an ihm verloren hat. So würde uns nahegelegt, die Melancholie irgendwie auf einen dem Bewußtsein entzogenen Objektverlust zu beziehen, zum Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem Verluste unbewußt ist.22

So wie die »verlassene Braut« nicht tot, sondern aus dem engen emotionalen Umfeld entschwunden ist, ›lebt‹ auch die Serie nach ihrem Ende gewissermaßen weiter. Durch das Abspielen von DVD-Editionen können Seriensichtungen ad infinitum wiederholt werden. Was am Ende der Serie verloren wurde, ist also vielleicht gar nicht so klar, und diese Unklarheit trägt zur Produktion der melancholischen Stimmung bei.23 Nicht ganz bewusst war den Zuschauer_innen, 21 Freud 1946, S. 429. 22 Ebd., S. 430. 23 Der Hauptdarsteller der Serie, James Gandolfini, starb am 19. Juni 2013 – sechs Jahre nach dem Ende der Fernsehserie. Das Betrauern seines Todes durch die Fangemeinde der Sopranos zeigt einerseits, wie gängig die bewusste oder unbewusste Verwechslung von Schauspieler und Figur die Emotionen beim Zuschauen beeinflusst; diese Trauer verkompliziert jedoch auch das Gefühl der Melancholie über das Ende der Serie – denn die Figuren,

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welche Erfüllung durch die vielfältigen Empathisierungsangebote der komplexen Seriennarration gewonnen werden konnte, nicht ganz bewusst war uns vielleicht, wie oft man unwillkürlich an die Protagonist_innen dachte, auch während man anderen Tätigkeiten als dem Serienschauen nachging, nicht ganz bewusst war einem vielleicht auch, wie viel Zeit man damit verbrachte, den Figuren beim Handeln zuzuschauen, und vielleicht war einem auch nicht ganz klar, mit welcher Energie Sinn und Zweck dieses Handelns nachvollzogen wurde. Vielleicht waren wir uns gar nicht im Detail bewusst, wie viele Gespräche wir mit Freund_innen über die Figuren führten, dass wir womöglich Streitgespräche (wenngleich spielerischer Art) darüber führten, welche Figur an welchem Punkt der Serie sympathischer wäre, realistisch nachvollziehbarer handelte, eine idealere Figur zum Hineinversetzen abgeben würde. Klar war uns womöglich auch nicht, dass die moralischen Standards der Serie, verkörpert durch das Handeln der Protagonist_innen und der darauf folgenden Reaktionen der Antagonist_innen, ein stetes Abgleichen mit den eigenen Wertvorstellungen abverlangte, dass dieser Prozess des moralischen Wertens mal einfacher, mal schwieriger war. Gerade beim Nachvollziehen der Handlungsmotivationen und Dilemmata eines Mafiabosses wie Tony Soprano gerieten wir womöglich selbst in das eine oder andere Dilemma: sollte man sich denn wirklich mit Tony wünschen, dass die Machenschaften, der Mord, die illegale Manipulation unentdeckt bleiben und zum »beruflichen« (also der Mafia-Karriere dienlichen) Erfolg führen, oder wäre es nicht angebrachter, dem ganzen illegalen und menschenverachtenden Treiben durch einen Coup der Aufdeckung durch die Polizei ein Ende zu setzen (zu sehen). Vielleicht waren wir uns während des Schauens nicht klar darüber, wie viel Faszination dieses Abgleichen des Wertesystems mit sich brachte, und wie intensiv das Empathisieren fortgeschritten war, dass man solche Überlegungen überhaupt anzustellen gewillt war. Von skurrilen Wahrnehmungsmissgeschicken im Alltag einmal abgesehen, wenn man glaubte, auf der anderen Straßenseite (in Wien) Carmela zu entdecken, oder Tony, der im Kaffeehaus sitzt und einen Espresso trinkt. All dessen wird man als passionierte_r Serienzuschauer_in vielleicht erst gewahr, oder erst so richtig gewahr, wenn es vorbei ist. Wenn es aus und vorbei ist, wenn die Vorlage für all das, was aufgrund des empathischen Nachvollzugs in einem selbst passierte, plötzlich weg ist. Alles Denken an die Figuren, alles Hineinversetzen und Mitfiebern ist nun Gegenstand der Retroaktion. Die Serie wird zum Gegenstand der Erinnerung, und allein dieses Zur-Erinnerung-Werden kann einen mit tiefer die uns fehlen, fehlen uns selbstverständlich in Gestalt jener, die sie verkörperten. Die Identifikation des Schauspielers mit der Figur (vgl. Zitat James Gandolfini, s. Fußnote 2), von der Öffentlichkeitsarbeit in Film- und Fernsehproduktionen selbstverständlich gefördert, fördert die Verwechslung von Figur und Schauspieler durch die Zuschauer_innen.

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Andrea B. Braidt

Traurigkeit erfüllen. So ganz genau wissen wir nicht, was wir verloren haben; wie der von Freud beschriebene Kranke sind wir uns nicht ganz darüber im Klaren, was nun nicht mehr so ist wie früher, doch eine Leere macht sich breit, die uns melancholisch werden lässt. Ich habe versucht zu zeigen, dass die Melancholie, die uns am Ende der Serie befällt, über das Gefühl, das wir durch den Verlust eines Begehrens- oder Identifikationsobjekts erfahren, hinausgeht. Die durch viele Stunden lieb gewonnene Figur, die den Zuschauer_innen durch die vielfältigen narrativen Gestaltungen der seriellen Erzählung so nahe gebracht wird, kann mit Sicherheit zu einem Liebesobjekt werden, und die emotionale Bindung, die ihr entgegengebracht wird, kann durchaus einem Gefühl der Verliebtheit ähnlich sein. Doch das empathische Feld, das wir beim Anschauen einer seriellen Erzählung der vielstaffeligen Fernsehserie aufbauen und kognitiv »durchschreiten«, ermöglicht uns nicht nur eine quantitativ intensivere Erfahrung, sondern auch ein als höchst komplexes Phänomen zu beschreibendes Erlebnis. Das Ende der Serie, so meine ich, lässt uns dieser tiefgehenden Erfahrung innewerden und entlässt uns, die Zuschauer_innen, in ein Stadium der vorübergehenden Erlebensleere. Vorübergehend – denn die nächste Serie ist schon zur Sichtung bereit.

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