Im Werden begriffen: Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel [1 ed.] 9783666540844, 9783525540848

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Im Werden begriffen: Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel [1 ed.]
 9783666540844, 9783525540848

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Gunther Wenz

Im Werden begriffen Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel Pannenberg-Studien

Band 7

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Pannenberg-Studien

Band 7

Herausgegeben von Gunther Wenz

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Gunther Wenz

Im Werden begriffen Zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Wolfhart Pannenberg © Hilke Pannenberg Satz: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2367-4369 ISBN 978-3-666-54084-4

Inhalt Vorwort .......................................................................................... 1.

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Was ist der Mensch? Philosophische Subjektivitätstheorie und Anthropologie in theologischer Perspektive ........................................................ 1.1 Ibn Tufails Inselroman........................................................ 1.2 Die Frage des Menschen nach sich selbst .............................. 1.3 Zur Textbasis der Untersuchung .......................................... 1.4 System und Subjekt ...........................................................

19 19 23 28 38

2.

Der Begriff als Vorgriff. Zu Pannenbergs Hegelrezeption ............. 2.1 Stuttgarter Hegel-Jubiläumskongress 1970............................. 2.2 Mainz 1964/66: T. Kochs und P. Cornehls Hegeldissertationen... 2.3 München 1969ff.: F. Wagners Metakritik ............................... 2.4 Minneapolis 1988: „I never became a Hegelian.“ ....................

45 45 50 59 65

3.

Erhebung zum Absoluten. Hegels Lehre vom Menschen im Kontext seines enzyklopädischen Systems ........... 3.1 Das Enzyklopädieprojekt .................................................... 3.2 Die Makrostruktur des Systems und seine logische Grundlegung .................................................................... 3.3 Naturphilosophie und Philosophie des endlichen Geistes ........ 3.4 Philosophie des Absoluten ..................................................

71 71 77 82 87

4.

Der Mensch als Geschichte. Pannenbergs anthropologischer Ansatz ......................................................... 99 4.1 Projekt in Permanenz ......................................................... 99 4.2 Das Programm von Offenbarung als Geschichte .................... 105 4.3 Anthropologie als implizite Prämisse der Geschichtstheologie... 111 4.4 Geschichte als umfassendster Horizont theologischer Anthropologie ................................................................... 119

5.

Erde, Pflanze, Tier. Organologische Voraussetzungen der Hegel’schen Anthropologie ................................................. 125 5.1 Geologische Natur ............................................................. 125 5.2 Vegetabilischer Organismus ............................................... 132 5.3 Tierisches Leben und animalischer Gattungsprozess............... 135

6

Inhalt

5.4 Anthropologische Anfangsgründe der Philosophie des subjektiven Geistes ....................................................... 145 6.

Naturgeist. Hegels Lehre vom vorbewussten Leben des Menschen ......................................................................... 155 6.1 Natürliche Beschaffenheiten und Veränderungen leibhaften Seelenlebens ....................................................... 155 6.2 Seelisches Empfinden und Fühlen ........................................ 165 6.3 Der Mensch als psychosomatische Differenzeinheit ................ 176 6.4 Wider die Naturalisierung des Geistes .................................. 181

7.

Von der naturtranszendierenden Wesensnatur des Menschen. Pannenberg und die sog. Philosophische Anthropologie .......................................................................... 185 7.1 Anthropologie in naturwissenschaftlichem Kontext................ 185 7.2 Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos .............. 189 7.3 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch ....................................................................... 194 7.4 Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt............................................................ 203

8.

Die Bestimmung des Menschen. Pannenbergs Herderdeutung.... 211 8.1 Vom Verhalten des Menschen und seinem Selbstverhältnis...... 211 8.2 Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit ............ 216 8.3 Werdende Gottebenbildlichkeit ........................................... 224 8.4 Herder, Gehlen, Plessner und Scheler ................................... 229

9.

Verständiges Gegenstandsbewusstsein. Pannenbergs Theorie der Sachlichkeit und der Ansatz der Hegel’schen Geistphänomenologie .......................................... 235 9.1 Sein beim Anderen ............................................................ 235 9.2 Die enzyklopädische Phänomenologie und die Phänomenologie des Geistes von 1807 .................................. 241 9.3 Die Anfänge der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins von sich selbst ................................................ 249 9.4 Sinnlichkeit, Wahrnehmung und Verstand ............................ 259

10. Vernünftiges Selbstbewusstsein. Zugänge zu Hegels Verständnis des seiner selbst gewissen Ichs.............................. 263 10.1 Das sich wissende Ich auf dem Weg zur Vernunft gemäß der Enzyklopädie von 1817 ....................................... 263

Inhalt

10.2 Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst gemäß der Phänomenologie von 1807 .................................................. 267 10.3 Die enzyklopädische Geistphänomenologie gemäß der Vorlesung vom WS 1827/28 ........................................... 274 10.4 Gewissheit und Wahrheit der Vernunft gemäß der Phänomenologie von 1807 .................................................. 282 11. Der Geist der Freiheit und seine Realisierung. Hegels Lehre von der theoretischen und praktischen Vernunft ............... 289 11.1 Die enzyklopädische Psychologie gemäß der Vorlesung vom SS 1825....................................................... 289 11.2 Anschauung und Vorstellung. Der Theorieweg des subjektiven Geistes zum Denken.......................................... 300 11.3 Die entwickelte Intelligenz und ihr tätiger Wille ..................... 308 11.4 „Ich“ als Indexwort? Wider die semantische Reduktion der Selbstbewusstseinsthematik ........................... 316 12. Das Ich und das Selbst. Kontexte Pannenberg’scher Egologiekritik........................................................................... 323 12.1 Der Ichphilosoph unter Atheismusverdacht........................... 323 12.2 Fichtes ursprüngliche Einsicht ............................................ 332 12.3 I, me, and the Self. G. H. Meads Sozialpsychologie ................. 338 12.4 Identität und Lebenszyklus – E. H. Eriksons Theorie des Urvertrauens ............................................................... 352 13. Transzendenz des Personseins. Die Selbstwerdung des Ich nach Pannenberg ......................................................... 363 13.1 Jemeinigkeit: Das Dasein als Selbstsein in Heideggers „Sein und Zeit“ ................................................. 363 13.2 Präreflexives Cogito: Das Fürsichsein des Bewusstseins nach Sartre ................................................... 374 13.3 Die Selbstwerdung des Menschen als geschichtlicher Bildungsprozess ................................................................ 383 13.4 Ambivalente Ichhaftigkeit und die personale Bestimmung des Menschen ................................................ 392 14. Kultur als zweite Natur. Die Welt des Menschen und ihre Ordnungen nach Pannenberg und Hegel ............................. 405 14.1 Die Lehre von den Grundlagen der Kultur in Pannenbergs Anthropologie ................................................ 405

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8

Inhalt

14.2 Das Medium der Sprache und der kulturelle Sinngehalt der Institutionen bei Pannenberg ......................... 411 14.3 Recht, Moral und Sitte in Hegels Philosophie des objektiven Geistes .............................................................. 424 14.4 Die Realisierung konkreter Sittlichkeit in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat gemäß Hegel.................... 434 15. Vom Unwesen der Sünde. Zu Pannenbergs Hamartiologie .......... 445 15.1 Humanspezifische Verhaltensschemata, Aggressivität und Todestrieb ................................................................. 445 15.2 Exzentrizität, Selbstzentriertheit und Egozentrik .................... 460 15.3 Schuld und Schuldbewusstsein ............................................ 468 15.4 Die Pröpperkontroverse...................................................... 478 16. Vom Geist der Versöhnung. Zu Hegels Philosophie der Religion... 487 16.1 Absolutheitstheoretischer Begriff der Religion ....................... 487 16.2 Von der bestimmten zur offenbaren Religion ......................... 498 16.3 Vollendung durch Überwindung des Bösen........................... 508 16.4 Religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff .................. 525 17. Epilog. Das Feuerbachsyndrom ................................................. 537 17.1 Die Posaune des Jüngsten Gerichts ....................................... 537 17.2 Religionskritisches Purgatorium .......................................... 543 17.3 Heidelberger Kolleg im Revolutionsjahr 1848 ........................ 549 17.4 Entzauberung der Wunder und marianische Transformation ... 557 17.5 Hegelkritik und Grundsätze künftiger Philosophie ................. 564 17.6 Verwandlung der Theologie in Anthropologie ....................... 571 17.7 Der Mensch auf dem Grund und Boden der Natur ................. 580 17.8 Heilsames Fegefeuer .......................................................... 586

Vorwort In einem eher unbekannten Text Heinrich Heines mit dem Titel „Elementargeister“1 wird von einem „Magister Artium zu Göttingen“ (DHA 9, 42, 13; vgl. DHA 9, 505, 36–506, 11) berichtet, der sein Leben mit dem Schreiben umfangreicher Bücher zubrachte, ohne auch nur eines von ihnen je zu veröffentlichen. Die Ursache, die der „allgemein für einen Esel“ (DHA 9, 42, 22) erachtete Privatgelehrte seinem Dichterfreund gegenüber dafür angab, scheint den Regeln der dialektischen Kunst zu entsprechen. „Nachdem er nemlich für das Thema, das er beweisen wollte, alle seine Gründe entwickelt, glaubte er sich verpflichtet die Einwürfe, die etwa ein Gegner anführen könnte, ebenfalls mitzutheilen; er ergrübelte alsdann vom entgegengesetzten Standpunkte aus die scharfsinnigsten Argumente, und indem diese unbewußt in seinem Gemüthe Wurzel faßten, geschah es immer, daß, wenn das Buch fertig war, die Meinungen des armen Verfassers sich allmählig umgewandelt hatten, und eine dem Buche ganz entgegengesetzte Ueberzeugung in seinem Geiste erwachte.“ (DHA 9, 42, 35–43, 4) Das Ergebnis des von These zu Antithese fortschreitenden Erkenntnisprozesses war stets das gleiche: Ehrlich entschlossen, „den Lorbeer des literarischen Ruhmes auf dem Altare der Wahrheit zu opfern“ (DHA 9, 43, 5f.), warf der Göttinger Magister jedes Manuskript, kaum dass er es vollendet hatte, „ins Feuer“ (DHA 9, 43, 7). Taler für VuR Auch seinem theologischen Erstling bereitete der unglückliche Autor nach Heines Bericht unter Seufzen das nämliche Schicksal: „Da habe ich nun, sprach er traurig, zwanzig Körbe Kirchenväter exzerpirt; da habe ich nun ganze Nächte am Studiertische gehockt und Akta Sanktorum gelesen, während auf deiner Stube Punsch getrunken und der Landesvater gesungen wurde; da habe ich nun für theologische Novitäten, deren ich zu meinem Werke bedurfte, 38 sauer erworbene Thaler an Vandenhoek et Rupprecht bezahlt, statt mir für das Geld einen Pfeifenkopf zu kaufen; da habe ich nun gearbeitet wie ein Hund seit 1 H. Heine, Elementargeister, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hg. v. M. Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf (= DHA). Bd. 9, Hamburg 1987, 9–64. Textbruchstücke sind in DHA 9, 258ff. anhangsweise beigegeben. Zur Genese der Mitte der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts entstandenen Schrift, zu ihrer Text- und Druckgeschichte, zu den verarbeiteten Quellen sowie zu ihrer Rezeption vgl. DHA 9, 301–366. Angaben zu einschlägiger Literatur, zur Textüberlieferung und zu den Lesarten finden sich in DHA 9, 366–457, Erläuterungen zur Episode um den Göttinger Privatgelehrten in DHA 9, 505f.

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Vorwort

zwey Jahren, zwey kostbaren Lebensjahren …“ (DHA 9, 43, 8–16)2 Wofür? Für nichts und wieder nichts! Affirmation und Negation führen keine Synthese herbei, da jedes im Werden begriffene Werk, statt in zielgerichteter Dialektik fortzuschreiten, dorthin zurückkehrt, wo es seinen Anfang genommen hatte, ins Nichts. Den einzigen Unterschied zwischen Beginn und Ende mag man darin erkennen, dass an die Stelle der einstigen Leere weißer Blätter am Schluss die Schwärze eingeäscherten und zu Staub zerfallenen Papiers getreten ist, dessen Beschriftung buchstäblich ausgelöscht ist, so als ob es sie nie gegeben hätte. Man hat hinter dem Magister Artium, der bei Heine Heinrich Kitzler heißt, einen Studienfreund des Dichters vermutet, über den sich aber nichts Näheres in Erfahrung bringen lasse, was in Anbetracht seines Umgangs mit den Produkten eigenen Schaffens nicht weiter verwundere. Nach anderer Auffassung „spricht mehr dafür, daß Kitzler eine bloße Kunstfigur sein soll“ (DHA 9, 506, 6f.; Kursivierung wurde nicht wiedergegeben.). Wie immer es sich verhalten mag, der Satz, mit dem Heine die Kitzlerepisode einleitet, hat so oder so seine Richtigkeit: „Es ist eine eigne Sache um die Schriftstellerey.“ (DHA 9, 42, 10) Dies gilt insbesondere, wenn ihren Gegenstand eine dialektisch operierende Philosophie und namentlich diejenige Georg Friedrich Wilhelm Hegels darstellt. Heine wusste ein Lied davon zu singen. War die Bewunderung des Dichters für das „System der Systeme“ (DHA 8/1, 52, 22f.) des Berliner Meisters, bei dem er selbst studiert hatte, anfangs und über einen längeren Zeitraum hinweg beinahe grenzenlos, so machte sich allmählich Skepsis breit, was weniger mit der viel beklagten Unverständlichkeit der Hegel’schen Philosophie (DHA 8/1, 92, 27: „Als Hegel auf dem Todtbette lag, sagte er: ‚nur Einer hat mich verstanden,‘ aber gleich darauf fügte er verdrießlich hinzu: ‚und der hat mich auch nicht verstanden.‘“) als mit der Tatsache zu tun hatte, dass die Gruppierung der sog. Jung- bzw. Linkshegelianer aus dem spekulativen Vernunftsystem religionskritische Konsequenzen radikal-genetischer Art zogen, die Heine ab einem gewissen Zeitpunkt seines Lebens nicht mehr zu teilen gewillt war. Zwar hatte er selbst einen entscheidenden Anstoß zur religionskritischen Rezeption der Hegel’schen Philosophie gegeben; auch blieb er der Religionskritik selbst unter den Bedingungen seiner neuerwachten Religiosität verbunden. Aber die Radikalität, mit der man in junghegelianischen Kreisen die Religion meinte zum Epiphänomen herabsetzen und zum Verschwinden bringen zu können, wurde ihm zuwider, und diese

2 Beim „Landesvater“ handelt es sich um ein verbreitetes Studentenlied (vgl. DHA 9, 507, 36ff.). Was zu Heines Zeiten bei VuR für 38 Taler an theologischer Literatur zu erwerben war, ist DHA 9, 508, 4ff. aufgelistet.

Ein Meister und seine Schüler

Aversion übertrug sich schließlich auf Hegels eigenes Denken, von dem er sich immer mehr distanzierte.3 Ein Meister und seine Schüler Durch kritische Distanz und Abkehr war auf weite Strecken auch das Verhältnis der evangelischen Theologie zum Absolutheitsphilosophen bestimmt, obwohl dieser ausdrücklich erklärt hatte, durch sein Denken ganz im reformatorischen Christentum bestärkt worden zu sein. Der Grund für diese Abstandnahme ist trotz aller Unterschiede vergleichbar mit demjenigen für Heines wachsende Reserve. Zwar ist die Geschichte des Hegelverständnisses in der neueren protestantischen Theologie bis heute „nicht geschrieben“4 : „Doch das wichtigste Datum dieser Geschichte liegt fest, weil das theologische Hegel-Bild weniger in der kritischen Rezeption seiner Philosophie als vielmehr in Abwehr der ‚kritischen‘ Konsequenzen entstand, die seine jüngeren theologischen Schüler aus ihr gezogen hatten.“5 Zu denken ist an David Friedrich Strauß, an Bruno Bauer und insbesondere an Ludwig Feuerbach. Letzterer repräsentiert, so Wolfhart Pannenberg, „die erste Gestalt des vollendeten Atheismus“6 der Moderne, 3 Zu Heine und zur politisch-kulturellen Situation im Vormärz vgl. J. Rohls, Protestantische Theologie der Neuzeit. Bd. I: Die Voraussetzungen und das 19. Jahrhundert, Tübingen 1997, 459ff. 4 T. Rendtorff, Kirche und Theologie. Die systematische Funktion des Kirchenbegriffs in der neueren Theologie, Gütersloh 2 1970, 112; zum Thema „Abkehr von Hegel als theologiegeschichtliches Problem“ vgl. a.a.O., 111ff. 5 F. W. Graf, Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982, 33. „Nicht Hegel selbst blieb in der Theologie des letzten (sc. mittlerweile vorletzten) Jahrhunderts ohne Wirkung. Sondern die Gestalt der theologischen Hegel-Rezeption, für die im zeitgenössischen theologischen Bewußtsein Strauß und seine Seitengänger standen, war es, die die theologische Abkehr von Hegel veranlasste (und auch als relativ berechtigt erscheinen läßt).“ (Ebd.) 6 W. Pannenberg, Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung (1963), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 347–360, hier: 348. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Einen „Beitrag zur Genese der Feuerbachschen Religionskritik“ liefert U. Schott, Die Jugendentwicklung Ludwig Feuerbachs bis zum Fakultätswechsel 1825, Göttingen 1973. Zur Reaktion der Theologie, insbesondere von Seiten von Julius Müller, Eduard Zeller und Karl Schwarz vgl. E. Schneider, Die Theologie und Feuerbachs Religionskritik. Die Reaktion der Theologie des 19. Jahrhunderts auf Ludwig Feuerbachs Religionskritik. Mit Ausblicken auf das 20. Jahrhundert und einem Anhang über Feuerbach, Göttingen 1972. Zum Thema „Feuerbach und die Theologie der Säkularisation“ vgl. die gleichnamige Monographie von M. Xhaufflaire, München/Mainz 1972. Aufschlussreich ferner: M. Petzoldt, Gottmensch und Gattung Mensch. Studien zur Christologie und Christologiekritik Ludwig Feuerbachs, Berlin 1989.

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Vorwort

indem er „durch seine genetische Theorie der Religion“ (348) zu beweisen suchte, „daß man auch die Religion selbst ohne Gott erklären“ (ebd.) kann. Feuerbach habe sein Beweisverfahren unter Bezug auf Hegel und im Anschluss an dessen Gedanken der Unendlichkeitsbestimmung des Menschenwesens sowie der Entzweiung oder Entfremdung vollzogen; dadurch sei Hegels Denken selbst theologisch in Misskredit und in den Verdacht geraten, den Atheismus zu befördern. Statt diese Verdächtigungen weiter zu pflegen oder den traditionellen Vorwurf des Pantheismus bzw. Akosmismus unbedacht zu reproduzieren, empfiehlt Pannenberg, „die philosophische Auseinandersetzung mit Feuerbach, wenigstens ein Stück weit, mit Begriffen Hegels zu führen, von denen Feuerbach in seiner Konstruktion ja durchweg abhängig ist. Auch Hegel hat Gott als das ‚Wesen‘ des Menschen bezeichnen können. Aber damit war nicht wie bei Feuerbach das der Menschheit immanente Wesen gemeint, sondern bei Hegel bedeutet Wesen gerade das der Erscheinung Jenseitige; als das ‚Wesen‘ des Menschen ist Gott jenseits des Menschen, als seine ihm jenseitige Bestimmung.“ (352f.) Bezüge zur modernen Anthropologie und zu demjenigen, was diese „ein wenig mißverständlich als Weltoffenheit oder Exzentrizität bezeichnet“ (353), lassen sich Pannenberg zufolge von hier aus unschwer herstellen, um zu zeigen, dass die menschliche Subjektivität ihrer Wesensstruktur nach auf Selbsttranszendenz und eine Unendlichkeit jenseits ihrer selbst angelegt sei. „Gegen Feuerbach gewendet heißt das, der Mensch ist auf Unendlichkeit wesentlich bezogen, aber er ist nie in sich selbst schon unendlich“ (ebd.), und zwar nicht nur als Individuum, sondern auch gemäß seiner Gattung nicht. Die Vergottung der Menschheitsgattung ist, wie Hegel im Unterschied zu Feuerbach gewusst habe, Pannenberg zufolge anthropologisch verfehlt und eine Rückkehr der Religion in regressiver Gestalt. Was soeben aus dem Hause des Denkens vertrieben wurde, tritt durch die Hintertür ideologisch pervertiert wieder ein. Signatur der nachhegelschen Philosophie Pannenberg will den Absolutheitsphilosophen gegen Entwicklungen in Teilen von dessen Schülerschaft in Stellung bringen und die Auseinandersetzung mit der radikal-genetischen Religionskritik mit Hegel’schen Begriffen führen, „wenigstens ein Stück weit“ (352). Wie weit er sich auf Hegel einzulassen gewillt ist und wohin er ihm nicht zu folgen bereit ist, wird sich zeigen, wenngleich eher indirekt, da der Vergleich beider Denker nicht unmittelbar, sondern auf vermittelte Weise, nämlich im Medium der Lehre vom Menschen erfolgen soll. Die Gründe für dieses Vorgehen liegen auf der Hand und sind unschwer erkennbar. Nach verbreiteter, von Pannenberg geteilter Annahme, ist die wissenschaftliche

Signatur der nachhegelschen Philosophie

Entwicklung nach Hegel durch eine fortschreitende Hinwendung zur Anthropologie gekennzeichnet. Diese bildet auch die „Signatur der nachhegelschen Philosophie“7 und zwar nicht nur innerhalb des Jung- bzw. Linkshegelianismus, sondern auch bei den sog. Alt- oder Rechtshegelianern und darüber hinaus.8 Auch für die Theologie und das Verständnis von Religion wird die Lehre vom Menschen zur Basiswissenschaft und tritt an die vormals von der Kosmologie eingenommene Stelle. Die durchgängige Anthropologisierung von Religionsphilosophie und Theologie konnte zu der These führen, „daß die Gottesvorstellung als eine Projektion des Menschen zu erklären sei, der in seiner Selbstentfremdung sein eigenes Wesen als ein fremdes, höheres Wesen anbetet“9 . Gegen diese Annahme anzugehen, die in Feuerbachs atheistischer Religionskritik ihren klassischen Ausdruck gefunden hat, ist nach Pannenberg eine, ja die theologische Fundamentalaufgabe, die es binnenanthropologisch zu bewältigen gelte. Pannenberg erkennt der Anthropologie fundamentaltheologische Bedeutung zu. Entsprechend ist nach seinem Urteil die Auseinandersetzung mit der radikalen Religionskritik primär auf anthropologischem Felde zu führen. Vorzugsweise an der Lehre vom Menschen hat sich nach ihm auch zu entscheiden, wie weit dem Hegel’schen Denken zu folgen theologisch ratsam und angemessen sei. Es liegt daher nahe, die konstruktive und kritische Beziehung des Pannenberg’schen zum Hegel’schen Denken insbesondere im Kontext der Lehre vom Menschen zu untersuchen und den Vergleich beider mittels der Anthropologie durchzuführen. Andere Vergleichsgesichtspunkte sind damit nicht ausgeschlossen; weist die Lehre vom Menschen doch sowohl nach Pannen-

7 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 294. 8 Was den Antagonismus von Rechts- und Links- bzw. Alt- und Neuhegelianern betrifft, so wirkt er G. Sans zufolge bis heute nach, nicht zuletzt in der Art und Weise der Hegelauslegung: „Die Frontstellung zwischen metaphysischer und nicht-metaphysischer Hegelinterpretation gleicht in vieler Hinsicht den Auseinandersetzungen innerhalb der frühen Hegel’schen Schule.“ (G. Sans, Tod Gottes und Andersheit des Geistes. Die Ambivalenz von Hegels Philosophie der geoffenbarten Religion, in: Th. Oehl/A. Kok [Hg.], Objektiver Geist und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Leiden/Boston 2018, 529–547, hier: 529) Seine eigene – das Verhältnis von Religion und Philosophie betreffende – Hegelauslegung hat Sans in dem Diktum zusammengefasst, wonach religiöse Vorstellungen ohne philosophische Begriffe blind, philosophische Begriffe ohne religiöse Vorstellungen leer seien (vgl. ders., „Philosophische Begriffe ohne religiöse Vorstellung sind leer.“ Hegel über das Wissen vom Unbedingten und den Glauben an Gott, in: F. Resch [Hg.], Die Frage nach dem Unbedingten. Gott als gemeinsames Thema der Philosophie, Dresden 2016, 385–400). 9 W. Pannenberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, 310.

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Vorwort

bergs als auch nach Hegels Auffassung über den rein binnenanthropologischen Horizont hinaus.10 Konstruktive Gemeinsamkeiten zwischen Pannenbergs Anthropologie und Hegels Lehre vom Menschen lassen sich bis in die Details der Stofforganisation hinein aufweisen. Was hinwiederum die Pannenberg’sche Kritik an der Hegel’schen Philosophie des subjektiven Geistes anbelangt, so richtet sie sich v.a. gegen eine mit dem spekulativen Gesamtsystem in Verbindung gebrachte Tendenz, die menschliche Endlichkeit im Konzept der absoluten Idee zum lediglich transitorischen Moment herabzusetzen und hinter sich zu lassen, was sich als unmöglich erweisen sollte. „(D)ie im Konzept der absoluten Idee mediatisierte und verflüchtigte Endlichkeit des Menschen forderte nun gegen Hegel ihr Recht zurück, indem das Konzept der absoluten Idee selber für ein Produkt des denkenden Philosophen erklärt wurde, zum Ausdruck für die verstiegene Verwechselung seiner Abstraktionen mit der konkreten Wirklichkeit, wenn nicht sogar für die Anmaßung, das Produkt des eigenen Denkens für eine übermenschliche, göttliche Wahrheit auszugeben“11 . Hegel und Pannenberg Pannenberg macht sich diese Erklärung nicht unmittelbar zu Eigen, erkennt ihr aber ein Wahrheitsmoment zu. Ob und, wenn ja, mit welchem Recht, wird zu fragen sein. Mit einer gedanklichen Fixierung auf Endliches und eine Endlichkeitsphilosophie, die sich für selbstverständlich und keiner weiteren Begründung bedürftig erklärt, konnte sich Pannenberg jedenfalls ebenso wenig befreunden wie Hegel: „Die Verabsolutierung des Endlichen“, heißt es, „und insbesondere des Menschen wurde von Hegel mit Recht als Beweis dafür betrachtet, daß der Mensch nicht umhin kann, das endlich Gegebene zu überschreiten und so oder so sich zum Gedanken des Absoluten zu erheben: Wenn er das Absolute nicht von sich selber (und allem Endlichen) unterscheidet, nimmt er sich selbst (oder irgendein anderes Endliche) für absolut. Diese perverse Form 10 Vgl. dazu etwa die Bemerkung Pannenbergs a.a.O., 311: „Durch anthropologische Argumentation allein, von der Problematik menschlichen Selbstverständnisses aus, läßt sich die Annahme Gottes als Wirklichkeit nicht zureichend erhärten. Eine solche Annahme überzeugt nur dann und in dem Maße, wie der aus dieser Problematik des Selbstverständnisses begründete Gedanke Gottes zugleich erschließende Kraft für die Welterfahrung hat. Insofern ist die Erfahrung der Welt und die Frage nach der sie letztlich bestimmenden Macht auch heute noch unentbehrlich für jede Vergewisserung über die Wirklichkeit Gottes. Aber der Zugang zum Gottesgedanken ist nicht mehr unmittelbar von der Welt her gegeben, sondern nur auf dem Umweg über das Selbstverständnis des Menschen und sein Verhältnis zur Welt.“ 11 Ders., Theologie und Philosophie, 296.

Hegel und Pannenberg

der Erhebung zum Absoluten durch Verabsolutierung des Endlichen bestätigt auf ihre Weise, – obwohl wider Willen, – daß so oder so das religiöse Thema zum Lebensvollzug des Menschen gehört.“12 Trotz offenkundiger Nähe zur Hegel’schen Philosophie13 war Pannenberg eigenen Angaben zufolge nie ein theologischer Hegelianer. Von Anbeginn findet sich bei ihm „keine positive Würdigung Hegels ohne kritische Anmerkung“14 . 12 A.a.O., 301. 13 Sie „ist nicht zuletzt motiviert durch das geistesgeschichtliche Anliegen der Hegel’schen Philosophie: mittels einer dezidierten Rückbesinnung auf die christliche Trinitätslehre und deren philosophischer Reformulierung eine versöhnende Vermittlung des aufgeklärten Bewußtseins mit den, durch die Aufklärungskritik in Mißkredit geratenen, ‚positiven‘ Inhalten des christlichen Glaubens zu erreichen und zugleich die [sic!] dem ‚Zeitgeist‘ angepaßte, trinitätsvergessene Theologie ihr eigentliches Thema vor Augen zu halten; gleichzeitig zielt dieser Vermittlungsversuch auf eine Überwindung des Kantischen Philosophietypus, der die klassischen Themen der Metaphysik – Gott, Seele, Welt – nur als regulative Ideen behandelt und nicht in ihrer metaphysischen Wirklichkeit erreicht. Da sich zum einen die Krise des christlichen Gottesbegriffs gegenüber Hegels Zeit in der Gegenwart verschärft hat und andererseits die Maximen der Aufklärung und Moderne – Vernunft, Freiheit, Autonomie, empirische sowie geschichtliche Bedingtheit und Relativität allen Erkennens – und deren Schatten – Irrationalismus, fideistische Religiosität und metaphysische Skepsis – weiterhin das Bewußtsein des abendländischen Menschen bestimmen, ist Hegels geistesgeschichtliches Programm für Pannenberg unbedingt einer philosophisch-theologischen Reflexion und einer bedingten Rezeption wert.“ (M. Schulz, Zur Hegelkritik Wolfhart Pannenbergs und zur Kritik am „Antizipationsgedanken“ Pannenbergs im Sinne Hegels, in: MThZ 43 [1992], 197–227, hier: 197). 14 A.a.O., 198, Anm. 5. Nach Schulz ist die Hegelkritik Pannenbergs, die mit der Intention einer „Revision des Hegel’schen Systems im Ganzen“ (198) vorgetragen werde, vorzugsweise gegen „Hegels Kritik aller Eschatologie“ (199; vgl. im Einzelnen 199–207) gerichtet und in der Transformation des Begriffs (des Begriffs) zum proleptischen Vorgriff zusammengefasst: „der ‚Begriff ‘ minus ‚Antizipation‘ gleich Vor(be)griff “ (207; vgl. im Einzelnen 207–210 sowie 211–219). Was die Reichweite der Pannenberg’schen Hegelkritik anbelangt, kommt Schulz zu folgendem Ergebnis: „Pannenbergs Antizipationsmodell läßt sich nur begrenzt und gegen die eigentliche Dynamik des Hegel’schen Systems auf dieses adaptieren und läuft auf dessen grundlegende Revision hinaus.“ (219) Schulz ist nicht bereit, diese Entwicklung mitzuvollziehen, sondern sucht „Hegels ‚Begriff ‘ als Grund (von) Pannenbergs ‚Vor(be)griff ‘“ (ebd; bei Sch. kursiv) zu begreifen, indem er auf die „nicht-antizipatorische Möglichkeitsbedingung der Antizipation“ (ebd; vgl. im Einzelnen 219–227) reflektiert. Es sei unmittelbar evident, „daß eine antizipatorische Wahrheitstheorie hinsichtlich ihres eigenen Wahrheitsanspruchs nicht mehr behaupten darf als sie selber als Theorie zu behaupten erlaubt – andernfalls wäre sie selbstwidersprüchlich. Der Wahrheitswert dieser Theorie ist demnach ebenfalls nur ein antizipatorisch-hypothetischer. Wie ist es aber um diese Einsicht bestellt? Keineswegs darf sie mehr als hypothetischer Natur sein. Aber was ist wiederum mit dieser Einsicht …? Es scheint sich eine unendliche Kette sich jeweils voraussetzender Hypothesen, die einander antizipieren, abzuzeichnen. Und nochmals: Auch diese Hypothesenkette darf den Status einer Hypothese nicht überschreiten; mehr als antizipatorisch wahr vermag sie ohne pragmatischen Widerspruch nicht zu sein. Kurz: Eine hypothetisch-antizipatorische Wahrheitstheorie beansprucht

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Vorwort

Konzentriert ist die Pannenberg’sche Hegelkritik in der These, dass der Begriff auch als Begriff des Begriffs proleptisch verfasst und antizipatorischer Vorgriff sei. Diese Annahme hat auch in Pannenbergs eigener Schule nicht ungeteilte Zustimmung gefunden.15 Doch scheint es unter dialektischen Gesichtspunkten und in Anbetracht des warnenden Beispiels, welches der arme Göttinger Magister Artium Heinrich Kitzler gegeben hat, ratsam, sich nicht vorschnell in Antagonismen verstricken zu lassen, weil sonst die Gefahr droht, dass die die Wahrheit des Satzes: Es gibt keine nicht-hypothetisch wahren Aussagen, und man beansprucht diese ebenso – unbedingt, nicht-hypothetisch – für den eigenen Theorieanspruch. Der Selbstwiderspruch ist evident, obgleich man versucht, ihn zu vermeiden. Auch der Faktor der Zukunft ändert an dieser Einsicht nichts. Hypothetisch einzuräumen, möglicherweise erweist sich zukünftig – oder eschatologisch mit Sicherheit – das Antizipationsmodell als richtig oder falsch, hieße zu sagen: Unter einmal anderen Bedingungen könne es nicht-hypothetische Erkenntnis geben. Eine nicht-hypothetische Erkenntnis negiert aber gerade jede Voraussetzung, auch zukünftige Bedingungen. Also gilt sie immer und kann grundsätzlich eingesehen werden, auch unabhängig davon, wann diese Einsicht erreicht wird …“ (220f.) Vgl. ferner: ders., Sein und Trinität. Systematische Erörterungen zur Religionsphilosophie G. W. F. Hegels im ontologiegeschichtlichen Rückblick auf J. Duns Scotus und I. Kant und die Hegel-Rezeption in der Seinsauslegung und Trinitätstheologie bei W. Pannenberg, E. Jüngel, K. Rahner und H. U. v. Balthasar, St. Ottilien 1997. 15 Vgl. etwa F. Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986; ders., Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989; dazu unten Abschnitt 2.3. Ähnlich wie Falk Wagner in seiner Münchner Zeit (und unter affirmativem Bezug auf M. Schulz) argumentiert Chr. Glimpel, Gottesgedanke und autonome Vernunft. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2007. Glimpel teilt Pannenbergs Anliegen, neuzeitliches Denken und christliche Tradition zu vermitteln, kritisiert aber, dass dieser die intendierte Vermittlung in der Logik empirischer Wissenschaften zu leisten versuchte, ohne deren Theoriebildung hinreichend von religionsspezifischen Bezügen zu unterscheiden, deren Wahrnehmung spekulative Philosophie ungleich angemessener zu leisten vermöge. Der nach seinem Urteil unangemessenen Thematisierung religiöser Gehalte durch Pannenberg korrespondiert Glimpel zufolge eine Fehlbestimmung des Denkens: „Indem Pannenberg die Eigenbestimmtheit des Denkens auf zukünftige Bewährung hin relativiert, definiert er das Denken als ein Seiendes, Endliches. Ein endliches Denken aber kann auch nur Endliches denken und denkt deswegen sogar die religiösen Gehalte als endliche.“ (19) Trotz seiner Skepsis einem sog. Vernunftabsolutismus gegenüber favorisiert Glimpel den Ansatz Hegels eindeutig gegenüber demjenigen Pannenbergs, dessen Hegelkritik er für im Grundsatz verfehlt erachtet: „Eine Vermittlung des christlichen Gottesgedankens mit der neuzeitlichen Autonomie des Denkens“, so lautet die zentrale These, „ist nicht auf der Basis empirisch-wissenschaftlicher Theoriebildung, wohl aber mittels der apriorischen Form des Begriffs möglich, weil diese Form sowohl dem Denken als auch dem Sinn des Gottesgedankens entspricht.“ (20; bei G. kursiv) Der entscheidende Fehler Pannenbergs bestehe darin, dass er seine Theologie und den sie bestimmenden Gottesgedanken seinslogisch konzipiere (vgl. 47ff.), statt sie im Bewusstsein der Seinsüberlegenheit des Denkens (vgl. 115ff.) auf begriffslogischer Basis zu entwickeln (vgl. 241ff.).

Vorgriff aufs Ganze

Lehre vom Menschen gar nicht in Gang kommt, die wie ihr Gegenstand bei beiden, Pannenberg und Hegel, nur als im Werden begriffen zu begreifen ist: „Beine hat uns zwey gegeben / Gott der Herr, um fortzustreben, / Wollte nicht daß an der Scholle / Unsre Menschheit kleben solle. / Um ein Stillstandsknecht zu seyn / Gnügte uns ein einzges Bein.“ (DHA 3/1, 400, 1–6)16 Vorgriff aufs Ganze Die Studien zur Lehre vom Menschen bei Pannenberg und Hegel setzen ein mit einem vorläufigen Vergleich zwischen einer philosophischen Subjektivitätstheorie und einer in theologischer Perspektive entwickelten Anthropologie. Sodann wird die Pannenberg’sche Hegelrezeption in Grundzügen skizziert, ein Einblick in die Stellung der Philosophie des subjektiven Geistes im Hegel’schen Enzyklopädiesystem gegeben und die Grundannahme Pannenbergs zur Anthropologie benannt, wonach der Mensch nicht nur geschichtlich, sondern als Geschichte zu verstehen sei. Es folgt eine dialektische Gedankenentwicklung, die nach Maßgabe der Methodik fortschreitender Abstraktion von Abstraktionen von den biologischen Grundlagen der Anthropologie zu immer konkreteren Formationen der Lehre vom Menschen gelangt, um dessen durch Gegenstandsbewusstsein und sich wissendes Wissen bestimmtes leib-seelisches Personleben sowie die Objektivationen zu erfassen, durch die er sich in Theorie und Praxis eine zweite Natur schafft, nämlich die Kultur und ihre Institutionen. Eine Reihe von strukturellen Übereinstimmungen beider Denker sowohl in der Stofforganisation als auch in der Gedankenführung werden dabei offenkundig werden. Differenzen zeigen sich u. a. in hamartiologischer Hinsicht, woraus sich soteriologische Abweichungen und unterschiedliche Akzentuierungen in der Beantwortung der Frage ergeben, wie sich Religion und Philosophie bzw., mit Hegel zu reden, religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff zueinander verhalten. Ein ausführlicher Epilog ist schließlich Feuerbach gewidmet, dessen Purgatorium jede Theologie durchschreiten muss, welche die radikal-genetische Religionskritik der Moderne konstruktiv zu überwinden sucht.17 16 Zu den Hegel’schen Grundlagen dieses Poems aus dem lyrischen Nachlass Heines vgl. DHA 3/2, 1735f.; auf eine der von Hegel übernommenen Gedichtspointen (vgl. DHA 3/1, 401, 62ff.) hatte Heine bereits im Zusammenhang der sog. Börnedenkschrift Bezug genommen (vgl. DHA 11, 109, 35–39; vgl. DHA 11, 608f.). Zum Gesamtthema „Heine und Hegel“ vgl. etwa die gleichnamige Studie von M. Windfuhr, in: ders., Rätsel Heine. Autorprofil – Werk – Wirkung, Heidelberg 1997, 159–184. 17 Vgl. G. Wenz, Art. Religionskritik I. Philosophisch II. Theologisch, in: TRE 28, 687–699. Feuerbachs Religionskritik ist mit der programmatischen These verbunden, dass der Leitbegriff

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Vorwort

Angemerkt sei, dass die dem Epilog vorangehenden sechzehn Kapitel mit ihren jeweils vier Unterabschnitten so gestaltet sind, dass sie je für sich und unabhängig voneinander studiert werden können, was zwangsläufig einige Redundanzen mit sich bringt. Diese häufen sich dort, wo Zugänge zu Hegels Bewusstseins- und Selbstbewusstseinstheorie sowie zu seiner Lehre von der theoretischen und praktischen Vernunft von verschiedenen Texten her nacheinander erschlossen werden. Diese Passagen sind vorzugsweise an jene adressiert, die mit der Materie nur bedingt vertraut und an Grundinformationen interessiert sind; von Hegelkennern können sie in Teilen getrost übersprungen werden. Danken darf ich der Bayerischen Akademie der Wissenschaften für die Gewährung von Schreibgeldern für diese Arbeit sowie der Hilke und Wolfhart Pannenberg-Stiftung für einen Zuschuss zum Druck und die Unterstützung durch wissenschaftliche Hilfskräfte. München, 27. August 2020 Gunther Wenz

„Vernunft“ durch den Leitbegriff „Mensch“ abzulösen sei. „Diese Parole kann als Motto über dem Weg von der Klassischen Deutschen Philosophie zu Denkansätzen aus der Zeit ihrer Auflösung in der Mitte des 19. Jahrhunderts stehen – und wenn man sie etwas streckt und über einiges hinwegsieht, was nicht so recht ins Bild passen will, so kann sie sogar noch über dem Weg von der Klassischen Deutschen Philosophie bis zur Philosophie der Gegenwart stehen.“ (W. Jaeschke, Von der Vernunft zum Menschen, in: M. Wunsch [Hg.], Von Hegel zur philosophischen Anthropologie, Würzburg 2012, 23–32, hier: 23; zu dem, was Feuerbach „ganzer Mensch“ nennt, und zur Naturalisierung seiner Anthropologie vgl. 28ff.)

1.

Was ist der Mensch?

Philosophische Subjektivitätstheorie und Anthropologie in theologischer Perspektive

1.1

Ibn Tufails Inselroman

Hayy Ibn Yaqzan heißt der Knabe, was so viel bedeutet wie der Lebende, Sohn des Wachenden. Über seine Herkunft sind zwei Versionen im Umlauf: Nach der ersten handelt es sich bei ihm um das Ergebnis der ungewollten Schwangerschaft einer Prinzessin, die ihr Kind − ähnlich wie einst die Pharaotochter das Mosebaby − in eine Kiste gelegt und dem Meer übergeben habe, woraufhin es am Ufer einer unbewohnten Nachbarinsel gestrandet sei. Gemäß der anderen – interessanteren – Version ist der kleine Menschensohn ganz ohne Vater und ohne Mutter in der Inseleinsamkeit durch, wie es heißt, Spontangenese (vgl. 21) aus einer gärenden Lehmmasse entstanden, in deren Mitte sich eine kleine zweigeteilte Blase bildete, mit der sich der lebensspendende Gottesgeist verband und zwar zu einer derart engen und innigen Gemeinschaft, dass es für Sinne und Verstand unmöglich wurde, sie voneinander zu scheiden. Sie waren, wenn man so will, ein Herz und eine Seele geworden. Bevor die Lebensgeschichte des Inselknabens in Grundzügen erzählt werden soll, sei kurz notiert, wer sie aufgezeichnet hat. Es handelt sich um einen älteren Zeitgenossen des im europäischen Mittelalter als Aristoteleskommentator zu Berühmtheit gelangten arabischen Philosophen und Arztes Ibn Ruschd alias Averroes namens Abu Bakr Ibn Tufail. Der Titel seines weniger an professionelle Philosophen als an ein interessiertes Allgemeinpublikum adressierten Buches lautet: Der Philosoph als Autodidakt. Ein philosophischer Inselroman.1 Geschrieben wurde es wahrscheinlich in den Jahren um 1180. Der Mensch, so die Ausgangsthese, ist eine differenzierte Einheit von Leib und Seele bzw. Leib, Seele und Geist, kein Gott zwar, aber auch kein bloßes Tier, sondern ein Wesen mit einer Sonderstellung in der Natur, der er zwar von Hause aus angehört, aber ohne in ihr eine bleibende Heimat zu finden. 1 Abu Bakr Ibn Tufail, Der Philosoph als Autodidakt. Ein philosophischer Inselroman. Übers., mit einer Einl. u. Anmerkungen hg. v. P.O. Schaerer, Hamburg 2009. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Ibn Tufails philosophischen Inselroman haben nicht nur Muslime, sondern auch Juden und Christen rezipiert. Er wurde u. a. ins Hebräische, Lateinische, Englische, Holländische und vom evangelischen Theologen Johann Gottfried Eichhorn erstmals direkt aus dem Arabischen auch ins Deutsche übersetzt, und er hat auf Leibniz, Moses Mendelssohn und viele andere großen Eindruck gemacht; in Schellings Münchener Vorlesung von 1827 „Zur Geschichte der Neueren Philosophie“ wird er ausdrücklich erwähnt.

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Was ist der Mensch?

Mängelwesen Es ist aufschlussreich und durchaus im Sinne moderner Anthropologie, wie Ibn Tufail die Sonderstellung des Menschen im natürlichen Kosmos erklärt. Er stellt Geist und Seele in keinen Gegensatz zum Leib, sondern betrachtet diesen als beseelten Körper und den Geist als jene Größe, welche psychosomatische Selbsttranszendenz und Weltoffenheit ermöglicht. Schon die biologische Verfassung stellt, wie Ibn Tufail anhand einer Schilderung des bis zum siebten Altersjahr reichenden Lebensabschnitts seines Inselknaben verdeutlicht, ein Indiz der eigentümlichen Sonderstellung des Menschengeschöpfs in der Natur dar. Ganz alleingelassen und auf sich gestellt wäre der kleine Ibn Yaqzan wie jedes Menschenkind unter sieben Jahren nicht lebensfähig, sondern müsste zwangsläufig sterben. Doch ein Mitgeschöpf, eine Gazelle, nimmt sich seiner an wie eine Mutter ihres Kindes. Sie säugt, wärmt und schützt ihn als sei es ihr Lieblingstier. Der Kleine wächst, gedeiht und macht als Tierstimmenimitator auf sich aufmerksam, um allmählich seine eigene Sprache zu finden, die es ihm erlaubt, auf den Begriff zu bringen, was gegenständlich begegnet. Der Erwerb einer Begriffssprache geht einher mit der Ausbildung eines spezifischen Sehvermögens, das nicht mehr am äußeren Anblick haftet, sondern erinnernd zu schauen und sich Dinge vorstellig zu machen vermag, auch wenn sie abwesend sind. Indem er es im Gedächtnis behält, vergegenwärtigt sich Hayy Vergangenes und lernt auf diese Weise denkend vorzugreifen auf das, was noch nicht da ist, sondern erst künftig wird. Die Ausbildung dieser Fähigkeit hat er mehr als nötig, weil er von Natur aus ein Mängelwesen ist. Im Vergleich zu anderen Lebewesen kommt der Mensch nicht nur zu früh, sondern auch ohne diejenige Ausstattung zur Welt, welche ihm unter Naturbedingungen das Überleben ermöglicht. Als der kleine Insulaner des Philosophenromans die Tiere um ihn herum zu betrachten beginnt, da sieht er, „daß sie mit Fellen, Haaren oder Federn bekleidet waren; er bemerkte ihre Geschwindigkeit im Lauf, ihre Stärke im Kampf und ihre Waffen zur Verteidigung gegen Angreifer, wie Hörner, Zähne, Hufe, Sporne und Krallen. Darauf blickte er auf sich selbst und sah ein, daß er nackt und wehrlos war, ein schlechter Läufer und schwacher Kämpfer in allen Situationen, in denen die Tiere ihm eßbare Früchte streitig machten und ihm diese dann jeweils wegschnappten oder sogar entrissen.“ (26) Im Vergleich mit derjenigen seiner animalischen Mitkreaturen mutet die biologische Verfassung des Menschengeschöpfs kümmerlich an. Selbst wenn Hayy „die behinderten oder mißgestalteten Tiere betrachtete, fand er keines, dass ihm ähnlich gewesen wäre“ (ebd.). All dies, heißt es zum Schluss der Erzählung seines ersten Lebensabschnittes, bereitete ihm mitsamt seiner sonstigen Blöße „Kummer und Sorge“ (27).

Ibn Tufails Inselroman

Kompensationsstrategie Der Mensch ist ein Mängelwesen, aber ein Wesen, das seinen Mangel zu kompensieren vermag. Was macht Hayy bei Eintritt in seinen zum erwachsenen Leben hinführenden zweiten Lebensabschnitt? Er gibt als erstes die kindische Hoffnung auf, an seinem biologischen Defizit auf natürliche Weise etwas grundsätzlich ändern zu können und anerkennt realistisch seine natürliche Schwäche, um just in ihr seine eigentümliche Stärke zu erkennen, weil diese ihn nolens volens veranlasst, die Natur einschließlich der eigenen zu transzendieren. Er lernt seine biologische Mängelausstattung, seine Instinktreduktion und seine gegenüber Pfoten und Hufen der Tiere entspezifizierten Hände und Füße kompensatorisch zu nutzen, um so aus einem Nachteil einen Vorzug zu machen. Hayy erschafft sich nicht nur Kleider aus Blättern und Federn, sondern fertigt aus dem Ast eines Baumes auch einen Stock, um mittels dieses und anderen Geräts, dessen instrumentellen Gebrauch er im Laufe seines Lebens immer weiter verfeinert, seinen Handlungsspielraum zu erweitern, die Natur in Schranken zu weisen bzw. sich durch Technik und Kultur eine zweite Natur zu bereiten, in welcher er als Mensch heimisch zu werden vermag. Technik und Kultur im Sinne der Bearbeitung von Natur gehört zum Menschsein des Menschen, machen seine Humanität aber recht eigentlich noch nicht aus. Damit es zur wirklichen Menschwerdung des Menschen komme, bedarf es noch einer zusätzlichen Einsicht der ganz besonderen, grundstürzenden Art. Für Hayy wird sie durch Leiden, Sterben und Tod seiner Gazellenmutter erschlossen. Mit ihrem Ableben ist seiner Kindheit und dem Naturzustand seines Daseins der endgültige Abschied gegeben, was zwar schrecklich, aber zugleich die Voraussetzung seines Erwachsenwerdens ist. Nach anfänglicher Verzweiflung und trostlosem Seelenkummer fasst sich der Junge ein Herz, um der traurigen Angelegenheit auf den Grund zu gehen. Er seziert die Leiche seiner tierischen Ersatzmutter, um das Prinzip ihres einstigen Lebens zu entdecken; er findet es aber nicht und kommt zu dem Schluss, dass es im materiellen Körper grundsätzlich nicht aufzufinden ist, weil das Wesen des Lebens alles Materielle transzendiert, um als dessen Formursache wirksam zu sein. So lernt er, zwischen dem leblosen Körper der Gazelle und der guten Seele zu differenzieren, die wie eine Mutter für ihn war. Die animalische Leiche übergibt er der Erde, um nach erfolgter Bestattung fortzustreben und alles bloß Körperlich-Sinnliche immer weiter hinter sich zu lassen. Es würde zu weit führen, die anschließenden Lebensstationen, die Ibn Tufail seinen philosophischen Autodidakten im Zuge seines Bildungsromans fortschreitend durchlaufen lässt, im Detail zu verfolgen. Im dritten Lebensabschnitt erkundet der inzwischen 28-jährige stufenweise die Welt und lernt immer genauer die graduelle Durchformung des Materiellen von der anorganischen

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Was ist der Mensch?

hin zur organischen und von der vegetabilischen hin zur animalischen Sphäre kennen. Er erforscht die Gesetze, denen bloße Körper folgen, welche, weil gefühllos, ihrer selbst nicht inne und daher zwar da, aber nicht für sich da sind; er studiert die charakteristischen Kennzeichen lebendiger Wesen, die sich ernähren und wachsen wie Pflanzen oder zudem zu Ortsbewegungen und Sinneswahrnehmungen fähig sind wie die Tiere; er klassifiziert und systematisiert, unterscheidet zwischen Individuen, Arten und Gattungen etc., um dann – eine erste Ahnung vom göttlichen Urheber des Ganzen hatte sich schon eingestellt – ab dem 35. Lebensjahr mehrere Jahre lang, wie es ausdrücklich heißt, nicht mehr nur über Werden und Vergehen des Innerweltlichen, sondern auch darüber nachzudenken, „ob die Welt insgesamt entweder etwas war, das entstanden war, nachdem es zuvor nicht da war und ins Sein trat aus dem Nichtsein, oder ob sie etwas war, das seit jeher immer schon da war, ohne daß ihr auf irgendeine Weise das Nichtsein voranging“ (60). Welt- und Gottoffenheit Nachdem er trotz intensiven Nachdenkens über die Frage, ob das Universum einen zeitlichen Anfang habe oder nicht, keinen plausiblen Grund gefunden hatte, sich für eine der beiden Hypothesen zu entscheiden, geht Hayy auf, dass eine solche Entscheidung weder möglich, noch nötig sei, da nicht nur die Annahme einer anfangenden und endenden Endlichkeit der Welt, sondern auch diejenige einer infiniten Abfolge endlicher Weltzusammenhänge den Gedanken eines Unendlichen zur Voraussetzung habe, welches mit dem kosmischen Universum nicht gleichzusetzen sei. Damit ist der Gedanke gedacht, der von nun an immer konsequenter sein Leben bestimmen wird. Er fragt nach der Möglichkeit, den Gedanken des unendlich Einen zu denken, welches allem, was ist, zugrunde liegt und das universale All absolut übersteigt, und er kommt zu der Einsicht, dass diese Möglichkeit nur durch das im Unendlichkeitsgedanken Gedachte selbst bedingt sein kann und zwar auf unvordenkliche Weise. Allenfalls durch Einsichtnahme in die Verfasstheit sich wissenden Wissens, welches das seiner selbst bewusste Ich vollziehe, könne man sich einen vorläufigen Begriff vom unendlichen Einen in seiner Unbegreiflichkeit machen, insofern Selbstbewusstsein zugleich als „Erkennendes, Erkanntes und Erkenntnis“ (77), als „Wissendes, Gewußtes und Wissen“ (ebd.) aufzufassen sei. Was ist der Mensch? Ein Wesen, das um sich weiß und ein Bewusstsein seiner selbst hat, ohne doch den Grund, in dem sein Ich und seine Welt gründen, unmittelbar aus sich heraus theoretisch erfassen und auf einen abschließenden Begriff bringen zu können. Dass dem so ist, geht uns, wie das Beispiel von Hayy Ibn Yaqzan zeigt, spätestens dann auf, wenn wir erwachsen geworden und zum entwickelten Bewusstsein unserer selbst und unserer Welt gelangt sind. Man

Die Frage des Menschen nach sich selbst

muss daraus nicht den Schluss ziehen, zu dem der philosophische Autodidakt gelangt ist, und zum Mystiker werden, der Augen und Ohren schließt und sich in sich selbst versenkt, um dessen gewahr zu werden, „was noch kein Auge gesehen, kein Ohr gehört und keines Menschen Herz vernommen hat“ (87), wie es bei Ibn Tufail im Anklang an 1. Kor 2,9 heißt. Es mag einstweilen schon genügen, sich gelegentlich anhand der Frage, wer wir sind, der Fraglichkeit unseres Menschseins und unserer Angewiesenheit auf Antworten zu erinnern, die sich nicht in Alltags- und Allerweltsweisheiten erschöpfen. 1.2

Die Frage des Menschen nach sich selbst

Anthropologie entspringt der Frage des Menschen nach sich selbst.2 Menschen stellen nicht nur Fragen, sie sind eine offene Frage.3 „Nur der Mensch fragt, wer er ist.“4 Er tut dies, weil er sich selbst fraglich ist. Die Frage nach dem Menschen ist mithin „eine Grundfrage des Menschen, der sich verstehen will“5 . Weil Anthropologie ihren Ursprung in der Frage des Menschen nach sich selbst und in seiner Fraglichkeit hat, ist jeder Mensch je auf seine Weise durch Selbstdeutung und Selbstgestaltung ein Anthropologe.6 Dies gilt umso mehr, als auch 2 Zur „Geschichte der Anthropologie“ vgl. die gleichnamige Monographie von W. E. Mühlmann, Frankfurt a. M./Bonn 2 1968, zu den verschiedenen Forschungsgebieten der Anthropologie der Gegenwart H. J. Birx (Ed.), 21st Century Anthropology. A Reference Handbook. Vol 1/2, Thousand Oaks/Cal. 2010 sowie E. Bohlken/Chr. Thies (Hg.), Handbuch Anthropologie. Der Mensch zwischen Natur, Kultur und Technik, Stuttgart 2009, W. Oelmüller/R. Dölle-Oelmüller, Grundkurs Philosophische Anthropologie, München 1996 oder den ersten Band des Sammelwerkes mit Beiträgen des XII. Deutschen Kongresses für Philosophie „Der Mensch und die Wissenschaften vom Menschen“, hg. v. G. Frey u. J. Ziegler, Innsbruck 1983. Zu subjektivitätstheoretischen Ansätzen der Lehre vom Menschen vgl. u. a. P. Geyer, Die Entdeckung des modernen Subjekts. Anthropologie von Descartes bis Rousseau, Würzburg 2007 sowie R. L. Fetz (Hg.), Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Berlin/New York 1998, hier: Bd. 1, V: „Das Subjekt hat sein Ende überlebt.“ „Philosophische Ideale vom ‚wahren‘ Menschen von Karl Marx bis Karl Popper“ thematisiert K. Salamun in dem Band: Wie soll der Mensch sein?, Tübingen 2012. Zur Vermittlungsaufgabe des terminologisch eigentümlich unscharfen Ausdrucks „Menschenbild“ zwischen individueller Lebensdeutung und Präsenz des Allgemeinen in ihr vgl. D. Korsch, Menschenbild. Zur Geschichte und zur Funktion eines Orientierungsbegriffs, in: I. U. Dalferth/A. Hunziker (Hg.), Sein-Können. Der Mensch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, Tübingen 2011, 75–94. 3 Vgl. H. Thielicke, Mensch sein – Mensch werden. Entwurf einer christlichen Anthropologie, München/Zürich 1976, 23ff.: Der Mensch – eine offene Frage. 4 K. Wojtyla/Johannes Paul II., Von der Königswürde des Menschen, Stuttgart 1980, 25. 5 E. Coreth, Was ist der Mensch? Gründzüge philosophischer Anthropologie Innsbruck/Wien 4 1986, 9. 6 Vgl. M. Landmann, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdarstellung in Geschichte und Gegenwart, Berlin/New York 5 1982, 7ff.

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Was ist der Mensch?

die wissenschaftlich ausgebildete Anthropologie Menschen zur Voraussetzung hat, die sie zustande bringen. Fraglichkeit Eine um Wissenschaftlichkeit bemühte menschliche Selbstverständigung wird als erstes zu fragen haben, wonach eigentlich gefragt wird, wenn das fragliche Sein des Menschen infrage steht und thematisiert werden soll. Es versteht sich nämlich nicht von selbst, „was derjenige, der fragt, ‚Was ist der Mensch?‘, eigentlich wissen will und welche Antwort er als Antwort auf seine Frage gelten lassen würde. Würde ihn die chemische Formel der DNS-Struktur der menschlichen Gene zufriedenstellen – die übrigens derjenigen des Hausschweines besonders ähnlich ist –? Möchte er die spezifischen Anpassungsleistungen des menschlichen Organismus an seine Umwelt, seine ‚ökologische Nische‘ kennenlernen, und genügt es ihm für das Verständnis der menschlichen Kulturleistungen, wenn er diese in ihrer Funktionalität für die Selbstbehauptung der Gattung begriffen hat? Will er das in der Geschichte so vielfältig hervortretende menschliche Selbstverständnis aus einem einheitlichen Prinzip begreifen? Oder versucht er den Menschen als Entwurf zu sehen, den man nur verstehen kann, wenn man der Gestalt seines vollkommenen Gelingens ansichtig wird, so daß erst das ‚Ecce homo‘ des Pilatus uns zeigte, wer und was der Mensch ist?“7 Die Frage, was derjenige eigentlich wissen will, der anthropologisch nach Sein und Wesen des Menschen fragt, ist umso dringlicher, als die mit dem Menschen beschäftigten Wissenschaften heute auf dem besten Wege sind, „im allgemeinen Bewußtsein den Platz einzunehmen, den in früheren Jahrhunderten die Metaphysik innehatte“8 . Ohne gravierende Verluste kann dies, wenn überhaupt, nur unter der Voraussetzung geschehen, dass Anthropologie wissenschaftlich reflektierte und damit philosophische Gestalt annimmt. Philosophie will wissen, wie es um die Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft bestellt ist. Ihr Ziel ist es, die Wissenschaft zum Bewusstsein ihrer selbst und mithin zu einem wissenschaftlich geklärten Selbstbewusstsein zu führen. Nachgerade für die Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen ist dies unentbehrlich. Daher bedarf vorzugsweise sie der philosophischen Reflexion.

7 R. Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen, in: K. Michalski [Hg.], Der Mensch in den modernen Wissenschaften, Stuttgart 1985, 100–116, hier: 100f. Nach J. Moltmann, Mensch. Christliche Anthropologie in den Konflikten der Gegenwart, Stuttgart-Berlin 1971, 11ff. ergeben sich Fragen und Antworten des Menschen bezüglich seines Wesens aus seinem Selbstvergleich 1. mit dem Tier, 2. mit dem Mitmenschen und 3. mit dem Göttlichen. 8 W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 3 1968, 5. „Wir leben in einem Zeitalter der Anthropologie“ (ebd.), heißt es im ersten Satz des ersten Vortrags der zitierten Schrift.

Die Frage des Menschen nach sich selbst

Philosophische Anthropologie Eine rechte Lehre vom Menschen ist ohne philosophische Anthropologie nicht zu gewinnen. Diese Feststellung darf nicht unmittelbar mit einem Plädoyer für jene Denkrichtung des 20. Jahrhunderts gleichgesetzt werden, die man gewöhnlich mit der Wendung „Philosophische Anthropologie“ versieht und die durch Werke von Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen sowie Adolf Portmann und Erich Rothacker gekennzeichnet ist.9 Die sog. Philosophische Anthropologie ist eine philosophische Anthropologie, aber nicht 9 Zur Entwicklungsgeschichte des Ansatzes der sog. Philosophischen Anthropologie und zu ihrer eigentümlichen Denkungsart vgl. im Einzelnen J. Fischer, Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, München 2008, 19ff. bzw. 479ff. Nach Fischer hat sich die Ideengemeinschaft der Philosophischen Anthropologie „in den klassisch gewordenen Werken ‚Zur Stellung des Menschen im Kosmos‘ (Scheler 1928) und den ‚Stufen des Organischen und der Mensch‘ (Plessner 1928) auskristallisiert“ (11), um sich „in Gehlens Werk ‚Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt‘ (1940), in Erich Rothackers ‚Kulturanthropologie‘ (1942) und Adolf Portmanns ‚Biologischen Fragmenten einer Lehre vom Menschen‘ (1944)“ (ebd.) zu verstetigen und durch weitere Beiträge anzureichern. Die philosophiesystematische Theorieverwandtschaft zwischen den genannten Texten sieht Fischer in dem gemeinsamen Versuch, die idealistische Subjektivitätstheorie im Medium einer biologisch fundierten Lebensphilosophie kritisch zu transformieren und konstruktiv fortzubilden. – Die Idealität des Ich und sein Anspruch auf unmittelbare Selbstmächtigkeit werden problematisiert, ohne die Intention einer selbstbewusstseinstheoretischen Grundlegung der Philosophie aufzugeben. „Der Geist in seiner inneren Selbstausweisungsfähigkeit oder seiner sprachlichen Vergewisserung wird vorausgesetzt, aber diese Vergewisserung genügt sich nicht, sondern der Blick wird nach außen, auf das Lebendige gerichtet“ (519), um dem Idealismus eine, wenn man so will, realistische Basis zu geben. Metaphysik und Empirie sollen so auf differenzierte Weise vereint werden. Gemäß der Eigenart, die ihren „Identitätskern“ (vgl. 519ff.) ausmacht, ist die Philosophische Anthropologie „keine Geistphilosophie, sondern philosophierende Vergewisserung des ‚Geistes‘ unter Rückbezug auf … die verschiedenen Erfahrungswissenschaften über den Menschen (Biologie, Psychologie, Soziologie, Kulturwissenschaften)“ (525). Philosophisch sei die Anthropologie der Philosophischen Anthropologie, weil sie stets von dem reflexiven Bewusstsein begleitet werde, dass die „Kategorien, die die verschiedenen anthropologischen wissenschaftlichen Erfahrungszugänge ineinander übersetzen, nicht selbst aus den Einzelwissenschaften … mit ihrem jeweiligen Spezialvokabular stammen können, sondern als freier Entwurf eine Leistung der Philosophie sind, die ihr keine Einzeldisziplin abnehmen kann“ (526). – Zur Rezeption von Beständen der Philosophischen Anthropologie bei Pannenberg vgl. 448f.: „Ende der 1950er Jahre arbeitet er sich in die Philosophische Anthropologie ein, um dann als 34-Jähriger 1962 in einer ersten Vorlesungsreihe zur ‚Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie‘ den inneren Zusammenhang von ‚Weltoffenheit und Gottoffenheit‘ aufzuweisen, bis er Anfang der 1980er Jahre sein Opus magnum vorlegt.“ (448) Zur Fortsetzung des Forschungsprogramms der Philosophischen Anthropologie im Bereich der deutschsprachigen Wissenschaften bei Hans Blumenberg, Odo Marquard, Wolf Lepenies, Helmut Schelsky u. a. sowie in der französischen Theorieszene vgl. G. Raulet/G. Plas (Hg.), Philosophische Anthropologie nach 1945, Nordhausen 2014. Als Beispiel einer Rezeption im englischsprachigen Raum sei das Werk des amerikanischen Anthropologen und Verhaltensforschers Michael Tomasello genannt, der unter Aufnahme kommunikationstheoretischer Modelle jüngst sowohl „Eine Naturgeschichte

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Was ist der Mensch?

die einzig denkbare, was zu konstatieren kein von außen herangetragenes Urteil darstellt, sondern deren ureigenem Selbstverständnis entspricht. Besteht ihr „Identitätskern“10 doch in dem gemeinsamen Bestreben, idealistische Subjektivitätstheorien, wie sie in Hegels Lehre vom Menschen ihren klassischen Ausdruck gefunden haben, in Kritik und Konstruktion im Sinne von empirieorientierten Entwürfen fortzubilden, die anschlussfähig sind für die Ergebnisse der modernen Humanwissenschaften und insbesondere der anthropologischen Biologie. Die sog. Philosophische Anthropologie bestimmt sich zwar im Unterschied zu anderen Ansätzen durch keinen unvermittelten Gegensatz zu einer philosophischen Subjektivitätstheorie, wie beispielsweise Hegel sie in seiner Lehre vom Menschen entwickelt hat. Sie weiß sich von dieser aber dennoch charakteristisch unterschieden.11 Im Zuge dieser Distanzierung, wie sie von vielen nachhegelschen Konzeptionen zum Thema geteilt wird, kann dann die Hinwendung zur Anthropologie selbst als ein Zeichen der Abwendung von idealistischen Großsystemen12 und als Indiz jenes Funktionswandels gewertet werden, den

des menschlichen Denkens“ (deutsch: Berlin 2014) als auch „Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral“ (deutsch: Berlin 2016) vorgelegt hat (vgl. Chr. Thies, Michael Tomasello und die Philosophische Anthropologie, in: PhR 64 [2017], 107–121, hier: 107). 10 Vgl. J. Fischer, Der Identitätskern der Philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen), in: H.-P. Krüger/G. Lindemann (Hg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin 2006, 63–82. 11 Die Philosophische Anthropologie sucht gemäß dem Begriff, den sie von sich selbst hat, „engen Kurs zwischen der Skylla bloßen Biologismus und der Charybdis reinen Transzendentalismus zu halten“ (R. Weiland, Vorbemerkung, in: ders. [Hg.], Philosophische Anthropologie der Moderne, Weinheim 1995, 9–11, hier: 9). Der Sammelband enthält neben Beiträgen u. a. zu Herder (H. Gipper, Apologie der Sonderstellung des Menschen), Scheler (G. Häffner, Der Mensch als Überstiegs-Wesen), Plessner (R. Weiland, Der Mensch als exzentrisches Wesen), Gehlen (Der Mensch als Mängelwesen) und Merleau-Ponty (Phänomenale Leiblichkeit und Rehabilitation der Erscheinung) bemerkenswerte Studien zur Ausblendung der Philosophischen Anthropologie in der Frankfurter Schule Horkheimers und Adornos (R. Weiland, Das Gerücht über die Philosophische Anthropologie: Über einen Blindfleck „Kritischer Theorie“) sowie über den Abschied vom Subjekt in der Postmoderne (W. Pircher, Das „Verschwinden des Menschen“: Postmoderne Anthropologie). 12 Zu der zur Signatur der nachhegelschen Philosophie erklärten Wendung zur Anthropologie vgl. im Einzelnen W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 294ff. Ferner F. Decher/J. Hennigfeld, Einleitung. Die anthropologische Wende in der Philosophie des 19. Jahrhunderts, in: dies. (Hg.), Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, Würzburg 1992, 11–19. „Anlaß für die Reduktion der Philosophie auf Anthropologie bei den Nachhegelianern“ (14) ist nach Decher und Hennigfeld nicht die Hegel’sche Anthropologie („eher bescheidene(r) Systemteil in der Enzyklopädie“ [13f.]); „(v)ielmehr verstanden Feuerbach, Stirner, Heß, Marx die gesamte Philosophie Hegels als verborgene Anthropologie.“ (14) Zur Autonomisierung der Lehre vom

Die Frage des Menschen nach sich selbst

die Wissenschaften im Zuge des 19. Jahrhunderts hin zu einem postidealistischen Realismus durchlaufen haben. Die Philosophie, in Sonderheit diejenige des Deutschen Idealismus, wie Hegels spekulatives Vernunftsystem ihn nach eigener Einschätzung vollendet repräsentierte, verlor nun fortschreitend ihr wissenschaftliches Definitionsmonopol. Der philosophische Anspruch, eine Enzyklopädie der einzelnen Wissenschaften leisten zu können, wurde mehr und mehr als unwissenschaftlich abgetan. Die Wissenschaft verwissenschaftlichte sich, will heißen: sie hob sich immer mehr von anderen sozialen Funktionssystemen ab, um sich zugleich selbst immer stärker auszudifferenzieren. War das Humboldt’sche Wissenschafts- und Universitätskonzept der Idee nach wesentlich auf Allgemeinbildung bezogen, so trat nun eine wissenschaftliche Spezialisierung ein, die nicht den Universalgelehrten, sondern den Fachmann verlangte. Der Fachmann wird zum Prototyp des Wissenschaftlers, dessen Forschungen ebenso zweckvoll wie wertfrei durchgeführt werden müssen. Diversifikation der Humanwissenschaften Der Prozess der Verwissenschaftlichung und Diversifikation der Wissenschaften erfasste in erster Linie die Naturwissenschaften, die sich von geisteswissenschaftlicher Dominanz emanzipierten, neben den klassischen Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz und Medizin sowie der Philosophie etablierten sowie progressiv spezialisierten. Er nahm aber auch in den Geisteswissenschaften Fahrt auf, wie die Empirisierung der Geschichtswissenschaften und dasjenige geisteswissenschaftliche Phänomen belegt, das man üblicherweise und recht pauschal Historismus nennt. Zwar behauptete der Historismus die Freiheit der Geisteswissenschaften von naturwissenschaftlicher Vorherrschaft und stellte, insofern er Geschichte von Natur unterschied, eine Kultursphäre menschlichen Handelns, in der Freiheit am Werke sei, einer vom Gesetz der Notwendigkeit durchwalteten Sphäre gegenüber. Dabei relativierte er allerdings die in der Kulturgeschichte der Menschheit wirksame Freiheit, indem er sie „historisch“ bedingt sein ließ. Jeder ahistorische Anspruch auf zeitinvariante Geltung wurde so unterminiert bzw. durch den Aufweis geschichtlicher Genese elegant unterlaufen. Die fortschreitende Historisierung, Verwissenschaftlichung und Spezialisierung machte auch vor der Anthropologie nicht halt, selbst vor der philosophischen nicht, wie nachgerade die Philosophische Anthropologie genannte Forschungsrichtung belegt. War die „Signatur der nachhegelschen Philosophie“13 insgesamt durch eine „Wendung zur Anthropologie“14 bestimmt, so Menschen als einer Einzeldisziplin im Zuge der Philosophischen Anthropologie vgl. G. Arlt, Philosophische Anthropologie, Stuttgart/Weimar 2001, 66ff. 13 W. Pannenberg, a.a.O., 294. 14 Ebd.

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Was ist der Mensch?

gehört zu deren spezifischer Gestalt die Abkehr von Absolutheitshorizonten und die Konzentration auf die Existenz des endlichen Menschen in einer durch mannigfache Grenzen und Schranken bedingten Welt. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die religiöse Thematik nicht selten aus der humanwissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung ausgeblendet. Die Theologie kann sich nach Pannenberg mit dieser Tendenz nicht abfinden, hat vielmehr „auf der konstitutiven Relevanz der Gottesbeziehung und ihres Reflexes im religiösen Leben für die Identität des Menschen“15 zu beharren. „Aber anders als im Verhältnis zur Tradition philosophischer Theologie ist bei der Bezugnahme auf Anthropologie und Humanwissenschaft nicht unmittelbar die Lehre von Gott und seiner Offenbarung thematisch, sondern eher die Sicherung der Basis dafür, dass Rede von Gott überhaupt rational sinnvoll bleibt. Die Notwendigkeit einer solchen Bemühung ist selber ein Ergebnis des in der nachhegelschen Hinwendung zur Anthropologie eingeleiteten Abschieds von der metaphysischen Tradition der Philosophie.“16 Naturtranszendierendes Wesen Welche Relevanz der nachhegelschen Hinwendung zur Anthropologie für Pannenbergs theologische Systemkonzeption in ihrem Verhältnis zu Hegels Theorie des Absoluten zukommt und in welcher Beziehung die Pannenberg’sche Anthropologie in theologischer Perspektive zur Hegel’schen Philosophie des subjektiven Geistes steht, wird Gegenstand nachfolgender Studien sein. Ihr Obertitel verweist auf eine Annahme, die beiden Ansätzen unbeschadet ihrer Unterschiede gemeinsam ist: Was der Mensch ist, lässt sich nicht unmittelbar und gleichsam naturhaft feststellen, sondern ergibt sich erst aus einem geschichtlichen Vermittlungsprozess. Gehört es doch zur Natur des Menschen, natürliche Unmittelbarkeit zu überschreiten und seine Bestimmung im Vollzug von Selbst- und Welttranszendierung zu realisieren. In diesem Sinne ist sein Wesen im Werden begriffen und nur als ein im Werden begriffenes zu begreifen. 1.3

Zur Textbasis der Untersuchung

Was ist der Mensch? Wolfhart Pannenberg hat diese Frage mit Verweis auf die Geschichtlichkeit der Menschennatur und auf den Bildungsprozess menschlicher Subjektivität in der Geschichte beantwortet. Dies war bereits in seinen elf – 1962 in erster, 1968 in dritter, ergänzter Auflage erschienenen – Vorträgen zur Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie der Fall. Sie 15 A.a.O., 299. 16 Ebd.

Zur Textbasis der Untersuchung

erwuchsen aus Vorlesungen über theologische Anthropologie, die 1959/60 in Wuppertal und 1961 in Wuppertal und Mainz gehalten sowie in Teilen für eine Sendereihe des Norddeutschen Rundfunks vom Winter 1961/62 aufbereitet worden sind. Die Studien beginnen mit der programmatischen Devise „Wir leben in einem Zeitalter der Anthropologie“17 und enden mit einem Abschnitt, der signifikanterweise „Der Mensch als Geschichte“ überschrieben ist.18 Auch Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ von 1983, in der die Lehre vom Menschen in voller Breite entfaltet ist, wird mit einem Kapitel „Mensch und Geschichte“19 beschlossen. Was der Mensch ist, kann offenbar ohne den geschichtlichen Prozess seiner Entwicklung nicht erfasst werden, weil, wie gesagt, sein Sein und Wesen im Werden begriffen und nur als im Werden begriffen zu begreifen ist. Kleine und große Anthropologie Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ gehört zu den „bleibenden Leistungen evangelischer Theologie im 20. Jahrhundert“20 ; das haben auch Kritiker ohne Vorbehalte anerkannt.21 Für die Erschließung des Christentums und namentlich der christlichen Lehre vom Menschen „hat Pannenbergs Buch ein neues Kapitel aufgeschlagen“22 und zwar sowohl in theologischer als auch in philosophischer Hinsicht.23 Aus gutem Grund hat beispielsweise 17 Ders., Was ist der Mensch?, 5. Zur Bibliographie Pannenbergs der Jahre 1953–2014 vgl. G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung. Eröffnung der Wolfhart Pannenberg-Forschungsstelle an der Münchener Hochschule für Philosophie, Philosophische Fakultät SJ, Göttingen 2016, 203ff.; beigegeben ist eine Liste der Lehrveranstaltungen 1959–1994 und der Erst- und Zweitgutachten Pannenbergs bei Promotions- und Habilitationsverfahren 1961–2005. Zu Pannenbergs akademischen Anfängen vgl. G. Wenz, Vorschein des Künftigen. Wolfhart Pannenbergs akademische Anfänge und sein Weg zur Ekklesiologie, in: ders. (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017 (Pannenberg-Studien Bd. 3), 13–47; zur Genese seiner auch für die Anthropologie grundlegenden geschichtstheologischen Konzeption vgl. ders., Pannenbergs Kreis. Genese und erste Kritik eines theologischen Programms, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Göttingen 2018, 17–57. 18 Vgl. W. Pannenberg, Was ist der Mensch?, 95ff. 19 Vgl. ders., Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 472ff. 20 B. Jaspert, Rez. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, in: Regulae Benedicti Studia. Annarium Internationale 14/15 (1985/86), 356–358, hier: 358. 21 Vgl. etwa H. Fischer, Fundamentaltheologische Prolegomena zur theologischen Anthropologie. Anfragen an W. Pannenbergs Anthropologie, in: ThR 50 (1985), 41–61. 22 P. Koslowski, Rez. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, in: ZPhF 40 (1986), 305–309, hier: 309. 23 Vgl. J. Schmidt, Rez. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, in: ThuPh 63 (1988), 139–144.

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Was ist der Mensch?

der Rezensent der „Neuen Zürcher Zeitung“ einen besonders herausfordernden Aspekt der Pannenberg’schen Konzeption darin gesehen, dass dieser „die zu einem Modetrend gewordene handlungstheoretische Begründung einer durchgängigen Selbstkonstitution des Menschen von seinem eigenen Zentralthema des religiösen Bezugs her zu unterlaufen versucht, indem er aufzeigt, dass der Mensch in seiner personalen Selbstständigkeit Bedingungen hat, die nicht ihrerseits noch einmal handlungstheoretisch erklärt werden können“24 . In der Kritik von anthropologischen Programmen wie denjenigen des frühen Fichte oder Arnold Gehlens, denen zufolge sich der Mensch unmittelbar durch seine Selbsttätigkeit konstituiert, stimmt Pannenbergs Konzeption mit der Hegel’schen Lehre vom Menschen ebenso überein wie in der Einsicht einer notwendigen genetisch-entwicklungsgeschichtlichen Anlage der Anthropologie, welche das Wesen des Menschen prozessual zu erfassen und nicht aus prinzipientheoretischen Grundsätzen zu deduzieren sucht, die von Anfang an axiomatisch feststehen. Des Menschen Sein ist als im Werden und in einem Prozessgeschehen begriffen zu begreifen, dessen Konstitutions-, Erhaltungsund Zielgrund nicht unmittelbar zur Disposition seines Handelns steht. Die Übereinstimmung in dieser Annahme ist nicht die einzige, die Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ mit Georg Friedrich Wilhelm Hegels „Philosophie des subjektiven Geistes“ verbindet.25 24 R. L. Fetz, Der Mut des Theologen. Wolfhart Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“, in: NZZ Fernausgabe 1984/152, 25. 25 Zu Pannenbergs Biographie und zur Entwicklungsgeschichte seiner Werke vgl. ausführlich G. Wenz, Art. Pannenberg, Wolfhart Ulrich (1924–2014), in: BBKL 40 (2019), Sp. 991–1013. Zu Hegels (1770–1831) Lebens-und Werkgeschichte sei Folgendes angemerkt: Er wurde am 27. August 1770 in Stuttgart geboren. Von 1788 bis 1793 studierte er zusammen mit Hölderlin und Schelling am Tübinger Stift, zunächst zwei Jahre Philosophie, dann drei Jahre Theologie. Anschließend war er Hauslehrer in Bern (1793–1796) und in Frankfurt (1797–1800). 1801 ging er nach Jena, wo er sich habilitierte und außerordentlicher Professor wurde. Unter den Programmschriften der Jenaer Zeit ist die Abhandlung über die „Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie“ von 1801 besonders hervorzuheben. Im Jahr 1807 erschien die „Phänomenologie des Geistes“, Hegels erstes philosophisches Hauptwerk. Nachdem ihn die politischen Folgen der Schlacht bei Jena und Auerstedt um seine Professur gebracht hatten, übernahm er für kurze Zeit die Redaktionsleitung der Bamberger Zeitung, um dann von 1808 bis 1816 als Rektor des Gymnasiums in Nürnberg tätig zu sein. Während dieser Zeit publizierte er mit der „Wissenschaft der Logik“ sein zweites Hauptwerk, das nunmehr als die eigentliche Grundlegung des Systems gelten sollte. Im Grundriss entwickelt und dargestellt ist das Gesamtsystem in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1. Aufl. 1817; 2. Aufl. 1827; 3. Aufl. 1830), deren erste Veröffentlichung in die Zeit in Heidelberg fiel, wohin Hegel 1816 als Professor berufen wurde. Ende des darauffolgenden Jahres wurde er Nachfolger Fichtes in Berlin, wo 1821 die „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ publiziert wurden. Hegels Berliner Vorlesungen, die erst nach seinem Tod am 14. November 1831 aufgrund von Konzepten und Nachschriften in einer Gesamtausgabe im Druck erschienen, dienen dem

Zur Textbasis der Untersuchung

Fehlendes Kompendium Die Konvergenzen der Hegel’schen und der Pannenberg’schen Lehre vom Menschen reichen bis in den systematischen Aufbau und die konzeptionelle Durchführung hinein. Den Nachweis dieser These werden die nachfolgenden Studien erbringen und zwar auf einer Textbasis, die im Falle Pannenbergs klar, im Falle Hegels hingegen einer ins Einzelne gehenden Klärung bedarf. Während die Lehre vom Menschen bei Pannenberg in monographisch ausgearbeiteter Form Ausbau des Systems, wie es in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ in Grundzügen dargestellt ist. Zu Hegels Biographie und Werkgeschichte nach wie vor sehr lesenswert ist die Monographie seines Schülers K. Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844. Mit einer Nachbemerkung zum Nachdruck 1977 von O. Pöggeler, Darmstadt 1998. – Karl Rosenkranz (1805–1879) war keiner von den unkritischen „Hegelingen“, die er in seiner Komödie „Das Centrum der Spekulation“ (1840) genauso genüsslich verspottete wie den Hegelkritiker und „Isarphilosophen“ Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, sondern ein Denker und Schriftsteller von eigenem Format. Dies belegt neben vielen anderen Texten seine berühmte Hegelbiographie. Auch wenn Rosenkranz in Bezug namentlich auf die Jugendzeit des Meisters zwischen Dichtung und Wahrheit nicht immer sorgfältig genug unterschieden hat, so bleibt sein Werk doch die klassische Lebensbeschreibung Hegels mit historischen Detailkenntnissen, die, wie Otto Pöggeler in seiner Nachbemerkung zum Neudruck zurecht konstatierte, immer unanfechtbarer werden, je mehr sich der Bericht „der Berliner Zeit nähert oder diese zum Gegenstand hat“ (569). Der „Uebergang nach Preussen“ (315ff.) markiert den Beginn des dritten und letzten Buches von Rosenkranz‘ Biographie, als deren Motto Hegels Sentenz fungieren kann, wonach der Berliner Sand „für die Philosophie eine empfänglichere Sphäre (sei), als Heidelbergs romantische Umgebungen“ (316): „Berlin ist die Stadt der absoluten Reflexion, welche Unruhe des Denkens mit der noch nicht zur Culmination gelangten Entwicklung des Preußischen Staates und seiner Hauptstadt selbst zusammenhängt.“ (320) Man lese, was in diesem Zusammenhang u. a. über Fichte gesagt wird oder auch über Schleiermacher, mit dem Hegel „sogar einmal in Tivoli Arm in Arm eine Rutschpartie“ (326) gemacht haben soll, obwohl beide ihre wechselseitige Antipathie ansonsten nur mit Mühe niederzuhalten vermochten. Hegels „Polemik gegen die Gefühlstheologie“ (341ff.) hat Rosenkranz ein eigenes Kapitel gewidmet. Im Übrigen wird über Hegels Geselligkeit und sein Reiseleben, seine familiären und verwandtschaftlichen Beziehungen, seinen Anteil an den Berliner Jahrbüchern für Kritik, sein Rektorat und die Feier der Augsburger Konfession 1530 sowie selbstverständlich auch über sein literarisches Schaffen und seine Vorlesungstätigkeit informiert. Der zweiten Ausgabe der philosophischen Enzyklopädie, „welcher nach drei Jahren eine dritte folgte“ (405). ist ein eigener Abschnitt gewidmet. Zwar nicht ohne Teilnahme, aber verhältnismäßig lakonisch schildert Rosenkranz die Umstände von Hegels unerwartetem Tod „am 14. November 1831, Nachmittags 5 41 Uhr“ (422), „Leibnitzens Sterbetag“ (ebd.). Man gewinnt den Eindruck, als sei das natürliche Ableben des Philosophen für den Geist und den Gehalt seiner Philosophie nur bedingt von Belang. Dieser Eindruck ist durchaus im Sinne Hegels, der zwischen Philosoph und Philosophie sorgsam zu unterscheiden wusste. Für die Stellung der Philosophie des subjektiven Geistes im System ist diese Unterscheidung von erheblichem Belang. – Zu Biographie- und Werkgeschichte Hegels sowie zur Bildung einer Hegelschule vgl. im Einzelnen die präzisen Angaben in: W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart 2010; zu den Heidelberger und Berliner Vorlesungen vgl. 319ff., zu denjenigen zur Philosophie des subjektiven Geistes vgl. 347–364.

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Was ist der Mensch?

vorliegt26 , hat Hegel sie in seiner „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ lediglich skizziert, ohne eine im Detail ausgearbeitete Monographie zum Thema zu publizieren. Zwar verfolgte er seit Anfang der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts den Plan eines Kompendiums zur Philosophie des subjektiven Geistes, das in seinen Ausführungen analog zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ in Bezug auf diejenigen des objektiven Geistes über die einschlägigen Enzyklopädieparagraphen hinausreichen sollte. Realisiert wurde das Projekt aber nicht. U.a. darin liegt es begründet, dass die Philosophie des subjektiven Geistes das wohl „am wenigsten erschlossene Gebiet der Hegel’schen Philosophie“27 darstellt. Was die drei Ausgaben der Enzyklopädie betrifft, so jährte sich das Erscheinen der ersten 2017 zum 200. Mal; eine erheblich erweiterte und modifizierte Zweitausgabe erfolgte 1827, eine Drittausgabe 1830. Mit den Bänden 13, 19 und 20 der von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebenen „Gesammelte(n) Werke“ 28 des Philosophen liegen die drei Enzyklopädieausgaben 26 Im Zentrum des Untersuchungsinteresses stehen die Monographien der sog. Kleinen und Großen Anthropologie. Berücksichtigung finden werden an geeigneter Stelle neben kleineren Beiträgen aber auch die einschlägigen Ausführungen im opus magnum der Systematischen Theologie, nämlich die Kapitel 8 und 9 ihres 2. Bandes. Dort handelt Pannenberg von Würde und Elend des Menschen, also von seiner Gottebenbildlichkeit, und vom Fall der Sünde (W. Pannenberg, Systematische Theologie [= STh]. Bd. II, Göttingen 1991, 203–314), sowie vom Zusammenhang von Anthropologie und Christologie (a.a.O., 315–364). Man hat gesagt, Pannenberg betreibe Anthropologie entweder in oder aus theologischer Perspektive. Letzteres geschehe in der Systematischen Theologie als seinem dogmatischen Hauptwerk, ersteres in den Monographien zur Lehre vom Menschen, in denen er in fundamentaltheologischer Absicht „ausdrücklich an die Anthropologie in den Wissenschaften und der Philosophie“ (W. Schoberth, Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006, 101–103: Wolfhart Pannenberg: Anthropologie als Fundamentaltheologie, hier: 101) anschließe. Diese Unterscheidung hat ihre Berechtigung, solange sie nicht zur Trennung von Zusammengehörigem führt. Zu bedenken ist, dass die Anthropologie auch im Kontext der Dogmatik nicht lediglich „ein Sonderthema der systematischen Theologie“ (H. Fischer, Zur Einführung: Tendenzen zur Verselbständigung der theologischen Anthropologie, in: ders. [Hg.], Anthropologie als Thema der Theologie, Göttingen 1978, 9) darstellt; ihr kommt „über die Dimensionen eines begrenzten Themenfeldes hinaus eine grundlegende Funktion im Prozess dogmatischer Lehrbildung“ (ebd.; zum Begriff der theologischen Anthropologie und zur Vielzahl ihrer selbstständigen Darstellungen seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts vgl. a.a.O., 11ff.) zu. 27 J. Simon, Art. Hegel/Hegelianismus, in: TRE 14, 530–560, hier: 546. 28 Dem Großprojekt der Edition der „Gesammelte(n) Werke“ Hegels (=GW) ist es nach Maßgabe des Vorworts des ersten Bandes aufgegeben, das Lebenswerk des Philosophen „in einer vollständigen und zugleich historisch-kritischen Fassung nach einheitlichem Plane vorzulegen“ (GW 1, V), um dadurch neue Wege „entwicklungsgeschichtlichen Verstehens“ (ebd.) zu erschließen. Die bald nach Hegels Tod in Angriff genommene Freundesvereinsausgabe habe ihren Zweck, das „Werk in einer wirkmächtigen Form in die Zeit zu stellen“ (GW 1, VI), erfüllt

Zur Textbasis der Untersuchung

seit geraumer Zeit in einer historisch-kritischen Edition vor. Sie bieten Skizzen des Hegel’schen Gesamtsystems beginnend mit der Wissenschaft der Logik und bleibe unter wirkungsgeschichtlichem Aspekt bedeutsam: „Das neunzehnte Jahrhundert – auch Kierkegaard und Marx – hat Hegel in dieser und keiner anderen Ausgabe gelesen; von ihr ging die weltweite Wirkung des Philosophen aus.“ (Ebd.) Editionstechnisch hingegen sei sie – wie die Folgeausgaben, die auf sie aufbauten (vgl. GW 1, VIII ff.) – überholt und mit dem nicht behebbaren Defizit belastet, den Prozess geschichtlichen Entstehens Hegel’schen Denkens systematisch auszublenden. Dadurch stelle sich der Eindruck des „Abgeschlossenen und Festgewordenen, Erstarrten“ (GW 1, VII) ein, der eine aktuelle Rezeption behindere. – In Bezug auf die veröffentlichten Schriften Hegels und seine überkommenen Manuskripte sind die GW mit dem Erscheinen des 22. Bandes inzwischen an ihr Ende gelangt. Damit ist aber „erst etwa die Hälfte des Gesamtwerks“ (GW 23/1, V) erschlossen. „Einen wichtigen Teil dieses Werks bilden ja die Vorlesungen, die Hegel, beginnend mit seiner Privatdozentur in Jena im Jahre 1801, sodann als Professor in Heidelberg von 1816 bis 1818 und vor allem in Berlin von 1818 bis zu seinem Tode 1831 gehalten hat. Diese Vorlesungen sind keine bloßen Paralipomena zu seinem ‚eigentlichen‘ Werk, auf deren Kenntnis sich auch verzichten ließe – oder auf die sogar besser verzichtet würde. Sie bilden vielmehr das Medium, in dem Hegel seine Philosophie ausgebildet hat.“ (Ebd.) Die Kenntnis von Kollegnachschriften ist gerade unter entwicklungsgeschichtlichen Aspekten unverzichtbar. Allerdings bleibt ein Authentizitätsvorbehalt, da es sich nicht um Texte von Hegels eigener Hand, sondern um Aufzeichnungen auf der Basis eines mündlichen Vortrags handelt. – Während die Prinzipien historisch-kritischer Textherstellung in der zweiten Hälfte der GW durchgängig erhalten geblieben sind, änderte sich die Darstellungsform, sofern die Edition der Vorlesungsnachschriften nicht mehr einer chronologischen, sondern der durch den enzyklopädischen Grundriss des Systems vorgegeben Anordnung der Disziplinen folgt, über die Hegel Kollegien gehalten hat: Vorlesungen über die Wissenschaft der Logik (GW 23), die Philosophie der Natur (GW 24), des subjektiven Geistes (GW 25), des Rechts (GW 26), der Weltgeschichte (GW 27), der Kunst (GW 28), der Religion (GW 29) sowie über die Geschichte der Philosophie (GW 30). Überlieferungsvermischungen aus unterschiedlichen Kollegjahrgängen schließt die Edition der Vorlesungen in GW 23–30 dezidiert aus. Als Leittext ediert wird für den einzelnen Kollegjahrgang jeweils „die auf Grund eines quellenkritischen Vergleichs sämtlicher Textzeugnisse als beste erkannte Nachschrift“ (GW 23/1, VII), der in einem Apparat überlieferungswerte Varianten aus anderen Nachschriften desselben Semesterkollegs beigegeben sind. Zum Verfahren der Edition der jeweiligen Leitnachschrift vgl. GW 23/1, VIII; zu den zentralen Aufgaben der Edition der Hegel’schen Vorlesungen vgl. W. Jaeschke, Eine neue Phase der Hegel-Edition, in: Hegel-Studien 36 (2001), 15–33. Ausführliche Berichte zu Nachschriften von Hegels Vorlesungen finden sich in Hegel-Studien 26 (1991), 11–119. Dass alle Kollegnachschriften jemals veröffentlicht sein werden, ist weder zu erwarten noch überhaupt wünschenswert (vgl. dazu W. Jaeschke, Die Kunst der Hegel-Edition, in: Hegel-Jahrbuch 35 [2000], 302–307). – Im Folgenden werden Hegels Texte und die Nachschriften seiner Vorlesungen, soweit möglich, nach GW zitiert. Sperrungen in Originaltexten werden in der Regel, Kursivierungen in Kollegnachschriften generell vernachlässigt, da sie lediglich Ergänzungen zu Wortabkürzungen markieren. Zu den Nachschriften von Hegels Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes sei auf die editorischen Anmerkungen in GW 25/3, 1211–1602 verwiesen. Sie bieten zwar keinen Kommentar, erschließen aber – meisterlich – eine Fülle von Material, das für jede ins Einzelne gehende Auslegung unverzichtbar ist.

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über die Naturphilosophie hin zur Philosophie des Geistes. Die erste Abteilung der Geistphilosophie ist dem subjektiven, die zweite dem objektiven, die dritte dem absoluten Geist gewidmet. Die Philosophie des absoluten Geistes umfasst Kunst, Religion und die philosophische Wissenschaft selbst, wie sie sich im Begriff des Absoluten vollendet, diejenige des objektiven Geistes Recht, Moralität und Sittlichkeit in Form von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat samt Staatengeschichte, diejenige des subjektiven Geistes die sog. Anthropologie als Lehre vom vorbewussten Leben der leibhaften Menschenseele, die sog. Phänomenologie des Geistes als Lehre von Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Vernunft und die sog. Psychologie als Lehre vom theoretischen, praktischen und freien Geist. Konzipiert war der enzyklopädische Systemgrundriss als Leitfaden zu Hegels philosophischen Vorlesungen. Der grundlegende erste Systemteil ist in Gestalt der „Wissenschaft der Logik“ und ihrer Lehre vom Sein und Wesen (objektive Logik) und der Lehre vom Begriff (subjektive Logik) monographisch ausgearbeitet und publiziert worden. Die „Philosophie des Rechts“ wurde zumindest in Grundlinien entwickelt und an die Öffentlichkeit gebracht. Bei der Philosophie des subjektiven Geistes war dies nicht der Fall. Zwar plante Hegel, wie erwähnt, ihre Explikation zu einem eigenständigen Werk; doch zur Durchführung dieses Plans ist er zeitlebens nicht gekommen. Primärquellen für den Erstkomplex der Geistphilosophie stellen daher nur die einschlägigen Enzyklopädieparagraphen (1. Aufl.: §§ 307–399 [GW 13, 183–223]; 2. und 3. Aufl.: §§ 387–481/2 [GW 19, 292–351; GW 20, 386–477]) und allenfalls noch, wenngleich unter Vorbehalt, die „Zusätze“ dar, die Ludwig (van) Boumann – Spross einer berühmten, aus Amsterdam stammenden Berliner Architektenfamilie und einer der Herausgeber der unmittelbar nach Hegels Tod begonnenen sog. Freundesvereinsausgabe – 1845 seiner Edition des dritten Bandes der „Enzyklopädie“ beigefügt hatte; zusammen mit Boumanns Vorwort, in dem dieser Rechenschaft über die Zusammenstellung der „Zusätze“ ablegt, ist der Text 1929 als zehnter Band der Glocknerausgabe (System der Philosophie. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes) neu herausgegeben worden.29

29 Vgl. G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Neu hg. v. H. Glockner, Zehnter Band: System der Philosophie. Dritter Teil. Die Philosophie des Geistes. Mit einem Vorwort von L. Boumann. Dritte Auflage der Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1958 (= SW X). Zur ersten Abteilung der Philosophie des Geistes „Der subjektive Geist“ vgl. SW X, 46–381. GW 25/2, 919–1117 finden sich die Zusätze von SW X, 46–381. Als „Urquellen“, wie er sagt (SW X, 2), verwendet Boumann Hegels eigene Kollegienhefte, die jedoch keine „zu festverbundenen Sätzen ausgearbeitete Entwicklung des Gegenstandes, sondern meistentheils nur allgemeine Umrisse und abgerissene Worte“ (ebd.) enthalten. Hinzu kommen fünf Nachschriften, wobei Boumann es nach eigenen Worten als seine Pflicht ansah, den eher rohen Stoff „in diejenige

Zur Textbasis der Untersuchung

Enzyklopädie und Kollegnachschriften Will man Näheres über die materialen Bestände und die Entwicklung von Hegels Philosophie des subjektiven Geistes erfahren, so ist man auf das Studium der Nachschriften von Vorlesungen verwiesen, die er wiederholt zum Thema gehalten hat.30 An der Berliner Universität las er insgesamt fünfmal zur Philosophie des subjektiven Geistes, allerdings niemals unter diesem Titel: in den Sommersemestern 1820, 1822 und 1825 sowie in den Wintersemestern 1827/28 und 1829/30. Die Ankündigung lautete zunächst nur „Anthropologie und Psychologie“, seit 1825 mit dem Zusatz versehen: „d. i. Philosophie des Geistes“. Im WS 1827/28 und 29/30 kehrt Hegel die Reihenfolge der beiden Titelbegriffe um, während die Systematik der Zweitauflage der Enzyklopädie von 1827, welche die Grundlage der Vorlesungen bildete, die Anordnung vorsieht: A. Anthropologie. Die Seele. – B. Die Phänomenologie des Geistes. Bewußtseyn – C. Psychologie. Der Geist. Um aus den genannten formalen Sachverhalten keine falschen inhaltlichen Schlüsse zu ziehen, muss als erstes bedacht werden, dass Hegel die Begriffe Anthropologie und Psychologie nicht in dem heute üblichen Sinne verwendet. Ihre genaue Bedeutung erhellt wie diejenige der Wendung „Phänomenologie des Geistes“, die einst nicht nur als künstlerische Form zu bringen, die auch von einem wissenschaftlichen Werke mit Recht gefordert wird“ (SW X, 3). 30 Die wichtigste Grundlage hierfür bietet der unlängst abgeschlossene Band 25 der Akademieausgabe (vgl. Hegels Gesammelte Werke. Katalog anlässlich des 31. Internationalen HegelKongresses 17.-20. Mai 2016 in Bochum, Hamburg 2016). Herausgegeben sind die drei Teilbände von GW 25 durch Johannes Bauer in den Jahren 2008, 2011 und 2016. GW 25/1 enthält Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1822 und 1825, GW 25/2 Nachschriften zu dem Kolleg des Wintersemesters 1827/28 und sekundäre Überlieferung. GW 25/3 beinhaltet neben einem Verzeichnis der verwendeten Zeichen, Siglen und Abkürzungen einen ausführlichen editorischen Bericht mit Hinweisen, erstens zur Entwicklungsgeschichte der Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes, welche wichtige Informationen zum Titel sowie zum Wandel von Aufbau und thematischem Gegenstandsbereich einschließlich entsprechender Modifikationen in den drei Enzyklopädieauflagen (vgl. GW 13, 183–223; GW 19, 292–351; GW 20,386–477) vermitteln, zweitens zur Quellenlage und zwar nicht nur bezüglich der edierten Nachschriften bzw. sonstiger Vortragszeugnisse, sondern auch zum einschlägigen handschriftlichen Nachlass Hegels und zu den Boumann’schen „Zusätzen“, schließlich drittens zu bisherigen Editionen wie z. B. derjenigen der Nachschriften von Erdmann und Walter zu dem Berliner Kolleg von 1827/28 durch F. Hespe und B. Tuschling (vgl. Hegel-Studien 26 [1991], 54–63). Knappe Angaben zur Methode der vorliegenden Ausgabe sind dem editorischen Bericht beigegeben. Es folgt der Anmerkungsteil, der den Editionsgrundsätzen gemäß zwar kein Kommentar sein will, sondern sich auf Zitatnachweise und auf Nachweise von textinternen Bezugnahmen oder Bezugnahmen auf andere Schriften beschränkt, aber nichtsdestoweniger eine Schatzgrube von aufschlussreichen und erhellenden Notizen darstellt. Ein Literaturverzeichnis zu Quellen – seien es Hegel’sche Werke oder Werke anderer Autoren – und zur Forschungsliteratur sowie ein Personenregister beschließen den Band GW 25/3.

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Bezeichnung eines Gliederungsabschnitts eines enzyklopädischen Systemteils, sondern als eigener Buchtitel fungierte, erst aus dem Kontext ihres jeweiligen Gebrauchs. Ihr Sinngehalt kommt den Termini nicht abgelöst von, sondern nur im terminologischen Gesamtzusammenhang zu, dessen Momente sie sind. Die hohe Flexibilität Hegels im Umgang mit einzelnen Begriffen erklärt sich im Wesentlichen aus dieser Einsicht. Von der letzten Vorlesung, die Hegel, ohne sie so zu betiteln, im WS 1829/30 zur Philosophie des subjektiven Geistes als dem ersten Teil der enzyklopädischen Geistphilosophie gehalten hat, ist keine Nachschrift überliefert. Vom vorletzten Kolleg des WS 1827/28 dagegen sind mehrere erhalten, u. a. die Nachschrift von Johann Eduard Erdmann, die mit zusätzlichem Material aus derjenigen von Ferdinand Walter im Jahr 1994 als Band 13 der Reihe der ausgewählten Nachschriften und Manuskripte zu Hegels Vorlesungen von F. Hespe und B. Tuchling veröffentlicht worden ist.31 In GW 25/2, 551–917 ist das Kolleg des WS 1827/28 zur Philosophie des subjektiven Geistes durch die Nachschrift Stolzenberg (vgl. GW 25/3, 1182f.) vertreten, die als Leittext fungiert und mit Varianten aus den Nachschriften J. E. Erdmann und F. Walter versehen ist. Was die drei vorangegangenen Berliner Vorlesungen zum Thema betrifft, so ist die erste vom SS 1820 (wie schon die Heidelberger vom Jahr 1817) durch keine Nachschrift dokumentiert. Für das Kolleg vom SS 1822 wird in GW 25/1, 1–144 die Nachschrift Heinrich Gustav Hothos (vgl. GW 25/3, 1160–1164) dargeboten, die hierzu als einzige erhalten ist, für dasjenige vom SS 1825 in GW 25/1, 145–544 die Nachschrift Karl Gustav Julius von Griesheims als Leittext mit Varianten von Friedrich Carl Hermann Victor von Kehler und Moritz Pinder. Als sekundäre Überlieferung beigegeben sind in GW 25/2, 919–1117 die „Zusätze“ aus dem dritten Teil (Die Philosophie des Geistes) der von Ludwig Boumann herausgegebenen Enzyklopädieausgabe Berlin 1845 (vgl. GW 25/3, 1203).32 Als deren Quellen fungierten nach Boumanns bereits erwähnten Angaben eigene, allerdings nur stichwortartig und in groben Umrissen ausgearbeitete Kollegienhefte Hegels sowie fünf vom Herausgeber kompilierte Vorlesungsnachschriften, 31 G. W. F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 13: Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/28. Nachgeschrieben von J. E. Erdmann und F. Walter. Hg. v. F. Hespe und B. Burkhard, Hamburg 1994. Über Charakter und Eigenart der beiden Nachschriften und ihrer Gehalte haben sich die beiden Herausgeber einleitend (vgl. IX–XXXVIII) ausführlich geäußert. Die Einleitung enthält ferner einen eingehenden Vergleich mit dem Text der Zweitauflage der Enzyklopädie, welche dem Kolleg zugrunde lag, und registriert die erkennbaren Fortentwicklungen in Richtung der Drittauflage und zwar unter Konzentration auf das Verständnis dessen, was Hegel „freier Geist“ nennt. Auch einige Beobachtungen zum Verhältnis des Kollegs vom WS 1827/28 zu vorhergehenden Vorlesungen zum Thema werden vorgetragen. 32 Zu berücksichtigen sind ferner die GW 25/3, 1155–1159 genannten Materialien sowie beispielsweise das Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes in GW 15, 207–249.

Zur Textbasis der Untersuchung

die heute bis auf eine verschollen sind; bei der erhaltenen handelt es sich um die erwähnte, in GW 25/1 nun authentisch und vollumfänglich präsentierte Nachschrift des späteren preußischen Generalmajors v. Griesheim, der Berliner Hörer Hegels und Mitarbeiter der „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik“ war.33 Das Heidelberger Kolleg von 1817 und die Berliner Vorlesungen von 1820, 1822 und 1825, die Hegel zur Philosophie des subjektiven Geistes vortrug, wenngleich er sie nie unter diesem Titel angekündigt hat, basieren auf der Erstauflage der Enzyklopädie, die beiden folgenden vom WS 1827/28 und 1829/30 auf der überarbeiteten und erheblich erweiterten Zweitauflage von 1827. Wenngleich Hegels Beschäftigung mit der Thematik „letztlich bis auf die Zeit am Tübinger Stift zurückgeht, wovon etwa das Manuskript zur Psychologie und Transzendentalphilosophie von 1794 zeugt“ (GW 25/3, 1139; vgl. GW 1, 165–192), und seine Tätigkeit in Jena und Nürnberg begleitete (vgl. im Einzelnen GW 25/3, 1139–1146), so wurde der Stoff der Philosophie des subjektiven Geistes „doch erst in Heidelberg in einer allein auf diese Disziplin konzentrierten Konzeption vorgetragen“ (GW 25/3, 1139), die dann in Grundzügen bis zur Drittauflage der Enzyklopädie von 1830 beibehalten wurde. Allerdings zeigen die zahlreichen Varianten in Anordnung und Explikation des Vorlesungsstoffs sowie die unterschiedlichen Verhältnisse, in denen Stoffumfang und Vortragszeit zueinander stehen, „daß Hegel die Gestalt, welche die Disziplin in der Encyklopädie von 1817 angenommen hatte, durchaus nicht als die letztgültige ansah“ (GW 25/3, 1148). Erfahrungsoffener Systemdenker Aufschlussreiche Zeugnisse zu den Vorarbeiten der Zweitauflage der Enzyklopädie enthalten die Kollegnachschriften von 1822 und 1825, Belege für die Genese der – allerdings wesentlich geringeren – Veränderungen in der Drittauflage lassen sich allein den Nachschriften der Vorlesung vom WS 1827/28 entnehmen, da von denjenigen des WS 1828/29 keine bekannt sind. Daneben und über einen Kommentar der einschlägigen Enzyklopädieparagraphen hinaus bieten die Vorlesungsnachschriften eine reiche Quelle vielfältiger Informationen zu den Materialien, die Hegel in seiner Lehre vom Menschen als subjektiver Geist

33 Alle erreichbaren Informationen zur jeweiligen Person des Nachschreibers finden sich neben einer ausführlichen Beschreibung der Quellen im editorischen Bericht GW 25/3, 1177–1202. Die Identität von Stolzenberg bleibt ungeklärt; bei J. E. Erdmann handelt es sich um den später selbst zu Berühmtheit gelangten Philosophiehistoriker, bei F. Walter um einen Hegelschüler und Freund Erdmanns, der ihm im Pfarramt im lettischen Wolmar (Valmiera) nachfolgte; später avancierte Walter zum lutherischen Bischof von Livland, wurde aber nach wenigen Jahren aus politischen Gründen seines Amtes enthoben.

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verarbeitet hat. Auch in ihr erweist er sich als ein Systemdenker, der keinen dogmatisch befangenen, sondern einen empirieorientierten und phänomenoffenen Umgang mit seinen Themen pflegt. Trifft dies zu, was der Fall ist, dann ergeben sich hieraus nicht nur weitere interessante Vergleichspotentiale in Bezug auf die Pannenberg’sche Anthropologie, sondern auch Möglichkeiten, die verbreitete Behauptung eines Fundamentalgegensatzes zwischen Hegels Denken und demjenigen der modernen Humanwissenschaften zu problematisieren. 1.4

System und Subjekt

Gemäß einer „apokryphe(n) Anekdote“34 soll Hegel auf Komplimente einer Berliner Dame geantwortet haben, was in seiner Philosophie von ihm stamme, sei falsch. Wie immer es um die Authentizität besagter Replik bestellt sein mag, zutreffend ist, dass Hegel die Philosophie, die mit seinem Namen verbunden wird, nie in dem Sinne seine eigene genannt hat, dass sein Individuum als ihr eigentlicher Schöpfer zu gelten hätte. Mit der wiederholten Rede von der Selbstbewegung des Begriffs hat er im Gegenteil die nach seinem Urteil grundsätzliche „Unabhängigkeit der zu erkennenden Idee von dem sie erkennenden Subject“35 namhaft gemacht. Philosophie, die ihren Namen verdient, versteht sich Hegels Auffassung zufolge entweder dergestalt von selbst, dass sie sich denkendem Denken, also prinzipiell jedem Denkenden erschließt, oder sie ist als ein eitles Produkt von Selbstgefälligkeit und Eigendünkel zu werten. Niemals kann nach Hegel ein Individuum als wahrheitsbegründendes Subjekt von Philosophie auftreten. Die Geltung eines philosophischen Systems ist von seiner historischen Genese zwar nicht einfachhin zu trennen, sofern die geschichtlichen Ursachen seiner Veranlassung nicht nur bedenkenswert, sondern notwendig zu bedenken sind. Dennoch erschöpft sich der Wahrheitsanspruch eines Denkens, das seinem Begriff entspricht, keineswegs in der Denkwürdigkeit seines individuellen und historischen Ansatzes. Der Autor und sein Werk Man kann nicht sagen, dass Individualität im Hegel’schen Denken keinen Platz habe, sondern in einer Allgemeinheit untergehe, dessen verschwindendes Moment sie sei. Zutreffend aber ist, dass ein Einzelsubjekt nach Hegel nicht zu 34 H. Schnädelbach, Philosophie als spekulative Wissenschaft (§§ 1–83), in: H. Drüe u. a., Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriss, Frankfurt a. M. 2000, 21–86, hier: 76. 35 K. Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, 323.

System und Subjekt

seiner – durchaus individuellen und singulären – Wahrheit gelangen kann, sofern und solange es sich dem Allgemeinen lediglich entgegensetzt. Seiner Bestimmung gemäß hat sich das Individuum in seiner Besonderheit mit dem Allgemeinen zusammenzuschließen, um gerade so seine singuläre Einzelheit zu realisieren. Nur wenn der individuelle Eigensinn zur Vernunft gebracht und zu einem Moment vernünftiger Selbstrealisierung herabgesetzt wird, erfüllt sich der Sinn von Individualität. Stellt sich der Einzelne hingegen gegen das Allgemeine, um unmittelbar auf sich selbst zu insistieren und die Unteilbarkeit seiner selbst abstrakt geltend zu machen, dann herrscht Willkür, und die Wahrheit vergeht im belanglosen Spiel bloßer Meinungen. Hegels Philosophie ist nicht antiindividuell. Wohl aber prangert sie einen Individualismus als nicht nur unphilosophisch, sondern als wahrheitswidrig an, der in der abstrakten Einheit arbiträrer Willkür und bloßer Meinung seine selbstgefällige Erfüllung sucht. Zwar ist der Einzelne dazu bestimmt, sich über die Natur und über die formlose Menge zu erheben, als welche die Menschheit naturanaloger Betrachtung erscheint. Der Einzelne ist keineswegs lediglich Gattungsexemplar, auch nicht bloßes Funktionsmoment sozialer Verhältnisse, sondern einzig in seiner Art und daher dazu ausersehen, aus der Masse herauszutreten und das zu vollziehen, was die „Phänomenologie des Geistes“ im Zusammenhang ihres Vernunftkapitels die Verwirklichung des Selbstbewusstseins durch sich selbst nennt.36 Aber seine Selbstrealisierung leistet das individuelle Subjekt nicht durch abstrakte Negation des Allgemeinen, sondern nur dadurch, dass es durch Aufhebung des Gegensatzes, in dem es sich zu diesem befindet, sich die Gestalt konkreter Einzelheit gibt. Hermeneutische Regel Das selbstgefällige Individuum, das Befriedigung allein in sich selbst sucht und zu finden meint, treibt, wie Hegel es drastisch ausdrückt, geistige, in Wahrheit geistlose, ja geistwidrige Unzucht mit sich selbst. Unter den geistesgeschichtlichen Erscheinungen seiner Zeit war ihm wenig mehr zuwider als der Geniekult, wie er nach seinem Urteil unter den Romantikern geübt wurde, die ihm in Jena räumlich nahe, im Geiste aber fern und fremd waren.37 Hermeneutisch 36 Zur allgemeinen Konzeption der Individualität und zur Besonderheit ihrer Weisen in Hegels Phänomenologie und in der Literatur der Zeit vgl. M. A. Werle, Literatur und Individualität. Zur Verwirklichung des Selbstbewusstseins durch sich selbst, in: K. Vieweg/W. Welsch (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt a. M. 2008, 350–368. 37 Vgl. dazu Ö. Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik, Bonn 1956; ferner etwa E. Hirsch, Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie. Ein Kommentar zu den Abschnitten über die Moralität, in: H. F. Fulda/D. Henrich (Hg.), Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt a. Main 1973, 245–275. Hirsch zeigt freilich auch, dass Hegels Verhältnis

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führt dies zu dem Schluss, dass Hegels Philosophie von Grund aus verkannt wird, wenn man sie als Produkt eines Genies missversteht, dessen Gedanken viel zu hoch sind, um durch Nachdenken erfasst werden zu können. Hegels Philosophie will nicht angestaunt, verhimmelt oder verteufelt, sondern durch Denken erschlossen werden; Denken ist das Medium, durch welches allein sie sich vermittelt. Der Genieanspruch ist nach Hegels Urteil nicht nur praktisch gewissenlos, sondern auch theoretisch ohne Halt, sofern er sich allgemeiner Einsichtnahme entzieht und, statt wissenschaftlichen Kriterien zu genügen, in obskurer Geheimlehre erschöpft. Der kryptische Geheimlehrer, der sich genial dünkt, scheut das Licht der Vernunft. Hegel hingegen versteht sich trotz aller Kritik, die er an ihrer historischen Erscheinung übt, als ein Repräsentant der Aufklärung, die keine andere Autorität duldet als diejenige, die der Vernunft selbst eigen ist. Wahrsager, selbsternannte bzw. durch Verehrer in Kultstatus erhobene Genies, Machthaber, die Gewalt und äußeres Vermögen mit Wahrheit verwechseln, Professoren und Professorinnen auch, die meinen, sich wissenschaftlich von Amts wegen im Recht zu befinden – all sie und viele mehr, die der Auffassung sind, es gebe bessere und schlagkräftigere Argumente als einen überzeugenden Gedanken, haben mit Philosophie im Hegel’schen Sinne nichts gemein. Man muss sie, mit Hegel zu reden, stehen lassen bzw. auf den Status herabsetzen, den ihnen die fortschreitende Vernunft zuweist: denjenigen eines zurückgebliebenen Bewusstseins. Gewonnene Einsicht will auf sich selbst angewandt sein. Im Falle der Hegel’schen Philosophie bedeutet dies, dass ihr Autor mit dem Geltungsgrund ihrer Wahrheit weder verwechselt werden will noch verwechselt werden darf. Hegel gehört, wenn man so will, in den Entdeckungs-, nicht in den Begründungszusammenhang der Philosophie, die er vertritt. Ihre philosophische Geltung geht daher ihrem Anspruch gemäß nicht in ihrer Genese auf. Dies heißt u. a., dass der Verweis auf den Tod eines Autors, auf die Vergangenheit seiner Gegenwart und auf den seither erfolgten Fortgang der Zeiten kein ernsthaftes Argument gegen die Wahrheit seines Denkens ist. Anderes zu behaupten, wäre zynisch und Ausgeburt jener geistwidrigen Maxime, wonach alles Entstehende wert sei, dass es zugrunde gehe. Dieser Grundsatz hat in der Sphäre der Natur ein momentanes Recht, erweist sich aber als verkehrt und böse, wenn er totalisiert und mit dem Schein der Vernunft umgeben wird. Es mag gute Gründe geben, über die Hegel’sche Philosophie hinauszugehen. Doch der bloße, vermeintlich kritische Verweis auf ihre Zugehörigkeit zu einem vergangenen

zur Romantik nicht nur polemisch war, sofern seine Auseinandersetzung mit ihr seinen Begriff individuellen Selbstseins schärfte.

System und Subjekt

Zeitalter ist mitnichten bereits ein solcher Gedankenfortschritt, sondern im Gegenteil ein Rückschritt, der das erreichte gedankliche Niveau unterbietet. Will man sich, wie von ihr selbst hermeneutisch gefordert, in den Umkreis der Stärke der Hegel’schen Philosophie stellen, dann wird man sie systematisch zu verstehen und nicht lediglich historisch und philosophiegeschichtlich zu erklären haben. Philosophiegeschichtliches Wissen ist für philosophisches Denken unentbehrlich. Aber die Philosophiegeschichte ist der Tod der Philosophie, wenn sie philosophisches Denken durch historisches Räsonieren zu ersetzen trachtet. „Es gibt wenig Tristeres“, schreibt Vittorio Hösle, ein Hegelkenner unserer Tage, „als den Forscher, der Berge von Wissen über Philosopheme der Vergangenheit anhäuft, aber sich von keinem von ihnen zu einer eigenen Stellungnahme zu einer philosophischen Sachfrage bewegen lässt. Immerhin zeigt die Gereiztheit, mit der er auf die Frage ‚cui bono?’ bezüglich seiner Arbeit reagiert, daß er sich der Widersprüchlichkeit seines Unternehmens letztlich bewußt ist. Als Indiz eines letzten Restes eigenen Lebens ist jene Gereiztheit etwas, was ihn ehrt.“38 Historismus und Skeptizismus Der Historismus, der nach vormaligen Krisen seit geraumer Zeit fröhliche Urstände feiert und in der Theologie ebenso wie in der Philosophie weithin die akademische Szene beherrscht, ist derjenigen Bewusstseinsgestalt eng verwandt, die Hegel in seiner „Phänomenologie des Geistes“ als Skeptizismus beschreibt. Bei diesem handelt es sich um eine hochentwickelte Denkform, die für den Gang des Denkens unverzichtbar ist. Nicht von ungefähr hat Hegel die phänomenologische Methode, die er verfolgt, als fortschreitenden Skeptizismus beschrieben, ohne freilich deshalb die Eigentümlichkeit skeptischen Bewusstseins zum Wesen der Philosophie zu erklären. Skeptizismus gehört wesentlich zur Philosophie, aber seinem spezifischen Begriff nach als aufzuhebendes Moment. „Er vollzieht die Negation alles Gegenständlichen sowie des Verhaltens, das den Gegenstand als unveränderliche, ansichseiende Gegenständlichkeit ansieht. Der Skeptizismus ist also Gedanke und Verhalten zugleich, und was von ihm verwirklicht wird, ist das negative Wesen des Denkens.“39 38 V. Hösle, Nach dem absoluten Wissen. Welche Erfahrungen des nachhegelschen Bewußtseins muß die Philosophie begreifen, bevor sie wieder absolutes Wissen einfordern kann?, in: K. Vieweg/W. Welsch (Hg.), a.a.O., 627–654, hier: 644f. 39 E. Csikós, Zu Hegels Interpretation des Skeptizismus, in: a.a.O., 270–285, hier: 270. „Zur Bedeutung des Skeptizismus beim jungen Hegel“ vgl. den gleichnamigen Beitrag von H. Buchner in: H.-G. Gadamer (Hg.), Hegel-Tage in Urbino 1965. Vorträge, Bonn 1969, 49–56. Als Vorstufe und Moment der Hegel’schen Dialektik ist der Skeptizismus thematisiert in: G. Maluschke, Kritik und absolute Methode in Hegels Dialektik, Bonn 1974, 19ff. Auf die Dioskurenpaarung von Skeptizismus und Stoizismus sowie auf das „unglückliche Bewußtsein“,

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Was ist der Mensch?

Denken heißt Negieren, und das Bewusstsein, Negationsfähigkeit überhaupt zu sein, gehört konstitutiv zu einem Wissen, das um sich weiß. Selbstbewusste Subjektivität weiss, dass alles unter der Bedingung steht, von ihr gewusst werden zu können. Ihre Bewusstseinsgegenstände verlieren daher ihre opake Objektivität, verflüssigen sich und werden auf ihre Subjektrelativität hin durchschaut. Der Historismus teilt mit dem Skeptizismus das Bewusstsein allgemeiner Subjektrelativität und kann einsichtig machen, dass alles geschichtlich Gegebene nicht unbedingt, sondern vielfältig bedingt und plural verfasst und insofern nicht absolut, sondern relativ ist. Er enttotalisiert so die Geschichte und alles, was ihr zugehört. Darin ist er der erklärte Gegner jeder metaphysisch aufs Ganze gehenden Geschichtsphilosophie und -theologie, von der sich emanzipiert zu haben sein eigentümliches Wesen ausmacht. An der historischen Genese des Historismus lässt sich diese These unschwer plausibilisieren. Leicht einsehen lässt sich ferner, dass der Historismus alle bloß naturalistischen Formen der Weltbetrachtung hinter sich gelassen hat. Weit davon entfernt, die Enttotalisierung der Geschichte durch eine Totalisierung der Natur zu kompensieren, gilt ihm jede natürliche Wahrnehmung als geschichtlich vermittelt und darin ebenso als subjektrelativ. Man wird nicht bestreiten können, dass der skeptische Historismus mit dieser Annahme grundsätzlich im Recht und jeder naturalistischen und geschichtsmetaphysischen Denkungsart überlegen ist. Diese stellen im Vergleich zum Historismus bzw. unter den Denkbedingungen, die mit ihm erreicht sind, eine Regression dar. Absoluter Relativismus Das gedankliche Problem von Skeptizismus und Historismus besteht nicht in der antitotalitären Tendenz, Natur und Geschichte ihren Anspruch auf Absolutheit zu bestreiten, sondern in der Gefahr, durch Verabsolutierung jenen Relativismus, dem alles als bedingt und nichts als unbedingt gilt, an sich selbst zu totalisieren. Überwunden werden kann diese Gefahr, die der skeptischhistoristischen Denkungsart nicht von außen, sondern von ihr selbst her droht, nur dadurch, dass das Prinzip der Negation, das sie bestimmt, auf es selbst angewendet wird, damit es selbstreferentielle Form annimmt. Nur durch die Krise hindurch kann sich die Wahrheit von Skeptizismus und Historismus in konstruktiver Weise erfüllen. Beiden – miteinander eng verwandten – Bewusstseinsgestalten muss, wenn man so will, die Selbstverständlichkeit vergehen, mit der sie sich zu verwirklichen gewohnt sind. Denn nachgerade diese Selbst-

welches beide charakterisiert, wird im Zusammenhang des Wegs des sich wissenden Ich zur Vernunft gemäß der Phänomenologie von 1807 sowie im Zusammenhang der Theorie der Religions- und Weltgeschichte zurückzukommen sein.

System und Subjekt

verständlichkeit ist der blinde Fleck ihres Selbstverständnisses, den es sowohl historisch als auch systematisch aufzuklären gilt. Hegels Philosophie ist ein geistesgeschichtliches Phänomen, das ohne historische, namentlich philosophiehistorische Kenntnisse nicht angemessen zu verstehen ist. Ihrem Selbstverständnis nach bringt sie den Geist ihrer Zeit auf den Begriff. Das Bewusstsein ihrer eigenen Geschichtlichkeit ist ihr sonach nicht äußerlich. Gleichwohl verbindet sich mit ihrem Denken der Anspruch, nicht in einer historischen Bewusstseinsgestalt aufzugehen, sondern über deren Schranken hinauszuweisen, damit in der Zeit das Ewige aufscheine und unter den Bedingungen des Endlichen das Unendliche und Unbedingte sich zu erkennen gebe. Hegels Philosophie erhebt sich vom Endlichen zum Unendlichen, wobei sie das Sicherheben zugleich als ein Erhobenwerden versteht. Ihre Vollendung sucht sie als Theorie des Absoluten zu erreichen, um so ihrem eigenen Anspruch nach philosophische Theologie zu sein. Nicht zuletzt dieser Anspruch hat ein Recht darauf, wissenschaftlich ernst genommen, statt lediglich registriert oder vorweg als verstiegen abgewiesen zu werden. Bei Pannenberg findet sich ein entsprechender Ernst; er zollt Hegels Denken Respekt noch dort, wo er ihm die Gefolgschaft versagt.

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2.

Der Begriff als Vorgriff

Zu Pannenbergs Hegelrezeption

2.1

Stuttgarter Hegel-Jubiläumskongress 1970

Anlässlich der zweihundertjährigen Wiederkehr von Hegels Geburtstag versammelte sich vom 12. bis 15. Juli 1970 in seiner Heimatstadt Stuttgart unter der Leitung Hans-Georg Gadamers „die crême de la crême der damaligen nichtanalytischen Philosophie“1 zu einem großen wissenschaftlichen Kongress. Als Veranstalter fungierten neben der württembergischen Landeshauptstadt die Heidelberger Akademie der Wissenschaften und die Internationale Vereinigung zur Förderung des Studiums der Hegel’schen Philosophie. Neben den Hauptvorträgen, die Karl Löwith (Philosophische Weltgeschichte?), Dieter Henrich (Hegel und Hölderlin), Hans Mayer (Hegels „Herr und Knecht“ in der modernen Literatur [Hofmannsthal-Brecht-Beckett]) und Otto Pöggeler (Perspektiven der Hegelforschung) hielten, fanden sieben Kolloquien zu Themenkreisen Hegel’schen Denkens und seiner Wirkungsgeschichte statt: Naturwissenschaften, philosophische Spekulation und christliche Theologie, Kunstphilosophie und Gegenwart der Künste, politische Philosophie, Marxistische Theorie, Neukantianismus und Phänomenologie sowie Philosophie der Wissenschaft. Wolfhart Pannenberg hielt das Grundsatzreferat in der zweiten Sektion, die von Michael Theunissen geleitet wurde; das Thema lautete: „Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels“. Als Korreferent sprach Adrian Peperzak (Hegels Philosophie der Religion und die Erfahrung des christlichen Glaubens); Martin Puder lieferte einen Diskussionsbeitrag zu Pannenbergs Referat. Die meisten Kongresstexte sind mit Ausnahme der Erörterungen zur Wissenschaftsphilosophie und eines Beitrags von Herbert Marcuse zur gesellschaftskritischen Zeitdiagnose von H.-G. Gadamer im Beiheft 11 der Hegel-Studien herausgegeben worden (Bonn 1974).

1 J. Rohls, Pannenberg und Hegel: Anknüpfung und Widerspruch, in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung (Pannenberg-Studien Bd. 1), Göttingen 2015, 177–202, hier: 178. In den mittlerweile sechs Bänden, die in der Reihe der Pannenberg-Studien erschienen sind, bin ich mit zahlreichen Beiträgen vertreten, die Informationen und Analysen zu Inhalt und Genese der Pannenberg’schen Werke enthalten, die, wie ich denke, auch in anthropologischer Hinsicht von Interesse sind; deshalb sei an dieser Stelle pauschal auf sie verwiesen.

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Der Begriff als Vorgriff

Programmatischer Vortrag In seiner editorischen Einführung zum Kongressband hat Gadamer eigens erläutert, warum die Verhandlungen „mit den Naturwissenschaften und der Theologie begannen“2 : Es „hieß, den Stier bei den Hörnern packen. Denn nirgends sind die Vorurteile gegen Hegel so mächtig, wie in diesen beiden Hinsichten.“3 Hegels Naturphilosophie gelte nach erfolgter empirischer Wende und fortgeschrittener Spezialisierung der Naturwissenschaften als überholt, die dogmatische Rechtgläubigkeit seiner Religionsphilosophie sei theologisch nach wie vor zweifelhaft und umstritten. So war zu fragen, „wie weit der Hegel’sche Versuch, die christlichen Wahrheiten auf den philosophischen Begriff zu bringen, mit dem Inhalt des Christentums und dem Anspruch der christlichen Offenbarung vereinbar ist – und wie weit es dennoch unvermeidlich bleibt, in die Rechenschaftsgabe der Theologie den Anspruch des philosophischen Begriffs einzulassen“4 . W. Pannenberg hat sich dieser Aufgabe gestellt und die von Gadamer aufgeworfene Frage zu beantworten versucht. Im Unterschied zu seinem Korreferenten, nach dessen Urteil „die von Hegel entwickelte Form des Begreifens eine adäquate Darstellung des christlichen Glaubens“5 unmöglich mache, da ihr Denkmodus „der Position des Glaubens wesentlich entgegengesetzt“6 sei, wertet Pannenberg Hegels Philosophie als sehr förderlich und ist darum bemüht, traditionelle Vorurteile der Theologie abzubauen und als unhaltbar zu erweisen.7 Den Ausgangspunkt von Pannenbergs Überlegungen bildet der „Dualismus von kirchlichem Christentum und moderner Lebenswelt“ (79) infolge der Spaltung der westlichen Christenheit im 16. Jahrhundert, der „das Problembewusstsein Hegels seit den Jahren seines Tübinger Theologiestudiums geprägt“ (ebd.) und seine Konzentration auf die religiöse Problematik motiviert habe. Diese zu bedenken schien ihm für eine Lösung der Probleme der modernen 2 H.-G. Gadamer, Zur Einführung, in: ders. (Hg.), Stuttgarter Hegel-Tage 1970. Vorträge und Kolloquien des Internationalen Hegel-Jubiläumskongresses. Hegel 1770–1790: Gesellschaft, Wissenschaft, Philosophie, Bonn 1974 (Hegel-Studien, Beiheft 11), IX–XV, hier: XII. 3 Ebd. 4 Ebd. 5 A. Peperzak, Hegels Philosophie der Religion und die Erfahrung des christlichen Glaubens. Korreferat zu Pannenbergs Vortrag: Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels, in: a.a.O., 203–213, hier: 203. 6 A.a.O., 207. Auch M. Puder beurteilt in seinem Diskussionsbeitrag zu Pannenbergs Referat (215–218) das Bestreben Hegels, „den Glauben mit dem Wissen in inneren Einklang zu bringen“ (216f.), skeptisch, wenngleich aus anderen Motiven wie Peperzak. 7 Neben dem Kongressband (175–202) und einem französischsprachigen Vorabdruck (Archives de Philosophie 33 [1970/71], 755–786) ist Pannenbergs Vortrag in dem Sammelband „Gottesgedanke und menschliche Freiheit“ (Göttingen 1972, 78–113) veröffentlicht worden. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Gesellschaft und ihres Streben nach politischer Emanzipation unerlässlich zu sein. Pannenberg belegt dies an Hegels Jugendschriften, an seinen frühen Kantkritiken sowie an späteren Äußerungen, denen zufolge das Prinzip der Freiheit, welches den Staat und alle Bereiche des Gemeinwesens durchdringen solle, mit dem Christentum in die Welt gekommen sei und ohne christliche Religion weder im individuellen noch im sozialen Bereich realisiert werden könne. Mit der Inkarnation Gottes in Jesus Christus sei menschliche Teilhabe an Gott und Partizipation an göttlicher Freiheit gestiftet sowie der Ungeist der Zertrennung von Gottheit und Menschheit im Geist der Versöhnung behoben. Dies und damit die Kernaussage des Christentums in Gedanken zu fassen habe Hegel als die vornehmste Aufgabe der Philosophie erachtet. Die Freiheit des modernen Bewusstseins und seiner politischen Verfassung könne nicht ohne Einsicht in die Wahrheit des menschgewordenen Gottes und seiner Selbstoffenbarung bestehen, wie sie in Jesus Christus in der Kraft des Geistes erschlossen sei. Statt angesichts aufklärerischer Religionskritik den Rückzug in die Innerlichkeit des frommen Gemüts anzutreten, habe das Christentum seine gottmenschliche Wahrheit in begrifflicher Form und in der Allgemeinheit des Gedankens zu fassen, um so der Kritik der Aufklärung überzeugend zu begegnen. Dies zu leisten sei nach Hegel die Grundaufgabe der Philosophie. Ihr erkenne er mithin „in der durch die Aufklärung heraufgekommenen Situation des neuzeitlichen Geistes eine Aufgabe von weltgeschichtlichem Format“ (93) zu, ohne damit notwendigerweise den Anspruch zu verbinden, Religion durch Philosophie zu ersetzen. Wider den Pantheismusvorwurf Nach Pannenbergs Urteil hat „[w]ohl keiner der großen Denker der Neuzeit […] so viel wie Hegel getan, um die christliche Religion wieder auf ihren gegen die Aufklärung verlorenen Thron zu setzen“ (ebd.): „Man sollte meinen, daß die christliche Theologie Grund genug gehabt hätte, die Philosophie Hegels als Rettung aus ihrer bedrängten Lage zu begrüßen, als Befreiung von den Angriffen der Verstandeskritik auf die Substanz des christlichen Glaubens und von dem Zwang, ihre Zuflucht vor diesen Angriffen in einer inhaltslosen Innerlichkeit zu suchen.“ (Ebd.) Doch stattdessen sei sie mit Kritik und pauschalen Vorwürfen überzogen worden, wobei der Pantheismusvorwurf der theologisch wirksamste gewesen sei. Mit ihm setzt sich Pannenberg unter Bezug vor allem auf den Erweckungstheologen F.A.G. Tholuck und seinen „philosophisch gebildetere(n) und differenzierter denkende(n) Freund“ (104) Julius Müller auseinander, um seine Unhaltbarkeit zu erweisen. Von einer Gleichsetzung Gottes beziehungsweise des göttlichen Logos mit der Welt könne in Hegels Philosophie nicht die Rede sein. Er differenziere unter Aufnahme der trini-

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tätstheologischen Tradition explizit zwischen einem gottinternen und einem gottexternen Anderssein. „Wer diese ausdrücklichen Differenzierungen Hegels berücksichtigt, der kann nicht bestreiten, daß Hegel die innertrinitarische Bewegung Gottes und den Weltprozeß unterschieden hat. Den einzigen Vorwurf, den man an diesem Punkte mit Recht gegen Hegel erheben kann, ist, daß bei ihm das innere Leben des trinitarischen Gottes mit logischer Notwendigkeit zur Hervorbringung der Welt führt, mit der Notwendigkeit nämlich, derzufolge das in Gott gesetzte Anderssein sein Recht, nämlich das Recht der Verschiedenheit erhalten muß.“ (99) Doch sei, um auch in dieser Hinsicht nicht zu vorschnellen Urteilen zu gelangen, der Zusammenhang von Freiheit und Notwendigkeit und die Tatsache zu bedenken, dass nach Hegel die Welt keineswegs als Emanation, sondern als durch göttlichen Willen gesetztes Werk aus dem Wesen Gottes hervorgehe. Mit dem Pantheismusvorwurf weist Pannenberg zugleich den Verdacht als unangemessen zurück, Hegel habe den Gedanken der Persönlichkeit Gottes negiert. Davon könne in seinem Denken ebenso wenig die Rede sein wie von einer Gleichschaltung von Schöpfer und Schöpfung. Es sei im Gegenteil so, dass Hegel durch den trinitarisch vermittelten Gedanken des Selbstseins im Anderen zu einem erneuerten Verständnis des Personalen durchgedrungen sein. Person ist nicht das unmittelbar auf sich selbst insistierende Individuum, sondern ein Subjekt, dass sich im anderen seiner selbst zu explizieren und auf differenzvermittelte Weise bei sich zu sein vermöge. Zwar könne man zweifeln, ob es Hegel gelungen sei, das Anderssein des anderen, in dem sich das Ich als Personsubjekt expliziere, wirklich als Anderssein zu denken, wie denn auch Anfragen bezüglich des Verhältnisses von Freiheit und Notwendigkeit in der Gott-Welt-Relation nicht einfach abwegig seien. Doch warnt Pannenberg nachdrücklich vor „Konsequenzmacherei“ (106), für die der gegen Hegel vonseiten der Theologie vorgebrachte Pantheismusverdacht ein besonders abschreckendes Beispiel biete. Unvorgreifliche Freiheit Seine Warnung von konsequenzmacherischen Pauschalvorwürfen hindert Pannenberg nicht, selbst theologische Kritik an Hegel zu üben. Sie setzt auf ihre Weise bei der Frage nach dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit im geistigen Leben Gottes an, um zu der These fortzuschreiten, die Freiheit lasse sich nicht auf die Logizität des Begriffs festlegen, der „nicht die höchste Form des Gedankens“ (108) sei. Nur wenn eine solche Festlegung vermieden werde, könne dem Kontingenzmoment und dem Moment der Unmittelbarkeit in der der Gottheit Gottes mit Wesensnotwendigkeit eignenden Freiheit und zugleich der Tatsache von Singulärem und Individuellem Rechnung getragen

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werden, welches nicht mit Notwendigkeit auf den Begriff zu bringen sei. Als die „einzig ernsthafte Alternative“ (109f.) zum begrifflichen Ansatz der philosophischen Theologie Hegels, die das Wesen Gottes als notwendige Grundlage seiner Freiheit denke, erscheint Pannenberg der antizipatorische Vorgriff auf Gottes absolute Zukunft, um aus ihr heraus das göttliche Wesen selbst zu verstehen. „Nur als absolute Zukunft der Freiheit ließe sich Freiheit denken, die nicht der Notwendigkeit einer vorgängigen Wesensnatur unterliegt.“ (110) Zugleich habe zu gelten, dass absolute Zukunft zum Wesen der Freiheit gehört, „weil absolute Freiheit keine Zukunft außer sich selbst hat und so ihre eigene Zukunft ist“ (ebd. Anm. 93). Nach Pannenbergs Einschätzung bildet die „Herabsetzung des Begriffs zum Vorgriff “ (111 Anm. 96), mit der dem kontingenten, formellen Moment im Akt der Freiheit (vgl. 110 Anm. 94) und mit dem Moment des Zufälligen dem „Pluralismus der individuellen Realisierung der Freiheit“ (110)8 , dem „selbstständige(n) Recht des Historischen gegenüber der logischen Form des Begriffs“ (ebd.) und der „Unabgeschlossenheit alles vergangenen und gegenwärtigen Wesens“ (ebd.) sowie seiner „Verwiesenheit auf eine noch offene Zukunft“ (ebd.) Geltung verschafft werden soll, „nicht etwa nur eine äußerlich gegen das Denken Hegels vorzubringende Antithese. Vielmehr erweisen sich“, so Pannenberg, „die Hegel’schen Gedankenbestimmungen in ihrer dialektischen Natur an ihnen selbst als antizipatorisch“ (111 Anm. 98).9 Mit diesem Satz ist eine hermeneutische Grundregel sowohl für Pannenbergs Hegelrezeption als auch für einen möglichen Vergleich zwischen seiner und Hegels Lehre vom

8 Die durch die Endlichkeit menschlicher Erkenntnis und Bewusstseinsbildung bedingte Perspektivität (vgl. J. Kunath, „Sein beim Anderen“. Der Begriff der Perspektive in der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Münster/Hamburg/London 2002) aller, auch theologischer Auffassungen hat, wie Pannenberg in einem Vorwort zur genannten Schrift eigens betont, zwar eine Pluralität der Perspektiven, nicht aber einen prinzipiellen Pluralismus zur Folge, der „den Anspruch auf Wahrheit, im Falle der Theologie sogar Wahrheit in Bezug auf das Ganze der Wirklichkeit“ (a.a.O., 9), ausschließt. Das Gegenteil sei der Fall und zwar unbeschadet der Tatsache, dass der Gegenstand der Theologie „unter den Bedingungen der noch nicht abgeschlossenen Geschichte nur vorläufig und antizipatorisch erfasst werden kann“ (ebd.). 9 Nach Pannenberg „läßt sich an der Gedankenentwicklung der ‚Wissenschaft der Logik‘ zeigen, daß die logischen Bestimmungen die am Schluß der ‚Phänomenologie des Geistes‘ gewonnene Idee des absoluten Wissens oder der Wahrheit als Identität von Subjekt und Objekt inhaltlich formulieren, sie jedoch dabei nicht einholen und gerade so über sich hinaustreiben. In der Weise wie das absolute Wissen unmittelbar auftritt – als Sein – hat es noch nicht seine adäquate Gestalt gefunden, und diese Inadäquanz wird der Reflexion auf das in jener anfänglichen Bestimmung faktisch ‚Gesetzte‘ offenbar. Damit wird der Weg frei für eine neue Formel des absoluten Wissens, die sich ihrerseits der Reflexion auf das in ihr Gesetzte als bloße Antizipation enthüllen wird, die wieder über sich hinaustreibt.“ (W. Pannenberg, Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels, in: ders., Gottesgedanke und menschliche Freiheit, 111f. Anm. 96)

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Menschen formuliert, die den Denkungsarten beider gerecht zu werden verspricht. Methodische Leitfrage muss sein, ob der Hegel’sche Begriff des Begriffs mit dem Pannenberg’schen Verständnis des Begriffs als Vorgriff überhaupt kompatibel ist. Dies trifft, so die heuristische Annahme, für den Fall zu, dass das im Werden begriffene Sein und Wesen des Menschen nicht lediglich formal, sondern in konkreter, inhaltlich bestimmter Weise gedacht wird, wie sowohl von Pannenberg als auch von Hegel gefordert und beansprucht. Pannenbergs eingehende Beschäftigung mit Hegel lässt sich zurückverfolgen bis in seine Heidelberger Studienjahre. Schon zeitig hat seine Interpretation in Konstruktion und Kritik klare Konturen angenommen. Der Theologe schätzt den Philosophen so hoch wie kaum einen anderen Denker der Neuzeit, auch wenn er von Anbeginn mit Kritik nicht zurückhält. Bereits dem jungen Pannenberg ist es zweifelhaft, „ob Geist und Gedanke wirklich ihre höchste Gestalt im Begriff und in der Idee als realisiertem Begriff finden und ob der Begriff schon Subjekt und subjektive Freiheit nur Begriff ist“ (111). Freiheit ist „unvorgreiflich“ (ebd.), jedenfalls dann, wenn es sich um die Freiheit göttlichen Lebens, göttlicher Liebe und göttlichen Geistes handelt, welche Mensch und Welt über sich hinausführt und im Jenseits ihrer selbst zu sich finden lässt: Diese „übersteigt alle vorgegebenen Identitäten, und die Identität, die sie selbst hervorbringt, ist zwar ihr Ausdruck, aber nie schon ihr voller Begriff, so daß sie auch nicht eingeholt werden kann durch den Begriff. Aller Begriff bleibt hier bloßer Vorgriff.“ (Ebd.)10 2.2

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Die kritisch, aber unter Berufung auf das tatsächliche Verfahren seiner Gedankenentwicklung gegen Hegel geltend gemachte These, dass der Begriff Vorgriff und die Religion, zu deren Vorstellungen – jedenfalls im Christentum – historisch Kontingentes und Singuläres unveräußerlich hinzugehöre, „nicht unverkürzt auf die Identität des Begriffs (zu) bringen“ (112) und mithin begrifflich unaufhebbar sei, findet sich nicht erst in dem Vortrag, den Pannenberg am 14. Juli 1970 anlässlich des Stuttgarter Hegelkongresses gehalten hat; sie 10 Die Herabsetzung des Begriffs zum Vorgriff verbindet sich bei Pannenberg mit der Annahme, dass Religion nicht definitiv auf den Begriff zu bringen sei. Die Aufhebung religiöser Vorstellung in absolutes Begreifen, wie Hegel sie fordere, könne philosophisch nicht geleistet werden, weil Philosophie dem endlichen Bewusstsein verbunden bleibe und ihre Bestimmungen sich „letztlich als Vorgriff auf diejenige Wahrheit (erweisen), die in der Geschichte der Religion thematisch“ (a.a.O.,111f. Anm. 96) werde. Diese Einsicht ergibt sich nach Pannenberg aus einer Reflexion auf die „Implikationen der gesetzten Bestimmungen und des Verfahrens ihrer Entwicklung“ (ebd.).

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begegnet strukturanalog bereits in früheren Jahren, stets verbunden mit einer expliziten Hochschätzung des Philosophen. Zum Beleg sei beispielsweise auf diverse Vorarbeiten zu Kollegien über die „Theologie der Vernunft“ verwiesen, die Pannenberg im WS 1963/64 und SS 1967 an der Evangelisch-Theologischen zu Mainz und dann im SS 1969 in München in modifizierter Form erneut angeboten hat.11 Analog argumentiert er in dem Vortrag „Glaube und Vernunft“, der in den Jahren 1965 und 1966 vor den theologischen Fachschaften in Marburg und in Hamburg gehalten und im ersten Band der gesammelten Aufsätze zu „Grundfragen Systematischer Theologie“ veröffentlicht worden ist.12 Die für den Druck überarbeitete Einleitung schließt teilweise wörtlich an das Mainzer Vorlesungsmanuskript zur „Theologie der Vernunft“ an und bietet einen weiteren direkten Beleg für die zeitig ausgebildete Anlage der Hegelrezeption und -kritik Pannenbergs; als indirekte Zeugnisse hierfür können die unter seiner Anleitung angefertigten Dissertationen zum Thema angeführt werden. Die Zukunft der Versöhnung Zwei der insgesamt vier Dissertationen, die auf Anregung Pannenbergs hin während seiner 1961 beginnenden Lehrtätigkeit an der Johannes Gutenberg11 Vgl. G. Wenz, Theologie der Vernunft. Zum unveröffentlichten Manuskript einer Münchner Vorlesung Wolfhart Pannenbergs vom Sommersemester 1969, in: JHMTh/ZNThG19 (2012), 269–292. In der Typologie des Vernunftverständnisses, die Pannenberg in seiner Vorlesung entwickelt, wird Hegels Denken – im Mittelpunkt des ersten Kollegs steht ein ausführlicher Kommentar zur „Phänomenologie des Geistes“ – dem Typ reflektierender Vernunft zugeordnet, auf den nur noch derjenige der sog. geschichtlichen Vernunft folgt. Zum Verhältnis reflektierender Vernunft zu dem, was Hegel Reflexionsphilosophie nennt, vgl. a.a.O., 281ff., wo Pannenbergs Hegelverständnis in Grundzügen entwickelt wird. Schon damals beurteilte er die Annahme einer dialektischen Selbstvollendung des Begriffs im absoluten Wissen als abwegig, weil sie unterschlage, dass jeder Begriff des Absoluten stets nur Vorgriff, proleptische Antizipation des im Begriff zu Begreifenden sein könne. Um von diesem Abweg ferngehalten zu werden, bedürfe die Vernunft der Religion, die sie weder theoretisch noch praktisch substituieren könne: Die Religion verschafft der Vernunft einen Begriff einer in allem Begreifen vorausgesetzten und unbehebbaren Unbegreiflichkeit ihres Sinngrundes und hindert sie dadurch, sich zu totalisieren und sich in verkehrter Weise in sich zu verschließen. Die Religion bewahrt der Vernunft ihre Offenheit und weist sie in die Geschichte ein, die sie auch und gerade dann nicht hinter sich lassen kann, wenn sie sie zu verstehen sucht. Zur Vernünftigkeit geschichtlicher Vernunft in Bezug auf Sprache, Wissenschaft, Glaube etc. wie sie Pannenberg im zweiten Teil seiner Vorlesung entwickelt, vgl. 287ff. – Es bleibt eine Aufgabe künftiger Forschung, Pannenbergs Hegel-Rezeption „in direkter Auseinandersetzung mit den systematischen Hauptwerken Hegels“ (Chr. Glimpel, Gottesgedanke und autonome Vernunft. Eine kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2007, 22) zu durchleuchten; sie ist durch die vorliegende Arbeit, die eine andere Zielrichtung verfolgt, keineswegs abschließend bewältigt. 12 W. Pannenberg, Glaube und Vernunft, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 237–251.

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Universität erarbeitet wurden13 , sind signifikanterweise dem Denken Hegels gewidmet. Traugott Koch, dessen Rigorosum im Dezember 1964 stattfand, interpretierte Hegels Theologie nach Maßgabe der „Wissenschaft der Logik“14 , Peter Cornehl, dessen Promotionsverfahren im Juli 1966 zum Abschluss kam, untersuchte die Eschatologie in der deutschen Aufklärung bei Hegel und in der Hegel’schen Schule.15 Beide Monographien belegen nicht nur das frühe und intensive Interesse an Hegels Denken im Umkreis Pannenbergs, sondern zeigen zugleich deutlich die kritischen Vorbehalte an, unter denen die Rezeption erfolgte. Cornehls Studie verweist bereits durch ihren Titel, der ursprünglich „Die Gegenwart des Absoluten und die Zukunft des Eschatons“ lautete und dann in „Die Zukunft der Versöhnung“ verändert wurde, programmatisch auf die zu erwartende Kritik: Hegel habe durch Aufhebung der futurischen in eine rein präsentische Eschatologie den christlichen Versöhnungsgedanken um seine Zukunftsdimension gebracht. Die „Eliminierung der Zukunft aus dem Begriff der Versöhnung“ (18) ist für Cornehl, späterer Professor für Praktische Theologie an der Universität Hamburg, bei aller Faszination der Hegel’schen Konzeption theologisch ebenso inakzeptabel wie die tendenzielle Ablösung der ideellen Bedeutung des Lebens, Sterbens und Auferstehens Jesu Christi von der Realität und Individualität seiner konkreten Person und ihres geschichtlichen Geschicks (vgl. bes. 132ff.). Hegel habe intendiert, Versöhnung real zu denken und dabei weder die ihr widerstehenden Mächte des Negativen von Üblem und Bösem, Tod und Teufel abzuschwächen, noch einen der beiden zu versöhnenden Momente zu vernichten gesucht (vgl. 160ff.). Diese Intention habe er mit bemerkenswerter Konsequenz und ungleich differenzierter verfolgt, als es die traditionelle Kritik der Theologie vermuten lasse, etwa, wenn sie ihm pauschalen Pantheismus unterstelle. „Je mehr man sich auf die Sache des Hegel’schen Denkens im einzelnen einläßt, umso mehr vergeht einem der Mut zu schnellem Urteil.“ (160) Gleichwohl meint Cornehl abschließend feststellen zu müssen, „daß auch Hegel selber seinem eigenen Kriterium nicht gerecht geworden ist, nicht gerecht werden konnte“ (161). Es habe sich gezeigt, „daß die völlige Präsenz des Eschaton als Überwindung des Todes nur auf Kosten der Verharmlosung des Todes, durch seine Herabsetzung zur Metapher, gelang und daß die Einholung der 13 Vgl. die Liste der Erst- bzw. Zweitgutachten Pannenbergs bei Promotions- und Habilitationsverfahren von 1961–2005 in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“ – Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung, 263–269, hier: 263. 14 T. Koch, Differenz und Versöhnung. Eine Interpretation der Theologie G.W.F. Hegels nach seiner „Wissenschaft der Logik“, Gütersloh 1967. 15 P. Cornehl, Die Zukunft der Versöhnung. Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegel’schen Schule, Göttingen 1971. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Zukunft in die ewige Gegenwart des Geistes keineswegs überzeugend das Problem der bleibenden Angewiesenheit auf die noch ausstehende Aufhebung des Todesgeschicks für den Einzelnen durch Gottes Macht eliminieren konnte. In der Geschichtsphilosophie zeigt sich, daß der von Hegel bezogene Standpunkt der vollendeten Geschichte den Abschluß und die Auflösung aller Rätsel der Geschichte, die schlüssige Erklärung der Notwendigkeit des Leidens der Unschuldigen nur auf Kosten des Subjektes, durch die Preisgabe des Individuums an die ‚Schlachtbank‘ der Geschichte sich erzwingen ließ.“ (161f.) Cornehl steigert seine Kritik zu dem Vorwurf, Hegels System weise, indem es das Ganze auf einen abgeschlossenen Begriff zu bringen versuche, totalitäre Züge auf, so dass mit Theodor W. Adorno von einer „erpreßten Versöhnung“ (ebd.) zu sprechen sei. Allerdings will er diesem und der sog. Kritischen Theorie gegenüber darauf insistieren, „das, was der negativen Dialektik an Affirmation zugrunde liegt, auch wirklich als solche kenntlich zu machen“ (355). Dazu sei es nötig, „Gegenwart und Zukunft der Versöhnung dadurch zusammen zu denken, dass Versöhnung als Prozeß der Aufhebung der Entzweiung in die Wahrheit begriffen wird. Diese Aufhebung wäre als ein Geschehen zu beschreiben, auf das der Mensch unbedingt angewiesen ist, über das er gleichwohl selber selbst (sic!) nicht verfügt, weder als Subjekt noch als Kollektiv, und von dem er doch faktisch lebt.“ (357)16 Differenz und Versöhnung In seiner 1966 konzipierten, 1971 publizierten Untersuchung zu Eschatologie und Emanzipation in der Aufklärung, bei Hegel und in der Hegel’schen Schule „Die Zukunft der Versöhnung“ hat Cornehl wiederholt auf die ältere, 1967 veröffentlichte Dissertation von Traugott Koch Bezug genommen und zwar durchweg affirmativ. Dieser, später Professor für Systematische Theologie an der Universität Hamburg, hatte seine Kritik an Hegel konstruktiv aus dem „theologische(n) Sinn der Hegel’schen Logik“17 und einigen ihrer Bestimmungen des Absoluten zu entwickeln versucht. Philosophie sei nach Hegel Denken Gottes. Gott zu denken hinwiederum vermöge nur eine neue Logik, welche die Bestimmung des Denkens an sich selbst zu denken habe und zwar in der Einheit von Denken und Gedanken, von Denken und Sein, Form und 16 Die an Hegel zu stellende Frage, „ob die in der realisierten Eschatologie liegende Behauptung, das Ganze einer versöhnten Subjektivität in einer versöhnten Welt als gegenwärtige Wirklichkeit voraussetzen zu können, nicht Schein war“ (P. Cornehl, a.a.O.,321), ist Cornehl zufolge „in verschärfter Form“ (ebd.) an Hegels Schüler zu richten, die das schon beim Meister bestehende Dilemma zugesteigert hätten, was schließlich zum Zerfall der Hegelschule in zwei einander entgegengesetzte Teile geführt habe. 17 T. Koch, a.a.O., 29ff., hier: 29. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Werk.

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Gehalt. „Darin liegt die grundsätzliche Bedeutung der ‚Wissenschaft der Logik‘ für Hegels ganze Philosophie.“ (17) Indem sie die jeweilige Bestimmtheit der einzelnen Denkbestimmungen nicht als selbstverständlich nimmt, sondern eigens bedenkt, erkennt sie deren differenzbestimmte Endlichkeit, um eine Gedankenfolge zu entwickeln, durch deren Verlauf das endliche Denken über seine Endlichkeit hinausgeführt und zum Unendlichen erhoben wird, in dessen Absolutheit sich alles Begreifen vollendet und mit aller Differenz auch diejenige von Denken und Sein behoben ist. Im Absoluten als dem Grund und Ziel der „Wissenschaft der Logik“ erfüllen sich Wirklichkeit und Wahrheit und werden eins. Hinzuzufügen ist, was sich nach Maßgabe der Hegel’schen Logik von selbst versteht, dass nämlich nicht das Individuum des einzelnen Denkers als das eigentliche „Subjekt“ des Denkens zu gelten hat, weil dessen Hingabe an die „Sache“ des Denkens die Voraussetzung einer logischen Gedankenentwicklung darstellt, welche das Absolute erschließt. Gedacht ist das Absolute nur, wenn das Denken seines Gedankens das im Gedanken Gedachte als von diesem selbst erschlossen denkt. Das Denken Gottes hat Gottes eigenes Denken und damit auch dies zu bedenken, nämlich dass es nur von Gott her und in der Weise göttlicher Selbsterschließung möglich ist. Koch weiß sich Hegels Programm einer philosophischen Theologie verpflichtet; seine kritische Anfrage ist auf das Problem gerichtet, ob es Hegel in seiner als spekulative Metaphysik und Theorie des Absoluten konzipierten Logik gelinge, dem Prozess der Erhebung des Endlichen zum Unendlichen, der in der Realphilosophie zur Durchführung komme, „in einem endgültigen Resultat zu vollenden“ (24): „Erreicht es Hegel, die Identität so zu denken, dass in ihrem Erfassen die Differenz und damit die Endlichkeit (auch des Denkens) vollgültig überwunden, ‚aufgehoben‘ ist?“ (Ebd.) Nach Koch kann diese Frage nur im Nachvollzug des Hegel’schen Denkprozesses beantwortet werden und nicht von außen her, etwa durch pantheistische Vorurteile oder unter der im späten Neukantianismus und anderwärts begegneten Prämisse, „Hegel habe das transzendentale Ich-denke Kants absolut gesetzt“ (37 Anm. 27), ohne im Übrigen den reflexionsphilosophischen Standpunkt wirklich überwinden zu können. Der Prozess der Denkens und der Fortgang der in ihm gedachten Gedanken ist in Hegels Logik nicht einlinig deduktiv, sondern zugleich reduktiv, als progressiver „Rückgang in den Grund“ (98 Anm. 55) zu fassen. Koch verweist in diesem Zusammenhang auf entsprechende Aussagen Pannenbergs in dem Aufsatz „Was ist Wahrheit“ von 196218 , wo die These Hegels, dass Ursprung und 18 W. Pannenberg, Was ist Wahrheit?, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 19712 , 202–222, hier: 218ff. Vgl. Th. A. Leppek, Wahrheit bei Wolfhart Pannenberg. Eine philosophisch-theologische Untersuchung, Göttingen 2017.

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Verlaufsprozess der Logik erst am Ende und vom Ende her bewahrheitet und zu einer alle Widersprüche in sich aufhebenden Einheit gebracht werden, als in enger Berührung mit dem biblischen Wahrheitsverständnis stehend gewürdigt wird. Allerdings moniert Pannenberg „den Verlust des Zukunftshorizontes im Denken Hegels“19 , in dessen Konsequenz es zwangsläufig zu einer tendenziellen Geringschätzung geschichtlicher Geschehenskontingenz und zu einer bleibenden Prädominanz des Allgemeinen dem Individuellen und Besonderen gegenüber kommen musste. Diese und vergleichbare Systemdefizite seien durch Hegels irrige Meinung hervorgerufen, „um der Einheit der Wahrheit willen der Zukunft kein eigenes Wahrheitsrecht mehr zubilligen zu können“20 : „Und darin ist ja auch geistesgeschichtlich das Scheitern seines Systems begründet.“21 Koch teilt die Hegelkritik Pannenbergs und schreibt sie unter Bezug auf die Lehre von der absoluten Selbstvermittlung des Begriffs u. a. durch den Hinweis fort, dass das gesamte logische Beginnen in einem absoluten Prius gründe, dessen einheitsstiftende Funktion in und für den differenzierten und differenzbestimmten Prozess des Denkens nur antizipativ zu erkennen sei: „Das Werden als absolute Einheit lässt sich nicht definierend fassen. Als das Versöhnende und über allem Widerspruch Erhabene, weil ihn Lösende, entzieht sich … die absolute Einheit dem bestimmenden Denken; nie wird sie zu seinem Begriff.“ (106) In seiner Absolutheit erkannt wird das Absolute als das „sich allem Begreifen Entziehende“ (172). Gott lässt sich erkennen und denken; doch ist sein Begriff derjenige der Unbegreiflichkeit, weil die Identität von Identität und Differenz, welche das göttliche Wesen ausmacht, jeden Begriff ihrer Einheit auf eine unaufhebbare Differenz hin transzendiert, die unbegreiflich ist. Die Wahrheit Gottes geht nicht im logischen Denken auf; sie ist „als das uns Unbegreifbare zu denken und zu denkender Erfahrung zu bringen“ (174). Theunissens Traktat Neben Hegels Logik sind die §§ 553–577 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, deren Drittauflage 1830 erschien, für die Theologie in besonderer Weise bemerkenswert. Ihrer Exegese und der anschließenden Konstruktion des Philosophiebegriffs hat Michael Theunissen in seinem Werk „Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat“ einführende Bemerkungen zur Kritik sowohl der politischen als auch der theologischen Hegelkritik vorangestellt. Kennzeichnend für die theologische Hegelkritik sei, so Theunissen, die beständige Klage, der Philosoph habe in seinem Identitätsdenken dem Nichtidentischen, Differenten, Singulären, Kontingenten, Unmittelbaren und 19 W. Pannenberg, a.a.O., 219. 20 Ebd. 21 Ebd.

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Unbegreiflichen nicht angemessen Rechnung getragen und zwar obwohl er Identität als Identität von Identität und Differenz zu denken beanspruchte. In der Regel sei diese Klage, die mit der in Adornos „Negative(r) Dialektik“ erhobenen im Wesentlichen koinzidiere, sehr pauschal vorgetragen worden. „Mit wenigen Ausnahmen […] haben es sich die Theologen aller Konfessionen, vornehmlich aber die evangelischen, bei ihrer Abrechnung mit Hegel bisher allzu leicht gemacht“22 ; für sie treffe das Wort von Marx am meisten zu, dass Hegel wie ein „toter Hund“ behandelt worden sei. Zu den rühmlichen Ausnahmen zählt Theunissen auf katholischer Hans Küng und auf evangelischer Seite neben Karl Barth, der freilich Hegels Philosophie dann doch zum „puren Identitätssystem“ (39) erklärt habe, „insbesondere Pannenberg und seine Schüler“ (34). Trotz dieses Lobes und einer inhaltlichen Affinität zur Pannenbergschule hält sich Theunissen zunächst bedeckt und äußert Bedenken insbesondere gegen die „nicht zufällig mit ausdrücklichem Bezug auf Adorno“ (39)23 vorgetragene Hegelkritik Kochs. Obwohl sich diese als immanente, mit begrenzten Korrekturen operierende Kritik ausgebe, sei sie in Wirklichkeit „ein Gewaltstreich, der das ganze Gedankengebäude Hegels umwirft“ (41) und nur mit demjenigen vergleichbar, den einst der späte Schelling gegen den vermeintlichen Logismus seines vormaligen Freundes und nachmaligen Gegners meinte führen zu sollen. Der Verweis auf den späten Schelling gibt Anlass, eines Vortrags zu gedenken, den Theunissen fünf Jahre nach Erscheinen seiner Monographie zu „Hegels Lehre vom absoluten Geist“ beim Stuttgarter Hegelkongress 1975 über „Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings“ gehalten und 1976 in erweiterter Form im „Philosophischen Jahrbuch“ publiziert hat. Der Beitrag ist Walter Schulz gewidmet, auf dessen „bahnbrechende(s) Werk“24 über „Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings“ der Titel direkten Bezug nimmt. Der Ersatz des Vollendungs- durch den Aufhebungsbegriff verdankt sich nach Theunissen der Absicht, im Verein mit Affirmation und Perfektion auch dem Moment bestimmter Negation entsprechenden Ausdruck zu verleihen. Pannenberg hat den Text intensiv und 22 M. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, 34. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 23 Nach Adorno kehrt sich die Kraft des Widerspruchs und der bestimmten Negation, die in Hegels System wie in keinem anderen wirksam ist, mit innerer Konsequenz „gegen sich selber, gegen die Idee des absoluten Wissens. Denken, das aktiv-zusehend in allem Seienden sich wiederfindet, ohne eine Schranke zu dulden, durchbricht als solche Schranke die Nötigung, ein fixiertes Letztes allen seinen Bestimmungen zugrundezulegen, und erschüttert damit noch den Primat des Systems, seinen eigenen Inbegriff.“ (Th. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 5, Frankfurt/M. 1970, 7–245, hier: 12; vgl. ders., Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966) 24 Ders., Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, in: PhJ 83 (1976) 1–29, hier: 5. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

Mainz 1964/66: T. Kochs und P. Cornehls Hegeldissertationen

mit erkennbarer Zustimmung gelesen, wie sein „[m]it herzlichen Grüßen“ des Autors versehenes Handexemplar (Pannenberg-Bibliothek Nr. 02148) beweist. Konnte er sich doch namentlich durch Theunissens Darstellung der Hegelkritik des späten Schelling in seiner eigenen Auffassung bestätigt finden. Schellings Spätphilosophie Dies gilt offenkundig und in besonderer Weise für die These, dass die logische Bewegung des Begriffs in Hegels System nur dann in Gang kommt und in Gang gehalten wird, „wenn ihr Ziel im Vorhinein antizipiert“ (14) wird. Hegel sei der irrigen Meinung gewesen, „als entfalte sich die logische Bewegung ausschließlich aus der immanenten Abfolge der Denkbestimmungen“ (17), obwohl er doch „nicht nur immer schon, sondern auch immer wieder, d. h. nicht nur am Anfang, sondern auch im Fortgang der Logik, auf intellektuelle Anschauung zurückgreifen muss, um sich des Erfahrungsgehalts seiner Kategorien zu versichern“ (ebd.). Ohne intellektuelle Anschauung als „Organ der Antizipation“ (14; 16) bleibe Hegels Denken auf der Strecke bzw. regrediere in einen Logismus, dem es unendlich an Sein mangele (vgl. 16)25 . Diese – Hegel selbst nicht einfachhin fremde – Einsicht habe Schelling geltend gemacht. Die konkrete Erfahrung von seinshaltiger Ganzheit in begrifflich bestimmter Gedankenentwicklung „setzt eine Antizipation eben der konkreten Totalität voraus“ (19). Es bedarf keines aufwändigen Verfahrens, um sich davon zu überzeugen, dass diese Annahme sowohl mit Pannenbergs eigener Hegelkritik als auch mit der konstruktiven Anlage seines Systems übereinkommt.26 25 Unter Verweis auf das 1975 in Erstauflage erschienene Werk Manfred Franks „Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik“, München 2 1992, hier: 159ff. Exemplarische Belege für Schellings kritischen „Nachweis eines erkenntnistheoretischen Zirkels in Hegels Gedanken reflexiver Selbstvermittlung“ (169) bringt Frank, a.a.O., 169ff. bei. 26 Vgl. M. D. Krüger, Schellings Spätphilosophie und Pannenbergs Geschichtstheologie. Thesen zu ihrem Verhältnis, in: G. Wenz (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 141–161. Ferner: Th. Oehl, Die theologische Insuffizienz des Begriffs. Zur Systemkonzeption Wolfhart Pannenbergs, in: a.a.O., 233–263. Warum Pannenberg trotz dieser Übereinstimmung der Schelling’schen Spätphilosophie eher zurückhaltend begegnete und ob bzw. inwieweit hierfür Theunissens Vorbehalte ihr gegenüber (vgl. ders., Die Aufhebung des Idealismus in der Spätphilosophie Schellings, bes. 19ff.) einflussreich waren, wäre ebenso einer speziellen Untersuchung wert wie die Frage nach dem genauen Einfluss der Theunissen’schen auf die Pannenberg’sche Hegelrezeption. Dass wechselseitige Affinitäten bestanden, ist offenkundig. Man vergleiche dazu etwa Theunissens bibliographischen Bericht „Die Verwirklichung der Vernunft. Zur Theorie-Praxis-Diskussion im Anschluss an Hegel“, der 1970 als Sonderheft in der „Philosophischen Rundschau“ erschienen ist und sich mit dem Vermerk „In dankbarer Erinnerung an Stuttgart“ unter Nr. 03290 in der Pannenberg-Bibliothek befindet. Beiden, Theunissen und Pannenberg, liegt an der „Wahrnehmung des spezifisch christlichen Hintergrundes, auf dem Hegel Theorie und Praxis

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Der Begriff als Vorgriff

Die weitreichende Übereinstimmung zwischen Pannenberg und Theunissen wird auch durch dessen Exegese und konstruktive Explikation der Absolutheitstheorie der Enzyklopädie bestätigt und zwar trotz der an Kochs Logikdissertation geübten Kritik. Die Eintragungen, die Pannenberg in seinem Handexemplar vorgenommen hat (Pannenberg-Bibliothek Nr. 02055), lassen vermuten, dass ihn diese nur bedingt überzeugte, ja dass er die von Theunissen an Hegel geübte Kritik von der Koch’schen für sachlich gar nicht weit entfernt hielt. Mehrmals hat er kritische Thesen Theunissens eigens mit einem direkten beziehungsweise indirekten Verweis auf Kochs Abhandlung versehen, etwa wenn eine bleibende Unaufgehobenheit von Kontingenz, singulärer Individualität etc. im Hegel’schen System und mangelnde Berücksichtung historischer Faktizität oder ein Defizit an eschatologischer Zukunftsausrichtung geltend gemacht wurde. Dass sich in der Identität von Identität und Differenz, die Sein und Denken bildeten, die umgreifende Identität dem Denken entziehe27 , habe auch Koch gesagt und in Entsprechung zu Theunissen eine Revision des Gedankens gefordert, „das System könne seine eigenen Voraussetzungen einholen“ (53). Völlige Übereinstimmung herrscht im Übrigen, um nur noch dieses Beispiel zu geben, in dem von Pannenberg am Rande mit der Note „sehr gut“ qualifizierten Grundsatz: „indem der Mensch um seiner Freiheit willen dem Gott das Gesetz gruppiert“ (PhR 1970 Beiheft 6, 59), und beide sind der Auffassung, dass Hegel „die von Praxis umgriffene Theorie, die ihm mit der Bindung an das Christentum aufgegeben war, mit der reinen keineswegs durchweg (habe) vermitteln können“ (a.a. O., 88), weil er den antizipativen Charakter des christlichen Versöhnungsgedankens nicht konsequent genug beachtet habe und daher tendenziell der Gefahr erlegen sei, seine Gegenwart ins Absolute zu verklären (vgl. a.a.O., 89). –„Zur Kritik der Kritischen Theorie“ vgl. M. Theunissen, Gesellschaft und Geschichte, Berlin 1969. Die von ihm konstatierte „Abgleitung der Kritischen Theorie von der Intention ihres Programms“ (28), dessen geschichtsphilosophische Ausrichtung er im Grundsatz ebenso teilt wie die beabsichtigte Praxisorientierung, führt Theunissen auf eine Tendenz zur Renaturalisierung der Geschichte infolge einer praxistheoretischen Überforderung empirischer Subjektivität zurück. Indem anstelle Gottes der Mensch bzw. die Menschheitsgattung zum einheitsstiftenden Wirksubjekt der Geschichte erklärt werde, gehe die Entlastung, welche Religion gewähre, verloren und mit ihr der eschatologische Vorbehalt, unter der alles menschliche Reden und Handeln bezüglich des Ganzen zu stellen sei, wenn es nicht ins Totalitäre entarten solle. In methodischer Hinsicht fragt Theunissen: „Wie kann die Kritische Theorie das jeweils gegenwärtige Ganze vor sich haben und gleichwohl selbst am gegenwärtigen Geschichtsprozess teilnehmen?“ Pannenberg hat diese Anfrage in seinem Handexemplar (Pannenberg-Bibliothek 03060), das mit einem Dank Theunissens für „Christliche Theologie und philosophische Kritik“ versehen ist, durch eine Randmarkierung eigens hervorgehoben. Theunissen schließt mit der Vermutung, „dass Geschichtsphilosophie nicht nur aus der Theologie hervorgegangen, sondern nach wie vor nur als solche möglich“ (40) sei. Auch diese Bemerkung war ganz im Sinne Pannenbergs, wie nachdrückliche Unterstreichungen zeigen. 27 Vgl. M. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, 47. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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logischer Notwendigkeit auferlegt, stößt er den, der ihn allererst zur Freiheit befreien soll, in die Unfreiheit.“ (59) Sachbezüge dieses Diktums zum späten Schelling und seiner Hegelkritik herzustellen, dürfte ebenso wenig schwerfallen wie der Aufweis weiterer konzeptioneller Gemeinsamkeiten zwischen Theunissen und Pannenberg.28 2.3

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Die theologische Hegelkritik Pannenbergs sowie Kochs (und Cornehls) liegt mit der von Theunissen geübten inhaltlich im Großen und Ganzen auf einer Linie. Bedarf es eines Zusatzbeweises für die Richtigkeit dieser Annahme, dann ist er, wenngleich gewissermaßen ex negativo, leicht anhand der Hegelarbeiten 28 Nach Urteil beider ist die Versöhnung Gottes und des Menschen im Gottmenschen Jesus Christus, dem auferstandenen Gekreuzigten, perfekt vollbracht, jedoch auf proleptisch-antizipative Weise und mithin so, dass für das Christentum samt Menschheit und Welt eschatologische Zukunftsoffenheit bestehe und die „Rückverlegung einer als vollkommen gedachten Zukunft in die Gegenwart“ (M. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist, 442) nicht infrage komme. Zu seinem 60. Geburtstag am 11. Oktober 1992 bekam Theunissen, der nach Professuren in Bern und Heidelberg von 1980 bis zu seiner Emeritierung 1998 als Ordinarius für Theoretische Philosophie an der Freien Universität Berlin lehrte, einen Sammelband mit Beiträgen zu Selbstsein und Intersubjektivität, Metaphysik und Theologie, Dialektik und Negativität gewidmet. Der Titel der Festschrift lautete wie der letzte Beitragsteil: „Dialektischer Negativismus“ (E. Angehrn u. a. [Hg.], Dialektischer Negativismus. Michael Theunissen zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M., 1992). Die beiden Leitbegriffe weisen laut Einleitung auf die philosophischen Strömungen hin, die Theunissen gedanklich bei unterschiedlichen Akzentsetzungen zu vereinen suchte: die Konzeption Hegels, in der die Dialektik ihre paradigmatische Gestalt gefunden habe, und den Negativismus nachhegelscher Ansätze, wie er exemplarisch durch Kierkegaard repräsentiert wurde, dessen „Begriff Ernst“ Gegenstand von Theunissens Freiburger Dissertation bei Max Müller von 1955 war. Die ein knappes Jahrzehnt später vollendete Berliner Habilitationsschrift „Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart“ war programmatisch darauf angelegt, Selbstsein und Anderssein intersubjektiv zu vermitteln, wobei „Intersubjektivität keine letzte Grundlage (bildete), sondern in einen Bezug zum Absoluten eingefügt (war)“ (a.a.O., 9). Die Monographie über „Hegels Lehre vom absoluten Geist“ (1970) und zur Hegel’schen Logik in „Sein und Schein“ (1978) sollten das absolutheitsphilosophisch fundierte Intersubjektivitätsprogramm bewähren und den durch Stichworte wie unaufhebbare Unmittelbarkeit, Singularität, Kontingenz etc. gekennzeichneten philosophischen Negativismus in Hegels dialektisches System der Vermittlung kritisch und konstruktiv einzeichnen. „Hegels System vollendet sich Theunissen zufolge in einer als Religionsphilosophie konzipierten Geschichtsphilosophie, die ihrerseits zur politischen Philosophie wird“ (a.a.O., 10). Auch die Rezeption philosophischer Negativismuskonzeptionen unter dem Leitmotiv „Leiden und Zeit“ (a.a.O., 11) vollzieht sich unter geschichtsphilosophischen Gesichtspunkten auf dem Hintergrund des christlichen Offenbarungsgeschehens, das für Theunissen die Basis seiner Theorie kommunikativer Freiheit bildet (vgl. dazu im Einzelnen: J. Habermas, Kommunikative Freiheit und negative Theologie, in: a.a.O., 15–34).

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Falk Wagners zu erbringen, die zwar, sofern es sich um akademische Qualifikationsarbeiten handelte, ebenfalls aus der Pannenbergschule hervorgegangen sind, deren Autor aber im Grunde von Anfang an andere Wege eingeschlagen hat als die vom Lehrer vorgezeichneten. Was er von Theunissens Hegeldeutung und insbesondere von dessen Interpretation der Hegel’schen Logik hielt, hat Wagner in der ihm eigenen Deutlichkeit wiederholt bekundet.29 Auch Pannenbergs theologische Hegelkritik beurteilte er mehr als kritisch, wie im Laufe der Zeit immer deutlicher zutage trat, bis es zum Abschied nicht nur von München, sondern auch von einer auf Hegel basierenden Theorie des Absoluten kam. Wider die Althegelianer Begonnen hatte Wagner seine akademische Karriere mit einer Arbeit zum Thema „Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel“; es war die erste Dissertation, die bei Pannenberg nach seinem Wechsel von Mainz an die neu gegründete Evangelisch-Theologische Fakultät der Ludwig-MaximiliansUniversität München angefertigt wurde. Das Rigorosum fand am 13.12.1969 statt, als Korreferent fungierte Trutz Rendtorff. Bereits damals gab es „in der Hegeldeutung gravierende Differenzen zwischen Doktorvater und Doktorand. 29 Vgl. M. Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegel’schen Logik, Frankfurt am Main 1978, 2 1980; F. Wagner, Hegel als verkannter Theoretiker von Unmittelbarkeit?, in: PhJ 87 (1980), 171–191. Weil es Theunissen nicht gelinge, eine überzeugende immanente Interpretation der Bedeutungsgehalte der Logik zu leisten, trage er seinen eigenen philosophischen Ansatz von außen an sie heran, um ihn durch Hegel äußerlich bestätigen zu lassen. Vgl. ders., Logische Form und philosophischer Gehalt: zu neuen Hegel-Büchern, in: ZPhF 38 (1984), 123–136, hier: 128ff. Zu der Ende der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit Wagners Wechsel von München nach Wien eintretenden Abkehr von einer hegelorientierten Theorie des Absoluten und zur tendenziellen Transformation seines ursprünglichen Ansatzes in eine empirische Religionswissenschaft vgl. u. a. J. Dierken, Philosophische Theologie als Metaphysik der Endlichkeit. Variationen einiger Grundmotive Falk Wagners, in: Chr. Danz/J. Dierken/M. Murrmann-Kahl (Hg.), Religion zwischen Rechtfertigung und Kritik. Perspektiven philosophischer Theologie, Frankfurt am Main u. a. 2005, 81–103. Zur Bedeutung des Denkens von G. Dux für Wagners Wende vgl. F. Wagner/M. Murrmann-Kahl (Hg.), Ende der Religion – Religion ohne Ende? Zur Theorie der „Geistesgeschichte“ von Günter Dux, Wien 1996. Ob man in Bezug auf Wagners Kehre nicht von einer Absage an Hegel, sondern lediglich von einem „Wandel vom harten Hegelianismus zum weichen Hegelianismus“ (U. Barth, Von der spekulativen Theologie zum soziologischen Religionsbegriff. Versuch einer Annäherung an das Denken Falk Wagners, in: JHMTh/ZNThG 7 [2000], 251–282, hier: 280) zu sprechen hat, kann im gegebenen Zusammenhang dahingestellt bleiben. Man vergleiche im Einzelnen die Beiträge von Chr. Axt-Piscalar (The-logische Religionskritik und Theorie des Absoluten. Falk Wagners spekulatives theologisches Programm und sein Scheitern) sowie W. Gräb (Wagners empirische Wende. Die Hinwendung zur sozio-kulturellen Lebenswelt der christlichen Religion – und die Praktische Theologie), in: Chr. Danz/M. Murrmann-Kahl (Hg.), Spekulative Theologie und gelebte Religion. Falk Wagner und die Diskurse der Moderne, Tübingen 2015, 111–132 bzw. 149–162.

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Zwar hatte sich Wagner von der linkshegelianischen Lesart à la Strauß abgegrenzt. Aber zugleich hatte er im letzten Kapitel seiner Dissertation dem von Pannenberg eher hochgeschätzten Rechtshegelianer Marheineke die Repristination eines vorkritischen Theismus vorgeworfen und im Blick auf Rosenkranz und Michelet von der Pseudoproduktivität von Missverständnissen gesprochen. Auf Drängen des Doktorvaters hatte das Kapitel zur Hegelschule aus der Dissertation zu verschwinden.“30 Wagner versuchte in seiner Dissertation zu zeigen, dass das philosophische Denken Hegels, dessen Genese er in Grundzügen rekonstruiert, fähig sei, „den Begriff der Persönlichkeit Gottes so zu denken, dass er der Unendlichkeit und 30 J. Rohls, Falk Wagner im Kontext der protestantischen Theologiegeschichte der Nachkriegszeit in: Chr. Danz/M. Murrmann-Kahl (Hg.), a.a.O., 13–43, hier: 29. Die Studien zum Gedanken der Persönlichkeit Gottes in der Hegelschule erschienen separat: vgl. F. Wagner, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Ph. Marheineke. Repristination eines vorkritischen Theismus, in: NZSTh 10 (1968), 44–88; ders., zur Pseudoproduktivität von Missverständnissen in der Hegelschule. Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei K. Rosenkranz und K. L. Michelet, in: NZSTh 12 (1970), 313–337. Zur Genese des theologischen Entwurfs von Pannenberg und zu Wagners Mainzer Studienzeit bei seinem späteren Doktorvater vgl. J. Rohls, a.a.O., 19ff. Rohls zitiert Wagner gemäß seinem Beitrag in dem von C. Henning und K. Lehmkühler herausgegebenen Sammelwerk „Systematische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen“ (Tübingen 1998, 277–299, hier: 281) mit den Worten, er habe sich „die inhaltliche Position seiner (sc. Pannenbergs) Geschichtstheologie niemals zu eigen machen können“. Gleichwohl habe er wesentliche Motive übernommen: „erstens die entschiedene Kritik an der Dialektischen Wort-Gottes-Theologie, zweitens die damit verbundene Überzeugung einer engen Verbindung von Theologie und Philosophie, drittens de(n) Anschluss der Theologie an andere Disziplinen wie den Sozialwissenschaften und viertens das Konzept einer Theologie der Vernunft.“ (J. Rohls, a.a.O., 21) Letzteres fiel dann bei Wagner allerdings erheblich anders aus als bei Pannenberg: vgl. dazu etwa F. Wagner, Vernünftige Theologie und Theologie der Vernunft. Erwägungen zum Verhältnis von Vernunft und Theologie, in: KuD 24 (1978), 262–284, bes. 275ff. Nach Wagner ist Pannenbergs geschichtstheologisches Vernunftkonzept durch die faktische Differenz von Vernunft und offener Geschichtswirklichkeit konstitutiv bedingt mit der Folge, „daß die als geschichtlich gekennzeichnete Vernunft nicht bloß endlich ist, sondern auch über eine mit Elementen der Vernunft versetzten Begriff des Verstandes nicht hinaus kommt“ (279). Pannenbergs Vernunftsverständnis sei reflexionsphilosophisch-antispekulativ; sein Verständnis einer geschichtlich offenen Vernunft unterbiete „bereits den Anspruch der spekulativen Vernunft“ und zwar dadurch, „daß die als geschichtlich bezeichnete Vernunft auf die faktisch gegebene Differenz von Vernunft und Wirklichkeit, Vorgriff und antizipierter Zukunft der Wahrheit festgelegt wird“ (281). Pannenbergs Weigerung, der Hegel’schen Forderung einer Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff zu folgen, wertet Wagner als einen Beleg des von ihm konstatierten Sachverhalts. (Vgl. F. Wagner, Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff. Zur Rekonstruktion des religionsphilosophischen Grundproblems der Hegel’schen Philosophie, in: NZSTh 18 [1976], 44–73; vgl. in diesem Zusammenhang die Kritik an Theunissen, dessen Position Wagner „der harmonisierenden Hegel-Interpretation der ‚orthodox’ gesinnten Alt-Hegelianer“ [71] zurechnet.)

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Absolutheit Gottes standhält“31 . In Betracht kommt dabei neben der „Phänomenologie des Geistes“ insbesondere Hegels Religionsphilosophie, deren Trinitätslehre die Grundlage des erstrebten Beweises darstellt. Konzeptionelle Differenzen zum Doktorvater treten in der publizierten Dissertation nicht zutage, jedenfalls nicht auf direkt erkennbare Weise. Ja, Wagner kritisiert, wenngleich unter Vorbehalten, die Hegel’sche Aufhebung der Religion in das absolute Wissen als abstrakt und vermerkt wie Koch und Cornehl, Hegel habe „die in der Religion bestehende Dialektik des ‚Schon‘ und ‚Noch-nicht‘ einseitig nach der Seite des ‚Schon‘ hin“ (194f.) aufgelöst: „Im Begriff des absoluten Wissens als des in sich vollendeten Begriffs eskamotiert Hegel das Bewusstsein der Vorläufigkeit, das aber gerade für den Begriff der christlichen Versöhnung konstitutiv ist, ohne den Hegel das absolute Wissen gar nicht in seiner Wahrheit und Allgemeingültigkeit erfassen könnte.“ (195) Später hat Wagner diese und ähnliche Aussagen revoziert. Von einer Unaufhebbarkeit der Religion und ihrer Vorstellungsgehalte in den philosophischen Begriff oder davon, dass „die Unabgeschlossenheit der Versöhnung ein wesentliches Moment des Begriffs der christlichen Versöhnung selbst“ (194) sei, ist nicht mehr die Rede. Obwohl er seine gesammelten Studien zu Begriff und Thema der Theologie seinem „Lehrer“ als „Zeichen des Dankes für jahrelange und vielfältige Förderung und als Ausdruck der Verbundenheit“32 widmete, zeigt ihr Inhalt unmissverständlich, dass er weder Pannenbergs Hegelverständnis, noch dessen theologische Gesamtkonzeption zu teilen vermochte.33 Hegelianisierender Barthianismus Pannenberg hat die bestehende Differenz nicht nur registriert, sondern auch auf sie reagiert: „Wagner“, so heißt es unter Bezug auf dessen Studien zu Be-

31 F. Wagner, Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel, Gütersloh 1971, 137. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 32 Ders., Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 7. Vgl. dazu Chr. Danz/M. Murrmann-Kahl, Spekulative Theologie und gelebte Religion – ein Widerspruch?, in: dies. (Hg.), Spekulative Theologie und gelebte Religion, 1–9, hier: 1f. : „Von den Theologen war für Wagner zweifellos Wolfhart Pannenberg die bestimmende Gestalt, den er sogar als seinen ‚Lehrer‘ bezeichnen konnte, wiewohl er niemals dessen Lehre vertreten, sondern die Geschichtstheologie Pannenbergs vielmehr durchweg kritisch in den Blick genommen hat. Andererseits kann man gewiss sagen, dass Wagner nirgendwo anders eine akademische Karriere in der Theologie hätte machen können als im Umfeld dieses Münchener Theologen.“ 33 Vgl. u. a. auch Wagners Beitrag „Zur vernünftigen Begründung und Mitteilbarkeit des Glaubens“, in: J. Rohls/G. Wenz (Hg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschrift zum 60. Geburtstag von W. Pannenberg, Göttingen 1988, 109–137.

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griff und Thema der Religion in Geschichte und Gegenwart34 , „scheint der Meinung zu sein, daß das Denken des Absoluten als absolut die Schranke der Gebundenheit aller sonstiger Bewusstseinsgehalte an die Subjektivität des Bewußtseins überwinde“35 ; nur unter dieser Voraussetzung halte er offenbar die von ihm konstatierte Aporie des religiösen Bewusstseins, seinen Grund nicht an sich selbst, sondern nur auf eigener Basis als derjenigen eines Begründeten denken zu können, für behebbar. Pannenberg bezweifelt zum einen, dass die besagte Aporie eine Aporie der Religion und nicht lediglich der neuzeitlichen Religionstheorie sei, und erklärt das Fehlen dieser Unterscheidung zu einem „Hauptmangel des Buches von Wagner“36 . Zum andern stelle sich die Frage, „warum … der Gedanke des Absoluten der subjektiven Bedingtheit entnommen sein (soll), wenn doch der Gott des religiösen Bewußtseins ihr nach Wagner immer verhaftet bleibt, obwohl er als freies Gegenüber zum Menschen geglaubt wird“37 . Wagners Annahme, das Absolute lasse sich so denken, dass sich sein Gedanke als von ihm selbst erschlossen und begrifflich qualifiziert offenbare, beruhe auf bloßer Behauptung und entbehre eines theoretischen Beweises. „Der Gedanke des Absoluten bleibt sogar entschiedener im Reflexionszusammenhang menschlichen Denkens eingebunden als der Gott der Religion, weil das Absolute ein philosophischer Gedanke ist, bei dem wie bei allen philosophischen Gedanken die Relativität auf das Denken des Subjekts immer mitgedacht werden muss, während dem religiösen Bewußtsein als intentionalem Bewußtsein die Reflexion auf die Subjektivität seines Redens von Gott äußerlich bleibt.“38 Indem Wagner den als Selbstauslegung des Absoluten zu denkenden Gedanken des Absoluten im Gegensatz zur Subjektivität des religiösen Bewusstseins stelle, eliminiere er die vom Menschen vollzogene Erhebung zugunsten der einseitig vom Gedanken des Absoluten ausgehenden Bewegung und falle so hinter den Religionsbegriff Hegels zurück, für den Erhobenwerden und Sicherheben einen Zusammenhang bildeten: „Das ist“, wie abschließend „nicht ohne Ironie“39 festgestellt wird, „hegelianisierender – Barthianismus“40 .

34 F. Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, hier: bes. 572ff. 35 W. Pannenberg, Systematische Theologie. Bd. 1, Göttingen 1988, 174 Anm. 121. 36 A.a.o., 141 Anm. 30. 37 A.a.o., 174 Anm. 121. 38 Ebd. 39 J. Rohls, a.a.O., 35. 40 W. Pannenberg, a.a.O., 174 Anm. 121.

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Gott und Gottesgedanke Was ein Begriff begreift, erschließt sich nach Pannenberg nicht rein begrifflich, sondern durch Reflexion auf seinen Sachgehalt. Der Begriff des Absoluten mache diesbezüglich keine Ausnahme: Auch er sei nicht anders zu erfassen als durch Reflexion auf die Einheit von Denken und Sein, die seine Absolutheit ausmacht, und auf den Vollzug ihrer Realisierung. Während Wagner jedenfalls in seiner Münchener Zeit die Unterstellung einer „Differenz zwischen einem denkenden Denken und einem darin gedachten Denken“41 als inadäquat für ein spekulatives Denken Hegel’schen Zuschnitts beurteilt, geht Pannenberg von der Notwendigkeit einer solchen Grundannahme aus und rechnet, wie möglicherweise der späte Wagner auch, mit einer „unhintergehbare(n) Differenz zwischen der Selbstauslegung des Absoluten und dem Gedanken dieser Selbstauslegung“42 : Zwischen Gottes Offenbarung und ihrem theologisch-philosophischen Begriff ist zu unterscheiden wie „zwischen Gott und Gottesgedanken, wie er im menschlichen Bewusstsein konzipiert wird“43 .

41 M. Murrmann-Kahl, „Radikale Umorientierung der systematischen Theologie“? – Zu Falk Wagners Hegel-Lektüren, in: Chr. Danz/M. Murrmann-Kahl (Hg.), Spekulative Theologie und gelebte Religion, 69–87, hier: 72. Nach E. Plevrakis, Das Absolute und der Begriff. Zur Frage philosophischer Theologie in Hegels Wissenschaft der Logik, Tübingen 2017, hat Wagner den „vielleicht wichtigsten Beitrag zur philosophisch-theologischen Untersuchung der Logik, und somit für jede Suche nach philosophischer Theologie insgesamt bei Hegel“ (71) geleistet; vgl. im Einzelnen den aufschlussreichen Bericht über den Stand der Forschung, 15ff. 42 M. Murrmann-Kahl, a.a.O. 77f. Zur Entwicklung von Wagners Denken vgl. K. Mette, Selbstbestimmung und Abhängigkeit. Studien zu Genese, Gehalt und Systematik der bewusstseinsund kulturtheoretischen Dimensionen von Falk Wagners Religionstheorie im Frühwerk, Tübingen 2013. Die mit seinem Wechsel von München nach Wien 1988 verbundene Abkehr von einer namentlich durch Hegel inspirierten Theorie des Absoluten hat Wagner selbst vor allem auf seine Gespräche mit dem Religionsphilosophen Günter Dux und die von diesem begründete sog. historisch-genetische Theorie zurückgeführt. Mette vermutet, „dass sich die tatsächliche Motivlage für die Wandlungen der Wagnerschen Gedankenwelt ungleich vielschichtiger darstellen dürfte, als Wagner hier suggeriert“ (250): „Damit dürfte sie Recht haben.“ (F.W.Graf, Rez. des Buches von Mette, in: JHMTh/ZNThG 21 [2014], 304–310, hier: 310) Ausgewählte Aufsätze Wagners haben unter dem Titel „Christentum in der Moderne“ J. Dierken und Chr. Polke herausgegeben (Tübingen 2014). Texte aus Wagners Nachlaß wurden von Chr. Danz und M. Murrmann-Kahl ediert: Zur Revolutionierung des Gottesgedankens. Texte zu einer modernen philosophischen Theologie, Tübingen 2014. Vgl. dazu die Besprechung F. W. Grafs in: JHMTh/ZNThG 22 (2015), 322–326, wo das Fehlen eines ein Jahr nach Wagners Habilitation (WS 1971/72) für ein Oberseminar Pannenbergs verfassten Textes über „Bedeutung und Sinn bei Kant und Hegel“ moniert wird: „ein Text, der Falk Wagner sehr wichtig war, weil er hier im Medium der Kant- und Hegel-Deutung abermals zu seinem Mainzer akademischen Lehrer auf entschiedene Distanz gehen wollte.“ (325) 43 Chr. Axt-Piscalar, Theo-logische Religionskritik und Theorie des Absoluten, 119.

Minneapolis 1988: „I never became a Hegelian.“

2.4

Minneapolis 1988: „I never became a Hegelian.“

Pannenberg war ein ausgewiesener Kenner Hegel’scher Philosophie. Dennoch wollte er nie als Hegelianer bezeichnet werden. „I never became a Hegelian, but I decided that theology has to be developed on at least the same level of sophistication as Hegel’s philosophy and for that purpose I studied his writings carefully and repeatedly.“44 Von der sorgfältigen und wiederholten Beschäftigung mit Hegels Schriften geben die zahlreichen Werkbände in Pannenbergs persönlicher Bibliothek ebenso Zeugnis wie die vielen Lehrveranstaltungen45 , die er insbesondere der Hegel’schen Religionsphilosophie gewidmet hat.46 Die Art und Weise der Hegelrezeption und -kritik Pannenbergs zeichnet sich früh ab, wie an seinen eigenen Schriften und an Dissertationen aufgezeigt wurde, die in der Mainzer Zeit und bald danach unter seiner Anleitung zum Thema 44 W. Pannenberg, An Autobiographical Sketch, in: C.E. Braaten/Ph. Clayton (Ed.), The Theology of Wolfhart Pannenberg, Minneapolis 1988, 11–18, hier: 16. Auch wenn nach Urteil Claytons oft übersehen wird, „that Pannenberg’s philosophy of science is more hegelian than kantian“ (Ph. Clayton, From Methodology to Metaphysics: The Problem of Control in the ScienceTheology Dialogue, in: C. R. Albright/J. Haugen [Ed.], Beginning with the End. God, Science, and Wolfhart Pannenberg, Chicago/LaSalle 1997, 396–408, hier: 405), ist der Einfluss Hegels auf Pannenbergs Wissenschaftsverständnis auch von der angloamerikanischen Forschung ab und an debattiert worden, wenngleich ohne eindeutiges Ergebnis. Auf der einen Seite wurde die Nähe, auf der anderen Seite die kritische Distanz Pannenbergs zum Hegel’schen System hervorgehoben (vgl. St. J. Grenz, The Appraisal of Pannenberg: A Survey of the Literature, in: C. E. Braaten/Ph. Clayton [Ed.], The Theology of Wolfhart Pannenberg, Minneapolis 1988, 19–52, hier: 27f.). Klarheit kann im gegebenen Zusammenhang nur gewonnen werden, wenn man, wie Clayton mit Recht erklärt, auf die Relevanz des Antizipationsgedankens für Pannenbergs Wissenschaftskonzept im Allgemeinen und seine Hegelrezeption im Besonderen reflektiert (vgl. Ph. Clayton, Anticipation and Theological Method, in: a.a.O., 122–150). Allein unter diesem Aspekt kann ersichtlich werden, was es mit der „neo-Hegelian perspective“ (J. T. Bridges, Human Destiny and Resurrection in Pannenberg and Rahner, New York 1987) auf sich bzw. nicht auf sich hat. Zu einem abgewogenen Ergebnis kommt auf dieser Basis beispielsweise A. D. Galloway, Wolfhart Pannenberg, London 1973, 25ff., 113ff. Zur frühen Debatte in Deutschland vgl. die knappen, aber informativen und gehaltvollen Bemerkungen von K. Koch, Der Gott der Geschichte. Theologie der Geschichte bei Wolfhart Pannenberg als Paradigma einer Philosophischen Theologie in ökumenischer Perspektive, Mainz 1988, 103ff.: Pannenberg und Hegel. 45 Vgl. die einschlägige Liste in: G. Wenz (Hg.), „Eine neue Menschheit darstellen“. Religionsphilosophie als Weltverantwortung und Weltgestaltung, 251–262. 46 Der Autor dieses Buches hat das zweistündige Seminar im WS 1970/71 über Hegels Philosophie der Religion und des Christentums besucht, nachdem er im Semester zuvor schon am Proseminar über Christentumskritik als Einführung in die Systematische Theologie am Beispiel Joachim Kahls: Das Elend des Christentums oder Plädoyer für eine Humanität ohne Gott. Mit einer Einführung von G. Szesny, Hamburg 1968 (Neuauflage Marburg 2014) teilgenommen und eine Proseminararbeit zum Thema „Christologie und historischer Jesus bei Paul Tillich“ angefertigt hatte.

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Der Begriff als Vorgriff

entstanden. An dieser Linie hat sich später abgesehen von Teilaspekten nichts mehr geändert. Die Grundhaltung bleibt gleich: Im opus magnum der dreibändigen Systematischen Theologie gehört, wie das Namensregister belegt, Hegel „zu den am häufigsten erwähnten Autoren“47 ; obwohl er „zumeist mit Zustimmung erwähnt“48 wird, fehlt es nicht an Kritik, die sachlich völlig mit den bereits früh geltend gemachten Vorbehalten übereinkommt. Antizipative Gedankenbestimmungen Eigens und in breit angelegter Form zu Hegels Denken publiziert hat Pannenberg nach seinem Stuttgarter Vortrag von 1970 erst wieder in „Theologie und Philosophie“49 von 1996 und in seiner „Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland“50 vom darauffolgenden Jahr. „Beide Werke basieren auf älteren Vorlesungen, die Pannenberg wiederholt gehalten hat.“51 Ihre Hegel betreffenden Teile hat Jan Rohls ausführlich zur Darstellung gebracht und analysiert52 mit dem Ergebnis, dass die namentlich gegenüber der „Wissenschaft der Logik“ als der Grundlage des Systems erhobenen Einwände zwar „erweitert und präzisiert“53 , im Grundsatz aber beibehalten werden. Erneut als problematisch kritisiert wird insbesondere, „daß der Begriff (als adäquate Gestalt des Absoluten) nicht nur ‚an sich‘ auf jeder Stufe des Weges zu seiner Erfassung schon da ist, sondern daß das Auftreten und die Abfolge der vorläufigen Gestalten des Absoluten und deren Auflösung als ein Tun nicht des reflektierenden Philosophen, sondern des Begriffs selber zu verstehen seien“54 . Auf überzeugende Weise beheben lässt sich dieses Problem nach Pannenberg nur durch die besagte Herabsetzung des Begriffs zum Vorgriff. „Auch der Begriff – so sehr er auch Begriff einer Sache ist – ist nur ein Vorgriff auf die Wahrheit, nämlich auf die Einheit seiner selbst und seines Gegenstandes.“55 Dies gelte auch für den Begriff des Absoluten und die absolute Idee, wie

47 J. Rohls, Pannenberg und Hegel: Anknüpfung und Widerspruch, 177. 48 Ebd. 49 Vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 226ff.; 257ff. 50 Vgl. ders., Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, 260ff. 51 J. Rohls, a.a.O., 196. 52 Vgl. a.a.O., 183ff. 53 A.a.O., 190. 54 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 273. 55 A.a.O., 275. Zur „Signatur der nachhegelschen Philosophie“ und zur „Wendung zur Anthropologie“ vgl. 294ff.

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philosophische Metaphysik und Ontotheologie sie begrifflich erfassten.56 Die Ausführungen zu „Religion und Christentum bei Hegel“ und zur „Problematik von Hegels Gottesidee“ in Pannenbergs „Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland“ bestätigen, wie Rohls im Einzelnen gezeigt hat, diesen Befund und die nach Pannenbergs Urteil gegebene Notwendigkeit, den Hegel’schen Begriff zum Vorgriff zu transformieren und zwar so, dass diese Transformation nicht als eine äußerlich gegen die spekulativen Gedankenbestimmungen vorgebrachte Antithese, sondern als ihrer inneren Dialektik gemäß erscheint. Lassen sich die Gedankenbestimmungen der Hegel’schen Philosophie als einer Theorie des Absoluten an sich selbst als antizipativ erweisen, dann muss die Signatur der nachhegelschen Philosophie und ihre charakteristische Wendung zur Anthropologie nach Pannenberg nicht notwendigerweise einen abstrakten Gegensatz zu Hegel und seiner Lehre vom Menschen indizieren, sondern kann nicht nur mindestens ebenso gut, sondern besser noch aus dem Zusammenhang mit dieser begriffen werden und zwar trotz und unbeschadet aller empirischen Zugewinne neuerer Anthropologie ihr gegenüber. Dass Pannenberg entschieden dieser Auffassung war und die Konzeption seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ daran ausrichtete, ist die Grundthese der nachfolgend dargebotenen vergleichenden Studien. Zu den im elften Kapitel von „Theologie und Philosophie“ im Detail beschriebenen Stationen auf dem nachhegelschen Weg zur anthropologischen Wende sei nur mehr ins Auge gefasst, warum in diesem Zusammenhang Wilhelm Dilthey und seiner Hermeneutik der geschichtlichen Erfahrung zentrale Bedeutung zuerkannt wird. Diltheys Hermeneutik der geschichtlichen Erfahrung Wilhelm Dilthey gilt „als der Begründer der modernen Geisteswissenschaften in Deutschland“57 und als einflussreicher Theoretiker der Hermeneutik im Anschluss an Schleiermacher, dessen Leben und Werk er umfassende Studien 56 Vgl. dazu im Einzelnen G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen, 2016, 15–70, hier bes. 52ff. 57 U. Herrmann, Art. Dilthey, Wilhelm (1833–1911) in: TRE 8,752–763, hier: 752. Zu den Entwicklungsphasen vom frühen, unvollendet gebliebenen Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ von 1883 bis zu dem 1910 publizierten, ebenfalls nicht vollendeten zweiten Hauptwerk „Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“ vgl. M. Jung, Dilthey zur Einführung, Hamburg 1996. Für Diltheys Genese zum Klassiker der Hermeneutik sind neben den Schleiermacher-Studien die programmatischen Analysen von 1900 über „Die Entstehung der Hermeneutik“ von entscheidender Wichtigkeit. Vgl. dazu und zu Diltheys Auseinandersetzung mit Husserl und Hegel, dessen Jugendgeschichte er ein eigenes Werk gewidmet hat, a.a.O., 139ff.

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Der Begriff als Vorgriff

gewidmet hat.58 Auch mit der Jugendgeschichte Hegels und den Grundlagen seines angeblichen „mystischen Pantheismus“59 hat sich Dilthey intensiv beschäftigt. Hinzu kommen, um nur noch diese zu nennen, eingehende Studien zu „Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation“ sowie zur deutschen Geistesgeschichte im 17. und 18. Jahrhundert, die im II. und III. Band der Gesammelten Schriften vereint sind. Der I. Band bietet Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ von 188360 , die Pannenberg zumindest in Teilen sehr genau studiert hat. In einem ersten einleitenden Buch bietet Dilthey eine „Übersicht über den Zusammenhang der Einzelwissenschaften des Geistes, in welcher die Notwendigkeit einer grundlegenden Wissenschaft dargetan wird“ (vgl. 1ff.), im zweiten Teil handelt er von „Metaphysik als Grundlage der Geisteswissenschaften“ (vgl. 121ff.), ihrer einstmaligen Herrschaft und ihrem gegenwärtigen Verfall. Die metaphysische Stellung des Menschen zur Wirklichkeit ist nach Diltheys Urteil unter den Bedingungen des modernen Bewusstseins in Auflösung begriffen bzw. bereits aufgelöst (vgl. 351ff.). Aktuellen Bestand habe die Metaphysik, deren Begriff im Sinne der ersten Philosophie des Aristoteles aufgefasst wird (vgl. 127ff.), weder in den modernen Natur- noch auch in den modernen Geisteswissenschaften. Beide seien erfahrungswissenschaftlich orientiert und fragten nicht länger nach einem alles bedingt Seiende bedingenden Sein von ontologischer Unbedingtheit bzw. nach dem ipsum esse der Gottheit als des letzten und höchsten Gegenstandes der traditionellen Metaphysik (vgl. 211ff.). Naturwissenschaftlich sei bis auf weiteres „der Mechanismus an die Stelle der Gottheit“ (364) getreten, und auch geisteswissenschaftlich habe man das

58 Die beiden Halbbände des zweiten Bandes von Schleiermachers Leben finden sich unter Nr. 01916 in der Pannenberg-Bibliothek: W. Dilthey, Leben Schleiermachers. Zweiter Band: Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. Hg. v. M. Redeker, Berlin 1966. Zu den wissenschaftstheoretischen Implikationen und Folgen der Preisschrift Diltheys zur Hermeneutik Schleiermachers von 1860, die im Bd. XIV/2 der Gesammelten Schriften (Göttingen/Berlin 1966, 595ff.) erschienen ist, sowie zu seiner eigenen Theorie des Sinnverstehens vgl. P. Krausser, Kritik der endlichen Vernunft. Wilhelm Diltheys Revolution der allgemeinen Wissenschaft und Handlungstheorie, Frankfurt a. M., 1968. 59 Vgl. ders., Gesammelte Schriften IV. Bd.: Die Jugendgeschichte Hegels und andere Abhandlungen zur Geschichte des deutschen Idealismus, Stuttgart/Göttingen 4 1968, 1–282, hier: 43ff. 60 Ders., Gesammelte Schriften. Bd. I. Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuche einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Leipzig/Berlin 2 1923 (Pannenberg-Bibliothek Nr. 02420). Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Vgl. auch Gesammelte Werke. Bd. XVIII. Die Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und der Geschichte. Vorarbeiten zur Einleitung in die Geisteswissenschaften (1865–1880). Hg. v. H. Johach und F. Rodi, Göttingen 1977.

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traditionelle Bemühen aufgegeben, das Leben des Einzelmenschen, der Gesellschaft und Geschichte metaphysisch zu konstruieren. Humane Individualität und Sozialität würden „hinfort aus der menschlichen Natur verstanden“ (379), von der sie herrührten, um im natürlichen Kontext des Extrahumanen geschichtlich wirksam zu sein, wobei sowohl für die Individual- als auch für die Universalhistorie der Entwicklungsgedanke grundlegend werde (vgl. 380). „So geht der Fortschritt der Geisteswissenschaften durch das natürliche System zur entwicklungsgeschichtlichen Ansicht.“ (382; bei D. teilweise gesperrt) Empirische Orientierung und analytische Untersuchungsmethodik bleiben wie für alle entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungen auch für diejenigen konstitutiv, welche den Menschen im Blick haben. Dies schließt nach Dilthey nicht aus, sondern ein, dass sie in anthropologischer Hinsicht zu der Einsicht führen, dass der Mensch gemäß seiner Wesensnatur alles lediglich NaturhaftPhysische transzendiert und insofern eine meta-physische Größe darstellt. Anthropologie sei als Wissenschaft zwar nicht traditionelle Metaphysik, wohl aber Meta-Physik und als solche mit der Physik und den sonstigen Wissenschaften sowohl verbunden als auch geisteswissenschaftlich unterschieden, wie es der Sonderstellung des Menschen im Kosmos entspreche. 61 In dem Abschnitt über Wilhelm Dilthey und seine Hermeneutik der geschichtlichen Erfahrung nimmt Pannenberg in „Theologie und Philosophie“ nach biographischen und werkgeschichtlichen Notizen auf die „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ von 1883 Bezug. Sie wird als ein abgebrochenes Werk auf halbem Wege hin zu einer Hermeneutik der geschichtlichen Erfahrung beschrieben. Ihr geplanter zweiter Teil sei nicht erschienen, weil Dilthey sein Konzept einer an den Erfahrungen des persönlichen Lebens und Erlebens orientierten beschreibenden Psychologie fortentwickeln musste, um die intendierte Kritik der historischen Vernunft konstruktiv leisten zu können. Motivierend wirkte die Einsicht, dass jedes Einzelerlebnis seine Bedeutung und Bedeutsamkeit „durch seine Beziehung auf das Ganze des Lebens“62 gewinnt. 61 Was die genaue Abgrenzung des Geisteswissenschaften von den Naturwissenschaften und die Verschiedenheit des Aufbaus beider betrifft, so geben hierüber vor allem die Studien in Band VII der Gesammelten Schriften Auskunft. Vgl. ders., Gesammelte Schriften. Bd. VII. Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Stuttgart/Göttingen 5 1968 (Pannenberg-Bibliothek Nr. 02425). Vgl. ferner den ebenfalls in Pannenbergs Besitz befindlichen (02424) V. Band der GS: Die geistige Welt. Einleitung in die Philosophie des Lebens. Erste Hälfte: Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften, Stuttgart/Göttingen 5 1968. Den ausführlichen Vorbericht des Herausgebers (VII–CXVII) mit wichtigen Details zu Biographie und Werkgeschichte hat Pannenberg genau gelesen. Sein Interesse an Dilthey betraf vor allem das Verhältnis von Anthropologie und Geschichte sowie die Kritik der historischen Vernunft im Zusammenhang einer hermeneutischen Theorie geschichtlichen Sinnverstehens. 62 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 311. Vgl. ferner: ders., Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a. M. 1973, bes. 74ff., 157ff.

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Der Begriff als Vorgriff

Ohne eine Antizipation des Künftigen, welche rückwirkende Relevanz für das in der Vergangenheit Erlebte hat, gibt es kein bedeutsames aktuelles Erleben. Es ist ein Vorgriff auf das individuelle Daseinsganze und auf die natur- und sozialgeschichtliche Totalität von Menschheit und Welt nötig, um die Gegenwart als sinnvoll zu erleben und zu verstehen. Über Hegel hinaus Der Begriff des Lebensganzen, dessen Zukunft um der geschichtlichen Sinnhaftigkeit von Gegenwärtigem und Vergangenem willen proleptisch zu antizipieren sei, stellt den Schlüsselbegriff der Pannenberg’schen Diltheyrezeption dar. Trotz verbleibender offener Fragen, so Pannenberg, bedeute „Diltheys Reflexion auf die Geschichtlichkeit der Metaphysik im Rahmen der für alle Lebenserscheinungen geltenden Geschichtlichkeit doch einen wichtigen Fortschritt philosophischer Einsicht, auch über Hegel hinaus“63 . Im Unterschied zu dessen Denken sei im Dilthey’schen das Bewusstsein eigener Endlichkeit unverstellt in die Philosophie eingegangen mit der Folge, dass diese sich nicht länger als geschlossenes System, sondern geschichtsoffen präsentiere, wie es der Signatur der nachhegelschen Philosophie und ihrer Wendung von der Theologie hin zur Kosmologie und mehr noch zur Anthropologie entspreche.

63 A.a.O., 315.

3.

Erhebung zum Absoluten

Hegels Lehre vom Menschen im Kontext seines enzyklopädischen Systems

3.1

Das Enzyklopädieprojekt

Im Juni 2017 jährte sich zum zweihundertsten Mal das Erscheinen der Erstauflage der Hegel’schen „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“; eine erheblich erweiterte Zweitausgabe des für Vorlesungszwecke konzipierten, aus kurzen Paragraphentexten und Anmerkungen von unterschiedlicher Ausführlichkeit bestehenden Werkes erfolgte 1827, eine Drittausgabe 1830.1 Nach der „Phänomenologie des Geistes“ von 1807, die, wenn man so will, eine Systemprolepse bietet, stellt die „Enzyklopädie“ das zweite opus magnum Hegels dar.2 Seine Pläne zur Publikation einer lehrbuchmäßigen Darstellung seiner Philosophie „reichen bis in die Jenaer Zeit zurück“ (GW 13, 1 Wenn nicht anders angegeben, werden Texte und Vorlesungsnachschriften Hegels nach GW zitiert, in deren Bänden 13, 19 und 20 die drei Enzyklopädieausgaben in historisch-kritischer Edition vorliegen. Daneben sind folgende Werkausgaben zu nennen: 1. Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Berlin 1832 (= Werke). 2. Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 20 Bänden. Hg. v. H. Glockner, 4. Auflage, Stuttgart-Bad Cannstatt 1957–1968 (= JA). 3. Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Redaktion E. Moldenhauer und K. M. Michel, Frankfurt a. M. 1969ff. (= TW). Die Ausgabe der Hauptwerke in 6 Bänden, Hamburg 1999, basiert auf GW und umfasst folgende Bände: 1. Jenaer Kritische Schriften. 2. Phänomenologie des Geistes. 3. Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objektive Logik. Erstes Buch. Die Lehre vom Sein (1832). Zweites Buch. Die Lehre vom Wesen (1813). 4. Wissenschaft der Logik. Zweiter Band. Die subjektive Logik oder die Lehre vom Begriff. 5. Grundlinien der Philosophie des Rechts. 6. Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Unter den zahlreichen Hilfsmitteln zum Hegelstudium sei neben W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart/Wismar 2003; 2 2010 das in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft von P. Cobben u. a. herausgegebene Hegellexikon erwähnt (Darmstadt 2006). Es bietet eine knappe, aber informative Werkgeschichte, die sich auf die Biographie Hegels von T. Pinkard (Hegel. A Biography, Cambridge 2000) stützt. Sodann werden die einzelnen Werke in Grundzügen übersichtlich dargestellt und zentrale Begriffe Hegel’scher Philosophie in alphabetischer Reihenfolge eigens entwickelt. Eine vollständige Liste von Hegels Arbeiten und eine Übersicht seiner Vorlesungen einschließlich Zeitpunkt und Ort sind beigegeben. 2 Vgl. im Einzelnen H. Drüe u. a. Hegels „Enzyklopädie der Wissenschaften“ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, Frankfurt a. M. 2000. Ferner: G. Wenz, Hegels Geistphilosophie. Eine Skizze, in: KuD 53 (2007), 103–123. Wie Hegel „das fixe Vorurteil einer absolut gesetzten Endlichkeit mit immanenten Argumenten zu kritisieren vermag“, zeigt A. Hutter in seiner Münchner Antrittsvorlesung zu „Hegels Philosophie des Geistes“, in: Hegel-Studien 42 (2007), 81–97, hier: 81f. Hutter konkretisiert seine Überlegungen in selbstbewusstseins- und freiheitstheoretischer Hinsicht (vgl. 91ff.).

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Erhebung zum Absoluten

617; 19, 454; 20, 584; jeweils kursiv) und nehmen in den Nürnberger Jahren Gestalt an, um schließlich nach dem erfolgten Wechsel an die Universität Heidelberg im Frühjahr 1817, also nach Abschluss des ersten dortigen Semesters, realisiert zu werden. Die Vorrede der gedruckten Fassung ist mit „im May 1817“ unterzeichnet; erschienen ist die Systemskizze dann in den ersten Wochen des Folgemonats (vgl. GW 13, 630f.). Systemskizze Die Grundlinien des Systems wurden während Hegels Nürnberger Amtszeit als Gymnasialdirektor und Professor der philosophischen Vorbereitungswissenschaften immer weiter ausgearbeitet. Allmählich bildete sich im Zuge des Gymnasialunterrichts die Grundstruktur der späteren Enzyklopädie aus.3 Erstmals vorgetragen hat Hegel das gesamte dreiteilige Enzyklopädieprogramm von Logik, Natur- und Geistesphilosophie in den Schuljahren 1811/12 und 1812/13. Die Logik wird in abstrakte oder verständige, dialektische oder negativvernünftige sowie in spekulative oder positiv-vernünftige unterschieden. Wie sich die Aufteilung zu der der publizierten Logik und derjenigen der Enzyklopädie verhält, wird zu prüfen sein. Vergleichsweise feste Gestalt hat beizeiten die Philosophie der Natur angenommen. Hegel begreift Natur aristotelesnah als substanzhafte Genese, die fortschreitend immer neue Gestalten hervorbringt, ohne in ihrem Werdeprozess Sprünge zu machen, aber auch ohne auf ein Ursprüngliches reduzierbar zu sein, das immer schon da gewesen wäre. Zwar lebt die Natur von vorhandenen Potentialen, die ihr implizit sind, jedoch nicht dergestalt, dass diese lediglich expliziert und entfaltet würden; denn natürliche Entwicklung greift immer schon auf ihr Resultat vor und setzt dieses in bestimmter Weise voraus, um zu sein, was sie ist. Hegels Naturphilosophie betrachtet ihren Gegenstand als ein System von Stufen, „deren eine aus der andern nothwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultirt, aber nicht so, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der innern den Grund der Natur ausmachenden Idee“ (GW 13, 114), wie es 1817 und ähnlich bereits im Enzyklopädiekurs von 1812/13 heißt. Auch die naturphilosophische Einteilung der Heidelberger Enzyklopädie in Mathematik, Physik und Physiologie 3 Näheres hierzu und zu den einzelnen Ausarbeitungsetappen der „Nürnberger Enzyklopädie“ ist dem editorischen Bericht (613–715) von GW 13 (hg. v. W. Bonsiepen und K. Grotsch, Hamburg 2000) sowie der dort angeführten Sekundärliteratur zu entnehmen. Interessant ist u. a. der Hinweis auf die motivierende Bedeutung des auf den Hegelfreund Friedrich Immanuel Niethammer zurückgehenden „Allgemeine(n) Normativ(s) der Errichtung der öffentlichen Unterrichtsanstalten in dem Königreich Bayern“ vom November 1808 (vgl. G. Wenz, Hegels Freund und Schillers Beistand. Friedrich Immanuel Niethammer [1766–1848], Göttingen 2008).

Das Enzyklopädieprojekt

findet sich schon damals. Für die Ausarbeitung der Geistesphilosophie ist insbesondere die fortschreitende Modifikation der Phänomenologiekonzeption kennzeichnend. Die Gliederung der Geistlehre in diejenige vom subjektiven, objektiven und absoluten Geist ist strukturell früh erkennbar, wird aber in den Einzelbestimmungen und Unterabteilungen sehr variabel gehandhabt. Vorlesungslehrbuch in drei Auflagen Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ ist ihrem Untertitel gemäß „zum Gebrauch seiner Vorlesungen“ bestimmt und als Lehrbuch gestaltet. Entworfen werden Struktur und Grundlinien des Systems, ohne es im Detail durchzuführen und zu entfalten. Als Kompendium ist die Enzyklopädie darauf angelegt, im Kolleg erörtert und expliziert zu werden. Bereits in seinem ersten Semester in Heidelberg, im WS 1816/17, hat Hegel zum Thema gelesen. Da die Heidelberger Druckfassung 1825 vergriffen war, wurde eine Neuauflage erforderlich. Sie erfolgte 1827, zehn Jahre nach der Erstauflage.4 Ende Mai des Jahres hatte Hegel die Umarbeitungen des Manuskripts abgeschlossen; an der 1817er Ausgabe wurden erhebliche Veränderungen vorgenommen. Für ihre Durchführung vor Ort war der in Heidelberg lehrende Theologe und Hegelfreund Carl Daub zuständig. Die neue Vorrede ist am 25. Mai 1827 in Berlin unterzeichnet worden und um ein mehrfaches umfangreicher als die Vorrede der Erstauflage. Auch das Buch selbst, das kurz darauf erschien, hat im Vergleich zur Erstauflage erheblich an Umfang gewonnen und eine ganze Reihe von Veränderungen im inhaltlichen Detail und in der sprachlichen Darstellung erfahren. Die Enzyklopädie von 1817 umfasste im Druckoriginal 304, diejenige von 1824 578 Seiten. Es ergab sich also beinahe eine Verdoppelung des Buchquantums. Wie sich die Inhaltsverzeichnisse der beiden Werke zueinander verhalten, ist im editorischen Bericht zur Zweitauflage ausgeführt (vgl. GW 19, 466–469). Ins Auge fällt der stark erweiterte Vorbegriff zur Wissenschaft der Logik, der, wie es heißt, die Stellung des Gedankens zur Objektivität verhandelt und Näheres zu Begriff und Einteilung der Logik enthält. Weitere „besonders signifikative Umarbeitungen in der Form von Ausarbeitungen, Erweiterungen und Neukonzipierung“ (GW 19, 464; in GW 19 kursiv) haben in der Naturphilosophie und in der Philosophie des Geistes stattgefunden. Die Dreiteilung der Naturphilosophie wird unterschiedlich gestaltet: lautete die Abfolge der Teile zunächst Mathematik, Physik des Unorganischen und Physik des Organischen, so wird nun in Mechanik, Physik und Organik unterteilt mit entsprechenden Verschiebungen in den ersten beiden Teilen, wie sie insbesondere durch die Abtrennung 4 Vgl. GW 19: G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1827). Hg. v. W. Bonsiepen und H.-Chr. Lucas, Hamburg 1989.

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Erhebung zum Absoluten

der Mechanik von der Physik veranlasst worden sind. Erhalten bleibt hingegen die Unterteilung des dritten naturphilosophischen Teils in die geologische, vegetabilische und animalische Natur. Die Umgruppierungen in der Geistesphilosophie betreffen insbesondere die Lehre vom subjektiven Geist, die zunächst in Seele, Bewusstsein und Geist, dann in Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie untergliedert wird, wobei die alten Titel als Untertitel wiederkehren. Weniger auffällig, aber dennoch beachtenswert sind die Modifikationen in den Abschnitten über den objektiven und über den absoluten Geist (vgl. GW 19, 470–472). Sehr viel schneller als im Falle der ersten Auflage ergab sich bezüglich der zweiten die Notwendigkeit einer Neuauflage. Diese erschien bereits Mitte Oktober 1830.5 Hegel war inzwischen ein berühmter Berliner Professor mit zahlreichen Hörern, die sein Lehrbuch kauften. Die Ausgabe von 1827 war daher rasch vergriffen. Der Autor wollte diesmal die Überprüfung der Korrektur- und Druckarbeiten selbst übernehmen. Die Veränderungen gegenüber der vorhergehenden Auflage sind geringfügig. Gelegentlich kommt es zu Umgliederungen und Neustrukturierungen, zu stilistischen und terminologischen Verbesserungen aus Verständlichkeitsgründen sowie zu Profilierungen insbesondere der Übergangspassagen. Im Vorwort zur Enzyklopädieausgabe von 1830 (GW 20, 27–32) sucht Hegel in knapper Form Bezüge zur aktuellen Situation und Debattenlage im Allgemeinen und zur Aufnahme seines Konzepts im Besonderen herzustellen, wobei sich der polemische Ton entsprechend der gesteigerten Schärfe der zumeist religiös motivierten bzw. begründeten Angriffe der Gegner verstärkt. Nach einem kurzen Vermerk zu seinen Versuchen, die Klarheit und Bestimmtheit der enzyklopädischen Exposition immer mehr zu verbessern, ohne den kompendiarischen Zweck des Lehrbuchs aufzugeben (GW 20, 27: „[E]s behält seine Bestimmung, erst durch den mündlichen Vortrag die nöthigen Erläuterungen zu erhalten.“), nimmt Hegel im Vorwort zur dritten Enzyklopädieausgabe ohne Namensnennung auf die, wie es heißt, mehrfältigen Beurteilungen seines Philosophierens Bezug, wobei in einem Nebensatz sogleich vermerkt wird, dass die Urteilenden „größentheils wenig Beruf zu solchem Geschäft gezeigt haben“ (ebd.), will heißen: keine Ahnung von den zur Verhandlung stehenden Angelegenheiten hatten.6 5 Vgl. GW 20: G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). Hg. v. W. Bonsiepen und H.-Chr. Lucas, Hamburg 1992. Veränderungen gegenüber der Ausgabe von 1827, die bemerkt zu werden verdienen, sind im editorischen Bericht aufgelistet (GW 20, 578–598, bes. 594ff.). 6 Die Replik fällt entsprechend aus. Die Abstraktion von allen Inhalten, insbesondere von den Sinngehalten der Religion, wird den Vertretern einer formalen Verstandesaufklärung ebenso zum Vorwurf gemacht wie den Repräsentanten eines Gefühlschristentums, die den Glauben auf einen puren Sujektivismus reduzierten, den sie als Jesusfrömmigkeit ausgäben. „Indem sie

Das Enzyklopädieprojekt

Antitholuck Schon in der Vorrede zur zweiten Enzyklopädieausgabe (GW 19, 5–18) sah sich Hegel veranlasst, umfängliche Erklärungen abzugeben über die äußere Stellung seines Philosophierens zu den „geistigen und geistlosen Betrieben der Zeitbildung“ (GW 19, 5). Als geistlos wird namentlich die kritisch gemeinte These abqualifiziert, spekulative Philosophie sei gleichzusetzen mit einem Identitätsdenken, dem alles differenzlos eins werde dergestalt, dass mit dem Unterschied von Gott und Mensch, Unendlichem und Endlichem auch der zwischen Gut und Böse dahinschwinde. Als typisches Beispiel für derart von Außen herangetragenes und äußerliches „Gerede“ (ebd.) führt Hegel den neopietistischen Erweckungstheologen Friedrich August Gotttreu Tholuck an.7 Dieser hatte das Verdikt einer sittlichkeitsdestruierenden Differenzaufhebung dadurch unterstrichen, dass er das Hegel’sche Denken mit den Etiketten „Spinozismus“ und „Pantheismus“ versah. Grundsätzlich, so Tholuck, laufe der spekulative Prozess auf Atheismus hinaus. Hegel verwahrte sich gegen solche Unterstellungen in drei Anmerkungen (GW 19, 8ff.; 13f.; 15) und unter Verweis auf § 573 der Zweitauflage der Enzyklopädie, wo eingehend vom „Verhältniß der Philosophie zur Religion“ (GW 19, 404) gehandelt werde. „Man würde“, heißt es, „immer besser thun, über Philosophie gar nicht zu sprechen, solange man bei aller Tiefe des Gefühls noch so sehr in der Einseitigkeit des Verstandes befangen ist, um nur von dem Entweder Oder eines Urgrundes, in dem das individuelle Seyn und dessen Freiheit nur eine Täuschung, und der absoluten Selbstständigkeit der Individuen zu wissen, und von dem Weder Noch dieser beiden Einseitigkeiten des, wie es Hr. mit der Masse der gleichgültigen Aussendinge des Glaubens sich weitläufige Beschäftigungen machen, bleiben sie dagegen in Ansehung des Gehalts und Inhalts des Glaubens selbst um so dürrer bey dem Nahmen des Herrn Christus stehen, und verschmähen vorsätzlich und mit Schmähen die Ausbildung der Lehre, welche das Fundament des Glaubens der christlichen Kirche ist, denn die geistige, vollends denkende und wissenschaftliche Expansion störte, ja verböte und tilgte den Eigendünkel des subjectiven Pochens auf die geistlose, am Guten unfruchtbare, nur an den bösen Früchten reiche Versicherung, daß sie im Besitze der Christlichkeit sich befinden, und dieselbe ausschließlich sich zu eigen haben.“ (GW 20, 29) Hegel empfiehlt dem Philosophen und damit sich selbst, gedankenabstinentes Gefühlschristentum und inhaltsleeres Verstandesdenken gleichermaßen ihrer Dürftigkeit zu überlassen, um sich künftig ungestört der philosophischen Gedankenarbeit hingeben zu können. „Es ist des unberufenen Herzudringens zum Geschäfte der Philosophie oben gedacht worden; wie dasselbe sich um so lauter macht, je weniger es geeignet ist Theil daran zu nehmen, so ist die gründlichere, tiefere Theilnahme einsamer mit sich und stiller nach Aussen; die Eitelkeit und Oberflächlichkeit ist schnell fertig und treibt sich zum baldigen Dreinsprechen; der Ernst aber um eine in sich große und nur durch die lange und schwere Arbeit vollendeter Entwicklung sich genügende Sache versenkt sich lange in stiller Beschäftigung in dieselbe.“ (GW 20, 31) 7 Vgl. G. Wenz, Art. Tholuck, Friedrich August Gottreu (1799–1877), in: TRE 33, 425–429.

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Th. nennt, gefährlichen Dilemmas nichts in Erfahrung gebracht zu haben.“ (GW 19, 9 Anm.) Gedanklich stünden Tholuck nur endliche Verstandeskategorien zur Verfügung, deren Unvermögen, das Unendliche begrifflich zu erfassen, er dann durch Rückzug in eine bloße Gefühlsunmittelbarkeit zu kompensieren suche, die lediglich den Schein der Frömmigkeit erwecke, in Wahrheit aber alle Glaubensgehalte zur Disposition stelle und preisgebe. Als der „begeisterte Repräsentant pietistischer Richtung“ (GW 19, 13 Anm.) verharre er auf der dünnen inhaltslosen „Spitze eines abstracten Gefühlszustandes“ (GW 19, 16) und reduziere den christlichen Glauben auf eine „contracte, auf das Herz sich punktualisirende Religiosität“ (GW 19, 13), deren expansionslose Intensität nicht geistreich und begeisternd, sondern im Gegenteil geistig verarmt, geistlos, ja geistwidrig zu nennen sei. Einen Beleg für die Richtigkeit dieser Annahme bietet Hegel der Umgang Tholucks mit der Trinitätslehre, den er als „cavalierement“ (GW 19, 14) kennzeichnet. Statt es, wie er beanspruche, zu erbauen, entleere Tholuck das Christentum und beraube die christliche Theologie der Gegenstände ihrer Wissenschaft. „Wenn freilich das Credo kaum auf etliche wenige Artikel eingeschrumpft ist, bleibt wenig Stoff zu erkennen übrig, und kann aus der Erkenntniß wenig werden.“ (GW 19, 15 Anm.)8 8 Die in exemplarischer Absicht vorgetragene Tholuckkritik bildet die Kehrseite von Hegels konstruktivem Versuch, einen ersten Eindruck zu verschaffen von der wissenschaftlichen Erkenntnis der Wahrheit, auf die er in seinem philosophischen Bemühen hingearbeitet habe und hinarbeite. Auf dem Weg des endlichen Verstandesdenken sei keine Vermittlung mit der absoluten Wahrheit möglich. Dem endlichen Begriff bleibe das Unendliche äußerlich, um in der Konsequenz selbst verendlicht zu werden. Gegen diese Entwicklung und ihr Resultat werde seitens der Gläubigen zu Recht protestiert. Aber der Rückzug auf eine „so dürre Kategorie“ (GW 19, 6) wie die Unmittelbarkeit fruchte nicht und könne „die höchsten Bedürfnisse des Geistes“ (GW 19,7) nicht befriedigen, da sie alle Inhalte preisgebe. Damit verbleibe sie im Banne der Position, der sie sich entgegensetze. Eine Überwindung verkehrter Alternativen und eine Versöhnung des Geistes mit sich selbst könne es nur geben, wenn das Endliche als ein aufzuhebendes und aufgehobenes Moment des Unendlichen begriffen werde, welches es bestimmt negiere, bewahre und seiner Vollendung zuführe. „Mit andern Worten: wollt ihr daß die Praxis der Religion wieder gedeihe, so sorgt doch dafür, daß wir wieder zu einer vernünftigen Theorie derselben gelangen, und räumt nicht euren Gegnern (den Atheisten) vollends das Feld mit jener unvernünftigen und blasphemischen Behauptung: daß an eine solche Religionstheorie, als an eine unmögliche Sache, gar nicht zu denken, daß die Religion bloße Herzenssache sey, bei der man des Kopfs sich füglich entäußern könne, ja müsse.“ (GW 19, 15) Der Anspruch Hegels geht dahin, die geforderte vernünftige Theorie der Religion in seiner Philosophie geleistet und das Feld dafür bereitet zu haben, dass das Geheimnis des Glaubens „für das Denken selbst geoffenbart werde“ (GW 19, 18). – Im Unterschied zur Vorrede der zweiten und dritten Ausgabe der Enzyklopädie hält sich diejenige der Erstausgabe von Polemik und Apologetik noch gänzlich frei und beschränkt sich darauf, Funktion und Zweck des Lehrbuches als eines Kompendiums philosophischer Wissenschaft im Sinne der Hegel’schen Systemkonzeption zu charakterisieren. Die nächste Veranlassung, eine Übersicht über den

Die Makrostruktur des Systems und seine logische Grundlegung

3.2

Die Makrostruktur des Systems und seine logische Grundlegung

Die Makrostruktur des thetisch und in Grundzügen zur Darstellung gebrachten Gesamtsystems9 ergibt sich aus dem Prozess tätiger Selbstrealisierung des Denkens, nämlich „sich selbst um für sich zu seyn sich gegenüber zu stellen und in diesem Andern nur bei sich selbst zu seyn“ (GW 20, 60f.). Die Idee an und für sich bedenkt die Logik, die Idee in ihrem Anderssein die Naturphilosophie, die aus ihrem Anderssein in sich zurückgekehrte Idee die Philosophie des Geistes. Die dreigliedrige Systemstruktur kompliziert sich, wenn man sie von der Unterscheidung von Logik und Realphilosophie überlagert sein lässt und ferner in Rechnung stellt, dass die Logik sowohl eine Dreiteilung in Seins-, Wesens- und Begriffslogik als auch eine Zweiteilung in die Seins- und Wesenslogik umfassende objektive Logik einerseits und die subjektive Logik des Begriffs andererseits Gesamtumfang der Philosophie früher als beabsichtigt zu veröffentlichen, sei das Bedürfnis gewesen, „meinen Zuhörern einen Leitfaden zu meinen philosophischen Vorlesungen in die Hände zu geben“ (GW 13, 5). Der Charakter eines solchen Leitfadens schließe nicht nur inhaltliche Vollständigkeit aus, sondern beschränke auch die systematische Beweisführung auf ein Minimum. Darauf verweise bereits der Titel des Werkes: er „sollte theils den Umfang eines Ganzen, theils die Absicht anzeigen, das Einzelne dem mündlichen Vortrage vorzubehalten“ (ebd.). Trotz solcher Selbstbescheidung verbindet Hegel mit seinem Werk einen durchaus epochal zu nennenden Anspruch; er beansprucht nicht weniger als „eine neue Bearbeitung der Philosophie nach einer Methode auf(zu)stell(en), welche noch, wie ich hoffe, als die einzig wahrhafte, mit dem Inhalt identische, anerkannt werden wird“ (ebd.). 9 Unter den nicht eben zahlreichen Arbeiten, die Hegels System als Ganzes einer kritischen systemtheoretischen Analyse unterzogen haben, ist V. Hösles zweibändiges Werk hervorzuheben: Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Bd. I: Systementwicklung und Logik; Bd. II: Philosophie der Natur und des Geistes, Hamburg 1987. Die innere Kohärenz von Hegels System sieht Hösle vor allem durch Defizite in der Bestimmung des Verhältnisses von Subjektivität und Intersubjektivität bedroht. Während in den nachhegelschen Philosophien intersubjektive Strukturen und die sprachliche Vermittlung des Denkens ins Zentrum träten, suche Hegels Logik im absoluten Idealismus der Subjektivität ihre Vollendung, was zu Inkonsistenzen in der Verhältnisbestimmung von Logik und Realphilosophie führe. Gleichwohl will Hösle an Hegels Systemprogramm „einer a priori zu entwickelnden Struktur, die nicht nur allem Erkennen, sondern auch allem Sein vorausgeht und die eine apriorische Erkenntnis der Wirklichkeit ermöglicht“ (a.a.O. I, 9), festhalten und seine Kritik auf die Näherbestimmung objektiver Vernunft und ihres Verhältnisses zu realen geistigen Prozessen beschränkt wissen. Unabhängig von dieser Grundthese verdienen Hösles Ausführungen ungeteiltes Interesse, weil sie nicht nur auf Detailaspekte, sondern auf die Makrostruktur von Hegels System konzentriert sind. Zu okzidentalen Versuchen enzyklopädischer Wissenssystematik vor und neben Hegel vgl. ders., Wie hat die westliche Kultur ihre verschiedenen Formen von Wissen gegliedert und gerechtfertigt? Historische Überlegungen zu den Metamorphosen des Baums des Wissens, in: Th. Oehl/A. Kok (Hg.), Objektiver und absoluter Geist. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Leiden/Boston 2018, 743–783.

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aufweist. Lassen sich Korrespondenzen zwischen der internen Gliederungsstruktur der Logik und derjenigen der Natur- und Geistphilosophie namhaft machen? Findet sich zu der Doppelgliederung der Logik eine Entsprechung in der Realphilosophie? Können überhaupt Entsprechungsverhältnisse zwischen Logik und Realphilosophie geltend gemacht werden, und wie verhält sich eine eventuelle Strukturierungsfunktion der Logik für das Systemganze zu der Tatsache, dass sie den ersten Teil des Systems und nicht schon unmittelbar das ganze System ausmacht? Logik und Realphilosophie Was das makrostrukturelle ebenso wie das mikrostrukturelle Verhältnis von Logik und Realphilosophie angeht, so wird man Entsprechungen im Sinne von direkten Analogien schon deshalb nicht erwarten dürfen, weil die Logizität der mit einem univoken logos analogans notwendig operierenden Analogie mit der dialektischen Logik Hegels und der Dialektik des Gesamtsystems nur sehr bedingt vergleichbar ist. Zutreffend scheint hingegen die Vermutung, dass die realphilosophische Entwicklung diejenige der logischen Bestimmtheitweisen, wie sie von der Seins- über die Wesens- zur Begriffslogik sich vollzieht, nicht auf gleichsam abbildhafte Weise wiederholt, sondern im Prozess ihrer Fortbildung stets neu durchläuft dergestalt, dass von einem in beständiger inversibler Selbstexplikation statthabenden echten Systemprozess die Rede sein kann. Im Hinblick auf die Logik selbst bedeutet dies, dass sie einerseits das Systemganze strukturiert und strukturell das Systemganze ist; doch ist sie das strukturierte Systemganze nicht unmittelbar, sondern nur antizipativ in Gestalt des über sich selbst hinausführenden ersten Teils des Systems. In der Unmittelbarkeit ihrer Selbstentsprechung verharrend müsste die Logik auf die Logizität des Seins regredieren, welcher Regress gerade dadurch vermieden wird, dass sie das konkrete Dasein des Wesenslogos der Natur und dem werdenden Geist überlässt und dasjenige des Begriffslogos dem entwickelten Geist. Als erster Teil des Systems beansprucht die Logik selbst, wenn man so will, nur einen seinslogischen Status, um gerade so ihrer differenzierten Einheit von Seins-, Wesens- und Begriffslogik zu entsprechen. Kurzum: Ihre programmatische Funktion, das Systemganze zu strukturieren und strukturell zu sein, kann die Logik nur als erster Teil des Systems erfüllen. Die Beobachtung, dass Logik und Realphilosophie nur anfänglich, nämlich hinsichtlich der ersten Bestimmungsmomente der Seinslogik einerseits und der Naturphilosophie andererseits direkt korrespondieren10 , gehört in diesen Zusammenhang, dessen angemessenes Verständnis die Einsicht mit sich führt, dass das Verhältnis von Logik und Realphilosophie insgesamt missverstanden wird, wenn man 10 Vgl. V. Hösle, a.a.O. I, 106ff.

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es nach Weise der Dualität von Begriff und Realität versteht. Ist doch nach Hegel die Trennung von Begriff und Realität der Begriff des Endlichen, den es systematisch in den Begriff des Unendlichen und Absoluten aufzuheben gilt. Verhältnis von Verhältnissen Für das Verständnis der Makrostruktur des Hegel’schen Systems ergibt sich ein komplexes Verhältnis von Verhältnissen. Die Logik steht im Verhältnis zum Gesamtsystem in einem seinslogischen Verhältnis zu sich selbst, welches darauf angelegt ist, sich wesenslogisch in die Philosophie der Natur und des endlichen Geistes und begriffslogisch auf die Philosophie des absoluten Geistes hin zu entäußern. Dabei darf die gemeinsame Bezeichnung von Seins- und Wesenslogik als objektive Logik als Hinweis darauf gewertet werden, dass sich die Logik im Begreifen ihrer Differenz mit der Naturphilosophie und der Philosophie des endlichen Geistes eigentümlich verbunden und von der Philosophie des absoluten Geistes im Begreifen ihrer Einheit eigentümlich unterschieden weiß. Der systemtheoretische Sinn der Überlagerung einer drei- und einer zweiteiligen Gliederung, wie sie in der Logik und in reflexer Umkehrung auch in der Realphilosophie gegeben ist, wo die Zweiteilung in Natur- und Geistphilosophie jeweils dreigliedrig durchwirkt ist, ließe sich auf diese Weise einer plausiblen Erklärung zuführen. Man kann freilich auch von einer, bei Hegel ebenfalls begegnenden Dreigliederung des auf die Logik folgenden Systems ausgehen, nämlich von der Unterscheidung einer Philosophie der Natur, des endlichen und des absoluten Geistes, und die Philosophie der Natur und des endlichen Geistes zusammengenommen auf die objektive Logik rückbeziehen, womit der Philosophie des absoluten Geistes die Realisierung des Begriffs, die sie zu erfassen sucht, mit wünschenswerter formaler Deutlichkeit zuerkannt wäre. Im Hinblick auf das Systemganze ergäbe sich demzufolge die Reihung Logik, Naturphilosophie, Philosophie des endlichen Geistes, Philosophie des absoluten Geistes. Dabei ließe sich die tetralogische Systemeinteilung unschwer in eine triadische überführen, sofern sich Natur und endlicher Geist „als Submomente des negativen Moments der ganzen Systemtriade“ 11 deuten lassen. 11 A.a.O. I, 149. Hösle fährt fort: „Innerhalb dieser Systemkonzeption wäre die Logik das erste, thetische Moment; Natur und endlicher Geist würden zusammen das zweite Moment ausmachen; dem absoluten Geist (bzw. absolutem und objektivem Geist) käme hingegen eine doppelte synthetische Funktion zu: einerseits wären objektiver und absoluter Geist Synthese der realphilosophischen Sphären von Natur und subjektivem Geist; andererseits wären sie Abschluß einer weiteren Triade, deren erstes Moment die Logik wäre, deren zweites hingegen von Natur und endlichem Geist gebildet würde. Es wäre also auf diese Weise möglich, die tetradische Systemeinteilung auf eine triadische zurückzuführen, die von der üblichen beträchtlich abwiche: Zweites und drittes Moment wären jetzt nicht mehr Natur und Geist, sondern die zwei endlichen Sphären von Natur und subjektivem Geist auf der einen und der

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Die Wissenschaft der Logik, die als Grundlegung des Systems in ihren verschiedenen Fassungen stets in Seins-, Wesens- und Begriffslehre gegliedert ist, darf nach Hegels Selbstverständnis von der metaphysischen Disziplin nicht gesondert werden, weil sie selbst die traditionelle Funktion der Metaphysik spekulativ zu erfüllen beansprucht. Die Hegel’sche Logik bestimmt sich dazu, die Idee des Absoluten zu denken, indem sie die Möglichkeit reinen Denkens zur Darstellung bringt. Die objektive Logik, welche die subjektive Logik als Lehre vom Begriff genetisch exponiert, hebt mit der überkommenen Differenz von Logik und Metaphysik prozessual zugleich diejenige von Ontologie und Transzendentalphilosophie auf, indem sie sowohl die ontologische Logik des Seins wesenslogisch auf ein transzendentalphilosophisches Reflexionsniveau zu erheben als auch den Gegensatz transzendentalen Wesens und ontischen Seins zu beheben sucht, um so die Voraussetzung für die Entwicklung des Begriffs zu setzen, der Sein und Wesen in sich fasst. Sein, Wesen und Begriff Wie die Wahrheit des Seins das Wesen ist, so ist die Wahrheit des Wesens der Begriff. Als bloßer Anfangsgrund der Logik12 ist Sein nicht deren Substrat, absolute Geist auf der anderen Seite. Eine derartige Dreiteilung des Hegel’schen Systems – die, wie gezeigt, starke sachliche Vorzüge besitzt – ist nun nicht nur ein Gedankenspiel des heutigen Interpreten; Hegel hat sie vielmehr in der ‚Religionsphilosophie’ selbst zugrunde gelegt.“ (A.a.O. I, 149f). 12 Zum Problem des Anfangs der Logik und damit des Gesamtsystems vgl. GW 21, 53: „In neuern Zeiten erst ist das Bewußtseyn entstanden, daß es eine Schwierigkeit sey, einen Anfang in der Philosophie zu finden, und der Grund dieser Schwierigkeit so wie die Möglichkeit, sie zu lösen, ist vielfältig besprochen worden. Der Anfang der Philosophie muß entweder ein Vermitteltes oder Unmittelbares seyn, und es ist leicht zu zeigen, daß es weder das Eine noch das Andre seyn könne; somit findet die eine oder die andre Weise des Anfangens ihre Widerlegung.“ Die Philosophie hat den Anfang, den sie macht, logisch als dasjenige zu nehmen, was er ist: nichts als Anfang und bloßes Beginnen. Der Anfang der Philosophie, mit dem die Logik beginnt, ist nichts als Sein, was an sich selbst reine Unbestimmtheit und Leere und damit Nichts, nichts als reines Nichts ist, nämlich einfache Gleichheit mit sich, Ununterschiedenheit in ihm selbst. Sein ist somit der leerste Begriff, ja die Begriffsleere, wie sie in reiner Anfänglichkeit gegeben ist, als solche. Erst im Fortgang der Logik stellen sich die Gedankeninhalte ein, wobei das logische Vorwärtsgehen auch als ein Rückgang zum Grund der Wahrheit vorstellig gemacht werden kann. Endgültiges Resultat und absoluter Grund der Logik koinzidieren. Es erhellt, was Hegel so sagt: „Das Wesentliche für die Wissenschaft ist nicht so sehr, daß ein rein Unmittelbares der Anfang sey, sondern daß das Ganze derselben ein Kreislauf in sich selbst ist, worin das Erste auch das Letzte, und das Letzte auch das Erste wird.“ (GW 21, 57) Liegt es in der Natur des Anfangs selbst, dass er das reine Sein sei und sonst nichts, so muss es der logischen Entwicklung des Begriffs überlassen bleiben, zu differenzierten inhaltlichen Bestimmungen fortzuschreiten. Gedankenlos und inhaltsleer wäre hingegen der Anspruch, den entwickelten Begriff als Prinzip und auf uranfängliche Weise zu haben. Unter dem Gesichtspunkt, dass

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sondern dazu bestimmt, im Verlauf der prozessualen Abfolge seiner Bestimmtheitsweisen reflexiv aufgehoben und auf sein Wesen hin durchschaut zu werden. Aber der Vorrang des Wesens vor dem Sein, der dem Fortschritt vergleichbar ist, den die Transzendentalphilosophie nach Hegels Urteil der traditionellen Ontologie gegenüber darstellt, ist lediglich relativ, solange das Wesen mit dem Schein einer ihm äußerlichen Erscheinung behaftet bleibt. Erst wenn diese Differenz und mit ihr die unaufgehobene, durch abstrakte Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität bedingte Verhaftung der Transzendentalphilosophie an die traditionelle Ontologie behoben ist, wird der Weg frei für die Entwicklung der Lehre vom Begriff, in der sich Hegels Metaphysik als spekulative Logik erfüllt. Im entwickelten Begriff ist die Identität von Anundfürsichsein und Gesetztsein sowie jene Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit erreicht, wie sie als durch und durch selbstbestimmte Einzelheit den Zielpunkt der Logik bildet, der es vorbehalten bleibt, die Adäquation aller Realität an ihren Begriff denkend zu organisieren. In der sog. Realphilosophie entäußert sich die Logik, doch ohne sich zu veräußern.

der Anfang als Anfang nichts als ununterschiedene Einheit sein könne, setzt sich Hegel u. a. mit Versuchen auseinander, das Ich als unmittelbares Selbstbewusstsein oder den absoluten Geist Gottes an den logischen Anfang der Philosophie zu stellen. Beides wird als reine Willkür verworfen. Wollte die Logik den Gang ihrer Gedanken unmittelbar mit Gott beginnen lassen, der doch das unbestrittenste Recht hätte, „daß mit ihm der Anfang gemacht werde“ (GW 21, 65), so wäre dies bloßes Belieben und in seiner willkürlichen Beliebigkeit gedankenlos und geistwidrig, da die anfängliche Logik philosophischen Beginnens den Gottesgedanken in keiner Weise zu fassen vermöchte, weil diesem erst der voll entwickelte Begriff gemäß ist. Es muss dabei bleiben: Der logisch begriffene Anfang der Logik und mit ihr der Philosophie überhaupt, ist indifferentes Sein und sonst ohne weitere Bedeutung. Als solchen hat man den philosophischen Anfang, wie er im einfachen, mit dem Nichts koinzidierenden Sein der Eleaten historisch geworden ist, hingehen zu lassen, um des Weiteren über ihn hinauszuschreiten und das Abstrakte aufzuheben in immer konkreter entwickelte Begriffsgehalte. – Die Methode, durch deren Verfahren die Hegel’sche Philosophie ihre Inhalte gewinnt, vollzieht ihren Gang in konsequenter Abstraktion von Abstraktionen, wie sie das Beginnen des Denkens momentan bestimmen, um in seinen fortschreitenden Verlauf aufgehoben zu werden. Die Konkretion, welche Philosophie erstrebt, ist nicht unmittelbar, sondern nur vermittlungsweise zu erlangen. Ihren logischen Anfang nimmt Philosophie bei der abstraktesten Abstraktheit des leeren Seins, ihre Vollendung findet sie im entwickelten Begriff des absoluten Geistes, dessen Wahrheit und Wirklichkeit nur im Vollzug der Systemgenese zu erfassen ist. Für die Genese des Hegel’schen Systems hinwiederum sind drei Momente konstitutiv, die ihre Idee bestimmen: Diese negiert, um sich zu realisieren, ihre Unmittelbarkeit und vermittelt sich mit dem, was sie nicht unmittelbar selbst ist. Aus der Bestimmung der Idee, Identität von Identität und Differenz zu sein, ergibt sich die Entwicklung des Systemganzen.

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3.3

Naturphilosophie und Philosophie des endlichen Geistes

Die sog. Realphilosophie hebt an als Philosophie der Natur. Das Verhältnis von Natur und logischer Idee hat im Laufe von Hegels Denkentwicklung unterschiedliche Ausarbeitungen gefunden, worin sich ein elementares Konzeptionsproblem anzeigt. Als Anderssein der Idee scheint die Natur der Inbegriff desjenigen zu sein, was sich dem Begriff entzieht und im Grunde unbegreiflich bleibt. Doch ist die äußerliche Gegenständlichkeit der Natur nach Hegel insofern nicht begrifflos, sofern gegenständliche Äußerlichkeit gerade den Begriff der Natur ausmacht. Dies zu Bewusstsein zu bringen und damit ein Wissen von der Natur in der Evolution ihrer Gestalten zu erschließen, ist Aufgabe der Naturphilosophie, die auf die Naturwissenschaften nicht nur äußerlich, sondern dadurch bezogen ist, dass sie naturwissenschaftliches Wissen als dasjenige begreift, was es ist: Wissen von der Natur. Naturphilosophie und Naturwissenschaft Naturphilosophie ist Naturwissenschaft, die weiß, dass sie Naturwissenschaft ist. Ist Naturwissenschaft nicht selten selbstvergessen und reflexionslos ihrem Gegenstand hingegeben, so erinnert Naturphilosophie an die nachgerade in ihrer Evidenz häufig unbedachte Selbstverständlichkeit, dass Naturwissenschaft wie jede bewusste Wahrnehmung von Natur wissensförmig ist. Damit ist nicht geleugnet, dass es auch ein fühlendes, präreflexives Innesein der Natur gibt; ebensowenig wird bestritten, dass fühllose Naturgegenstände weder zum Innesein ihrer selbst, noch gar zu bewusster Wahrnehmung oder zu Selbstbewusstsein in der Lage sind. Doch kann, um dieses zu wissen, von Bewusstsein und Selbstbewusstsein nicht abstrahiert werden. Um das an sich selbst Begriffslose als solches zu begreifen, bedarf es des Begriffs (wie denn auch vom Unbewussten nur unter Bewusstseinsbedingungen die Rede sein kann). Die Philosophie der Natur als erster realphilosophischer Systemteil, die seit der Jenaer Dissertation „De orbitis planetarum“ von 1801 ein wichtiges Thema Hegel’schen Denkens darstellt, beinhaltet Ausführungen zu Raum und Zeit, zur Arithmetik, Geometrie und Differential- und Integralrechnung sowie zu einer Vielzahl von Aspekten der empirischen Naturwissenschaften der Zeit, deren aposteriorischer Charakter anerkannt wird, ohne deshalb den Anspruch aufzugeben, Einsicht in die Wissensformen zu nehmen, von denen der naturwissenschaftliche Gehalt nicht zu trennen ist. Die Welt des Empirischen lässt sich nicht gedankenlos in Erfahrung bringen, weil empirische Wahrnehmung, gerade wenn sie reflektiert vollzogen werden soll, ein Bewusstsein dessen voraussetzt, was durch Erfahrung gewusst wird.

Naturphilosophie und Philosophie des endlichen Geistes

In der ersten Fassung der Enzyklopädie wird die Naturphilosophie in Mathematik, Physik und organische Physik, ab der zweiten dann in Mechanik, Physik und Organik unterteilt. Als Wissenschaft endlicher Größenbestimmungen ist die Mathematik wesentlich formale Verstandeswissenschaft, deren logische Grundstrukturen im Verlauf der Seinslogik entwickelt werden, um zu erkennen, welche begrifflichen Bestimmungen mathematische Operationen zur impliziten Voraussetzung haben. Eine Mathematisierung der Philosophie kommt für Hegel auch in logischer Hinsicht nicht in Frage. Vielmehr hat eine Philosophie der Mathematik zu erweisen, dass mathematische Methoden dem Gang des Geistes und dem Verlauf der Natur über ein bestimmtes Stadium hinaus nicht zu folgen vermögen. Der mathematische Zuständigkeitsbereich ist wie derjenige der formalen Logik begrenzt und zwar nicht nur äußerlich, sondern durch die innere Fixierung auf Gegenstände, deren Begrenztheit die Mathematik teilt. Entsprechendes gilt von der Mechanik. Ohne die physikalische Theorie der Mechanik differenzlos mit einem mechanischen Weltbild gleichzusetzen, gibt Hegel zu erkennen, dass nach seinem Urteil keineswegs alles, sondern nur der geringste Teil dessen, was ist, auf mechanische Weise erfasst werden kann. Der mechanische Standpunkt ist deshalb aufzuheben und in naturwissenschaftliche Wissensformen zu überführen, die der Verfasstheit entwickelterer Naturstufen gemäß sind. Verbleibt die Physik anfänglich im Umkreis der Mechanik, indem sie materielle Veränderungsprozesse nur äußerlich erfasst, so nimmt sie in Form der Chemie fortgeschrittene Gestalt an, indem sie interner Umwandlungsvollzüge inne wird, um schließlich als organische Physik die Entwicklung unteilbarer Totalitäten zur Erkenntnis zu bringen, denen Lebendigkeit eignet. Lebendige Organismen kennzeichnet das Strukturmerkmal eines in sich bestimmten Bestimmungsverhältnisses, dessen inne zu werden keine seinslogische Möglichkeit darstellt. Das Lebensprinzip lebendiger Organismen erschließt sich nur auf reflexive Weise. Vom geologischen Organismus des Minerals über das vegetabilische Leben der Pflanzen bis hin zum animalischen Tierleben erstreckt sich ein Prozess, der nicht länger äußerlich, sondern nur durch selbstreferentielles Begreifen und durch eine Begriffsgenese zu erfassen ist, die in einem nicht lediglich externen, sondern internen Verhältnis zum prozessualen Geschehen steht. Das Insichgehen der Natur, wie es im organischen Prozess statthat, und die Reflexion des Begriffs stellen nach Hegel nicht zwei Vorgänge dar, sondern vollziehen sich aktuell in einem, ohne deshalb indifferent zu sein. Leben und Tod Leben ist das Höchste, wohin sich Natur entwickelt. Die Einsicht, dass Leben Tod in sich schließt, fällt nach Hegel mit der Erkenntnis zusammen, welche

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die Entwicklung des Geistes initiiert.13 Den Tod des Lebendigen nicht nur äußerlich zu betrachten, sondern seiner im Leben selbst inne zu werden, ist für das Werden des Geistes wesentlich. Geistiges Leben ist Leben, das um den Tod weiß. Im organischen Leben der Tiere deutet sich dieses Wissen allenfalls in Form einer Ahnung an, im menschlichen Leben wird es manifest. Ja, es kann gesagt werden, dass die Menschwerdung des Menschen als eines geistigen Lebewesens mit dem Innewerden eigener Sterblichkeit koinzidiert. Anfangsthema der Hegel’schen Philosophie des Geistes ist die Anthropologie als die Lehre von dem im Werden begriffenen Bewusstsein, welches dazu bestimmt ist, Bewusstsein seiner selbst zu sein. Geist ist keine Größe, die man von ihrem begrifflichen Vollzug ablösen könnte. Geist ist der förmliche Vollzug seines Begriffs und ohne diesen Vollzug nicht zu denken. Es handelt sich bei ihm um keine Entität, die wie bloß Seiendes ist, und daher auch um kein Objekt gegenständlicher Erkenntnis. Was Geist ist, kann nicht äußerlich, sondern nur auf die Weise der Selbsterkenntnis erfasst werden. Zwar hat der Geist Natur insofern zur Voraussetzung, als seine Anfangsgestalt aus dieser hervorgeht und sein ursprüngliches Beginnen naturhaft bestimmt bleibt. Gleichwohl lässt sich das Beginnen des Geistes von Anfang an nicht als bloße Natur begreifen, weil er in der Realisierung seines Begriffs sich von dieser und zugleich von sich selbst als einer naturhaften Größe unterscheidet. Es ist, wenn man so will, die Wesensnatur des Geistes, sich von der Natur als dem Inbegriff desjenigen, was er nicht ist, zu unterscheiden, um sich aus 13 Zu vergleichen sind hierzu die enzyklopädischen Kapitel über den Gattungsprozess, mit dem Hegels Naturphilosophie endet, um sich in der Philosophie des Geistes zu vollenden. Gattungswesen sterben und nur sterbliche Lebewesen begatten sich. Tod und Leben, Leben und Tod gehen in der organischen Natur gleichgültig ineinander über. Was in der Hegel’schen Mechanik die Gravitation, in der Physik der chemische Prozess darstellt, ist in der Organik das Geschlechtsverhältnis. Im erfüllten Streben der Körper nach Vereinigung vollendet sich auf den unterschiedlichen Ebenen des Natürlichen alles Bisherige, um mit der Vollendung des Ganzen diesem zugleich ein Ende zu bereiten. Der unaufgehobene Gegensatz von Tod und Leben ist die Wahrheit der Natur, in welcher diese ihren Begriff realisiert und zugleich hinausweist über sich auf den Geist, welcher den natürlichen Gegensatz von Tod und Leben in sich begreift und ihn so zu transzendieren vermag. Kurzum: Der Mensch ist das Tier, das um seinen Tod weiß und sich im Unterschied zu allem Natürlichen differenziert zum Gegensatz von Tod und Leben zu verhalten vermag. Auf diese Weise kommt es zur Geburt des Geistes aus dem Tod der Natur: „Mit der Einsicht in den Tod als die letzte Bestimmung der Natur erfährt der Geist deren unheilbare Negativität. Er muß sich aus ihr zurückziehen, muß seinen letzten Sinn außerhalb der Natur suchen; sie kann ihm Wahrheit und Sein nicht bedeuten. Allerdings kann der Geist nicht in einem Dualismus zur Natur verharren; auch in der Natur muß er schließlich, trotz all ihrer Endlichkeit, ein Abbild der Idee, eine Hieroglyphe der Vernunft erkennen; und diese Aufgabe wird von der Naturphilosophie erfüllt, mit der die Philosophie der schwierigsten Aufgabe gerecht wird – auch in ihrem ganz Anderen sich selbst zu entdecken.“ (V. Hösle, a.a.O. II, 337)

Naturphilosophie und Philosophie des endlichen Geistes

sich heraus als freier Geist zu gestalten. Den Entwicklungsprozess dieser Selbstbestimmung zu bedenken, in dessen Verlauf die Naturhaftigkeit des Geistes fortschreitend aufgehoben wird, damit die Freiheit der alles Naturhafte transzendierenden Subjektivität sich verwirkliche, ist Aufgabe der Philosophie des subjektiven Geistes. Ihr gehören nach Maßgabe der Enzyklopädie die Anthropologie als die Lehre von der Menschenseele in ihrer natürlichen, fühlenden und wirklichen Form zu, die Lehre vom Bewusstsein, vom Selbstbewusstsein und von der Vernunft, mit der Hegel unter der Überschrift „Phänomenologie des Geistes“ in abbreviatorischer Manier entsprechende Abschnitte des gleichnamigen Werkes von 1807 aufgreift, sowie die, wie er sagt, psychologische Lehre vom theoretischen, praktischen und freien Geist. Subjektiver und objektiver Geist Die Philosophie des subjektiven Geistes erfüllt sich in der Freiheit voll ausgebildeter Subjektivität. Zu einer Objektivität, die seiner Geistigkeit gemäß ist, gelangt der subjektive Geist in Recht, Moralität und jener Sittlichkeit, wie sie in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und schließlich im Staat Form annimmt. Diesen Entwicklungsprozess zu bedenken, ist Aufgabe der Lehre vom objektiven Geist. Das abstrakte Recht, dem Moralität und Sittlichkeit noch äußerlich sind und das noch nicht zur Konkretion realer Rechtsgemeinschaft gediehen ist, stellt als formelles Recht das erste Bestimmungsmoment objektiven Geistes dar. Das formelle Recht umschreibt die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich konkrete Gerechtigkeit entwickeln kann. Seine primäre Aufgabe ist objektiver Schutz der äußeren Sphäre des Subjekts, dessen Leib als sein unveräußerliches Eigentum anzuerkennen ist, so dass jede Form von Sklaverei definitiv geschlossen werden muss. Jedes Rechtssubjekt ist Eigner seines Leibes, nie Leibeigener eines Anderen. Alle anderen Eigentumsrechte stehen im Zusammenhang dieses Grundsatzes, dessen Verkehrung durch das Strafrecht zu ahnden ist. Die Moralität abstrahiert von der Abstraktheit des formellen Rechts und gibt ihrer Äußerlichkeit inneres Format. Moralität hat die gewohnte Sitte zur Voraussetzung, setzt diese aber zum Moment des in sich selbst gewissen Geistes herab. Darin ist es begründet, dass das Moralische in der Phänomenologie als drittes Moment im Geistkapitel auf das sittsame Bewusstsein folgt. Die Stellung zwischen Recht und Sittlichkeit, welche die Rechtsphilosophie der Moralität zuweist, steht dazu nicht im Widerspruch. Denn so sehr die Moralität bloßer Sitte überlegen ist, so wenig ist sie nach Hegel bereits voll entwickelte Sittlichkeit. Erst wenn das Gute über das bloße moralische Sollen und über die gute Gesinnung hinaus reale Gestalt annimmt, wie das in der Sittlichkeit der Fall ist, ist es wirklich und nicht nur im Subjekt, sondern welthaft präsent. Die welthafte Präsenz der Sittlichkeit zeichnet sich ab in der Gemeinschaft der

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Familie, in zivilgesellschaftlichen Vollzügen und Einrichtungen, schließlich in der Institution des Staates als einer konkret entwickelten Rechtsgemeinschaft. In den besagten Ordnungen hat Moral sittliche Gestalt anzunehmen, damit ihr Sittlichkeit durch Gewohnheit, die freilich der Gewohnheit bloßer Sitte weit überlegen ist, zur zweiten Natur und zum realen Inbegriff eines freien Lebens werde, in welchem Rechte und Pflichten sich wechselseitig bedingen, durchwirken und vereinen. Die Familie ist nach Hegel der ursprüngliche Ort realisierter Sittlichkeit. Sie ist aber ihrem sittlichen Wesen nach selbsttranszendent und darauf angelegt, freie Bürger aus sich zu entlassen, damit sich diese als Glieder eines zivilen Gemeinwesens betätigen. Wie der Abschied von der Prähistorie kindlichen Lebens bringt das Verlassen der Familie gelegentlich Schmerz sowohl für die Zurückgebliebenen als auch für diejenigen mit sich, die das Haus verlassen, das bisher eine mehr oder minder heimische Wohnstatt und ein Zuhause geboten hatte. Gründe für diesen Schmerz der Trennung sind reichlich vorhanden. Dennoch ist sie im Sinne der Freiheit notwendig und um deren Realisierung willen alternativlos. Die bürgerliche Gesellschaft ist nach Hegel keine familiäre Gemeinschaft. Sie ist kein Hort gesitteter Eintracht, sondern von Interessenskonflikten und inneren Widersprüchen durchzogen. Es herrschen die Gesetze des freien Marktes, der alles nach Angebot und Nachfrage regelt, ohne auf die überkommenen Bräuche und moralischen Gesinnungen Rücksicht zu nehmen. Der Markt ist frei von sittlicher Substanz und bar jeder Gesinnungsmoral. Es wiederholt sich, eingeschränkt nur durch die Rahmenbedingungen des formellen Rechts, ein Kampf aller gegen alle. Die bürgerliche Gesellschaft ist ihrem ursprünglichen Begriff nach das System der Bedürfnisse, das einen Schein der Vernünftigkeit in Form der Annahme erzeugt, der Antagonismus in Verfolgung der Bedürfnisbefriedigungen lasse sich dadurch beheben, dass man dem Spiel der Kräfte freien Lauf lasse. Hegel teilt diese Hoffnung von Politökonomen seiner Zeit und späterer Zeiten nicht. Es bedarf einer am Wohl des Allgemeinen orientierten Rechtspflege und der Politik nicht nur, um die Freiheit des Marktes und des bürgerlichen Verkehrs nach außen, sondern auch, um sie nach innen hin zu schützen und davor zu bewahren, chaotisch in sich zu kollabieren und allgemeines Chaos zu erzeugen. Staatsphilosophie Es ist nach Hegel der Staat, in dem die Sittlichkeit, deren Bestimmungsmomente Familie und bürgerliche Gesellschaft sind, konkrete Gestalt annimmt. Was am Ort der Familie und des Zivilen allein nicht zu leisten war, realisiert sich im Staat. In ihm finden familiäre Substanz und in sich differenzierte – auf

Philosophie des Absoluten

Kontroverse, nicht auf Konsens angelegte – Reflexionskultur der bürgerlichen Gesellschaft ihre einstweilige Befriedigung und Befriedung, wenngleich nur auf eine vorläufige Weise, die auf dasjenige vorausweist, was Thema der Philosophie des absoluten Geistes ist. Zwar ist der Staat seiner Bestimmung nach die Wirklichkeit der sittlichen Idee und das lebendige Gut realisierter Freiheit. Aber er ist es nicht in absoluter, sondern nur in bedingter Weise, nämlich unter Bedingungen, die ihm teils innerlich, teils äußerlich sind. Zu den inneren Bedingungen staatlicher Realisierung der Sittlichkeit zählt Hegel die Art und Weise der Staatsverfassung. Nur der Rechtsstaat, in dem die Moralität gut aufgehoben und den Werten der Familie ihre, wenngleich beschränkte, Bedeutung erhalten bleibt, kann als realisierte Idee der Sittlichkeit gelten. Auch einer staatlichen Gleichschaltung der bürgerlichen Gesellschaft redet Hegel mitnichten das Wort, so sehr er sich dagegen verwahrt, den Staat in den Dienst spezifischer Sonderinteressen zu stellen. Die Zivilgesellschaft soll gänzlich frei von staatlicher Bevormundung sein und durch Ausbildung bürgerlicher Tugenden diejenige Voraussetzung schaffen, ohne die kein rechtes Staatswesen zu existieren und Bestand zu haben vermag. Doch ist die Unabhängigkeit der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat relativ, sofern konkrete Sittlichkeit sich allein in staatlicher, nicht in vorstaatlicher Form zu realisieren vermag. Auch und gerade in ihrer relativen Selbstständigkeit vom Staat sind die bürgerliche Gesellschaft und ihre Institutionen daher von diesem abhängig. Ist der Begriff des Staates als realisierte Idee der Sittlichkeit an eine Reihe interner Bedingungen gebunden, so ist er extern dadurch eingeschränkt, dass es nicht nur einen Staat gibt und gegeben hat, sondern mehrere. Staaten sind ihrer Mehrzahl wegen realiter räumlich beschränkt und zeitlich von befristeter Dauer. Die Weltgeschichte, die Hegel als Staatengeschichte auffasst, belegt diesen Sachverhalt und führt die Philosophie des objektiven Geistes an eine Grenze, die das Denken veranlasst, sich zum absoluten Geist zu erheben, in welchem allein die Weltgeschichte ihre eschatologische Erfüllung finden und subjektiver und objektiver Geist zu vollendeter Einheit gelangen können. 3.4

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In der Philosophie der Weltgeschichte vollendet sich Hegels Staatslehre und mit ihr die Lehre vom objektiven Geist insgesamt. Welchen Entwicklungsgang der Geist im Zuge der Weltgeschichte nimmt, ist hier nicht zu verfolgen. Festgehalten werden soll nur, dass er in ihrem Verlauf mitnichten zu derjenigen Vollendung gelangt, die seiner Bestimmung entspricht. Der Weltgeist ist nicht der absolute Geist. Es bedarf im Gegenteil der Aufhebung der Weltgeschichte und des in ihr wirksamen Geistes, damit der Geist sich erfüllt und das Absolute

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als Absolutes offenbar werde. Ohne Negation des weltgeschichtlich wirkenden Geistes ist die Lehre vom absoluten Geist nicht zu denken. Das Moment geistigen Befremdens, das im Naturzusammenhang nicht zu beheben war, sondern den Geist bewog, sich in sich zu kehren und reflexe Gestalt anzunehmen, tritt, wenngleich auf andere – erhabenere zwar, aber auch abgründigere – Weise, erneut dort auf, wo der aus natürlicher Unmittelbarkeit befreite subjektive Geist zum objektiven fortgeschritten ist und weltgeschichtliches Format angenommen hat. Abermals vollzieht sich ein geistiger Rekurs: nicht, wie vormals, in die innere Leere eines bloß sich selbst gleichen Ich, wohl aber in die Gefilde der Kunst, die den Schmerz über die Weltgeschichte zumindest anfänglich zu heilen verspricht. Weltgeschichte und absoluter Geist Zweifellos bleiben in der Ästhetik Hegels wie fernerhin in seiner Philosophie der Religion und in der Wissenschaftslehre Erinnerungsbezüge an den weltgeschichtlichen Gang des Geistes erhalten. Es wäre sonach ersichtlich falsch, von einer abstrakten Negation der Geschichte im System zu sprechen. Die Rede von der Weltgeschichte als dem Weltgericht gibt keinen Anlass hierzu. Aber als nicht minder verkehrt muss die Annahme gelten, Hegels System erfülle sich geschichtsphilosophisch. Richtig ist vielmehr, dass es der Aufhebung der Weltgeschichte bedarf, durch welche diese bestimmt negiert, bewahrt und über sich selbst erhoben wird, damit der Geist wahrhaft zu sich selbst komme und sich vollende. Den ersten Schritt der Erhebung des Geistes über die Weltgeschichte vollzieht die Kunst. Ihr Entwicklungsgang lässt sich geschichtlich rekonstruieren, und Hegels Ästhetik als Lehre vom Kunstschönen bietet in wesentlichen Teilen eine solche Rekonstruktion. Doch entzieht sich der Geist der Kunst kunstgeschichtlicher Betrachtung, wenn diese nicht wahrnimmt, dass Kunst über Geschichte hinausweist. Der absolute Augenblick, in dem sich Kunst als Kunst erschließt, lässt sich auf lediglich historiographische Weise nicht erfassen. Seinem allgemeinen Begriff zufolge ist das Kunstschöne, welches Hegels Ästhetik bedenkt, eine sinnliche Selbstexplikationsform des aus dem äußeren Dasein gänzlich in sich gegangenen Geistes. Seine besondere Bestimmtheit gewinnt es im Kunstwerk. Die artifizielle Gestalt, die das Kunstschöne im Kunstwerk annimmt, ist von vielfältigster Art, aber stets idealer Natur insofern, als es das Werk der Kunst ist, Natürliches ideal zu gestalten, damit es zum sinnlichen Medium des Geistes in seiner Absolutheit werde. Dabei kommt dem Künstler als Kunstproduzenten eine zentrale Mediatisierungsfunktion zu, wenngleich die Rolle des Kunstrezipienten bzw. des kunstsinnigen Publikums

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ästhetisch nicht unbedacht bleiben darf, da es konstitutiv zum Begriff der Kunst gehört, als solche nicht nur gestaltet, sondern auch wahrgenommen zu werden. Die typischen Realisierungsformen der Idee des Kunstschönen, in welchen das Absolute in der Weise geistgestalteter Sinnlichkeit zum Vorschein kommt, sind Symbolik, Klassik und Romantik, die in einem genetischen Entwicklungsverhältnis zueinander stehen. In der symbolischen Form wird die Idee des Kunstschönen gesucht und erstrebt, in der klassischen ist sie realisiert und in der romantischen, die Hegel mit dem christlichen Zeitalter assoziiert, wird sie auf eine höhere Form der Geistigkeit hin überschritten, wie sie in der Religion ausgeprägt ist. Während in der symbolischen Kunstform, die nach Hegel in der (orientalischen) Architektur exemplarische Gestalt angenommen hat, Zeichen und Bezeichnetes, äußere Gestalt und innerer Sinngehalt noch nicht zu manifester Einheit gelangt sind, ist genau dies in der Klassik der Fall: in ihr durchdringen sich Gehalt und Gestalt wechselseitig. Paradigmatisch anschaulich wird dies in den Skulpturen der griechischen Antike. Der geistige Gehalt geht hier vollständig in seine Darstellungsgestalt ein, ohne ihr äußerlich zu bleiben, und die Darstellungsgestalt bringt sich als reine Explikationsform ihres geistigen Gehalts zur Anschauung. Damit ist die Idee des Kunstschönen realisiert. Schöneres gab es nie, Schöneres gibt es nicht, Schöneres kann und wird es nicht geben. Form und Gehalt sind vollendet in eins gebildet. Ende der Kunst Doch ist das klassische Kunstwerk nach Hegel zu schön, um wahr zu sein. Weil die Klassik kein entwickeltes Bewusstsein ihrer Endlichkeit hat, das prägend in sie eingeht, muss sie und mit ihr das Kunstschöne überhaupt enden. Da der klassischen Schönheit der Tod äußerlich bleibt, geht sie an ihm geistig zugrunde, um im Durchgang durch die romantische Kunstform, wie sie für das Christentum kennzeichnend ist, aufgehoben zu werden in Religion. Zum Begriff der romantischen Kunst gehört konstitutiv das Wissen um das Ende der Kunst und den Tod alles Sinnlichen. Die Abfolge der romantischen Einzelkünste, wie Hegel sie vorsieht, ist entsprechend durch einen Prozess fortschreitender Rücknahme des für die Kunst bestimmenden Sinnlichkeitsmediums ihrer geistigen Selbstdarstellung charakterisiert. Die Malerei tilgt im Durchgang durch das Relief und vergleichbare Übergangsformen die dritte Raumdimension der Plastik, um ihre sinnliche Anschauungsform ganz auf Flächigkeit zu beschränken. Damit wird die äußere Erscheinung, die malerisch zur Darstellung kommt, bewusst zum Schein herabgesetzt und alle Aufmerksamkeit auf den geistigen Gehalt konzentriert, der allein durch innere Schau zu erfassen ist. Einen entscheidenden Schritt weiter geht die Musik als innerste Mitte der romantischen Einzelkünste, welche ganz vom Prinzip subjektiver

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Gefühlsinnerlichkeit bestimmt ist. Sie hebt den verbleibenden äußeren Schein der Malerei in sich auf, sofern sie dem Medium, in dem sie sich äußert, keinen festen äußeren Bestand zuteil werden lässt, da das musikalische Erklingen der Töne mit deren Verklingen koinzidiert. In der Poesie schließlich als der letzten der romantischen Künste vollendet sich der Prozess fortschreitender Rücknahme der Äußerlichkeit sinnlicher Ausdrucksform, und die Kunst gelangt an ihr Ende, um in Religion einzugehen. Der Fortschritt vom Kunstschönen zur Religion konveniert mit dem Übergang von der Anschauungsform zur Vorstellungsform geistiger Erkenntnis des Absoluten. Der Begriff der Vorstellung, mit dem Hegel das religiöse Bewusstsein und seine Inhalte formaliter charakterisiert, gehört ursprünglich nicht der Wissenschaftssprache an und ist erst als deutsches Äquivalent des Leibnizschen perceptio-Begriffs zu einem philosophischen Terminus geworden, durch den sinnliche Anschauung und begriffliches Denken koordiniert werden. Für den religionsphilosophischen Gebrauch, den Hegel von dem Terminus macht, genügt vorerst der Hinweis, dass religiöse Vorstellung den äußeren Schein künstlerischer Anschauung des Absoluten behebt, um desselben auf andächtige Weise innerlich inne zu werden. In der ihr eigentümlichen Form fungiert Religion sonach als Medium, das zwischen künstlerischer Anschauung und dem philosophischen Begriff absoluten Wissens vermittelt. Religion ist Bewusstsein des Absoluten in der Vorstellungsform erinnerter Anschauung des Absoluten. In welchen Momenten der absolute Geist dem religiösen Bewusstsein vorstellig wird, um die Idee der Religion zu realisieren, kann hier nicht Gegenstand der Erörterung sein. Was Hegel über den allgemeinen Begriff der Religion und die Besonderheiten bestimmter Religionen ausführt, wird an späterer Stelle erörtert werden. Auch in Bezug auf die Religion des Christentums, in der nach Hegel der Begriff der Religion vollendet realisiert ist und die mithin als die Religion der Religionen zu gelten hat, soll vorerst nur das Allernötigste in Erinnerung gebracht werden. Der absolute Geist, wie er sich dem religiösen Bewusstsein in der offenbaren Religion des Christentums erschließt, ist nach Hegel die manifeste Einheit von Wesen und Erscheinung des trinitarischen Gottes. Die Lehre von der immanenten Trinität bedenkt Gottes seiendes Wesen, wie es an sich selbst ist. Gott ist ewige Einheit seiner selbst und seines Anderen, absolute Identität von Identität und Differenz. Vollendete Religion Als das ewige Leben und die ewige Liebe, die er seinem Wesen nach ist, ist der dreieinige Gott realiter nicht begreifbar und nicht begriffen, ohne als Schöpfer gedacht zu werden. In der Schöpfung, wie sie als kreatürliche Welt und Menschheit auf je besondere Weise in Erscheinung tritt, äußert sich das innere Wesen

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der Gottheit in freier Notwendigkeit. Mit der Erschaffung des Kreatürlichen ist ein Anderes Gottes zu gottexterner Bestimmtheit gelangt, ohne dass damit zwangsläufig Entfremdung von Gott gesetzt wäre. Entzweiung tritt erst mit dem Fall der Sünde ein, der darin besteht, dass sich das endliche Geschöpf, statt sich durch Selbstunterscheidung von seinem Schöpfer mit sich und seiner Geschöpflichkeit zu identifizieren, zu verabsolutieren bestrebt ist und unmittelbar sein will wie Gott. Damit ist aus dem Anderen Gottes ein Gott Fremdes geworden, in dem der schöpferische Wille Gottes zwar erhaltend und steuernd, aber zugleich als richtender „Unwille“ waltet. Die Rückkehr von Menschheit und Welt zu Gott ist durch das religionsgeschichtlich wachsende, im römischen Reich übermächtig werdende Bewusstsein der Entfremdung des endlichen Geistes vom absoluten und durch das immer dringendere Bedürfnis motiviert, dass die Entzweiung sich behebe.14 Mit dem Erscheinen des Gottmenschen Jesus Christus, der in Kreuz und Auferstehung die Versöhnung zwischen Gott und Mensch verwirklicht, und mit seiner Verherrlichung im Geiste der Gemeinde wird das ersehnte Heil real und die eschatologische Aussicht auf die absolute Verwirklichung der Idee des Absoluten erschlossen. Dass der geschichtliche Ort, den er seiner Philosophie unter genetischen Gesichtspunkten zuweist, die christliche Gemeinde ist, duldet ebenso wenig Zweifel wie die Tatsache, dass die Singularität der Erscheinung des Gottmenschen Jesus Christus von Hegel stets als notwendig und als unhintergehbar kontingent zugleich behauptet wurde. Die Annahme einer Mehrzahl von Mittlern zwischen Gott und Mensch bzw. einer Pluralität gottmenschlicher Erscheinungsgestalten wird definitiv ausgeschlossen. Der Gottmensch ist auf namentlich identifizierbare Weise dieser da und kein anderer, und sein Erscheinen gilt nicht lediglich als eine göttliche Gestalt unter vielen, sondern als ein für allemal geschehen. Die immerwährende Ewigkeitsgeltung des einen und einzigen Gottmenschen Jesus Christus hat nach Hegel freilich zur impliziten Voraussetzung, dass dessen Einzelheit nicht auf die Besonderheit seiner historischen Erscheinung beschränkt wird. Eben diese Einsicht geht dem christlichen Bewusstsein an Ostern auf. Ostern ist das Urdatum des Christentums und der pfingstlichen Geistsendung. In der Gestalt des auferstandenen Gekreuzigten, wie er den Ursprungszeugen des Christentums vorstellig wird, ist der historische Jesus aufgehoben, bestimmt negiert, als bestimmt negierter aber zugleich bewahrt und in seiner wahren Bestimmung offenbar, um durch den Geist und im Geiste verherrlicht zu werden.

14 Vgl. im Einzelnen G. Wenz, Geistlose Macht und machtloser Geist. Das Imperium Romanum im philosophischen Urteil Hegels, in: KuD 65 (2019), 272–293.

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Religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff Als entscheidendes Problem der Gesamtkonzeption verbleibt die Frage, wie die These zu leistender Aufhebung religiöser Vorstellung in den reinen Begriff absoluten Wissens zu beurteilen ist. Diese Frage ist für das Selbstverständnis christlicher Theologie von erheblicher Relevanz. Denn als Theorie des religiösen Bewusstseins des Christentums teilt christliche Theologie auf ihre Weise die Aufgabe, die Hegel der Religionsphilosophie als Übergangsform zur philosophischen Theorie des Absoluten zugewiesen hat, nämlich zwischen religiöser Vorstellung und vernünftigem Begreifen zu vermitteln. Wird der religiöse Gehalt vom religiösen Bewusstsein in Form der Vorstellung gewusst, so ist es Bestimmung der Religionsphilosophie, ihn in begrifflicher Gedankenform zu erfassen, um seine Allgemeinheit und universale Gültigkeit unter Beweis zu stellen. Dabei soll das Verhältnis zwischen der zu absolutem Wissen fortzuentwickelnden Religionstheorie und dem religiösen Bewusstsein durch inhaltliche Identität bei nichtidentischer Form bestimmt sein. Wie hat man sich das Verhältnis von identischem Inhalt und differenter Form zu denken? Soll dem Inhalt der kategoriale Status der Substanz zugewiesen und die Differenz der Formen zu einer lediglich akzidentellen erklärt werden? Dies würde weder dem Problemniveau neuzeitlichen Denkens noch gar den Denkbewegungen des Hegel’schen Systems entsprechen. Wie aber ist dann der differenzierte Zusammenhang zwischen religiöser Vorstellung und vernünftigem Begriff zu fassen? Die Annahme, die Vorstellungswelt des religiösen Bewusstseins sei in primitiver Weise sinnlich verfasst, ist nachgerade im Fall des Christentums abwegig. Das christliche Bewusstsein weiß seine Vorstellungen und namentlich die Zentralvorstellung Jesu Christi durchaus von unmittelbaren sinnlichen Anschauungen unterschieden. Gleichwohl hängt die christliche Religion sowohl an der leibhaften Welt als auch an der leibhaftigen Geistgestalt des auferstandenen Jesus Christus, dessen österliche Erscheinung vom irdischen Leben des am Kreuz gestorbenen Jesus von Nazareth zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen ist. Wohl ist es wahr, dass dem Christentum das sinnliche Hören und Sehen ihres Herrn in bestimmter Weise vergehen musste, um seiner heilsamen Präsenz gewärtig und offen zu werden für seine Parusie. Es ist die erinnernde Andacht, in der Jesus Christus dem christlichen Glauben vorstellig wird, um sich im Geist als wirksames Subjekt seines Gedächtnisses zu erweisen. In die Vorstellungsform des Christentums ist die Wirklichkeit des Kreuzestodes und des Endes des irdischen Jesus konstitutiv eingegangen. Nichtsdestoweniger ist nach dem Zeugnis des Geistes, der an Pfingsten die christliche Kirche schafft, der österliche Christus mit dem gekreuzigten Jesus untrennbar eins. Die Wirklichkeit und Wirksamkeit des Hl. Geistes ist unter diesen Bedingungen nicht

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anders denkbar als im Zusammenhang des Vorstelligwerdens der österlichen Herrlichkeit des am Kreuz für uns gestorbenen Jesus von Nazareth, dessen Auferweckung als ein absolutes Faktum zu gelten hat, welches in eschatologischer Prolepse das vollendete Ende alles Gegebenen in sich birgt. Dieses Faktum gibt sich zwar pneumatologisch zu verstehen, jedoch so, dass im Begriff österlicher Wirklichkeit, wie der Hl. Geist sie erschließt, der Irreduzibilität des Nichtbegrifflichen Rechnung getragen wird. Irreduzibilität des Nichtbegrifflichen Eben jene Irreduzibilität des Nichtbegrifflichen scheint Hegel mit seiner Forderung zu leistender Aufhebung religiöser Vorstellung in den absoluten Begriff beseitigen zu wollen. Im absoluten Begriff vollendeter Vernunft, so steht zu vermuten, ist die offenbare Religion des Christentums und mit ihr alles, was Religion zu nennen ist, durch Philosophie als spekulative Theologie zwar nicht abstrakt ersetzt, sofern Aufhebung immer auch bewahrende Vollendung bedeuten soll; Religion hat aber, wie es scheint, ihre Nichtsubstituierbarkeit durch Denken insofern eingebüßt, als in der Aufhebung des Unterschieds von Religion und philosophischer Theologie deren herkömmliche Differenz als Differenz prinzipiell vergangen ist. In ihrem materialen Gehalt in die philosophische Theorie bzw. in die Theorie spekulativer Theologie eingegangen kann Religion ihre religiöse Form und Gestalt nach Hegel aus bedachten Gründen nicht länger behaupten. Bleibt davon ihr materialer Gehalt unbetroffen, oder ist für diesen nicht gerade die Differenzierung zwischen dem Absoluten und dem Wissen von ihm konstitutiv, wofür die religiöse Vorstellungsform steht? Für die Struktur des religiösen Bewusstseins ist es charakteristisch, sich einerseits in der unbedingten Einheit Gottes als des inneren Grundes von Subjektivität und Selbstbewusstsein fundiert zu wissen und andererseits die kategoriale Differenz aller Entitäten und Subjekte einschließlich des eigenen Ich von Gott zu erkennen. Obwohl beides simultan und in einem geschieht, bleibt Zwiefachheit für das religiöse Bewusstsein kennzeichnend. Diese lässt sich nicht beheben, weil sie für die Einheit des religiösen Bewusstseins selbst grundlegend ist, dessen Identität sich mit dem Bewusstsein irreduzibler Differenz wesentlich verbindet. Mit dieser Bewusstseinsform, wie sie in der Weise religiöser Vorstellung manifest ist, kann es nach Hegel nicht sein Bewenden haben. Vielmehr ist sie spekulativ aufzuheben in ein Wissen, das der Absolutheit seiner Inhalte in absoluter Form entspricht. Der gedankliche Überbietungsanspruch absoluten Wissens geht dabei dahin, aller Differenz inne und nicht länger durch Externität bestimmt zu sein, auch nicht durch die externe Differenz eines nach Urteil des religiösen Bewusstseins nachgerade in seinem offenbaren Begriff

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als unbegreiflich wahrzunehmenden Gottes, dessen Sein in unvordenklicher Weise alles Denken und Handeln transzendiert. Unter den Philosophen hat insbesondere der späte Schelling dem spekulativen Überbietungsanspruchs widersprochen, den Hegels Philosophie absoluten Wissens dem religiösen Vorstellungsbewusstsein gegenüber erhebt. Von den zeitgenössischen Theologen wäre insbesondere Schleiermacher zu nennen, der seit seinen Reden über die Religion von 1799 deren Nichtsubstituierbarkeit durch Handeln und Wissen, Tun und Denken, Praxis und Theorie konsequent vertreten hat. Aber auch in Hegels eigener Philosophie lassen sich Hinweise auf ein dem philosophischen Begriff eigenes Wissen um die Irreduzibilität des Nichtbegrifflichen entdecken. In Bezug auf die Anfänge muss nach entsprechenden Indizien nicht lange gesucht werden. Im Frankfurter Systemfragment von 1800, das die Summe der vorhergehenden Denkbemühungen Hegels enthält, ist das Leitthema des entwickelten Systems bereits voll ausgebildet, dass nämlich das Absolute und wahrhaft Unendliche, welches über die Schranken des Endlichen hinausführt, nicht durch den abstrakten Gegensatz zum Endlichen bestimmt sein kann, sondern in seiner konkreten Identität als die Aufhebung der Differenz von Endlichkeit und Unendlichkeit zu erfassen ist. Dazu sieht der Philosoph an der Jahrhundertwende allerdings und bemerkenswerterweise nur die Religion in der Lage, welche zum wahrhaft Absoluten erhebt, wohingegen Philosophie in den Schranken der Reflexion gefangen sei. Reflexionsphilosophie sei daher in Religion aufzuheben, um in ihr sich zu vollenden. Später wird dann freilich die Aufgabe, die Formen der Reflexionsphilosophie aufzuheben, primär nicht mehr der Religion, sondern spekulativer Philosophie zugewiesen, mit deren Durchführung sich die besagte Forderung nach Aufhebung religiöser Vorstellung in den philosophischen Begriff verbindet. Doch zeigt die notorische Strittigkeit der Stellung der „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 im Gesamtwerk, dass sich die Einheit des Systemganzen für Hegels Denken auch fernerhin keineswegs so eindeutig darstellte, wie es zunächst erscheinen mag. Offenbar sind anfängliches Beginnen und resultierender Schluss seines Systems für Hegel immer Problem geblieben.15 Mit der Skizze des enzyklopädischen Systems der Erhebung ist der Gesamtkontext umschrieben, innerhalb dessen Hegels Theorie der Subjektivität entwickelt wird. Sie ist nicht auf die Lehre vom endlichen Geist und seiner Objektivationen im Mittelstück der Enzyklopädie beschränkt, sondern hingeordnet 15 Zur Entwicklung des Hegel’schen Systems hin zur Abgeschlossenheit des Denkens in sich selbst bzw. zum Sichbegreifen des Absoluten im absoluten Begriff vgl. H. Kimmerle, Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels „System der Philosophie“ in den Jahren 1800–1804, Bonn 1970.

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auf die Theorie des Absoluten, in der sich das System vollendet. Dieses Ende hinwiederum verweist zurück auf den Systemanfang, der mit der Wissenschaft der Logik gemacht ist, die ihrerseits als Metaphysik bzw. Ontotheologie absoluter Subjektivität gestaltet ist, wie Klaus Düsing in seiner Monographie „Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik“ im Einzelnen gezeigt hat.16 Düsing zeichnet nach, wie Hegel seit der frühen Jenaer Zeit17 die Reflexionslogik endlicher Gedankenbestimmungen in eine Theo-Logik des Absoluten zu überführen gedenkt, um sie als spekulative Metaphysik und als Grundlage der Realphilosophie zu konzipieren dergestalt, dass die logische Theorie absoluter Subjektivität als Basis nachgerade der Philosophie des subjektiven Geistes fungiert. Wurden Logik und Metaphysik traditionsgemäß unterschieden, so habe Hegel diese Einteilung fallengelassen „zugunsten einer Logik, die selbst Metaphysik ist“ (156). Subjektivitätslogik Hegels spekulative Logik ist Düsing zufolge als Metaphysik des Absoluten, näherhin als Ontotheologie absoluter Subjektivität konzipiert und stellt als solche die „endgültige Lösung der idealistischen Prinzipienproblematik dar“ (22). Die Entwicklung von Begriff und Bestimmungen der in ihrer Absolutheit den Gegensatz von Endlichkeit und Unendlichkeit umgreifenden und daher wahrhaft unendlichen Subjektivität soll die logische Methode mit ihrer dialektischen Genetisierung der Formen des Denkens und seiner Kategorien ermöglichen. Sie verfährt dabei so, dass sie sowohl die seinslogischen als auch die wesenslogischen Bestimmtheitsweisen endlicher Reflexion transzendiert, um sie in die Logizität der Selbstbezüglichkeit reinen Denkens aufzuheben. In der im Begriff des Begriffs sich selbst erfassenden absoluten Idee unendlicher Subjektivität vollendet sich Hegels als ontotheologische Metaphysik konzipierte spekulative Logik. Es versteht sich nach Düsing von selbst, dass der am Ende der Logik 16 K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik, Bonn 1976. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 17 Zur Periode gemeinsamen Philosophierens von Hegel und Schelling in Jena 1801–1803 vgl. D. Henrich/K.Düsing (Hg.), Hegel in Jena. Die Entwicklung des Systems und die Zusammenarbeit mit Schelling, Bonn 1980. Zu den Gründen der Trennung Hegels von Schellings Prinzipialisierung absoluter, in intellektueller Anschauung unmittelbar erschlossener Identität vgl. neben dem Beitrag Düsings (a.a.O., 25–43: Idealistische Substanzmetaphysik. Probleme der Systementwicklung bei Schelling und Hegel in Jena) vor allem D. Henrich, Absoluter Geist und Logik des Endlichen, in: a.a.O., 103–118. Zur umstrittenen Zuschreibung des sog. ältesten Systemprogramms vgl. Chr. Jamme/H. Schneider (Hg.), Mythologie der Vernunft. Hegels „ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus“, Frankfurt a. M. 1984 sowie F.-P. Hansen, „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus“. Rezeptionsgeschichte und Interpretation, Berlin/New York 1989.

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entwickelte Begriff absoluter Subjektivität nicht mit demjenigen gleichzusetzen ist, der in der Lehre vom subjektiven Geist entwickelt wird. Unterstrichen wird dies mit dem Hinweis, dass Hegel den „zum ersten Mal gegen Ende des 18. Jahrhunderts gebraucht(en)“ (23, Anm. 8) Terminus „Subjektivität“ „je nach Zusammenhang in verschiedenen Bedeutungen“ (23) verwendet. In diesem Sinne sei zwischen endlicher und unendlicher Subjektivität entsprechend zu unterscheiden wie zwischen subjektivem und absolutem Geist. Die Subjektivität des Subjektiven sei nicht identisch mit derjenigen des absoluten Geistes, ihr Verhältnis nicht nach Weise der Analogie, sondern im Sinne einer Dialektik der Aufhebung zu bestimmen. Mit Düsings Hinweis ist zwar die Zielrichtung einer Beantwortung der Frage erschlossen, wie die Beziehung zwischen der Subjektivität endlicher Subjekte und der unendlichen Subjektivität des Absoluten zu denken sei, die Antwort selbst aber noch nicht gegeben. Sie wird durch das Problem des genauen Verhältnisses des am Ende der Wissenschaft der Logik erreichten Begriffs absoluter Subjektivität zu demjenigen erschwert, dessen Realisation nach vollzogener Aufhebung endlicher Subjektivität in Gesalt irdisch existierender Subjekte am Schluss der Realphilosophie geleistet ist. Genau an diesem Punkt hatte in der Regel bereits die zeitgenössische Kritik am Hegel’schen System eingesetzt. Ist die Idee reiner Subjektivität, deren Absolutheit Hegels spekulative Logik zu entwickeln sucht, mit dem Dasein endlicher Subjekte und ihrer Selbsterfahrung dergestalt vermittelbar, dass das Gesamtsystem als Subjektivitätstheorie konzipiert werden kann? Oder reproduzieren Logik und Realphilosophie in ihrem ungeklärten Verhältnis zueinander nicht erneut das Problem unaufgehobener Differenz von Apriorizität und Aposteriozität, welches Kants Subjektivitätstheorie mit ihrer unbegriffenen Unterscheidung transzendentaler und empirischer Philosophie hinterlassen hatte? Der späte Schelling war nicht der einzige, der Hegels Philosophie eines abstrakten Apriorismus bezichtigte und ähnlich wie vor ihm schon der späte Fichte dazu überging, Subjektivität aus einer ihr vorausgehenden und sie erst ermöglichenden Metaphysik des Absoluten in seiner Unvordenklichkeit zu begründen. Aus der Logizität selbstbezüglichen Denkens ergebe sich lediglich die sog. negative Philosophie, die „nur das Wesen des Seienden oder Wassein, das Mögliche“ (341f.) erkenne. „Das diesem vorausliegende reine Daßsein oder das Wirkliche wird dagegen nach Schelling nur nach einer philosophischen Ontologie und Theologie erkannt, die er positive Philosophie nennt. Von dieser Unterscheidung der negativen und positiven Philosophie aus kritisiert Schelling Hegels Logik. Die spekulative Logik beansprucht nach Schelling illegitimerweise, zugleich positive Philosophie zu sein.“ (342) Dieser unbegründete Anspruch führe nicht zuletzt zu subjektivitätstheoretischen Aporien, die nicht weniger aporetisch seien als diejenigen, die in Fichtes frühen Wissenschaftslehren be-

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gegneten und die ihren Autor zur Korrektur seines ursprünglichen Ansatzes bewegten. Der sich wissende subjektive Geist kann weder dadurch begründet werden, dass er sich unmittelbar oder als sich selbst setzend setzt, noch lässt sich das Bewusstsein seiner selbst aus einem logisch zu erfassenden Begriff reiner Subjektivität herleiten. Das Selbstbewusstsein des existenten Ich setzt vielmehr sein Sichgegebensein immer schon auf unvordenkliche Weise voraus. Der Seinsgrund des Ich in seinem selbstbewussten Sichgegebensein ist faktisch, aber in seiner Faktizität unbegreiflich und auf eine Setzung des Absoluten zurückzuführen, dessen absolute Positivität nicht auf den Begriff gebracht werden kann, sondern die an sich selbst unbegreifliche Voraussetzung alles Begreifens darstellt. So argumentiert Schelling; die Argumentationen Wolfhart Pannenbergs sind den seinen vergleichbar.18

18 Zu den Problemen der Spätphilosophien Fichtes und Schellings, die im Unterschied zu Hegels System nicht länger beanspruchen, als Grundlegungswissenschaften den Begriff ihrer selbst aus sich heraus entwickeln zu können, vgl. K. Düsing, a.a.O., 339ff.; zur Hegel-Kritik nachidealistischer Philosophiekonzeptionen vgl. 25ff. Entscheidend ist hier wie dort das Problem von Denken und Sein. Hegel zufolge kann ihre Differenz nur denkend geltend gemacht werden, weil das Verhältnis der beiden unterschiedenen Relate in ihrer Unterschiedenheit eine kategoriale Bestimmtheitsweise darstellt, die nur in Gedanken gefasst verstanden werden kann. Der Begriff ist sonach grundlegend für jeden Objektbezug und mithin auch für das Begreifen dessen, was er nicht unmittelbar selbst ist. Zwar geht der einzelne Gegenstand nicht im Begriff auf, aber die Bestimmung seiner gegenständlichen Besonderheit setzt die Logizität des Begriffs voraus. Vgl. dazu auch: K. de Boer, Differenz: zwischen Hegel und Derrida, in: Th. Wyrwich (Hg.), Hegel in der neueren Philosophie, Hamburg 2011, 349–367.

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4.

Der Mensch als Geschichte

Pannenbergs anthropologischer Ansatz

4.1

Projekt in Permanenz

Die Geschichte der Rezeption des Hegel’schen Werkes ist durch die verbreitete Annahme eines geschlossenen Systemganzen bestimmt, „das in seinem Gerüst in der letzten Auflage der Enzyklopädie vorliegt und lediglich inhaltlich ausgeweitet und konkretisiert werden muß, was Hegel in den Vorlesungen durchführte und in schriftlicher Form in die ‚Zusätze‘ eingeht“1 . Diese Annahme kennzeichnet auch die Rezeptionsgeschichte der Philosophie des subjektiven Geistes. Allerdings zeigt ein genauerer Blick auf Mit- bzw. Nachschriften der unterschiedlichen Vorlesungen, die Hegel zum Thema gehalten hat, sowie ein Vergleich der einschlägigen Passagen der drei Enzyklopädieausgaben, dass der Eindruck eines abgeschlossenen Systems, wie er durch die Freundesvereinsausgabe und namentlich durch die „Zusätze“ Boumanns wenn nicht erst hervorgerufen, so doch unterstrichen wurde, nur bedingt richtig ist. Dirk Stederoth hat dies in einer komparatorischen Untersuchung der Philosophie des subjektiven Geistes der Heidelberger und Berliner Zeit Hegels sehr detailliert aufgezeigt. Indem sie die Hegel’sche Lehre vom Menschen in ihrer inneren Bewegtheit in Grundzügen zu verfolgen erlauben, können Stederoths Studien nicht nur einen vorläufigen Eindruck von den einzelnen Bestimmungsmomenten der Philosophie des subjektiven Geistes geben, sondern zugleich als Prolegomena dafür dienen, den Ansatz der Pannenberg’schen Anthropologie in Beziehung hierauf strukturell zu profilieren. 1 D. Stederoth, Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. Ein komparatorischer Kommentar, Berlin 2001, 10. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Werk. Ziel von Stederoths Arbeit ist es, „einen allgemeinen Interpretationsansatz zum Problem der Hegel’schen Realphilosophie mit einer gleichsam exemplarischen Kommentierung zu fundieren“ (15) und am Beispiel der Lehre vom Menschen die Differenziertheit und Variabilität der Hegel’schen Realphilosophie zu dokumentieren. Ihre begriffsdialektische Methode sowie ihr Verhältnis zu den Erfahrungswissenschaften einerseits und zur Wissenschaft der Logik andererseits wird nach einer kurzen Einleitung (vgl. 9ff.) in einem philosophischen Grundlegungsteil erörtert (vgl. 19ff.), um dann auf der Basis von Hegels Idee einer Realphilosophie deren subjektivitätstheoretische Durchführung mit philologischer Sorgfalt zu rekonstruieren (vgl. 85ff.). Knapp zusammengefasst sind die Ergebnisse in einem Abschlusskapitel (vgl. 413ff.). Beigegeben ist neben einem detaillierten Literaturverzeichnis eine komparatorische Tabelle, die bezüglich der Subjektivitätsphilosophie der drei Enzyklopädieausgaben sowie dreier Vorlesungsnachschriften zum Thema einen „Gesamtüberblick über die Einteilungen und ihre Änderungen“ (vgl. 419ff.) gibt.

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Komparatorischer Kommentar Hegels „Philosophie des subjektiven Geistes“ ruft nach Stederoth neben der Frage nach der Stellung der Individualität des philosophierenden Subjekts im System systematische Grundfragen von großer Reichweite hervor, welche die Auslegung der Gesamtkonzeption direkt betreffen. Stellt die Hegel’sche Realphilosophie lediglich einen Anwendungsfall der Logik dar, deren gedankliches Strukturmuster sie in Wirklichkeitszusammenhängen aufsucht? Stederoth bestreitet dies mit dem Hinweis auf den realphilosophischen Empiriebezug, der über die Logizität reiner Gedankenbestimmungen hinausführt. Zugleich betont er, dass die empirische Orientierung der Realphilosophie die Bindung an die Logik nicht auflöst, sondern fortschreitend in Geltung setzt, insofern sie die empirischen Daten als Momente eines sich realisierenden Vernunftprozesses erkennt. Zwar findet in der Realphilosophie keine „Logifizierung des Realen“ (48) in dem Sinne statt, dass Wirklichkeit auf die Struktur logischer Gedankenbestimmungen reduziert wird. Aber zugleich wird Wirklichkeit nicht als im Grunde begriffloses Sein hin-, sondern als Seinsfülle wahrgenommen, die „selbst einen kategorialen, begrifflichen Gehalt trägt“ (ebd.), den es im Durchgang durch die empirischen Wissenschaften zu bestimmen gilt. Der Unterschied der Realphilosophie ihnen gegenüber besteht darin, dass diese durchweg und explizit auf die gedanklichen Formationen reflektiert, die in jeder Wirklichkeitswahrnehmung wirksam sind.2 Im zweiten Teil seiner Studie, der sehr viel umfangreicher ist als der auf einen grundlegenden Interpretationsansatz der Hegel’schen Realphilosophie ausgerichtete erste, bietet Stederoth einen komparatorischen Kommentar zu den drei Abschnitten der Philosophie des subjektiven Geistes und zwar unter 2 In Gestalt des Erweises der Logizität des Realen bleibt die realphilosophische Rückbindung an die Wissenschaft der Logik erhalten, die aber ihrerseits unveräußerlich hingeordnet ist auf empirische Befunde, die in der Realphilosophie zu verarbeiten sind, damit das Denken sich konkretisiere statt sich in formalistischen Abstraktionen zu verzehren. In Auseinandersetzung mit drei prominenten Versuchen, das Verhältnis von Logik und Realphilosophie zu klären, ist Stederoth darum bemüht, das bestehende Problem zu profilieren und einer Lösung zuzuführen. In Betracht kommen neben Theodor Litt Bruno L. Puntels „Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels“ (L. B. Puntel, Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels, Bonn 1973) sowie Vittorio Hösles Monographie über „Hegels System“ (V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, Hamburg 2 1998). Als Resultat ergibt sich, dass die begriffliche Selbstbewegung, wie die Logik sie bedenkt, nur dann nicht in einem leeren Kreisen in sich endet, wenn die Logizität der Logik auf dasjenige hin überschritten wird, was sich nicht unmittelbar dem Begriff fügt. Umgekehrt erschöpfen sich die empirischen Wissenschaften nur dann nicht in der sinnlosen Anhäufung von Kontingenzschutt, wenn sie in den Daten der Erfahrung progressive Begriffsentwicklungen zu entdecken vermögen, die auf ein Sinnganzes vorgreifen.

Projekt in Permanenz

Berücksichtigung der drei Auflagen der Enzyklopädie und von fünf Kollegnachschriften von drei Hegelvorlesungen zum Thema. Die Textmaterialien werden dabei nicht gesondert präsentiert, um sie erst nachträglich zu vergleichen, sondern im Bezug auf die jeweiligen Sachthemen gemeinsam verhandelt und einem Vergleich unterzogen. Im Falle der Anthropologie, die nach Vorklärungen zum Geistbegriff und zu philosophiedifferenten Lehren vom Menschen (vgl. 85ff.) thematisiert wird, kommt im Anschluss an einen Exkurs zu Hegels Psychosomatik in ihrer Beziehung zu den neurowissenschaftlichen Diskussionen seiner und unserer Zeit (vgl. 109ff.) zunächst die humane Naturseele in ihren natürlichen Qualitäten, natürlichen Veränderungen und mit ihren Primärempfindungen in Betracht, sodann die fühlende Seele in ihrer Unmittelbarkeit, in ihrem Selbstgefühl und in ihrer Gewohnheit, mittels derer sie sich ihren Leib aneignet und so zur wirklichen Seele wird. In dieser ist „eine Einheit der natürlichen Gegebenheit des Leibes und seiner Bestimmungen mit der fühlenden Subjektivität der Seele erreicht, insofern der natürliche Leib als ‚zeichenhafter‘ Ausdruck der Seele durchgebildeter Träger der Bestimmungen der Seele ist“ (247) und zwar in einer lebendigen Leiblichkeit, in der Körperliches aufgehoben, also bestimmt negiert, bewahrt und seiner humanen Bestimmung zugeführt ist. Andeutungen zu einem dynamischen Unbewussten in Hegels Anthropologie beschließen den ihr gewidmeten Teil in Stederoths Analysen (vgl. 250ff.). Sie stellen Bezüge zu Freuds Theorie des Triebs und der Verdrängung und zu ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklungstheorien her. Der komparatorische Wert des „anthropologischen“ Kommentars tritt an verschiedenen Stellen zutage, etwa im Bezug auf die variablen Behandlungen des menschlichen Einbezogenseins in terrestrische Verhältnisse und kontinentale bzw. regionale Beschaffenheiten (vgl. 145, Tabelle 1), bezüglich der Veränderungen in der Abfolge der Lehren von den Lebensaltern, vom Erwachen und vom Schlafen sowie vom Geschlechtsverhältnis (vgl. 158, Tabelle 2) oder hinsichtlich der fühlenden Seele und der Modi ihrer sinnlichen Empfindungen (vgl. 210, Tabelle 3) bis hin zum entwickelten Selbstgefühl einschließlich der Fehlformen der Narr- und Tollheit, des Blöd- und des Wahnsinns, die in Hegels Theorie der Verrücktheit mit je unterschiedlicher Akzentsetzung erörtert werden (vgl. 239, Tabelle 4). Hegels Philosophie kennt seelenlose Körper, aber keine körperlosen Seelen. Was Seele heißt, bildet sich nicht ohne Körperlichkeit aus, sondern durch Einbildung in sie. Durch Beseelung wird ein Körper zum Leib gestaltet und zu einer lebendigen Größe geformt, mit welcher die Seele auf differenzierte Weise eins ist. Für alle Lebewesen ist beseelte Leiblichkeit kennzeichnend. Nicht nur Menschen sind leibhafte Seelen, sie sind es aber nach Hegel dergestalt, dass ihr Seelenleben – ohne Leibhaftigkeit abzustreifen – zu einem Selbstverhältnis

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durchdringt, das Ichheit ermöglicht. Menschenseelen sind leibhafte Ichwesen. Davon handelt der zweite Teil der enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes unter dem Titel des ersten publizierten Hauptwerkes Hegels in Form einer Lehre von Bewusstsein und Selbstbewusstsein mit dem Ziel, die wirkliche Seele zur Vernunft zu bringen. Stederoth skizziert die enzyklopädische Phänomenologie samt den auf ihr basierenden Vorlesungsinhalten in Grundzügen, um sodann in einen Vergleich mit der monographischen von 1807 einzutreten. Enzyklopädische Phänomenologie Nachdem die Seele sich in dem von der „Anthropologie“ verfolgten Prozess den Leib so zu eigen gemacht hat, dass er ganz der ihre geworden ist, verhält sie sich in ihrem Verhältnis zu diesem „nur noch zu sich selbst“ (278). Dieses Selbstverhältnis der wirklichen Seele ist es, was Ich heißt. Als Ich setzt sich die Menschenseele allem gegenüber, was sie nicht unmittelbar selbst ist, um es zum potentiellen bzw. tatsächlichen Gegenstand sich wissenden Wissens zu machen. Im Bewusstsein ist das Ich auf Anderes objekthaft bezogen, ohne im Gegenständlichen das Andere seiner selbst zu erkennen, was erst im Wissen des Bewusstseins um sich und damit im Selbstbewusstsein statthat, in dem das Ich sich selbst als die Mediatisierungsinstanz von Wirklichkeit überhaupt wahrnimmt. Zur Vernunft gelangt das selbstwahrnehmende Ich dadurch, dass es seine Negationsfähigkeit überhaupt auch auf sich selbst anwendet, um sich in seiner Besonderheit als einzelnes Ich mit allgemeiner Ichheit zu vermitteln. Was das Bewusstsein als solches betrifft, das noch nicht um sich selbst weiß, so ist es anfänglich ganz, um nicht zu sagen: bewusstlos der Sache hingegeben. Doch deutet sich in der sachlichen Gewissheit und in der Wahrnehmung bestimmter Gegenstände, die vermittels der Sinne in den Sinn kommen, bereits die sach- und gegenstandskonstitutive Funktion des Ich an, selbst wenn dieses noch nicht zum entwickelten Bewusstsein seiner selbst durchgedrungen ist. Im bewussten Leben werden keineswegs nur Eindrücke wie von einer tabula rasa passiv hingenommen, sondern Erfahrungen im tätigen Sinne gemacht, weil sonst ein Ding als solches und im Verein mit den Eigenschaften, die es das sein lassen, was es ist, gar nicht erkannt und verstanden werden könnte. Für das verständige Bewusstsein kommt es schließlich so weit, dass sich ihm in, mit und unter den in Erfahrung gebrachten Erscheinungen das Wesen der Sache selbst zeigt im Sinne etwa von Naturgesetzen. In ihrer Erkenntnis weiß sich das Bewusstsein mit ihrem Gegenstand eins, um in einem weiteren Schritt zum Bewusstsein seiner selbst als Bewusstsein, zu sich wissendem Bewusstsein und damit zu Selbstbewusstsein zu gelangen.

Projekt in Permanenz

Der Weg, auf dem das Bewusstsein zu sich kommt, um Bewusstsein seiner selbst zu werden, verläuft vom sinnlichen, in welchem der Gegenstand bloß äußerlich erscheint, zum reflektierten, in dem der Gegenstand als konturiertes Ding mit bestimmten Eigenschaften wahrgenommen wird, hin zum verständigen Bewusstsein, durch welches das innere Gesetz der gegenständlichen Dingerscheinung und damit dasjenige erkannt wird, was Hegel die Wahrheit des Bewusstseins nennt. Die Wahrheit des Bewusstseins tritt in der Einsicht zutage, dass allem Gegenstandsbewusstsein ein Bewusstsein zugrunde liegt, das um sich selbst weiß. Ohne Selbstbewusstsein ist Gegenstandsbewusstsein nicht möglich. Das Bewusstsein, das sich selbst zum Gegenstand hat, fungiert als Voraussetzung alles Gegenstandsbewusstseins, das sich wissenden Ich als diejenige Größe, in der Subjektivität und Objektivität im Grunde eins sind. Setzt sich das Ich unmittelbar mit sich selbst identisch, wie es sich gegenständlich erscheint, ohne sich seiner Negationsfähigkeit zu unterstellen, dann erweist es sich als Begierde, die darauf ausgerichtet ist, alles, was das Ich nicht selbst ist, zu negieren bzw. zum bloßen Modus des Eigenen herabzusetzen. Das unmittelbar auf sich und seiner Selbstbestimmung insistierende Ich ist bestrebt, alles Nicht-Ich prozessual zu nihilieren, damit am Ende es selbst das Ein und Alles sei. Fortschreitend negiert wird die nihilierende Negativität des sich selbst zur alles bestimmenden Wirklichkeit erklärenden Ich in Auseinandersetzung mit anderen Ichwesen, in denen das Ich seinesgleichen erkennt. Aus einem Kampf auf Leben und Tod, der mit allen Mitteln geführt wird, welche der Verstand bereitstellt, gehen Verhältnisse von Herrschaft und Knechtschaft hervor, die dazu bestimmt sind, in wechselseitige Anerkennungsverhältnisse überführt zu werden. Ist doch der Herr, der sein Herrsein dem Gegensatz zum Knecht verdankt, recht eigentlich der Knecht des Knechts, weil er ohne diesen nicht wäre, was er zu sein beansprucht. Herr seiner selbst und wahrhaft frei kann das Ich nur werden, wenn es andere Ichwesen als seinesgleichen anerkennt. Durch Vermittlung seines Selbstverhältnisses mit dem Verhältnis zu anderen Ichwesen, wie sie im Prozess wechselseitiger Anerkennung statthat, kommt das Ich zur Vernunft, womit die enzyklopädische Phänomenologie des Geistes beendet und vollendet ist. Monographische Phänomenologie In welcher sachlichen Beziehung die enzyklopädische zur großen „Phänomenologie des Geistes“ steht, hat Stederoth in einem eigenen Exkurs (vgl. 322ff.) erörtert und dabei drei mögliche Zuordnungen unterschieden, die in der neueren Hegelforschung dann auch tatsächlich begegnen: gemäß der ersten nimmt Hegel von der monographischen Phänomenologie grundsätzlich Abstand, um nur Teile von ihr in die Enzyklopädie zu überführen; gemäß der zweiten bleibt

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die „Phänomenologie des Geistes“ in der Enzyklopädie ein Fremdkörper, sofern sie als Systemeinleitung nicht selbst ins System gehört; gemäß der dritten haben beide Phänomenologien in ihrer jeweiligen Stellung ihre eigentümliche Wertigkeit. Nach Stederoth scheint alles „auf die dritte Position zuzulaufen, die beiden Phänomenologien in ihrer jeweiligen Stellung eine Berechtigung zuweist“ (329), was indes nicht ausschließen muss, dass ein Teil der großen „Phänomenologie des Geistes“ unter gleichem Namen im Systemzusammenhang Verwendung findet. Einen Fremdkörper stellt dieser Teil in der Enzyklopädie jedenfalls dann nicht dar, wenn sich seine Themenbestände stimmig in den Systemzusammenhang einordnen lassen. Dies ist im Falle der Bewusstseins-, Selbstbewusstseins- und Vernunfttheorie gegeben, die trotz funktionaler Differenzen beider Schriften in Enzyklopädie und monographischer Phänomenologie sachlich vergleichbar sind, wobei das Vernunftverständnis der großen Phänomenologie den Übergang von der enzyklopädischen Phänomenologie in die enzyklopädische Psychologie als dem dritten Teil der Lehre vom subjektiven Geist vermittelt. Thema der Psychologie ist nicht die in die Natur versenkte Seele, mit der die Anthropologie beginnt, auch nicht die wirkliche, mit der sie endet, sondern die pneumatische Realität der durch Bewusstsein und Selbstbewusstsein zur Vernunft gelangten, Objektivität in sich selbst findenden Subjektivität. Diese manifestiert sich in den Vollzügen des theoretischen Geistes, nämlich in Anschauung, Vorstellung und Denken, um eine Praxis zu generieren, die auf die Freiheit des Geistes zielt, welche sich mit den Institutionen der Kultur eine zweite Natur und eine Welt schafft, in der sich human leben lässt. An der Lehre vom praktischen Geist kann exemplarisch studiert werden, welche Verschiebungen hinsichtlich der Stofforganisation Hegel im Laufe seiner Beschäftigung mit der Thematik vorgenommen hat. Ein eigener Paragraph zum freien Geist findet sich nur in der Drittauflage der Enzyklopädie (vgl. 395ff.). Auch ansonsten ist die Gliederung der Momente geistiger Praxis nicht fix, wie vor Stederoth schon Adriaan Peperzak sehr ausführlich dargestellt hat.3 Dennoch ist der Eindruck falsch, Hegel operiere mit Paragraphen und Begriffen „wie mit Bauklötzen, die sich nach Belieben einfügen und verschieben lassen“ (389). Begriffslogizität und Empirie Dass Umgruppierungen von Material und Gliederungsvariationen in der Regel durch systematische Sachgründe motiviert sind, hat Stederoth am Beispiel des Willkürbegriffs selbst paradigmatisch erwiesen (vgl. 389ff.). Als erwiesen darf 3 Vgl. A. Peperzak, Hegels praktische Philosophie. Ein Kommentar zur enzyklopädischen Darstellung der menschlichen Freiheit und ihrer objektiven Verwirklichung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991.

Das Programm von Offenbarung als Geschichte

zugleich gelten, dass Hegels System nie in sich erstarrt, sondern stets lebendig bewegt und trotz prägender Grundstrukturen für Variationen grundsätzlich aufgeschlossen ist. Es folgt keinem Schema, weil seine Logizität für Realien und die, wie Stederoth sagt, „Brechungsfaktoren“ (408; vgl. 79ff.) offen war, die durch die „Empirizität des denkenden Subjekts“ (408) und mehr noch durch den jeweiligen „Stand der Erfahrungswissenschaft“ (ebd.) bedingt wurden, der – recht bedacht – „in den Verlauf der begrifflichen Organisation“ (ebd.) eingehen musste. Die „Durchführung einer begrifflich-dialektischen Systementfaltung“ (408f.) bleibt im Sinne Hegels „immer an die Empirie verwiesen“ (409) und damit unbeschadet seiner Geschlossenheit, ja in ihr geöffnet für die Erschließung von Neuem. In diesem Sinne charakterisiert Stederoth den Hegel’schen Grundansatz als „Projekt in Permanenz“ (410; 415), das „auch in unserer Gegenwart fortzuführen“ (410) sei. 4.2

Das Programm von Offenbarung als Geschichte

Obwohl er von vielen Betrachtern am Rande der Szene dafür gehalten wurde, verstand sich Pannenberg selbst nie als Hegelianer: „I never became a Hegelian“, schrieb er, wie bereits zitiert, in „An Autobiographical Sketch“ aus dem Jahr 1988.4 Als ein geschlossenes Systemganzes, für welches sie sog. Hegelianer hielten, hat Pannenberg die Hegel’sche Philosophie nicht nur nicht rezipiert, sondern kritisiert. Doch ist diese Kritik nicht von außen herangetragen, sondern kann als intern jedenfalls dann gelten, wenn Hegels Denken als jenes „Projekt in Permanenz“ begriffen wird, als welches es D. Stederoths komparatorischer Kommentar der Philosophie des subjektiven Geistes beschrieben hat. Die Offenheit der Hegel’schen Lehre vom Menschen für empirische Befunde, die unbeschadet, ja in Bestätigung ihrer systematischen Anlage und konzeptionellen Einbindung gegeben ist, ermöglicht nach Stederoth nicht nur die für ihre Durchführung charakteristische Variabilität, sondern auch ihre Fortschreibung über den Autor und seine Zeit hinaus. Pannenbergs Anthropologie in theologischer Perspektive kann als eine solche Fortschreibung von Hegels Philosophie des subjektiven Geistes unter der Voraussetzung gedeutet werden, dass sich das Verständnis des Begriffs als Vorgriff und des Gedankens des Absoluten als proleptisch und antizipativ verfasst nicht als systemdestruktiv, sondern als konstruktiver Ansatz der Systementwicklung insgesamt und der systematischen Entwicklung der Lehre vom Menschen im Besonderen erweisen lässt.

4 W. Pannenberg, An Autobiographical Sketch, in: C. E. Braaten/Ph. Clayton (Ed.), The Theology of Wolfhart Pannenberg, Minneapolis 1988, 11–18, hier: 16.

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Dogmatische Thesen In Grundzügen skizziert hat Pannenberg seinen für sein Gesamtwerk und nachgerade für seine Anthropologie bestimmenden Systemansatz in der 1961 erstmals erschienenen Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“, näherhin in sieben zusammenfassenden Thesen zur dogmatischen Offenbarungslehre. Zentral ist die mit Hegels Theorie der Selbsterschließung des Absoluten vergleichbare Annahme, dass die Offenbarung Gottes nicht am Anfang, sondern am Ende der offenbarenden Geschichte stattfinde.5 Dies hänge aufs engste mit der Indirektheit zusammen, in der nach biblischem Zeugnis der göttliche Selbsterweis im Verlauf der Geschichte erfolge (vgl. 91ff.). Dabei entspreche die „Ausweitung der Gottes Gottheit erweisenden Geschichte auf die Gesamtheit alles Geschehens überhaupt“ (97), wie sie spätestens in der jüdischen Apokalyptik vollzogen und vom Christentum ratifiziert worden sei, dem Universalitätsanspruch des einen Gottes, neben dem keine anderen Götter gegeben seien. Folgt man Pannenbergs Thesen, dann soll die Geschichtsoffenbarung in ihrem universalen Charakter „jedem, der Augen hat zu sehen, offen sein“ (98; bei P. gesperrt). Die Behauptung eines übernatürlichen bzw. suprarationalen Charakters der Offenbarungserkenntnis wird nicht nur nicht geteilt, sondern dezidiert abgewehrt. Die Abwehr ist mit dem Anspruch auf Rationalität und Vernünftigkeit versehen. Dass „(d)as Wissen von Gottes Offenbarung in der seine Gottheit erweisenden Geschichte … Grund des Glaubens sein“ (101) muss, wird entschieden behauptet. Allerdings sei dieses Wissen geschichtlich wandelbar und auf das Ende der Geschichte und alles Geschehens verwiesen, das sich, so die vierte These, im Geschick Jesu von Nazareth „vorweg ereignet“ (103; bei P. gesperrt) habe.6 Hinzugefügt wird, dass das Christusereignis nicht 5 W. Pannenberg, Dogmatische Thesen zur Lehre von der Offenbarung, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte, Göttingen (1961) 3 1965, 91–114, hier: 95. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zum früh erhobenen Vorwurf, Pannenberg habe den Grundriss seiner Konzeption freihändig skizziert und mit einem der apokalyptischen Tradition entnommenen Rahmen versehen, in welchen dann nachträglich alles als theologisch relevant Erscheinende einschließlich der Auferweckung Jesu eingezeichnet worden sei, vgl. neben G. Klein, Theologie des Wortes Gottes und die Hypothese der Universalgeschichte. Zur Auseinandersetzung mit Wolfhart Pannenberg, München 1964 beispielsweise P. Henke, Gewissheit vor dem Nichts. Eine Antithese zu den theologischen Entwürfen Wolfhart Pannenbergs und Jürgen Moltmanns, Berlin/New York 1978, 94ff., bes. 128f. Dazu: G. Wenz, Pannenbergs Kreis. Genese und erste Kritik eines theologischen Programms, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Göttingen 2018, 17–57, bes. 37ff. 6 Nach Pannenberg ist das Ende der Geschichte in der Auferweckung des am Kreuz gestorbenen Jesus von Nazareth „real antizipiert“ (K. Góźdź, Jesus Christus als Sinn der Geschichte bei Wolfhart Pannenberg, Regensburg 1988, 82. Vgl. auch A. Kendel, Geschichte, Antizipation und Auferstehung. Theologische und texttheoretische Untersuchung zu W. Pannenbergs Ver-

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als isoliertes Geschehen, sondern nur im Rahmen der Geschichte Gottes mit Israel die Gottheit Gottes offenbare (vgl. 107); hinzugefügt wird ferner, dass „(i)n der Ausbildung außerjüdischer Offenbarungsvorstellungen in den heidenchristlichen Kirchen … die Universalität des eschatologischen Selbsterweises Gottes im Geschick Jesu zum Ausdruck“ (109; bei P. gesperrt) komme. Pannenbergs Thesenreihe schließt mit Bemerkungen zum Wortbezug der Offenbarung und zu ihrem kerygmatischen Charakter, wobei gelten soll: „Der Selbsterweis Gottes vor allen Menschen ist ohne die universale Kundmachung nicht zu denken. Aber das Kerygma ist nicht nur für sich selbst Offenbarungsrede, etwa in seinem formalen Charakter als Ruf. Das Kerygma ist ausschließlich von seinem Inhalt her zu verstehen, von dem Geschehen, das es berichtet und expliziert. Das Kerygma bringt nicht noch etwas zum Geschehen hinzu. Die Ereignisse, in denen Gott seine Gottheit erwiesen hat, sind als solche innerhalb ihres Geschichtszusammenhanges selbstevident.“ (113f.) Die in Anschlag gebrachte Wissensfundiertheit des Glaubens entspricht dieser Annahme. Heilsgeschehen und Geschichte Mit der Publikation der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ von 1961 kündigte sich innerhalb des deutschen Protestantismus ein neuer theologischer Gesamtentwurf an, der sich von der herrschenden Wort-Gottes-Theologie entschieden abzugrenzen versuchte und zwar sowohl in ihrer Barth’schen als auch in ihrer Bultmann’schen Gestalt. In dem 1959 erschienenen Aufsatz „Heilsgeschehen und Geschichte“ hatte Pannenberg die Abgrenzungslinien bereits deutlich gezogen. Nach zwei Seiten hin müsse die offenbarungsgeschichtliche Voraussetzung christlicher Theologie heute innerhalb dieser selbst verteidigt werden: einerseits gegenüber einer Existenztheologie, die Geschichte auf Geschichtlichkeit reduziere und dadurch in ihrer transsubjektiven Bedeutung entwerte bzw. auflöse, andererseits gegen eine supranaturalistischsuprarationalistische Theologie, welche die Offenbarungsgeschichte jenseits der Historie und in einer Übergeschichte ansetze. Als Repräsentanten der ersten Position werden Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten, als Vertreter der zweiten Martin Kähler, Johann Christian Konrad von Hofmann sowie Karl Barth genannt, der die Offenbarungsgeschichte zur Urgeschichte und damit zu einer Art von Mythos erklärt habe, welcher der Historie entzogen sei. Beiden Positionen ist nach Pannenberg die Abwehrhaltung gegenüber der ständnis von Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 2001). So real das Ostergeschehen ist, so wirklich ist im auferstandenen Gekreuzigten das Sinnganze der Individual- (vgl. 104ff.), der Gesellschafts(vgl. 147ff.) und der Universalgeschichte (vgl. 199ff.) offenbar. Zur Deutung des Kreuzestodes Jesu bei Pannenberg vgl. u. a. H. Neie, The Doctrine of the Atonement in the Theology of Wolfhart Pannenberg, Berlin/New York 1979, bes. 129ff.

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historisch-kritischen Forschung gemeinsam, weil diese als wissenschaftliche Analyse geschichtlichen Geschehens angeblich für Offenbarungsereignisse, ja für die Realität göttlichen Wirkens prinzipiell keinen Platz und keine Möglichkeit vorsehe. Der prinzipiellen Reserve der historisch-kritischen Forschung gegenüber, wie sie nach seinem Urteil in den beiden Varianten der Wort-Gottes-Theologie gegeben ist, begegnet Pannenberg mit dem Grundsatz, dass der Gehalt der biblischen Geschichte bzw. des Offenbarungsgeschehens, welches die Bibel bezeuge, unter neuzeitlichen Bedingungen nur historisch-kritisch behauptet und bewährt werden könne. Dies schließe allerdings die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit den impliziten, oft in stillschweigender Selbstverständlichkeit vorausgesetzten Prämissen historisch-kritischer Forschung nicht aus, sondern ein. Dazu gehöre die Feststellung, „daß die Prinzipien historischer Forschung nicht wesentlich und unvermeidlich einem weltanschaulichen Anthropozentrismus verhaftet sein müssen, daß vielmehr derartige weltanschauliche Tendenzen den Fortgang historischer Forschung hemmen“7 . Als fortschrittshemmende Folge eines ideologisch gefassten Anthropozentrismus stuft Pannenberg beispielsweise die methodische Forderung ein, alles historische Geschehen müsse sich in die menschliche Lebens- und Erfahrungswelt in der Form einordnen lassen, dass eine Vergleichbarkeit mit bisher Bekanntem grundsätzlich gewährleistet sei. Nach Pannenbergs Urteil ist das Postulat einer prinzipiellen Analogie allen historischen Geschehens auf das weltanschauliche Vorurteil eines ideologischen Anthropozentrismus gegründet und in der Sache unhaltbar. Da nämlich jeder Analogie ein univoker Logos und jedem Vergleich ein sinnidentisches tertium comparationis zugrunde liege, laufe eine auf das Analogieprinzip und das Prinzip grundsätzlicher Vergleichbarkeit festgelegte historisch-kritische Methode notwendigerweise auf den Ausschluss alles Neuen, das noch nie dagewesen ist, alles Kontingenten und Einmaligen von singulärer Individualität aus der Geschichte hinaus, was nachgerade unter den Gesichtspunkten historisch-kritischer Methodik als entwicklungshemmend beurteilt werden müsse. Konstruktiv geübt werde historische Kritik nur dann, wenn sie selbstkritisch und unideologisch vollzogen und nicht auf Prinzipien fixiert werde, die ihr äußerlich und dem geschichtlichen Wesen von Geschichte gegenläufig seien, zu der konstitutiv Offenheit gehöre. Zwar spreche nichts gegen den Aufweis konkreter geschichtlicher Analogien von Fall zu Fall; „eine prinzipielle Gleichartigkeit alles Wirklichen vom jeweils nächstliegenden Umkreis

7 W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen (1967) 2 1971, 22–78, hier: 46.

Das Programm von Offenbarung als Geschichte

der Erfahrung und Forschung aus“8 zu postulieren, sei hingegen methodisch und sachlich abwegig. Wo die „Allmacht der Analogie“ (E. Troeltsch) herrsche, werde das geschichtlich Einmalige unterdrückt und das Typische obsiege über das Individuelle und Singuläre. Wider die Allmacht der Analogie Bereits Jahre vor der Zeit, als er „durch seinen Aufsatz Heilsgeschehen und Geschichte, erschienen 1959, vor allem aber durch die Veröffentlichung des Sammelbandes Offenbarung als Geschichte, 1961“9 Bekanntheit erlangte, wurde die theologische Entwicklung Pannenbergs durch die kritische Auseinandersetzung mit dem Analogieprinzip geprägt. Erste Ansätze hierzu finden sich schon in der 1953 von der Heidelberger Theologischen Fakultät – an der er mit einer Basler Unterbrechung seit SS 1950 studierte – angenommenen und im Jahr später veröffentlichten Dissertation über die Prädestinationslehre des Duns Scotus.10 Breit ausgearbeitet wurde sie dann in der Habilitationsschrift. Eine Vorstudie zu ihr lieferte die im November 1951 geschriebene Untersuchung „Zur Bedeutung des Analogiegedankens bei Karl Barth. Eine Auseinandersetzung mit Urs von Balthasar“, die zwei Jahre später in der „Theologischen Literaturzeitung“ veröffentlicht wurde und die erste Publikation Pannenbergs überhaupt darstellt.11 Die Habilitationsschrift selbst wurde in Heidelberg 1955 nur maschinenschriftlich vorgelegt und nicht bzw. erst Jahrzehnte später, nämlich 2007, in erweiterter und mit einem Vor- und Nachwort versehenen Form publiziert.12 Ihre kritische Pointe ist gegen die in der Scholastik verbreitete Annahme gerichtet, die Analogie sei ein Mittleres zwischen Univozität und

8 A.a.O., 50. 9 I. Berten, Geschichte. Offenbarung. Glaube. Eine Einführung in die Theologie Wolfhart Pannenbergs, München 1970, 11. Das mit einem Vorwort von E. Schillebeeckxs versehene Buch eines Dominikanerpaters, das im Original auf Französisch erschienen ist, stellt das Programm der Pannenberg’schen Geschichts- und Offenbarungstheologie in einem ersten Kapitel in Grundzügen dar (vgl. 19–68), um in einem zweiten Kapitel eigene Reflexionen zum Thema anzustellen (vgl. 69–128). Auf kritische Anfragen Bertens hat Pannenberg in einem Nachwort reagiert (vgl. 129–141). Vgl. ferner: S. Greiner, Die Theologie Wolfhart Pannenbergs, Würzburg 1988. Zu Pannenbergs Zeitkonzept vgl. bes. St. Lakkis, A New Hope: Wolfhart Pannenberg and the Natural Sciences on Time, Cambridge 2014. 10 W. Pannenberg, Die Prädestinationslehre des Duns Skotus im Zusammenhang der scholastischen Lehrentwicklung, Göttingen 1954. 11 Ders., Zur Bedeutung des Analogiegedankens bei Karl Barth. Eine Auseinandersetzung mit Urs von Balthasar, in: ThLZ 78 (1953), 17–24. 12 Ders., Analogie und Offenbarung. Eine kritische Untersuchung zur Geschichte des Analogiebegriffs in der Lehre von der Gotteserkenntnis, Göttingen 2007. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Äquivozität, gänzlicher Gleichheit und gänzlicher Verschiedenheit. Diese Annahme treffe nicht zu, weil Voraussetzung der Analogie ein identischer logos analogans sei. Erst ein univokes Element ermögliche die Analogizität der Analogie. Fehle jenes, dann falle auch diese dahin, wie Duns Scotus unwiderleglich erwiesen habe. Im Vorwort der Druckfassung seiner Habilitationsschrift hat Pannenberg eigens unterstrichen, dass die Auseinandersetzung um die Frage, „(o)b die Rede vom Sein und andere Prädikate in Aussagen über Gott gleichsinnig (univok) oder nur analog im Verhältnis zum sonstigen Sprachgebrauch zu verstehen sind“ (5), „mehr als ein Schulstreit“ (ebd.) und die Einsicht von Duns, derzufolge auch analoges Reden von Gott um der Analogizität der Analogie willen ein univokes Element einschließen müsse, von durchaus epochaler Bedeutung sei. Wie immer man diesbezüglich zu urteilen hat: Für Pannenbergs eigene Konzeptionsbildung war die skotistische Kritik des Analogieprinzips in hohem Maße relevant. Ihre Aufnahme und Anwendung im Zusammenhang der Klärung der Grundlagen der historisch-kritischen Methode, die er für theologisch unverzichtbar hielt, bietet hierfür nur einen Beleg. Pannenberg leugnet nicht, dass sich menschlich-welthafte Seinserkenntnis in der Weise analogischen Vergleichens vollzieht, wie Kants Erkenntnistheorie dies prinzipiell und Ernst Troeltsch in seiner Schrift „Ueber historische und dogmatische Methode“ hinsichtlich geschichtlicher Forschungen erwiesen habe. Doch erlaube die Gebundenheit des vorstellenden Denkens an das Analogieprinzip keinen Schluss auf seine theologische Adäquanz und auf die Legitimität seiner Anwendung auf die Gesamtgeschichte. Ansonsten nämlich werde mit der Möglichkeit einer Existenz Gottes in seiner unvergleichlichen Einzigkeit auch die mögliche Faktizität einmaliger, noch nie da gewesener und unwiederholbarer Geschichtsphänomene per se in Abrede gestellt. Singuläres müsste dann zwangsläufig als geschichtlich ausgeschlossen gelten, weil die behauptete Gleichartigkeit alles Geschichtsgeschehens prinzipiell Neues nicht zulasse. Singularitätstheorie Nach Pannenbergs früher Einsicht muss die Allmacht des Analogieprinzips gebrochen und sein unbeschränkter Herrschaftsanspruch in Theologie und Geschichtswissenschaft in Schranken gewiesen werden. In einem selten beachteten Text von 1960 über „Möglichkeit und Grenzen der Anwendung des Analogieprinzips in der evangelischen Theologie“13 ist diese Forderung unmissverständlich ausgesprochen. Für das im Folgejahr an die Öffentlichkeit 13 Ders., Möglichkeiten und Grenzen der Anwendung des Analogieprinzips in der evangelischen Theologie, in: ThLZ 85 (1960), Sp. 225–228. Am Anfang steht die erneute Bestreitung der „die traditionelle Analogielehre beherrschende Voraussetzung“ (226), wonach die Analogie „ein Mittleres zwischen gänzlicher Gleichheit und Ungleichheit“ (ebd.) sei. Diese Prämisse

Anthropologie als implizite Prämisse der Geschichtstheologie

gebrachte Programm von „Offenbarung als Geschichte“14 bildet sie die förmliche Voraussetzung der inhaltlichen Grundthese, dass im Christusgeschehen das Ende der Geschichte geschichtlich vorwegereignet und ihr Sinnganzes proleptisch antizipiert sei. 4.3

Anthropologie als implizite Prämisse der Geschichtstheologie

Das in „Offenbarung als Geschichte“ grundgelegte Programm, das im Ansatz bereits in Pannenbergs akademischen Qualifikationsschriften zum Vorschein kommt15 , ist entschieden theologisch konzipiert. Träger der Geschichte ist nicht der Mensch, sondern Gott. Ohne Gott könnte weder ihre Einheit noch ihr Sinn angemessen erfasst werden. Statt menschliche Geschichtlichkeit zur Basis des Verständnisses von Geschichte zu erklären, gelte es diese und das göttliche Offenbarungsgeschehen in ihr als Voraussetzung jener zu erkennen. Doch so dezidiert sich Pannenberg unter Berufung auf das Zeugnis der Schrift gegen eine anthropozentrische Auflösung der Geschichtstheologie ausspricht, so wenig will er die biblische Geschichte als Geschichte göttlicher Selbsterschließung in supranaturalistisch-suprarationalistischer Manier als Übergeschichte verstanden wissen, welche sich historischer Betrachtung entzieht. Die für die Neuzeit und die moderne historische Methodik kennzeichnende Zentralität der Anthropologie soll nicht abstrakt negiert, sondern aufgegriffen und in

habe als unzutreffend zu gelten, da alle Analogie „einen Kern gleichsinniger Gemeinsamkeit“ (ebd.) voraussetze. Dies gelte sowohl von der sog. Proportions-, als „auch von der sog. Attributionsanalogie, die entweder (mehr neuplatonisch) als Kausalanalogie auf der Seinsteilgabe der Ursache an die Wirkungen beruht, oder aber (aristotelisch) ein seinshaft gemeinsames Medium der verschiedenen Kategorien, das Sein der Substanz, voraussetzt“ (227). Aus dem Nachweis, dass alle Analogie einen univoken Kern enthalte, ergibt sich für Pannenberg, dass diese „(a)ls Strukturprinzip von Aussagen über das Wesen Gottes … theologisch illegitim“ (ebd.) sei, weil „alle Einwände, die gegen eine Gleichheit geschöpflicher mit göttlichen Wesenszügen“ (ebd.) sprächen, „auch gegen die analoge Übertragung geschöpflicher Worte und Begriffe auf Gott geltend zu machen“ (ebd.) seien. Pannenberg unterstreicht diese Feststellung unter einem hamartiologischen Aspekt, den er zum „schwerwiegendste(n)“ (ebd.) des ganzen Sachverhalts erklärt (vgl. E. A. Johnson, Analogy/Doxology and their Connection with Christology in the Thought of Wolfhart Pannenberg, Washington D. C. 1981). 14 Breit entfaltet habe ich Genese und erste Kritik der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“ in dem bereits erwähnten (Anm. 5) Text: Pannenbergs Kreis. Genese und erste Kritik eines theologischen Programms, in: G. Wenz (Hg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, 17–57. 15 Vgl. im Einzelnen meine Studie: Vorschein des Künftigen. Wolfhart Pannenbergs akademische Anfänge und sein Weg zur Ekklesiologie, in: G. Wenz (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zu Wolfhart Pannenbergs Ekklesiologie, Göttingen 2017, 13–47.

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konstruktiver Kritik vor einer Fehlbestimmung bewahrt werden, die kontraproduktive Konsequenzen aus der Zentralstellung des Menschen in der Welt und ihrer Geschichte zieht. Der Zusammenhang zwischen Geschichtstheologie und Anthropologie ergibt sich aus diesem Ansatz mit innerer Notwendigkeit. Die Anthropologie fungiert in Pannenbergs Konzept als implizite Prämisse der Geschichtstheologie, der sie unveräußerlich zugehört. Es verwundert daher nicht, dass bereits ein Jahr nach Veröffentlichung von „Offenbarung als Geschichte“ theologische Studien zur Anthropologie der Gegenwart publiziert wurden, die aus Vorlesungen der Jahre 1959/60 und 1961 hervorgingen. Die 1962 erschienenen Texte bilden nicht nur eine wichtige Basis der Pannenberg’schen Theanthropologie, wie sie in den „Grundzügen der Christologie“ von 1964 ausgearbeitet ist, sie stellen zugleich das Fundament dar, auf der die große „Anthropologie in theologischer Perspektive“ von 1983 aufgebaut und errichtet werden konnte. Flankiert wurde die Monographie durch eine Reihe kleinerer Untersuchungen zur theologischen Anthropologie, von denen einige in dem Heft „Die Bestimmung des Menschen“ von 1978 und im zweiten Band der Beiträge zur Systematischen Theologie „Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung“ aus dem Jahr 2000 gesammelt sind. Gäbe es in Pannenbergs Systematischer Theologie förmliche Prolegomena, dann wären diese primär der Anthropologie vorbehalten. Neuzeitliche Anthropozentrik Die fundamentaltheologische Bedeutung der Lehre vom Menschen ergibt sich für Pannenberg folgerichtig aus dem, was er die anthropologische Wende der Moderne nennt: Die Umverlagerung der theologischen Begründungsproblematik von der Kosmologie auf die Anthropologie. Ihr entspreche die Entwicklung, welche die philosophische Gotteslehre in der Neuzeit genommen habe. „Die neuzeitliche Philosophie – soweit sie sich nicht dem Atheismus zuwandte oder in agnostischer Distanz verharrte – hat mit zunehmender Entschiedenheit Gott als Voraussetzung menschlicher Subjektivität und insofern vom Menschen her gedacht, nicht mehr von der Welt her.“16 Waren die traditionelle Metaphysik 16 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983 (= Anthr.), 11. Ausführlich dargestellt wurde Pannenbergs „Anthropologie als Beitrag zur Grundlegung der Theologie“ jüngst von W. Greive, Die Glaubwürdigkeit des Christentums. Die Theologie Wolfhart Pannenbergs als Herausforderung, Göttingen 2017, 259ff. Vgl. dazu meine Besprechung in: G. Wenz (Hg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, 405–411. Grundlegend fernerhin: F.-J. Overbeck, Der gottbezogene Mensch. Eine systematische Untersuchung zur Bestimmung des Menschen und zur „Selbstverwirklichung“ Gottes in der Anthropologie und Trinitätstheologie Wolfhart Pannenbergs, Münster 2000. Ferner: K. M. Wong, Wolfhart Pannenberg on Human Destiny, Aldershot/Burlington 2008.

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und Ontotheologie vor allem kosmologisch orientiert, um Gott als ersten Beweger, prima causa, notwendige Grundlage der Welt und allen Weltgeschehens etc. zu erweisen, so argumentiert die philosophische Gotteslehre der Neuzeit „statt dessen vom Dasein und der Erfahrung des Menschen her, um zu zeigen, daß Gott unumgänglich in jedem Akt menschlichen Daseins vorausgesetzt werde“ (Anthr., 12).17 Obwohl die Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie, in der sich die allgemeine Geisteslage der Moderne charakteristisch reflektiere und zum Ausdruck bringe, nach Pannenbergs Urteil „selber einen der Anstöße für die zunehmende Anthropozentrik des theologischen Denkens“ (ebd.) gebildet hat, sei diese doch „nicht nur dem Einfluß der Philosophie zuzuschreiben. Es gab dafür noch einen zweiten, genuin theologischen Anlaß“ (ebd.). Er liegt im christlichen Gedanken der Menschwerdung Gottes und in den theologischen, christologischen und pneumatologischen Implikationen und Konsequenzen begründet, die mit der inkarnatorischen Grundannahme des Christentums verbunden sind. Auch 17 Vgl. Im Einzelnen G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 15–70. Man hat für eine Historisierung des Begriffs der Metaphysik und dafür plädiert, sie mit dem Leibniz-Wolffschen-System, dem Kant den Abschied gab, ihr Ende nehmen zu lassen. Die Metaphysik habe „sich als eine – auf der Annahme der Einheit von Vernunft und Glauben basierende – Vernunfterkenntnis des Seienden verstanden – und nicht allein des Seienden als des Gegenstandes der Ontologie, sondern auch der Seele und Gottes – der Unsterblichkeit der Seele und der Persönlichkeit Gottes“ (W. Jaeschke, Ein Plädoyer für einen historischen Metaphysikbegriff, in: M. Gerhard u. a. [Hg.], Metaphysik und Metaphysikkritik in der Klassischen Deutschen Philosophie, Hamburg 2012, 11–21, hier: 17); ihr definitives Ende sei durch „Kant zu Beginn der Klassischen Deutschen Philosophie“ (ebd.) heraufgeführt worden. Auf Kants Sprachgebrauch kann sich diese These indes kaum berufen, da dieser den Metaphysikbegriff auch unter den Bedingungen seiner kritischen Philosophie weiterhin verwendet hat und zwar durchaus affirmativ. Auch bei Fichte, Schelling und Hegel kann von einer Inkriminierung des Begriffs keine Rede sein, auch wenn sich wie schon bei Kant seine Bedeutung gegenüber derjenigen erheblich verändert hat, welche er im LeibnizWolff ’schen-Systemzusammenhang hatte. Das gesteht übrigens auch Jaeschke zu, wenn er zwischen einem Metaphysikbegriff stricte et late dictu unterscheidet. Statt in terminologische Querelen einzutreten, sollte man sich daher besser auf Sachprobleme konzentrieren und zwar in dem Bewusstsein, dass der Sinn der Rede von einem nachmetaphysischen Zeitalter der Philosophie davon abhängt, was man unter Metaphysik versteht. In dem Sammelband zu „Metaphysik und Metaphysikkritik in der Klassischen Deutschen Philosophie“, in dem Walter Jaeschke einleitend sein „Plädoyer für einen historischen Metaphysikbegriff “ vortrug, war einer der Beiträge mit dem Titel „Hegels Kritik der Substanz-Metaphysik als Vollendung des Prinzips neuzeitlicher Philosophie“ versehen. Hegels programmatische Transfinalisierung der Substanz zum Subjekt in der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes“ wird darin als der eigentliche Quantensprung in der Philosophiegeschichte der Moderne bezeichnet (vgl. K. E. Kaehler, Hegels Kritik der Substanz-Metaphysik als Vollendung des Prinzips neuzeitlicher Philosophie, in: a.a. O., 133–160, hier: 151ff.).

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wenn Pannenberg einer individualistischen Zuspitzung der soteriologischen Thematik kritisch begegnet und vor einer entsprechenden anthropozentrischen „Engführung“ (Anthr., 13) warnt, weil diese die problematische „Tendenz zur Segmentierung und Privatisierung der Religion“ (Anthr., 13f.) in der Moderne nur verstärkt habe, hält er die anthropologische Konzentration christlicher Theologie aus allgemeinen und neuzeitspezifischen Sachgründen für alternativlos. Moderne christliche Theologie muss nach seiner Auffassung „ihre Grundlegung auf dem Boden allgemeiner anthropologischer Untersuchungen gewinnen“ (Anthr., 15), da sie sonst keinen „stichhaltigen Anspruch auf Allgemeingültigkeit“ (ebd.) zu erheben in der Lage sei. Ohne einen solchen Anspruch hinwiederum könnten „der christliche Glaube und die christliche Verkündigung das Bewußtsein ihrer Wahrheit nicht bewahren; denn Wahrheit, die nur meine Wahrheit wäre und nicht zumindest dem Anspruch nach allgemein wäre, für alle Menschen gelten sollte, – eine solche ‚Wahrheit‘ könnte auch für mich nicht wahr bleiben.“ (Ebd.) Religion als anthropologisches Universale Um ihres Allgemeingültigkeits- und um ihres Wahrheitsanspruchs willen „muß die christliche Theologie in der Neuzeit ihre Grundlegung auf dem Boden allgemeiner anthropologischer Untersuchungen gewinnen“ (ebd.) und das umso mehr, als auch der neuzeitliche Atheismus den Anspruch seiner allgemeingültigen Wahrheit „auf dem Boden der Anthropologie“ (ebd.) zu erweisen sucht. Die Auseinandersetzung um die Frage sei für die Theologie daher unumgänglich, „ob Religion unerläßlich zum Menschsein des Menschen gehört oder im Gegenteil dazu beiträgt, den Menschen sich selber zu entfremden“ (ebd.). Zwar sei mit dem Aufweis, dass Religion konstitutiv und unveräußerlich zur conditio humana gehöre, die Aufgabe der Theologie noch keineswegs erledigt, da für sie nicht die menschliche Religion, sondern die Gottheit Gottes und ihre Selbstoffenbarung vorrangig sein müssten. Dennoch sei anthropologische Argumentation für die Theologie unverzichtbar, weil ohne sie „alle noch so steilen Behauptungen über den Vorrang der Gottheit Gottes bloße subjektive Versicherungen ohne ernstzunehmenden Anspruch auf Allgemeingültigkeit“ (Anthr., 16) blieben. Allerdings, so fügt Pannenberg hinzu, habe die Aneignung der anthropologischen Forschungsarbeit und ihrer Resultate nicht unkritisch, sondern kritisch und im Sinne konstruktiver Anverwandlung zu erfolgen. Sich auf sie bzw. auf das aktuelle Selbstverständnis des Menschen lediglich im Sinne einer „Anknüpfung“ zu beziehen, lehnt er ausdrücklich und entschieden ab. Aufgabe sei es vielmehr, „die von den anthropologischen Disziplinen beschriebenen Phänomene des Menschseins theologisch in Anspruch zu nehmen. Das geschieht, indem ihre säkulare Beschreibung als eine nur vorläufige Auffassung

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der Sachverhalte angenommen wird, die dadurch zu vertiefen ist, daß an den anthropologischen Befunden selbst eine weitere, theologisch relevante Dimension aufgewiesen wird. Die Vermutung, daß sich solche Aspekte an den von anderen Disziplinen erforschten Sachverhalten im einzelnen aufzeigen lassen, ist die Generalhypothese, die das Vorgehen dieser Untersuchung bestimmt und die sich in den Einzelerörterungen bestätigen muß.“ (Anthr., 19f.) Die Aufgabe, die sich Pannenberg in seinen Studien „Was ist der Mensch?“ und in seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ gestellt hat, zielt auf die kritische und konstruktive Aneignung anthropologischer Theoriebildungen der nichttheologischen Forschung und darauf, den Menschen als gleichsam von Natur aus religiös zu erweisen. Um einen Ersatz der im Rahmen der theologischen Schöpfungslehre zu entwickelnden, auf Gottebenbildlichkeit und Sünde des Menschen konzentrierte dogmatische Anthropologie oder gar um einen Ersatz der Dogmatik insgesamt soll es dabei erklärtermaßen nicht zu tun sein. Zwar nimmt Pannenberg an, dass sich Gottebenbildlichkeit und Sünde als die beiden Hauptthemen theologischer Anthropologie „auch beim Versuch einer theologischen Interpretation der Implikationen nichttheologischer anthropologischer Forschung als zentral erweisen“ (Anthr., 20), jedenfalls dann, wenn man sie „nicht mit dem alten, weltanschaulich überholten Rahmen der Lehre von Urstand und Fall“ (ebd.) identifiziert. Ja, er erwartet, dass sich die christentumspezifische Lehre vom Menschen als in besonderem Maße erhellend erweist „für die empirisch erhobenen anthropologischen Phänomene. Es wird sich zeigen, daß sie sogar historisch dazu beigetragen haben, daß der Weg zur Entdeckung dieser Phänomene beschritten wurde.“ (Anthr., 21) Dennoch will Pannenberg in seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ erklärtermaßen keine dogmatische Lehre vom Menschen vortragen oder gar einen anthropologischen Gottesbeweis führen: „Daß die Frage nach Gott zum Menschsein des Menschen gehört, das besagt noch nicht, daß ein Gott existiert und welcher Gott das ist. Nur als Problem ist die Gottesfrage dem Menschsein des Menschen unveräußerlich.“ (Anthr., 70) In diesem Sinn bezeichnet Pannenberg die „zu entwickelnden Untersuchungsgegenstände zusammenfassend als fundamentaltheologische Anthropologie“ (Anthr., 21): „Diese argumentiert nicht von dogmatischen Gegebenheiten und Voraussetzungen aus, sondern wendet sich den Phänomenen des Menschseins zu, wie sie von der Humanbiologie, der Psychologie, Kulturanthropologie oder Soziologie untersucht werden, um die Aufstellungen dieser Disziplinen auf ihre religiösen und theologisch relevanten Implikationen zu befragen.“ (Ebd.) Hinzuzufügen ist, dass nach Pannenberg unter allen anthropologischen Disziplinen die Geschichtswissenschaft „der konkreten Wirklichkeit des menschlichen Lebens am nächsten steht“ (Anthr., 22). Sie markiert daher den Skopus der fundamentaltheologischen Anthropologie Pannenbergs.

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Fundamentaltheologische Anthropologie Eigens erwähnt sei im gegebenen Zusammenhang, dass Pannenberg in der Einleitung seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ das Werk Karl Rahners als beispielhaft dafür angeführt hat, dass auch die katholische Theologie „nach einer Verzögerung durch die Periode der Neuscholastik schließlich denselben Weg gegangen“ (Anthr., 11) sei wie vor ihr die protestantische Theologie der Moderne, nämlich das Verständnis des Menschen zum Ausgangspunkt und zur Grundlage der Gottesthematik zu erklären. Der Zugang zur Theologie sollte primär nicht mehr über die Kosmologie, sondern über die Anthropologie erfolgen. Als exemplarisch für diese Tendenz können Rahnerwerke schon der frühen Schaffensperiode gelten wie „Geist in Welt“18 oder „Hörer des Worts“19 . Wie Pannenberg versieht Rahner darin das Verständnis 18 Rahner beschreibt in „Geist in Welt. Zur Metaphysik der endlichen Erkenntnis bei Thomas von Aquin“ den Menschen als psychosomatisches Wesen, das in seiner Differenzeinheit einerseits der körperlichen Welt und der Sphäre des Endlichen angehört, andererseits alles Endliche auf die Unendlichkeit Gottes hin zu transzendieren bestimmt ist. Erst allmählich hat man die zumindest für die römisch-katholische Theologie der Zeit epochemachende Bedeutung der Schrift erkannt und anerkannt. Als Freiburger philosophische Dissertation geplant, von „Doktorvater“ M. Honecker aber wegen methodischer und inhaltlicher Bedenken abgelehnt ist die im Frühjahr 1936 abgeschlossene Schrift erst 1939 veröffentlicht worden und dann wieder 1957 in einer von Johann Baptist Metz im Auftrag des Verfassers überarbeiteten und ergänzten Zweitauflage, welche die Grundlage der Neuedition im Zweiten Band von Rahners „Sämtliche(n) Werken“ bildet (K. Rahner, Sämtliche Werke [=SW]. Hg. v. d. Karl-RahnerStiftung, Bd. 2: Geist in Welt. Philosophische Schriften, Freiburg i. Br. 1996, 3–316). Ziel der Untersuchung ist es, im Medium einer Interpretation von Summa theologica I q. 84, a.7 von der thomistischen Neuscholastik auf Thomas selbst zurückzulenken, „um gerade so den Fragen näherzukommen, die heutiger Philosophie aufgegeben sind“ (SW 2, 5). Es sind dies Rahner zufolge primär nicht Fragen kosmologischer, sondern anthropologischer Art bzw. kosmologische Fragen nur insofern, als sie vorzugsweise das menschliche Weltverhältnis betreffen. – Mit Thomas geht Rahner davon aus, dass das Selbstsein des Menschen stets welthaft verfasst und die menschliche Erkenntnis durchweg sinnlich bestimmt ist. Das Bei-einemanderen-Sein, welches seine welthaft-sinnliche Verfassung ausmacht, hebt indes das Selbstsein des Menschen nicht auf, sofern der Mensch gerade im anderen seiner selbst dergestalt bei sich ist, dass er sich im reflexen Vollzug einer reditio subiecti in se ipsum als Bedingung der Möglichkeit jeder gegenständlichen Welterkenntnis wissen kann und tatsächlich weiß. Das Bei-sich-Sein als Gegen-ein-anderes-Gestelltsein nennt Rahner Denken, um aus dem Vermittlungszusammenhang von Sinnlichkeit und Denken heraus das Erkennen in seiner differenzierten Einheit zu begreifen und im antizipativen Vorgriff auf das Selbst und Welt Umgreifende eine Perspektive zu erschließen hin auf den absoluten Grund, in dem alles gründet und auf den alles hinzielt (vgl. SW 2, 181–283 sowie 285–300). 19 Der als die differenzierte Selbst-Welt-Einheit, die er ist, in seinem Erkennen selbsttranszendente und weltoffene Mensch ist seinem Wesen nach auf Gotteserkenntnis angelegt, auch wenn diese für ihn nur von Gott und seiner Offenbarung her zur Erfüllung zu bringen ist. Das Wort, in dem sich für den Menschen der absolute Grund seiner selbst und seiner Welt erschließt, kann Rahner zufolge nur Gott sprechen, wie er es in Jesus Christus, dem inkarnierten Wort

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des Menschen mit fundamentaltheologischen Ansprüchen und erklärt es zur Gottes in Person, kraft seines heiligen Geistes in unverdenklicher Faktizität tatsächlich getan habe. Zum „Hörer des Worts“ ist der Mensch gleichwohl als Mensch und seinem kreatürlichen Wesen nach bestimmt; Religion im Sinne von weltoffener Selbsttranszendenz gehört entsprechend zur menschlichen Natur. In seinem nach „Geist in Welt“ zweiten größeren wissenschaftlichen Werk mit dem programmatischen Titel „Hörer des Worts“ hat Rahner dies in einer anthropologisch angelegten Religionsphilosophie in fundamentaltheologischer Absicht herauszuarbeiten versucht. Das Buch ist aus Vorlesungen anlässlich der Salzburger Hochschulwochen 1937 entstanden, im Kriegsjahr 1941 erstmals erschienen und für die Zweitauflage von 1963 von J. B. Metz stark überarbeitet und mit Anmerkungen versehen worden. In SW 4, 1–281 sind beide Fassungen parallel gedruckt. Die Leitfrage der Untersuchung lautet, „ob sich in einer metaphysischen Überlegung das Wesen des Menschen mit Fug und Recht gerade dahin bestimmen lasse, daß er das Wesen zu sein habe, das in seiner Geschichte Ausschau zu halten hat nach der möglichen Offenbarung des Gottes, der ihm in seiner Metaphysik als der wesentlich Unbekannte erscheint“ (SW 4,26). Rahner bejaht diese Frage in drei Schritten und in enger Bindung, wie er sagt, an die thomasische Ontologie, deren neuzeitspezifische Rezeption indes unverkennbar ist. Zuerst soll die Gelichtetheit des Seins des Seienden im Allgemeinen aufgewiesen und diejenige des Menschenwesens zumal, welches, in sich selber gelichtet, auf eine Seinserkenntnis angelegt ist, die Selbst- und Welterkennen transzendiert und beides eben dadurch in rechter Weise ermöglicht. Der Mensch ist offen für Schau und Spruch des letzten Seins, und diese Offenheit ist die „apriorische Voraussetzung für die Möglichkeit“ (SW 4, 82), die Offenbarung des Absoluten zu vernehmen, welche − lange vor „Dei Verbum“ − als Selbstmitteilung bzw. Selbsterschließung Gottes verstanden wird. Als „Geist in Welt“ ist der Mensch dazu bestimmt, Hörer nicht nur irgendeines, sondern desjenigen Wortes zu sein, in dem sich das Sein selbst ausspricht. Zur Erkenntnis der gegenständlichen Welt und seiner selbst fähig kann er nicht sein ohne Offenheit für das Absolute als des Grundes und Sinnzieles alles Seienden. Indes stellt Rahner in einem zweiten Argumentationsschritt klar, dass die Offenheit des Menschen für die Erkenntnis des ipsum esse nicht mit dessen Offenbarung gleichzusetzen sei. Der Sinngehalt des ipsum esse − und mit ihm der Grund und Sinn von Selbst und Welt − bleibt vielmehr verborgen, bis er sich in Freiheit auf Freiheit hin erschließt, was nach Rahner dem Wesen des Menschen gemäß nicht auf naturhafte, sondern nur auf geschichtlich-personale Weise geschehen kann, wofür das Christentum ein eindeutiges Zeugnis gebe. Damit ist bereits das Problem des Ortes der Offenbarungsbotschaft angezeigt, welches in einem dritten und abschließenden Argumentationsgang aufgegriffen wird. Als geschichtlicher Geist, zu dessen Wesensnatur es gehört, alles Natürliche zu übersteigen, ist der Mensch dazu bestimmt, den Ort möglicher Selbsterschließung des Absoluten vorzugsweise nicht in der Natur, sondern in der Geschichte zu suchen. Von sich selbst ausgehend muss der Mensch in seine eigene Geschichte und in die seiner und aller Welt hineinhören, um seiner Wesensbestimmung zu entsprechen, Hörer des Wortes zu sein. Als ein „auf eine Offenbarung Horchender“ (SW 4, 246) ist der Mensch „ein in seine Geschichte Hineinhorchender“ (ebd.). Ihr Gehör zu schenken steht nach Rahner nicht in seinem arbiträren Belieben, sondern ist ihm von seiner spezifischen Geistigkeit her aufgetragen, deren Bestimmung sich zu verweigern den Menschen in ungehorsamen Widerspruch nicht nur zu Gott, sondern auch zu sich selbst und zu seiner Welt bringt. Erzwungen werden freilich kann das Ergehen des Wortes, in dem sich Sinngrund und Sinnziel der Geschichte von Menschheit und Welt aussprechen, nicht. Wohl aber vermag der göttliche Sinnspruch, wenn er denn erfolgt, als die Wahrheit für Mensch und Welt schlechthin verstanden werden. Anthropologie kann und darf nach Rahner Theologie

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Grundlage der Gottesthematik. Indes verfolgt er, auch darin Pannenberg vergleichbar, keine Gleichschaltung von Fundamentaltheologie und Dogmatik bzw. fundamentaltheologischer und dogmatischer Anthropologie, wie etwa folgende Bemerkung beweist: „Alle Wissenschaften sind in einem wahren Sinn Anthropo-logie mit Ausnahme der einen Theo-logie, d. h. alle sind, unbeschadet ihrer Ausgerichtetheit an den Sachen, in ihrem Daß und Wie gegründet auf den Logos des Menschen, sind die ‚Dinge im Geiste des Menschen‘. Die Theologie allein existiert darum, weil es ein Wort Gottes an den Menschen gibt.“ (SW 4, 258) An die Theologie im eigentlichen, man darf wohl sagen, dogmatischen Sinn reichen wie die übrigen Wissenschaften auch Metaphysik und Religionsphilosophie nicht heran, welche Rahner im Sinne seiner fundamentaltheologischen Anthropologie expliziert. Sie führen zu ihr hin, ohne sie wirklich zu erreichen, weil die Wirklichkeit der (dogmatischen) Theologie auf einer Realität beruht, die unvordenklich ist und deren Offenbarwerden nur als undeduzierbares Faktum von prinzipieller Singularität zu erwarten ist. Rahners Verständnis von Theologie entspricht seinem Verständnis der göttlichen Offenbarung als einem singulare tantum. Theologie ist, wie es heißt, „in ihrem ursprünglichen Wesen das Hören der von Gott nach seinem freien Ratschluß ergehenden Offenbarung seiner selbst durch sein eigenes Wort“ (SW 4,16).20 nicht ersetzen; sie hat aber als deren fundamentaltheologische Basis zu fungieren. Vergleichbar stellt sich der Sachverhalt bei Wolfhart Pannenberg dar. 20 Genaueren Aufschluss darüber, wie sich Rahners in „Geist in Welt“ und „Hörer des Wortes“ entwickelte metaphysische Anthropologie zur offenbarungstheologischen Lehre vom Menschen verhält und umgekehrt, lässt sich u. a. seine Vorlesung über den „Tractatus de deo creante et elevante et de peccato originali“ (vgl. SW 8, 39–511) entnehmen. „Die Offenbarung“, so führt Rahner in der deutschsprachigen Einleitung zum Schöpfungs- und Sündentraktat aus, durch welche sich Gott dem Menschen als Geist in Welt mitteilt und ihn „als Hörer des Wortes anredet, enthüllt dem Menschen sowohl, wer Gott ist, als auch wie er sich zum Menschen konkret verhalten will, und darin die Wirklichkeit des Menschen und seiner Welt“ (SW 8, 41). Ohne die Gottesoffenbarung, wie sie in Tat und Wort geschichtlich ergeht, müsste dem Menschen mit dem Wesen Gottes auch sein eigenes verhüllt bleiben. Zwar weiß der Mensch auf unbestimmte Weise um das Geheimnis, das in seinem Selbst- und Weltverhältnis verborgen liegt. Aber zu lichter Gottes-, Selbst- und Weltgewissheit wird die dunkle Ahnung erst von Gott und dem Verhältnis her, das dieser in seiner Offenbarung zu Mensch und Welt konstituiert und endgültig manifest werden lässt. Nachdem er sich im Gottmenschen Jesus Christus in der Kraft seines Geistes selbst ganz und gar erschlossen hat, werden wir „in dieser Welt von Gott her nichts wesentlich Neues mehr über uns und die Welt erfahren. Wir können und müssen also Theologie über eine Offenbarung treiben, die abgeschlossen ist, freilich abgeschlossen, indem sie den Menschen und seine Geschichte in die Unendlichkeit des dreipersönlichen Lebens Gottes selbst aufgeschlossen hat. Eine solche theologische Anthropologie hat darum grundsätzlich eine Eschatologie als inneres Moment in sich.“ (Ebd.) Die eschatologische Ausrichtung offenbarungstheologischer Lehre vom Menschen hinwieder-

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Geschichte als umfassendster Horizont theologischer Anthropologie

Am 5. Januar 1959 hielt Pannenberg bei einer Zusammenkunft von Dozentenkollegen der Kirchlichen Hochschule Bethel und Wuppertal in Wuppertal einen – bereits erwähnten – Vortrag zum Thema „Heilsgeschehen und Geschichte“, der noch im selben Jahr im 5. Jahrgang der Zeitschrift „Kerygma und Dogma“ erschien und später in den 1. Band der gesammelten Aufsätze zu „Grundfragen systematischer Theologie“ aufgenommen wurde. „Geschichte“, so heißt es dort im ersten Satz, „ist der umfassendste Horizont christlicher Theologie. Alle theologischen Fragen und Antworten haben ihren Sinn nur innerhalb des Rahmens der Geschichte, die Gott mit der Menschheit und durch sie mit seiner ganzen Schöpfung hat, auf eine Zukunft hin, die vor der Welt noch verborgen, an Jesus Christus jedoch schon offenbar ist.“21 Dieser Grundsatz ist bestimmend geworden für die gesamte Pannenberg’sche Anthropologie, wie sich am letzten Text der Vortragsreihe „Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie“ von 1962 exemplarisch verdeutlichen lässt. Der Abschnitt trägt die Überschrift: „Der Mensch als Geschichte“.22 Der Mensch als Geschichte In dem Beitrag wird nicht nur der wechselseitige Bezug von Geschichtstheologie und Anthropologie expliziert, sondern zugleich Einblick gegeben in die Methode, gemäß der Pannenberg anthropologisch verfährt. Am Anfang steht die Feststellung, dass die anthropologischen Wissenschaften mit ihren Konzepten „nie den konkreten Menschen (erreichen). Weder die biologische noch die Kulturanthropologie, weder die Soziologie noch die Rechtsanthropologie und gewiß auch nicht die Existentialontologie. Ihre Bilder vom Menschen sind Abstraktionen.“ (95) Solche Abstraktionen lassen sich nicht vermeiden, weil ohne Verallgemeinerungen und ohne Absehung vom Einzelnen Erkenntnis generell und mithin auch in der Lehre vom Menschen nicht möglich ist. Aber so unerlässlich sie sind, so muss doch das Verfahrensziel nachgerade einer

um ist für das Rahnersche Verständnis metaphysischer Anthropologie kennzeichnend. Im Perfekt der Offenbarung Gottes in Jesus Christus begegnet der Mensch der Zukunft seiner selbst und seiner Welt, auf die er bestimmungsgemäß angelegt ist. Diese bestimmungsgemäße Anlage kündigt sich in seinem gegenwärtigen Selbst- und Weltverhältnis bereits an, aber in der Weise eines verborgenen Geheimnisses, welches erst durch Gottes Selbstoffenbarung wahrhaft entborgen und zu definitiver Gewissheit gebracht wird. 21 W. Pannenberg, Heilsgeschehen und Geschichte, 22. 22 Ders., Der Mensch als Geschichte, in: ders., Was ist der Mensch?, 95–103. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Anthropologie, die den Menschen als Menschen und damit in seinem unverwechselbaren Personsein zu erfassen sucht, darin bestehen, fortschreitend von unvermeidbaren Abstraktionen zu abstrahieren, um die nötige Konkretheit zu erlangen. Auch die anthropologische Wissenschaft muss „mit vereinzelten, abstrakten Feststellungen beginnen“ (ebd.). Doch hat der Fortgang ihrer Forschungen darin zu bestehen, „die verschiedenen abstrakten Gesichtspunkte miteinander zu verbinden und so die Abstraktionen wieder rückgängig zu machen, so daß ein in wachsendem Maße konkretes Bild entsteht“ (ebd.). Durch die Methodik einer fortschreitenden Abstraktion von Abstraktionen, die, um wachsende Konkretheit zu erlangen und einen umfassenden Themenhorizont zu erschließen, Gesichtspunkte, die sich auf Aspekte beschränken, zu transitorischen Momenten auf dem Weg zu einer Gesamtperspektive herabsetzt, damit der Mensch als Mensch erfasst werde, ist nicht nur das formale Verfahren, sondern im Verein mit ihm auch der inhaltliche Aufbau und Gehalt der Pannenberg’schen Anthropologie bestimmt: „Der erste, aber eben nur vorläufige Aspekt, unter dem der Mensch in den Blick kommt, ist der einzelne Mensch für sich, in seinem Verhältnis zur Natur und in seinen Unterschieden von der Tierwelt. Dabei muß abgesehen werden von einer näheren Untersuchung der Gemeinschaftsbeziehungen, in denen er lebt. Schon diese Betrachtung erfolgt in zwei Stufen: zunächst als Erforschung der natürlichen Ausstattung der Menschen, ihrer Leibesgestalt und Organe, sodann als Erforschung ihres aktiven Verhaltens. Diese ganze Betrachtungsweise wird aufgehoben auf einer neuen Stufe der Betrachtung, die nicht mehr vom Einzelwesen ausgeht, sondern von den Gemeinschaften, die die Individuen bilden. Die Soziologie setzt die Ergebnisse der Erforschung des Menschen als Einzelwesen voraus, aber die Abstraktion vom Zusammenhang mit anderen Menschen wird nun rückgängig gemacht. Man ist nun einen Schritt näher beim konkreten Menschen. Aber auch die Strukturen der sozialen Beziehungen, sei es zwischen den einzelnen, sei es zwischen einzelnen und Gruppe oder der Gruppen untereinander, bleiben noch abstrakt, solange sie nicht in ihrem Werden untersucht werden. In Wirklichkeit sind die menschlichen Verhältnisse ja in unablässigem Wandel begriffen und stellen sich darum auch von Fall zu Fall anders dar. Dabei wandeln sich auch die Strukturen selbst, die der abstrakten Betrachtung als relativ dauerhaft erscheinen. Auch die soziologische Betrachtungsweise muß also noch einmal aufgehoben werden und einer umfassenderen Wissenschaft Platz machen, die den konkreten Wandel im Leben der einzelnen und der Menschengruppen verfolgt. Das ist die Geschichtswissenschaft. Sie muß alle anderen anthropologischen Forschungen voraussetzen und bringt es zur größten Annährung an den konkreten menschlichen Lebensvollzug.“ (95f.)

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Abstraktion von Abstraktionen Obzwar auch sie „nie die Gesamtheit der unendlich vielen Umstände und Ereignisse berücksichtigen (kann), die ein bestimmtes Lebensschicksal ausmachen“ (96), und daher ihrerseits „in mancher Hinsicht noch abstrakt“ (ebd.) bleibt, ist die Geschichtswissenschaft nach Pannenbergs Urteil doch „die Krone aller anthropologischen Wissenschaften. Sie faßt alle andern zusammen und beschreibt die konkrete, immer wieder verschiedene, je individuelle Verwirklichung des Menschseins.“ (Ebd.) Um die methodischen Voraussetzungen seiner Betrachtungsweise „noch besser kenntlich zu machen“ (3), hebt Pannenberg in einer der dritten Auflage der „kleinen“ Anthropologie hinzugefügten Anmerkung ausdrücklich hervor, dass die zitierten Ausführungen die in der ganzen Vortragsreihe angewandte, ihren Aufbau und Inhalt bestimmende Betrachtungsweise benennen: „Die Fragen nach der (biologischen oder sozialen) Natur des Menschen werden mit der Frage nach seiner Geschichte so verbunden, dass erstere – und also auch die in früheren Kapiteln dieses Buches besprochenen anthropologischen Aspekte – den Charakter von Abstraktionen, wenn auch für den Erkenntnisgang unumgänglichen Abstraktionen erhalten, während die Konkretheit der menschlichen Wirklichkeit erst mit der Frage nach der Geschichte der Menschen in den Blick kommt.“ (113, Anm. 96) Skopus und konkretes Sinnziel der Pannenberg’schen Lehre vom Menschen besteht darin, diesen „als Geschichte“ begreifen, wie es in der Überschrift des letzten Beitrags der „kleinen“ Anthropologie von 1962 heißt. Nicht anders stellt es sich in der „großen“ „Anthropologie in theologischer Perspektive“ dar. Pannenberg bestätigt dies selbst, wenn er im Vorwort des 1983 erschienenen Werks ausdrücklich hervorhebt, dass die in dem Vortragsband „Was ist der Mensch?“ „vorgeführten Grundzüge einer theologischen Interpretation und Integration der in den Humanwissenschaften aufgedeckten Phänomene des Menschen“ (Anthr., 8) bei Weiterentwicklung ihres Theorierahmens am „Leitfaden der Identitätsthematik“ (ebd.) und bei erheblicher Ausweitung des Umkreises der behandelten Sachthemen nach wie vor erkennbar seien und in Geltung stünden. Erkenntnis, so wird erneut betont, entwickelt sich im Vollzug fortschreitender Abstraktion von jener Abstraktheit, bei der sie ihren Anfang nahm. Sie „kann immer nur mit dem Allgemeinen, Abstrakten beginnen und kommt erst zuletzt zum Konkreten als dem Gegenstand, dem das Bemühen um Erkenntnis in all den vorhergegangenen, abstrakten Fragestellungen immer schon galt“ (Anthr., 22). So verhält es sich nach Pannenberg auch im Falle anthropologischer Erkenntnis, wie sich an Gliederung, inhaltlichem Aufbau und methodischem Verfahren seiner beiden anthropologischen Monographien erkennen lässt.

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Der Mensch als Geschichte

Aufbau und Methode Analog zur „kleinen“ beginnt die „große“ Anthropologie mit Erwägungen zur Humanbiologie, deren Frage nach dem Menschen „zwar fundamental, aber nicht in jeder Hinsicht umfassend“ (Anthr., 21) ist, weil sie den Menschen unter Absehung von individuellen Besonderheiten nur unter dem Gesichtspunkt seiner Gattung thematisiert. Die soziologische Anthropologie markiert im Vergleich dazu einen Fortschritt, sofern sie das Menschenwesen gesellschaftlich und nicht mehr unter primär natürlichen Gesichtspunkten erörtert. Aber auch sie „untersucht nur die allgemeinen Formen der Sozialbeziehungen“ (Anthr., 22) und sieht von Individualität als der „konkreten Gestalt menschlicher Wirklichkeit“ (ebd.) ab. Dies gilt entsprechend auch von der Psychologie, welche „die allgemeine Struktur menschlichen Verhaltens“ (ebd.) thematisiert. „Die konkrete Wirklichkeit des Menschen wird am ehesten von der Geschichtswissenschaft erreicht; denn diese handelt vom konkreten Lebensvollzug der Individuen und ihrem Zusammenwirken im Prozeß ihrer Geschichte. Aber auch die Rekonstruktionen der Geschichtswissenschaft müssen von vielen Einzelheiten absehen, die zur konkreten Wirklichkeit der von ihr untersuchten Vorgänge gehören. Sogar die Biographie, mit der die historische Darstellung dem individuellen Lebensvollzug am nächsten kommt, muß sich auf die in dem dargestellten Lebensgang für wesentlich erachteten Vorgänge konzentrieren. So spielt auch in der Historie die Abstraktion noch eine grundlegende Rolle. Das ändert jedoch nichts daran, daß die Geschichtswissenschaft im Vergleich zu allen anderen anthropologischen Disziplinen der konkreten Wirklichkeit des menschlichen Lebens am nächsten steht.“ (Ebd.) Die Geschichtswissenschaft hebt, wie Pannenberg mit einem nicht von ungefähr an Hegel erinnernden Begriff sagt, die anderen anthropologischen Disziplinen „als Teilaspekte in sich auf “ (ebd.). Sie kann daher nicht Prinzip für sie sein, wohl aber ihr Sinnziel. „Die Geschichte des Menschen steht somit für die anthropologische Besinnung am Ende, gerade weil erst sie die konkrete Wirklichkeit des Menschen thematisiert.“ (Ebd.) Der Aufbau der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ entspricht dem: sie endet mit einem Kapitel „Mensch und Geschichte“ (vgl. Anthr., 472–517). An ihrem Anfang hinwiederum steht die Humanbiologie, „die in der größten Allgemeinheit vom Menschen handelt und dabei den Begriff des Menschen überhaupt erst abgrenzt, wenn auch um den Preis äußerster Abstraktheit“ (Anthr., 22). Sie hat ihre wesentliche Aufgabe darin, die Sonderstellung des Menschen im Kosmos und vor allem seine Besonderheit „gegenüber den ihm nächstverwandten Tieren und der Tierwelt überhaupt“ (ebd.) zu bestimmen.23 Eines ähnlichen Vorgehens 23 „Da für eine solche Bestimmung des Begriffs des Menschen weniger die Abstammungslehre als vielmehr die Verhaltensforschung in Betracht kommt, befindet sich die Untersuchung

Geschichte als umfassendster Horizont theologischer Anthropologie

befleißigt sich Hegels Lehre vom subjektiven Geist mit dem Unterschied, dass unter dem Gesichtspunkt der organologischen Prämissen der Lehre vom Menschen vor dem Humanverhältnis zum Tier dasjenige zur vegetabilischen und geologischen Natur relativ ausführlich behandelt wird.24

dabei schon in nächster Nachbarschaft zur Psychologie. Diese wiederum erweist sich als eng mit den anthropologischen Perspektiven der Soziologie verbunden, die ihrerseits aber biologische Anthropologie und Psychologie schon voraussetzt.“ (Anthr., 22) Den Abschluss der anthropologischen Untersuchungen bildet, wie gesagt, die historische Anthropologie, welche die „Geschichte als die Geschichte des Menschsein selber“ (Anthr., 23) zum Gegenstand hat. – Erklärtes Ziel der Monographie zur „Anthropologie in theologischer Perspektive“ ist es nach Maßgabe ihres Vorworts, dem öffentlichen Bewusstsein von der Wesensnatur des Menschen angesichts der Vernachlässigung der anthropologischen Bedeutung der Religion in der säkularen Kultur des Abendlandes „seine religiöse Dimension zurückzugeben. Daran muß auch die christliche Theologie Interesse nehmen. Denn ohne ein öffentliches Bewußtsein von der konstitutiven und unveräußerlichen Bedeutung der Religionsthematik für das Menschsein bleiben die spezifisch christlichen Aussagen über den Menschen auf ein kulturelles Abseits beschränkt und verdanken ihre Geltung nur der Zahl ihrer Anhänger, nicht aber dem Gewicht ihrer Wahrheitsansprüche.“ (Anthr., 7f.) 24 Den Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren beschreibt Pannenberg in seiner „kleinen“ Anthropologie wie folgt: „Die Pflanze ist ganz ihrer Umwelt hingegeben, an Ort und Stelle in sie verwachsen und mit allen Organen ihr geöffnet: mit den Wurzeln der Erde, mit den Blättern dem Licht. Die Tiere dagegen halten die Spannung zwischen Selbstbehauptung und Umweltbezug in sich selbst fest. Jeder tierische Organismus vereint in sich entgegengesetzte Vorgänge. So vollzieht sich in der tierischen Ernährung nicht nur der Aufbau des eigenen Körpers, sondern auch der Abbau der aufgenommenen Nahrung. Das Tier ist nicht wie die Pflanze seiner Umwelt ausgeliefert, sondern es hat seine Mitte, sein Zentrum, in sich selbst. Das zeigt der Besitz eines Zentralorgans, wie des Gehirns, das das ganze Verhalten des Tieres steuert. Dadurch setzt sich das Tier seiner Umwelt gegenüber. Es kann sich in ihr bewegen und sucht selbst seine Nahrung. Dabei sind die verschiedenen Tierarten doch so sehr ihrer jeweiligen Umwelt angepaßt, daß sie ihrer instinktiv sicher sind. Das ist beim Menschen anders. Hier ist die instinktive Sicherheit, mit der sich Tiere in ihrer Umwelt bewegen, weitgehend verschwunden.“ (W. Pannenberg, Was ist der Mensch?, 42; vgl. B. Schuler, Pflanze-TierMensch. Wesensart und Wesensunterschiede, München/Paderborn/Wien 1969)

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5.

Erde, Pflanze, Tier

Organologische Voraussetzungen der Hegel’schen Anthropologie

5.1

Geologische Natur

Menschliches Leben beginnt nicht unmittelbar, sondern ist durch biologische Gegebenheiten vermittelt, die es zur Voraussetzung hat. Nach Hegel handelt es sich dabei um ökologische, vegetabilische und animalische Faktoren; im dritten Teil seiner Naturphilosophie1 werden sie eigens thematisiert. Thema der Ökologie bzw. der Geologie ist das Erdenleben des blauen Planeten als der Wohnstatt aller bisher bekannten Lebensformen, die in solche pflanzlicher und solche tierischer Art eingeteilt werden. Durch das Tierleben als der impliziten Prämisse alles Menschenlebens ist der Übergang von der die Naturphilosophie beschließenden Organologie zur Anthropologie als dem ersten Teil der Lehre vom subjektiven Geist vermittelt. Auch die Organologie hebt nicht unmittelbar mit sich selbst an, sondern setzt physikalische, chemische etc. Sachverhalte voraus, ohne die sie keinen Bestand hätte. Organismen funktionieren auf Grund von chemischen Prozessen, deren molekulare Elemente ihrerseits elementare physikalische Realitäten zur Basis haben. Ihre Grundlagen wiederum bilden Raum, Zeit und Materie, deren abstrakte Allgemeinheit der erste Teil der Naturphilosophie erörtert. Philosophisch betrachtet ist die ganze Natur im Werden begriffen, was nicht heißt, dass ihre Genese einseitig temporal begriffen werden könnte, weil sie das Neben-, Nach- und Durcheinander von Raum, Zeit und Materie zur beständigen Voraussetzung hat. Raum, Zeit, Materie Alles natürlich Bedingte ist durch Raum, durch Zeit und durch dasjenige bedingt, was Hegel Materie nennt, ohne dass mit dem Materiebegriff bereits 1 Vgl. insgesamt M. J. Petry (Hg.), Hegel und die Naturwissenschaften, Stuttgart/Bad Cannstatt 1987; Angaben zur naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Literatur aus Hegels privater Bibliothek (W. Neuser, a.a.O., 479–499) sowie zur Sekundärliteratur zu Hegels Naturphilosophie von 1802–1985 (ders., a.a.O., 501–542) sind beigegeben. Über „Die Stellung der Natur im Gesamtentwurf der Hegel’schen Philosophie“ informiert D. Wandschneider, a.a.O., 33–58; zum Übergang von der Idee zur Natur und zum Verhältnis von Logik und Realphilosophie vgl. 42ff. bzw. 53ff. Ferner: ders./V. Hösle, Die Entäußerung der Idee zur Natur und ihre zeitliche Entfaltung als Geist bei Hegel, in: Hegel-Studien 18 (1983), 173–199. Zu gegenwärtigen Aktualisierungsmöglichkeiten der Hegel’schen Naturphilosophie vgl. D. Wandschneider, Hegels naturontologischer Entwurf – heute, in: Hegel-Studien 36 (2003), 147–169, wo deren Entwicklungsmomente knapp und treffend bis hin zur „Emergenz von Psychischem in der Natur“ (164ff.) rekonstruiert werden.

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Erde, Pflanze, Tier

irgendwelche dinghafte Assoziationen verbunden werden dürften.2 Materie ist im Hegel’schen Sinne nichts als die an sich selbst noch gänzlich indifferente Identität von Raum und Zeit als der beiden ersten und abstraktesten Bestimmungen der Natürlichkeit der Natur. Die geläufige Vorstellung, wonach die Leere von Raum und Zeit gleichsam von außen her mit Materie erfüllt sei, wird als gänzlich unpassend abgelehnt. Grundsätzlich sei alles Vorstellungshafte vom Materiebegriff fernzuhalten, der nichts anderes als die reale Einheit von Raum und Zeit bedeute, welche in ihrer Unbestimmtheit dazu bestimmt sei, bestimmt und so die Grundlage aller Realität zu werden. Raum nennt Hegel die abstrakte Allgemeinheit natürlichen Außersichseins. Im räumlichen Nebeneinander sind eines und anderes noch nicht an sich selbst und so erfasst, dass ihr Verhältnis zueinander einer bestimmten Bestimmung zugeführt wäre. Die räumliche Verfassung ist an sich selbst diejenige „vermittlungslose(r) Gleichgültigkeit“ (GW 13, 116), wie Hegel sagt. Um die Dimensionen des Raumes, nämlich Höhe bzw. Tiefe sowie Länge und Breite, und seine sonstigen geometrischen Figurationen aus ihrer anfänglichen Bestimmungslosigkeit heraus zu erheben, bedarf es weiterer Vermittlungen, die aus der Unmittelbarkeit des Räumlichen allein nicht zu gewinnen sind. Raum ist realiter nicht ohne Zeit denkbar, die Hegel als die „negative Einheit des Aussersichseyns“ (GW 13, 119) der Natur begreift. Als ihr ursprünglicher Begriff hat derjenige der Simultaneität räumlichen Nebeneinanders zu gelten. Zu denken ist dabei nicht an irgendeine Zeit, an kein bestimmtes „Itzt“ (ebd.), das eine Vergangenheit und Zukunft außer sich und zur Voraussetzung bzw. Folge seiner Gegenwart hätte. Die zeitlichen Dimensionen ergeben sich, wenn man so will, erst im Laufe der Zeit, welche nicht aus ihrem isolierten Begriff,

2 Vgl. V. Hösle, Raum, Zeit, Bewegung, in: M. J. Petry (Hg.), a.a.O., 247–282. Nach Hösle synthetisiert Hegels Raumbegriff die alternativen Konzepte von Newton und Leibniz, um aufgrund eines zu konstatierenden Negativitätsdefizits des Raumes zur Zeit als reiner Negativität und mittels der Annahme zeitlicher Veränderung zur Materie zu gelangen. Zu Hegels Verständnis der Anisotropie der Zeit, die in der modernen Physik von Seiten insbesondere der Thermodynamik herausgearbeitet worden ist, vgl. 275ff. Zum Problem, wie Hegel von Bewegung als gesetzter Differenzeinheit von Raum und Zeit zum Verständnis von Materie fortschreitet vgl. D. Wandschneider, Die Kategorien „Materie“ und „Licht“ in der Naturphilosophie Hegels, in: a.a.O., 293–311. Wandschneider sucht im Anschluss an Hegel das klassische Relativitätsprinzip der Bewegung mit dem bezugssystem-unabhängigen, also absoluten Charakter der Lichtbewegung zu vermitteln und so philosophische Bezüge zur sog. speziellen Relativitätstheorie Einsteins zu eröffnen. Anhand zweier Nachschriften der naturphilosophischen Vorlesung Hegels vom WS 1821 hat W. Bonsiepen „Hegels Raum-Zeit-Lehre“ ausführlich dargestellt in: Hegel-Studien 20 (1985), 9–78. Zum Thema „Räumliche Extension und das Problem der Dreidimensionalität in Hegels Theorie des Raumes“ vgl. D. Wandschneider, in: Hegel-Studien 10 (1975), 255–273.

Geologische Natur

sondern nur durch Fortgang des Begreifens, nämlich durch begriffliche Aufhebung der abstrakten Raum-Zeit-Differenz in die reale Raumzeiteinheit der Materie zu erfassen ist.3 Es ist nicht möglich, aber auch nicht nötig, den naturphilosophischen Aufhebungs- bzw. Erhebungsprozess von der abstrakten Raum-Zeit-MaterieSphäre bis hin zu konkreten Formen entwickelten Lebens in seinen Einzelmomenten nachzuzeichnen. Es genügt die Feststellung, dass die Natur nach Hegel ein System von Stufen darstellt, „deren eine aus der anderen nothwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultirt, aber nicht so, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde, sondern in der innern den Grund der Natur ausmachenden Idee“ (GW 13, 114). Trotz der grammatikalischen Schwierigkeiten, die der Satz bereitet, ist sein Verständnis 3 Die umfassendste und zugleich leerste Assoziation, die sich mit dem Begriff der Natur verbindet, ist diejenige des universalen Raums oder des Weltalls, in dem alles in der Welt Mögliche und Wirkliche inbegriffen ist. Die Bestimmungsform des Raumes ist diejenige eines nicht näher bestimmten Nebeneinanders. Ein virtuelles oder tatsächliches Eines ist von einem virtuell oder tatsächlichen Anderen durch bloßes Nebeneinander räumlich unterschieden, um allein durch diesen Unterschied bestimmt zu werden. Es ist Aufgabe protologischer Überlegungen, das bloß räumliche Nebeneinander als den Ursprungsgedanken der Natur zu begreifen und zu erörtern, wie die selbstverständlich in Anspruch genommene Differenz von einem und anderem und deren räumliches Nebeneinander zu verstehen und auf jenes rudimentäre Nacheinander zu beziehen ist, mit dem die Zeit der Natur anhebt. Der Ursprungsgedanke natürlicher Zeit ist auf mögliche und tatsächliche Veränderung im Weltraum, also darauf bezogen, dass eines, das von anderem räumlich unterschieden ist, anders wird, ohne aufzuhören, selbig zu sein. Veränderung als die rudimentärste Form von Zeit ist dadurch bestimmt, dass eines als eines sich ändert, sodass sich ein formales Nebeneinander ohne sonstige inhaltliche Bestimmtheit ergibt. Das Universum ruht nicht in Form zeitlosen Raumes in sich. Das All des Weltraumes zeitigt sich, indem es nicht bei der Gleichzeitigkeit bloß räumlichen Nebeneinanders verharrt, sondern Veränderung statthat, in welcher sich das Neben- mit einem Nacheinander verbindet. Die Temporalisierung des Raums hinwiederum ist nicht denkbar ohne die Annahme einer Selbigkeit, die sich im Vollzug von Veränderung identisch durchhält. Alles, was sich im All verändert, muss als in einem Verhältnis zu anderem und zu sich selbst stehend gedacht werden und zwar dergestalt, dass sein Anderswerden als mit seinem Selbstsein vereint zu denken ist. Der Begriff der Materie erfüllt in der traditionellen Physik genau diese Funktion, um im Verein mit Raum und Zeit das Koordinatensystem der klassischen Mechanik zu bilden. – Welche Funktion Hegel im besagten begrifflichen Werteprozess der Arithmetik als dem zeitwissenschaftlichen Partner der Raumwissenschaft Geometrie zudenkt, kann im gegebenen Zusammenhang ebenso unberücksichtigt bleiben wie die Tatsache, dass er die philosophischen Möglichkeiten der herkömmlichen Mathematik generell als eher beschränkt einschätzt, da diese wesentlich verstandeswissenschaftlich, nämlich so operiere, dass sie endliche Bestimmungen in ihrer Endlichkeit fixiere statt sie spekulativ aufzuheben, wie Hegel dies von der Begriffswissenschaft der Philosophie erwartet. Vgl. dazu die Beiträge von I. Toth (Mathematische Philosophie und Hegel’sche Dialektik), L. E. Fleischhacker (Quantität, Mathematik und Naturphilosophie) und P. Várdy (Zur Dialektik der Metamathematik) in dem von M. J. Petry herausgegebenen Sammelband (89–243).

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Erde, Pflanze, Tier

klar: Die Natur macht keine Sprünge, sondern entwickelt sich kontinuierlich. Kontinuität gehört, wenn man so will, zu ihrem Begriff, zum Wesen, zur Natur der Natur. Das heißt freilich nicht, dass das auf der jeweiligen Stufe natürlicher Entwicklung Erreichte reduzibel sei auf dasjenige, was vorherging. So wäre es nach Hegels Urteil, um ein Beispiel zu geben, abwegig und abstrus, die Materie zur eigentlichen Wirklichkeit und Wahrheit der Realität zu erklären, deren unabdingbare Voraussetzung sie bildet. Dass alles Natürliche materielle Prämissen hat, bedeutet keineswegs, dass es im Grunde nichts sei als Materie. Eine solche Behauptung müsste Hegel zufolge im Gegenteil als nicht nur sinnlos, sondern als sinnwidrig bewertet werden. Physik, Chemie, Biologie Um die Natur und ihre Entwicklung zu verstehen, kann es nicht bei der „leere(n) Abstraction einer formlosen Materie“ (GW 13, 133) bleiben. Von ihrer Abstraktheit muss vielmehr abstrahiert werden, um konkrete Naturgestalten und insbesondere diejenige Novität zu erfassen, die mit dem Leben ins Dasein tritt.4 Der über den unbestimmten Begriff bloßer Materie hinausführende, durch Abstraktionsabstraktion vermittelte Prozess natürlicher Konkretisierung nimmt beim Licht als dem „existirende(n) Selbst der Materie“ (ebd.) seinen Anfang, um im Durchgang durch das Schwerefeld der Massen zu zentrierten physikalischen Körpern zu gelangen, deren Gestalt, spezifische Dichte, Mechanik im gegebenen Zusammenhang ebenso wenig untersucht werden muss wie der chemische Prozess5 , der Physik und Biologie, leblose Körper und lebendige Organismen miteinander verbindet und dazu führt, dass die Natur nicht länger in bloßer Äußerlichkeit verbleibt, sondern in sich geht, um ihrer Äußerlichkeit 4 Vgl. in diesem Zusammenhang die bemerkenswerte Passage in der Nachschrift von Hegels naturphilosophischer Vorlesung vom WS 1821/22 durch B. von Uexküll: „Wenn man auch geschichtlich sagen will, es ist ein Zustand der Erde gewesen, wo noch kein Lebendiges vorhanden war, so ist doch das Lebendige wie es hervortritt, unmittelbar ein Bestimmtes; wie die Minerva fertig aus Jupiters Haupt gesprungen ist, so springt das Lebendige in das Dasein als ein Ganzes, Vollständiges, eben weil es Subjekt ist. Subjekt ist eben was sein Material durchdrungen und bestimmt hat. Die mosaische Schöpfungsgeschichte stellt dies ganz naiv vor, daß heute die Pflanzenwelt erschaffen worden ist, heute die Thierwelt und heute der Mensch; also kein allmähliges Hervorgehen. Es sind denn auch an einem solchen Individuum Evolutionen, aber so wie es gebohren wird, ist es vollständig die reelle Möglichkeit dessen was es sein soll.“ (GW 24/1, 425) Damit ist nicht die Kontinuität des Naturzusammenhangs und der Naturentwicklung in Abrede gestellt, wohl aber die irreduzible Eigenart des Lebendigen behauptet. 5 Zur Mittelstellung des Chemismus zwischen Mechanismus und Teleologie vgl. G. Sans, Weisen der Welterschließung. Zur Rolle des Chemismus in Hegels subjektiver Logik, in: Hegel-Studien 48 (2015), 37–63. Ferner: U. Ruschig, Chemische Einsichten wider Willen. Hegels Theorie der Chemie, in: Hegel-Studien 22 (1987), 173–179 sowie ders., Hegels Logik und die Chemie. Fortlaufender Kommentar zum „realen Maß“ (Hegel-Studien Beiheft 37), Bonn 1997.

Geologische Natur

inne zu werden und schließlich sich selbst zu transzendieren auf ihre geistige Bestimmung hin. Mit Hegel und dem 196. Paragraphen der Erstauflage seiner Enzyklopädie zu reden: „Die Natur ist an sich ein lebendiges Ganzes; die Bewegung ihrer Idee durch ihren Stuffengang ist näher dieß, sich als das zu setzen, was sie an sich ist; oder was dasselbe ist, aus ihrer Unmittelbarkeit und Aeusserlichkeit, welcher der Tod ist, in sich zu gehen, um als Lebendiges zu seyn, aber ferner auch diese Bestimmtheit der Idee, in welcher sie nur Leben ist, aufzuheben, und zum Geiste zu werden, der ihre Wahrheit ist.“ (GW 13, 115) Besagten Aufhebungsvorgang als teleologisch zu bezeichnen, hält Hegel zwar nicht für grundsätzlich ausgeschlossen, aber für bedenklich insofern, als der Teleologiebegriff primär auf Zweckmäßigkeit abgestellt sei, was weder dem Sinn des Prozesses der Natur, noch gar demjenigen des Geistes gerecht werde. Der Übergang von der Natur als dem Bereich des Zufalls und der Notwendigkeit in das Freiheitsreich des Geistes hat Hegel zufolge nicht auf übernatürliche, sondern auf natürliche Weise und so statt, dass er durch das Insichgehen der Natur vermittelt ist. Die Momente des Vermittlungsprozesses, welcher die Natur zu ihrem vollendeten Ende führt, bedenkt die Organik und zwar in geologischer, vegetabilischer und animalischer Hinsicht. Gegenstand der geologischen Organik ist die Erde als das umfassende Ökosystem irdischen Lebens. Zwar ist die vegetabilische Natur „die Erste wirkliche Lebendigkeit, welche die fruchtbare Erde hervorbringt“ (GW 13, 158). Doch rechnet Hegel bereits das „organisirte Ganze“ (GW 13, 157) des globalen Lebenskristalls, wie er den „todtliegende(n) Organismus der Erde“ (ebd.) nennt, der Organik zu, insofern dieses die Umwelt aller lebendigen Organismen darstellt, ohne welche diese nicht existieren könnten. Als ökologisches Großsystem stellen die Erde und ihre geologische Natur die Basis des vegetabilischen und animalischen sowie des menschlichen Lebens dar. Organik In der Erstauflage der Enzyklopädie hat Hegel seine Lehre von der geologischen Natur im Rahmen der organischen Physik als des dritten Teils der Philosophie der Natur in den §§ 262–266 skizziert, woraufhin in den §§ 267–273 die Lehre vom pflanzlichen und in den §§ 274–299 diejenige des tierischen Organismus folgt. Breit ausgeführt worden ist die Organik6 im Gesamtkontext 6 Zu „Hegels Philosophie des Organischen“ im Allgemeinen und zu seinem Verständnis von „Pflanze und Tier“ im Besonderen vgl. die gleichnamigen Beiträge von K.-H. Ilting und V. Hösle in: M. J. Petry (Hg.), a.a.O., 349–368 bzw. 377–416. Zu den für das animalische Leben kennzeichnenden Bestimmungen der Sensibilität, Irritabilität und Reproduktionsfähigkeit vgl. bes. 366ff. bzw. 404ff. Zur „Seinsweise des Seelischen im Unterschied zu physischem oder logischem Sein“ vgl. D. Wandschneider, Anfänge des Seelischen in der Natur in der Deutung der Hegel’schen Naturphilosophie und in systemtheoretischer Rekonstruktion, in:

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Erde, Pflanze, Tier

der Naturphilosophie in einer Reihe von Vorlesungen, die, wie erwähnt, in Band 24 der „Gesammelte(n) Werke“ auswahlsweise gesammelt sind. GW 24/1 bietet Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1819/20, 1821/22 und 1823/24, GW 24/2 der Jahre 1825/26 und 1828, wobei letztere Vorlesung bereits auf der Zweitauflage der Enzyklopädie basiert. Sekundäre Überlieferung ist in GW 24/3 dokumentiert. Besonders aufschlussreich bezüglich der Lehre von der geologischen Natur ist neben derjenigen Uexkülls die Nachschrift K. G. J. v. Griesheims vom WS 1823/24. Sie zieht ihr Thema in dreifacher Hinsicht in Betracht und bestimmt das ökologische System der Erde erstens als objektive Voraussetzung organischen Lebens, zweitens in Bezug auf den Prozess seiner Genese und drittens bezüglich der Fruchtbarkeit des geologischen Organismus. An sich repräsentiert dieser noch kein wirkliches organisches Leben bzw. dieses nur im Status der Unmittelbarkeit. Da aber organisches Leben vermittelt und nicht unmittelbar ist, stellt der geologische Organismus „nur ein Bild des Lebens, eine Voraussetzung des Lebens“ (GW 24/1, 419) dar, ohne bereits selbst lebendig zu sein. Immerhin bereiten die Erde und ihre geologische Natur, obwohl an sich selbst ohne Leben, den grundlegenden Boden, auf dem alles Lebendige gedeiht (vgl. 24/1, 694). Nicht zuletzt unter diesem Gesichtspunkt sei die Erde, deren Stellung im Sonnensystem samt den dazugehörigen solarischen, lunarischen und sonstigen astronomischen Aspekten Hegel ausführlich erörtert, „für den vortrefflichsten Himmelskörper“ (GW 24/1, 695) zu halten. Der blaue Planet stellt die notwendigen Rahmenbedingungen für alles Leben zur Verfügung, ohne bereits an sich selbst lebendig zu sein. Für ihn präsent ist das Leben, wenn überhaupt, nur im Modus der Vergangenheit, als ein Gewesenes. So weist die Erdkruste viele Spuren von Lebendigem auf, aber in erstarrter und toter Form. An fossilen Petrefakten, also an versteinerten Überresten von Pflanzen und Tieren der geologischen Vergangenheit wird dies exemplifiziert. „Man findet häufig, Ueberbleibsel, Gerippe, Zähne, Abdrücke ganz vergangener Thiergattungen, oder Reste noch vorhandener aber unter Breitengraden unter denen sie jetzt nicht mehr existiren können, ebenso ist es mit den vegetabilischen Gebilden, man hat z. B. ganze Palmwälder in Deutschland gefunden.“ (GW 24/1, 696) Wie auch immer: Als Grund und Boden für Leben enthält die geologische Natur selbst Leben in sich, aber in Form des „Leichnam(s) aus dem die Lebendigkeit verschwunden ist“ (ebd.; GW 24/1, 429: „Die Erde ist

a.a.O., 443–467. Sehr aufschlussreich zu Hegels Naturphilosophie ist ferner ein zweiter von M. J. Petry edierter Sammelband: Hegel and Newtonianism, Dordrecht/Boston/London 1993, der zahlreiche Artikel zu Themen der Metaphysik, der Mathematik, der Mechanik unter besonderer Berücksichtigung derjenigen der Himmelskörper sowie zur Optik und zur Chemie enthält.

Geologische Natur

überhaupt das Gebilde, dessen Prozeß als ein Vergangenes angesehen werden muß.“).7 Land und Meer Obwohl an und für sich kein bzw. lediglich verwestes Leben (GW 24/1,136: „Ein starrer Leichnam.“), bringt der geologische Organismus doch Leben hervor, um es aus sich zu entlassen. Hegel spricht in diesem Zusammenhang von der „Fruchtbarkeit der Erde überhaupt. Sie erscheint so, daß an der Erde Lebendigkeit ausschlägt, aber abstrakt, kümmerlich, Lebendigkeit die nur auf unbestimmte allgemeine Weise ist, so daß die eigentliche Lebendigkeit auf der Erde sich verschieden von ihr befindet.“ (GW 24/1, 699f.) Was man unter der uneigentlichen Lebendigkeit des geologischen Organismus zu verstehen hat, tritt zu Wasser deutlicher zutage als zu Lande: „Das Meer erhält die Allgemeine Lebendigkeit immanenter als das Land.“ (GW 24/1, 136) Das Meer „zeigt sich allenthalben gebärend, das Meerwasser ist ein anderes als Quell- oder Salzwasser, es ist eine konkrete Salzigkeit die immer auf dem Sprunge steht in Leben auszuschlagen“ (GW 24/1, 700). Es „hat einen eigenthümlichen fauligten Geruch, von einer Lebendigkeit die immer zurück in das Wasser gezogen wird und gleichsam zur Verwesung kommt. Im Juli, August und September blüht, nach dem Sprachgebrauch der Schiffer, das Meer, es wird unrein und enthält unendlich viel gleichsam vegetabilischer Fäden; diese Vegetation erhöht sich und wird phosphorescirend. Das Leuchten kommt theils von Fischen und Weichthieren her die sich fortpflanzen und so der lebendigen Subjektivität angehören, indessen beobachtet man auch oft jene Lichterscheinung d(ie) herkommt von leuchtenden Punkten, gallertartigen Gebilden welche momentan bestehen, so daß das Meer so in Thierpunkten ausschlägt die wieder zerfließen, eine Animalität die nur bis zum Gallert kommt, wo die Subjektivität nur bis zum Leuchten, bis zum äußerlichen Schein der Identität mit sich 7 In seiner Lehre von der geologischen Natur als dem ersten Teil der Organologie bzw. organischen Physik entwickelt Hegel, ohne den erst später in die wissenschaftliche Terminologie eingeführten Begriff zu verwenden, Grundzüge einer Ökologie als derjenigen Wissenschaft, welche nicht die Organismen selbst bzw. die von ihnen repräsentierten Gattungen und Arten, sondern deren Außen- und Umweltbedingungen und die komplexen Gefüge analysiert, in deren Zusammenhang sie existieren. Ziel ist es, ein, wenn man so will, holographisches Bild von der gesamten Biosphäre zu zeichnen, ohne bereits auf spezifische Weisen pflanzlichen und tierischen Lebens einzugehen, das in ihr wächst und gedeiht, stirbt und verwest. Als ökologische Faktoren kommen das Universum im Allgemeinen, das System unserer Sonne im Besonderen und im Einzelnen die Erde als der Planet in Betracht, auf dem sich irdisches Leben vollzieht. Die geologische Natur ist organisch verfasst, aber im Modus eines unmittelbaren, noch nicht mit sich selbst vermittelten Organismus. Ihr Leben bleibt äußerlich, Leben in seiner Unmittelbarkeit, Leben, das noch nicht für sich als Leben lebt und Individualität nur als Systemganzes besitzt.

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fortgeht.“ (Ebd.) Mit ähnlichen Phänomenen rechnet Hegel auch zu Lande, wie am Beispiel von Schimmel und Pilzen, Flechten und Moosen verdeutlicht wird. Sie stehen wie analoge Meeresgebilde am Übergang von der geologischen zur vegetabilischen Natur; es zeigt sich in entsprechenden Vegetationen „nur erst das ganz allgemeine Vegetabilische“ (GW 24/1, 430), noch nicht aber die konkrete Pflanzengestalt. 5.2

Vegetabilischer Organismus

Während die geologische Natur als „der Leichnahm der Lebendigkeit“ (GW 24/2, 1142) lediglich „das Knochengerüste des Lebens“ (GW 24/2, 1141) bereitstellt, wird die Natur in vegetabilischen Organismen reflexiv und geht tatsächlich in sich, um zu wirklichem Leben zu gelangen. Mag die Vegetation genannte Pflanzendecke der Erde in ihrer Allgemeinheit noch der geologischen Natur zugerechnet werden, so wird doch durch das Vegetabile in Gestalt besonderer Vegetabilien eine neue Stufe des Organischen erreicht, die zwar auf der vorhergehenden basiert, ohne doch auf sie reduzierbar zu sein oder als ihre bloß graduelle Steigerung verstanden werden zu können. Die vegetabilische ist durchweg mit der geologischen Natur verbunden, hat aber dieser gegenüber ihre unverwechselbare Eigenart. Vergleichbares wird an späterer Stelle über das Verhältnis von Mensch und Tier zum Pflanzlichen zu sagen sein: beider Nervensystem weist, um es bei diesem Beispiel zu belassen, sog. vegetative Komponenten auf, ohne doch deshalb von pflanzlicher Art zu sein. Es bestätigt sich die Einsicht, dass die Entwicklung der Natur durch beständige Kontinuität gekennzeichnet ist, aber unbeschadet dessen irreduzibel Neues hervorzubringen vermag, das sich nicht in der Wiederholung des Bisherigen und Vormaligen erschöpft. Der Naturprozess ist evolutionär und revolutionär zugleich. Gestaltung, Assimilation, Reproduktion In Bezug auf alles Organische sind nach Hegel drei Prozesse zu unterscheiden, deren differenziertes Zusammenwirken organisches Leben ausmacht. Im ersten bezieht sich organisches Leben auf sich und seine innere Organisation dergestalt, dass alle Organe des jeweiligen Organismus sich gegenseitig Mittel und Zweck sind; Hegel spricht vom Gestaltungsprozess. Der zweite, Assimilation genannte Prozess hat es mit der Beziehung des organischen Innenlebens mit der Um- und Außenwelt des Organismus zu tun: „erst bringt das organische Individuum sich zu sich selbst – zweitens verhält es sich zu einem andern.“ (GW 24/2, 1145) Im Reproduktionsprozess schließlich bezieht sich der Organismus weder unmittelbar auf sich, noch auf ein ihm äußeres Anderes, sondern auf

Vegetabilischer Organismus

das andere seiner selbst, auf seinesgleichen in Form eines Gattungswesens der eigenen Art. Hegel nennt den auf Nachkommenschaft zielenden organischen Reproduktionsprozess daher auch Gattungsprozess, sofern dieser nicht der unmittelbaren Selbstreproduktion des Einzelorganismus, sondern organischer Reproduktion im Dienste des Gattungslebens dient. Lassen sich besagte Prozessmomente formal für alles organische Leben in Anschlag bringen, so treten sie doch materialiter in pflanzlichen und tierischen Organismen durchaus different in Erscheinung und können generell von Art zu Art verschieden sein. Im Zuge typisierender Betrachtung ergibt sich z. B., dass bei vielen Pflanzarten der Prozess der Selbstreproduktion mit dem der Produktion von Nachkommenschaft tendenziell koinzidiert. Dies hängt damit zusammen, dass pflanzliches Leben nur bedingt individuiert ist. Die meisten Pflanzen sind recht eigentlich keine Individuen, sondern Dividuen, die sich teilen und durch Teilung generieren bzw. regenerieren lassen. Daraus erhellt, dass der Prozess vegetabilischer Fortpflanzung vom Gattungsprozess animalischer Paarung signifikant unterschieden ist. Die Fortpflanzung ist gemäß Vorlesungsnachschrift 1819/20 (J. R. Ringier) „noch unvermittelt durch das aus ein ander gehn des Gegensazes“ (GW 24/1, 144); erst im Animalischen gelangt der Gattungsprozess zu vollkommener Entfaltung (vgl. GW 13, 169f.). Aus dem vollentwickelten Prozess tierischer Paarung gehen individuelle Gattungsexemplare hervor, wohingegen die Pflanze sich in ihrem Wachstum selbst wiederholt und durch Selbstwiederholung fortpflanzt. Generell vollzieht sich vegetabilisches Leben nach Hegel im Modus der Wandlung eines und desselben. Mehrfach wird in diesem Zusammenhang Zustimmung zu Goethes „Versuch über die Metamorphose der Pflanzen“ von 1790 bekundet, wonach die Mannigfaltigkeit beispielsweise der Blattgestalten sich aus Variationen einer einheitlichen Grundform ergibt. Aus der Beobachtung, dass gewisse äußere Teile der Pflanze „sich manchmal verwandeln und in die Gestalt der nächstliegenden Teile bald ganz, bald mehr oder weniger übergehen“8 , hatte Goethe ein Grundgesetz der Natur gefolgert, wonach sich diese im Kreislauf fortbewege: Sie schließt von Mal zu Mal „den Ring der ewigen Kräfte; / Doch ein neuer sogleich fasset den vorigen an, / Daß die Kette sich fort durch alle Zeiten verlänge, / Und das Ganze belebt, so wie das Einzelne, sei“9 . Zumindest für das vegetabilische Leben lässt sich Hegel die elegische Maxime gefallen, auch wenn er ungleich stärker als Goethe die Notwendigkeit bestimmter Negation 8 J. W. Goethe, Die Metamorphose der Pflanzen, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 17: Naturwissenschaftliche Schriften. Zweiter Teil, Zürich 1979, 22–62, hier: 22. 9 Ders., Die Metamorphose der Pflanzen, in: ders., Sämtliche Werke. Bd. 1: Sämtliche Gedichte. Erster Teil: Die Gedichte der Ausgabe letzter Hand, Zürich 1979, 203–206, hier: 205. Vgl. ferner a.a.O., 516–518; zur Metamorphose der Tiere, vgl. a.a.O., 519–521.

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des Natürlichen im Zuge jener Entwicklung betont, die vom pflanzlichen über das tierische zum humanen Leben führt. Metamorphose Das Grundgesetz des pflanzlichen Lebens ist Metamorphose, der Gestaltwechsel bei gleichbleibender Struktur. Das Verhältnis von Selbigkeit und Andersheit steht im vegetabilischen Organismus noch ganz unter der Ägide der Selbigkeit, wenngeich anders als im geologischen, der tendenziell alle Differenzen gleichschaltet und zum bloßen Identitätsmodus herabsetzt. Im Unterschied dazu ist das pflanzliche Leben bereits in reichem Maße in sich differenziert. Vom unmittelbaren Sein hat sich das Leben in der vegetabilischen Sphäre zum Wesen fortentwickelt und auf die, wie Hegel ausdrücklich sagt, „Stufe der Reflexion“ (GW 24/1, 431) begeben. Vegetabilisches Leben ist in sich reflektiertes Leben, auf differenzierte Weise mit sich selbst vermittelt, „vollkommen partikularisirt“ (ebd.) und abgegrenzt gegen die Andersheit seiner Umwelt. Auch werden manche Pflanzen in bestimmter Weise der Differenz von Innen und Außen inne, wie ihre Reizbarkeit beweist. Nirgends indes ist der pflanzliche Bereich zu wirklicher Empfindung fortentwickelt. Die Pflanze hat „noch kein Gefühl …; zu diesem gehört die unendliche Subjektivität, welche zugleich für sich ist, unterschieden von der Leiblichkeit, von der Entwickelung. Dies ist in der Pflanze nicht vorhanden, das Eins fällt bei derselben in ihre Qualität und darum ist sie nicht für sich gegen ihre Bestimmtheit, und so hat sie kein Gefühl. Es giebt zwei Pflanzen, welche eine Reitzbarkeit besitzen, allein dies ist nicht als Sache thierischer Empfindung anzusehen, sondern gehört vielmehr dem Mechanischen an.“ (GW 24/1, 436f.) Die Pflanze steht Hegel zufolge „noch in der Mitte zwischen crystallischer und freier animalischer Gestalt“ (GW 24/1, 438) und „schwankt zwischen dem eigentlich Animalischen und dem Chemischen“ (GW 24/1, 439). Dies zeigt sich nicht nur in Bezug auf das Innenleben der Pflanze, sondern auch bezüglich ihres Verhältnisses zur Außenwelt. Hegel verdeutlicht dies in exemplarischer Absicht an ihrer „continuirlich strömenden Ernährung“ (GW 24/1, 437): „sie verhält sich nicht zum individualisirten Unorganischen, das wozu sie sich verhält, ist das allgemeine Element. Licht, Luft und Wasser, reines Wasser oder mehr specificirt, salzig, kohlensauer und dergleichen. Der Grund dieses Verhaltens zu dem allgemeinen Element liegt darin, daß die Pflanze nicht selbst individuell ist; ihre Subjektivität hält nicht an sich als unendliches Für sich sein und so ist auch das Andere ihrer selbst nicht ein wahrhaft Individuelles, sondern nur die allgemeinen Elemente und Ihr Verhalten zu diesen ist denn eben ein solches allgemeines Verhalten, eine“, wie gesagt, „continuirlich strömende Ernährung.“ (Ebd.)

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Ihr Verhältnis zur Außenwelt belegt, dass die Pflanze recht eigentlich noch nicht zu sich selbst gekommen, sondern erst auf der Suche nach sich selbst ist.10 Vorzugsweise das Licht habe als „das äußerliche Selbst der Pflanze“ (GW 24/1, 433) zu gelten, nach dem sie sich ausstreckt. „Das Licht ist ihr Gott wenn sie Bewußtsein hätte. Die Thiere sehn das Licht – sie erkennen es es ist für sie ein andres als sie – für die Pflanze ist es aber nicht ein andres als sie. Sie rankt dem Licht entgegen.“ (GW 24/1, 143f.) Nur bei Lichte vermag sie zu grünen und aus dem Kohlendioxyd der Luft und aus Wasser die für ihr grünendes Leben nötige Glukose zu bilden. Doch läuft dieser Nährprozess und die Speicherung von Strahlungsenergie der Sonne im Wesentlichen mechanisch bzw. im Sinne einer Automatik ab, die von Selbstbewegung klar zu unterscheiden ist. Die stabilitas loci der Pflanze gilt Hegel hierfür als Beleg; sie ist „an den Ort gebunden und der Ort ist ihr schlechthin bestimmt“ (GW 24/1, 437). Auch in Bezug auf die Zeit zeigt sich nach Hegel die Beschränktheit vegetabilischen Lebens, insofern sich dieses im Grunde in Wiederholungen erschöpft. Dividuen Der Gattungsprozess der Pflanze bleibt „nur etwas Formelles, weil die Pflanze nicht in die wahrhafte Unterscheidung ihrer selbst übergeht“ (GW 24/1, 445). Sie pflanzt sich fort und erzeugt nichts wirklich anderes, sondern nur Modi ihrer selbst. „Der Gattungsprozeß ist die Hervorbringung eines neuen Individuums durch die Vermittelung beider Geschlechter. Die ganze Selbsterhaltung der Pflanze ist nun nichts als eine Vervielfältigung ihrer selbst und in so fern ist der Gattungsprozeß wenigstens überflüssig.“ (Ebd.) Pflanzliche Selbsterhaltung und Fortpflanzung sind im Grunde ein und dasselbe. Wie „die verschiedenen Organe der Pflanzen nur leichte Umbildungen des Einen und selben sind“ (GW 24/1, 434f.), so stellt der pflanzliche Organismus insgesamt „eigentlich eine Sammlung vieler Individuen“ (GW 24/1, 441) dar, so dass seine Einheit dividierbaren Charakter hat. 5.3

Tierisches Leben und animalischer Gattungsprozess

Im Unterschied zum entwickelten animalischen Organismus bleibt der vegetabilische grundsätzlich teilbar. Er vermehrt sich entsprechend anders als der

10 Nicht schon der pflanzliche, erst der tierische Organismus entspricht „vollständig der Struktur des sich selbst durch sich selbst erzeugenden Selbst“ (O. Jelinski, Das Selbst in Hegels Naturphilosophie 1805/06, in: Hegel-Studien 46 [2012], 13–35, hier: 30).

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tierische.11 Ein pflanzlicher Trieb ist etwas anderes als ein tierischer und vegetabilische Reizbarkeit von animalischer Empfindung erkennbar verschieden, auch wenn die Möglichkeit von Vergleichen in beiden Fällen durchaus gegeben ist. Gehört das „Selbst“ des vegetabilischen Organismus noch einem Anderen und Unorganischen, in Sonderheit dem Licht an, in welchem die Pflanze ihr Leben hat, so ist der animalische seiner selbst im Unterschied zu allem anderen inne und zu Selbstgefühl befähigt. Besteht die Identität der Pflanze aus einer Menge von selbständigen Teilen, „die nur oberflächlicherweise als eins erscheinen“ (GW 24/1, 705), ist das Tier untrennbar mit sich eins: bei ihm „können die Glieder nur existiren in der Einheit mit dem Ganzen“ (GW 24/1, 706). Weil ihr die innere Einheit ihrer Glieder und mit ihr das zur organischen Ganzheit nötige Selbstgefühl fehlt, entbehrt die Pflanze der Möglichkeit willkürlicher Bewegung, wohingegen das entwickelte Tier über die Fähigkeit hierzu kraft seines Vermögens zu empfindendem Innesein seiner selbst im Unterschied zu allem andern verfügt: Es hat „Selbstbewegung, eigenthümlichen Mittelpunkt“ (GW 24/2, 924), und es hat das eine, weil es das andere hat. Die Vergleiche ließen sich beliebig fortsetzen. Sie führen Hegel zu dem Ergebnis, dass die Momente organischen Lebens, nämlich der Gestaltungsprozess, der Ernährungsprozess und der Gattungsprozess erst im tierischen Leben voll ausdifferenziert werden, wohingegen sie im pflanzlichen noch nicht eigentlich gesondert sind, sondern tendenziell zusammenfallen. Im Leben der Pflanze koinzidiert der Prozess der Gestaltung und des reproduzierenden Selbsterhalts mit dem Gattungsprozess, dessen Unterscheidung von dem Gestaltungs- und (Selbst-) Reproduktionsprozess „in der Wirklichkeit der vegetabilischen Natur ein Ueberfluß (ist), weil jene Processe unmittelbar auch ein Zerfallen in viele Individuen sind“ (GW 13, 160). Dagegen treten im Tier die Momente des organischen Lebensprozesses „eigenthümlich auseinander“ (GW 24/2, 919), und Selbstbeziehung, Beziehung zu anderem sowie die Verbindung beider Beziehungen im Gattungsprozess bilden nicht länger eine tendenziell indifferente, sondern eine differenzierte Einheit. Im Tier als einer manifesten Einheit von Einheit und Verschiedenheit ist der Begriff des Lebens realisiert und eine höhere Wahrheit zutage getreten als diejenige von 11 Vgl. GW 24/1, 446: “Es ist überhaupt eine berühmte Frage in der Botanik, in wie fern im Vegetabilischen ein Sexualverhältniß vorhanden sei. Diese Frage ist nämlich in neuern Zeiten wieder aufgeweckt worden. Einmal ist zu fragen: ob die Geschlechts Differenz nothwendig ist? Diese Frage ist beantwortet: Dies Verhältniß ist etwas Überflüssiges. Es giebt eine Menge Pflanzen, welche blühen, ohne Saamen zu tragen. Das Zweite ist, ob in den Pflanzen, wo solche Geschlechtsdifferenz vorhanden ist, die sogenannte Begattung durchaus nothwendig ist.“ Auch die vegetabilische Gattungsnotwendigkeit stellt Hegel in Abrede. Fazit: „Das reelle Lebendige ist die Verdoppelung seiner in sich selbst, die Pflanze ist nur eine Vervielfachung ihrer selbst, so daß das Vielfache außer derselben fällt.“ (GW 24/1, 433)

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Sonne, Mond und Sternen, von Erde und Pflanzenwelt: „es ist Idee, Einheit der Existenz und des Begriffs. Daß der Begriff selbst Existenz hat, das ist das Wahre, das Leben.“ (GW 24/1, 691) Individuen Zwar ist die Existenz des Begriffs im animalischen Leben naturhaft verfasst und nicht naturtranszendent wie im Leben des Geistes. Wie der pflanzliche ist auch der tierische Organismus, an dem der menschliche Körper auf seine Weise Anteil behält, „immer auf dem Sprunge zum chemischen Prozeß“ (ebd.) und damit in Gefahr, auf eine vergleichsweise niedrigere Naturstufe herabzusinken, wie dies in Krankheit und Tod offenkundig wird. Solange der animalische Organismus aber lebt, erträgt er „den Widerspruch mit sich“ (ebd.), um sich als Identität von Identität und Differenz zu realisieren gemäß der Maxime: „Es ist das Leben den Widerspruch an sich zu haben und zu tragen und sich darin zu erhalten.“ (Ebd.) Dies ist deshalb der Fall, weil das Leben nur lebt, wenn es „Beziehung auf sich“ (GW 24/1, 449), „Gekehrtsein gegen Anders“ (ebd.) und „die Reflexion in sich aus diesem Gekehrtsein nach außen“ (ebd.) ist. Im animalischen Organismus ist die differenzierte Einheit der Lebensmomente realisiert und der Zusammenhang von, um Hegels Begrifflichkeit zu verwenden, Sensibilität, Irritabilität und gattungsmäßiger Reproduktion begriffsgemäß verwirklicht. Von daher kann Hegel den Tierorganismus als Mikrokosmos qualifizieren, als „das für sich gewordene Centrum der Natur, in welchem die ganze übrige, unorganische Natur zusammengefaßt ist und die in so fern in ihm zu erkennen ist, als sie darin idealisirt ist“ (ebd.). Nach Maßgabe des 274. Paragraphen der Erstauflage der Enzyklopädie, der den Abschnitt über den animalischen Organismus einleitet, ist das Tier dazu bestimmt, „in sich reflectirte Einzelheit, in sich seyende subjective Allgemeinheit“ (GW 13, 160) zu sein. Zu seinem Begriff gehören u. a. Stimmbegabung12 , Selbstbewegungsvermögen, die Kraft zur Eigenerwärmung und zur zeitweisen Abschließung nach außen etwa in Form des Gesättigtseins sowie vornehmlich die Fähigkeit fühlenden Innewerdens der Differenz von Innen und Außen. „Die Empfindung ist die differentia specifica des Thiers.“ (GW 24/1, 716) Dieses ist ein Selbst nicht nur an sich, sondern auch für sich. Die Bedeutung der Empfindung als der Grundlage aller tierischen Kompetenzen hat Hegel im Kolleg auf poetisch anmutende Weise ausgeführt: „Im Thiere ist die Sonne innerlich 12 Vgl. GW 24/1, 449: „Ein besonders hohes Vorrecht der Thiere ist die Stimme, die unorganischen Körper haben Klang, aber noch keine Stimme; diese ist der geistig gewordene Mechanismus, welcher sich selbst äußert, nicht nur wie das Metall, welches nun zum Klingen erst angeschlagen werden muß. In der Stimme zeigt sich das Seelenhafte, welches sich äußerlich macht, sich kund giebt.“

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geworden, das Licht, die Idealität hat sich gefunden, das Thier ist in sich selbst reflektirt, ein Unterscheiden in sich und die für sich gewordene Einheit des Existirenden. Erst hier ist die Schwere überwunden, das Centrum ist für das Centrum, die Sonne erfüllt mit der Totalität der physischen Unterschiede ist darin bei sich. Im Sonnensystem haben wir die Sonne und ihre Glieder die selbstständig sind und sich nur nach Raum und Zeit verhalten, im Animalischen ist die Sonne, welche ihre Gestirne physisch sich erhalten läßt, so daß diese in die Sonne zurückgenommen und die Glieder in Einheit gefaßt sind. Begriff und Realität sind in Einem, das Thier ist die existirende Idee.“ (GW 24/1, 717) Dies ist deshalb der Fall, weil der animalische Organismus empfindet. Fühlende Wesen Im Tier als sich auf sich beziehender Einzelheit ist die Natur in sich gegangen und hat damit ihre Äußerlichkeit hinter sich gelassen bzw. transzendiert. In der animalischen Sensibilität „ist der Begriff der Natur zu seiner höchsten Stufe gekommen“ (GW 24/1, 158) und seiner selbst zwar nicht bewusst, aber doch fühlend inne geworden. Im Tier manifestiert sich die Natur als ein Ganzes, welches mehr und andres ist als die Summe seiner Teile. Die animalische Natur ist „ein System von Formen und Theilen, die aber nicht Theile sind wie bei den Pflanzen, Es ist ein System das ideell gesetzt ist, das wesentlich Prozeß ist, Gegliederung, Ausbreitung, das Nothwendigkeit ist sich zu gestalten, so daß die Gestalt unmittelbar vorübergehend in dem Produkt ist, und dieß immer wieder zur Einheit der Subjektivität zurückgeführt wird. Das animalische Leben legt sich dem Begriff nach aus in Raum und Zeit, in ein System von Gliedern, von denen jedes die ganze Seele hat, aber nicht selbständig sein kann sondern nur verbunden mit dem Ganzen.“ (GW 24/1, 693). Während der geologische und auch noch der pflanzliche Organismus in einer Vielzahl im Grund selbständig existierender Teile sein Leben hat und summa summarum empfindungslos bleibt, beginnt der tierische zu fühlen und zu empfinden, weil in ihm alle Teile zu einem im Wesentlichen unteilbaren Ganzen integriert sind. Als ein für sich seiendes integeres Ganzes hat das organische Leben des Tieres als Selbstzweck zu gelten: „es will nur sich, es selbst ist sich der Zweck und auch das Mittel, es bringt sich hervor und nichts als was schon da war.“ (GW 24/1, 719) Alle Organe des tierischen Organismus haben die Funktion, je auf ihre Weise dem Ganzen dienlich zu sein. Hegel erörtert dies primär am Zusammenhang der Sinnesorgane im System der Sensibilität als dem „Ursystem“ (GW 24/1, 450) ganzheitlichen organischen Lebens. Wie immer man sich den Aufbau dieses Systems, seine neuronale Verfassungsstruktur sowie das genaue Verhältnis zu denken hat, da zwischen taktilem Fühlen, durch welches „das Berührtsein durch ein Äußerliches unmittelbar nach innen gekehrt wird“ (ebd.),

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zu Riechen und Schmecken einerseits und zu Hören und Sehen andererseits zu denken hat, Tatsache ist: alle Sinne fungieren nur als integrierte Momente eines Ganzen losgelöst von dem sie, wenn man so sagen will, keinen Sinn ergeben, also nicht sein können, was zu sein sie bestimmt sind. Entsprechendes gilt für das System der sog. Irritabilität, mit dem Hegel speziell den Blutkreislauf und die Muskelfunktionen, und für das System der Reproduktion, mit dem er den Vorgang der Verdauung und schließlich den Gattungsprozess assoziiert. Auch in ihrem Verhältnis zueinander bilden die Systeme der Sensibilität, der Irritabilität und der Reproduktion eine systemische Einheit. Ausdrücklich wird vermerkt, „daß die besonderen Momente des Begriffs existiren als Realität und jedes Moment ist in der Existenz als System, als Totalität, nicht existirend nach abstrakter Einzelnheit, Besonderheit, sondern jedes ist dem Begriff gemäß, und dieß sind sie nur, in sofern die Totalität des Begriffs wieder in ihrer Bestimmtheit da ist. Sie sind so Systeme auf doppelte Weise, in der abstrakten Bestimmung als Sensibilität pp und zugleich auch so daß sie die Totalität, das Ganze sind; jedes Moment existirt so als Totalität aller Systeme d. h. die anderen Systeme sind in der Existenz an ihm vorhanden.“ (GW 24/1, 721) Systemische Einheit Der animalische Organismus ist an sich selbst und in jedem seiner Teile eine Totalität für sich. „Jeder Theil ist sensibel, irritabel und reproducirend“ (GW 24/1, 450), weil die Systeme der Sensibilität, der Irritabilität und der Reproduktion unbeschadet ihrer spezifischen und unersetzbaren Eigenart nie nur für sich selbst bestehen, sondern systemisch vernetzt sind und vermöge ihrer Vernetzung die differenzierte Einheit des Organismus im Ganzen bilden. Es würde zu weit führen, die einzelnen Elemente der drei animalischen Organsysteme, ihre Zuordnung zu Kopf, Brust und Unterleib als den nicht nur bei Insekten zu registrierenden Abteilungen des Tierkörpers, Symmetrie und Asymmetrie in der Organverteilung oder Details des Wechselverhältnisses zu untersuchen, in dem die einzelnen Organe und die organischen Systemzentren zueinander stehen. Näher ins Auge gefasst werden soll nur noch der prozessuale Vorgang organischen Lebens in der Einheit seiner Momente und zwar unter besonderer Berücksichtigung des Reproduktions- und Gattungsprozesses, auf den Hegels Erörterungen hinzielen. Das animalische Lebewesen ist in beständiger Selbstgestaltung seines sensibel auf sich bezogenen Organismus begriffen, wobei ein fortschreitender Austausch der Einzelteile zum Zwecke des Erhalts des Ganzen statthat: „Nach 10 oder 15 Jahren haben wir selbst keinen Theil unseres jetzigen Materials mehr an uns.“ (GW 24/1, 725) Sich selbst gestaltend ist der animalische Organismus zugleich

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nach außen gerichtet, um Äußeres mit Innerem zu vermitteln. Beide Prozesse lassen sich nicht voneinander trennen, insofern Sensibilität bereits im Stadium rudimentären Fühlens einen Außenbezug unveräußerlich in sich enthält. Auch ohne entwickeltes Bewusstsein und sogar ohne weitere Sinne wird das Gefühl, indem es fühlt, eines Widerständigen inne und einer „Materialität, … die für sich ist“ (GW 24/1, 727). Auf dieses objektiv Entgegenstehende sich zu beziehen, kommt der animalische Organismus nicht umhin. Zu seinem Innesein gehört ein Aussein auf etwas, auch wenn dies im Falle des Tieres noch nicht die Form bewussten Willens hat, sondern lediglich diejenige eines Triebes. Innesein und Aussein Der Trieb ist darauf aus, das Gefühl des Mangels zu beheben, das durch sensibles Innewerden der animalischen Organgrenze entsteht. Als ein Ganzes nicht das Ganze zu sein, bringt ein Bedürftigkeitsempfinden mit sich. Mag dieses Empfinden auch unangenehm sein, so ist es doch ein unschätzbarer Vorzug des Lebendigen allem Unlebendigen gegenüber: „(N)ur das Lebendige fühlt Mangel, denn nur es ist in der Natur der Begriff, der die Einheit seiner selbst und seines bestimmten Entgegengesetzten ist; dadurch ist es Subjekt. Wo eine Schranke ist, ist sie eine Negation nur für ein Drittes, eine äusserliche Reflexion; Mangel aber ist sie, in so fern in Einem ebenso das Darüberhinaussein vorhanden, der Widerspruch als solcher gesetzt ist. Ein solches, das den Widerspruch seiner selbst in sich zu haben und zu ertragen fähig ist, ist das Subjekt; dieß macht seine Unendlichkeit aus. Nur das Lebendige empfindet seine Schranke. Damit ist es aber auch darüber hinaus.“ (GW 24/1, 729)13 Als Mängelwesen ist das animalische Lebewesen zu Selbsttranszendenz getrieben. Noch führt diese im Falle des Tieres anders als beim Menschen nicht dasjenige herbei, was im Kontext der sog. Philosophischen Anthropologie Weltoffenheit genannt wird. Das Triebleben des Tieres ist umweltfixiert und in der Regel in einen Reiz-Reaktions-Mechanismus eingespannt. Die Konditionen tierischer Erregung sind ebenso festgelegt wie die Modi der Triebbefriedigung. Das Tier stillt seinen Hunger und Durst auf eine der Unwillkürlichkeit etwa des Atmens oder des Herzschlags vergleichbaren Weise. Es liegt in der Natur des Tieres, dem Natürlichen verhaftet zu bleiben, wenngleich nicht in der fest umrissenen Weise der Pflanzen. Generell gilt die Regel: „Je niedriger der Organismus ist, je mehr ist er im Naturleben befangen, je höher, je freier ist er davon.“ (GW 24/1, 731) 13 Hegel fährt fort: „Schmerz, Unglück sind deshalb keine Nachtheile, der bedürfnißlose Mensch ist der Schwache, der große Mensch hat große Bedürfnisse, und seine großen Handlungen gehen aus de(m) großen Schmerz seines Gemüths hervor, er hat die Macht seinen Schmerz aufzuheben.“ (GW 24/1, 729) Hinzuzufügen ist, dass es nicht erst zum Menschsein des Menschen, sondern schon zum Tiersein manches Tieres gehört, ein Mängelwesen zu sein.

Tierisches Leben und animalischer Gattungsprozess

Der animalische Organismus wird der Grenze inne, die zwischen ihm und demjenigen gesetzt ist, was er nicht ist. Er verhält sich zu dieser Differenz auf unterschiedliche Weise, entweder dadurch, dass er sich anderes aneignet, es beispielsweise auffrisst und nach erfolgter Verdauung in negierter Form wieder ausscheidet, oder durch Anpassung und Assimilation an die jeweiligen Umstände. In jedem Fall handelt es sich um eine Mängelkompensation, die triebhaft und instinktmäßig gesteuert ist. Indes belässt es Hegels Analyse des Verhaltens, zu welchem der tierische Organismus in Bezug auf seine Grenzen instinktiv getrieben wird, nicht bei der Feststellung einer unvermittelten Alternative von hemmungsloser Aneignung und ebenso ungehemmter Anpassung. Er konstatiert vielmehr Weisen einer Gegensätze vermittelnden Aufhebung im tierischen Verhalten. „Hierher gehört, daß die Thiere sich Nester bauen, Lager zubereiten, Vorrath sammlen.“ (GW 24/1, 738) Zwar handelt es sich hierbei um Vorgänge instinktiver Bedürfnisbefriedigung und Mängelkompensation, die aber mit einer momentanen Triebhemmung verbunden sind und auf ein Verhalten jenseits des Gegensatzes von direkter Aneignung und direkter Assimilation verweisen. Momentane Triebhemmung Beim Nesterbau, bei der Lagerzubereitung oder bei der Vorratssammlung schaltet das Tier das andere seiner selbst weder unmittelbar sich selbst noch sich unmittelbar dem andern seiner selbst gleich, sondern lässt die Differenz zwischen sich und dem Anderen bestehen. „Es bildet sich in seine Objekte hinein, so daß es die Gegenstände existiren läßt.“ (Ebd.) Als Bedingung der Möglichkeit hierfür gibt Hegel die tierische Befähigung zu momentaner Triebhemmung an, die zwar das animalische Instinktverhalten nicht von Grund auf verwandelt, aber rudimentäre Formen von Besinnung erschließt. Die Fähigkeit zu momentaner Triebhemmung hinwiederum (wie sie sich beispielsweise in der tierischen Zubereitung von Waffen zu erkennen gibt, die nicht unmittelbar im animalischen Organismus selbst vorhanden sind) führt Hegel im Entscheidenden auf Empfindsamkeit zurück: „Die Pflanze hemmt ihren Trieb nicht, das Thier hemmt ihn, weil es empfindend ist, theoretisches Verhalten hat.“ (Ebd.) Während das Treiben pflanzlicher Triebe hemmungslos ist und nur von Außen her gehemmt werden kann, verweist der tierische Trieb tendenziell auf eine innere Grenze, die durch das Objekt der Begierde für sein Empfinden gesetzt ist. Dies tritt nirgends deutlicher als an jenem Vorgang zutage, in dessen Vollzug das tierische Treiben am triebhaftesten auszufallen scheint: am Gattungsprozess. In ihm verhält sich das Tier nicht zu einem fremden anderen, sondern zum anderen seiner selbst. Vermöge der in allen höher entwickelten Lebewesen ausgebildeten Geschlechtsdifferenz ist jedes einzelne Tier auf ein

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anderes – geschlechtsdifferentes – Exemplar seiner Gattung bezogen. „Diese Beziehung ist Trieb“, wie es in § 290 der Erstauflage der Enzyklopädie heißt (GW 13, 169), Gattungs- bzw. Zeugungstrieb: „das Einzelne als solches ist seiner Gattung nicht angemessen“ (ebd.) und fühlt diese Unangemessenheit als einen Mangel, den es durch Begattung und Fortzeugung auszugleichen sucht. Letztlich ist das triebhafte Ausgleichsstreben im Gattungsprozess auf die Kompensation der Sterblichkeit des Einzelexemplars ausgerichtet. Gattungstrieb und Tod bilden so einen Zusammenhang. Hegel illustriert dies am Beispiel von Insekten, die sterben, während sie sich begatten, und unmittelbar im Fortpflanzungsakt ihre Einzelheit zugunsten gattungsmäßiger Allgemeinheit aufgeben (vgl. GW 24/1, 740). Generell gilt: „Das Thier stirbt, den Keim des Todes bringt es schon mit, das Thier ist Gattung an sich, existirt aber nur als Einzelnes, diese Unangemessenheit der Existenz und des Ansichseins bringt ihm den Untergang. Im Leben erhält es sich gegen die unorganische Natur und gegen die Gattung, aber das Allgemeine, die Gattung trägt die Oberhand davon. Das Lebendige als Einzelnes stirbt an der Gewohnheit des Lebens, es als Einzelnes lebt sich in seinen Körper hinein, in seine Realität, macht sich auf seiner Seite zum Allgemeinen, seine Thätigkeiten werden allgemeine. Aber gerade in dieser Allgemeinheit stirbt das Lebendige, das nur als Partikulares ist und das des Gegensatzes bedarf.“ (GW 24/1, 751f.) Begattung und Tod Mit dem tierischen Leben14 ist „der höchste Punkt“ (GW 24/1, 752) der Natur und in der animalischen Lust die Höchstform von Vitalität erreicht, die das natürliche Leben zu bieten hat. Nichtsdestoweniger reflektiert sich, ohne dass dies vom Tier begriffen würde, gerade in der orgiastischen Befriedigung des Gattungstriebs ein Gegensatz zum Leben, der im Absterben des tierischen Einzelwesens manifest wird und in Erkrankungen seines Organismus zum Vorschein kommt. Im Zustand der Krankheit befindet sich dieser, wie es in § 294 der Erstauflage der Enzyklopädie heißt, im Status der Desintegration, „insofern eines seiner Systeme oder Organe im Conflict mit einer unorganischen Potenz erregt, sich für sich festsetzt und in seiner besondern Thätigkeit gegen die Thätigkeit des Ganzen beharrt, dessen Flüssigkeit und durch alle Momente hindurch gehender Proceß hiermit gehemmt ist“ (GW 13,172). Im Falle der Krankheit zum Tode führt der fortschreitende Desintegrationsprozess das Absterben des einzelnen Organismus herbei. Das Tier stirbt, ohne allerdings einen Begriff von seinem Tode zu haben. Zwar geht das Leid, welches das animalische 14 Zur systematischen Einteilung der Tierwelt, wie Hegel sie im Anschluss an Aristoteles vornimmt, und zu ihren unterschiedlichen Gebilden und Erscheinungsgestalten vgl. GW 13, 170ff. sowie bspw. GW 24/1, 743ff.

Tierisches Leben und animalischer Gattungsprozess

Leben von außen betrifft, in sein Inneres ein, sofern es Schmerz ebenso fühlt wie Lust. Aber beide Empfindungen bleiben unmittelbar und ebenso unbegriffen wie die Ambivalenz des Verhältnisses, in dem sie zueinander stehen. Im Gattungsprozess vollendet sich Hegel zufolge das animalische Leben und mit ihm das zu manifester Einheit von Einheit und Verschiedenheit gediehene Leben der Natur. „Das Individuum hat ein Anderes gegenüber, was dasselbe ist als es, aber ihm selbstständig gegenüber.“ (GW 24/1, 739) Doch bleibt die Identität von Identität und Differenz, wie sie im Gattungsleben der Tiere statthat, unbegriffen und unmittelbar triebhaft-instinktmäßig verfasst. Dies ist deshalb der Fall, weil dem Tier ein entwickeltes Bewusstsein seiner Endlichkeit und mit diesem sowohl ein Bewusstsein seines Lebens als auch seines Todes abgeht. Zum Endlichkeitsbewusstsein gelangt erst der subjektive Geist des Menschen, dessen Geistwerdung Hegel mit dem Innewerden natürlichen Endens verbindet. Um den Schluss des Kollegs vom WS 1825/26 zu zitieren: „Tod des Thiers ist also dem Begriff nach das Hervorgehen des Geistes. Dies ist der Uebergang zum Geist, daß die Idee, gebunden in der Natur, ihre Schranke ewig aufhebt und zu sich kommt, Geist ist, der ewig Resultat, Wahrheit der Natur, der sich so als das absolut Erste zeigt, das weil er lebendiger Geist ist, sich die Natur zu seiner Voraussetzung macht.“ (GW 24/2, 932) Die Geburt des Geistes Im Gattungsprozess koinzidieren höchste Erfüllung und Ende, ohne dass die Differenzeinheit von Leben und Tod von der im animalischen Wesen vollendeten Natur begriffen werden könnte; Tod und Leben fallen unmittelbar in eins: „Bei niedrigen Thierarten ist Sterben unmittelbar nach der Begattung. Animalische Existenz hat dann keinen Sinn mehr, hat ihr höchstes Ziel erreicht.“ (GW 24/2, 931) Zu begreifen vermag das vollendete Ende der Natur nur der Geist, der aus ihrem Tod entsteht und ihn in sich aufhebt. Der Geist hat, wie es im letzten Satz des letzten naturphilosophischen Paragraphen der Erstauflage der Enzyklopädie heißt, „den Begriff zu seinem Daseyn“ (GW 13, 175) und daher auch bei zugrunde gehender Natur Bestand. Der Fall ist dies nach Hegel deshalb, weil sich der Geist als wahrer Grund des natürlichen Lebens erweist: „der Geist ist in Wahrheit das Leben und das Leben ist die Wahrheit der Natur“ (GW 24/2, 1163). Im Leben des Geistes ist die Natur aufgehoben, nämlich bestimmt negiert, bewahrt und ihrer wahren Bestimmung zugeführt, wofür der Gattungsprozess ein signifikantes Beispiel geben kann: er „wird im Geiste ein Sittliches und heißt Liebe“ (GW 24/2, 1158). Das sittliche Leben der Liebe „behält dis Moment des animalischen Charakters, aber bleibt nur Moment, wird geistig“ (ebd.); eben dadurch erweist sich die Liebe stärker als der natürliche Tod.

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Alles natürliche Leben geht dem Tod entgegen. Der animalische Organismus kann „zwar von einzelnen Krankheiten genesen“ (GW 24/1, 469), nicht aber zu Unsterblichkeit gedeihen. Denn er ist Hegel zufolge „von einer ursprünglichen Krankheit afficirt‘“ (ebd.), der besagten Krankheit zum Tode. „Das Lebendige bringt sich überhaupt selbst um, der Tag seiner Geburt ist auch der Tag seines Todes. Die reelle Möglichkeit des Sterbens liegt überhaupt in der Unangemessenheit der Existenz der Idee in der Natur. Das Allgemeine kommt in der Natur nicht dazu für sich zu sein, die Vereinzelung der Natur ist nicht angemessen der Allgemeinheit der Idee. Dies ist der Widerspruch, der in jedem Lebendigen ist. Das Lebendige ist an sich Allgemeines und so existirt es nicht.“ (Ebd.) Lebendiges lebt besonders und damit in Widerspruch zur allgemeinen Lebensidee, deren Allgemeinheit sich im animalischen Triebleben und im Gattungsprozess Geltung verschafft, wenngleich nur momentan und nicht auf dauerhafte Weise. „In der Begattung kommt die Gattung nur zu einer Existenz, die immer wieder in die Form der Einzelnheit herabfällt.“ (GW 24/1, 470) Das Gattungstreiben wiederholt stetig den Kreislauf des vom Tode umfangenen Lebens, ohne von der stetigen Wiederkehr des Gleichen freizukommen und echten Fortschritt zu erzielen. An und für sich hat das Gattungsallgemeine ebenso wenig Bestand wie das besondere Exemplar, in dem es sich durchgangsweise realisiert. Beide, Allgemeinheit und Besonderheit, gehen im Leben der Natur wechselseitig ineinander über, ohne zu konkreter Einheit zu gelangen. Dies wird erst im Leben des Geistes erreicht, in welchem das Leben der Natur aufgehoben ist. Aufhebung der Natur Das Leben des Geistes geht aus dem Tod der Natur hervor. Natürliche Schrecknis bewirkt geistiges Erwachen. Die Seele emanzipiert sich von ihrem Leib, um nicht im bloß somatischen Empfinden zu verharren, sondern zu Bewusstsein und Selbstbewusstsein sowie zu einem geistigen Leben zu gelangen, welches das natürliche in sich zu bergen, seinen Tod zu ertragen und zu überwinden vermag. „Das Resultat der Naturphilosophie ist: daß in dem man die Natur der Natur kennt so ist das Versöhnung des Geistes mit der Natur.“ (GW 24/1, 181) Der Geist, der um sich und das natürliche Wesen weiß, fixiert sich nicht länger auf den Gegensatz zur Natur, sondern begreift sie in ihrer Negativität in sich, um sie auf diese Weise zu transzendieren. Der Geist vermag die Natur als die Idee in ihrer Äußerlichkeit wahrzunehmen und sich auf vermittelte Weise in ihr zu explizieren. So tritt zutage, „daß die verschiedenen Formen in denen der Begriff äusserlich ist, an sich nur Ausdrücke des Begriffs sind, aber in den Elementen der Äusserlichkeit“ (GW 24/1, 752).15 15 Zur gegenwärtigen Einschätzung von Hegels naturphilosophischem Ansatz, zum Verhältnis von Logik und Naturphilosophie sowie zur Hegel’schen Rezeption einzelwissenschaftlicher

Anthropologische Anfangsgründe der Philosophie des subjektiven Geistes

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Anthropologische Anfangsgründe der Philosophie des subjektiven Geistes

Die biologisch-naturwissenschaftlich geprägte Lehre vom Menschen, die seit den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts akademisch und mehr noch im öffentlichen Bewusstsein bestimmend wurde, hat Hegels Lehre vom subjektiven Geist kaum noch und seine Naturphilosophie überhaupt nicht mehr zur Kenntnis genommen. Auch für die Konstituierung der namentlich von Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen repräsentierten sog. Philosophischen Anthropologie kommt Hegels naturphilosophisch fundierter Lehre vom Menschen insgesamt „keine entscheidende Bedeutung zu“16 . Sachliche Relevanz für die von dieser behandelte Thematik wird man ihr dennoch nicht bestreiten können. Dies trifft insbesondere für den ersten Teil der Theorie des subjektiven Geistes zu, der von dessen Unmittelbarkeit als sog. Naturgeist bzw. vom unbewussten Menschenleben handelt und den Hegel in den Enzyklopädiefassungen von 1827 und 1830 eigens mit dem Titel „Anthropologie“ versehen hat. Nach Auffassung von Odo Marquard geschah dies „wohl mit demonstrativem Bezug auf die zeitgenössische A(nthropologie)-Konjunktur“17 ; mit der Ergebnisse der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts vgl. die Beiträge in dem von R.-P. Horstmann und M. J. Petry herausgegebenen Sammelband: Hegels Philosophie der Natur. Beziehungen zwischen empirischer und spekulativer Naturerkenntnis, Stuttgart 1986. Zum Begriff des Lebens als einer Vorgestalt von Subjektivität vgl. den Beitrag von K. Düsing, Die Idee des Lebens in Hegels Logik, in: a.a.O., 276–289, hier: 289. „Leben ist für Hegel nur essentielle Bestimmung des naturhaft Seienden. Die Erfüllung der Subjektivitätsstruktur, der gemäß Leben von Hegel gedacht wird, findet sich erst im Geist und in dessen selbstbewußtem Wissen von sich. Die Natur, auch die lebendige Natur, wird zwar als das Andere des Geistes konzipiert, auf das er sich als sein gegenständliches Anderssein notwendig bezieht; aber zugleich geht er aus diesem Anderen als einer einfacheren Vorgestalt seiner selbst idealiter notwendig hervor. Beides wird von Hegel fundiert in der entfalteten Struktur des Denkens und Erkennens seiner selbst. So ist die Metaphysik der Natur und des Lebens ein integrierter, wesentlicher Bestandteil der idealistischen Metaphysik der Subjektivität.“ Ferner: M. Spieker, Wahres Leben denken. Über Sein, Leben und Wahrheit in Hegels Wissenschaft der Logik, Hamburg 2009. 16 H.-U. Lessing, Hegel und Helmuth Plessner. Die verpaßte Rezeption, in: Th. Wyrwich, Hegel in der neueren Philosophie, Hamburg 2011 (Hegel-Studien Beiheft 55), 163–179, hier: 163. Zum Unterschied des Projekts einer „Philosophischen Anthropologie“, wie H. Plessner es vertrat, zu „anthropologischen Philosophien“ vgl. H.-P. Krüger, Historismus und Anthropologie in Plessners Philosophischer Anthropologie. Ein Rückblick auf Hegels „Phänomenologie des Geistes“, in: B. Sandkaulen u. a. (Hg.), Gestalten des Bewußtseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009 (Hegel-Studien 52), 156–176, hier: 159ff. 17 O. Marquard, Art. Anthropologie, in: HWPh 1, Sp. 362–374, hier: 368. Kritisch hierzu B. Sandkaulen, Die Seele ist der existierende Begriff. Herausforderungen philosophischer Anthropologie, in: Hegel-Studien 43 (2008), 35–50, wo die konstruktive Bedeutung der Hegel’schen

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Beschränkung des Anthropologiebegriffs auf den noch in die Natur versunkenen Menschengeist vollziehe Hegel „in Form der Aneignung eine Kritik, die zu seinen Auseinandersetzungen mit der Romantik gehört“18 . Die romantische Anthropologie sei nach seinem Urteil beschränkt, weil sie den Menschen vorzugsweise in seiner natürlichen Unmittelbarkeit aufsuche und damit seine geschichtliche Bestimmung zur Naturtranszendenz verkenne. Wie immer es sich mit dieser Einschätzung verhalten mag: Tatsache ist, dass Hegel nicht seine gesamte Philosophie des subjektiven Geistes als Anthropologie bezeichnet hat, sondern nur deren ersten Teil.19 Psychosomatik Der „Anthropologie“ überschriebene erste Teil von Hegels Subjektivitätsphilosophie könnte ohne weiteres auch „Psychosomatik“ betitelt werden. Wie vom Kompositum bezeichnet, das ihren Begriff ausmacht, beschäftigt sich diese vorzugsweise mit dem Zusammenhang von Seele (psyche) und Leib (soma), wobei die Wahl griechischer Lehnwörter auf eine wissenschaftliche Weise der Beschäftigung hindeutet.20 In Gebrauch genommen wurde die Wendung in Anthropologie als Scharnier zwischen Natur- und Geistphilosophie hervorgehoben wird. Vgl. ferner (den ebenfalls Kritik an Marquard übenden) Beitrag von Chr. J. Bauer, Eine „Degradierung der Anthropologie“? Zur Begründung der Herabsetzung der Anthropologie zu einem Moment des subjektiven Geistes bei Hegel, in: Hegel-Studien 43 (2008), 13–35. 18 O. Marquard, ebd. 19 Den zweiten Teil nennt er in der Zweit- und Drittauflage „Phänomenologie des Geistes“, also wie sein erstes, 1807 erschienenes Hauptwerk, das ursprünglich „Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins“ heißen sollte. Im Unterschied zu diesem umfasst die enzyklopädische Phänomenologie nicht mehr die gesamte Geistesentwicklung vom unmittelbaren zum absoluten Wissen, sondern „nur noch die Stufen ‚Bewußtsein‘, ‚Selbstbewußtsein‘ und ‚Vernunft‘“ (U. Claesges, Art. Phänomenologie I, 1–6, in: HWPh 7, 486–489, hier: 489). Was schließlich den „Psychologie“ genannten dritten Teil der Philosophie des subjektiven Geistes betrifft, so ist dessen Thema nicht, wie man vom Psychologiebegriff her vermuten möchte, die Seele bzw. das, was Hegel unter ihr versteht, sondern der Geist, der im Durchgang durch das natürliche Leben der leibhaften Menschenseele über Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Vernunft zum Verständnis seiner selbst und zur Realisierung seines Begriffs gelangt ist. Man könnte den letzten Teil der Lehre vom subjektiven Geist also genau so gut oder besser noch „Pneumatik“ bzw. „Pneumatologie“ nennen, wie dies bei einigen Hegelschülern tatsächlich geschah (vgl. E. Scheerer, Art. Psychologie, in: HWPh 7, 1599–1653, hier: 1612). In Griesheims Nachschrift der Vorlesung vom SS 1825 lautet die Überschrift des dritten Teils schlicht „Der Geist“ (vgl. GW 25/1,484ff.). 20 Zur antiken Begriffsgeschichte von psyche bzw. anima vgl. F. Ricken, Art. Seele I, in: HWPh 9, Sp. 1–11. „Der Begriff ‚Leib‘ ist eine der deutschen Sprache eigentümliche Unterscheidung, die einen Körper, insofern er als beseelt gedacht wird, durch ein besonderes Wort aus der Menge der übrigen K(örper) heraushebt. Dem griechischen soma, lateinischen ‚corpus‘ … stehen besondere Bezeichnungen für L(eib) im Unterschied zu K(örper) nicht zur Seite.“ (T. Borsche, Art. Leib, Körper: in: HWPh 5, Sp. 173–178, hier: 173f.) Zur Problemstellung

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der modernen Wissenschaftsdiskussion „erstmalig 1818“21 und zwar als Bezeichnung einer medizinischen Disziplin, deren Theorie und Praxis auf die Beziehungen ausgerichtet sein sollten, die zwischen psychischen und physischsomatischen Prozessen walten. Dass es solche Beziehungszusammenhänge gibt, war seit alters bekannt und ist durch viele Alltagsbeobachtungen bestätigt worden. Gegenstand einer förmlichen Wissenschaft wurden sie allerdings erst im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts, wobei als namhaftester Wegbereiter Sigmund Freud fungierte, der u. a. „den Einfluß unbewußter Konflikte auf die Entstehung organischer Krankheiten untersuchte“22 . Substantivische Komposita setzen unterschiedliche Hauptwörter zusammen, um auf diese Weise einen neuen Begriff zu generieren wie etwa denjenigen der Psychosomatik. Auch er vereint Differentes und zwar offenbar so, dass Einheit und Unterschied von psyche und soma zugleich in Geltung stehen sollen. Um ein weiteres Mal den einschlägigen Artikel im „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ zu zitieren: „Das Hauptanliegen der P(sychosomatik) als Theorie ist die Vermeidung der Dichotomie zwischen Leib und Seele. Dennoch wird meist eine kausal wirkende Beziehung zwischen beiden angenommen.“23 Was die einzelnen pyschosomatischen Schulen mit der Differenzeinheit von Leib und Seele näherhin verbinden und wie sie das Verhältnis von seelischen Vorgängen und körperlichen Krankheiten bzw. somatischen Prozessen und psychischen Störungen genau bestimmen, kann und soll nicht Untersuchungsgegenstand sein.24 Statt auf medizinische bzw. medizingeschichtliche Details wissenschaftlicher Psychosomatik einzugehen, seien die Erörterungen vielmehr genereller gehalten und – wie bei Hegel – auf eine fundamentalanthropologische Bestandserhebung von Gegebenheiten ausgerichtet, wie sie für pyschosomatische Untersuchungen bereits mehr oder minder stillschweigend vorausgesetzt sind. Un-, Unter-, Vorbewußtes Bevor auf Einzelheiten einzugehen ist, seien einige Aspekte in Erinnerung gebracht, die den weiteren Kontext des Themas und das Systemkonzept insgesamt

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und zur Theoriegeschichte des Leib-Seele-Verhältnisses vgl. die Artikelserie in: HWPh 5, Sp. 185–206. Zu Hegels Leiblichkeitstheorie vgl. im Einzelnen W. Stegmaier, Leib und Leben. Zum Hegel-Nietzsche-Problem, in: Hegel-Studien 20 (1985), 173–198. H. Häfner, Art. Psychosomatik, in: HWPh 7, Sp. 1698–1702, hier: 1698. A.a.O., 1699. „Zu einem großen Teil ist die psychosomatische Medizin an tiefenpsychologischen und psychoanalytischen Theorien orientiert gewesen und hat sich von ihnen her differenziert.“ (Ebd.) Ebd. Vgl. a.a.O., 1699ff.

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betreffen: Der „Anthropologie“25 genannte erste Teil von Hegels Philosophie des subjektiven Geistes26 handelt vom un-27 , unter- oder besser: vom vor25 Zum philosophischen Begriff der Anthropologie bei Hegel vgl. R. Wiehl, Das psychische System der Empfindung in Hegels „Anthropologie“, in: D. Henrich (Hg.), Hegels philosophische Psychologie, Bonn 1979, 81–139. Entsprechend ihrer, der Anthropologie, grenzwertigen Stellung zwischen Naturphilosophie und Philosophie des Geistes wird der anthropologische Seelenbegriff als Grenzbegriff bestimmt. Er steht für den naturbefangenen Geist, der nicht mehr Natur, aber auch noch nicht zu sich selbst als Geist gekommen ist. 26 Einführend kommentiert worden ist Hegels Philosophie des subjektiven Geistes nach Maßgabe der Drittauflage der Enzyklopädie von H. Drüe, in: ders. u. a., Hegels „Enyzklopädie der philosophischen Wissenschaften“ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriss, Frankfurt a. M. 2001, 206–289; zur Anthropologie vgl. 216ff. Drüe kommt zu dem Schluss, dass der erste als „der bei weitem materialreichste Teil des subjektiven Geistes“ (251) „für die heutige Wissenschaft vom Menschen keine Bedeutung mehr hat“ (ebd.). Es ist nicht auszuschließen, dass dieses Urteil durch die Eigenart der Interpretation Drües und ihrer Prämissen bedingt ist. Sein Werk „Psychologie aus dem Begriff. Hegels Persönlichkeitstheorie“ (Berlin/New York 1976) gibt Anlass zu dieser Vermutung. Immerhin wird Hegel nicht als Psychopath eingestuft: „Der Versuch, die Schwierigkeiten und den Tenor des Hegel’schen Werkes auf eine psychotische, im engeren Sinne: schizophrene, Geistesverfassung seines Autors zurückzuführen, kann … als widerlegt gelten.“ (159) Zum Urteil großer Psychologen wie Wundt, Freud, Jung und Bühler über Hegel vgl. 16ff. 27 Der heute gebräuchliche Begriff des „Unbewussten“ „hat seine entscheidende Prägung durch die Psychoanalyse erfahren“ (M. Wegener, Art. Unbewusst/das Unbewusste, in: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 6, Stuttgart/Weimar 2003, 202–240, hier: 202); er bildete ihren Kernbegriff und wurde „theoretisch vor allem in Freuds ‚Metapsychologie‘ entfaltet“ (a.a.O., 225), der ihm den Vorzug gab gegenüber dem im psychoanalytischen Kontext ebenfalls begegnenden Begriff des „Unterbewussten“ (zu C. G. Jungs Verständnis des „kollektiven Unbewussten“ vgl. a.a.O., 230f.). Vor Freud haben, wie dieser ausdrücklich vermerkte (vgl. a.a.O., 225), neben Philosophen v.a. Dichter zur Entdeckung des Unbewussten beigetragen (vgl. L. Lütkehaus [Hg.], Tiefenphilosophie. Texte zur Entdeckung des Unbewussten vor Freud, Hamburg 1995), das mit Metaphern des Rätselhaften, des Dunklen, des Tiefen und des Abgründigen, nicht selten auch mit dem weiblichen Wesen assoziiert wurde. Beispiele aus Aufklärung und Romantik werden von M. Wegener, a.a.O., 205–215 aufgeführt; zur Differenzierung der Rede vom Unbewussten im Zuge der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts forcierten Unterscheidung der wissenschaftlichen Disziplinen vgl. a.a.O., 215–225 [zu E. v. Hartmanns „Philosophie des Unbewussten“ a.a.O., 223f.], zur Entwicklung im 20. Jahrhundert a.a.O., 228–240.). Terminologiegeschichtlich ist für den Begriff des Unbewussten der Bezug zu demjenigen des Bewussten entscheidend, zu welchem er in einem Negationsverhältnis steht und an dessen wechselhafter Bedeutungsgeschichte er auf diese Weise teilhat (vgl. im Einzelnen A. Diemer, Art. Bewußtsein, in: HWPh 1, 888–896 sowie M. Kaiser-El-Safti, Art. Unbewußtes, das Unbewußte, in: HWPh 11, 124–133). Die Analogiebildung zum substantivierten Infinitiv Bewusstsein, der im Laufe seiner Geschichte in unterschiedlichen Schreibweisen auftrat (Bewusst Sein, Bewusst-Sein, bewusst Sein), begegnet terminologiegeschichtlich nicht selten, auch wenn im Laufe der Zeit der Rede vom Unbewussten gegenüber der vom Unbewusstsein der Vorzug gegeben wurde. Die Adjektivbildung „unbewusst“ ist älter als die Substantivierung des Begriffs und seit dem 16. Jahrhundert zumeist in der Bedeutung „unbekannt“ bezeugt;

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bewussten28 Seelenleben des Menschen. Er umfasst in der Erstausgabe der „Enzyklopädie“ von 1817 die §§ 308–328 (vgl. GW 13, 183–194), in der erweiterten Zweitausgabe von 1827 sowie in der drei Jahre später fällig gewordenen Drittausgabe die §§ 388–412 (vgl. GW 19, 293–316; GW 20, 387–421). Es folgen unter dem vom ersten Großwerk her bekannten Titel „Die Phänomenologie des Geistes“ die Lehre vom Bewusstsein, vom Selbstbewusstsein und von der Vernunft, an die sich die „Psychologie“ genannte Lehre vom theoretischen, praktischen und freien Geist29 anschließt. Systematisch gerahmt wird die dreigeteilte Philosophie des subjektiven Geistes von der Naturphilosophie einerseits und der Philosophie des objektiven Geistes andererseits, welche Recht, Moral und die sittlichen Institutionen von Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat thematisiert, um mit einer Theorie der Weltgeschichte zu enden. Diese überführt die Philosophie des endlichen Geistes in die Kunst, Religion und Philosophie umfassende Theorie des Absoluten.

erst später hat sich das begriffliche Sinnspektrum „deutlich erweitert“ (M. Wegener, a.a.O., 204). 28 Der Begriff „vorbewusst“ ist bewusst gewählt, weil er die für Hegels Anthropologie charakteristische Hinordnung des Seelenlebens auf Bewusstsein besser zum Ausdruck bringt als die Begriffe „unterbewusst“ oder „unbewusst“. Die notorische Unschärfe in der Verwendung besagter Begrifflichkeit ist damit nicht behoben, so dass im Folgenden zwischen vor-, unterund unbewusst terminologisch nicht streng geschieden wird, was dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechen dürfte. Man wird im Hinblick auf das gesamte Wortfeld von einer „nicht ausreichend scharfen Abgrenzung gegen verwandte Ausdrücke“ (M. Kaiser-El-Safti, Art. Unbewusstes; das Unbewusste, in: HWPh 11, 124) zu reden haben. Ob ein Unterschied – und gegebenenfalls welcher – zwischen Unterbewusstem, Bewusstlosem, Nichtbewusstem und Unter- bzw. Vorbewusstem besteht, bleibt vielfach unklar. Auch Hegels Sprache entbehrt in dieser Hinsicht der terminologischen Eindeutigkeit, was kein Einwand gegen seine Anthropologie sein muss, sofern diese weniger an terminologischer als an logisch-gedanklicher Konsequenz bemessen werden will. Was die Terminologie anbelangt, so genügt die Feststellung, dass für die Hegel’sche Anthropologie das Bewusstsein die Schwelle markiert, die alles Unterschwellige zu ersteigen hat, ob dieses nun das Vor-, Unter- oder Unbewusste genannt wird. Erwähnung verdient im gegebenen Zusammenhang auch Hegels Theorie des natürlichen Vergessens. Man kann einerseits bewusst zwischen Erinnerungswürdigem und dem unterscheiden, was getrost zu vergessen ist. Andererseits stellen Vergessen und in bestimmter Weise auch Erinnern vorbewusste Vorgänge dar. Nicht alles, was in Erinnerung ist, muss auf bewusstem Wege dorthin gelangt sein, wie umgekehrt bewusst Erlerntes unwillkürlich und unbewusst in Vergessenheit geraten kann. 29 Die Dreiteilung der Psychologie tritt in der Drittauflage der Enzyklopädie an die Stelle der Unterteilung in theoretischen und praktischen Geist, wie sie in der Erst- und Zweitauflage begegnet. Zu den Modifikationsmotiven und ihrem Zusammenhang mit „Veränderungen in der Einleitung zur Naturphilosophie 1823/24–1828“ vgl. den gleichnamigen Kurzbeitrag von W. Bonsiepen, in: Hegel-Studien 26 (1991), 213–218.

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Im Unterschied zu anderen Systemteilen hat Hegel seine Philosophie des subjektiven Geistes nicht in ausgearbeiteter Form publiziert.30 Doch sind, wie eingangs erwähnt, einige Nachschriften und Kollegunterlagen zu den wiederholt zum Thema gehaltenen Vorlesungen veröffentlicht worden, die gute Einblicke in den Inhalts- und Gedankenreichtum seiner Lehre vom Menschen geben. Hegels Gedankensystem ist zurecht bewundert worden „wegen der Sättigung mit Realität, in der es alle anderen weit übertrifft, − ebenso auch deshalb, weil es bei der Beschreibung von Bereichen und Zuständen der Welt einen Tiefgang und eine Polymorphie erreicht, welche die Resultate bewährter Forschungsmethoden weit hinter sich lassen“31 . Dieser Vorzug und der Erfahrungsreichtum der Hegel’schen Lehre vom Menschen tritt insbesondere in den Kollegnachschriften zutage. Warum Hegel den, wenn man so will, naturnahen ersten Teil seiner Philosophie des subjektiven Geistes Anthropologie und den letzten Psychologie nennt, obwohl von Anfang an von der Seele und bis zum Schluss vom Menschen gehandelt wird, bedürfte, wie bereits angedeutet, einer detaillierten terminologiegeschichtlichen Erläuterung, die aber verzichtbar ist, weil die äußere Nomenklatur bei Hegel eine lediglich marginale Bedeutung hat. Was ihren Gehalt betrifft, so genügt die Feststellung, dass Hegels Anthropologie, mit der „Enzyklopädie“ zu reden, vom subjektiven Geist als natürlicher Seele bzw. Naturgeist, mithin so handelt, wie er unmittelbar an sich selbst und noch nicht reflexiv für sich vermittelt ist (vgl. GW 13, 183; GW 19, 292; GW 20, 386). Thema ist der subjektive Geist, der noch kein entwickeltes Bewusstsein seiner selbst und damit auch noch kein entwickeltes Bewusstsein einer vom Selbst unterschiedenen gegenständlichen Welt hat. Die Selbst-Welt-Differenz ist in ihm zwar bereits latent vorhanden, aber noch nicht offenbar geworden. Erst allmählich enthüllt sich das ursprünglich Verborgene, und der Geist tritt aus dem Dunkel seiner natürlichen Herkunft schrittweise zutage. Beseelter Körper, leibhafte Seele Wie bei Hegel nicht anders zu erwarten, vollzieht der subjektive Geist als Naturgeist drei Schritte, um zu Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Vernunft zu gelangen und jenes geistige Format anzunehmen, das seinem Begriff und seiner 30 Hegel plante, wie ein von Friedhelm Nicolin aufgefundenes und publiziertes Fragment belegt (F. Nicolin, Ein Hegel’sches Fragment zur Philosophie des Geistes, in: Hegel-Studien 1 [1961], 10–48), „als Gegenstück zu seinem Kompendium über die Philosophie des objektiven Geistes auch die Philosophie des subjektiven Geistes systematisch auszuarbeiten“ (B. Tuschling, Hegels Philosophie des Geistes nach Erdmann [1827/28], in: L. Eley [Hg.], Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“, Stuttgart/Bad Cannstatt 1990, 131–154, hier: 131). Ausgeführt wurde der Plan nie. 31 D. Henrich, Vorwort, in: ders. (Hg.), Hegels philosophische Psychologie, 9.

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Bestimmung entspricht. Der erste Schritt führt ihn aus seiner vermittlungslosen Unmittelbarkeit hin zu einer rudimentären Empfindung; der zweite lässt ihn zu einer fühlenden Seele werden und zu einem Selbstgefühl finden, das mittels der Gewohnheit in einem dritten und letzten Schritt zur Entwicklung dessen führt, was Hegel die wirkliche Seele nennt. Ihre Realität besteht genau in jener Differenzeinheit, auf welche die heute Psychosomatik genannte Wissenschaft vorzugsweise bezogen ist. Die wirkliche Seele ist eine somatische Größe. Ihr eignet körperliche Präsenz dergestalt, dass sie ihren Körper leibhaft gestaltet. Der Leib der Seele ist nicht bloßer, sondern beseelter, in seiner Äußerlichkeit von Innen her geformter Körper. Umgekehrt sind die Seele und das seelische Innenleben vom äußeren Körper und seinen Äußerungen nie separiert, sondern ihm innigst verbunden. Leib und Seele des Menschen lassen sich zwar unterscheiden, aber nicht trennen.32 Sie bilden eine psychosomatische Differenzeinheit, welche die Bedingung der Möglichkeit der weiteren Entwicklung, nämlich der Ausbildung 32 Vgl. dazu die Ausführungen Hegels zur Gemeinschaft der immateriellen Seele mit ihrem materiellen Körper, den zu ihrem Leib zu gestalten sie bestimmt ist, in GW 13, 184f.; GW 19, 293ff. und GW 20, 388f. Die differenzierte Leib-Seele-Einheit wird als Faktum angenommen, das es zu begreifen gilt. Insofern zur Anthropologie alles gehört, „was den Zusammenhang der Seele mit dem Leibe betrifft“ (GW 25/1, 211), ist sie ihrem Begriff und Wesen nach Psychosomatik. Dreierlei Vorstellungen sind Hegel zufolge in Bezug auf das Leib-Seele-Verhältnis möglich: „Erstens, der Geist ist selbst Materie, die Ansicht des Materialismus oder Naturalismus. Zweitens, das Verhältniß des Spiritualismus oder Idealismus, drittens, das Verhältniß unserer gewöhnlichen Vorstellung, Dualismus.“ (GW 25/1, 213) Als die gewöhnlichste ist die dualistische nach Hegels Urteil zugleich die abwegigste Vorstellung, weil sie den evidenten Zusammenhang von Leib und Seele und deren psychosomatische Einheit nicht zu begreifen vermag. Ernster zu nehmen sei die materialistische, der man wegen ihres Strebens nach letztbegründeter Einheit Gerechtigkeit widerfahren lassen müsse, obwohl sie sich bei näherer Betrachtung als oberflächlich zu erkennen gebe. Oberflächlichkeit wird dem Materialismus insbesondere deshalb attestiert, weil er das Psychische und Geistige zum bloßen Epiphänomen des Körperlichen herabsetze und damit das Seelen- und Geistesleben letztlich zum Schein erkläre, was nicht zuletzt durch das materialistische Denken, sofern es Denken sei, selbst falsifiziert werde. Das wahre Verhältnis von Leib und Seele bzw. Leib, Seele und Geist sei nur auf idealistische Art zu erfassen, freilich nicht nach Weise eines Idealismus, der sich durch den Gegensatz zum Realismus bestimme, sondern diesen in sich zu begreifen vermöge. Vorbild hierfür sei für alle Zeit Aristoteles, dessen Lehre „De anima“ gemäß Hegel nach wie vor zum Allerbesten gehört, was je zum Thema geschrieben worden sei (vgl. GW 25/1, 221f.). – Um zumindest einige knappe Orientierungshinweise auf das von Hegel gerühmte Werk zu geben: Nach doxographischen Ausführungen und einer Kritik traditioneller Seelenlehren im ersten Buch entwickelt Aristoteles in den beiden Folgebüchern von „De anima“ seine Theorie der Seelenvermögen (vgl. E. Grumach [Hg.], Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Bd. 13: Über die Seele. Übers. v. W. Theiler, Darmstadt 1959, 80ff.). Das zweite Buch enthält nach einer allgemeinen Bestimmung der Seele und nach Bemerkungen zur Gradualität ihres Lebens Ausführungen zum seelischen Nähr- und Wahrnehmungsvermögen, wobei letzteres nach Maßgabe der fünf Sinne in Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack und in den Tastsinn unter-

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von Ich- und gegenständlichem Weltbewusstsein etc. ist. Von ihm, dem Selbstbewusstsein des Ich und dem Bewusstsein der gegenständlichen Welt, wird im Folgenden noch nicht gehandelt. Erörtert werden soll zunächst nicht das bewusste, sondern das vorbewusste Leben der Menschenseele, ausführlicher und verhältnismäßig genau ihre erste Lebensphase bis hin zur Ausbildung seelischen Empfindens, kürzer und weniger detailliert dann das Leben der fühlenden Seele, aus dem heraus sich diese zu ihrer manifesten psychosomatischen Einheit erhebt.33 Hinzuzufügen ist, dass die Hegel’sche „Anthropologie“ (wie seine gesamte Theorie des subjektiven Geistes) nicht nur eine Entwicklung zum Gegenstand hat, sondern an sich selbst ein „work in progress“ darstellt, was u. a. daran deutlich wird, dass ihr Autor „in jeder der drei Ausgaben der Encyclopädie und den verschiedenen Vorträgen über unsere Wissenschaft die bedeutendsten Aenderungen damit vornahm“34 . Ergänzt sei ferner, dass sich Schüler Hegels teilt wird. Mit weiteren Sinnen bzw. Seelenvermögen sinnlicher Wahrnehmung ist nicht zu rechnen, wohl aber mit einer der Menschenseele gegebenen Fähigkeit, die Wahrnehmung als Wahrnehmung wahrzunehmen, um auf diesem Wege zur Selbstwahrnehmung und zu einem Bewusstsein zu gelangen, das um sich weiß. Ohne reflexives und sich wissendes Bewusstsein vermag sich das seelische Denkvermögen nicht auszubilden. Von ihm und vom Vorstellungsvermögen, das zu ihm überleitet, handelt Aristoteles im dritten Buch von „De anima“. Die Denktätigkeit als das Vermögen, mit welchem die Seele begreift, bildet die Voraussetzung dafür, dass seelische Bewegungs- und Bestrebungsvermögen vernünftig zu gestalten und den Willen nicht triebhaft, sondern rational zu betätigen. Ein, wenn man so will, Kapitel für sich bildet das fünfte des III. Buches, das von leidender und tätiger Vernunft handelt. „Es gibt kein Stück der antiken Philosophie, das wie die halbe Seite dieses Kapitels eine solche Masse der Erklärungen hervorgerufen hat.“ (A.a.O., 142) Gesagt wird, dass nur dem nous poetikos, der seinem Wesen nach reine und leidensunfähige Tätigkeit sei, Unsterblichkeit eigne, wohingegen der nous pathetikos als sterblich zu gelten habe. Zwar habe die leidende Vernunft der Menschenseele an der unsterblichen Wirklichkeit der tätigen Anteil, aber gewissermaßen nicht an sich selbst und auf Dauer. Als durch die Differenz von Denken und Gedachtem bestimmte Seele sei die Menschenseele endlich und ende ohne verbleibende Erinnerung: Der nous pathetikos, der das menschliche Denken kennzeichnet, ist sterblich (vgl. De anima 430a). 33 Damit sich die Seele aus ihrer unmittelbaren Naturbestimmtheit heraus entwickle und zur fühlenden sowie zur wirklichen, einen Körper als ihren Leib durchformenden Seele werde, muss sie von ihrer anfänglichen Abstraktheit abstrahieren und die Äußerlichkeit ihrer natürlichen Herkunft zum Moment ihrer Lebensgeschichte herabsetzen, um sie auf diese Weise zu integrieren. Dies gilt zunächst in Bezug auf die Umweltfaktoren, die ihr natürlicher Lebensraum mit sich bringt und die ihr Naturell, ihr Temperament und ihren Charakter prägen, sodann in Bezug auf die Abfolge der Lebensalter, das Geschlechtsverhältnis und den im Übergang von Schlafen und Wachen begriffenen Bereich. 34 C. L. Michelet, Anthropologie und Psychologie oder die Philosophie des subjectiven Geistes, Berlin 1840, VIII. Die Dreiteilung der Anthropologie bleibt in allen Enzyklopädieauflagen erhalten. Die Erstauflage handelt von der Naturbestimmtheit der Seele, sodann vom Gegensatz der subjektiven Seele gegen ihre Substantialität und schließlich von der Wirklichkeit

Anthropologische Anfangsgründe der Philosophie des subjektiven Geistes

wie der zitierte Carl Ludwig Michelet, einer der Miteditoren der Freundesvereinsausgabe, im Anschluss an den Meister um Fortschreibungen der Lehre vom Menschen bemüht haben, die es verdienen, bemerkt und zur Kenntnis genommen werden.35

der Seele, die Zweitauflage unterscheidet zwischen natürlicher, träumender und wirklicher, die Drittauflage zwischen natürlicher, fühlender und wirklicher Seele. Die Gliederung der einzelnen Teile variiert. So erörtert die Auflage von 1817 im ersten Anthropologieteil nach der allgemeinen und individuellen Naturbestimmtheit der Seele Schlaf und Erwachen und drittens die äußerliche und innere Empfindung, ohne die einzelnen Teile mit einer eigenen Überschrift zu versehen. Die Auflagen von 1827 und 1830 untergliedern dagegen in natürliche Qualitäten und Veränderungen der naturbestimmten Seele, um dann von ihrer Empfindung zu handeln. Zusätzliche Abweichungen und Variationen im Detail lassen sich unschwer registrieren. Von Interesse ist die Anordnung des Stoffs, die C. L. Michelet, a.a.O., 79ff. im Anschluss an Hegel vorgenommen hat. U. a. das natürliche Geschlechtsverhältnis platziert er anders als dieser. 35 Eine vollständig ausgearbeitete Philosophie des menschlichen Geistes hat z. B. der Hegelbiograph K. Rosenkranz vorgelegt: Psychologie oder die Wissenschaft vom subjectiven Geist, Königsberg 1837, 2 1843, 3 1863. Vgl. hierzu: K. Löwith, Die Ausführung von Hegels Lehre zum subjektiven Geist durch K. Rosenkranz, in: D. Henrich (Hg.), a.a.O., 227–234. Löwith schließt mit der Feststellung: „Man muß … den Hegelschen bzw. Rosenkranzschen Weg von der Idee bzw. vom Geist zur Natur und vom Wachsein zum Schlafen auch in umgekehrter Richtung gehen, um die ganze Wahrheit zu vergegenwärtigen und sich klarzumachen, daß und inwiefern die dauernde Grundlage unseres bewußten Daseins das unbewußte Leben der Natur aller Dinge ist, deren Nicht-um-sich-wissen keineswegs gleichbedeutend mit Geistlosigkeit ist.“ (234) Rosenkranz lässt die Anthropologie als den ersten Teil der Lehre vom subjektiven Geist mit einem Abschnitt über den Geist in unmittelbarer Einheit mit seiner Natürlichkeit beginnen, um in einem ersten Kapitel die natürliche Bestimmtheit des Geistes durch das planetarische Leben der Erde, durch allgemeine Unterschiede der „Rasse“ und durch individuelle Temperamente, Anlagen und Idiosynkrasien in Form von Apathie, Antipathie und Sympathie zu thematisieren. Das zweite Kapitel des ersten Anthropologieabschnitts handelt unter der Überschrift „Die natürlichen Veränderungen des Geistes“ von der Geschlechterdifferenz, den Altersstufen und dem Wechsel von Schlaf und Wachen, das dritte von der Empfindung und ihren Bestimmungsmomenten, wobei dem zweiten Teil über äußeres und inneres Empfinden besondere Aufmerksamkeit zukommt. Der zweite Abschnitt erörtert den Kampf des Geistes mit seiner Leiblichkeit und zwar unter dem Gesichtspunkt des Traumlebens des Geistes, des gesunden und kranken Selbstgefühls sowie der Gewohnheit. Der dritte Abschnitt ist der wirklichen Seele, näherhin der symbolischen Erscheinung des Geistes in seiner Leiblichkeit gewidmet und zwar in Bezug auf den mimischen, physiognomischen und den sog. kraniologischen, die Schädelgestalt betreffenden Ausdruck. Vgl. ferner: E. Erdmann, Leib und Seele, Halle 1837, 2 1849; ders., Grundriss der Psychologie, Leipzig 1840, 5 1873; F. Exner, Die Psychologie der Hegelschen Schule. 2 Bde., Leipzig 1842/44.

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6.

Naturgeist

Hegels Lehre vom vorbewussten Leben des Menschen

6.1

Natürliche Beschaffenheiten und Veränderungen leibhaften Seelenlebens

Damit der Menschenkörper beseelter Leib und die Menschenseele leibhaft werde und sei, muss der subjektive Geist seine Ursprungsverfassung als Naturgeist transzendieren und, mit Hegel zu reden, empfindsam und fühlend werden. Den Weg zur Empfindung hin beschreibt die Lehre von der natürlichen Seele bzw. von dem, „was jenseits des bewußtseins in sie eingeschrieben ist“ (GW 24/2, 595), als dem ersten Teil der Hegel’schen Anthropologie.1 Bevor der Mensch überhaupt etwas wahrnimmt, wirken auf ihn, wie Hegel sagt, bereits natürliche 1 Hegels sog. Anthropologie und insbesondere seine Theorie vom natürlichen Seelenleben des Menschen thematisiert „das anfängliche Werden realer menschlicher Subjektivität jenseits des Bewusstseins“ (S. Hoth, Der Geist in der Stufe seiner Dunkelheit, in: A. Arndt u. a. [Hg.], Das Leben denken. Erster Teil, [Hegel-Jahrbuch 2006], Berlin 2006, 262–266, hier: 262). Auf dieser Stufe seiner Entwicklung ist der Geist noch zu keiner klaren Unterscheidung von Innen und Außen, Ich und gegenständlicher Welt gelangt. Sein Leben bleibt für ihn im Dunkeln. Zwar ist das vor-, unter- bzw. unbewusste Seelenleben des Menschen Hegel zufolge Leben des Geistes und nicht indifferentes Naturleben. Aber der Geist ist erst dabei, sich zu regen und allmählich von der Natur zu emanzipieren. Erst im Laufe seiner Entwicklung kann er sich seine natürliche Herkunftsgeschichte als die ursprüngliche Nachtseite seines Daseins vergegenwärtigen, zu Bewusstsein bringen und in sein subjektives Selbstbewusstsein aufheben. Dass das ins Bewusstsein und Selbstbewusstsein überführte Un-, Unter- bzw. Vorbewusste „ein Leben lang als dessen psychische Tiefenstruktur sein Handeln und Denken unwissentlich durchherrscht“ (ebd.), wird man im Sinne Hegels nicht ohne Weiteres sagen dürfen, da nicht das Es das Ich, sondern das Ich das Es zu beherrschen bestimmt ist. Gleichwohl bleibt das natürliche Seelenleben, auch wenn es bestimmt negiert und zu Bewusstsein gebracht ist, in allen Ichvollzügen erhalten, um sie zu begleiten, was in der Regel stillschweigend − ebenso unwissentlich wie unwillkürlich − geschieht. Dies gilt umso mehr, als der Mensch als leibhafte Seele nicht beständig seiner selbst und seiner Welt bewusst, sondern, um nur dieses Beispiel zu nennen, einem beständigen Wechsel von Wachen und Schlafen etc. ausgesetzt ist. Während den Wachzustand eine klare Selbst-Welt-Unterscheidung und ein kohärentes Gegenstandsbewusstsein charakterisieren, bleibt im Zustand der Bewusstlosigkeit und vergleichbar in demjenigen des traumlosen Schlafes die Ich-Nichtich-Differenz verborgen. Im Traum wiederum treten zwar einzelne Vorstellungen zutage, aber sie bleiben analog einem kranken Geisteszustand umnachtet, um lediglich assoziativ verbunden zu werden. Hegel beschreibt das Traumleben vorzugsweise mit „Metaphern des Fallens und Schwindels“ (263), ohne sich ausschließlich auf diese Beschreibungsart festzulegen. Zugleich weiß er, dass sich im Traum „das im Wachzustand durch das Bewusstsein Verdrängte zur Sprache bringen kann“ (ebd.) und mit ihm die infantile Naturgeschichte des Geistes.

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Qualitäten und Veränderungen ein und zwar auf nicht nur präbewusste, sondern auf eine Weise, die noch vor einer klar identifizierbaren Empfindung liegt. Worum handelt es sich? Was die Naturqualitäten anbelangt, die das natürliche Seelenleben generell und unspezifisch bestimmen, so denkt Hegel dabei nebst dem Universum als dem abstraktesten Kontext allen Seins an die globalen Gegebenheiten des natürlichen Erdenlebens, näherhin, um es bei diesen Beispielen zu belassen, an den durch die Erdumdrehung bedingten Wechsel von Tag und Nacht, an den durch den Sonnenumlauf des blauen Planeten verursachten Jahreszeitenwechsel oder an klimatische Konditionen. Wetterfühligkeit wäre als ein Urphänomen natürlichen Seelenlebens zu benennen, das noch vor klaren Empfindungen auftritt, um, wie Hegel meint, immer mehr abzunehmen und zurückzutreten, je mehr sich das Seelenleben fortentwickelt. Klima, Jahreszeiten, Wechsel von Tag und Nacht Hegel leugnet nicht, dass das menschliche Seelenleben wie analog das Leben der Tiere und Pflanzen von kosmisch-siderisch-tellurischen Komponenten unmittelbar abhängt. Er bestreitet aber vehement, dass aus der Naturbestimmtheit der Menschenseele ihre Naturhaftigkeit bzw. Naturalisierung zu folgern sei. Eine solche Folgerung müsste nicht nur als geistlos, sondern als geistwidrig beurteilt werden, da die Menschenseele ihrer Bestimmung gemäß darauf angelegt ist, die Natur einschließlich ihrer eigenen zu transzendieren. In diesen Zusammenhang gehört die Feststellung, dass die astrologische Annahme eines direkten Einflusses der Gestirne und ihrer Konstellationen auf das menschliche Lebensgeschick als „Aberglaube“ (GW 25/2, 952) zu verwerfen sei. Aberglaube ist, wie Hegel lakonisch definiert, „der Glaube von einem Zusammenhang, der nicht Statt findet, nicht der gesetzte Zusammenhang der Natur ist“ (GW 25/2, 602). Wohl hätten, meint Hegel, Sonne, Mond und Sterne Einfluss auf jedes natürliche Seelenleben auf Erden, aber dieser Einfluss sei lediglich äußerlich und werde umso geringer, je gediegener sich das seelische Innenleben ausbilde. An einem Vergleich von Pflanze und Tier könne man sich dies unschwer verdeutlichen. Richte sich das vegetabilische Leben unmittelbar nach dem Stand der Sonne, nehme das Tier seinen Gang auch unabhängig von ihrem Verlauf, wenn auch die animalische Seele von diversen Lichtverhältnissen naturgemäß nicht unberührt bleibe. Dies gilt entsprechend von der Menschenseele und den Eindrücken, die etwa die Wechsel von Tag und Nacht oder die Abfolgen von Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter in seelischer Hinsicht hinterlassen. Auch klimatische und sonstige Umweltbedingungen bleiben der Menschenseele nicht einfach äußerlich, sondern haben externen Einfluss auf ihr inneres Leben,

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ohne es doch von Grund auf bestimmen zu können.2 Die Formalisierung der Zeitabläufe durch die Uhrzeit gibt ein Beispiel hierfür und für das virtuelle Vermögen des Menschen, „aus Tag Nacht (zu) machen und umgekehrt“ (GW 25/2, 604). Spezifische Gestalt nehmen die allgemeinen Umweltbedingungen seelischen Lebens in den natürlichen Besonderheiten an, die es biologisch prägen. Hegel spricht von „besondern Naturgeister(n), die im Ganzen die Natur der geographischen Welttheile ausdrücken, und die Racenverschiedenheit ausmachen“ (GW 20, 392). Der geographische Unterschied der Weltteile reflektiert sich im Leben der natürlichen Seele darin, dass mit kontinentspezifischen bzw. territorialen Seelenlagen zu rechnen ist, die sich generalisieren lassen. Dabei ist es eher der Boden als das Blut, von dem Hegel die sog. Menschenrassen herleitet, ganz abgesehen davon, dass vermeintliche Rassendifferenzen nach seinem Urteil die conditio humana nur äußerlich angehen und in keiner Weise das Menschsein der Menschen bestimmen; anderes zu behaupten, wäre inhuman und ein lästerlicher Frevel an der Menschheit. Ethnische Prägung Statt die von Hegel geltend gemachten naturhaften Seelenunterschiede von Afrikanern, Asiaten und Europäern oder die Bedeutung zu erörtern, die er mit der Polarität von Alter und Neuer Welt verbindet3 , sei lediglich namhaft gemacht, dass sich die Kontinentalgeister, die nach seinem Urteil das natürliche Seelenleben der Menschen in den einzelnen Erdteilen atmosphärisch bestimmen, zu Lokalgeistern ausdifferenzieren, um „Rassen“ der ganz besonderen Art hervorzubringen wie etwa die Baiern, die Schwaben oder − last but not least − die Franken, die Hegel indes nicht eigens thematisiert. Der Philosoph begnügt sich damit, den allgemeinen Kontinentalgeist Europas in Bezug auf Griechen, Italiener, Spanier, Franzosen, Engländer und Deutsche zu spezifizieren. Folgt man seiner Auffassung, dann ist die deutsche Seele gleichsam von Natur aus 2 Zur allgemeinen Naturbestimmtheit menschlichen Seelenlebens gehört, dass dieses im Universum in einem bestimmten Sonnensystem und auf der Erde („als Individualität des Sonnensystems“ [GW 25/1, 31]) stattfindet, wo Tag und Nacht sowie Jahreszeiten wechseln, was spezifische Seelenstimmungen hervorruft, die aber nicht eigentlich binden, da der Mensch „an die natürliche Disposition nicht gehalten“ (GW 25/1, 32) ist. Er ist vielmehr dazu bestimmt, das universal-globale Naturleben und seine „Figurationen“ (GW 25/1, 225) zu transzendieren, sofern diese „zum Bewußtlosen des Geistes“ (ebd.) gehören, welches zu Bewusstsein zu bringen ist. 3 Vgl. hierzu im Einzelnen etwa GW 25/1, 33ff. sowie GW 25/2, 605ff. Rassistisch wird man den Rassebegriff, wie Hegel ihn verwendet, trotz mancher Ungereimtheiten und abwegiger Tendenzen (vgl. etwa GW 25/1, 35 o.ä.) nicht nennen können. Umgekehrt ist der richtige Hinweis darauf, dass es humanbiologisch-genetisch geurteilt keine Menschenrassen gibt, noch kein eindeutiger Beleg für eine antirassistische Denkungsart.

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„nach innen gekehrt“ (GW 25/2, 967). Sich dessen oder sonstiger Vorzüge des Nationalcharakters zu rühmen, von dem man sich geprägt weiß, besteht nach Hegel indes kein vernünftiger Grund, wie überhaupt ein bornierter Stolz, Deutscher zu sein bzw. dieser oder jener „Rasse“ anzugehören, nach seinem Urteil nicht nur dumm, sondern tendenziell böse ist. Wie das allgemeine planetarische Leben der natürlichen Seele überhaupt, sind auch die naturhaften Eigentümlichkeiten, die mit ihrem Sein in einem partikularen Hier und Jetzt unmittelbar gegeben sind, aufzuheben und in eine höhere Daseinsart zu überführen, damit sich der Mensch auf humane Weise realisiere. Bewusstes Insistieren auf der natürlichen Verfasstheit des Seelenlebens verkommt stets zu Inhumanität. Insofern entspricht, was Hegel über sog. Rassenverschiedenheiten ausführt, einer rassistischen Ideologie nicht nur nicht, sondern widerspricht ihr kontradiktorisch. Dies hinderte ihn nicht, ein geborener Schwabe zu sein und jedenfalls diesbezüglich zeitlebens zu bleiben, was er von Natur aus war. Franken können es getrost ebenso halten, solange sie der Maxime eingedenk bleiben: „die gebildeten Menschen erheben sich über die Nationalität, eines gebildeten Menschen Auszeichnung ist: nach allgemeiner Denkweise zu handeln.“ (GW 25/2, 616) Das Leben der Seele ist in ihrer unmittelbaren Naturbestimmtheit äußerlich durch allgemeine Raumbeschaffenheiten der Umwelt geprägt, die seelische Eigentümlichkeiten lokaler Art zur Folge haben. Innerlichkeit nimmt die räumliche Umweltprägung in der Form der Abfolge von Lebensaltern an, in deren Gestalt die Zeit in die, wenn man so sagen darf, stabilitas loci der Naturseele Einzug hält, um urtümliche Veränderungen zu bewirken. Da „die allgemeine Naturseele bloß in den einzelnen Seelen zur Wirklichkeit kommt“ (GW 25/2, 951), stellt die Lehre von den Lebensaltern gegenüber den vorangegangenen allgemeinen Qualifizierungen einen Konkretisierungsfortschritt dar, ohne dass dadurch die Abstraktheit der Betrachtung bereits wesentlich weggearbeitet wäre. Sie verbleibt, was sich allein aus der Tatsache ablesen lässt, dass der Mensch das Altern mit einer ganzen Reihe extrahumaner Kreaturen teilt. Naturell, Temperament, Charakter Die Abfolge der Lebensalter ist die ursprüngliche Form der Veränderung einer im Zeitverlauf mit sich identisch bleibenden Naturseele. Nicht dass die menschliche Biographie in der Wahrnehmung dieser Abfolge aufgehen sollte; davon kann nicht die Rede sein. Aber diese bildet die Naturbasis der Lebensgeschichte des einzelnen Menschen − so wie die Stellung des Menschengeschlechts im Raum und in den einzelnen Räumen, welche die Völker als Gattungsrepräsentanten einnehmen, die natürliche Basis dessen bilden, was Menschheitsbzw. Weltgeschichte heißt. Nachzutragen ist, dass der Naturgeschichte der

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menschlichen Individualseele vorangeht, was Hegel Naturell, Temperament und Charakter nennt. Unter Naturell versteht er „die natürlichen Anlagen im Gegensatze gegen Dasjenige, was der Mensch durch seine eigene Thätigkeit geworden ist“ (GW 23/2, 968). Im jeweiligen Temperament des Cholerikers oder Sanguinikers, des Phlegmatikers oder des Melancholikers4 nimmt das Naturell spezifische Gestalt an, damit sich im Vollzug der Aufhebung der Differenz von Naturell und Temperament Charakter ausbilde: „Der charaktervolle Mensch imponirt Anderen, weil sie wissen, was sie an ihm haben.“ (GW 23/2, 970) Das ist deshalb der Fall, weil der Charakter ein Prägemal von Dauer darstellt, auf welches man bei einem Menschen wie auf einen festen Naturgrund bauen kann, was freilich nur gilt, wenn sich Natur mit Geist verbindet. Ein Franke beispielsweise muss frank und frei sein, um als echter Charakter zu gelten. Umso mehr trifft dies für Talente, Temperamente und Naturelle der verschiedenen Art zu, um von familiären Dispositionen und Ideosynkrasien zu schweigen. Mit seiner Theorie von Naturell, Temperament und Charakter schließt Hegel den ersten Teil seiner Lehre von der natürlichen Seele ab, um sie vom Raumhaften ins Zeitliche, aus der Sphäre der natürlichen Qualitäten in diejenige der natürlichen Veränderungen zu überführen, wobei als erstes der natürliche Verlauf der Lebensalter von Kindheit und Jugend über Erwachsenenleben zur Greisenhaftigkeit in Betracht kommt. Ein knapper Abschnitt über den Dual der Geschlechter und ihr Verhältnis zueinander schließt sich zweitens an, bis es dann drittens zum allmählichen Erwachen der Seele aus dem Naturschlaf bzw. aus ihrer träumerischen Existenz kommt, was die Voraussetzung einer eindeutigen seelischen Empfindung ist.5 Zu altern ist kein anthropologiespezifisches Datum. Der Mensch teilt es mit allen Lebewesen, die geboren werden und sterben. Der Anfang des Alterungsprozesses ist Hegel zufolge von „der unmittelbaren, noch unterschiedslosen Einheit der Gattung und der Individualität“ (GW 23/2, 972) bestimmt, wie sie bei Zeugung bzw. Empfängnis eines menschlichen Lebewesens statthat, um 4 „Man kann sagen: das phlegmatische Temperament ist gerichtet auf die Substanz auf die Sache, aber mit weniger bethätigung; wenn es aber dann seine Subjectivität nach und nach mit dem Inhalt vereinigt hat so ist es selbst substantiell geworden und beharrt darin; das sanguinische Temperament gilt als sein Gegentheil insofern es auch die subjective Seite dieser beweglichkeit hat aber zugleich auf die Sache gerichtet ist und leichter sich mit ihr vereinigt, aber auch leichter sie wieder verläßt. Sanguinisch und cholerisch gehen fast nur auf die Subjectivität; das Melancholische ist das sich in sich herumdrehen.“ (GW 25/2, 617) 5 Was die Systemstellung des natürlichen Geschlechterverhältnisses von Mann und Frau angeht, so wurde sie zum Teil auch von erklärten Anhängern Hegels deutlich kritisiert. Die menschlichen Sexualbeziehungen seien unmöglich unter die Rubrik der natürlichen Veränderungen zu subsumieren; dazu mag der Hinweis genügen, dass Hegel selbst Unsicherheiten in Bezug auf die Systematik des Geschlechterverhältnisses zu erkennen gibt, wie u. a. ein Vergleich der unterschiedlichen Enzyklopädieauflagen erweist.

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sich im Vollzug seiner embryonalen Entwicklung fortschreitend auszudifferenzieren auf die „Geburt des Individuums“ (ebd.) hin. Zu seinem Ende gelangt der Prozess des Alterns mit dem Tod als „dem Siege der Gattung über die Einzelnheit“ (ebd.). Anfang und Ende des Menschenlebens korrespondieren einander sonach in gleichsam gegenläufiger Weise; was sich unter individuellen Gesichtspunkten als unumkehrbarer, eindeutig gerichteter Verlauf darstellt, kann unter Gattungsaspekten als beständige Wiederkehr des Gleichen erscheinen. Lebensalter Ist das Kindesalter durch Nähe zum „gegensatzlose(n) Anfang“ (GW 25/2, 973) charakterisiert, so das Greisenalter durch Nähe zum „gegensatzlose(n) Ende“ (ebd.) des individuellen Menschenlebens. Beides macht naturgemäß Eindruck auf die Menschenseele und hinterlässt Spuren in ihr, was vergleichbar für die anderen Lebensalter gilt, die je eigene Verfassungen von natürlicher, allgemeiner Art zeitigen. „So entsteht eine Reihe von unterschiedenen Zuständen, welche das Individuum als solches durchläuft, − eine Folge von Unterschieden, die nicht mehr die Festigkeit der in den verschiedenen Menschenracen und in den Nationalgeistern herrschenden unmittelbaren Unterschiede des allgemeinen Naturgeistes haben, sondern an Einem und demselben Individuum als fließende, als in einander übergehende Formen erscheinen.“ (GW 25/2, 972) Was das Kindesalter betrifft, dem er besondere Aufmerksamkeit widmet, so folgt nach Hegel auf den „vegetativen Zustande, in welchem es sich im Mutterleibe befindet“ (GW 25/2, 974), die tierähnliche Lebensphase des Kindes, in welche es mit seiner Geburt eintritt. Doch zeigt sich rasch, dass es sich beim Menschenkind um ein Tier der ganz besonderen Art handelt. Nicht nur dass der tierische Organismus in ihm „zu seiner vollkommensten Form gelangt“ (GW 25/2, 975), auch seine im Vergleich zu Tieren viel größere „Abhängigkeit und Bedürftigkeit“ (ebd.) erweist sich bei näherem Zusehen als Vorzug: „Doch offenbart sich seine höhere Natur auch bereits hierbei.“ (Ebd.) Als Beweis führt Hegel das unbändig-ungebärdige Schreien des Säuglings an, mit dem er ein Bedürfnis artikuliert. Während Tiere in der Regel stumm bleiben, brüllt das Menschenkind aus Leibeskräften − durchdrungen von der Gewissheit, „daß es von der Außenwelt die Befriedigung seiner Bedürfnisse zu fordern ein Recht habe, − daß die Selbständigkeit der Außenwelt gegen den Menschen eine nichtige sey“ (ebd.). Die allmähliche Erkenntnis der Gegenständlichkeit der Außenwelt falsifiziert diesen Sachverhalt nicht, sondern verifiziert ihn spätestens dann, wenn das Kind „Ich“ zu sagen und sich selbst von aller Welt zu unterscheiden vermag. Das „Erfassen seiner Ichheit“ (GW 25/2, 976) ist Hegel zufolge nicht nur „ein höchst wichtiger Punkt in der geistigen Entwicklung des Kindes“ (ebd.),

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sondern die Möglichkeitsbedingung seines Erwachsenwerdens. Denn damit beginnt es, „aus seinem Versenktsein in die Außenwelt sich in sich zu reflektiren“ (ebd.). Äußert sich die kindliche Selbsterfassung als Ich, dem das Streben nach selbstständigem Stehen und aufrechtem Gang, nach artikuliertem Ausdruck und Sprachkompetenz etc. vorherging, zunächst dadurch, „daß das Kind mit den sinnlichen Dingen spielen lernt“ (ebd.), tritt im Verlauf des Knabenalters an die Stelle des Spielens immer mehr ein ernsthaftes Lernen, welches durch die „Nachahmungssucht der Kinder“ (ebd.) und ihren Wunsch angestachelt wird, groß und den Großen gleich zu werden. Sucht die Schule „den Uebergang aus der Familie in die bürgerliche Gesellschaft“ (GW 25/2, 978) institutionell und kontinuierlich zu vermitteln, so setzt der Jüngling, in dem sich „beim Eintritt der Pubertät das Leben der Gattung … zu regen und Befriedigung zu suchen beginnt“ (ebd.), in der Regel auf Diskontinuität, um den familiären Hort schleunigst hinter sich zu lassen. Die Träume unschuldiger Kindheit sind ihm vergangen. Angesichts des zukünftigen Neuen steht für ihn das Alte seiner Herkunft nur noch bedingt in Geltung. Stark ist der Drang zu revolutionärer Umgestaltung traditioneller Verhältnisse, in denen er sich nicht nur nicht erkannt, sondern permanent verkannt fühlt. Als Durchgangsstadium auf dem Weg zum Erwachsenwerden und als Mittel, sich seiner Eigenständigkeit zu versichern, ist die Abkehr von allem Bisherigen für die Entwicklung des Heranwachsenden notwendig und unverzichtbar. Zur komischen Figur hingegen degeneriert, wer sich als Dauerpubertierender gebärdet. Mag anfangs auch „dem Jünglinge der Uebergang aus seinem idealen Leben in die bürgerliche Gesellschaft als ein schmerzhafter Uebergang in’s Philisterleben erscheinen“ (GW 25/2, 679), so führt daran doch kein vernünftiger Weg vorbei. Der prinzipielle Widerwille gegen die Realität ist aufzugeben, und die Aufgabe entschlossen zu ergreifen, Wirklichkeit durch Denken und Tun vernünftig zu gestalten. „In dieser erhaltenden Hervorbringung und Weiterführung der Welt besteht die Arbeit des Mannes.“ (GW 25/2, 980) Führt dieser das ihm aufgetragene bzw. von ihm übernommene Geschäft mit verlässlicher Regelmäßigkeit aus, wird es ihm zur Gewohnheit, und er gewinnt eine Festigkeit, die ihn zum Meister seines Faches werden lässt. Zugleich kündigt sich im „vollendete(n) Ausgebildetseyn seiner Thätigkeit“ (GW 25/2, 981) bereits der Anfang vom Ende nicht nur seines Berufslebens, sondern des Lebens insgesamt an. „So wird der Mann durch die Gewohnheit des geistigen Lebens ebenso, wie durch das Sichabstumpfen der Thätigkeit seines physischen Organismus, zum Greise.“ (Ebd.) Der alt gewordene Mensch „lebt ohne bestimmtes Interesse, da er die Hoffnung, früher gehegte Ideale verwirklichen zu können, aufgegeben hat, und ihm die Zukunft überhaupt nichts Neues zu versprechen scheint, er vielmehr von Allem, was ihm etwa noch begegnen mag, schon das Allgemeine, Wesentliche zu

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kennen glaubt“ (ebd.). An die Stelle der Erwartung ist die Erinnerung getreten, und je mehr das aktuelle Gedächtnis nachlässt, desto wichtiger stellt sich das Andenken an längst Gewesenes dar. Bald wird das Greisenleben selbst nur noch gewesen sein. „So schließt sich der Verlauf der Lebensalter des Menschen zu einer durch den Begriff bestimmten Totalität von Veränderungen ab, die durch den Proceß der Gattung mit der Einzelnheit hervorgebracht wird.“ (GW 25/2, 982)6 Bleibt hinzuzufügen, dass Vergänglichkeit und zeitliches Vergehen nach Hegel nicht notwendigerweise als ein Sinndefizit zu bewerten sind. Gebühre schon der verblühenden und verduftenden Rose der Vorzug gegenüber dem vergleichsweise beständigen Stein, so gilt das umso mehr für den alternden Menschen: „Es ist“, heißt es in der Nachschrift Griesheim von 1825, „in dieser Rücksicht zu bemerken daß die Natur nicht hat, was wir eine Geschichte nennen, die Natur muß fertig sein wenn der Mensch auftritt, die Schöpfungsgährungen liegen jenseits, wenn sie fertig ist und zum Gegenständlichen gestaltet beginnt erst der Mensch, nur der Mensch, der Geist hat seine Geschichte. Der Geist ist nur das zu was er sich hervorbringt, sich selbst gegenständlich zu machen dieß ist seine That, dieß ist etwas was in die Zeit fällt, Geschichte, Fortschritt ist. Die Natur hingegen schreitet nicht fort, sofern der Mensch als geistig sich zu ihr verhält, sondern ihre Bewegung ist nur die objektive Wiederkehr dessen was schon gewesen ist. Die Natur ist deswegen im ganzen langweilig, nur der Geist ist die That. Wenn man vom Menschen spricht als einzelnen, so ist seine Geschichte für sich der Natur gegenüber, die keine Geschichte hat.“ (GW 25/1, 228) Zwar ist der Alterungsprozess des Menschen nur ein Moment seiner Lebensgeschichte und zwar ein natürliches, das biographisch aufzuheben und ins Geistige zu überführen ist. Aber wo dies geschieht, kann nachgerade dem Greisenalter eine Vorzugsstellung im menschlichen Lebenslauf nicht abgestritten werden. Geschlechtsverhältnis Als Lebewesen und Repräsentant des Menschengeschlechts hat jeder ungeachtet seiner Besonderheit am Verlauf der Lebenszeit und an einem Alterungspro6 Um das Gesagte unter Bezug auf die Nachschrift Stolzenberg vom Wintersemester 1827/28 zu wiederholen: „Der Greis lebt meist in der Erinnerung, wie Kind und Jüngling in der Hoffnung; und er lebt ohne lebendiges kräftiges Interesse; das Gedächtniß schwindet; die Einzelheiten interissiren ihn nicht mehr; die Allgemeinheit des Substantiellen ist ihm wesentlich. Das Alter predigt daher gern, gibt gute Lehren und moralisirt. Die lebendigkeit ist weg, weil dies eben darin bestand, daß der Mensch nicht befriedigt war. Haben nun seine Zwecke die befriedigung erlangt, oder hat er sie aufgegeben, so ist der Gegensatz von Interesse und Objectivirung des Interesses verschwunden und die Einheit der beschränkung der Gewohnheit ist eingetreten, und das ist die Unlebendigkeit in der der Greis zum Tode fortgeht.“ (GW 25/2, 629)

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zess teil, der naturgemäß im Tod endet, wann immer dieser im einzelnen Fall eintritt. Kommt das Individuum unter dem Gesichtspunkt der Lebensalter nur als Moment der gattungsgemäßen Allgemeinheit in Betracht, so sondert sich diese im Geschlechtsverhältnis, und die Gattung wird, wie Hegel sagt, different und gespannt in sich selbst. Die Menschheit begegnet nämlich im Großen und Ganzen entweder männlich oder weiblich, wobei indes Mann und Frau zunächst nicht als Individuen von unverwechselbarer Einmaligkeit, sondern lediglich als Gattungsrepräsentanten in Erscheinung treten. Es gilt die Devise, dass es nicht Art menschlicher Gattungsnatur ist, in ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten und in ihm ihre vollkommene Befriedigung zu finden. Das natürliche Geschlechtsverhältnis ist auf Begattung und darauf angelegt, den mit der geschlechtlichen Differenz von Mann und Frau gesetzten Dual in triebhafter Vereinigung aufzuheben. Im Anschluss an Hegel zu reden: „Es ist an dem Menschen eine specifische bestimmtheit, die Spannung der Gattung an sich selbst, bestimmtheit als Differenz der Gattung an sich selbst. die Gattung ist besondert, gespannt in sich selbst als Gattung und so daß jede Seite des Gegensatzes die bestimmtheit eines eignen Individuums ausmacht, aber in seiner Individualität ist jedes entzweit gegen die Gattung und hat den Trieb seine Einseitigkeit aufzuheben und die Gattung hervorzubringen, sich zur Gattung zu machen, sich zu gatten.“ (GW 25/2, 629f.) Zwar ist der menschliche Gattungstrieb mit dem tierischen nicht unmittelbar gleichzusetzen. Doch ähnelt er ihm darin, dass für sein Begehren primär der Naturunterschied der Geschlechter von Interesse ist.7 Das jeweilige andere 7 Von seiner natürlichen Herkunft her und nach seiner Naturseite hin hat der Mensch am animalischen Trieb Anteil, der das Geschlechtsverhältnis und Gattungsverhalten entwickelter Tiere bestimmt. Indem sich zwei Einzelwesen verschiedenen Geschlechts − vom Sexualtrieb naturhaft zueinander getrieben − paaren und begatten, reproduzieren sie die Gattung und kompensieren auf lustvolle Weise die Todverfallenheit ihrer Individualität, indem sie gemeinsam ein neues individuelles Exemplar ihrer Gattung generieren. Bleibt das Gattungswesen im Tierreich unbegriffen und jedes Einzelexemplar bloßes Moment seiner Art, so nimmt das Geschlechts- und Gattungsverhalten des Menschen die Gestalt eines Sichverhaltens an, was eine Triebhemmung gewissermaßen zwangsläufig mit sich führt und zugleich den Grund darbietet für vielerlei humane Abweichungen von „natürlicher“ Sexualität. Bleiben Tiere dem Gattungsverhältnis untergeordnet, um ihren Trieben mit Notwendigkeit zu gehorchen, ist der Mensch dazu bestimmt, sein Triebleben zu beherrschen und frei zu gestalten. Statt der schlechten Unendlichkeit einer − durch beständigen Wechsel von Leben und Tod vorangetriebenen − Generationenfolge und einer − ihr entsprechenden − Sexualität zu frönen, die von Begierde zu Genuss jagt, um im Genuss nach Begierde zu schmachten, gehört es zum Wesen des Menschen, den tierisch-naturhaften Charakter des Geschlechtsverhältnisses zu transzendieren. Wie das zu geschehen hat, ist von Hegel unter vielen anthropologischen Aspekten in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts insbesondere unter dem Gesichtspunkt von Ehe und Familie entfaltet worden (vgl. im Detail: E. Bockenheimer, Hegels Familien- und Geschlechtertheorie [Hegel-Studien Beiheft 59], Hamburg 2013).

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Geschlecht wird im natürlichen Geschlechtsverhältnis des Menschen recht eigentlich nicht als besonderer Mann oder als besondere Frau, sondern als Mannheit oder Frauheit wahrgenommen. Allein als Gattungsrepräsentant wird der jeweils Einzelne zum Objekt der Begierde, die darauf aus ist, durch Begattung alle Besonderheiten aufzuheben, damit die Gattung durch das individuelle Enden hindurch fröhliche Urstände feiere und sich beständig reproduziere. Sex und Tod stehen in einem polaren Verhältnis zueinander und dienen durch Negation und Affirmation der natürlichen Regenerierung der Gattung.8 Der Gattungsakt, in dem sich das Geschlechtsverhältnis realisiert, wird signifikanterweise Beischlaf genannt. In seinem Vollzug ist die Menschenseele darauf aus, sich im Leiblichen aufzulösen und in die Nacht der Natur zurückzuversinken, aus der sie herkam. „Der Schlaf ist der Zustand des Versunkensseyn der Seele in ihre unterschiedslose Einheit“ (GW 25/2, 983), wohingegen im seelischen Erwachen „eine nicht bloß einfache, vielmehr durch den Gegensatz vermittelte Beziehung der Seele auf sich“ (GW 25/2, 982) statthat. In ihrem Erwachen findet die Seele zu sich und wird auf rudimentäre Weise des Unterschieds ihrer selbst zu demjenigen gewahr, was sie nicht unmittelbar ist. Allerdings ist jenes anfängliche Zusichfinden der Seele in Abgrenzung gegenüber einer ihr entgegengesetzten Welt ein „noch ganz unbestimmte(s) Geschehen“ (GW 25/2, 983) ohne klare Kontur. Es ist am ehesten mit einem im ständigen Übergang von Schlafen und Wachen begriffenen seelischen Dämmerzustand oder dem Traumleben der Seele zu vergleichen, in welchem die Grenzen zwischen Selbst und Welt verfließen und noch nicht verständig bestimmt sind, so dass die auftretenden Vorstellungen sich im Nebulösen verflüchtigen. Im Schlaf ist die Seele allen differenten Eindrücken, welche ihre Umwelt im Wachen auf sie macht, entzogen und ganz in eine unterschiedslose Einheit versenkt, in deren Indifferenz Selbst und Welt zusammenfallen. Die schlafende Seele unterscheidet „sich weder in sich selbst noch von der Außenwelt“ (GW 25/2, 985). Um einschlafen zu können, sollte man sich daher am besten in die Horizontale begeben, ruhig daliegen und unaufgeregt atmen, die Augen und die Ohren schließen und möglichst an nichts oder an etwas Langweiliges bzw. an etwas denken, das sich stereotyp wiederholt. Beständige Wiederholung abstrahiert von aller Novität und macht daher schläfrig. „So kann die einförmige Bewegung des Wiegens, eintöniges Singen, das Gemurmel eines

8 Um nicht unnötig zu provozieren, sei übergangen, was Hegel über die sog. natürlichen Charaktereigenschaften von Mann und Frau und ihr geschlechtsspezifisches Naturell ausführt. Interessenten seien z. B. auf GW 25/2, 631ff. verwiesen, wo es u. a. heißt: „Staat Wissenschaft hohes Kunstwerk zu dem Allen gehört eine Idee, ein Allgemeines in der Phantasie zu bilden, das kann die Frau nicht − Homer, Sophocles, Raphael, Mozart Gluck waren Männer.“ (GW 25/2, 632f.) Kostproben dieser Art ließen sich viele geben.

Seelisches Empfinden und Fühlen

Baches Schläfrigkeit in uns hervorbringen. Dieselbe Wirkung entsteht durch die Faselei, durch unzusammenhängende, gehaltlose Erzählungen.“ (Ebd.)9 6.2

Seelisches Empfinden und Fühlen

Napoleon soll bei Gelegenheit versucht haben, Philosophen mit der Vexierfrage aufs Glatteis zu führen, „wie Schlaf und Wachen unterschieden“ (GW 25/1, 269; vgl. GW 25/2, 639) seien. Nach Hegels Urteil hat er mit der Art seiner Fragestellung „die Sache vernichtet“ (ebd.) und eine angemessene Antwort von vorneherein unmöglich gemacht. Warum? Weil die Frage unbedacht gestellt ist bzw. nicht bedenkt, sondern stillschweigend verschleiert, dass ein Unterschied von Wachen und Schlafen nur im Wachen, aber nicht im Schlafen zu treffen ist, dessen Indifferenz den eigentlichen Unterschied zur Differenziertheit des Wachbewusstseins bzw. des wachen Empfindens ausmacht. Schlafende können beim Schlafen fremdbeobachtet werden. Zur Selbstbeobachtung sind sie nicht fähig, und auch ein Traum bietet die Möglichkeit konturierter Wahrnehmung von Ich und Welt allenfalls ansatzweise und im Modus des Ahnens. Schlafen und Wachen Was Schlaf als Schlaf ist, können wir nicht wissen, weil der, welcher allein es wissen könnte, kein Bewusstsein davon hat, sofern er schläft. Mit Hegel zu reden: „Bei dem psychologischen Unterschied von Schlaf und Wachen kommen wir in die Verlegenheit, daß, wenn wir bestimmt davon sprechen wollen, wir das Bewußtsein voraussetzen, oder von Verhältnissen sprechen müssen die erst mit dem Bewußtsein, der Vorstellung gesetzt sind, wir müssen also anticipiren daß wir wissen was Bewußtsein und Vorstellung ist.“ (GW 25/1, 267) Indes darf der Vollzug dieser Antizipation nicht vergessen lassen, dass sich das bewusstlose bzw. vor- oder unterbewusste Seelenleben dem Bewusstsein entzieht, wovon 9 Eigens erwähnt wird von Hegel das Beispiel Jean Pauls, der seine Kinder allabendlich einzuschläfern suchte, „indem er ihnen einen tollen Roman vor macht, ohne allen Zusammenhang, Bilder ohne Verstand, Zufälligkeiten, an diesen Bildern die so sind wie die des Traumes geht er fort, macht man sich da hinein, so giebt man seine Besonnenheit mit Willen auf und bringt sich so zum Schlaf. Kinder kann man leicht so unterhalten und einschläfern. Man kann dieß so an sich beobachten, kann ein doppeltes, ein waches und ein schlafendes Bewußtsein haben und so dem Taumel so zu sagen zu sehen.“ (GW 25/1, 277) Anlass zu ähnlichen Beobachtungen können nach Hegel Situationen geben, in denen der Unterschied zwischen Wachen und Schlafen verschwimmt und nicht eindeutig zu sagen ist, ob man wacht oder träumt. Methodisch sind diese Hinweise insofern interessant, als sie die Aufforderung an das Bewusstsein enthalten, sich in die Nähe der Bewusstlosigkeit zu begeben, um erheben zu können, was es mit dem Un-, Unter- und Vorbewussten auf sich hat.

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am ehesten der alltägliche Vorgang des Einschlafens und des Dahindämmerns eine approximative Vorstellung vermittelt, wenn man den Vorstellungsbegriff hier überhaupt verwenden will. Aufschlussreich ist, dass der Schlaf in jedem Fall sowohl von der körperlichen als auch von der geistig-seelischen Seite her eintritt, um mit erfolgtem Eintritt beider Differenz zum Verschwinden zu bringen. „Der Schlaf kann kommen aus der Schwäche des Geistes, wie auch aus der Ermüdung des Körpers.“ (GW 25/1, 270) Wenn er aber kommt, vereinigt er beide, um offenbar gerade so den ermüdeten Körper zu stärken und die Geistesschwäche auf natürliche Weise zu beheben. Erst wenn wir erwachen, werden wir dessen allmählich gewahr, wobei es sich beim ersten Empfinden, mit Hegel zu reden, erst „um das bloße abstracte Finden ohne concrete Bestimmung“ (GW 25/1, 42) handelt. Erwachen ist ein evidentes, nicht falsifizierbares Indiz dafür, dass das Leben von Leib und Seele des Menschen im Schlafe fortdauert, wenngleich auf un-, vor- bzw. unterbewusste Weise und so, dass die willensbedingten Aktivitäten des Körpers ruhen. Zwar bleiben Atmung, Herztätigkeit, Blutkreislauf, Verdauung und einige sonstige Organfunktionen in Gang; andere Leibvollzüge hingegen kommen zum Stillstand − sieht man einmal vom Schlafwandeln, das Hegels besonderes Interesse auf sich zog, und vergleichbaren Abnormitäten ab. Auch die leibhafte Gegenstandswelt ist, wie es scheint, im Schlafe abhanden gekommen. Zwar meldet sie sich im Traum bei der Seele zurück, aber auf eine vom seelischen Selbst nicht klar unterscheidbare, vielfach unzusammenhängende, nur assoziativ verknüpfte und kategorial unbestimmte Weise. Erst im Erwachen kommt das menschliche Seelenleben zu sich, um sich zugleich leibhaft in der Welt einzufinden und eine erste Empfindung davon zu hegen, was der Fall ist. Unmittelbares Empfinden Das ursprüngliche Empfinden besteht in einem unmittelbaren Innesein der Differenz von Innen und Außen.10 „Indem wir erwachen, finden wir uns zunächst in einem ganz unbestimmten Unterschiedenseyn von der Außenwelt 10 Die Seele, wie sie leibt und lebt, ist in der Empfindung zwar irgendwie ihrer selbst und des Unterschieds zu dem inne, was sie nicht unmittelbar selbst ist, aber auf ganz rudimentäre Weise. Die empfindende Seele „ist noch nicht fähig, sich irgendetwas ‚vom Leibe zu halten‘, sich von einem Eindruck oder einem psychosomatischen Zustand zu distanzieren“ (L. Siep, Leiblichkeit, Selbstgefühl und Personalität in Hegels Philosophie des Geistes, in: L. Eley [Hg.], Hegels Theorie des subjektiven Geistes in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, 203–226, hier: 209). Dass das erste Empfinden eher einem tastenden Finden gleicht als einer entwickelten Empfindung, kann jeder selbst am alltäglichen Erwachen nacherleben: „Im Erwachen finden wir erst uns und die Gegenstände, empfinden noch nicht, noch weniger ist es Bewußtsein. In Rücksicht auf das Empfinden findet näher dieser Unterschied statt, beim Erwachen finden wir Gegenstände,

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überhaupt. Erst, wenn wir anfangen zu empfinden, wird dieser Unterschied zu einem bestimmten.“ (GW 25/2, 989) Die primäre Empfindung hat „die Form des dumpfen Webens des Geistes in seiner bewußt- und verstandlosen Individualität“ (WW X, 122f.). Sie ist die unmittelbarste Weise sinnlicher Rührung, ohne bereits durch distinkte und spezifische Sinne vermittelt zu sein. Als „schlechteste Form des Geistes“ (GW 20, 396) ist die Empfindung noch nicht zu jenem Gefühl vorgedrungen, in welchem die Seele wahrhaft ihrer selbst und ihrer wirklichen Einheit mit ihrem Leibe im Unterschied zur sonstigen Welt gewahr geworden ist. Damit es dazu komme, bedarf es der sinnlichen Differenzierung der Grundempfindung mittels der fünf Sinne von Sehen und Hören, Schmecken und Riechen sowie von taktilem Fühlen. Sinnlich vermitteltes Empfinden Hegels Theorie der Sinnlichkeit im Allgemeinen und der fünf Sinne im Besonderen zeichnet sich durch ihre zugleich psychologische und physiologische Anlage aus. Um sehen zu können, bedarf es der Augen, um hören zu können der Ohren, zur Kompetenz des Riechens und Schmeckens spezifischer Riechund Schmeckorgane sowie taktiler Ausstattungen, um zum Berührungsempfinden fähig zu sein. Doch macht das Auge noch kein Gesicht, das Ohr kein Gehör etc. Eine bestimmte Schau und ein reales Hörerlebnis usf. stellen sich erst unter den Bedingungen psychophysischen Zusammenwirkens ein, wobei unter den Bedingungen bloßen Empfindens erstens die Differenz der fünf Sinne in ihrer Unterschiedenheit und zweitens die Einheitlichkeit ihres konkreten Zusammenwirkens unklar bleibt. Die bloße Empfindung hat, wenn man so will, noch kein wirkliches Gefühl dafür entwickelt, wie die pluralen Sinne des Leibes mit dem Seelischen zu vereinbaren sind. Dies muss bedacht sein, wenn es in Bezug auf äußeres und inneres Empfinden sowie die vorbewusste Beziehung beider nicht vorweg zu Fehlurteilen kommen soll. „Wir sind gewohnt nach unserer Reflexion so zu sprechen, es sind äusserliche Dinge vorhanden, sie machen einen Eindruck auf uns, so empfinden wir sie. Aber ein solcher Unterschied, solche äusserlichen Gegenstände, solche Gegensätze sind hier noch nicht vorhanden, sie gehören dem Bewußtsein an, und wir haben es hier nur mit dem Natürlichen zu thun, nicht mit Objekten, Dingen pp.“ (GW 25/1, 288)

aber empfinden sie nicht, wir fragen: wache ich oder träume ich? man weiß es nicht, man fühlt, faßt sich an, ob man sich empfindet, ob man Gegenstände empfindet, man untersucht ob man für sich ist, dieß ist der Fortgang zur Empfindung, das Erwachen aber ist noch nicht dieser Fortgang, beim Erwachen ist erst das Verhältniß daß Anderes für mich ist, aber daß das Subjekt, die individuelle Seele seiner sich nicht vergewissert hat, diese Vergewisserung ist erst die Empfindung.“ (GW 25/1, 263f.)

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Es wäre interessant, Hegels Empfindungslehre sowie seine Theorie der fünf Sinne und ihrer differenzierten Einheit im Einzelnen zu entfalten. Doch muss die Feststellung genügen, dass er die Sinne des Menschen in drei Klassen unterteilt, nämlich diejenige der physischen Idealität, der Sehen und Hören, derjenigen realer Differenz, der Geruch und Geschmack, sowie derjenigen, der das Gefühl als der, wie es heißt, „Sinn der concreten Totalität“ (GW 25/2, 992) zugeordnet wird. Das Gefühl als der eine und einzige Sinn, den die dritte Sinnlichkeitsklasse enthält, ist Hegel zufolge von allen Sinnen der konkreteste, sofern recht eigentlich erst mittels des Tastsinns „ein für sich bestehendes Anderes“ (GW 25/2, 994) der Seele leibhaft präsent wird.11 Bleibt hinzuzufügen, dass das natürliche Leben seelischer Empfindung in sinnlicher Hinsicht nicht nur qualitativ, nämlich durch verschiedene Sinne, sondern auch quantitativ, nämlich durch Stärke und Schwäche des jeweiligen sinnlichen Eindrucks bestimmt ist. Dieser muss ein bestimmtes Maß einhalten, um überhaupt wahrgenommen werden zu können. Zu ergänzen ist weiterhin, dass sich die Äußerlichkeit leiblicher Sinneswahrnehmungen vom inneren Seelenleben nicht trennen lässt, weil

11 Ausführlicher dargestellt ist Hegels Theorie der fünf äußerlichen Sinne etwa in GW 25/1, 53ff. Im Gesicht lichtet sich der Raum, um im Gehör gezeitigt zu werden. Geruch und Geschmack sind Sinne des ineinander verfließenden Raumzeitlichen, wohingegen das Gefühl als „Getaste“ (GW 25/1, 55) dem Unterschied zwischen äußerem und innerem Empfinden erstmals eine gewisse Stabilität verleiht. Das Gefühl tastet sich, wenn man so will, an die Differenz von Selbst und Welt heran, wodurch die Welt die Form gegenständlicher Materialität annimmt. Vgl. ferner GW 25/2, 655ff.: Das Gesicht als „Sinn des … physikalischen Raums“ (GW 25/2, 657) und das Gehör als „Sinn der physikalischen Zeit“ (ebd.) gelten Hegel als empfindungslos, weil Sehen und Hören ohne Innewerden dessen stattfinden, dass gesehen und gehört wird. Im Riechen und Schmecken sei dies bereits anders, bis sich im Tastsinn des Gefühls ein echtes Empfinden einstellt: „da fühlen wir den Gegenstand als ein für sich seiendes und uns dagegen auch als ein für uns seiendes; sie (sc. die „Dinge“) leisten uns, wir ihnen Gegenstand.“ (GW 25/2, 660) Mit dem durch den Tastsinn zum Gefühl entwickelten Empfinden ist unmittelbar die Wahrnehmung des Unterschieds von Angenehmem und Unangenehmem verbunden (vgl. GW 21/2, 661). Sie erfolgt präreflexiv. Um Schmerz oder Lust zu empfinden, bedarf es keiner Überlegung. Schmerz und Lust können mithin auch nicht reflexiv in Frage gestellt werden. Ihr Empfinden ist auf nicht falsifizierbare Weise evident. Von außen her umschreiben lässt sich die Differenz von angenehmer und unangenehmer Empfindung etwa folgendermaßen: Angenehme Empfindungen bestehen in einem unmittelbaren Innesein der Innen-Außen-Differenz unter der Dominanz des Inneren; im Unangenehmen dominiert das Äußere, das mithin als widrig empfunden wird. Anzumerken ist abschließend, dass sich Hegel auf keine festgelegte Gliederung der fünf Sinne fixiert und ihre Zuordnung variabel gestaltet. Er kann beispielsweise das Gefühl mit dem Sehen verbinden und das Hören an die letzte und abschließende Stelle setzen (vgl. GW 25/1, 289ff.). Auch verdient es bemerkt zu werden, dass Hegel dem Begriff der Sinne weniger denjenigen der Sinnlichkeit, als den des Sinnens und Sinnierens zuordnet. Vgl. dazu die Bemerkungen über den sinnigen Menschen in GW 25/1, 293ff., in dem „die Vernunft instinktartig thätig ist“ (GW 25/1, 293).

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sinnlicher Außeneindruck und inneres Sinnesempfinden in aller Unterschiedenheit eins sind. Lachen und Weinen Außen- und Innensphäre des Empfindens bilden in allen Dimensionen der Sinnlichkeit eine differenzierte Einheit, die aber in ihrer Einheitlichkeit noch nicht zu Bewusstsein kommt, sondern vorbewusst bleibt. Exemplifiziert wird dies an Farbeindrücken, Tönungen etc., die eine bestimmte Stimmung hervorrufen bzw. durch sie hervorgerufen werden. Entäußerungen des inneren Gestimmtseins der vorbewussten Seele finden in unwillkürlichen Vollzügen wie des Lachens, des Weinens oder in vergleichbaren „Verleiblichungen des Geistigen“ (GW 25/2, 1001) statt.12 Während sich im Lachen „die zum ungetrübten Genuß ihrer selbst gelangende Subjektivität“ (GW 25/2, 1002) leiblich äußert bzw. entäußert, ist Weinen ein Ausdruck der Betrübnis und des Schmerzes − es sei denn, man weint vor Lachen. In beiden Fällen, sowohl des Lachens als auch des Weinens, tragen die vergossenen Tränen zur Lösung der sie veranlassenden Spannung bei, wodurch der psychosomatische Zusammenhang von seelischem Befinden und leiblicher Verfassung aufs Deutlichste veranschaulicht wird. Dass es die Augen sind, aus denen die Tränen fließen, damit durch ein Wasserlassen der höheren Art Seelenschmerzen bzw. -freuden sich entspannen, liegt nach Hegel darin begründet, dass das Gesicht sowohl Primärorgan äußeren Empfindens als auch derjenige Ort ist, „an welchem sich die Seele auf die einfachste Weise offenbart, da der Ausdruck des Auges das flüchtige, gleichsam hingehauchte Gemälde der Seele darstellt; − weßhalb eben die Menschen, um sich gegenseitig zu erkennen, einander zuerst in die Augen sehen.“ (GW 25/2, 1003) Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass sich das natürliche Seelenleben des Menschen auch durch Erzeugung von Tönen leiblichen Ausdruck und unmittelbares Gehör verschafft wie durch den Schmerzensschrei oder das ungebremste Jauchzen des Jubels. Bei Lautäußerungen dieser Art handelt es sich nicht um Verlautbarungen artikulierten Sprechens, sondern um unwillkürliche und vorbewusste Äußerungen, in denen innere Empfindungen gewissermaßen präverbal zu Worte kommen. Förmliches Sprechen und die Ausbildung von Wörtern und Sätzen hingegen setzen zumindest virtuell „die Energie der Intelligenz und des Willens“ (GW 25/2, 1004) voraus. Entsprechend gibt es neben den unwillkürlichen und vorbewussten willentlich und bewusst zum Einsatz 12 Hinweise auf Verleiblichungen von Geistigem enthalten zahlreiche Redewendungen, die davon sprechen, dass etwas an die Nieren geht, auf den Magen schlägt oder die Haare zu Berge stehen lässt. Man erblasst vor Furcht, während Scham und Freude zum Erröten bringen. Auch die explizite Sprache der Empfindung ist noch nicht spezifisch artikuliert, ohne doch dadurch ihre eigentümliche Bedeutung einzubüßen. Dies zeigt sich am Lachen und am Weinen, aber auch am „Gähnen, Aechzen, Schluchzen“ (GW 25/1, 299).

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gebrachte Formen beispielsweise des Lachens wie etwa das feine Lächeln, das Schmunzeln oder aber das Auslachen durch Hohngelächter. Schwerer fällt es, bewusst und willkürlich zu weinen, wenngleich es auch hierzu die Möglichkeit gibt, deren Realisierung allerdings die Frage hervorruft, ob die vergossenen Tränen echt sind. Im Stadium bloßer Empfindung bleibt das Leben der Menschenseele noch weitgehend naturverhaftet; ihr Leibverhältnis ist noch nicht in sich reflektiert, sondern von vorbewusster und unwillkürlicher Unmittelbarkeit. Die natürliche Seele, wie Hegel sie nennt, hat noch kein klares und beständiges Gefühl ihrer selbst im differenzierten Zusammenhang mit ihrem Leib und der leibhaften Welt entwickelt, wie sie sinnlich präsent ist. Sie befindet sich in einem Dämmerzustand, in welchem Licht und Finsternis, Wachen und Schlafen noch nicht eindeutig geschieden sind. Diese Ambivalenz wird erst durch die fühlende Seele behoben, deren Entwicklungsstatus nicht mehr derjenige einer vermittlungslosen, sondern einer vermittelten Unmittelbarkeit ist. Das natürliche Seelenleben tritt aus der Naturallgemeinheit heraus und besondert sich allem bloß Natürlichen gegenüber, ohne bereits zu entwickeltem Welt- und Selbstbewusstsein zu gelangen. Verrücktheit Um sich von ihrer unmittelbaren Naturbestimmtheit zu emanzipieren und aus der Dumpfheit bloßen Empfindens herauszuentwickeln, muss die Menschenseele sich gegen ihre ursprüngliche Natur wenden und, wenn man so will, in den Status der Verrücktheit eintreten. Was ist damit gemeint? Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der Erstauflage der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“, näherhin auf die Gliederung des dem Seelenleben gewidmeten Teiles der Philosophie des subjektiven Geistes kann die nötige Klarheit verschaffen. In dem, was Hegel Empfindung nennt, wird die natürliche Seele erstmals dessen inne, was sie ist, jedoch auf lediglich rudimentäre Weise und so, dass ihre Naturbestimmtheit erst ansatzweise überwunden ist. Um aus der naturhaften Dumpfheit bloßen Empfindens herauszutreten und zu echtem Fühlen zu gelangen, muss es, wie es in der Überschrift der einschlägigen Passagen in der Enzyklopädie von 1817 heißt, zum „Gegensatz der subjectiven Seele gegen ihre Substanzialität“ (GW 13,188) kommen. Nur mittels dieses Gegensatzes und durch die Verrückung des Standpunkts, die er mit sich bringt, wird die empfindende zur fühlenden Seele, um schließlich ihren Begriff zu realisieren und zu entwickelter psychosomatischer Differenzeinheit zu gelangen. Die Menschenseele muss gleichsam verrückt werden und sich von ihrer Natürlichkeit entfremden, um die ihr eigentümliche Realität anzunehmen. Zur Illustration sei vermerkt, was Hegel über die infantile Herkunftsgeschichte des

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einzelnen Menschen und des Menschengeschlechts ausführt. Der vermeintlich paradiesische Urzustand der Natur muss verlassen und pubertär oder wie auch immer gebrochen werden, damit der Einzelne und die Menschheit erwachsen werden. Rousseau und jedem Naturburschen ist mitsamt seiner vermeintlichen Unschuld vom Lande der Abschied zu geben, auch wenn dies in den schmerzlichen Zustand der Entfremdung, der Zerrüttung, ja der Verrücktheit führt. Verrücktheit ist nach Hegel „eine notwendige Stufe in der Entwicklung der Seele“13 und „weniger ein pathologischer Zustand“14 , zu dem sie erst wird, wenn der Geist auf ihrer Stufe stehen bleibt bzw. auf sie regrediert. Von der bloßen Empfindung zum Fühlen Was die Momente des Entwicklungsprozesses anbelangt, der von der empfindenden zur wirklichen Seele hinführt, so werden sie in der Zweit-und Drittauflage der Enzyklopädie in Zwischenüberschriften explizit benannt. Die Ausgabe von 1827 umschreibt den ersten von drei Entwicklungsschritten mit der Wendung „Die passive Totalität der Individualität“ (GW 19, 304), die Ausgabe von 1830 spricht von der fühlenden Seele in ihrer Unmittelbarkeit (vgl. GW 20,403). Die nächsten beiden Prozessmomente werden sodann gleichlautend als Selbstgefühl und Gewohnheit bestimmt. In der Drittauflage geschieht dies unter der Gesamtüberschrift „Die fühlende Seele“ (GW 20, 401), in der Zweitauflage unter dem Titel „Die träumende Seele“ (SW 19, 302). Übereinstimmung herrscht, dass die Seele aus dem Status bloß formellen Für-sich-Seins, wie es sich im träumerischen Ahnen manifestiert, heraustreten und den primitiven Zauber magischer Verhältnisse (vgl. 13, 188) brechen muss, um zu Selbstgefühl und durch Gewohnheit dahin zu kommen, wirkliche Seele in realer Leibhaftigkeit zu sein. Ver-rücktheit tut not; die Seele muss sich im Gegensatz zu ihrer naturhaften Substanzialität begeben, um zu werden, was sie ihrem Wesensbegriff gemäß zu sein bestimmt ist. Um die Entwicklungsmomente der träumenden bzw. fühlenden Seele in ihrem Gegensatz zu jener naturbestimmten Substanzialität, bei der ihr Leben seinen Anfang nahm, im Einzelnen zu entfalten und beim ersten zu beginnen: Im Gefühl, das der subjektive Geist in vermittelter Unmittelbarkeit hegt, sind alle unmittelbaren Empfindungen aufgehoben und dergestalt verinnerlicht, dass die Seele aller äußeren Bestimmtheiten als Bestimmungen ihrer selbst inne wird, jedoch nur ahnungsweise und noch nicht in Form bewusster Erinnerung. Zwar hat die fühlende Seele eine Ahnung von dem Selbst-Welt-Verhältnis, 13 A. Masullo, Das Unbewusste in Hegels Philosophie des subjektiven Geistes, in: D. Henrich (Hg.), Hegels philosophische Psychologie (Hegel-Studien Beiheift 19), Bonn 1979, 27–63, hier: 58. 14 Ebd.

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welches das bewusste Leben kennzeichnen wird. Aber sie ahnt nur, was auf sie zukommt, ohne bereits über ein distinktes Bewusstsein von Selbst und Welt zu verfügen, wozu sie erst im Laufe ihrer Entwicklung gelangt. Hegel beschreibt den Entwicklungsverlauf vom Gefühl zum Bewusstsein als einen „Befreiungskampf, welchen die Seele gegen die Unmittelbarkeit ihres substanziellen Inhalts durchzufechten hat, um ihrer selbst vollkommen mächtig und ihrem Begriff entsprechend zu werden, − um sich zu Dem zu machen, was sie an sich oder ihrem Begriffe nach ist, nämlich zu der im Ich existirenden sich auf sich beziehenden einfachen Subjektivität“ (GW 25/2, 1008f.). Gefühlsunmittelbarkeit Auf der Anfangsstufe ihrer Entwicklung befindet sich die fühlende Seele in einem noch gänzlich unbefangenen Verhältnis zu sich und zu ihrem Gefühl, das ihr in ungebrochener Unmittelbarkeit präsent ist. Kennzeichnend für ihre Unbefangenheit ist der naive Umgang, den die fühlende Seele mit ihrem Gefühl und dem in diesem Gefühlten pflegt. Die Einheit von Subjekt und Objekt, Selbst und Welt wird mehr oder minder fraglos vorausgesetzt. Zwar ahnt die fühlende Seele, dass es bei ihrer ahnungslosen Naivität nicht bleiben kann. Doch muss sie erst in Widerspruch mit sich selbst geraten, um über ihre Unmittelbarkeit hinaus zu manifestem Selbstgefühl zu gelangen. Bis dahin verbleibt sie in einem gleichsam magischen Zustand, wie Hegel es nennt. Vergegenwärtigen kann man sich die Magie unmittelbaren Fühlens durch Erinnerung beispielsweise an vergangene Kindertage, deren Vergangenheit indes ein prinzipielles Indiz dafür ist, dass die Kindheit des subjektiven Geistes vergehen muss. Wer als Erwachsener kindlich sein und bleiben will, wird kindisch werden. Dies will als Gleichnis dafür verstanden sein, dass die fühlende Seele notwendig dazu bestimmt ist, zu vergehen bzw. aufgehoben zu werden in eine höhere Geistesgegenwart, nämlich diejenige des Bewusstseins.15 15 In seinen Betrachtungen zum fühlenden Subjekt in seiner Unmittelbarkeit (vgl. GW 25/1, 309ff.) bietet Hegel manches, was skurril anmuten mag, etwa eine elaborierte Theorie von Visionen, in denen Dinge gesehen werden, denen nichts in der gegenständlichen Erfahrungswelt korrespondiert. „Nicolai, dieser berühmte Buchhändler und Gelehrte und der Kriegsrath Scheffner haben dergleichen Visionen gehabt bei wachen Sinnen und sie beschrieben, sie haben Gegenstände vor Augen gehabt und zugleich das Bewußtsein daß sie nur Phantome sind; in Ansehung des Sehens konnten sie diesen Unterschied nicht machen, nur weil der Zusammenhang worin sich die Gegenstände befanden, ihrer Besonnenheit widersprach, sahen sie ihnen mit dem richtigen Bewußtsein daß es nur Erscheinungen wären gelassen zu. Die Einbildung hat innerlich etwas vor sich, es ist ein Moment der Leiblichkeit darin und die Krankheit kann so weit fortgehen daß sie förmliches Sehen wird, die Leiblichkeit hat hier zu wenig Kräftigkeit um sich dieser bloßen Einbildung zu verweigern, es sind Bilder die nicht als subjektive Vorstellungen erhalten werden, eine Unmacht der Leiblichkeit die sich nicht in der Vorstellung halten kann, daß es nur Bilder sind, die so fortgeht zum Sehen.“ (GW 25/1,

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Der Prozess allmählichen Bewusstwerdens der fühlenden Seele gleicht Hegel zufolge einer Paradiesvertreibung. Dem Mutterleib entnommen und aus dem Traumland ungebrochener Natürlichkeit vertrieben, zu der sie sich wie ein Akzidenz zur Substanz verhielt (vgl. GW 25/2, 677), entfremdet sich die fühlende Seele zuletzt auch fortschreitend von dem, was Hegel ihren Genius nennt. Von ihm wird die fühlende Seele im Status ihrer anfänglichen Unmittelbarkeit auf eine Weise bestimmt, die „mit der Abhängigkeit des Fötus von der Seele der Mutter, oder mit der passiven Art verglichen werden kann, wie im Träumen die Seele zur Vorstellung ihrer individuellen Welt gelangt“ (GW 25/2, 1014f.). Auch mit der sprichwörtlichen Unschuld vom Lande oder dem bereits erwähnten Naturburschen ließe sich die mit ihrem Genius ungebrochen einige Seele vergleichen, würden die ironischen Implikationen dieses Vergleichs nicht bereits auf ein seelisches Entwicklungsstadium vorausweisen, dem die natürliche Unschuld abhanden gekommen ist und zwar gründlich. Der Verlust ihrer Unmittelbarkeit schmerzt die natürliche Seele zutiefst und bringt sie in Widerspruch zu ihrer ursprünglichen Natürlichkeit, aus der sie herausfällt und zwar in einen Abgrund hinein, wie er bodenloser nicht sein könnte. Es ist zum Verrücktwerden. Tatsächlich kann Hegel diejenige Entwicklungsstufe der fühlenden Seele, die sie aus ihrer Unmittelbarkeit herausführt, den „Standpunkt der Verrücktheit“ (GW 25/2, 1009) nennen. Als Durchgangsmoment hin zu seelischem Selbstgefühl notwendig nimmt besagter Standpunkt krankhafte Formen an, wenn die Seele auf ihm unbewusst und unwillkürlich insistiert, um sich in ihm einzuhausen: „(D)er Mensch bleibt in der Verrücktheit in einem ungesunden Zustand der Entzweiung fixirt. Der Verrückte will Besondres in dieser Neigung, kehrt nicht zurück in die Totalität seines Selbstgefühls.“ (GW 25/2, 706) Hegels Theorie der Seelen- bzw. Geisteskrankheiten gehört in diesen 326f.; vgl. zur Erläuterung GW 25/3, 1263ff. u. 1388ff.) Zu dem, „was man in Schottland das zweite Gesicht, Second-sight nennt“ (GW 25/1, 331: „auch in Westphalen hat es oft Individuen gegeben und giebt ihrer noch die das gehabt haben“), vgl. GW 25/1, 331f., zur Todesahnung des 1768 in Triest ermordeten Archäologen Johann Joachim Winckelmann vgl. GW 25/1, 332; dazu GW 25/3, 1395f. Bemerkenswert ist, dass Hegel mit latenten Wissensbeständen rechnet, von denen wir kein Bewusstsein haben: „Es ist also der Fall daß so etwas gewußt wird, wovon wir nichts wissen nach der verständigen Weise des Bewußtseins. Man kann fragen haben wir solche Kenntnisse oder haben wir sie nicht, wir haben sie, sie sind niedergelegt in den Schacht unseres Innern, aber wir haben sie auch nicht indem wir nicht Meister darüber sind. Dieß ist hier der Fall, es ist dergleichen nicht in der Gewalt meines Bewußtseins, es kommt aber zum Dasein ohne die Weise der Vermittelung in der ich Gewalt darüber habe. Die Erinnerungen der Jugendzeit die im Innersten geschlafen haben kommen so in Krankheiten wieder hervor. Durch Nervenfieber haben Menschen das Gedächtniß verloren die es erst nach körperlicher Kräftigung wieder erlangt. So wurde ein Knabe der von einem Schlag auf den Kopf blödsinnig geworden war, magnetisch kurirt, er erhielt Erinnerung wieder und thaute gleichsam auf.“ (GW 25/1, 328)

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Kontext. Das Entstehen psychischer Erkrankungen ist seinem Urteil zufolge durch naturhafte Selbstinsistenz der ihrer natürlichen Ursprünglichkeit entfremdeten Seele und dem dadurch bewirkten Entzug der Möglichkeit geistiger Fortentwicklung bedingt. Krankhaftes Selbstgefühl Die kranke Seele sitzt einem inneren Widerspruch auf, nimmt den Schein für das Wesen und gelangt so in ein geistwidriges Verhältnis zu sich selbst und zu ihrer Welt, was zwar nicht den Charakter der Schuld, wohl aber den eines fatalen Verhängnisses hat. Interessant ist, dass Hegel im gegebenen Zusammenhang ausdrücklich psychosomatisch argumentiert. Die Krankheit der Seele sei mit derjenigen des Leibes „nicht bloß zu vergleichen, sondern mehr oder weniger mit derselben verknüpft, weil bei dem Sichlosreißen des Seelenhaften vom Geiste, die dem letzteren sowohl als dem ersteren zur empirischen Existenz nothwendige Leiblichkeit sich an diese zwei außereinandertretenden Seiten vertheilt, sonach selber zu etwas in sich Getrenntem, also Krankhaftem wird“ (GW 25/2, 1016). Es sei Berufeneren überlassen, die mannigfaltigen Krankheitsformen und Gebrechen, die sich nach Hegel aus dem verhängnisvollen „Außeinandertreten des Seelenhaften und des objektiven Bewußtseyns“ (GW 25/2, 1017) ergeben, im Einzelnen zu untersuchen und zu beurteilen. Als „Hauptformen der Verrücktheit“ (GW 25/2, 1044) werden erstens sog. natürlicher Blödsinn bzw. Cretinismus, Zerstreutheit im Sinne von „Nichtwissen von der unmittelbaren Gegenwart“ (GW 25/2, 1045) sowie faselndes Taumeln von einem Gegenstand zum andern benannt, zweitens „die eigentliche Narrheit“ (GW 25/2, 1047), die im Unterschied zum sog. Blödsinn nicht in den Abgrund des Unbestimmten versinkt, sondern sich auf einen bestimmten Inhalt fixiert, um sich in ihm nicht nur nicht zu erkennen, sondern zu verkennen, ohne ein Bewusstsein davon zu haben. An allerlei Fällen von sog. Narrheit krankhafter Art wird dies illustriert, etwa an solchen Patienten, die sich, ohne von dem Widerspruch zu wissen, in den sie sich dadurch bringen, „für Gott, für Christus, oder für einen König gehalten haben“ (GW 25/2, 1048). Als dritte Hauptform des verrückten Zustands kommt schließlich in Betracht, was Hegel Tollheit und Wahnsinn nennt, bei denen der Verrückte „selber von seinem Auseinandergerissenseyn in zwei sich gegenseitig widersprechende Weisen des Bewußtseyns weiß“ (ebd.), ohne dass ihm dieses Wissen dazu verhelfen könnte, seine aus den Fugen geratene Existenz zu einem geordneten Ganzen zusammenzufügen. Stummes Insichversenktsein oder exaltierte Raserei sind nur scheinbar gegenläufige Konsequenzen wahnsinniger Selbstzerrissenheit, die hinabreicht bis ins Körperliche und den Betroffenen gewissermaßen mit Haut

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und Haaren erfasst sowie bis ins Mark hinein erschüttert. Ärzte des Leibes und der Seele und insbesondere Vertreter der psychosomatischen Medizin werden zu beurteilen wissen, inwieweit diese Analysen ihre Richtigkeit haben. Ihnen sei auch das Urteil bezüglich dessen überlassen, was Hegel im Kontext seiner Theorie krankhafter Verrücktheit über Somnambulismus und Veitstanz, Verzückungszustände und Formen von Wissen ohne vermittelndes Bewusstsein etc. sowie zu dem nach seinem Begründer Franz Anton Mesmer genannten Mesmerismus (vgl. etwa GW 25/1, 341ff.; dazu GW 25/3, 1399ff., 1492ff.) schreibt, also zur Lehre vom sog. animalischen Magnetismus (vgl. GW 19, 306ff.; GW 20, 406ff. [magnetischer Somnambulismus]), die einst auch Goethes gespannte Aufmerksamkeit auf sich zog. Unberücksichtigt bleiben sollen ferner die von Hegel vorgeschlagenen Heilungsverfahren, die nach seinem Urteil „theils physisch, theils psychisch“ (GW 25/2, 1050) auszufallen haben, wobei die „Hauptsache … immer die psychische Behandlung“ (GW 25/2, 1051) bleibt. Ein „geschickter Seelenarzt“ (ebd.) wie der französische Psychiater Philippe Pinel, dessen im Kontext einer philosophisch ausgerichteten Nosographie entfalteten Abhandlungen über Geistesverwirrung und Manie Hegel zum Besten erklärte, „das in diesem Fache existirt“ (ebd.; dazu GW 25/3, 1596; 1344ff.), habe durchaus Macht und Möglichkeit, Verrücktes zurechtzurücken und Patienten zu einem gesunden Selbstgefühl und zu einem Weltverhältnis zu verhelfen, welches als normal gelten dürfe. Eine Heilungskraft der besonderen Art schreibt Hegel im Übrigen einem treffenden Witz zu, dessen erhellende Wirkung, die ihm in aller Regel zukommt, sich auch in Ausnahmezuständen bestätigt: „So genas, z. B., ein sich für den heiligen Geist haltender Narr dadurch, dass ein anderer Narr zu ihm sagte: wie kannst denn Du der heilige Geist seyn? der bin ja ich.“ (GW 25/2, 1054) Hegels Lehre von der Verrücktheit als Krankheit des Selbstgefühls und den verschiedenen Formen wie Blödsinn, Narretei und Tollheit mutet nicht nur in terminologischer Hinsicht teilweise ebenso fremd und befremdlich an wie seine Theorie der Heilung psychopathologischer Zustände. Beide gehören der Historie an und können gewiss keinen unmittelbaren Anspruch auf aktuelle Geltung erheben. Bemerkenswert bleibt immerhin, dass zusammen mit der physisch-medizinischen, wie er sie nennt, auch der intrapsychischen Seite von Erkrankungen gebührende Aufmerksamkeit geschenkt und unter Voraussetzung psychosomatischer Einheit des Menschen für entsprechende Behandlungsmethoden plädiert wird. Mit Nachdruck fordert Hegel eine Professionalisierung und Sensibilisierung im Umgang mit seelisch-geistigen Erkrankungen (GW 25/2, 719f.:„Früher hatte man die behandlung der Wahnsinnigen rohen Menschen überlassen, die in den Ausbrüchen des Wahnsinns Feindseligkeit gegen sich sahen und sich gegen die armen Wahnsinnigen durch Schläge räch-

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ten.“). Sog. Geisteskranke seien als vernunftbegabte Menschen zu achten und entsprechend zu behandeln. Ihre Krankheit sei kein Indiz des Mangels bzw. Fehlens ihrer Vernunftbegabung, sondern im Gegenteil eine Folge davon. Verrücktwerden könne kein Tier, aber jeder Mensch, weil die Möglichkeit dazu in der humanen Naturtranszendenz begründet liege. Dies gelte auch für die Bosheit, mit dem gravierenden Unterschied freilich, dass sie, auch wenn sie fatale Züge aufweise, als Schuld zuzurechnen sei, was bei einer Krankheit grundsätzlich nicht der Fall sei und zwar deshalb nicht, weil ihre Ursache im Wesentlichen der vorbewussten Daseinssphäre angehöre. Dies trifft nach Hegel für körperliche ebenso wie für psychische Erkrankungen zu, zwischen welchen zu unterscheiden, nicht aber zu trennen sei.16 Soviel zur Verrücktheit: Ihr Themenfeld ist, wie jeder weiß, weit. Doch müssen die wenigen Anmerkungen genügen und zwar nicht zuletzt aus Gründen der Vermeidung jener Aberration, die neben der Zerstreutheit als spezifisch professoral zu gelten hat: diejenige der Faselei, von der es nach Hegel viele Stufen gibt, „so daß es schwer ist zu sagen, ob ein Faseler noch vernünftig ist oder schon zu Verrücktheit übergeht“ (GW 25/2, 713 App.). 6.3

Der Mensch als psychosomatische Differenzeinheit

Zu manifestem Selbstgefühl und zu einer konturierten Besonderung ihres jeweiligen Gefühls gelangt die Seele, sobald sie sich über die Unmittelbarkeit ihrer selbst erhebt und das Gefühlte als ihr Gefühl und damit sich als fühlende identifiziert. Damit wird, wie das im unverrückten Falle zutrifft, das Gefühl zum herrschenden Genius seiner selbst sowie aller Gefühle und Empfindungen, die seine Welt ausmachen. Im Durchgang durch die Besonderung der Gefühle in sich selbst eingekehrt, findet die fühlende Seele in der Gewohnheit schließlich bleibenden Bestand und wird durch geübte Wiederholung und wiederholte

16 Körperliche Krankheit heißt nach Hegel „nichts andres, als daß ein besondres System der Organe eine Thätigkeit gewinnt, wodurch der ganze Lauf der Organisation gehemmt; so kann nun im Selbstgefühl in seiner Leiblichkeit ein Knoten entstehen, und der ist auch zugleich ein Knoten in der Totalität der Vorstellung wogegen die Herrschaft des besonnenen bewußtseins nichts vermag.“ (GW 25/2, 708f.) Der Bezug zu psychischen Erkrankungen ist damit bereits angezeigt, die ebenfalls desintegrierend wirken und Einfluss haben auf körperliche Befindlichkeiten. Es herrscht eine psychosomatische Wechselwirkung: „Man muß sich nicht vorstellen daß der Geist gesund sein kann, in einem ungesunden Körper, sondern die physische Gesundheit des Körpers hängt mit der metaphysischen, sogenannten Gesundheit des Geistes eng zusammen.“ (GW 25/1, 387)

Der Mensch als psychosomatische Differenzeinheit

Übung heimisch in sich, statt sich wild umherzutreiben bzw. umhergetrieben zu werden.17 Macht der Gewohnheit Gewohnheit, sagt Hegel in § 410 der Drittauflage der Enzyklopädie, „ist der Mechanismus des Selbstgefühls“ (GW 20, 416), die zweite Natur, will heißen: gesetzte Unmittelbarkeit des Seins der Seele.18 Zur Gewohnheit fortentwickelt hebt die Seele den Unterschied ihrer Natürlichkeit und ihres Selbstgefühls mit 17 Erfolgreich gebändigt und domestiziert wird das menschliche Triebverlangen nicht durch Verdrängung, sondern durch Gewohnheit, die sich in Folge wiederholter Triebbefriedigung einstellt. „Der Trieb wird das erste Mal befriedigt, das zweite Mal ist es nur eine Wiederholung ohne Neues, eine Befriedigung die schon etwas bekanntes ist. Bei Thieren ist die Befriedigung immer eine erste, nicht bekannte, beim Geistigen ist sie schon bekannt, das Subjekt ist in der Befriedigung schon im voraus in sich erinnert. In der Wiederholung der Befriedigung ist uns alles schon bekannt, es ist kein besonderer Reiz mehr, er ist abgestumpft, das Interesse ist vermindert und so geschieht es daß der Trieb auf allgemeine Weise, der Trieb als solcher ein für alle male befriedigt ist.“ (GW 25/1, 362f.) Zur „schwere(n) Bestimmung“ (GW 25/1, 365) der Gewohnheit, die „vom Jetzt der Triebe befreit“ (GW 25/1, 366) vgl. im Einzelnen GW 25/1, 365ff. Gewohnheit ermöglicht es, das Triebhafte sinnvoll in den Lebensvollzug zu integrieren, statt es abstrakt zu negieren. „Es ist einfältig, wenn man vom Ausrotten der Triebe spricht, es wird dabei eine falsche Negation gegen den Trieb als allgemeinen gesetzt, so ist er aber bestimmtes Moment der Idee der Lebendigkeit, ist darin enthalten als allgemeines Moment und so ist er zu respektiren als Moment der Idee, er ist so in seiner Wahrheit, und wenn dieß Allgemeine verletzt wird, es ist fest in der Idee, so kehrt es sich als Feind gegen das Individuum.“ (GW 25/1, 370f.) 18 Der Mensch ist ein Gewohnheitstier der besonderen Art. Er vermag durch beständige Wiederholungen eine Routine zu entwickeln, die nicht lediglich automatischen, sondern habituellen Charakter hat. Im menschlichen Habitus ist ein bestimmtes Verhalten dergestalt in Fleisch und Blut übergegangen, dass der Leib ohne bewussten Willenseinsatz zum willfährigen Instrument seiner Seele wird (vgl. A. Stache, Gewohnheit als Ein- und Durchbildung der Leiblichkeit. Zur Anthropologie in Hegels Enzyklopädie, in: A. Arndt u. a. [Hg.], Das Leben denken, a.a.O., 274–279). Ist Gewohnheit in habitueller Form eine prämoralische Tugend, so wird sie zur Untugend, wenn sie zum bloßen Automatismus herabsinkt. An den von Hegel unterschiedenen Modi der Gewohnheit lässt sich dieser Sachverhalt verdeutlichen. Durch wiederholte mentale Distanzierung von andrängenden äußeren Empfindungen wie etwa durch Kälte gereiztes Frieren, kann man willkommene Abhärtung erlangen, die aber zur Abstumpfung führt, wenn das entsprechende Maß nicht eingehalten wird. Analoges trifft für Gleichmutsübungen in Bezug auf sinnliche Bedürfnisse oder für den virtuellen Erwerb von Geschicklichkeiten zu. Wer nicht täglich Klavier spielt, wird nie ein Virtuose; er verfehlt seine Kunst aber auch dann, wenn er zum Spielautomaten degeneriert. Gewohnheit ist ein hohes Gut, wenn der Mensch sie in den Dienst seiner Freiheit stellt. Erliegt er hingegen ihrer Macht, statt sie zu beherrschen, dann knechtet sie ihn, und er wird zum Sklaven im eigenen Hause. − Mittels der Gewohnheit bildet sich die Seele dem Körper ein, den sie beseelt, um ihn zu ihrem Leib durchzugestalten und sich heimisch einzurichten in ihm. Ganz zu Hause wird sich die Seele aber in ihrem eigenen Leibe nie fühlen, weil er sich gänzlicher Inbesitznahme durch sie entzieht. Die gute Seele kompensiert diesen Mangel nach Hegel am besten durch Gelassenheit, also dadurch, dass sie

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Geschick19 in sich auf und wird wirkliche Seele im Sinne vollzogener Einheit natürlicher Äußerlichkeit bzw. Leiblichkeit und fühlender Seeleninnerlichkeit. „Die Seele ist als diese Identität des Innern mit dem Aeußern, das jenem unterworfen ist, wirklich; sie hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt, die als das Kunstwerk der Seele menschlichen, pathognomischen und physiognomischen Ausdruck hat.“ (GW 20, 419) Hegels Stellung zur klassischen Leib-Seele-Thematik ist damit umschrieben. Das Verhältnis von Leib und Seele kann weder durch die Unterscheidung leiblicher Materialität und seelischer Immaterialität, noch überhaupt so bestimmt werden, dass beide zunächst als selbständig gegeneinander vorausgesetzt und erst sekundär vermittelt werden. Die wirkliche Seele ist nicht anders denn in der Weise durchgebildeter und individuierter Leiblichkeit; umgekehrt kann vom Leib des Menschen nur als einem beseelten die Rede sein, wohingegen er sonst nur als toter Körper in Betracht kommt. Anima forma corporis Die wirkliche Seele hat ihren Leib nicht lediglich auf körperliche Weise, sondern beseelt ihn dergestalt, dass er von ihr perichoretisch durchdrungen und zum Organ ihrer seelischen Selbstexplikation gestaltet wird. Sie wohnt, nachdem sie durch Gewohnheit Besitz von ihm ergriffen hat, ihrem Körper leibhaft ein dergestalt, „daß die Funktionen der Körperlichkeit nicht bloß Funktionen der Leiblichkeit sind, sondern der Geistigkeit“ (GW 25/1, 402). So wird der Körper Eigentum der Seele und sie zur bestimmenden Größe seiner Leibhaftigkeit, deren Tätigkeit sie als die ihrige setzt (vgl. GW 25/1, 403).20 Dadurch gewinnt sich durch den leiblichen Widerstand in keinen antagonistischen Gegensatz zwingen, sondern den Leib als bloßen Naturkörper sein lässt im doppelten Sinne des Begriffs. Ohne gelassenes Seinlassen des bloß Natürlichen am Leibe kann es keinen dauerhaften Seelenfrieden, keinen aequus animus geben. 19 Hegels Hauptbeispiele für durch Gewöhnung erworbene Geschicklichkeit stammen vor allem aus dem sensomotorischen Bereich: Verwiesen wird „auf den aufrechten Gang, der einen fortdauernden, habituellen Willen impliziere; auf das Sehen, insofern es erst durch Übung lerne, die vielen Bestimmungen routiniert zu vereinigen; und sogar auf das Denken, das, insofern es auch eine leibliche, empfindende Seite hat, Gewohnheit voraussetze, wenn es nicht, wie bei Ungeübten oft der Fall, ‚Kopfweh‘ bereiten solle“ (B. Merker, Über Gewohnheit, in: L. Eley [Hg.], Hegels Theorie des subjektiven Geistes, a.a.O., 227–243, hier: 232). Zur Gewohnheit der Abhärtung, die durch wiederholte Übung gewonnen wird, vgl. im Einzelnen GW 25/2, 728ff. 20 „Die menschliche Gestalt ist zugleich Kunstwerk der Seele und natürlicher Leib, die natürliche Gestalt zeigt überall das Geistige darin, wie sich das Fürsichsein der Seele konkret bestimmt. Der Mensch unterscheidet sich vom Thiere durch seine Gestalt, aber worin der physiologische Unterschied besteht ist schwer zu sagen und die Physiologen haben einen bedeutenden, schlagenden Unterschied noch nicht gefunden. … Der Hauptunterschied ist das was die Seele

Der Mensch als psychosomatische Differenzeinheit

der Leib selbst ein eigentümliches geistiges Gepräge, durch welches er sich „weit mehr, als durch irgend eine bloße Naturbestimmtheit, von den Thieren unterscheidet“ (GW 25/2, 1059). An diversen Phänomenen durchgeistigter Leiblichkeit wie Gestik, Mimik und Gebärdenspiel, an Nicken, Kopfschütteln, Stirnrunzeln, Naserümpfen usw. und nicht zuletzt an den Fertigkeiten, zu denen die Menschenhände und -füße gerade durch die Entspezifizierung ihrer Funktion befähigt sind21 , illustriert Hegel diesen Sachverhalt, der indes recht eigentlich keinen Sachverhalt, sondern das vollendete Ursprungsverhältnis der Seele zum Leib als dem anderen ihrer selbst darstellt. Die wirkliche Seele hat sich ganz in ihren Leib hineingebildet und ist − aristotelisch zu reden − zur Form seiner Materie bzw. seiner materiellen Bestände geworden.22 Indes ist an dem Körper thut, die Einbildung der Seele in den Körper, so daß er ein Zeichen der Seele ist und dieß ist es was der äusseren menschlichen Bildung das Ausgezeichnete giebt. Es gehört hierzu die aufrechte Gestalt überhaupt, die Bildung insbesondere der Hand, als des absoluten Werkzeugs, des Mundes, das Lachen, Weinen pp und der über das Ganze ausgegossene geistige Ton, welcher den Körper unmittelbar als Äusserlichkeit einer höheren Natur kund giebt.“ (GW 25/1, 407; vgl. GW 13, 192) 21 Entscheidend ist, wie Hegel sagt, „was die Seele in den Körper hineinlegt: die aufrechte Stellung sein Verhältniß seine Richtung im Raum ist, was sich der Mensch selbst gibt; er stellt sich selbst auf seine Hinterbeine; er will stehen, dies ist seine absolute Stellung im Raum; so seine Hand ist nur menschlich und ein vielfach bewegliches und bildendes, ein Werkzeug zu allem, was der Mensch bildet.“ (GW 25/2, 740) 22 Vgl. J. v. d. Meulen, Hegels Lehre von Leib, Seele und Geist, in: Hegel-Studien 2 (1963), 251–274; G. Brüntrup, Das Leib-Seele-Problem. Eine Einführung, Stuttgart 3 1996. Nach Maßgabe der Konstitution „Fidei catholicae“ des Konzils von Vienne (1311/12) widerspricht die Behauptung dem Glauben der Kirche „quod substantia animae rationalis seu intellectivae vere ac per se humani corporis non sit forma“ (DH 902). Zu behaupten sei vielmehr, dass die vernunft- und verstandesbegabte Seele wahr- und wesenhaft sowie durch sich die Form des menschlichen Leibes sei. Im Hintergrund steht der aristotelische Hylemorphismus, mit dessen Hilfe Thomas von Aquin das Leib-Seele-Problem einer Lösung zuführte, die „zur Zeit des Konzils von Vienne bereits von den meisten theologischen Schulen übernommen worden (war). Die Begriffe ‚Form‘ und ‚Materie‘ wurden jedoch unterschiedlich verstanden. Das Konzil hat nicht eine bestimmte Metaphysik sanktioniert. Es ging ihm um die Einheit des ganzen Menschen, die damals durch spiritualistisch-sektiererische Gruppen zu Gunsten der Freiheit des Geistes in Abrede gestellt wurde – unter Berufung auf den Franziskanertheologen Petrus Olivi …, den diese Gruppen als heiligen Gewährsmann verehrten.“ (W. Beinert u. a. [Hg.], Texte zur Theologie. Dogmatik 8: Anthropologie, Graz/Wien/Köln 1998, 221) Wie immer die anthropologische Formel „anima forma corporis“ bei Olivi und im sog. Korrektorienstreit verstanden wurde (vgl. im Einzelnen Th. Schneider, Die Einheit des Menschen. Die anthropologische Formel „anima forma corporis“ im sogenannten Korrektorienstreit und bei Petrus Johannes Olivi. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des Konzils von Vienne, Münster [1973] 2 1988): Nach kirchlicher Lehre ist der Mensch eine leibseelische Differenzeinheit, was zu Unterscheidungen nötigt, aber keine Trennungen erlaubt. Dies behält auch dann seine Richtigkeit, wenn die dichotomische Formel trichotomisch erweitert und der Geist als dritter im anthropologischen Bunde zu Leib und Seele hinzutritt. (Vgl. D. u. R. Bennett, Die Trinität des Menschen. Die dreidimensionale Erlösung

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die bisher in Betracht gezogene „Hineinbildung der Seele in ihre Leiblichkeit keine absolute“ (GW 25/2, 1063), sondern eine relative, man kann auch sagen: gewohnheitsmäßige. Geistesblitz Leib und Seele halten, wenn man so will, wie ein in die Jahre gekommenes Paar problemlos zusammen, solange nichts Außergewöhnliches geschieht. Dieser Zustand ist schätzenswert, birgt aber wie die Gewohnheit überhaupt, Gefahren in sich, die ihrerseits nicht zu unterschätzen sind. Obgleich nämlich der Mensch durch sie „einerseits frei wird, so macht ihn dieselbe doch andererseits zu ihrem Sclaven, und ist eine zwar nicht unmittelbare, erste, von der Einzelnheit der Empfindungen beherrschte, vielmehr von der Seele gesetzte, zweite Natur, − aber doch immer eine Natur, − ein die Gestalt eines Unmittelbaren annehmendes Gesetzes, − eine selber noch mit der Form des Seyns behaftete Idealität des Seyenden, − folglich etwas dem freien Geiste Nichtentsprechendes, − etwas bloß Anthropologisches“ (GW 25/2, 1056). Dabei kann es nicht bleiben, wenn es zu einem entwickelten Bewusstsein und Selbstbewusstsein kommen soll. Zum aktuellen Anlass für die Seele, es nicht bei der gewohnheitsmäßigen Liaison mit ihrem Leib zu belassen, sondern sich von ihm zu emanzipieren, wird die Einsicht werden, dass der Leib seine körperlichen Anteile der Seele tendenziell entzieht, so dass diese keine Macht und Möglichkeit hat, des Gesamtorganismus Herr zu werden. „Indem die Seele zum Gefühl dieser Beschränktheit ihrer Macht gelangt, reflectirt sie sich in sich und wirft die Leiblichkeit als ein ihr Fremdes aus sich hinaus.“ (GW 25/2, 1063) Wo „Es“ war, ist „Ich“ geworden: – Heil für Geist, Seele und Leib, Erzhausen 1980; der Titel der Originalausgabe lautet: Trinity of Man. Plainfield 1979. Zur Rede von trinitarischen Menschenbildern vgl. u. a. St. Schweizer, Anthropologie der Romantik. Körper, Seele und Geist. Anthropologische Gottes-, Welt- und Menschenbilder der wissenschaftlichen Romantik, Paderborn/München/Wien/Zürich 2008, 426ff.) Zur aktuellen neurowissenschaftlichen Debatte vgl. O. Breitbach, Die Materialisierung des Ichs. Zur Geschichte der Hirnforschung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997. Grundsätzlich ist zu bemerken, dass jeder anthropologische Entwurf „des Rückgriffs auf die biologisch bestimmten Funktionsprinzipien der menschlichen Natur“ bedarf, „ohne daß dadurch die Wissenschaft vom Menschen bereits zur Naturwissenschaft würde“ (W. Lepenies, Anthropologie und Gesellschaftskritik. Zur Kontroverse Gehlen – Habermas, in: ders./H. Nolte, Kritik der Anthropologie, München 1971, 77–102, hier: 96). „Sagen, Lebendiges habe eine Seele, heißt sagen, dass Lebendigsein nicht verstanden werden kann als Epiphänomen, als Zustand oder Eigenschaft dessen, woraus das Lebendige besteht, sondern als das Sein dieses Seienden, das auf keine Weise rückführbar ist auf seine Entstehungsbedingungen.“ (R. Spaemann, Seelen, in: F. Hermanni/Th. Buchheim [Hg.], Das Leib-Seele-Problem. Antwortversuche aus medizinisch-naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht, München 2006, 71–83, hier: 79) Wenn mit „rückführen“ „reduzieren“ gemeint ist, hat dieser Satz seine Richtigkeit und zwar auch und gerade im Sinne des „Aristotelikers“ Hegel.

Wider die Naturalisierung des Geistes

„(D)as Ich ist der durch die Naturseele schlagende und ihre Natürlichkeit verzehrende Blitz“ (GW 25/2, 1063), der auf erschreckende Weise „ein Erwachen höherer Art“ (ebd.) bewirkt, womit in der Geschichte des subjektiven Geistes ein neues Kapitel aufgeschlagen ist.23 6.4

Wider die Naturalisierung des Geistes

Die Geschichte seiner natürlichen, infantilen Herkunft steht nicht in der unmittelbaren Verfügungsgewalt des Ich, weil sie, wenn man so will, selbstlos, unwissentlich, unwillkürlich abläuft bzw. abgelaufen ist. Sie lässt sich daher auch nicht ohne weiteres nacherzählen, weil ihre Story prähistorischer Natur ist. Soweit mit ihr Empfindungen verbunden waren und sind, bleiben diese noch unorgansisiert und jenseits von Wissen und Wollen. Zwar bilden Empfindungen den Anfang jeder bewussten Erfahrung, ohne doch an sich selbst schon zu einem entwickelten Erfahrungsbewusstsein gelangt zu sein. Auch sie gehören ebenso wie die von Hegel beschriebenen Gefühle noch der vor-, unterbzw. unbewussten Sphäre des menschlichen Seelenlebens an.24

23 Das Erwachen des Bewusstseins zum Wissen um sich selbst, wie es im selbstbewussten Ich statthat, erfolgt nach Hegel blitzartig. Es ist „ein höheres Erwachen als wir es bisher gehabt haben, es ist gleichsam der Blitz der in das Natürliche hineinschlägt“ (GW 25/1, 415). Das seiner selbst bewusste Ich weiß sich als Größe zwar in der Welt, aber nicht von der Welt, weil alles, was in der Welt gegenständlich begegnet, unter der Bedingung steht, gewusst werden zu können. Hegel nennt dieses potentiell unbegrenzte Wissenkönnen, welches dem Ich an sich selbst eignet, Negationsfähigkeit überhaupt. Durch dieses Vermögen ist das Ich allem Weltlichen entnommen, so offenkundig es als empirisches Subjekt der Welt zugehört. Auch durch Selbsterfahrung ist das Wesen des Ich als einer transmundanen Einheit nicht zu erfassen. Es lässt sich natürlicherweise nicht genetisieren. Darauf vor allem ist der Blitzvergleich bezogen. Die dem Ich eigentümliche Genese und die Bedeutung, die in diesem Zusammenhang dem Du als alter Ego etc. zukommt, hat Hegel im zweiten Teil seiner Lehre vom subjektiven Geist thematisiert. 24 Auf die eigentümliche methodische Schwierigkeit, vom Un-, Unter- bzw. Vorbewussten zu handeln, hat Hegel wiederholt hingewiesen. Sie liegt in dem schlichten Sachverhalt begründet, dass eine Theorie des Nichtbewussten Bewusstsein zur Voraussetzung hat. Zwar ist dem Bewusstsein, wenn es Bewusstloses zum Gegenstand hat, bewusst, dass es sich bei dessen Sein um kein Bewusst-Sein handelt. Aber auch diese Einsicht hat Bewusstsein zur Voraussetzung. Insofern muss jede Theorie des Unbewussten Bewusstsein und „den entwickelten, gebildeten Geist anticipiren“ (GW 25/1, 222). Zu solcher Antizipation gehört u. a. die Vorwegnahme der Fähigkeit zu sympathetischem Mitgefühl, ohne welches die Sphäre des Präreflexiven prinzipiell nicht zu erfassen ist. Generell gilt, dass Bewusstsein Unbewusstes überhaupt nur deshalb wahrzunehmen vermag, weil es bleibenden Anteil an ihm hat, was die Möglichkeitsbedingung jeder Anteilnahme ist.

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Philosoph des Unbewussten Um sich die Stellung der Lehre vom Unbewussten in Hegels Theorie des subjektiven Geistes noch genauer zu verdeutlichen, mag ein abschließender exkurshafter Vergleich mit dem Denken des gut ein Jahrzehnt nach Hegels Tod geborenen Eduard von Hartmann nützlich sein, der als Philosoph des Unbewussten in die Philosophiegeschichte eingegangen ist.25 Seiner Auffassung zufolge waltet in allen Dingen vom anorganischen Bereich über vegetabilisch-animalische Entitäten bis hin zum Menschen ein unbewusster und unpersönlicher Vitaldrang, der zwar Geist und Wille genannt wird, ohne doch über ein entwickeltes Bewusstsein seiner selbst und der Welt zu verfügen, die er hervorbringt. Zu Bewusstsein kommt der vom unbewussten Allverlangen hervor- und vorwärtsgetriebene Prozess im Menschen, der allein in der Lage ist, ihn zu steuern, umzulenken und rückläufig zu gestalten, damit dem unseligen Treiben, welches viel Drangsal und Übel mit sich bringt, durch bewussten Triebverzicht bzw. entsprechende Sublimationen möglichst bald ein Ende bereitet wird. Von Hartmann hat seine spekulative Theorie des Unbewussten empirisch abzusichern und zu fundieren versucht, sie aber zugleich mit dem traditionellen Titel der Metaphysik versehen, als deren vorläufiges Endresultat er sein Werk den Zeitgenossen präsentierte. Zwar habe die an Kant anschließende philosophiegeschichtliche Kritik „unwiderleglich bewiesen, dass die apodiktisch gewisse Metaphysik a priori ein für allemal tot ist“26 ; doch „(w)arum sollte nicht aus der abgethanen deduktiven Metaphysik a priori eine induktive Metaphysik a posteriori sich entpuppen können, da doch aus der Alchemie eine Chemie, aus der Astrologie eine Astronomie hervorgegangen ist?“27 Hartmann ist um eine Antwort auf seine rhetorische Frage nicht verlegen: „Die Geschichte der Metaphysik lässt es als die nächste Aufgabe erkennen, den konkretmonistischen Pantheismus auf Grund der induktiven Methode und der transcendental-realistischen Erkenntnistheorie durchzubilden, das absolute substantielle Subjekt des Theismus ohne dessen Bewusstsein, Selbstbewusstsein und

25 E. v. Hartmann, Ausgewählte Werke. Band VII–IX: Philosophie des Unbewussten (11. Aufl.). Erster Theil: Phänomenologie des Unbewussten. Zweiter Theil: Metaphysik des Unbewussten. Dritter Theil: Das Unbewusste und der Darwinismus, Leipzig 1904. Erstmals erschienen ist das Werk in den Jahren 1869–1871. Einen Überblick über die Perioden seiner schriftstellerischen Tätigkeit gibt v. Hartmann a.a.O. I, XXff. I, XXXIIff. entwickelt er in Abgrenzung zu den Termini des Minder-, Unter- und Außerbewussten den Begriff des (relativen und absoluten) Unbewussten, das er auch bei der Entstehung der Sprache (vgl. I, 254ff.) und im Denken (vgl. I, 261ff.) am Werke sieht. 26 Ders., Ausgewählte Werke. Band XI: Geschichte der Metaphysik. Erster Teil: Bis Kant. Zweiter Teil: Seit Kant, Leipzig 1899/90, hier: II, 593. 27 A.a.O. II, 594.

Wider die Naturalisierung des Geistes

Persönlichkeit in den Pantheismus hereinzunehmen, den einseitigen Pantheismus und Panlogismus vermittelst zweier koordinierter Attribute der Substanz zu überwinden, der materialistischen Abhängigkeit des bewussten Geisteslebens von organischen Funktionen uneingeschränkt Rechnung zu tragen und dem Individuum eine würdigere und relativ selbständigere Stellung als im abstrakt monistischen und naturalistischen Pantheismus anzuweisen, ohne es darum zu hypostasieren. In diesem Sinne habe ich die Aufgabe der Metaphysik seit der Mitte der sechziger Jahre aufgefasst und mich bemüht, zu ihrer Lösung beizutragen. Ob ich die Aufgabe damit richtig erfasst habe, und inwieweit es mir gelungen sei, ihrer Lösung näher zu kommen, das zu erörtern, muss künftigen Geschichtschreibern vorbehalten bleiben.“28 Voluntaristischer Vitalismus Hält man sich an Hegel und sein Verständnis von Philosophie und ihrer Geschichte, dann wird das Urteil über Hartmanns Metaphysik nicht allzu günstig ausfallen können. Ihr voluntaristischer Vitalismus muss vielmehr im Gegenteil als tendenziell unvernünftig und gegen die Ansprüche der Vernunft an das Menschenleben gerichtet beurteilt werden. Die Tatsache, dass v. Hartmann unter dem Einfluss von Hegels einstigem Berliner Kollegen Arthur Schopenhauer den als Grund allen Seins waltenden vitalen Urwillen pessimistisch und den menschlichen Glückstrieb als Illusion eingeschätzt hat, ändert daran nichts. Denn entscheidend ist die Frage, ob das Menschenleben und dasjenige, was Geist heißt, eine Funktion der Natur und eine Folge naturhafter Prozesse darstellt oder ob der menschliche Geist trotz und unbeschadet seiner natürlichen Bindung von seinem Wesen her dazu bestimmt und in der Lage ist, die Natur einschließlich der Natur des eigenen zu transzendieren und vernünftig zu gestalten. Hegels Maxime ist eindeutig: Aus Es soll Ich nicht nur werden, sondern ist Ich tatsächlich immer schon geworden und zum Bewusstsein seiner selbst gelangt, wo gedacht, argumentiert, philosophiert etc. wird. Das selbstbewusste Ich ist zwar keine „meta-physische“ Größe von naturenthobener Spiritualität, sondern psychosomatisch verfasst, also eine differenzierte Einheit von Leib und Seele, Geist und körperlicher Natur. Nichtsdestoweniger ist es Hegel zufolge unstatthaft und wider den humanen Begriff des Menschen gerichtet, wenn Geist und seelische Erscheinungen des menschlichen Daseins als Epiphänomene von 28 A.a.O. II, 599f.; beginnen lässt v. Hartmann die Geschichte der Metaphysik wie die meisten ihrer Historiographen bei den Griechen vor Sokrates und Platon: „Hier zum ersten Male tritt das Bestreben auf, die Metaphysik aus der Verquickung mit phantasiemässig durchgebildeten religiösen Anschauungen zu lösen, auf eigne Füsse zu stellen und durch verstandesmässige Begriffsreflexionen in eine wissenschaftliche Form zu bringen.“ (A.a.O., I, 1)

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Körperlichkeit bewertet und auf materielle Substrate reduziert werden, die prinzipiell dem Bereich des Vor-, Unter- und Unbewussten angehören. Zwar bleibt der Mensch zeitlebens von der unbewussten Natursphäre umgeben, von der er herkam, ja sie prägt ihn nicht nur von außen her, sondern auch innerlich. Dennoch ist von der menschlichen Bestimmung her die Aufgabe gestellt und auch die Möglichkeit gegeben, sich das Unbewusste seiner natürlichen Herkunft und aktuellen Prägung zu Bewusstsein zu bringen, statt es bewusst oder unbewusst darauf anzulegen, sich dem Prozess vernünftiger Selbstwahrnehmung zu entziehen. Dass dieser Bestimmung nicht nur Hemmnisse, sondern gewaltige Widerstände entgegenstehen, die hinabreichen in die Tiefendimensionen menschlichen Daseins, trifft ebenso zu wie die Feststellung, dass die Befreiung von den Ursprungsmächten unbewusster Natur die Kräfte der Moral übersteigt. Kundige Psychotherapeuten und Seelsorger wissen dies und haben es immer schon gewusst! Doch wissen sie auch, dass der Wunsch nach infantiler Regression, so verständlich er in manchen Situationen sein mag und tatsächlich ist, und die Sehnsucht, sich ins Unbewusste zu versenken, keine dauerhafte Lebenshilfe zu bieten vermögen. Macht des Geistes Dauerhafte Hilfe in Leibes- und Seelennöten vermag nur das Vertrauen auf die Macht des Geistes zu geben, ohne welches bewusstes und selbstbewusstes Leben des Menschen in der Welt nicht möglich ist. Für Hegel sind Geist und Vernunft im Wesentlichen eins. Dies muss und darf nicht hindern, zuletzt auch des Hl. Geistes zu gedenken, dessen Wesen und Wirken nach christlichem Urteil höher ist als alle menschliche Vernunft. Die Theologie nennt ihn den göttlichen Schöpfergeist, der alles, was ist, und namentlich die leibhafte Menschenseele ins Sein gerufen hat, darin erhält und durch Lenkung und Leitung dem Ziel der Vollendung zuzuführen gewillt ist. Von ihm steht geschrieben, dass er unserer Schwachheit aufhilft und für uns mit unaussprechlichem Seufzen eintritt (Röm 8,26). Der göttliche Geist vermag und tut dies, weil er in seiner Allwissenheit weiß, was es heißt, nicht nur nicht allwissend, sondern − wie das Menschengeschöpf samt aller Kreatur − in vieler Hinsicht unwissend, ungewiss und in der Sphäre des Vor-, Unter- und Unbewussten befangen zu sein, vielfach ohne ein auch nur anfängliches Bewusstsein davon zu haben.

7.

Von der naturtranszendierenden Wesensnatur des Menschen

Pannenberg und die sog. Philosophische Anthropologie

7.1

Anthropologie in naturwissenschaftlichem Kontext

Fundamentale Bedeutung kommt der Anthropologie in Wolfhart Pannenbergs theologischem Werk insofern zu, als sie den Nachweis zu erbringen hat und nach seinem Urteil tatsächlich erbringt, dass Religion unveräußerlich und konstitutiv zum Menschsein des Menschen gehört. Die religiöse Anlage ist Implikat menschlicher Wesensnatur. Jeder Mensch ist seiner humanen Bestimmung nach auf Transzendenz ausgerichtet, so unbewusst ihm diese Ausrichtung im Einzelfall auch sein mag. Zu plausibilisieren versucht Pannenberg seine Auffassung durch den Hinweis auf die Verbreitung der Religion in der gesamten Menschheitsgeschichte, auf die Sinnangewiesenheit aller menschlichen Theorieund Praxisvollzüge, der die Bedeutung des Urvertrauens für die individuelle Persönlichkeitsbildung korrespondiere, sowie auf die in allem menschlichen Verhalten mitgesetzte Weltoffenheit, Exzentrizität und Selbsttranszendenz, deren Struktur auf einen – wenngleich zunächst nur unthematischen und in Form einer Unendlichkeitsintuition präsenten – Gottesbezug in jedem Menschengeschöpf hindeute.1 In letzterer Hinsicht beruft er sich vorzugsweise auf die Ergebnisse der sog. Philosophischen Anthropologie, der in der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ ein eigener Abschnitt gewidmet ist, nämlich die Schlusspassage des Kapitels zur Sonderstellung des Menschen in der Natur2 ; auch anderweitig wird mehrfach auf ihre Ergebnisse Bezug genommen. Marquards These Was man unter der sog. Philosophischen Anthropologie genau zu verstehen hat, ist nicht leicht zu sagen, da auch bei denen, die gewöhnlich zu ihren Hauptrepräsentanten erklärt werden, diesbezüglich kein wirkliches Einverständnis herrscht. Begriffsgeschichtlich hat sich die Formel als Bezeichnung jener Lehre vom Menschen etabliert, die seine Natur als geistiges Wesen nicht unmittelbar, sondern mittels des spezifischen Charakters seiner Stellung im natürlichen Lebenszusammenhang zu klären sucht. Für die Gegenwartsanthropologie ist die besagte „Wende zur Natur … allgemein charakteristisch“3 . Als ihre Initialschrift 1 Vgl. T. Koch, Art. Mensch VIII. 19. und 20. Jahrhundert, in: TRE 22, 530–548, hier: 544ff. 2 Vgl. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 32ff. 3 O. Marquard, Art. Anthropologie, in: HWPh 1, Sp. 362–374, hier: 370.

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gilt nach Odo Marquard unter all den großen Philosophien des Menschen der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts „allein die, die den Menschen gerade nicht geschichtsphilosophisch-geschichtlich versteht, sondern betont von seiner Stellung in der Natur her“4 , Max Schelers Werk über „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ von 1927/28. Nach Schelers Ansatz sollte die Sonderstellung des Menschen in der Welt im Allgemeinen und im Kontext der Lebewesen im Besonderen nicht länger auf traditionell seelenmetaphysische oder vergleichbare Weise, sondern auf Grund biologischer Eigenarten und aus einem Vergleich mit den natürlichen Daseinsformen höher entwickelter Tiere heraus begründet werden. Statt mit der menschlichen Geistseele anthropologisch ein der Natur fremdes Prinzip in Anschlag zu bringen, musste die seelisch-geistliche Bestimmung des Menschen daher aus einem als kontinuierlich begriffenen Zusammenhang von Mensch und Tier herausgearbeitet werden. Wende zur Natur Schelers Ansatz wurde in Kritik und Konstruktion von Helmuth Plessners Programmschrift „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ und später, um nur noch den dritten Berühmten im Bunde der sog. Philosophischen Anthropologen zu nennen, insbesondere durch Arnold Gehlen in seiner Schrift „Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt“ weiterverfolgt. Dass es dabei zu nicht unwesentlichen Modifikationen kam, wurde bereits angedeutet und wird sich im folgenden Durchgang durch die Konzepte Schelers, Plessners und Gehlens im Einzelnen bestätigen. Nur mehr angemerkt sei, dass aus Anlass der

4 A.a.O., 371. Zu Marquards Rekonstruktion der Geschichte des philosophischen Begriffs der Anthropologie vgl. Pannenbergs Bemerkungen in: Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983, 17f., zu seinen „Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie“ (Frankfurt a. M. 1982) vgl. a.a.O., 473f. Marquards Kontrastierung von Anthropologie und Geschichtsphilosophie ist durch seine Aversion gegen Politkonzepte motiviert, die den Menschen auf eine utopische Zukunft ausrichten und die gegenwärtigen Bedürfnisse seiner Wesensnatur hintanstellen. Den konstruktiven Ausgangspunkt der Kritik bildet, mit Marquard zu reden, Joachim Ritters Philosophie der bürgerlichen Welt (O. Marquard, Positivierte Entzweiung. Joachim Ritters Philosophie der bürgerlichen Welt, in: J. Ritter, Metaphysik und Politik. Studien zu Aristoteles und Hegel. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 2003, 442–456). Die Ritterschule hatte prägenden Einfluss auf die Geschichte „der beginnenden und sich entwickelnden Bundesrepublik Deutschland“ (442, 453). Ritters Analysen der bürgerlichen Welt orientieren sich vorzugsweise an zwei Philosophen, nämlich an Aristoteles und an Hegel. Um zwei Studien aus dem Jahr 1956 zu erwähnen: 1. Das bürgerliche Leben. Zur aristotelischen Theorie des Glücks (57–105); 2. Hegel und die französische Revolution (183–233). Letztere Untersuchung weist die Deutung der Hegel’schen Rechtsphilosophie als Apologie reaktionärer Staatsmacht zurück und interpretiert sie im Sinne einer Philosophie der bürgerlichen Welt: vgl. die beigegebenen Exkurse (234–255), den Kommentar zu den §§34–81 der Rechtsphilosophie (256–280) sowie zum Verhältnis von Moralität und Sittlichkeit (281–309).

Anthropologie in naturwissenschaftlichem Kontext

„Prävalenz des Bezugspunkts Natur“5 in der von Scheler initiierten Richtung „gerade die Biologen philosophisch Sitz und Stimme“6 in der Anthropologie erhalten haben. Als für Pannenbergs Lehre vom Menschen bedeutsame Beispiele seien lediglich A. Portmann7 und F. J. Buytendijk8 erwähnt. Erwähnt sei ferner, 5 Ders., Art. Anthropologie, 371. 6 Ebd. 7 Portmann stellt in seinem Werk „Zoologie und das neue Bild vom Menschen. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, Hamburg 1956 (Pannenberg-Bibliothek 03580) Betrachtungen an über den neugeborenen Menschen, das erste Lebensjahr der „physiologische(n) Frühgeburt“ (49; ebd.: „Nach einem Jahr erlangt der Mensch den Ausbildungsgrad, den ein seiner Art entsprechendes echtes Säugetier zur Zeit der Geburt verwirklichen müßte.“ [Bei P. kursiv]) sowie die menschliche Daseinsart, die er dem sog. extrauterinen Frühjahr, also der Zeit zuordnet, die das Menschenkind „noch im Mutterleibe verbringen müßte, um eine wirkliche Nestflüchterausbildung zu erhalten“ (69). Sodann wird vom Wachstum nach dem ersten Lebensjahr, vom Altern und zum Schluss unter Wechsel des Standpunkts vom „unlösbare(n) Zusammenhang zwischen menschlicher individueller Entwicklung und unserem Sozialverhalten“ (108) gehandelt. Bemerkenswert ist, dass Portmanns evolutionäre Rekonstruktion keine reduktionistischen Konsequenzen zeitigt: „Die Idee der Ableitung des Höheren aus dem Niedrigen führt in die Irre. Das Wesen der höheren Gestalt läßt sich nicht aus den Bedingungen der niederen Form verstehen, selbst wenn es hochwahrscheinlich ist, daß sie von der letzteren abstammt.“ (18) Was für die Ontogenese zutrifft, bestätigt sich auch unter phylogenetischen Gesichtspunkten. – Portmanns Rede von der physiologischen Frühgeburt und vom extrauterinen Frühjahr, welches das biologisch eigentlich zum Nestflüchter bestimmte Menschenkind zum sekundären Nesthocker werden lässt, ist fester Bestandteil des wissenschaftlichen Diskurses und fast sprichwörtlich geworden. Pannenberg greift sie ebenso auf wie die von Portmann und anderen vertretene These, dass das Verhalten von Tieren „(u)mweltgebunden und instinktgesichert“ (67), dasjenige des Menschen dagegen „weltoffen und entscheidungsfrei“ (ebd.) sei. 8 Nach Buytendijk hat der Mensch im Unterschied zum Tier „keine Umwelt, sondern eine Welt“ (F. J. Buytendijk, Mensch und Tier. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie, Hamburg 1958 [Pannenberg-Bibliothek Nr. 03581] hier: 41). Während „jedes Tier mit seiner artspezifischen Umwelt in einem Funktionskreis verbunden existiert“ (40), ist der Mensch von seiner Natur her auf Weltoffenheit angelegt. Gemeinsam ist der Umwelt des Tieres und der Welt des Menschen, „daß sie im Verhalten gebildet werden und dieses hervorrufen und bilden“ (18), unterschieden sind sie dadurch, dass das tierische Verhalten, auch wenn es sich um ein Sich-Verhalten handelt, artspezifisch festgelegt und triebmotiviert ist, wohingegen das instinktreduzierte und triebentlastete Selbstverhältnis des Menschen die Beziehung zu einer gegenständlichen Welt dergestalt ermöglicht, dass Subjekt und Objekt klar voneinander abgrenzbar sind unbeschadet der Wechselbeziehungen, die zwischen ihnen auf vielerlei Weise statthaben. So vermerkt Buytendijk, dass der Mensch sich prinzipiell auch von solchen Situationen absetzen kann, in die er direkt involviert ist: Er kann außer vielleicht im Falle von extremen, gleichsam animalischen Schmerzbzw. Lustempfindungen „die Bindung an die Situation lösen, sich distanzieren, die Situation gegenständlich wahrnehmen“ (49). Eine weitere von vielen Implikationen bzw. Folgen fehlender Umweltfixierung des Menschen ist Buytendijk zufolge die Uneindeutigkeit humaner Existenz. „Die Existenz des Menschen ist doppelsinnig (ambigu) und seine Welt ist ebenfalls zweideutig.“ (51) Diese Behauptung steht nach Buytendijk nicht im Widerspruch zur Annahme einer Verge-

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dass Pannenberg auch die eigens mit dem Titel „Philosophische Anthropologie“ versehene Studie von M. Landmann über „Menschliche Selbstdeutung in Geschichte und Gegenwart“ zusammen mit kulturanthropologischen primär unter bioanthropologischen Gesichtspunkten studiert hat.9 genständlichung der Welt, wie sie für das bewusste Menschenleben charakteristisch ist, sie ist im Gegenteil durch sie bedingt, sofern erst unter Voraussetzung der menschlichen „Fernstellung und Substantivierung einer ‚Umwelt‘ zur ‚Welt‘“ (58) Perspektivenpluralität möglich wird. Das Vermögen des Menschen zur Abstraktion und die Ausbildung seiner Sprachfähigkeit gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie die mannigfachen Weisen humanen Sozialverhaltens, das nachgerade dort, wo es sich regelhaft vollzieht, keinen instinktiven Trieben folgt. Weitere Beispiele ließen sich anführen. Sie belegen in der Perspektive vergleichender Psychologie, die Buytendijk methodisch leitet, bei aller Entwicklungskontinuität die eigentümliche Stellung des Menschen unter den Lebewesen. Der kategoriale Unterschied von Mensch und Tier zeigt sich auch im Vergleich zu hoch entwickelten Säugern, wie am „Umgang von Kind und Schimpanse“ (vgl. 93ff.) oder an der Stellung des Tiers in menschlicher Gemeinschaft (vgl. 88ff.) illustriert wird. Buytendijk stellt tierische Intelligenz nicht in Abrede; indes handle es sich bei ihr um „eine praktische Einsicht ohne Begreifen“ (97). Praxis „auf Grund von Urteilen, die sich aus einem theoretischen Begreifen der Situation ergeben“ (ebd.), sei selbst hoch entwickelten Tieren nicht möglich. Ihr Handlungsvermögen bleibe beschränkt, dasjenige des Menschen hingegen sei entschränkt, was Buytendijk in Beziehung setzt zur entspezifizierten Funktion der menschlichen Hand, die es dem Kleinkind noch vor erfolgter Sprachentwicklung ermögliche, „seine praktische Intelligenz zu entwickeln. Diese vermenschlicht sich schon früh, weil das Kind jene mannigfaltigen Sinnbezüge zu finden und zu erfinden vermag, die dem Schimpansen verborgen bleiben.“ (105) 9 Vgl. M. Landmann, Philosophische Anthropologie. Menschliche Selbstdeutung in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1955 (Pannenberg-Bibliothek Nr. 03569), bes. 155ff. sowie 222ff.: Was die Sonderstellung des Menschen im Reich des Lebendigen betrifft, so tritt sie nach Landmann an der Unspezialisiertheit seiner Organe, an dem Mangel an Instinkt sowie an der Tatsache hervor, dass „der Mensch sehr viel mehr Zeit (braucht) als das Tier, bis er erwachsen wird“ (203). Auch wenn der „langen Jugend“ (206) des Menschen keine Dauer des Erwachsenenstadiums entspricht, die gemäß „Analogie zu den meisten Säugern“ (207) eigentlich erwartbar wäre, so hält die zur zweiten Natur des Menschen gewordene Kultur doch einen Trost bereit: Denn während „für das Tier das Alter nur Abstieg und Verfall bedeutet, bleibt das Leben des Menschen auch bei sinkender Vitalität noch auf der Höhe und sinnvoll“ (ebd.). Dies hinwiederum hänge damit zusammen, „daß das Tier die Dinge in weit höherem Maße als der Mensch nur als Korrelate seiner vitalen Interessen erleb(e)“ (208), wohingegen die Weltoffenheit des Menschen eine Sachlichkeit ermögliche, die auch ein gewisses Maß an Distanzierung der eigenen Lebenssituation gegenüber erlaube und so die humane Bedeutung des Alters relativiere, in dem man sich jeweils befinde. – In der anthropologischen Rede von der exzentrischen Positionalität sieht Landmann den gleichen Sachverhalt umschrieben. Der Mensch ist von Natur aus auf Kultur angelegt. Sie „ist die Antwort, die der durch den Ansturm einer unübersichtlichen Welt Betroffene erteilt, um sie sich übersichtlich zu machen“ (220). Kulturanthropologie wird daher nach Landmanns Prognose „die Anthropologie der Zukunft sein“ (222). Sie wird v. a. zu beachten haben, dass der Mensch sowohl Schöpfer als auch Geschöpf der Kultur ist. Kulturanthropologie hat die Philosophie des subjektiven Geistes zur Basis, muss sich aber, wie Landmann im Anschluss an Hegel sagt, zur Philosophie des objektiven Geistes fortentwickeln:

Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos

7.2

Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos

Max Schelers Studie über „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ bietet nach seiner eigenen, in der Vorrede gegebenen Auskunft die knappe Zusammenfassung einer Programmschrift zur „Philosophischen Anthropologie“, deren Publikation für Anfang des Jahres 1929 geplant war. Krankheit und Tod des Autors verhinderten die Realisierung des Plans. Der geraffte Kurztext erschien erstmals 1927 als Jahrbuchbeitrag und erneut Anfang 1928 in Form eines Sonderdrucks. Eine Neuauflage der Schrift wurde anhand des Manuskripts eines im April 1927 in Darmstadt gehaltenen Vortrag Schelers zum Thema ergänzt und 1947 mit US-amerikanischer Lizenz bei der Nymphenburger Verlagsbuchhandlung publiziert.10 Ein Exemplar dieser Ausgabe findet sich in der in der Münchner Hochschule für Philosophie verwahrten Pannenberg-Bibliothek unter der Buch-Nr. 03568. Pannenberg hat es, wie zahlreiche Unterstreichungen und Randnotizen belegen, intensiv studiert. Stufen des Psychischen Die Sonderstellung des Menschen im Kosmos kann nach Scheler nur dann angemessen erkannt werden, wenn der gesamte „Aufbau der biopsychischen Welt“ (11) und die, wie es heißt „Stufenfolge“ (ebd.) des psychophysischen Seins vegetabilischer und animalischer Entitäten ins Auge gefasst wird. Die „erste Stufe des seelischen Werdeseins“ (12), in der er einen bewusst-, empfindungsund vorstellungslosen „Gefühlsdrang“ (ebd.) am Werke oder, mit seinen Worten zu reden, am Dampfen sieht, weist er der Pflanze zu, deren Leben sich im blind-tastenden Drängen nach Wachstum und Fortpflanzung erschöpft. „Weder wählt sie spontan ihre Nahrung, noch verhält sie sich in der Befruchtung aktiv“ (13), was nach Scheler als ein eindeutiges Indiz ihrer im Vergleich zum Tier defizitären „Seins-Struktur“ (14) darstellt. Grund bzw. Manifestationsgestalt des besagten vegetabilischen Mangels sei das „völlige Fehlen einer Rückwendung des Lebens in sich selbst, einer noch so primitiven re-flexio, eines noch so schwach ‚bewußten‘ Innenzustandes“ (ebd.). Trotz dieser Elementardefizite höher entwickelten Lebewesen gegenüber sei dem pflanzlichen Sein Lebendigkeit und rudimentäre Beseelung im Modus dessen, was Scheler Gefühlsdrang Wiewohl nämlich „die Kultur nur aus dem Menschen entsteht und auch als entstandene zu ihrer Verlebendigung nach wie vor darauf angewiesen ist, daß er sie trägt, sich ihrer bedient und mit ihr erfüllt, so haftet sie doch nicht unmittelbar am Menschen selbst, sondern hat auch ein selbständiges Dasein außerhalb seiner“ (239). Vgl. ferner: ders., De homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens, Freiburg/München 1962. 10 M. Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, München 1947. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf; Sperrungen werden durch Kursivierung wiedergegeben.

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nennt, nicht zu bestreiten. Sie teile diesen mit allem Lebendigen, woran sich die Einheit des Lebens zeige, als dessen Urgrund ein Pflanze, Tier und Mensch umfassender Vitaltrieb walte. Als ein organologisches Beispiel für die noch im Menschen vorhandene „Pflanzlichkeit“ (16) führt Scheler „das vor allem die Nahrungsverteilung regelnde“ (ebd.), bezeichnenderweise vegetativ genannte Nervensystem an. Auf den das vegetabilische Leben beherrschenden „undifferenzierten ekstatischen Gefühlsdrang“ (16f.) als der „unterste(n) Stufe des Psychischen“ (12) folgt nach Scheler als „die zweite seelische Wesensform“ (16) „in der objektiven Stufenordnung des seelischen Lebens“ (17) der Instinkt, der „ausschließlich vom sogenannten Verhalten des Lebewesens aus“ (ebd.) zu definieren sei. Instinktiv habe man ein lebendiges Verhalten dann zu nennen, wenn es „nach einem festen, unveränderlichen Rhythmus“ (ebd.) ablaufe und „teleoklin“ (ebd.), also im Großen und Ganzen zweckmäßig sei, wobei Scheler unter teleokliner Zweckmäßigkeit im Wesentlichen Artdienlichkeit versteht. „Der Instinkt ist stets artdienlich, sei es der eigenen, sei es der fremden Art, mit der die eigene Art in einer wichtigen Lebensbeziehung steht.“ (18) Dem entspreche es, „daß der Instinkt in seinen Grundzügen angeboren und erblich ist, und zwar als spezifiziertes Verhaltungsvermögen selbst, nicht nur als allgemeines Erwerbungsvermögen von Verhaltungsweisen, wie es natürlich auch Gewöhnbarkeit, Dressierbarkeit und Verständigkeit sind“ (19). Wenn das einzelne Tier seinem Instinkt folgt, dann geschieht das nicht aus gleichsam individuellen Motiven heraus, sondern aus Gründen der Art und der Gattungsnatur. Zwar stellt instinktives Verhalten „eine zunehmende Spezialisierung des Gefühlsdrangs und seiner Qualitäten dar“ (23), aber es bleibt eingespannt in einen Reiz-Reaktions-Mechanismus, in den, wie Scheler sagt, „Vor-Wissen und Handlung“ (22) dergestalt koinzidieren, dass „niemals mehr Wissen gegeben ist, als in den nächsten Schritt der Handlung gleichzeitig eingeht“ (ebd.). Als dritte Stufe und Wesensform des Psychischen geht nach Scheler aus dem instinktiven Verhalten das gewohnheitsmäßige ursprünglich hervor. Es sei jedem Lebewesen zuzusprechen, „dessen Verhalten sich auf Grund früheren Verhaltens gleicher Art in einer lebensdienlichen, also sinnvollen Weise langsam und stetig abändert, d. h. so, daß das jeweilige Maß, in welchem sein Verhalten sinnvoller wird, in strenger Abhängigkeit steht von der Zahl der Versuche oder der sog. Probierbewegungen“ (23). In der Gewohnheit wirkt der Instinkt fort, aber doch nicht mehr auf unmittelbare und unbedingte, sondern auf mittelbare Weise und nach Weise eines bedingten Reflexes (vgl. 24), der Anpassung in Form einer Veränderung ermöglicht, welche die Gefahr der Auflösung zuständlicher Selbigkeit durch regelmäßige Wiederholungsübung bannt. An dem nach seinem Urteil für gewohnheitsmäßiges Verhalten basalen assoziativen Gedächtnis verdeutlicht Scheler, was gemeint ist.

Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos

Praktische Intelligenz Gewohnheit ist eine Form der Selbstaneignung, welche das Lebewesen heimisch werden lässt in sich selbst. Vor einer Einhausung, die in tödlicher Erstarrung endet, wird es nach Scheler durch eine „vierte Wesensform des psychischen Lebens“ (29) in Gestalt einer „praktische(n) Intelligenz“ bewahrt, die – ursprünglich noch prinzipiell organisch gebunden – immer freier werdende Verhaltensweisen aus sich entlässt. Praktische Intelligenz ist einem Lebewesen zu attestieren, „wenn es ohne Probierversuche oder je neu hinzutretende Probierversuche ein sinngemäßes … Verhalten neuen, weder art- noch individualtypischen Situationen gegenüber vollzieht, und zwar plötzlich und vor allem unabhängig von der Anzahl der vorher gemachten Versuche, eine triebhaft bestimmte Aufgabe zu lösen“ (30). Eine solche Verhaltensweise stelle gegenüber einer instinktiven eine neue biopsychische Entwicklungsstufe insofern dar, als nun anders als im assoziativen Gedächtnis nicht nur reproduktiv, sondern produktiv und in der Weise eines antizipativen Vor-habens auf situative Verhältnisse Bezug genommen werde. Ob und gegebenenfalls inwiefern bestimmte Tierarten zu Intelligenzleistungen dieser Art befähigt sind, muss im gegebenen Zusammenhang nicht eigens erörtert werden. Scheler referiert den diesbezüglichen Forschungsstreit, um sich selbst in einer Mittelstellung zu positionieren: Einerseits beginne sich im Tier die Triebdynamik zu versachlichen, sodass jenseits von Instinkt und bloßer Gewohnheit intelligent zu nennendes Verhalten zum Vorschein komme, das über einen bloßen Trieb-, Assoziations- und Reflexmechanismus hinausweise und Wahlmöglichkeiten eröffne. Andererseits sei die tierische Potenz zu wählen nicht nur eingeschränkt, sondern etwas kategorial anderes als ein bewusstes Wollen, wie es erst und – unter allen bekannten kosmischen Entitäten und Lebewesen – nur beim Menschen anzutreffen sei. Wie hat man dies zu verstehen? Schelers Antwort auf diese Frage kommt eine Schlüsselstellung für sein anthropologisches Gesamtkonzept zu. Das Wesen des Menschen und seine Sonderstellung im Kosmos lasse sich weder durch eine – gegebenenfalls zu einem nicht mehr überbietbaren Superlativ – zugesteigerte Ausstattung mit Fähigkeiten, wie sie im Tierreich begegnen, noch dadurch begründen, dass „man sich das Neue, das den Menschen zum Menschen macht, nur dächte als eine zu den psychischen Stufen Gefühlsdrang, Instinkt, assoziatives Gedächtnis, Intelligenz und Wahl noch hinzukommende neue Wesensstufe psychischer, der Vitalsphäre angehöriger Funktionen und Fähigkeiten, die zu erkennen also noch in der Kompetenz der Psychologie und Biologie läge“ (35). Das, was den Menschen zu einem Menschen mache und sein spezifisches Wesen begründe, welches ihm eigentümlich sei, sei nicht eine neue Stufe des Lebens in der Einheit seiner Manifestationsformen, sondern „ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegen-

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gesetztes Prinzip“ (ebd.), das als „eine echte neue Wesenstatsache“ (ebd.) auf keinen natürlichen Lebensentwicklungsprozess zurückgeführt werden könne, sondern in seiner Irreduzibilität, „wenn auf etwas, nur auf den obersten einen Grund der Dinge selbst zurückfällt: auf denselben Grund, dessen eine große Manifestation das ‚Leben‘ ist“ (ebd.). Scheler nennt besagtes Grundprinzip vorzugsweise „Geist“ (ebd.) und das Aktzentrum, in dem es „innerhalb endlicher Seinsphären erscheint“ (ebd.), „Person“ (ebd.). Geistiges Personwesen Charakteristisches Kennzeichen eines geistigen Personwesens ist nach Scheler „seine existenzielle Entbundenheit vom Organischen“ (36). Die Deutungsbedürftigkeit dieser Bestimmung wird in Pannenbergs Handexemplar durch die am Rande markierte Frage markiert, ob „existenziell“ in der zitierten Wendung mit „exzentrisch“ gleichzusetzen sei. Eine förmliche Antwort ist insofern kaum zu geben, als Scheler im gegebenen Zusammenhang statt von Exzentrizität durchweg von menschlicher Weltoffenheit spricht. Sachlich aber lässt sich eine Verbindung zwischen beiden Wesensbestimmungen des Menschen unschwer finden, da das umweltfreie, weltoffene Verhalten des Menschen seine exzentrische Entbundenheit von unmittelbarer Organverhaftung und psychophysischer Selbstzentriertheit zur impliziten Prämisse hat. Weil der Mensch nicht in seiner Umwelt aufgeht, sondern „Welt“ (vgl. 36) hat, vermag er sein Verhältnis zu ihr sachlich zu gestalten und die weltlichen Dinge samt allem, was er nicht unmittelbar selbst ist, in objektivierender Weise von sich zu unterscheiden. Auch sein Selbstverhältnis ist differenziert und durch Möglichkeiten der Distanzierung gekennzeichnet, was Scheler u. a. an der Fähigkeit des Menschen illustriert, unmittelbare Triebimpulse zu hemmen und kompensativ umzugestalten. Kurzum: „Kraft seines Geistes vermag das Wesen, das wir ‚Mensch‘ nennen, nicht nur die Umwelt in die Dimension des Weltseins zu erweitern und Widerstände gegenständlich zu machen, sondern es vermag auch – und das ist das Merkwürdigste – seine eigene physiologische und psychische Beschaffenheit und jedes einzelne psychische Erlebnis, jede einzelne seiner vitalen Funktionen selbst wieder gegenständlich zu machen.“ (39) Nachdem er die anthropologische Bedeutung des Geistes der Sachlichkeit, der nicht nur das Weltverhältnis des Menschen, sondern auch sein Selbstverhältnis elementar bestimme, anhand eingehender Vergleiche zwischen animalischen und humanen Lebensformen unter besonderer Berücksichtigung der Thematik von Raum- und Zeitwahrnehmung belegt hat, überrascht Scheler mit der – von Pannenberg mit zwei Fragezeichen versehenen – These, dass der Geist als die Möglichkeitsbedingung von Vergegenständlichung das einzige Sein sei, „das selbst gegenstandsunfähig ist“ (44). Der Geist, so Scheler, „ist reine, pure

Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos

Aktualität, hat sein Sein nur im freien Vollzug seiner Akte“ (ebd.). Als actus purus ist der Geist in allen geistigen Aktvollzügen der Menschenperson tätig, ohne mit ihr identisch zu sein. Schelers Geist ist an sich selbst keine individuelle Ichgröße, sondern, wie es ausdrücklich heißt, übersingulär (vgl. 45) und mit keinem einzelnen Seienden, sondern nur mit jenem obersten Seinsgrund (vgl. 44) zu identifizieren, der allem Seienden sein Sein gibt und an dessen Geistigkeit „durch Mitvollzug“ (45) zu partizipieren die Bestimmung des Geistwesens der Menschenperson ist. Im „Akt der Ideierung“ (46) als der apriorischen Erfassung der Wesensstrukturen des Seienden manifestiert sich die menschliche Geistteilhabe Scheler zufolge in paradigmatischer Weise. Zwar unterliege die konkrete Organisation der Menschenvernunft geschichtlichem Wandel. Doch als Anlage und Potenz zur Generierung von je neuer, von bloßer Daseinsfeststellung abgehobener Wesenserkenntnis bleibe sie konstant und zeitinvariant. Man kann das auch so sagen: Der Menschengeist ist bei sich nur im Über-sich-hinaus. Sein Wesen besteht darin, alle Natur einschließlich der eigenen zu transzendieren. Bleibt zu fragen, ob die naturtranszendierende Menschennatur auf ein der Natur entgegengesetztes und insofern naturtranszendentes Geistprinzip zurückzuführen oder kontinuierlich aus dem Naturzusammenhang heraus zu erklären sei. Schelers Antwort scheint klar zu sein; er hat sie wiederholt gegeben: „Das, was den Menschen allein zum ‚Menschen‘ macht, ist nicht eine neue Stufe des Lebens – erst recht nicht nur eine Stufe der einen Manifestationsform dieses Lebens, der ‚Psyche‘ –, sondern es ist ein allem und jedem Leben überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip.“ (35) Ideierung Dass der Mensch als Geist sich nicht nur dem Leben im Allgemeinen, sondern auch seinem eigenen, individuellen Leben entgegensetzt und entgegensetzen muss, um seiner humanen Wesensbestimmung zu entsprechen, hat Scheler im Kontext seiner Anthropologie vor allem moraltheoretisch zur Geltung zu bringen versucht. Asketischer Triebverzicht und asketische Triebsublimierung stellten für ihn Grundlage und Möglichkeitsbedingung jeder Menschenkultur dar, wobei im gegebenen Zusammenhang offen bleiben kann, ob der für den Menschen charakteristische Triebüberschuss „erst eine Folge der bereits vollzogenen Triebverdrängung“ (57) ist, wie Scheler meint, oder nicht seine Ursache, was er entschieden verneint. Pannenberg, so viel sei gesagt, hat an der zitierten Stelle in seinem Handexemplar am Rand ein großes Fragezeichen angebracht. Mit einem nicht minder großen Ausrufezeichen hat er dagegen Schelers Bemerkung versehen, „Ziel und Ende endlichen Seins und Geschehens“ (65) sei „(d)ie gegenseitige Durchdringung des ursprünglich ohnmächtigen Geistes und des

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ursprünglich dämonischen, d. h. gegenüber allen geistigen Ideen und Werken blinden Dranges durch die werdende Ideierung und Vergeistigung der Drangsale, die hinter den Bildern der Dinge stehen, und die gleichzeitige Ermächtigung, d. h. Verlebendigung des Geistes“ (ebd.). Ob in Konsequenz dieser Annahme dem Theismus und mit ihm dem – eschatologieorientierten – Gedanken einer protologischen creatio ex nihilo der Abschied zu geben ist, wäre zu prüfen. Für Scheler ist diese Konsequenz zwingend: „der Grund der Dinge mußte, wenn er seine deitas, die in ihr angelegte Ideen- und Wertfülle verwirklichen wollte, den weltschaffenden Drang enthemmen, er mußte den Weltprozeß sozusagen in Kauf nehmen, um in und durch den zeithaften Ablauf dieses Prozesses sein Wesen zu verwirklichen“ (65). Diese Notwendigkeit einer Wesensverwirklichung Gottes in der Zeit sei mit der theistischen Annahme einer göttlichen „Weltschöpfung aus nichts“ (64) inkompatibel. Diese „zerfällt“ (ebd.) und muss zerfallen, weil der deitas im Seinsgrund ursprünglich „keinerlei positive schöpferische Macht“ (ebd.) zukomme, insofern in der „Urspannung von Geist und Drang“ (ebd.) der Drang anfänglich stark, der Geist hingegen schwach sei. Pannenberg hat am Rande dieser Passage ein Ausrufe- und ein Fragezeichen markiert und hinzugesetzt: „Gnosis!“11 7.3

Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch

In einem – Pannenbergs Handexemplar von Helmuth Plessners Hauptwerk12 beigefügten – Nachruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. Juni 11 Hält man nach weiteren Randzeichen Pannenbergs Ausschau, so treten sie gehäuft in dem Kapitel auf, in welchem sich Scheler mit Descartes‘ angeblichem oder tatsächlichem Dualismus auseinandersetzt (vgl. 65ff.) und die These vertritt, der von ihm behauptete Gegensatz von Geist und Leben sei dem cartesischen von Leib und Seele entgegengesetzt und „überlegen“ (74). Mit der Annahme einer „Scheidung von ‚Geist und Leben‘“ (77 Anm. 1), wie sie Scheler zufolge schon seiner Erstlingschrift über „Die transzendentale und die psychologische Methode“ zugrunde gelegen habe, kann sich Pannenberg, wie es scheint, ebenso wenig anfreunden wie mit den Erklärungen, die Scheler zum Schluss seiner Studie zur Verteidigung der Idee eines „unfertigen“ (85), „werdenden“ (ebd.) Gottes anführt. Die Affirmation des Schelerschen Grundsatzes, dass „Welt-, Selbst- und Gottesbewußtsein … eine unzerreißbare Struktureinheit bilden“ (82), bleibt von diesen Vorbehalten unberührt. 12 H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (1928), Berlin 2 1965. Das Buch ist in der Pannenbergbibliothek unter Nr. 03570 registriert. Zu Schelers Lehre vom verlebendigten Geist und Plessners Konzeption der exzentrischen Positionalität vgl. die Studie von H.-P. Krüger, Geist in der lebendigen Natur, in: R. Becker u. a. (Hg.), Philosophische Anthropologie im Aufbruch. Max Scheler und Helmuth Plessner im Vergleich, Berlin 2010, 51–62.

Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch

1985 (Nr. 135, S. 25) hat Odo Marquard den Autor der Monographie über „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ als herausragenden Vertreter der Philosophischen Anthropologie als einer „Naturphilosophie des Menschen“ gewürdigt. Obwohl humane Geschichtsoffenheit betonend bestimme Plessner „den Menschen nicht von einer geschichtlichen Utopie, sondern von der lebendigen Natur her. Das Lebendige ist lebendig durch seine ‚Positionalität‘: dadurch, daß es eine ‚Grenze‘ gegenüber seinem ‚Umfeld‘ nicht nur hat, sondern seine ‚Grenze‘ gleichzeitig auch ‚ist‘; es muß seinen Ort und seine Grenze sich erleben. Diese ‚Positionalität‘ ist beim Menschen – anders als bei Pflanze und Tier – ‚exzentrisch‘: die Menschen, die Exzentriker unter den Lebewesen, müssen zugleich in einer Vollzugswelt und einer Reflexionswelt leben“, sie müssen „sich zu dem, was sie sind, erst machen“ mit der Folge, dass sie gleichsam von Natur aus zur Kultur und zur Vermittlung natürlicher Unmittelbarkeit gezwungen sowie, „sozusagen konstitutionell heimatlos, zur Geschichtlichkeit und Transzendenz genötigt“ sind. Unter diesem Gesichtspunkt und von hier aus hat Plessner Marquard zufolge – „anders als der Ältere, Scheler, und anders als der Jüngere, Gehlen“ – seiner naturphilosophisch angelegten Exzentrizitätsanthropologie einen Zugang zum „Erbe der Geschichtsphilosophie und Reflexionsphilosophie des deutschen Idealismus“ erschlossen, ohne geschichtsutopischen Illusionen zu verfallen. Conditio humana Als Belege des „Brückenschlags zwischen philosophischer Anthropologie und Geschichte“ führt Marquard Plessners „erfolgreichstes Buch“ über „Die verspätete Nation. Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche“ (1935; 2 1959) sowie seine Einleitung zur PropyläenWeltgeschichte „Conditio humana“ (1961) an; ein 1964 erschienener Neudruck der Schrift befindet sich in der Pannenbergbibliothek unter Nr. 03572.13 Plessner fokussiert die Frage nach der conditio humana, die er mit Erwägungen zur Krise von Historismus und Fortschrittsgedanken, zur biologischen Evolutionstheorie und zu Versuchen einer Philosophie des Lebens bei Bergson und Dilthey einleitet (vgl. 3–22), auf zwei Themenkomplexe, die er mit der Überschrift „Der menschliche Bauplan“ (vgl. 23–48) und „Elemente menschlichen Verhaltens“ (vgl. 49–72) versieht. Die Natur im Allgemeinen und diejenige des Menschen im Besonderen bilden, so die Ausgangsthese, nicht lediglich den äußeren Rahmen humaner Kulturgeschichte, sondern stellen selbst „eine szenische Macht“ (21) dar. „Das heißt aber, daß mit einer Grundlegung der geisteswissenschaftlichen Erfahrung die Aufrollung von Problemen verbunden 13 H. Plessner, Conditio humana, Pfullingen 1964. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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ist, die vor der leibhaften Sphäre des Lebens nicht haltmachen können. Mit einer puren, um nicht zu sagen: purifizierten Existenz, die den Menschen doch nur wieder auf seinen Binnenaspekt zurückwirft, demgegenüber seine faktische Figur und Biologie zur gleichgültigen Äußerlichkeit wird, ist hier nichts gewonnen. Hermeneutik fordert eine Lehre vom Menschen mit Haut und Haaren, eine Theorie seiner Natur, deren Konstanten allerdings keinen Ewigkeitsanspruch gegenüber der geschichtlichen Variabilität erheben, sondern sich selber zu ihr offenhalten, indem sie ihre Offenheit selbst gewährleisten.“ (21f.) Versachlichungsvermögen und Weltoffenheit Um die conditio humana bzw., „wie die Alten sagten“ (27), die natura hominis als „die vormenschliche Grundstruktur des Menschen in ihm“ (ebd.) zu erfassen, bietet sich nach Plessner „zunächst sein Bauplan“ (ebd.) an. Er analysiert ihn bezüglich des für die menschliche Entwicklung entscheidenden Zusammenhangs von extrem langer Jugendphase, entsprechendem Triebüberschuss und ausgebildeter Spielfähigkeit sowie in Bezug auf den aufrechten Gang und die Dominanz des Auge-Hand-Feldes, das durch die Sprache überhöht werde: „Imitation und Vergegenständlichung, auf denen Erwerb und Gebrauch einer Sprache beruhen, haben die gleiche Wurzel, nämlich das dem Menschen gegebene Vermögen, von sich absehen und sich in ein anderes versetzen zu können.“ (37) Ohne Versachlichungsvermögen, wie es in seinem konstitutionellen Bauplan angelegt ist, könnte der Mensch weder Sprache noch technische Werkzeuge handelnder Weltbewältigung erfinden, wodurch er seine biologischen Defizite kompensiert und zugleich den „Sinn für die Reziprozität der Perspektiven im Verhältnis von meinem leibhaften Dasein zum Dasein der anderen“ (40) fortschreitend ausbildet. Sozialität und Sachbezug sind kennzeichnend für das dem Menschen eigentümliche Welt-Umwelt-Verhältnis, mit dessen Thematisierung Plessner zur Analyse von Elementen menschlichen Verhaltens überleitet. Im Unterschied zu Pflanze und Tier ist der Mensch nicht umweltfixiert, sondern weltoffen, wenngleich seine Weltoffenheit stets „fragmentarischen Charakter“ (48) hat, da Umweltbindung auch unter humanen Bedingungen nicht prinzipiell aufzuheben ist. „Weltoffenheit ohne jede Einschränkung kann ihm nicht zukommen. Sie wäre nur einem Subjekt möglich, das – wie die mittelalterliche Theologie sich den Engel dachte – leiblos wäre oder einen pneumatisierten Leib besäße, wobei Welt den Inbegriff des Wirklichen in seiner Unverhülltheit bedeutet.“ (47)

Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch

Exzentrische Positionalität Plessners Leitbegriff, mit dem er die beschränkte und fragmentarische Weltoffenheit des Menschen umschreibt, lautet „exzentrische Positionalität“ (vgl. 49ff.). Der Mensch nimmt in der Welt eine begrenzte Position ein und ist selbstzentriert; er transzendiert aber zugleich Selbst und Welt und weist von seinem Wesen her über alle Grenzen hinaus, die ihm gesetzt sind. Plessner thematisiert die für den Menschen eigentümliche Exponiertheit an exemplarischen Fallanalysen zu humaner Rollenverkörperung, ohne welche menschliche Personalität nicht möglich sei, sowie an der körperlichen Ausdrucksform von Lachen und Weinen als humanspezifischen „Reaktionen auf Grenzen, an welche unser Verhalten stößt“ (62).14 Ein Grenzphänomen der besonderen Art sei ferner mit der 14 1941 hat Plessner der Thematik eine eigene Studie gewidmet, die er ein knappes Jahrzehnt später erneut erscheinen ließ und zwar „(m)it einem lachenden und einem weinenden Auge“, wie er im Vorwort zur zweiten Auflage schrieb (H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, München 1950, 7; das Buch befindet sich in der Pannenberg-Bibliothek unter Nr. 03571.). Erfreulich war für Plessner die große Resonanz, die seine Untersuchungen hervorriefen, betrüblich die Tatsache, dass er sich Repliken auf kritische Anregungen versagen musste, „sollte, um mit Jean Paul zu reden, der Wasserstand der Anmerkungen nicht bedrohlich steigen“ (ebd.). Lachen und Weinen sind nach Plessner psychosomatische Ausdrucksweisen, mit denen der Mensch auf Grenzerfahrungen reagiert und zwar in der Regel unmittelbar und ohne zweckorientierte Absicht. Kennzeichnend sind „Eruptivität und Zwangsmäßigkeit der Äußerungsform bei fehlender symbolischer Prägung“ (30). Man muss lachen bzw. weinen, ob man will oder nicht: „Wer lacht oder weint, verliert in einem bestimmten Sinne die Beherrschung, und mit der sachlichen Verarbeitung der Situation ist es fürs erste zu Ende.“ (29) Trotz ihrer Unmittelbarkeit sind Lachen und Weinen nach Plessner keine bloßen Reizreaktionen, die dem Gesetz der determinierenden Naturkausalität folgen. „Zum Lachen (und zum Weinen) gehört … die sinnvolle und sinnbewußte Beziehung der eruptiv ausbrechenden, zwanghaft abrollenden, symbolisch ungeprägten Äußerung auf einen Anlaß“ (32), der nicht „direkt abreagier(t)“ (ebd.), sondern indirekt abgearbeitet werde. „Nicht mein Körper, sondern ich lache und weine … ‚über etwas‘.“ (Ebd.) Lachen und Weinen sind entsprechend humanspezifische Verhaltensweisen, die im Tierreich vergleichbar nicht vorkommen. Als körperliche Äußerungsformen gehen sie immer auch auf Distanz zur Körperlichkeit, deren Beherrschung just aus jenem Grund verlorenging, der Anlass zum Lachen bzw. Weinen bot. Der lachende bzw. weinende Mensch antwortet „mit seinem Körper als Körper wie aus der Unmöglichkeit heraus, noch selber eine Antwort finden zu können. Und in der verlorenen Beherrschung über sich und seinen Leib erweist er sich als ein Wesen zugleich außerleiblicher Art, das in Spannung zu seiner physischen Existenz lebt, ganz und gar an sie gebunden.“ (40) Plessner wertet menschliches Lachen und Weinen als signifikante Paradigmen für dasjenige, was er die exzentrische Positionalität des Menschen nennt. Der Mensch ist körperlich positioniert und lebt leibhaft in einem bestimmten bzw. als ein bestimmter Körper, von dem er sein Dasein nicht zu trennen vermag. Nichtsdestoweniger ist der menschliche Körperbezug exzentrisch verfasst. „Darum ist das körperleibliche Dasein für den Menschen ein Verhältnis, in sich nicht eindeutig, sondern doppeldeutig, ein Verhältnis zwischen sich und sich (wenn man es genau sagen will: zwischen ihm und sich).“ (45) Während das Tier „keinen Bruch zwischen sich und sich“ (49) zu überwinden hat, ist genau dies beim Menschen der

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Tatsache gegeben, dass im Menschen „Todeserfahrung und Lebenserfahrung … von allem Anfang an eine Einheit (bilden), weil in der Verkörperung die Entkörperung als ihr Gegenzug mit enthalten ist“ (65f.). Der Mensch lebe nicht nur am Lebensende, sondern zeit seines Lebens an der Todesgrenze, die seinem Dasein eingezeichnet sei und über die es zugleich lebenslang hinausstrebe. U. a. darin liege es begründet, dass Religion wesentlich zur Natur des Menschen gehöre. Als charakteristische Kennzeichen der conditio humana geben Exponiertheit im Sinne der exzentrischen Positionalität und beschränkt-fragmentarische Weltoffenheit des Menschen „einer ambivalenten Lage Ausdruck, die bald in Überlegenheit, bald in Schwäche und Unsicherheit manifestiert wird. Unbehaustheit und planend-gestalterisches Können, das die Dinge im Griff hat, begegnet auf Schritt und Tritt der Chance einer übermächtigen Drohung, den Dingen ausgeliefert zu sein und ihnen zu erliegen. Jedem Verhalten stellt sich ein offenes überschießendes Plus entgegen, das räumlich in der ständig sich verschiebenden Horizontlinie jeweils übersehbarer Umgebung, zeitlich als Zukunft, an den Dingen als verborgene Möglichkeit, überall also als ein Nichtgegebenes in Erscheinung tritt. Dieses gilt es zu bannen, abzuwehren wie in die Gewalt zu bekommen. Nur ein Äußerstes bildet zu dieser Aufgebrochenheit das Gegengewicht und gibt ihm entsprechenden Rückhalt, ein Äußerstes an Fall. Er ruht nicht unmittelbar in sich, sondern strebt beständig über sich hinaus, ohne doch sein Dasein verlassen zu können. Er bleibt auch jenseits seiner selbst bei sich und umgekehrt. Für diese Doppelstellung des Menschen bieten Lachen und Weinen insofern charakteristische Beispiele, als sie Indizien von Personalität genau an der Stelle bieten, wo die menschliche Person ihre Selbstbeherrschung verliert (vgl. 43). In ihnen entlädt sich eine Spannung, die für das psychophysische Personsein des Menschen insgesamt kennzeichnend ist. Inwiefern Lachen und Weinen charakteristische Kennzeichen für das gespannte, ja gebrochene Verhältnis des Menschen zu sich und damit für seine exzentrische Positionalität sind, die Plessner auch als vermittelte Unmittelbarkeit beschreiben kann, wird im Fortgang seiner Untersuchung zu menschlichem Grenzverhalten an der Ausdrucksweise (vgl. 63–91) und an den Anlässen von Lachen (vgl. 93–154) und Weinen (vgl. 155–184) exemplifiziert, bis die Untersuchung mit Erwägungen über beider Ursprung geschlossen wird (vgl. 185–211); dieser ist nirgend anders als in der Stellung des Menschen auf der Grenze zu suchen und zu finden. Lachen und Weinen sind gegenläufige, aber gerade in ihrer Gegenläufigkeit auf einander verweisende Grenzreaktionen auf Verhaltensgrenzen, die dem Menschen einerseits gesetzt sind, die er aber seiner Wesensnatur gemäß andererseits beständig zu transzendieren bestrebt ist. Zur Wahrnehmung des Komischen als Inkongruenz und zur befreienden Wirkung des Lachens, in dessen Vollzug sich vergleichbar dem Weinen eine innere Spannung entlädt, vgl. auch P. L. Berger, Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung, Berlin/New York 1998. Ferner: L. Prütting, Homo ridens. Eine phänomenologische Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens, 3 Bde., Freiburg/München 2013. Diskussionsbedürftig ist Prüttings These, dass Jesus „als wahrer Mensch zwar sehr wohl habe lachen können, aber nicht habe lachen wollen“ (I, 312).

Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch

Macht und Hoheit.“ (67) Auf ein entsprechendes Gegenüber ist der Mensch in religiöser Beziehung ausgerichtet, ohne es „kommt offenbar menschliches Verhalten in seinem ambivalenten Verhältnis zu seiner fragmentarischen Welt nicht aus“ (68). Religiöses Verhältnis Wie immer dieses Gegenüber im Einzelnen gestaltet und verstanden werden mag, es hat für den Menschen die Doppelfunktion des von Selbst und Welt einerseits grundsätzlich Unterschiedenen und andererseits dessen, mit dem man sich identifizieren kann. Gottebenbildlichkeit heißt das Stichwort, anhand dessen Plessner das beschriebene Korrespondenzverhältnis zu plausibilisieren sucht. Als das Wesen, dem der Grund von Selbst und Welt eingebildet ist, lebt der Mensch von Natur aus geschichtlich dergestalt, dass er beständig über seine Herkunft hinaus Zukünftigem entgegenstrebt, das er kommen sieht, ohne es doch vorausschauen zu können. Seine Welt ist offen, sein in ihr positioniertes Ich exzentrisch verfasst, seine Naturanlage „Ursprung, aber nicht Grenze seiner Geschichtlichkeit“ (72). Grundgelegt und breit ausgeführt sind die Ergebnisse der Studien zur conditio humana und zur Exzentrizität menschlicher Lebensformen in Plessners Hauptwerk „Die Stufen des Organischen und der Mensch“, dessen Erstauflage im gleichen Jahr wie Schelers Schrift „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ erschienen ist und 37 Jahre danach erneut in einer zweiten – um Vorwort, Nachtrag und Register erweiterten – Auflage. Im umfangreichen Vorwort zur Zweitauflage erläutert Plessner sein Verhältnis sowohl zu Scheler und dessen „Theomorphie des Menschen“15 als auch zu Gehlen, dessen handlungstheoretischen Ansatz und insbesondere die „Auffassung der Sprache als Handlung“ (XVI) er vehement kritisiert: Menschliches Verhalten lasse sich auf kein Schema bringen, „nicht auf das der Kettenreflexe, aber auch nicht auf das des zweckgerichteten Handelns“ (XVIII). Als Leitfaden der sich „strikt im Rahmen der äußeren Anschauung“ (XIX) haltenden Untersuchungen zu den Daseinsweisen pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens dient der Begriff der Positionalität und die Frage, wie sich Lebewesen in der begrenzten Körperlichkeit ihrer Weltposition zu ihrer Grenze verhalten. Im Falle des Menschen lautet die Antwort auf diese Frage: exzentrisch. Zwar habe nicht nur der Menschenkörper „außer seiner Begrenzung den Grenzübergang selbst als Eigenschaft“ (103); dies treffe in bestimmter Weise für alle Lebewesen zu, deren Organisation durch „Selbstvermittlung der Einheit des

15 Ders., Die Stufen des Organischen und der Mensch, XI. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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belebten Körpers durch ihre Teile“ (185) bestimmt sei. An den Organisationsweisen des lebendigen Daseins von Pflanze und Tier hat Plessner dies im Einzelnen aufgezeigt (vgl. 185ff.). Insbesondere der Organismus hoch entwickelter Tiere weise bei allen Begrenzungen bereits grenzüberschreitende Tendenzen auf. Doch gehe selbst das Tier, dessen Verhalten manifest rückbezüglich und damit ein Sichverhalten sei, im Grunde seines Daseins im Hier und Jetzt auf, ohne dieses reflexiv von sich zu distanzieren und gegenständlich werden zu lassen. Zu solcher mit Selbstrelativierung unveräußerlich verbundenen Sachlichkeit ist nach Plessner erst der Mensch fähig, mit dem die Stufenfolge des Organischen ihren Höhepunkt erreicht hat. In ihm ist die Bedingung dafür gegeben, „daß das Zentrum der Positionalität zu sich selbst Distanz hat, von sich selbst abgehoben die totale Reflexivität des Lebenssystems ermöglicht“ (290). Anders gesagt: „Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus.“ (291) Doppelcharakter der Existenz In seiner exzentrischen Positionalität ist der Mensch seiner selbst sowie einer gegenständlichen Welt bewusst und als selbstbewusstes Ich in der Lage, sich beständig auf sie und sich selbst zu beziehen: „Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus sich heraus, exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.“ (291f.) Wie indes die Weltoffenheit des Menschen nach Plessner seine Umweltbindung nicht aufhebt und insofern beschränkt und fragmentiert bleibt, so durchbricht der exzentrische Bruch seiner Natur nicht deren Zentriertheit. Um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist, greift Plessner auf die Reflexion zurück, die er zu Beginn seines Werkes im Kontext der Forderung nach einer Revision des cartesischen Alternativprinzips im Interesse der Wissenschaft vom Leben zur sog. Doppelaspektivität des belebten Wahrnehmungsdinges und seiner gestalttheoretischen Deutung angestellt hat. (vgl. 38ff.; bes. 89ff.) Dem Menschen, so heißt es, ist der Umschlag von Zentralität zur Exzentrizität, „vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch seiner Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und als Körper und als die psychophysische neutrale Einheit dieser Sphären. Die Einheit überdeckt jedoch nicht den Doppelaspekt, sie läßt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet, sie bildet keine selbständige Sphäre. Sie ist der Bruch, der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung, die für den Lebendigen selber den absoluten

Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch

Doppelcharakter und Doppelaspekt von Körperleib und Seele gleichkommt, in der er ihn erlebt.“ (292) Plessners Verständnis humaner Personalität (vgl. 293) ergibt sich aus diesen Bestimmungen ebenso wie seine Ausführungen zur Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt des Menschen (vgl. 293ff.). Die als Einleitung in die Anthropologie konzipierte Studie „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ schließt mit der Formulierung dreier Grundgesetze zur Lehre vom Menschen. Das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit (vgl. 309ff.) besagt, dass der Mensch als exzentrisch organisiertes Wesen durch Selbst- und Weltkultivierung zu demjenigen werden muss, worauf er von seiner körperlichen Natur her angelegt ist. Sein Sein ist im Werden begriffen und nur als im Werden begriffen zu begreifen. Das zweite anthropologische Grundgesetz (vgl. 321ff.) macht geltend, dass der Mensch gemäß seiner Natur nicht in vermittlungsloser, sondern in vermittelter Unmittelbarkeit lebt, in der Immanenz und Exzentrizität einen differenzierten, aber untrennbaren Zusammenhang bilden. Das sog. Gesetz des utopischen Standorts schließlich verweist auf den anthropologischen Zusammenhang von Nichtigkeitsempfinden und Transzendenzbezug, Nihilismusanwandlungen und religiösem Verhältnis. „Exzentrische Positionsform und Gott als das absolute, notwendige, weltbegründende Sein stehen in Wesenskorrelation.“ (345) Dem entspricht Plessners These: „Atheismus ist leichter gesagt als getan.“ (346) Denn menschliches Sein und Wesen verlange nach einem fundierenden Sinngrund seiner selbst und seiner Welt. Gedanklich verifizieren lasse sich dieser Sinngrund aber ebenso wenig wie der Ewigkeitsbestand des Ich sowie die Vollendung von Menschheit und Welt, deren Einheit ohne seine Annahme nicht zu erfassen sei. Theologie basiere wie metaphysische Anthropologie und Kosmologie nicht auf Wissen, sondern auf Glauben. „Nur für den Glauben gibt es die ‚gute‘ kreishafte Unendlichkeit, die Rückkehr der Dinge aus ihrem absoluten Anderssein. Der Geist aber weist Menschen und Dinge von sich fort und über sich hinaus. Sein Zeichen ist die Gerade endloser Unendlichkeit. Sein Element ist die Zukunft. Er zerstört den Weltkreis und tut uns wie der Christus des Marcion die selige Freude auf.“ (346) Im Schatten Schelers Plessners Werk über „Die Stufen des Organischen und der Mensch“ stand, wie der Autor im Vorwort zur zweiten Auflage von 1965 selbst vermerkte, bei seinem Erscheinen „im Schatten Schelers als des Begründers der Philosophischen Anthropologie“ (VII), dessen Studie „Die Stellung des Menschen im Kosmos“ im gleichen Jahr publiziert worden war. „Was lag näher, als das schwerfällige Werk eines Unbekannten für die Ausführung Schelerscher Gedanken zu halten, zumal es, oberflächlich gesehen, ihrem Stufenmodell zu

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folgen schien?“ (Ebd.) Eingehendere Auseinandersetzungen fielen „fürs Erste“ (ebd.) aus, und zwar u. a. auch deshalb, weil die Diskussionen der Zeit von den Daseinsanalysen Heideggers und der Existenzphilosophen in Beschlag genommen waren, die an der sog. Philosophischen Anthropologie nur bedingt Interesse zeigten und andere Ziele verfolgten. Zwar meint Plessner, dass „(d)er Theomorphie des Menschen im Sinne Schelers … die Ontomorphie in Heideggers Sinn“ (XI) entspreche, aber er registriert zugleich, dass der Autor des 1927 veröffentlichten Jahrhundertwerks „Sein und Zeit“ „der mißverständlichen Deutung seines Unternehmens als einer philosophischen Anthropologie“ (IX) ausdrücklich vorgebaut hatte. Mit Schelers Anliegen wollte Heidegger das seine nicht verwechselt wissen. Bei Plessner hingegen beförderte das „akademische Ballgeflüster“ (XI) eine solche Verwechslung und die Annahme, „die ‚Stufen‘ seien sein (sc. Schelers) Vermächtnis. Lebte der Autor nicht auch in Köln und war er nicht sein Schüler?“ (Ebd.)16 16 Was ihn selbst anbelangt, so legte Plessner großen Wert auf die Feststellung, dass sein Ansatz von demjenigen Schelers gebührend zu unterscheiden sei. Sein Anliegen sei es gewesen, Schelers eigentümliches Schwanken zwischen Realismus und Idealismus zu beheben und „unter Vermeidung eben jener geschichtlich belasteten Bestimmungen wie Gefühle, Drang, Trieb und Geist einen Leitfaden zu finden und zu erproben, der die Charakterisierung spezieller Erscheinungsweisen belebter Körper möglich macht“ (XI). Auch von den Heideggerianern, welche die „Stufen“ „keines Blickes würdigten“ (XIV), wisse er sich getrennt und zwar durch die Überzeugung, dass „Leben Existenz fundiere“ (XIII); dieser Grundsatz behalte seine Gültigkeit auch unter der methodischen Voraussetzung, der zufolge „die Seinsweise des Lebens … nur privativ, vom existierenden Dasein her, zugänglich“ (XIV) sei. Eine weitere Abgrenzung seines Konzepts vollzieht Plessner gegenüber Gehlen, der „(m)it bemerkenswertem Geschick … ein biologisches Verhaltensmodell des Menschen entworfen (habe), für welches er unter Strapazierung des Herderschen Begriffs vom Mängelwesen zahlreiche Anreger wie den Anatom Bolk, die Biologen Portmann und K. Lorenz, S. Freud und vor allem Scheler nennt“ (XIVf.). Gehlens Modell ist nach Plessners Urteil eindrucksvoll, aber von „begrenzter Tragkraft“ (XV). Kritisiert werden müsse insbesondere die Überschätzung des Handlungsbegriffs, der das notorisch uneindeutige Verhalten des Menschen in ein Zwangsschema presse, was unangemessen sei. „Das pragmatische Kleid nach behavioristischem Zuschnitt paßt ihm nicht.“ (XVIII) Zwar sei die These vom Menschen als einem seine biologischen Mängel durch Selbsttätigkeit kompensierenden Handlungswesens anthropologisch aufschlussreich. Doch habe sie Gehlen „bis an die Grenze ihrer Tragfähigkeit gebracht“ (ebd.). Seine, Plessners, Charakteristik des menschlichen Daseins als exzentrischer Positionalität sei flexibler angelegt und nicht von der Radikalität und Grenzwertigkeit, die dem Handlungsbegriff Gehlens eigne. Der Begriff der Positionalität sei „weit genug, um die Daseinsweisen pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebens als Variable darzustellen, ohne auf psychologische Kategorien zurückzugreifen“ (XIX), und zugleich von hinreichender Bestimmtheit, belebte „von unbelebten Naturgebilden“ (ebd.) zu unterscheiden. Seine Anwendung auf den Menschen gewährleiste einerseits dessen kontinuierliche Verbindung mit lebendigen Wesen anderer Art; zugleich mache der Positionalitätsbegriff im Verein mit demjenigen der Exzentrizität unmissverständlich die Sonderstellung des Menschen und seine spezifische Eigenart deutlich, welche die

Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt

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Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt

Worin besteht die spezifische Philosophie der von der sog. Philosophischen Anthropologie vertretenen Lehre vom Menschen? Nach Arnold Gehlens programmatischen Ausführungen zum enzyklopädischen Stichwort „Philosophische Anthropologie“ in der dezidierten Absage an die metaphysisch geprägten Lehrtraditionen. „Eine metaphysische Anthropologie endet“, so Gehlen, „notwendig in ontologischen, also sich auf das Weltganze beziehenden Aussagen. Dies war selbstverständlich, solange die Religion und Theologie alles Nachdenken in letzter Instanz führten, hielt sich aber auch noch länger.“17 Wie lange? Bis in die Anfänge der sog. Philosophischen Anthropologie hinein, antwortet Gehlen: Noch Schelers Lehre vom Menschen sei „(g)anz offensichtlich metaphysisch und letztlich ontologischer Art gewesen“ (141), und auch Plessner biete im Grunde „Metaphysik“ (ebd.) und metaphysische „Großinformationen“ (ebd.), denen „eine im wesentlichen doch nur dichterische Evidenz“ (ebd.) zukomme. Nach Gehlens Urteil sind die vermeintlichen Gründerväter der sog. Philosophischen Anthropologie gar keine philosophischen Anthropologen gewesen und zwar deshalb nicht, weil sie ihre Lehre vom Menschen letztlich auf Metaphysik statt auf Physik, Biologie etc., kurzum: auf Ergebnisse der empirischen Naturwissenschaften gegründet hätten. Immerhin wird Scheler und Plessner zugestanden, ihre metaphysische Anthropologie mit empirischen Ansätzen verbunden zu haben, wie denn umgekehrt auch Gehlen seine naturwissenschaftlich angelegte Lehre vom Menschen von kultur- bzw. geisteswissenschaftlichen Aspekten nicht isolieren, sondern mit ihnen vereinen möchte: „Eine jede empirische Theorie“, so resümiert er, „wird durch ihre Leistungsfähigkeit im Durchordnen von Tatsachen und Begriffen bewährt, und eine philosophischempirische Anthropologie sollte auch noch imstande sein, über eine schematische Modellvorstellung vom Menschen hinauszugreifen und wenigstens Differenz von humanen und extrahumanen Lebewesen begründe. Es lege sich daher nahe, die Wendung von der exzentrischen Positionalität zum Leitfaden philosophischer Anthropologie zu erheben und den Menschen als ein Grenzwesen zu bestimmen, das begrenzt und zugleich grenztranszendierend lebe. Plessner schließt sein Vorwort zur zweiten Auflage seiner „Stufen“ mit dem Hinweis, er hätte sich mit seiner Grundeinsicht auch auf Hegel berufen können, ja berufen müssen, „wären mir damals die entsprechenden Stellen bekannt gewesen. Konvergenzen beruhen nicht immer auf Einfluß. Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt.“ (XXIII) 17 A. Gehlen, Enzyklopädisches Stichwort: „Philosophische Anthropologie“, in: ders., Anthropologische Forschung. Zur Selbstbegegnung und Selbstentdeckung des Menschen, Hamburg 1961 (Pannenberg-Bibliothek 03592), 141–143, hier: 141. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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einige Grundphänomene des sozialen Zusammenhangs sowie der Entwicklungsgeschichte der Kultur in sich zu integrieren.“ (143) Die entscheidende Frage sei, „ob man nicht eine Vorstellung, ein Bild des Menschen entwickeln kann, in dem man diese beiden Hauptaspekte (sc. den naturwissenschaftlichbiologischen und den kulturwissenschaftlichen) wieder zusammenführt, indem man etwa die kulturschöpferische Aktivität eines biologisch gerade so verfaßten Wesens und seine biologische Struktur sich gegenseitig erklären lässt“18 . Wie dies nach seiner Auffassung geschehen soll, hat Gehlen in seinem Hauptwerk „Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt“ von 1940 detailliert dargestellt.19

18 Ders., Zur Geschichte der Anthropologie, in: ders., a.a.O., 7–25, hier: 12. Der Text enthält eine deutliche Kritik von Schelers Studie über „Die Stellung des Menschen im Kosmos“. Zwar markiere das, wie es heißt (vgl. 14), kleine Werk in der Geschichte der Anthropologie insofern „eine merkwürdige und erstaunliche Wendung“ (ebd.), als „es den Menschen nicht in Vergleich oder in Beziehung zu Gott interpretierte, sondern indem es nach dem Wesensunterschied von Mensch und Tier fragte“ (ebd.). Doch sei Scheler alsbald doch wieder in metaphysisch-theologische Fahrwasser geraten, da er das humanspezifische Prinzip des Geistes dem Leben überhaupt entgegengesetzt habe, um so einen Wesensunterschied von Mensch und Tier zu begründen. „Das Wesen aber des Geistes bestimmte er als seine Ablösbarkeit vom Drucke des Biologischen, seiner Ablösbarkeit von der Abhängigkeit vom Leben: ein geistgetragenes Wesen ist nicht mehr triebgefesselt, es geht nicht mehr wie ein Tier in seiner Umwelt auf, sondern es vermag die Umwelt zur Gegenständlichkeit zu erheben, sich von ihr zu distanzieren. Diese Sachlichkeit, diese Freiheit von innen her, die Bestimmbarkeit des menschlichen Erkennens und Handelns durch das So-Sein der Dinge selbst, gleichgültig ob sie ein biologisches Interesse haben oder nicht, das sei das spezifisch Menschliche.“ (15) Gehlen affirmiert diese Beschreibung samt Schelers Theorie der Weltoffenheit und eignet sie sich unter erfahrungswissenschaftlichen Gesichtspunkten ausdrücklich an. Er widerspricht aber dezidiert Schelers These, das humanspezifische Geistprinzip, welches Wesen und Eigenart des Menschen begründe, sei als Alternative zum Prinzip des Lebens und ihm entgegengesetzt zu bestimmen mit der Konsequenz, dass im Verhältnis von Mensch und Tier eine prinzipielle Diskontinuität in Anschlag gebracht werden müsse, statt ihren Lebenszusammenhang bei allen Unterschieden kontinuierlich aufzufassen. Gehlens Reserve gegenüber dem Moralverständnis des späten Scheler, das den asketischen „‚Nein-Sager‘ zum Leben“ (ebd.) als Vorbild empfehle, ergibt sich hieraus unmittelbar. Wolle man den Menschengeist nicht zu einer „Art Widersacher des Lebens“ (ebd.) erklären, dann habe man sein moralisches und gesamtes humanes Wesen aus dem Lebenszusammenhang heraus und nicht im Gegensatz zu ihm zu erklären, was keineswegs heißen müsse, seine charakteristische Eigenart zu leugnen, deren Erkenntnis sich ohne Wahrnehmung biologischer Einsichten aber gar nicht erschließe, jedenfalls nicht auf erfahrungswissenschaftliche Weise. 19 Ders., Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Bonn 1958 (PannenbergBibliothek Nr. 03573). Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt

Weltoffenes Mängelwesen Für Gehlens Anthropologie ist die These vom Menschen als einem weltoffenen Mängelwesen20 zentral, das seine biologischen Defizite durch Handeln zu kompensieren und sich mit der Kultur selbsttätig eine zweite Natur zu schaffen sucht. Biologische Defizite zeigen sich bereits im äußeren Blick auf die morphologische Stellung des Menschen, welcher der erste Teil des Werkes gewidmet ist, auf den die beiden Folgeteile zu Wahrnehmung, Bewegung und Sprache sowie zu Antriebsgesetzen, Charakter und dem Geistproblem aufbauen. Von seiner biologischen Ausstattung her scheint der Mensch allen höheren Säugetieren gegenüber unterlegen zu sein. „Es fehlt das Haarkleid und damit der natürliche Witterungsschutz; es fehlen natürliche Angriffsorgane, aber auch eine zur Flucht geeignete Körperbildung; der Mensch wird von den meisten Tieren an Schärfe der Sinne übertroffen, er hat einen geradezu lebensgefährlichen Mangel an echten Instinkten und er unterliegt während der ganzen Säuglingsund Kinderzeit einer ganz unvergleichlich langzeitigen Schutzbedürftigkeit.“ (35) Gehlen spricht von einer „abnorm verlängerte(n) Entwicklungszeit“ (62), deren Problematik von Anfang an erkennbar sei: Als physiologische Frühgeburt entbehre das Menschenkind der schützenden Bergung im Mutterleib bereits zu einer Zeit, da andere Lebewesen längst noch nicht auf die Welt gekommen seien. Auch nach dem sog. extrauterinen Frühjahr sei sein Überleben noch lange nicht gesichert. Es dauere noch Jahre, bis das Menschenkind sein Dasein eigenständig zu fristen vermöge. Die biologischen Defizite aber blieben. Es mangelt dem Menschen durchweg an spezialisierten, umweltspezifisch angepassten Organen. Die Kau- und Nackenmuskulatur ist verkümmert, das Gebiss eher bescheiden ausgeprägt und als Waffe kaum einsetzbar. Entspezialisiert und wenig umweltspezifisch sind beispielsweise auch die Greiforgane des Menschen an Händen und an Füßen. Während der Affe sich mühelos von Ast zu Ast schwingt, ist der Mensch längst auf die Nase gefallen, wodurch sein ohnehin begrenztes Riechvermögen zusätzlichen Schaden nimmt. Auch mit der menschlichen Seh-, Hör- und Geschmackskompetenz ist es nicht allzu weit her, vom Tastsinn ganz zu schweigen, der selbst bei vergleichsweise primitiven Lebewesen besser ausgeprägt ist als beim Menschen. Hinzu kommt eine weit fortgeschrittene Instinktreduktion. Der Mensch „entbehrt der tierischen Einpassung in ein Ausschnitt-Milieu“ (37); während beispielsweise die Zecke einem Reiz-Reaktions-Mechanismus folgt und instinktmäßig weiß, was sie zu „tun“ und zu „lassen“ hat, ist der Mensch permanent von Reizen überflutet, auf

20 Zum Mängelwesentheorem und seiner Geschichte vgl. im Einzelnen: H. Schmidinger/C. Sedmak (Hg.), Der Mensch – ein Mängelwesen? Endlichkeit-Kompensation-Entwicklung, Darmstadt 2009.

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die er mangels Instinkt nicht mechanisch zu reagieren vermag. Er ist nicht umweltgebunden, sondern weltoffen, was nach den Gesetzen der Natur geurteilt eine Belastung darstellt, von der er sich „aus eigenen Mitteln und eigentätig“ (38) entlasten muss. Kompensatorisches Handeln Der Mensch steht vor der biologischen Notwendigkeit, seine Mängel zu kompensieren. Er leistet diese Kompensation Gehlen zufolge durch selbsttätiges Handeln, als dessen vorzügliches Medium die Sprache zu gelten hat21 , und arbeitet „die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensführung“ (ebd.; bei G. gesperrt) um. Indem er die Natur einschließlich seiner eigenen umschafft und kultiviert, gibt er sich in der Kultur eine zweite Natur, in welcher er human zu leben vermag. „An genau der Stelle, wo beim Tier die ‚Umwelt‘ steht, steht daher beim Mensch die Kulturwelt.“ (40; vgl. 85) Durch kulturelles Handeln sucht der Mensch seine biologischen Defizite auszugleichen und zu seinem Vorteil zu wenden. Er nutzt seine entspezifizierte Hand zu Handlungen von höherer Art, um aus dem bloßen Zugreifen ein Begreifen werden zu lassen. Auch seine Instinktreduktion weiß er dadurch produktiv zu gestalten, dass er sich die Möglichkeit von Tätigkeitsvollzügen erschließt, die von der Erfahrung unmittelbarer biologischer Bedürfnisse entlastet sind. Als das, mit Nietzsche zu reden, „noch nicht festgestellte Tier“ (10) legt es der Mensch seiner Anlage gemäß darauf an, seine Natur zu transzendieren und sein Leben als seine Aufgabe anzunehmen, etwas aus sich zu machen. Um zu leben und zu überleben muss der Mensch sein Leben führen. Lebensführung hinwiederum hat nach Gehlen selbsttätiges Handeln zur impliziten Prämisse. Seine anthropologische Grundbestimmung ist mithin diejenige vom Menschen als eines handelnden Wesens. Gehlens Bestimmung des Menschen als eines handelnden Wesens will wie sein Kulturbegriff anthropo-biologisch verstanden werden. Menschliches Handeln muss Handeln aus natürlichen Gründen sein, und freie Selbsttätigkeit 21 Während das Tier im „Bannkreis der Unmittelbarkeit“ (49) befangen bleibt, macht sich der triebentlastete Mensch eigentätig eine Welt vorstellig, die er von sich distanziert und versachlicht, indem er sie begreift und in Worten zur Sprache bringt. Zur Sprachtheorie Gehlens und zu seiner Lehre von den fünf Sprachwurzeln vgl. besonders 207ff. Obwohl Sprache und Denken im Wesentlichen eins sind, unterscheidet Gehlen sie insofern, als Gedachtes – als inneres Sprechen und „Kommunikation mit sich selbst“ (286) – nicht notwendigerweise explizit zum Ausdruck gebracht werden muss. Entscheidender ist, dass nach Gehlen Sprechen und Denken in vitalen sensomotorischen Aktionen wurzeln. Beide wachsen „wahrhaft organisch aus dem Unterbau menschlichen Sinnes- und Bewegungszyklus heraus“ (259), ohne doch darauf reduzierbar zu sein, was durch die Tatsache belegt wird: „Kein Tier hat Sprache, nur in falschen Analogien redet man von Sprache der Tiere.“ (153)

Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt

hat aus einer Notwendigkeit zu resultieren, die gleichsam von Natur aus gegeben ist. In der Gehlen’schen Anthropologie nimmt dieser Zusammenhang reflexe Gestalt an, ohne deshalb nach einer Seite hin aufgehoben zu werden. Ausdrücklich wird es abgelehnt, „den Menschen entweder als nur graduell vom Tiere unterschieden anzunehmen, oder ihn durch den ‚Geist‘ allein, dann also meistens im Sinne eines gegennatürlichen Wesenszuges, zu bestimmen“ (29). Als naturtranszendierendes Geistwesen ist der Mensch vom Tier nicht nur stufenweise, sondern kategorial unterschieden, aber dieser Unterschied ist nicht von supranaturaler Art, sondern, wenn man so will, naturbedingt. Die Methodik der Anthropologie Gehlens sucht dem zu entsprechen. Sein Plan ist es, „ein System einleuchtender, wechselseitiger Beziehungen aller wesentlichen Merkmale des Menschen“ (18) herzustellen, „vom aufrechten Gang bis zur Moral, sozusagen, denn alle diese Merkmale bilden ein System, in dem sie sich gegenseitig voraussetzen“ (ebd.). Geplant ist ferner, die Anthropologie als eine wissenschaftliche Theorie vom Menschen selbst aus dessen Wesen heraus zu erklären gemäß der Devise: „Der Mensch muß sein Wesen deuten.“ (9) In diesem Sinne enthält die anthropologische Frage selbst schon einen Hinweis auf ihre Beantwortung. Sie besagt, dass der Mensch weder ein bloßes Natur- noch ein reines Geistwesen, weder eine himmlische Kreatur noch einen „arrivierten Affen“ (ebd.) darstellt und zwar deshalb, weil er beides zugleich und in einem ist, nämlich ein Wesen, welches von Natur aus darauf angelegt ist, Natur zu transzendieren. Institutionalität und Hypermoral Das in der Zeit des Nationalsozialismus22 erstmals erschienene Hauptwerk Gehlens wurde nach 1945 – „gleichsam entnazifiziert“23 – noch in mehreren Neuauflagen publiziert. Von den weiteren Werken der Nachkriegszeit sind v. a. „Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen“ (1956 in erster, 1964 in zweiter, neubearbeiteter Auflage erschienen) und „Moral und 22 Gehlen machte im nationalsozialistischen Staat, den er jedenfalls anfangs emphatisch begrüßte, „eine schnelle Karriere“ (Chr. Thies, Gehlen zur Einführung, Hamburg 2000, 13): Im Sommersemester 1933 übernahm er vertretungsweise den Frankfurter Lehrstuhl Paul Tillichs, der aus politischen Gründen („Die sozialistische Entscheidung“) in die USA emigrieren musste, 1934 wurde er Nachfolger seines Lehrers, des Biologen und Philosophen Hans Driesch, in seinem Geburtsort Leipzig, 1938 folgte er einem Ruf auf den Kant-Lehrstuhl in Königsberg, um schließlich 1940 an die Universität Wien zu wechseln. Im selben Jahr erschien die Erstauflage seiner Hauptschrift „Der Mensch“. 23 A.a.O., 17. Näheres zu den textlichen Manipulationen und Umarbeitungen findet sich u. a. bei W. Rügemer, Philosophische Anthropologie und Epochenkrise. Studie über den Zusammenhang von allgemeiner Krise des Kapitalismus und anthropologischer Grundlegung der Philosophie am Beispiel Arnold Gehlens, Köln 1979, 109ff.

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Von der naturtranszendierenden Wesensnatur des Menschen

Hypermoral. Eine pluralistische Ethik“ aus dem Jahr 1969 bekannt geworden. In der erstgenannten Monographie weitet Gehlen seine anthropologischen Studien sozialphilosophisch aus, um anhand einer vergleichenden Gegenüberstellung archaischer und moderner Handlungs- und Bewusstseinsformen des Menschen, die sein rational-praktisches, sein rituell-darstellendes und sein ekstatisch-asketisches Verhalten betreffen, Grundzüge einer Institutionentheorie zu entwickeln: „Die allen Institutionen wesenseigene Entlastungsfunktion von der subjektiven Motivation und von dauernden Improvisationen fallweise zu vertretender Entschlüsse ist eine der großartigsten Kulturleistungen“24 , die es nach Gehlen unter allen Umständen zu bewahren gilt, da bewusst oder unbewusst herbeigeführter institutioneller Verfall Verhaltenssicherheit destruiert und eine allgemeine Verunsicherung herbeiführt, die zum Chaotischen und Anarchischen tendiert.25 Was Gehlen Hypermoral nennt, weist nach seinem Urteil in eine ähnlich verhängnisvolle Richtung. Hypermoral sei moralisch kontraproduktiv und neige zum Terror: Mit dieser These wollte Gehlen in den 1968er Jahren nicht nur seine rebellischen Studenten treffen, sondern auch die, wie er sie gelegentlich nannte, „evangelischen Politiko-Theologen“26 im Gefolge Karl Barths, die namens der „Königsherr24 A. Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Frankfurt a. M./Bonn 2 1964, 43. Zur Außen- und Innenweltstabilisierung der Institutionen vgl. im Einzelnen 42ff. und 54ff., zu Begriff und Phänomen der sog. Hintergrundserfüllung 50ff.: Wird ein Bedürfnis verlässlich und damit gewissermaßen institutionell befriedigt, tritt es „aus dem Vordergrunde der Affektivität zurück, und das nennen wir Hintergrundserfüllung“ (50). 25 Als Institutionen fungieren Gehlen zufolge nicht nur staatliche oder vergleichbare Einrichtungen, sondern alle auf verlässliche Dauer gestellten Handlungsvollzüge zwischen Subjekten: „Ein Briefwechsel, den jemand mit verschiedenen Personen unterhält, ist schon eine solche Institution.“ (A.a.O., 60) Habitualisiertes Handeln in institutionellen Formen entlastet von permanentem Entscheidungsdruck, schafft Innen- und Außenstabilisierung durch Generierung von Selbstverständlichkeit und suspendiert die Frage nach einem letzten Sinn zumindest insofern, als sich diese nicht immer und überall stellen muss. Was das in religiöser Hinsicht bedeutet, hat F. Ley monographisch untersucht und zwar nicht nur in Bezug auf „Urmensch und Spätkultur“, sondern bezüglich des Gesamtwerkes von Gehlen (vgl. F. Ley, Arnold Gehlens Begriff der Religion. Ritual – Institution – Subjektivität, Tübingen 2009. A.a.O., 3ff. findet sich ein Überblick über den gegenwärtigen Stand der Gehlen-Forschung; zu Pannenbergs Rezeption der Gehlen’schen Anthropologie und Institutionenlehre vgl. 30ff.). Während der Religionsbegriff im Laufe der Theorieentwicklung Gehlens Ley zufolge immer emphatischer betont und „immer stärker in die Rolle eines systematischen Integrals genötigt wird“ (F. Ley, a.a.O., 442), kann von einer wachsenden Hochschätzung von Theologie und Kirche nicht die Rede sein. Eher lässt sich eine gegenläufige Tendenz beobachten, wobei sich Gehlens Kritik v. a. gegen die evangelische Theologie und Kirche richtet, deren tatsächliche oder vermeintliche Moralhypertrophie er genüsslich geißelt. 26 Vgl. ders., Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M./Bonn 1969 (Pannenberg-Bibliothek Nr. 03574), 121ff., bes. 133 ff.

Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt

schaft Christi“ ein kirchliches Wächteramt im Staat beanspruchten und Gottesdienste in politische Demonstrationen umzufunktionieren gedachten, um auf diese Weise die alt und „ratlos gewordene christliche Religion neu einzukleiden. Seit dies läuft, wissen die Kirchen den Ausweg in die Welt. Von den alten Chiffren wie Unsterblichkeit, Prädestination, Gnade, Erlösung und Sünde hört man wenig, umso mehr von Schuld, meist der Anderen, ein Politikum, in das vor allem die EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) freudig eingetreten ist.“27

27 A.a.O.,133. Gehlen lässt keinen Zweifel aufkommen, wie er die neuen Kleider der alten Kirche beurteilt. Er hält die Motive der Investitur für durchsichtig und ihre Folgen für religiös verheerend, wofür Gehlen das zu seiner Zeit von einigen Theologen und Theologinnen vorgetragene Plädoyer für ein „atheistisches Christentum“ und für einen Schulterschluss von Christentum und Marxismus als exemplarischer Beleg gilt (vgl. a.a.O., 139). Zu den sittlichen Konsequenzen dessen, was er politische Funktionalisierung der Religion nennt, gibt Gehlen seine Auffassungen unter dem Stichwort Moralhypertrophie kund (vgl. a.a.O., 141ff.). Religiöse Hypermoral trage, indem sie diese ideologisiere, zur Unlösbarkeit politischer Probleme bei, deren Lösung sie angeblich erstrebe. Im Grunde diene sie nur der Selbstbeweihräucherung von Kreisen, „die die Folgen ihrer Agitation nicht zu verantworten haben, weil sie diese mangels Realitätskontakt gar nicht ermessen oder sich alles erlauben können“ (a.a.O., 150). Zu ihnen gehören neben Theologen „in großen und wortführenden Teilen die Schriftsteller und Redakteure, … Philosophen und Soziologen, also ideologisierende Gruppen, erhebliche Teile der Lehrerschaft aller Schularten und der Studenten, und schließlich die generellen Nutznießer der gesellschaftlichen Nachsicht: Künstler und Literaten.“ (A.a.O., 150f.) Sog. Intellektuelle besagter Provenienz bilden gemäß Gehlen das Milieu, in dem moralische Hypertrophie mit all ihren nach seinem Urteil für Moral und Politik kontraproduktiven Implikationen und Konsequenzen gehegt und gepflegt werde. In Abgrenzung von jedweder intellektueller bzw. pseudointellektueller Hypermoralisierung plädiert Gehlen für eine durch starke Institutionen gerahmte pluralistische Ethik, welche den „Humanitarismus als erweitertes Ethos der Großfamilie“ (a.a.O., 168) zwar nicht preisgebe, aber zugleich in seiner Anwendbarkeit auf außerfamiliäre Verhältnisse relativiere und das unter der Voraussetzung einer Irreduzibilität der Perspektivenvielfalt, die bei ethischer Urteilsbildung eine Rolle spiele. Sensibler Umgang mit Uneindeutigkeit sei in jedem Fall besser als moralischer Rigorismus: Werden doch nach Urteil Gehlens die schlimmsten Taten in der Regel mit bestem Gewissen und aus Motiven vollbracht, die dem Übeltäter als richtig und recht erscheinen. Ein gutes Gewissen zu haben und Gutes zu tun sei keineswegs ein und dasselbe; Moral schütze vor Bosheit nicht, insbesondere wenn sie mit hypermoralischem Anspruch auftrete.

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8.

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Pannenbergs Herderdeutung

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Vom Verhalten des Menschen und seinem Selbstverhältnis

In seinem 1972 erschienenen Hauptwerk „Philosophie in der veränderten Welt“ hat sich der Tübinger Philosoph Walter Schulz, der mit seiner Habilitationsschrift über „Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings“ und mit Studien zum Thema „Der Gott der neuzeitlichen Metaphysik“ auch innerhalb der Theologie Berühmtheit erlangte, unter den Leitbegriffen „Vergeistigung und Verleiblichung“ u. a. mit der Verwissenschaftlichung der Lehre vom Menschen in der sog. Philosophischen Anthropologie auseinandergesetzt, die er kritisch beurteilte. Der empirische, an den Einzelwissenschaften orientierte Forschungsansatz werde zwar programmatisch in Anschlag und gegen das angebliche oder tatsächliche dualistische Menschenbild der traditionellen Seelenmetaphysik in Stellung gebracht, aber nicht wirklich durchgehalten. Sowohl Scheler als auch Plessner und Gehlen verlassen nach Schulz die Ebene der Deskription aufgrund äußerer Beobachtung, wie sie für naturwissenschaftliche Forschungen kennzeichnend sei, um mehr oder minder unmittelbar auf traditionelle Grundannahmen der Philosophie zu rekurrieren: „Alle drei Denker überschreiten also die Ebene der biologischen Untersuchung. Die sie leitende Absicht ist es ja, die Andersartigkeit des Menschen zu beweisen, und die Mittel, durch die dieser Beweis geführt werden soll, sind letzten Endes eben nicht der Biologie, sondern der philosophischen Tradition entlehnt.“1 Pannenberg hält dieses Urteil für zu pauschal: Die Kritik von Schulz, so wird vermerkt, „trifft am ehesten Schelers Geistbegriff, nicht jedoch Plessner und Gehlen und sicherlich nicht das Verfahren der philosophischen Anthropologie insgesamt. Die These der Andersartigkeit des Menschen wird nicht als Postulat eingebracht, sondern ergibt sich aus der Frage nach der Eigenart der menschlichen Lebensform im Vergleich zu anderen Lebensformen. Der empirische Charakter der Frage nach der Eigenart einer Erscheinung lässt sich nicht von vornherein in Abrede stellen.“ (Anthr., 61f., Anm. 57) Dies gelte unbeschadet 1 W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Stuttgart 1972, 458. Zur Epoche der nichtspekulativen Anthropologie, wie er sie durch die Namen von Scheler, Plessner und Gehlen markiert sieht, und zum philosophischen Problem der biologischen Frage nach dem Wesen des Menschen vgl. a.a.O., 419ff. sowie 457ff., wo Schulz von der „Aufhebung der philosophischen Anthropologie“ in ihrer von Scheler, Plessner und Gehlen entwickelten Fragestellung handelt.

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der durch die Art und Weise seiner Übernahme bereiteten Schwierigkeiten auch für den Subjektbegriff Plessners, den dieser zumindest der Intention nach „als Instrument empirischer Deskription“ (ebd.) zu verwenden trachte. Gedankliche Erschließung empirischer Daten Nach Pannenberg „ist nicht einzusehen, weshalb die Annahme eines Selbstverhältnisses grundsätzlich davon ausgeschlossen sein sollte, die Besonderheiten des leiblichen Verhaltens eines Wesens zu erklären, wenn solche Besonderheiten nur unter derartigen Annahmen verständlich werden. Es geht Plessner wie den anderen Denkern der philosophischen Anthropologie um den Rückschluß vom äußerlich beobachtbaren Verhalten des Menschen auf die Bedingungen seiner Möglichkeit. Diese Fragestellung kann nicht als überholt gelten durch die Kritik an der von dem einen oder anderen Autor benutzten Begrifflichkeit. Ihre Abweisung könnte nur zum Rückfall in den Dualismus von positivistischer Einzelforschung auf der einen und ‚Selbstreflexion‘ – wenn auch mit praktischer Abzweckung – auf der anderen Seite führen. Der Fortschritt der philosophischen Anthropologie über die Enge der Bewußtseinsphilosophie einerseits, den Positivismus der Behavioristen andererseits hinaus liegt gerade in ihrem Bestehen auf der Unerlässlichkeit gedanklicher Durchdringung der empirischen Befunde. Dieser Aufgabe kann man sich nicht im Ernst entziehen wollen, und sie kann auch nicht der empirischen Forschung allein überlassen bleiben, weil dabei – wie sowohl das Beispiel der Behaviorismus als auch die Geschichte der deutschen Verhaltensforschung zeigen – allzu leicht undiskutierte und nicht hinreichend differenzierte philosophische Vorgaben die Führung gewinnen.“ (Ebd.) Mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit gedanklicher Durchdringung empirischer Befunde hat Pannenberg selbst angezeigt, wie er sein Verfahren im kritisch-konstruktiven Umgang mit der Philosophischen Anthropologie und darüber hinaus seine anthropologische Methodik insgesamt verstanden wissen möchte. Ohne begriffliche Erschließung lassen sich empirische Daten in ihrer Bedeutung ebenso wenig erfassen, wie reflektiertes Denken auf einzelwissenschaftlich erschlossene Erfahrungsgehalte verzichten kann, wenn es sich nicht in inhaltsleerem Formalismus erschöpfen soll. Sein und Begriff sind zu unterscheiden, nicht aber zu trennen, weil ansonsten das Seiende unbegriffen und das Begriffliche seinslos bliebe. Da auch zu einem theologischen Begriff vom Menschen ein entsprechender Bezug auf empirische Seinsbestände unveräußerlich hinzugehört, sucht Pannenberg Anschluss an die Ergebnisse der modernen Anthropologie, welche die Eigenart des Menschen nicht mehr, wie in der christlichen Tradition üblich, unmittelbar und explizit von Gott und der Idee der Gottebenbildlichkeit her bestimmt, „sondern durch Besinnung auf

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seine Stellung in der Natur, insbesondere durch den Vergleich mit den Daseinsformen der höheren Tiere“ (Anthr., 25). Damit ist die theologische Behauptung, derzufolge der Mensch Gottesgeschöpf und als Ebenbild Gottes geschaffen sei, keineswegs aufgegeben. Aufgegeben ist lediglich der Versuch, diese Behauptung in vermittlungsloser Unmittelbarkeit geltend zu machen, da der Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der mit ihr schöpfungstheologisch verbunden ist und verbunden sein muss, sich nur auf mittelbare Weise plausibilisieren lässt. Um seiner plausiblen Vermittlung willen darf der Grundsatz der Gottebenbildlichkeit des Menschen Pannenberg zufolge nicht thetisch-axiomatisch vorausgesetzt werden. Andernfalls müsste er das Geschick der Vorstellung einer körpertranszendenten und mit dem animalischen corpus hominis sekundär verbundenen Geistseele teilen, durch die man die Sonderstellung des Menschen innerhalb der philosophisch-theologischen Theologietradition nicht selten gedeutet habe, bevor sie „im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend fragwürdig“ (ebd.) geworden sei. Pannenberg teilt die Skepsis gegenüber der traditionellen philosophischen Seelenmetaphysik ebenso, wie er theologische Versuche kritisiert, den Gedanken menschlicher Gottebenbildlichkeit unmittelbar geltend zu machen. Entsprechend seinem – Unmittelbarkeit aufhebenden und in Vermittlung überführenden – Verfahren affirmiert er die mittlerweile in allen Humanwissenschaften verfochtene methodische „Annahme der Kontinuität zwischen Mensch und Tier, um innerhalb dieser Kontinuität die Besonderheit des Menschen herauszuarbeiten, statt sie als ein ganz fremdes Prinzip in die Natur eintreten zu lassen“ (Anthr., 26). Zum Durchbruch gelangt ist die besagte Methodik nach Pannenberg v. a. durch einen Wandel der seelenkundlichen Betrachtungsweise, nämlich dort, „wo die Psychologie den Zugang zum Seelischen nicht mehr durch Introspektion, sondern durch Beobachtung des äußeren Verhaltens suchte“ (ebd.), wie seit Beginn des 20. Jahrhunderts im amerikanischen, von John B. Watson (1878–1958) begründeten Behaviorismus geschehen. Behaviorismus und Verhaltensforschung Mit der Darstellung des behavioristischen Ansatzes und seiner Kritik beginnt das Kapitel über die Sonderstellung des Menschen in der Natur in Pannenbergs Anthropologie. Kritisch wird geltend gemacht, dass bereits tierisches Verhalten kein bloßer Reaktionsablauf im Sinne eines kausal determinierten Mechanismus, sondern stets ein Sich-Verhalten sei. Dies treffe umso mehr für menschliches Verhalten zu. Doch bleibe der Behaviorismus trotz seiner Grenzen bedeutsam, da auch eine an der Sonderstellung des Menschen in Natur und Tierreich interessierte Auffassung „nicht mehr mit den Argumenten der alten Seelenmetaphysik für sie eintreten“ (Anthr., 27) könne, sondern sich „eben-

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falls auf die leiblichen Bedingungen und Eigenarten menschlichen Verhaltens berufen“ (ebd.) müsse. Der behavioristische „Versuch der Reduktion menschlichen Handelns auf äußerlich stimulierbares und beobachtbares Verhalten hat auch allen andersgerichteten anthropologischen Bemühungen den Boden und die Art der Argumentation vorgeschrieben. Sollte nämlich auf dem Wege der behavioristischen Analysen das menschliche Verhalten befriedigend und vollständig erklärbar sein, so würden sich alle anderen Annahmen über die Eigenart des Menschen erübrigen.“ (Anthr., 27f.) Pannenberg ist nicht der Auffassung, dass sich durch den behavioristischen Ansatz die Frage nach der Sonderstellung des Menschen in der Natur erübrige, in dessen Verhalten Reiz und Reaktion ungleich unschärfer zugeordnet seien als in tierischen Fällen. Wenn überhaupt, dann sei die menschliche Reizantwort „nur durch Konstanten der subjektiven Einstellung selber eindeutig festgelegt“ (Anthr., 29). An diese Erwägung schließen Pannenbergs Ausführungen zu dem nach seinem Urteil wichtigsten Zweig der deutschsprachigen biologischen Verhaltensforschung an, wie er namentlich durch Konrad Lorenz repräsentiert werde und durch die Annahme einer artspezifischen Strukturiertheit des Verhaltens von Lebewesen gekennzeichnet sei. Während der amerikanische Behaviorismus in der empiristisch-sensualistischen Tradition angelsächsischer Philosophie stehe, sei die These einer Abhängigkeit animalischer Reizreaktionen von angeborenen Verhaltensschemata offenkundig durch Kants Theorie apriorischer Bedingungen möglicher Erkenntnis beeinflusst. Die Stelle, welche die Transzendentalphilosophie den apriorischen Auffassungsformen des Geistes zuerkenne, die alle Erfahrungen bestimmten, ohne selbst erfahrbar oder aus Erfahrung gewonnen zu sein, nehme in einem maßgeblichen Teil der deutschsprachigen Verhaltensforschung die Annahme angeborener Verhaltensschemata ein, die alles artspezifische Verhalten von Lebewesen strukturierten und konditionierten. Belegt wird der konstatierte Zusammenhang an Werken von Konrad Lorenz und seines Schülers Irenäus Eibl-Eiblsfeldt; ferner wird auf die Generative Grammatik Noam Chomskys und auf einige Richtungen des Strukturalismus verwiesen, die nach Pannenberg in anthropologischer Hinsicht in der Annahme konvergierten, „daß das menschliche Verhalten durch dem Menschen eigentümliche Strukturen bestimmt ist, die aller Erfahrung vorausgehen, also als apriorisch und transzendental anzusehen sind“ (Anthr., 30). Die Lehre von erkenntnisleitenden Interessen wird in diesem Zusammenhang ebenfalls als ein Beispiel der Aktualisierung transzendentaler, an der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen orientierter Ansätze erwähnt. Eine Schlüsselstellung und mediatisierende Funktion für die weitere Gedankenführung kommt schließlich dem Begriff der Umwelt zu, der bei J. v. Uexküll und anderen nicht die vielgestaltige Umgebung eines Lebewesens, sondern den durch die Ge-

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samtheit artgemäßer Merkmale und Verhältnisse definierten Zusammenhang bezeichne, der dessen eigentümliches Verhalten beständig konditioniere. Ob bzw. inwiefern sich der Umweltbegriff von tierischem auf menschliches Verhalten übertragen lasse, ist die Leitfrage an die Philosophische Anthropologie Schelers, Plessners und Gehlens, mit deren Behandlung Pannenberg das erste Kapitel seiner Anthropologie zur Sonderstellung des Menschen in der Natur abschließt und zur Thematik von „Weltoffenheit und Gottebenbildlichkeit“ im zweiten Kapitel überleitet. Philosophische Anthropologie Mit dem Begriff der Weltoffenheit als einem der zentralen Begriffe Philosophischer Anthropologie wird bündig ihre Grundeinsicht umschrieben, derzufolge der Mensch im Unterschied zum Tier jede Umweltfixierung virtuell zu transzendieren vermöge: „Die ‚philosophische Anthropologie‘ teilt mit dem Behaviorismus und mit der deutschen Verhaltensforschung den Grundsatz, den Menschen von seiner Leiblichkeit her zu deuten und insbesondere von seinem leiblichen und also beobachtbaren Verhalten her. Sie stimmt weiter mit der deutschen Verhaltensforschung und mit der Sozialpsychologie G. H. Meads gegen den klassischen Behaviorismus darin überein, das Verhalten schon der Tiere, erst recht aber des Menschen als ein Sichverhalten, als Äußerung eines Subjektzentrums also, zu verstehen. Sie unterscheidet sich aber sowohl vom Behaviorismus als auch von der Verhaltenswissenschaft, wie sie durch Jacob v. Uexküll und Konrad Lorenz repräsentiert ist, dadurch, daß sie dem Menschen eine Sonderstellung im Bereich des animalischen Lebens zuerkennt. Diese Sonderstellung ist bei Scheler und Gehlen durch den Begriff der ‚Weltoffenheit‘ bezeichnet worden, während Plessner den Ausdruck ‚Exzentrizität‘ bevorzugte, dabei aber denselben Sachverhalt im Auge hatte, nur mit einer kritischen Einschränkung und im Bemühen, ihn präziser zu bestimmen.“ (Anthr., 33) Als exzentrisches Wesen ist der Mensch „nicht mehr durch seinen Trieb- und Instinktapparat auf eine bestimmte Merkmalswelt beschränkt, so daß seine Sinne nur die für ihn und seine Art lebenswichtigen Merkmale seiner Umgebung wahrnehmen würden, während alle anderen Qualitäten der gegenständlichen Welt von vornherein herausgefiltert würden“ (ebd.). Statt umweltfixiert lebt er weltoffen, auch wenn die Umweltfreiheit seiner Weltoffenheit nie absoluten, sondern stets nur relativen Charakter hat, wie Plessner zu bedenken gibt. Pannenberg teilt Plessners These, „daß unsere Offenheit für die Wirklichkeit gebrochen ist durch die beschränkten und einseitigen Formen unserer Realitätserfassung, wie sie durch unsere Leiblichkeit und die Perspektivität unserer Erfahrung gegeben sind“ (Anthr., 39), und tritt unter Berufung auf diese Annahme dafür ein, den Begriff der Weltoffenheit nicht im zuständlichen Sinne,

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den er „in manchen Äußerungen Schelers und auch noch Gehlens“ (ebd.) habe, sondern prozessual, also als einen Vorgang zu verstehen, „in dem das Selbstsein des Menschen allererst Gestalt annimmt“ (ebd.). Dies und vieles mehr für die moderne Lehre vom Menschen Relevante habe bereits Herder sehr deutlich gesehen: „Die Sonderstellung des Menschen in der Tierwelt tritt nicht abrupt, gleichsam mit einem Sprung auf, sondern hat selbst den Charakter einer Geschichte, in der der Mensch zu sich selber, zu seiner spezifischen Natur erst hinfindet.“ (Ebd.). Das Sein des Menschen, zu dem ihn sein Wesen bestimmt, ist im Werden begriffen und auf Künftiges hingeordnet. So sagt es Herder, den man den Vater der sog. Philosophischen Anthropologie genannt hat. 8.2

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Johann Gottfried Herders Lehre vom Menschen hat lange vor Erscheinen der großen „Anthropologie in theologischer Perspektive“ Pannenbergs Interesse gefunden, wie u. a. die unter seiner Anleitung angefertigte Dissertation von S. H. Sunnus über „Die Säkularisierung der anthropologischen Ansätze J. G. Herders durch A. Gehlen“ belegt. Ein Teil dieser Arbeit wurde 1971 unter dem Titel „Die Wurzeln des modernen Menschenbildes bei J. G. Herder“ gedruckt und publiziert. Sunnus macht darauf aufmerksam, dass Herder „kein Buch über die ‚Natur des Menschen‘ geschrieben habe“2 ; signifikanterweise fänden sich seine anthropologischen Hauptaussagen allesamt in geschichtsphilosophischen bzw. geschichtlich orientierten Kontexten. In sie habe er auch die von der theologischen Tradition vertretene Annahme einer Gottebenbildlichkeit des Menschen eingezeichnet. Der Mensch sei seinem Wesen nach Ebenbild Gottes. Aber sein gottebenbildliches Wesen stelle keine Ursprungsgegebenheit dar, 2 S. H. Sunnus, Die Wurzeln des modernen Menschenbildes bei J. G. Herder, Nürnberg 1971,16. Was die Wurzeln der Herderschen Anthropologie selbst betrifft, so verweist Sunnus u. a. auf Leibnizens Verständnis des Reiches Gottes als des Skopus menschlichen Strebens (vgl. 28ff.), auf die bei J. W. Jerusalem, A. F. W. Sack u. a. begegnende Annahme eines allmählichen Werdens der individuellen und menschheitlichen Vernunft sowie auf die im 18. Jahrhundert häufig begegnende Wendung von der Bestimmung des Menschen, wie man sie paradigmatisch bei J. J. Spalding antrifft. Spalding gehörte „zu den führenden Persönlichkeiten der deutschen lutherischen Kirche des 18. Jh.“ (D. Bourel, Art. Johann Joachim Spalding [1714–1804], in: TRE 31, 607–610, hier: 607) und war ein „Meistertheologe im Zeitalter der Aufklärung“ (vgl. A. Beutel, Johann Joachim Spalding. Meistertheologe im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 2014). Zum theologischen Bestseller wurde seine „Betrachtung über die Bestimmung des Menschen“, 1748 erschienen, mehr als ein dutzend Mal aufgelegt und in viele Sprachen übersetzt. Der Negativposten, von dem sich Herder abgrenzt, ist Sunnus zufolge vor allem durch J. J. Rousseau markiert und zwar durch dessen These eines fortschreitenden Abfalls der Menschheitsgeschichte von ihrem natürlichen Ursprung, der zum Idealzustand verklärt wird.

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

die von Anfang an feststehe, sondern die Bestimmung, deren geschichtliche Realisierung ihm um seines Menschseins willen aufgetragen sei. Des Menschen Sein als imago Dei sei im Werden begriffen. Sein im Werden Sunnus beurteilt die Herdersche Lehre unbeschadet „geistesgeschichtlicher Vorstufen“3 in der Theologie und anderwärts als grundsätzlich „neu“4 . Allerdings bestehe die Neuheit der Herderschen Lehre von der werdenden Gottebenbildlichkeit des Menschen weniger in der Behauptung seiner notwendigen moralischen Vervollkommnung als vielmehr in der Annahme einer Perfektibilitätsteleologie, die primär nicht durch selbsttätiges Handeln des Menschen, sondern durch Sinnvorgaben bestimmt sei, die menschliche Selbstbestimmung allererst ermöglichten. Selbstbestimmung könne daher, wenn sie zielführend und der Idee werdender Gottebenbildlichkeit gemäß sein solle, keinen unmittelbaren, sondern nur vermittelten und vermittelnden Charakter haben. Als Hauptbeleg für die Richtigkeit seiner Interpretation führt Sunnus eine Passage aus dem 5. Kapitel (Religion ist die älteste und heiligste Tradition der Erde) des IX. Buches der „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ an, die auch von Pannenberg an prominenter Stelle zitiert und einer eingehenden Interpretation zugeführt wird. Aus ihr geht hervor, dass der Mensch im Unterschied zu den instinktbegabten Tieren „nicht von Geburt an fertig“5 , sondern zur Verwirklichung seines Wesens auf lange, im Grunde lebenslange Ausbildung seiner Anlagen und dabei insbesondere derjenigen zur Gottebenbildlichkeit als dem Inbegriff humaner Bestimmung angewiesen sei. Er bedarf kommunikativ vermittelter Sinnbestände, um zu Sprache und Vernunft sowie zu Selbst- und Welterfahrungen gebracht zu werden, die seiner Humanität entsprechen. Allein auf sich gestellt ist der Mensch unfähig, seine Bestimmung zu realisieren. Eigenständiges Denken und selbstständiges Handeln sind unverzichtbar und gehören konstitutiv zur conditio humana; aber sie sind sinnvoll möglich nur unter Voraussetzungen, die unmittelbar zu setzen beide nicht in der Lage sind. Erde, Pflanze, Tier Bevor Herders besagte „überaus gehaltvolle Formulierung“ (Anthr., 42) zitiert, „in ihre Elemente“ (ebd.) zerlegt und im Anschluss an Pannenberg ausführlich interpretiert wird, sei ihr Kontext und der Gesamtaufbau der Herder’schen 3 S. H. Sunnus, a.a.O. 35. Vgl. dazu R. Häfner, Johann Gottfried Herders Kulturenstehungslehre. Studien zu den Quellen und zur Methode seines Geschichtsdenkens, Hamburg 1995. 4 S. H. Sunnus, ebd. 5 A.a.O., 88.

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„Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“6 skizziert, die, um mit einem Herderbiographen zu reden, in der „hohe(n) Zeit der Freundschaft mit Goethe“7 lange vor dem „Absinken der Lebenskurve“8 konzipiert wurden. Die Vorrede ist auf Weimar, 23. April 1784, datiert. Oft, so vermerkt Herder, habe er sich gefragt, „ob denn, da alles in der Welt seine Philosophie und Wissenschaft habe, nicht auch das, was uns am nächsten angeht, die Geschichte der Menschheit, im ganzen und großen eine Philosophie und Wissenschaft haben sollte“ (Vorrede [I, 10]). Die Ideen geben eine Antwort auf diese Frage und zwar in vier Teilen (I 1784; II 1785; III 1787; IV 1791) von je fünf, also insgesamt zwanzig Büchern. Das erste handelt von der Stellung der Erde im Weltall, ihrem planetarischen Charakter, ihrer kosmischen Entstehungsgeschichte, ihrer Kugelform sowie vom Kreisen des Globus um die eigene Achse und seinen Bewegungsabläufen im Sonnensystem, sodann von der terrestrischen Oberflächenstruktur und dem Verhältnis von Berg und Tal, Land und Meer etc. Das zweite Buch fasst die Erde als, wie es zu Beginnn heißt, „eine große Werkstätte zur Organisation sehr verschiedenartiger Wesen“ (II, 1; bei H. kursiv) ins Auge und betrachtet das Reich der Pflanzen und der Tiere, um sie in Beziehung zum Menschen als einem animalischen Mitgeschöpf und, wie Herder sagt, Mittelgeschöpf zu setzen, in dessen ausgearbeiteter Form „sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln“ (II, 4; bei H. kursiv). Im dritten Buch vergleicht Herder den Bau der Pflanzen und Tiere und benennt nach zwischengeschalteten Analysen zu den tierischen Trieben und Sinnlichkeitsapparaten organische Unterschiede zwischen Tier und Mensch. Letzterer zeichnet sich unter den Lebewesen insbesondere durch seinen aufrechten Gang aus, der ihn „ein weit um sich schauendes Geschöpf “ (III, 6) sein lässt, dessen Vermögen zur Umsicht ihn geschickt macht „zum ganzen Beruf 6 J. G. Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 2 Bde., Berlin/Weimar 1965 (J. G. Herder, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben. Hg. v. H. Stolpe). Die nachfolgenden Verweise im Text beziehen sich auf die jeweiligen Bücher und Abschnitte dieses Werkes, das sich in der Pannenberg-Bibliothek unter der Buch-Nr. 01857/8 findet. Die von B. Suphan herausgegebenen Sämtlichen Werke Herders bieten die Ideen in den Bänden XIII und XIV (Berlin 1887/1909); kommentiert werden sie in Band III/2 der Werkedition von H. Pross, München/Wien 2002 (zu Titel, Motto und Vorrede der Ideen vgl. a.a.O., 21–63). 7 Vgl. E. Baur, Johann Gottfried Herder. Leben und Werk, Stuttgart 1960, 85ff. (PannenbergBibliothek Buch-Nr. 01863). Zum Thema „Herder und Weimar“ und zur Wirkungsgeschichte der Herder’schen Philosophie der Menschheitsgeschichte vgl. u. a. die einschlägigen Texte in dem von M. Bollacher herausgegebenen Sammelband: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Würzburg 1994; zur Rezeption durch die Vertreter der Philosophischen Anthropologie vgl. bspw. Chr. Grawe, Herders Kulturanthropologie. Die Philosophie der Geschichte der Menschheit im Lichte der modernen Kulturanthropologie, Bonn 1967. 8 Vgl. a.a.O., 127ff. Prägnante Auskünfte zu Biographie und Werkgeschichte Herders gibt E. Herms, Art. Herder, Johann Gottfried von (1744–1803), in: TRE 15, 70–95.

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seiner Gattung“ (ebd.; bei H. kursiv). Die Vernunftfähigkeit des Menschen, seine Tendenz zur Verfeinerung der Sinne, zu Kunst, Kultur und Sprache sowie seine Bildung zu Humanität und Religion (IV, 6: „höchste Humanität des Menschen“), von welcher das vierte Buch handelt, hängt mit besagter Umsichtigkeit in Folge aufrechten Stehens und Gehens ebenso zusammen wie mit der menschlich gegebenen Notwendigkeit, biologische Mängel zu kompensieren. Während manche Tiere „in wenigen Jahren, Tagen, ja beinah schon im Augenblick der Geburt ausgebildet“ (IV, 5) sind, muss der Mensch „am längsten lernen“ (ebd.), was scheinbar ein Nachteil, in Wahrheit aber ein großer Vorteil ist, welcher dem Menschen seine Sonderstellung unter den Kreaturen garantiert. Herder beschließt den ersten Teil der „Ideen“ mit eschatologischen Erwägungen zum menschlichen Streben nach einem jenseitigen Leben der Unsterblichkeit, von dem bereits im vierten Buch die Rede war. Der Mensch ist seiner Wesensbestimmung nach auf Selbst- und Welttranszendenz angelegt. Der Zielgrund seiner Existenz führt über diese hinaus, und die Erde, auf welcher er sein Dasein fristet, erweist sich für ihn nicht als Ort der Erfüllung, sondern nur als „ein Übungsplatz, eine Vorbereitungsstätte“ (V, 5; bei H. kursiv). „Der jetzige Zustand des Menschen“, so Herder in der Überschrift im letzten Abschnitt des fünften Buches, „ist wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweier Welten“ (V, 6; bei H. kursiv) – der hiesigen und der dortigen, der jetzigen und der künftigen, der irdischen und der himmlischen. Der Mensch lebt in der Spannung zwischen Immanenz und Transzendenz, welche seine Eigenart und zugleich die mögliche und tatsächliche Widersprüchlichkeit seines Wesens ausmacht: „Als Tier dienet er der Erde und hängt an ihr als seiner Wohnstätte; als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen anderen Pflanzgarten fodert.“ (Ebd.) Menschenwesen und Menschheit Während die fünf Bücher des ersten Teiles der „Ideen“ die Wesensnatur des Menschen und seine Stellung in der Reihe lebendiger Entitäten zu erheben suchten und „die Erde als einen Wohnplatz des Menschengeschlechts überhaupt“ (VI, Einl.) in Betracht gezogen hatten, wird im sechsten Buch zu Beginn des zweiten Werkteils die Diversität in Betracht gezogen, in der die Menschheit „auf diesem runden Schauplatz“ (ebd.) in Erscheinung tritt. Begonnen wird mit einer Benennung der „Verschiedenheiten in der Organisation der Völker“ (ebd.), angefangen bei denen „in der Nähe des Nordpols“ (VI, 1; bei H. gesperrt) über diejenigen „um den asiatischen Rücken der Erde“ (VI, 2; bei H. gesperrt) hin zum Gefilde schöngebildeter Völker (vgl. VI, 3), zu den Völkerschaften Afrikas (vgl. VI, 4), den „Inseln des heißen Erdstrichs“ (VI, 5; bei H. gesperrt) und zum amerikanischen Kontinent (vgl. VI, 6). So vielfältig und facettenreich

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das volkskundliche „Gemälde der Nationen“ (VII, Einl.) und in so verschiedenen Formen das Menschengeschlecht auch auf der Erde erscheint, „so ists doch überall ein und dieselbe Menschengattung“ (VII, 1; bei H. gesperrt). Die Menschheit ist eine, und alle Menschen sind, so unterschiedlich sie im Einzelnen auch sein mögen und tatsächlich sind, in ihrem gemeinsamen Menschsein eins. Nachdem Herder seinen Grundsatz der Humanität ausgesprochen hat, macht er sich daran, die Weise, wie sich das Menschengeschlecht allenthalben auf der Erde klimatisiert hat (vgl. VII, 2), und die Wirkungen des Klimas auf die Bildung des Menschen an Körper und Seele (vgl. VII, 3) zu thematisieren. Wichtiger noch als das äußere ist das innere Klima, das, wie es heißt, in jeder Pflanze, in jedem Tier und in jedem Menschen wirkt und die Grundatmosphäre des vegetabilischen, animalischen und humanen Lebens ausmacht. Um seinen Charakter näher zu bestimmen, handelt Herder im achten Ideen-Buch von Sinnlichkeit, Einbildungskraft, vom praktischen Verstand, den Empfindungen und Trieben sowie der Glückseligkeit des Menschen, die er „ein Kind der Übung, der Tradition und Gewohnheit“ (VIII, 5; bei H. kursiv) nennt. Das neunte Buch, das Pannenbergs besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, handelt anfangs von der von Herder nachdrücklich unterstrichenen Tatsache, dass kein Mensch sich sein Leben selbst gegeben hat, dass mithin schon das schiere Datum seines Auf-die-Welt-Gekommenseins den Anspruch absoluter Selbsttätigkeit und unmittelbarer Selbstbestimmung in Schranken weist. Im Übrigen gilt: „Sowenig ein Mensch seiner natürlichen Geburt nach aus sich entspringt, sowenig ist er in Gebrauch seiner geistigen Kräfte ein Selbstgeborener.“ (IX, 1) Jeder individuelle Mensch bedarf gleich dem Menschengeschlecht insgesamt der Erziehung, um zu sich zu kommen und bei sich zu sein. Nur durch Erziehung wird ein Mensch zum Menschen. Auf die Menschwerdung des Menschen ist nach Herder nachgerade seine gottebenbildliche Bestimmung zu beziehen, deren Realisierung sich angemessen nur als Bildungsprozess denken lässt, wobei individuelle und universale Perspektiven einen differenzierten anthropologischen Zusammenhang bilden, da, was jeder Mensch ist und sein kann, Zweck des gesamten Menschengeschlechtes sein muss und umgekehrt. Bildung zur Humanität Menschheit und Mensch haben zu werden, was sie ihrem Begriff und Wesen nach sind. Denn Humanität ist am Anfang des Menschenlebens nur rudimentär und anlagemäßig, jedenfalls aber unvollkommen gegeben, um erst allmählich und in einem langwierigen, im Grunde unabschließbaren Prozess sich auszubilden, wobei Individualität und Sozialität zusammenwirken. Auf diesem

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nur prozessual zu realisierenden Charakter seiner Humanität beruht Herder zufolge „sowohl die Perfektibilität als die Korruptibilität unseres Geschlechts“ (ebd.). Unmittelbar und gleichsam naturhaft aufgefasst ist das Menschensein des Menschen ein uneindeutiges Datum, dessen Uneindeutigkeit eindeutig identifiziert werden muss, um nicht eine Ambivalenz zu befördern, die nicht nur Zweideutigkeit, sondern Verkehrungen der menschlichen Bestimmung zur Folge haben muss. Das beste Mittel, derartig bestimmungs- und artwidrige Aberrationen zu vermeiden bzw. zu beheben und den Menschen auf dem Weg seiner Humanisierung fortschreiten zu lassen, ist Herder zufolge die Religion (vgl. IX, 5), aus deren Schoß alle wahren kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen hervorgingen und ohne die sie keinen dauerhaften Bestand hätten. Religion gehört zum Menschsein des Menschen und fungiert nach Herder nicht nur als Mittel, sondern als Inbegriff seiner Humanität. Denn diese gedeiht nur, wenn das menschliche Selbstverhältnis in rechter Beziehung steht zu Gott und mittels der Gottesbeziehung zu Mitmensch und Welt. Anerkennung eigener Endlichkeit in Selbstunterscheidung von Gott ist die Bedingung möglicher Mitmenschlichkeit und kreatürlicher Sympathie. Die Gesetze und Regeln der Humanität sind nach Herder nicht von der Vernunft ersonnen, so vernünftig sie sind, sondern verdanken sich göttlicher Herkunft, von welcher die religiösen Überlieferungen zeugen. Wo diese nicht vernommen werden, ist es um die Vernünftigkeit des Menschen und um seine Humanität schlecht bestellt. In den ältesten Traditionen über den Anfang der Menschengeschichte, wie sie im zehnten Buch der „Ideen“ behandelt werden, findet Herder eine Bestätigung dieser sowie der untrennbar mit ihr verbundenen Überzeugung, dass das Wesen des Menschen kein natürliches Ursprungsdatum, sondern eine Bestimmung ist, die alles bloß Natürliche transzendiert. Als gottebenbildliches Geschöpf ist der Mensch selbsttranszendent und weltoffen, und im Vollzug seiner Weltoffenheit und Selbsttranszendenz realisiert er seine Gottebenbildlichkeit. Geschichtliche Räume Die Geschichte der Menschheit, über die Herder philosophiert, hat nicht eine zeitliche, sondern auch eine räumliche Komponente. Im dritten Teil der „Ideen“ beherrscht sie die Darstellungsperspektive. Die Geschichtsreise beginnt im äußersten Osten Asiens und führt von China über Laos, Korea, Japan und Tibet nach Indien (vgl. XI) und von dort aus ins Zweistromland nach Babylon, Assyrien und Chaldäa, zu den Medern und Persern, dann zu den Hebräern, Phöniziern und Ägyptern bis ins heutige Tunis (vgl. XII). Nachdem die Gefilde und Staatenwelten „vom Euphrat bis zum Nil, von Persepolis bis Karthago durchwandert“ (XII, 6) sind, wird eine erste längere Rast in Grie-

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chenland eingelegt, dessen Lage und Bevölkerung, Sprache, Mythologie, Kunst und Wissenschaft samt Sitten- und Staatenweisheit bis in die Zeit des großen Alexander das gesamte dreizehnte Buch gewidmet ist. Dann „nähern (wir) uns der Küste, die den meisten der bisher betrachteten Staaten ihren oft schrecklichen Untergang gebracht hat: denn von Rom aus ergoß sich wie eine wachsende Flut das Verderben über die Staaten Großgriechenlandes, über Griechenland selbst und über alle Reiche, die von den Trümmern des Throns Alexanders erbauet waren. Rom zerstörte Karthago, Korinth, Jerusalem und viel’ andre blühende Städte der griechischen und asiatischen Welt, so wie es auch in Europa jeder mittäglichen Kultur, an welche seine Waffen reichten, … ein trauriges Ende gemacht hat.“ (XIV, Einl.) Dass schließlich das römische Reich selbst zuschanden wurde, stürzt Herder nicht in Betrübnis, sondern gibt ihm willkommenen Anlass, über die Geltung des Tun-Ergehens-Zusammenhangs und das gerechte Walten der Vorsehung in der Geschichte zu räsonieren. „Gottlob, daß wieder 8. Tage in dem traurigen Rom vorüber sind! Ich kann der Hauptstadt der Welt keinen Geschmack abgewinnen“9 , schreibt Herder am 7. März 1789 an seine Ehefrau Caroline vom Tiber an die Weimarer Ilm. Analog ließe sich das römische Kapitel in den „Ideen“ zusammenfassen. Herder ist froh, es hinter sich gebracht zu haben wie seine italienische Reise, die er gegen Ende der Zeit der Abfassung seiner Geschichtsphilosophie nolens volens absolviert hat. Das Christentum und Europa Nach Abschluss des römischen Trauerspiels und des tragischen Untergangs der Stadt, welche „der Welt auf mehr als ein Jahrtausend den Frieden“ (XV, 3) genommen hatte, erklärt Herder im fünfzehnten Band der „Ideen“ erneut Humanität zum obersten Zweck der Menschennatur (vgl. XV, 1ff.), um nach Beschluss ihres dritten Teils im vierten die Geschichtsreise mit der Völkerwanderungszeit und einer Begehung der Räume fortzusetzen, die Vasken, Galen und Kymren (vgl. XVI, 1), Finnen, Letten und Preußen (vgl. XVI, 2), deutsche (vgl. XVI, 3) und slawische (vgl. XVI, 4) oder andersstämmige (vgl. XVI, 5) Völker einst bewohnten bzw. nachmals heimsuchten. „Von selbst“, so Herder, „hat sich kein Volk in Europa zur Kultur erhoben“ (XVI,6; bei H. kursiv); dazu bedurfte es des Christentums. Seine Ursprungs- und Verlaufsgeschichte verfolgt das siebzehnte Buch der „Ideen“ vom Erscheinen Jesu aus, dessen Mission im Wesentlichen darin bestanden habe, „Menschen Gottes (zu) bilden“ (XVII, Einl.).

9 J. G. Herder, Italienische Reise. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen 1788–1789. Hg. u. komm. u. mit einem Nachwort vers. von A. Meier und H. Hollmer, München 1988, 368.

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Über den Orient, in dem es entstand, und die griechischen und lateinischen Provinzen (vgl. XVII, 2ff.) hat das Christentum in die Welt der Barbaren Einzug gehalten und in den Reichen jener nordischen Völker Anhänger gefunden, die im Zuge der „berühmte(n) Wanderung“ (XVIII, Einl.) in die Provinzen des Imperium Romanum vorgedrungen waren: Westgoten, Sveven, Alanen und Wandalen (vgl. XVIII, 1), Ostgoten und Langobarden (vgl. XVIII, 2), Alemannen, Burgunder und Franken (vgl. XVIII, 3), Sachsen, Normannen und Dänen (vgl. XVIII, 4) etc. Von ihnen, dem nordischen Reich und dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, handelt das achtzehnte Kapitel, während das neunzehnte die Ausbildung der römischen Kirchenhierarchie und ihre Auswirkung auf Europa (vgl. XIX, 1f.), die weltlichen Schirmvogteien der Kirche (vgl. XIX, 3) und sodann das Vordringen des Islams sowie die arabischen Reiche (vgl. XIX, 4f.) erörtert und das zwanzigste den Handels- und Rittergeist in Europa (vgl. XX, 1f.), die Kreuzzüge und ihre Folgen (vgl. XX, 3) sowie die europäische Vernunftkultur (vgl. XX, 4) und Entdeckerfreude (vgl. XX, 5) thematisieren. Der Plan eines fünften und abschließenden Bandes mit erneut fünf Büchern, von denen das zweiundzwanzigste die Reformationsgeschichte behandeln sollte, blieb unausgeführt. Doch tritt der Skopus des Gesamtprojekts, dessen Programm Herder bereits im „Journal einer Reise im Jahr 1769“ skizziert und in seiner 1774 anonym erschienen Schrift „Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit“10 in Grundzügen ausgeführt hatte, auch so und trotz Fehlens eines resümierenden Kapitels zutage: Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ sind ganz und gar auf die eine Idee der 10 J. G. Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Nachwort von H.-G. Gadamer, Frankfurt am Main 1967 (Pannenberg-Bibliothek Buch-Nr.: 01862). Für die konzeptionelle Programmatik ist u. a. die a.a.O., 141ff. als Anhang abgedruckte Einleitung aufschlussreich, die in der Buchfassung des Werkes fortfiel. Geschichtsphilosophie hat nach Herder den Spuren der göttlichen Vorsehung in der Menschheitsentwicklung zu folgen – ausgehend von der Einsicht, dass „die menschliche Natur keine im Guten selbständige Gottheit (ist): Sie muss alles lernen, durch Fortgänge gebildet werden, im allmählichen Kampf immer weiter schreiten …“ (a.a.O., 40). Man kann besagten Prozess als Angleichung an Gott, als theosis beschreiben, wenn eingesehen wird, dass der Mensch seine Gottebenbildlichkeit, zu der er kreatürlich bestimmt ist, nur in Selbstunterscheidung von seinem Schöpfer zu realisieren vermag. Über das Ganze des Realisierungsprozesses kreatürliche Bestimmung und den resultierenden Sinn wird man definitiv erst vom Ende her befinden können (vgl. a.a.O., 137); doch gibt es nach Herder jetzt schon gewisse Vorzeichen, welche die Hoffnung begünden, dass der gärende Sauerteig der Geschichte die Labsal einer „allgemeinen Bildung der Menschheit“ (ebd.) hervorbringen werde. – An einer aktuellen Bildungsgeschichte des Menschengeschlechts hat sich unter Bezug auf Herder J. Habermas versucht: Auch eine Geschichte der Philosophie. Bd. 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen. Bd. 2: Vernünftige Freiheit. Spuren des Diskurses über Glauben und Wissen, Berlin 2019.

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Humanität ausgerichtet, zu deren Beförderung er von 1793 bis 1796 eine Reihe von Briefen ins Land gehen ließ, die als Ersatz für den fehlenden Schluss der „Ideen“ betrachtet werden können. 8.3

Werdende Gottebenbildlichkeit

Gemäß Gen. 1,27 wurde der Mensch von Gott zu seinem Ebenbild geschaffen. Folgt man Herder, dann ist die Gottebenbildlichkeit des Menschengeschöpfs nicht mit einem vollkommenen Urstand am Anfang der Zeiten zu assoziieren; auch die Vorstellung gründender Urzeit, von welcher der Mythos kündet, muss ferngehalten werden. Gottebenbildlichkeit bezeichnet seiner Auffassung nach keinen prähistorischen Status, sondern die Bestimmung des Menschen, auf deren geschichtliche Realisierung er angelegt ist. Mit dieser Sicht weicht Herder nach Urteil Pannenbergs deutlich und offenkundig von der Auffassung ab, welche die christliche Dogmatik traditionell von der menschlichen Gottebenbildlichkeit hatte. Denn diese sei seit alters mit der Annahme eines prälapsarischen status integritatis, eines vollkommenen Urstandes vor dem Sündenfall des Urelternpaars Adam und Eva verbunden gewesen, dessen Vollkommenheit man als Urstandgerechtigkeit bestimmt habe. Urstandsgerechtigkeit Die Frage, wie sich die als „aktuelle Gemeinschaft mit Gott“ (Anthr., 44) verstandene iustitia originalis zur menschlichen imago Dei verhält, wurde in der dogmatischen Tradition verschieden beantwortet und „zum Gegenstand konfessioneller Differenzen“ (ebd.), die hier nicht zur Debatte stehen (vgl. Anthr., 44ff.). Sie haben sich häufig mit dem Problem der Unterscheidung und Zuordnung der Begriffe zäläm und demut (eikon und homoiosis; imago und similitudo) in Gen. 1, 27 verbunden. So weicht etwa das reformatorische Verständnis der menschlichen imago von dem in der lateinischen Scholastik herrschenden darin ab, dass ihm Gottebenbildlichkeit „nicht nur als Grundlage einer von ihr zu unterscheidenden aktuellen Gottesgemeinschaft, der Gottesgerechtigkeit des ersten Menschen (iustitia originalis), sondern als mit dieser aktuellen Gottesbeziehung identisch (galt). Daher wird auch der Sündenfall nicht nur als Verlust der similitudo, sondern als Verlust der imago selbst beurteilt.“ (Anthr., 45f.) Noch in der „Auseinandersetzung unseres Jahrhunderts zwischen Karl Barth und Emil Brunner“ (Anthr., 46) über einen sog. postlapsarischen imago-Rest wirkten Pannenberg zufolge die alten Kontroversen um die rechte Verhältnisbestimmung von Urstandsgerechtigkeit und Gottebenbildlichkeit nach. Sie stehen

Werdende Gottebenbildlichkeit

hier, wie gesagt, nicht zur Diskussion. Für die Herder betreffende Thematik der sog. werdenden Gottebenbildlichkeit genügt die zusammenfassende Feststellung: „Die mittelalterlich-katholische und die reformatorische Auffassung der Gottebenbildlichkeit des Menschen unterscheiden sich … darin, daß für die Reformatoren die Gottebenbildlichkeit in der aktuellen Gottesbeziehung besteht, während sie für die mittelalterliche lateinische Scholastik Voraussetzung dieser aktuellen Gottesbeziehung und formale Struktureigenschaft des menschlichen Wesens ist, ähnlich wie der ‚Imagorest‘ bei E. Brunner. Die beiden konfessionellen Auffassungen der Gottebenbildlichkeit des Menschen stimmen jedoch darin überein, daß diese Gottebenbildlichkeit am Anfang der Menschheitsgeschichte einmal bestanden hat, nämlich in der Vollkommenheit des Urstands des ersten Menschen vor dem Sündenfall.“ (Anthr., 47) Bestimmung des Menschen Wie immer es sich in mittelalterlich-altkirchlichen Zeiten mit den historischen oder pseudohistorischen Vorstellungen verhalten haben mag, die sich mit der Protologie und dem protologischen status integritatis verbunden haben: In der beginnenden Neuzeit verfällt die Annahme, der Urstand vollkommener Gerechtigkeit und Gottebenbildlichkeit des Menschen habe „am Anfang der Menschheitsgeschichte einmal bestanden“ (ebd.), immer mehr der Kritik, um konstruktiv etwa durch die Idee einer im Werden begriffenen Gottebenbildlichkeit ersetzt zu werden, wie das bei Herder der Fall ist. Inwieweit bzw. in welcher Hinsicht der Gedanke einer werdenden Gottebenbildlichkeit, den nicht erst Herder konzipierte, sondern der bereits vor ihm in mannigfacher Weise begegnet (vgl. Anthr., 47ff.), „die evolutive Perspektive der modernen Biologie vorwegnimmt“ (Anthr., 47), kann im gegebenen Zusammenhang ebenso offen bleiben wie die Frage, ob neuere Versuche einer Transformation der protologischen Urstandslehre, wie sie in der Moderne beispielsweise, wenngleich keineswegs erst innerhalb der Dialektischen Theologie und in ihrem Umkreis begegnen, ebenfalls von der seit Beginn der Neuzeit virulenten Kritik an der traditionellen Lehre von status integritatis und imago Dei getroffen werden.11 11 Die Transformation der Urstandslehre betrifft insbesondere ihre traditionelle Verbindung mit einem als historisch-empirisch angenommenen Anfangszustand der Menschheitsgeschichte, die kritisiert und verworfen wird. „Läßt sich von solchen Überlegungen her eine tragfähige Verteidigung der dogmatischen Lehre vom Urstand Adams aufbauen nun nicht mehr im Sinne eines historischen Anfangs, sondern des göttlichen ‚Ursprungs‘ der Menschheit?“ (Anthr., 53) Pannenberg verneint diese Frage: Nach seinem Urteil „scheint die Vorstellung eines durch die Sünde verlorenen Urzustandes der Gottverbundenheit nur haltbar zu sein, wenn man ihn auch als historischen Anfangszustand der Menschheitsgeschichte zu behaupten vermag. Die Rede von einem Verlust setzt eben doch immer einen Zustand voraus, der dem Verlust voranging, und dann muß auch die Frage zugelassen werden, ob es einen solchen Zustand

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Es genügt festzuhalten, dass Herder den Gedanken der imago Dei in Kritik der Vorstellung eines vollkommenen Urzustandes am Beginn der Menschheitsgeschichte konstruktiv im Sinne einer im Menschengeschöpf kreatürlich angelegten Bestimmung deutet, die es lebensgeschichtlich zu realisieren gilt. Was Mensch und Menschheit ihrem Wesen nach sind, steht nicht von Anfang an in gleichsam natürlicher Seinshaftigkeit fest, sondern ist im Werden begriffen. Dabei versieht Herder Pannenberg zufolge den schon vor ihm vertretenen Gedanken einer werdenden Gottebenbildlichkeit mit einer eigenen Note insofern, als er die häufig mit ihm verbundene Annahme einer selbsttätig zu leistenden Vervollkommnung „mit wachsender Skepsis betrachtet. Er war sich jedenfalls zur Zeit seiner ‚Ideen‘ darüber klar, daß in der Bildsamkeit, Plastizität, des ‚beinah ohne Instinkt‘ geborenen Menschen ‚sowohl die Perfektibilität als auch die Korruptibilität unseres Geschlechts‘ begründet ist.“ (Anthr., 49 unter Verweis auf J. G. Herder, Ideen, IX, 1) Einen evidenten Beleg für Herders Skepsis und kritische Reserve gegenüber der Erwartung einer durch unmittelbare Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit zu leistenden Perfektionierung von Menschheit und Mensch enthält der bereits angesprochene, dem zitierten IX. Kapitel der „Ideen“ angehörige Passus, dem Pannenberg eine detaillierte Auslegung hat zuteilwerden lassen. Der Passus lautet: „Nein, gütige Gottheit, dem mörderischen Ungefähr überliessest du dein Geschöpf nicht! Den Tieren gabst du Instinkt, dem Menschen grubest du dein Bild, Religion und Humanität, in die Seele: der Umriss der Bildsäule liegt im dunkeln, tiefen Marmor dar; nur kann er sich selber nicht aushauen, ausbilden. Tradition und Lehre, Vernunft und Erfahrung sollen dies thun, und du liessest es ihm an Mitteln dazu nicht fehlen.“ (Ideen IX, 5) Wie gelangt der mit der Anlage zu Vernunft, Humanität und Religion versehene Mensch zur Realisierung der Gottebenbildlichkeit, zu der er bestimmt ist? „Herder antwortet auf diese Frage nicht mit dem Begriff des Handelns“ (Anthr., 42), sondern argumentiert „auf der Linie der großen Idee der Aufklärung von der Erziehung des Menschengeschlechts“ (ebd.). tatsächlich gegeben hat oder nicht. Diese Frage nicht zuzulassen, wenn man fortfährt, vom Verlust einer urständlichen Gottverbundenheit des Menschen durch die Sünde zu reden, kann nur als Ausdruck einer Immunisierungsstrategie beurteilt werden, die sich den logischen Implikationen der eigenen Behauptungen und ihrer damit gegebenen Verwundbarkeit zu entziehen sucht durch eine Vernebelungstaktik. Ein Verlust von etwas, das nie vorhanden war, kann nicht stattfinden. Da nun die Annahme einer ursprünglichen Gottverbundenheit der Menschheit, die durch einen Sündenfall verlorenging, als historische Behauptung über die Anfänge der Menschheitsgeschichte mit dem heute erreichbaren Wissen über die naturgeschichtlichen Anfänge der Menschheit nicht vereinbar ist, sollte man auch auf so gekünstelte Rettungsversuche traditioneller theologischer Formeln verzichten, wie sie die Rede von einem Ursprung, der aber unhistorisch sein soll, darstellt.“ (Anthr., 53f.)

Werdende Gottebenbildlichkeit

Göttliche Erziehung des Menschengeschlechts Tradition und Lehre sowie Vernunft und Erfahrung sind als bestimmende Faktoren am lebens- und menschheitsgeschichtlichen Bildungsprozess beteiligt. Integriert werden sie beide durch den Glauben an die göttliche Vorsehung. Nur weil im Zusammenwirken der Faktoren Tradition und Lehre einerseits und Vernunft und Erfahrung andererseits die göttliche Vorsehung wirksam ist, tragen sie Pannenbergs Herderinterpretation zufolge in individueller und allgemeiner Hinsicht zur Realisierung menschlicher Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit bei: „Erst der Vorsehungsglaube läßt Herders Auffassung von der Gottebenbildlichkeit voll verständlich werden.“ (Anthr., 43) Denn nur das Vertrauen auf das Walten einer göttlichen Vorsehung gibt die gewisse Gewähr, dass die im Menschen bestimmungsmäßig im Werden begriffene Gottebenbildlichkeit realisiert wird und zur Vollendung gelangt. Durch Selbstvervollkommnung kann dies nicht geleistet werden. Perfektibilität wird nicht durch eigenmächtige Selbstperfektionierung, sondern nur durch göttliche Hilfe erreicht, die dem Menschen entgegenkommt, um in, mit und durch ihn die gottebenbildliche Wesensbestimmung zu realisieren, auf die hin er angelegt und die für ihn vorgesehen ist. „Vielleicht“, so Pannenberg, „ist der Rückgriff auf den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen in Herders ‚Ideen‘ sogar durch die Unerläßlichkeit der göttlichen Vorsehung für die Bildung des Menschen motiviert. Der Gedanke der Gottebenbildlichkeit bringt hier zum Ausdruck, daß der Mensch durch seine natürliche Anlage immer schon auf solches Walten der Vorsehung innerlich bezogen ist. Herders Rückgriff auf den Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen erscheint somit als Ausdruck seines Gegensatzes zum Konzept einer menschlichen Selbstverwirklichung durch tätige Selbststeigerung. Zur Verwirklichung seiner Bestimmung als Mensch, seiner Humanität, bleibt der Mensch auf die verschiedensten Einwirkungen von außen und auf deren Zusammenstimmung zur Förderung seiner Humanität angewiesen. Seine Anlage zur Gottähnlichkeit wird so nur durch Gott selbst, nämlich durch das Walten seiner Vorsehung, realisiert. Das ist eine bedeutsame Weiterentwicklung des humanistischen Gedankens einer werdenden Gottebenbildlichkeit des Menschen.“ (Anthr., 50) Auf sich allein gestellt und bloß von sich aus vermag der Mensch seine geschöpfliche Anlage nicht auszubilden. Durch unmittelbare Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit realisiert er seine kreatürliche Bestimmung nicht nur nicht, sondern verfehlt sie. Ohne göttliches Vorsehungswalten und ohne gläubiges Vertrauen darauf wird aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen nichts; im Gegenteil: der gottebenbildlich Geschaffene verfällt zwangsläufig der Sünde. Nur aus der gläubigen Gottesbeziehung heraus vermag der Mensch zu einem

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rechten Selbst- und Weltverhältnis zu gelangen und in Bezug auf Selbst und Welt zu realisieren, wozu er von seinem Grund und Sinnziel her bestimmt ist. Herder schließt eine „aktive Beteiligung des Menschen an seinem Bildungsprozeß“ (ebd.) keineswegs aus, sondern nimmt sie für sein Konzept werdender Gottebenbildlichkeit entschieden in Anspruch; doch hat tätige Selbst- und Weltbildung den durch die göttliche Vorsehung gewährleisteten Sinn des Ganzen vorauszusetzen: Ohne gläubiges Sinnvertrauen läuft der menschliche Bildungsprozess ins Leere, um in Sinnlosigkeit zu vergehen, ja in Sinnwidrigkeit zu enden. Die Gedanken Herders sind nach Pannenberg für die philosophische Anthropologie in hohem Maße bedeutsam. Ihre Relevanz liegt zum einen darin begründet, dass sie die Gottebenbildlichkeit des Menschen nicht länger an einen sagenhaften Status ursprünglicher Vollkommenheit binden, wie er angeblich am Anfang der Menschheitsgeschichte gleichsam von Natur aus gegeben gewesen, sondern sie auf die Bestimmung des Menschen beziehen, die in ihm kreatürlich angelegt sei. Unter dieser Anlage habe man im Sinne Herders eine verpflichtende Aufgabe zu verstehen, deren Erfüllung die ureigene Bestimmung des Menschen ausmache, die er im Modus unmittelbarer Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung allerdings nicht nur nicht zu leisten vermöge, sondern zwangsläufig verfehle, wie das faktisch der Fall sei. Der faktische Fall des peccatum originale habe nicht in mythischer Urzeit oder am prähistorischen Beginn der Menschheitsgeschichte stattgefunden, sondern ereigne sich immer und überall, wo Menschen in selbstverkehrter Weise sich unmittelbar zu setzen und zu verwirklichen beanspruchten, wie das tatsächlich nicht nur durch diesen oder jenen, sondern allgemein und durch jeden von uns geschehe. Auch letztere Einsicht ist Herder Pannenberg zufolge präsent gewesen und in seinen Gedanken werdender Gottebenbildlichkeit eingegangen. Um das Ziel seiner Bestimmung zu erreichen, muss der Mensch „über sich selber erhoben, hinausgehoben“ (Anthr., 55) und von seiner Selbstverkehrtheit befreit und bekehrt werden. Zwar ist Herder nach Pannenbergs Urteil „soweit Kind seiner Zeit (gewesen), daß er das Böse im Menschen zwar als Entstellung, nicht aber als zerstörenden Widerspruch zu seinem Menschsein begriff und damit die Bedrohung des Menschen durch das Böse unterschätzte“ (ebd.). Die Berechtigung dieses kritischen Vermerks hebe aber die theologische Richtigkeit und Rechtmäßigkeit des Gedankens werdender Gottebenbildlichkeit nicht auf und das umso weniger, als Herder die künftige Realisierung der gottebenbildlichen Bestimmung des Menschen primär nicht vom menschlichen Eigenhandeln, dessen unmittelbares Selbstverwirklichungsstreben er vielmehr als verfehlt und verkehrt ansah, sondern vom Walten der göttlichen Vorsehung erwartete.

Herder, Gehlen, Plessner und Scheler

Anthropologische Summe Summa summarum: „In der reifen Gestalt der Anthropologie Herders hat der Gedanke der Gottebenbildlichkeit die Funktion, die Unfertigkeit der Humanität des Menschen so zu beschreiben, daß dabei zugleich der Schwierigkeit Rechnung getragen wird, daß die Verwirklichung dieser Bestimmung nicht als die Tat dessen gedacht werden kann, in dessen Leben sie doch erst Realität gewinnen soll. Wenn er sie hervorbringen könnte, so müßte er schon sein, was er doch erst werden soll. Andererseits aber ist die Zukunft seiner Bestimmung zur Humanität doch auch als dasjenige zu denken, was den Menschen schon in den Eigentümlichkeiten seines natürlichen Daseins konstituiert; denn nur unter dieser Bedingung kann jene Zukunft als Realisierung der Bestimmung des Menschen selber verstanden werden. Beides zusammen leistet der Gedanke der Gottebenbildlichkeit, indem er das Ziel der menschlichen Wesensverwirklichung zugleich als seine Ausgangslage schon konstituierend zu denken erlaubt.“ (Anthr., 57) Mit dieser dichten Passage wird bei Pannenberg der Abschnitt über „Die Bedeutung der Gedanken Herders für die philosophische Anthropologie der Gegenwart“ eingeleitet. 8.4

Herder, Gehlen, Plessner und Scheler

Von Arnold Gehlen stammt das Wort, die philosophische Anthropologie habe „seit Herder keinen Schritt vorwärts getan“12 . Nachzulesen ist das Diktum in Gehlens 1940 erstmals erschienenen Hauptwerk „Der Mensch“, das zahlreiche Bezüge zum Herder’schen Anthropologiekonzept aufweist. Zu Anfang seiner Erwägungen zu „Herder als Ausgangspunkt der modernen philosophischen Anthropologie“, mit der er das dem Thema „Weltoffenheit und Gottebenbildlichkeit“ gewidmete zweite Kapitel seiner „Anthropologie theologischer Perspektive“ beginnt, hat Pannenberg hierauf ausdrücklich Bezug genommen. Dass die Grundlagen seiner eigenen Lehre vom Menschen schon von ihm vorgezeichnet worden seien, habe Gehlen Herder wiederholt zuerkannt. Dies gelte sowohl für die Annahme fehlender Körperstärke und reduzierten Instinkts des Menschen den Tieren gegenüber als auch für die Tatsache defizitärer Organspezialisierung und Lebensabsicherung durch eine Reiz-Reaktions-Mustern folgende Umweltbeziehung. Seine berühmte These vom Menschen als Mängelwesen sei, wie Gehlen offen anerkenne, bei Herder bereits ebenso präsent wie der anthropologische Sachverhalt, den A. Portmann mit der Wendung vom „extrauterinen Frühjahr“ des Menschenkindes umschrieben habe. Es verwundert daher Pannenberg zufolge nicht, dass Gehlen zusammenfassend feststellen 12 A. Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940), Bonn 6 1958, 90.

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Die Bestimmung des Menschen

konnte, die philosophische Anthropologie habe seit Herder keinen Schritt vorwärts getan, um hinzuzufügen: „Sie braucht auch keinen Schritt vorwärts zu tun, denn dies ist die Wahrheit.“13 (Vgl. Anthr., 40) Radikalisierter Handlungsbegriff Pannenberg teilt Gehlens Herderlob, allerdings unter einem gewichtigen Vorbehalt: Gehlens Behauptung, Herder vertrete im Grunde die gleiche Auffassung, die er selber mit den Mitteln moderner Wissenschaft entwickeln wolle, sei unzutreffend bzw. nur bedingt richtig. In Wahrheit nämlich unterscheide sich „Herders Würdigung der schon von ihm beachteten Phänomene erheblich von derjenigen Gehlens. Das ist auch schon bald bemerkt worden. Herder hat nicht so einseitig wie Gehlen die ‚Mängel‘ der menschlichen Lebensform gegenüber den Tieren zum Ausgangspunkt seiner Darstellung genommen. Diese ‚Mängel‘ gelten ihm nur als das notwendige Gegenstück des hochentwickelten Gehirns, also der Vernunft des Menschen. Der fehlenden Schärfe unserer Sinne steht der Vorzug der Freiheit ihres Gebrauchs gegenüber.“ (Anthr., 40) Auch Herders Rede vom werdenden Sein des Menschen und nötiger menschlicher Selbstvervollkommnung sei derjenigen Gehlens nur „scheinbar analog“ (ebd.). Insbesondere mit dessen „einseitigem Rekurs auf das Handeln als Prinzip menschlicher Selbstverwirklichung“ (Anthr., 41) sei Herders Ansatz nicht gleichzusetzen. Nie verdanke der Mensch sich ihm zufolge „in erster Linie seinem eigenen Handeln. Herder setzt Vernunft und Freiheit als Keim und Anlage für den Prozeß der menschlichen Selbstvervollkommnung schon voraus, während Gehlen Vernunft und Freiheit allererst als Produkt der menschlichen Tätigkeit erscheinen läßt; denn sonst könnte der Begriff des Handelns nicht den Schelerschen Geistbegriff ersetzen. Wenn mit Herder zum Verständnis des Prozesses menschlicher Selbstvervollkommnung Vernunft und Freiheit wenigstens als Anlage schon vorauszusetzen wären, dann ließe sich auch die von Scheler empfundene Notwendigkeit nicht so gänzlich abweisen, dieses Novum in der Evolution des Lebens auf einen Ursprung jenseits aller bisherigen Lebensentwicklung zurückzuführen, auf einen Ursprung, der deshalb nach Scheler nur in dem obersten Grund aller Dinge gesucht werden kann.“ (Ebd.) Im Vergleich zu Gehlen, dessen radikalisierten Handlungsbegriff er an späterer Stelle im Zusammenhang des Themas menschlicher Weltoffenheit erneut kritisiert14 , attestiert Pannenberg sowohl dem Ansatz Plessners als auch demjenigen Schelers eine größere Nähe zu Herders Gedanken. Was Plessner betreffe, 13 Ebd. 14 „Gehlens Deutung der ‚Weltoffenheit‘ als Ausgangspunkt der Weltaneignung durch menschliches Handeln bleibt ja in die Subjektthematik verstrickt, und zwar in merkwürdiger Analogie zu Plessner: Bei beiden soll das Subjekt erst im Prozeß seines Verhaltens entstehen, zugleich aber auch als Prinzip dieses Prozesses gedacht werden, – und dazu müßte es schon an seinem

Herder, Gehlen, Plessner und Scheler

so komme Herder insbesondere dessen – „(i)m Hinblick auf die Unfertigkeit nicht nur dieser oder jener Fähigkeiten, sondern der Eigenart des Menschen selber in seiner natürlichen Ausgangslage“ (Anthr., 57) geäußerten – Kritik an einem zu undifferenzierten Gebrauch des Weltoffenheitsbegriffs nahe. Plessner habe „im Kontext der modernen Diskussion der philosophischen Anthropologie“ (ebd.) mit Recht und ganz im Sinne Herders darauf verwiesen, „daß der Mensch nicht unbeschränkt offen ist für die Wirklichkeit der Dinge außer ihm. Fähigkeit und Bereitschaft zur Sachlichkeit sind zwar im Prinzip vorhanden, doch faktisch immer eingeschränkt. Immerhin ist der Mensch in der Lage, in jeweils bestimmter Weise, wenn auch nur in begrenztem Maße, die Partikularität seiner Perspektiven zu erkennen und so zu überschreiten, die Schranken seiner eigenen Interessen zu erweitern und wenigstens partiell zu überwinden.“ (Anthr., 57f.) Weltoffenheit und Selbsttranszendenz sind im Menschen angelegt und zwar unter der Voraussetzung der konstatierten humanbiologischen Gegebenheiten von „Instinktreduktion, Organprimitivismen, Unfertigkeit bei der Geburt und lange(r) Reifezeit“ (Anthr., 58). Aber der dadurch gebildete anthropologische Freiraum bietet nach Pannenberg doch nur Anlass und Gelegenheit für „das Aufblitzen des eigentlich Menschlichen. Wie der Übergang zu diesem Ereignis sich vollziehen kann, diese Frage wird durch Plessners Betonung der Schranken menschlicher Weltoffenheit in volles Licht gerückt. Jener Übergang ist nicht als Leistung menschlichen Handelns angemessen zu beschreiben, da der Begriff eines menschlichen Handelns vielmehr umgekehrt die Identität des Menschen als seines Subjekts schon voraussetzt. Der Handelnde verfügt über die Umstände und Momente seines Handelns. Darum kann derjenige Prozeß, durch den der Mensch allererst er selber wird, nicht als Handeln begriffen werden. Aus demselben Grund kann auch das Handeln als solches nicht das eigentlich Menschliche sein.“ (Ebd.) Dies werde von Gehlen verkannt; Plessners Vorbehalte gegenüber handlungstheoretisch entgrenzten Begriffen menschlicher Weltoffenheit und Selbsttranszendenz bestünden daher zu Recht. Dennoch und trotz Affirmation von dessen Gehlenkritik stimmt Pannenberg auch Plessners Ansatz nicht kritiklos zu.

Anfang vollendet sein. Immerhin hatte Gehlen – ähnlich wie einst Herder und dann Scheler – die Offenheit des menschlichen Weltverhältnisses zum Ausgangspunkt seiner Beschreibung genommen, und darin liegt die Chance, diesen Ansatz von der Verstrickung in die Subjektproblematik freizuhalten und weiterzuentwickeln als Beschreibung des Prozesses, dessen Resultat allererst das menschliche Subjekt ist.“ (Anthr., 62) Vgl. F. Wagner, Gehlens radikalisierter Handlungsbegriff. Ein theologischer Beitrag zur interdisziplinären Forschung, in: ZEE 17 (1973), 213–229, wo Bezüge zur Selbstsetzungstheorie der frühen Wissenschaftslehren Fichtes hergestellt werden.

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Die Eigenart des Menschlichen wird im Kontext der sog. Philosophischen Anthropologie vorzugsweise mit dem Begriff der Selbsttranszendenz und dem „weitgehend äquivalente(n)“ (Anthr., 60) der Weltoffenheit beschrieben. Bei Plessner tritt als Leitbegriff bzw. Ersatz derjenige der exzentrischen Positionalität hinzu. „Während die höheren Tiere im Unterschied zu den Pflanzen das Zentrum ihrer Lebensäußerungen in sich selber haben, ein Zentrum, das sich im Gang der Evolution mit fortschreitender Entwicklung eines zentralen Nervensystems immer mehr verstärkt, ist der Mensch darüber hinaus zugleich exzentrisch. Er hat sein Zentrum nicht nur in sich, sondern zugleich außerhalb seiner.“ (Anthr., 34f.) Pannenberg affirmiert diese Beschreibung im Grundsatz, qualifiziert sie aber zugleich als etwas dunkel (vgl. Anthr., 35). Eigentümlich vage bleibe insbesondere, wie Zentralität und Exzentrizität in der exzentrischen Positionalität des Menschen „sich zueinander verhalten und miteinander verbunden sind“ (Anthr., 35). Daher verwundere es nicht, „daß Plessners Ersetzung des Begriffes der Weltoffenheit durch den der Exzentrizität wenig Anklang gefunden“ (ebd.) habe. Zentrum der Exzentrizität Als problematisch beurteilt Pannenberg insbesondere, dass bei Plessner nicht hinreichend deutlich werde, „in welchem Außerhalb der Mensch eigentlich sein exzentrisches Zentrum hat, zumal er ja offensichtlich das am höchsten entwickelte zentrale Nervensystem besitzt“ (ebd.). Diese Unklarheit werde durch die tendenzielle Gleichsetzung der Exzentrizität des Menschen mit dessen Fähigkeit zur Selbstreflexion, von der Plessner das Vermögen zu sachlichem Weltumgang ableite, eher verstärkt als behoben. Im Grunde, so Pannenberg, identifiziere Plessner die – zu einer strukturellen Lebensmodifikation auf der mit dem Menschen erreichten Entwicklungsstufe erklärte – Exzentrizität mit dem menschlichen Selbstbewusstsein und lasse Exzentrizität und Zentralität im Subjekt konvergieren und koinzidieren. Dadurch werde das Moment der Exzentrizität im Zusammenhang dessen, was Plessner exzentrische Positionalität nennt, nicht nur zum „allgemeinste(n) und insofern auch grundlegenden Charakteristikum des eigentümlich Menschlichen“ (Anthr., 60), sondern „zur Eigentümlichkeit der menschlichen Seinsform im Sinne des menschlichen Subjekts erklärt“ (ebd.), dessen Begriff infolgedessen „von vornherein die zentrale Stellung im strukturellen Aufbau der menschlichen Lebensform“ (ebd.) zukomme. Auf diese Konsequenz und die „Schwierigkeiten, in die Plessner sich durch die Übernahme des Subjektbegriffs verwickelt“ (Anthr., 61, Anm. 57), sind Pannenbergs Bedenken ausgerichtet. Mit seinem Ansatz beim Subjekt vermag Plessner nach Auffassung Pannenbergs „dessen Exzentrizität nicht zu erklären“ (Anthr., 61). Plessner selbst sei

Herder, Gehlen, Plessner und Scheler

die bestehende Problematik nicht verborgen geblieben, die mit der Behauptung einer in menschlicher Subjektivität gegebenen Simultaneität von Exzentrizität und Zentralität gegeben sei. Er habe sie durch den Hinweis zu beheben versucht, dass das Subjekt nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit als fix und fertige Größe, sondern nur auf vermittelte Weise und im Vollzug eines Selbstkonstituierungsprozesses gegeben sei, aus welchem es resultiere. Wie dieser Selbstvermittlungsprozess des Subjekts zu denken sei, bleibe indes offen. Es begegneten ähnliche Aporien wie bei Gehlen: „um als Handlungssubjekt auftreten zu können, müsse das Subjekt seinen Konstitutionsprozeß schon hinter sich haben.“ (Anthr., 61, Anm. 57) Die Figur des sich selbst setzenden Ich bzw. des sich mit sich selbst vermittelnden Subjekts scheitert nach Pannenberg in allen ihren Variationsformen. Phänomen der Sachlichkeit Um die Aporien diverser Selbstsetzungs- und Selbstvermittlungstheorien menschlicher Subjektivität zu vermeiden, erinnert Pannenberg gegenüber Plessner und Gehlen an Schelers ursprüngliche Einsicht, wonach das signifikanteste Charakteristikum des Menschen im Unterschied zu Tieren und das evidenteste Indiz seiner Weltoffenheit, Selbsttranszendenz und Exzentrizität die Fähigkeit zur Sachlichkeit sei. Für Schelers anthropologische Phänomenanalyse bildet die Sachlichkeit menschlicher Wahrnehmung „zweifellos das fundamentale Datum“ (Anthr., 60): „Das Selbstbewußtsein – und auch das Gottesbewußtsein – sind in diesem Sachverhalt implizit gegeben.“ (Ebd.) Indem er ihm Prioritätsstellung zuerkenne, vermeide Scheler die Aporien, die mit dem Ansatz beim Subjekt verbunden seien. Mit „der Orientierung seiner Analyse an der Sachlichkeit der menschlichen Wahrnehmung“ (Anthr., 61f.) setze er „von vornherein beim exzentrischen Lebensvollzug des Menschen an, so daß er sich durch die Aporien im Begriff des Subjekts – wie es als zugleich in sich und außer sich gedacht werden kann – nicht beirren zu lassen braucht“ (Anthr., 62). Belastet sei der Schelersche Entwurf indes „durch die Dunkelheiten des Geistbegriffs …, der einerseits in einer an Aristoteles erinnernden Weise von außen in das Lebensgeschehen des menschlichen Organismus eingreifen, andererseits aber doch als Person das Aktzentrum dieses Lebewesens selber sein soll“ (ebd.). Erhellende Klarheit, wie beides zusammenzudenken und übereinstimmend zur Geltung zu bringen sei, habe Scheler nicht zu erzeugen vermocht. Die unter Verweis auf seine Exzentrizität, Weltoffenheit und Selbsttranszendenz erhobene Behauptung einer Sonderstellung des Menschen sei und bleibe bei ihm „so gefaßt, daß sie zu ihrer Erklärung des Geistes als eines dem Leben entgegengesetzten Prinzips bedarf, das gleichsam von außen in den Prozeß der Evolution eingreift und

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Die Bestimmung des Menschen

deshalb unmittelbar auf Gott zurückgeführt wird“ (Anthr., 34). Ob es sich bei dem Dualismus von Geist und Leben um „ein Fortwirken der theistischen Personmetaphysik des frühen Scheler in seinem anthropologischen Spätwerk“ (ebd., Anm. 24) handelt, kann im gegebenen Zusammenhang unentschieden bleiben.15

15 Zur „Kritik des Schelerschen raschen Sprungs in die Metaphysik seitens der Existenzphilosophie“ vgl. R. Rothacker, Philosophische Anthropologie, Bonn 5 1982, 50ff. Dem Exkurs geht ein Vergleich von Gehlen und Scheler sowie eine ausführliche Darstellung von Gehlens These des Menschen als eines biologischen Mängelwesens voraus; es folgen eindringliche Reflexionen zum Menschen als eines zwar umweltgebundenen, aber zugleich distanzfähigen, weltoffenen Wesens. Die Distanzfähigkeit des Menschen schließt sein Vermögen zur Sachlichkeit in sich. Vgl. hierzu u. a. H.-E. Hengstenberg, Philosophische Anthropologie, München/Salzburg 4 1984, 9ff.: Der Mensch als das der Sachlichkeit fähige Wesen. Für diesen Befund bietet nach Hengstenberg die Anthropologie selbst den besten Beleg, wobei sich in der philosophischen Anthropologie das Bewusstsein dieses Sachverhalts explizit reflektiert: „Philosophische Anthropologie ist die Lehre vom Menschen unter dem Gesichtspunkt des Menschseins selbst. Damit unterscheidet sie sich grundsätzlich von allen Wissenschaften, die es zwar auch mit dem Menschen zu tun haben, ihn aber unter regionalen Gesichtspunkten betrachten: dem physiologischen, biologischen, psychologischen, sprachwissenschaftlichen usw.“ (V)

9.

Verständiges Gegenstandsbewusstsein

Pannenbergs Theorie der Sachlichkeit und der Ansatz der Hegel’schen Geistphänomenologie

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Sein beim Anderen

Zu den Büchern, mit denen sich Pannenberg in großer Intensität beschäftigt hat, zählt, wie zahlreiche Unterstreichungen und Eintragungen in seinem Handexemplar belegen, die Monographie „Die Phänomenologie der Wahrnehmung“ von Maurice Merleau-Ponty. Merleau-Ponty war einer der bedeutendsten Repräsentanten der französischen Phänomenologenschule und lehrte seit 1952 am Collège de France. Im Mittelpunkt vieler seiner Arbeiten steht die Analyse der Leiblichkeit des Menschen und der mit ihr gegebenen ursprünglichen Selbstund Weltwahrnehmung. Menschliche Leiblichkeit umgreift nach MerleauPonty die Differenz von reinem Geist und bloßem Körper, deren Trennung eine Abstraktion darstelle, die zu beheben sei, wenn die conditio humana auf genuine Weise verstanden werden solle. Auf diese These ist auch das Werk „Phénoménologie de la perception“ von 1945 ausgerichtet, das 1966 in deutscher Übersetzung erschienen ist.1 Der erste Werkteil ist dem Eigenleib, seiner Räumlichkeit, Motorik und Intentionalität, seiner Geschlechtlichkeit, seiner Gestik und Sprachartikulation usw. gewidmet. Ein zweiter Teil entwickelt auf der Grundlage der Leiblichkeitstheorie eine Theorie der Wahrnehmung in Form des Empfindens und der Lebensraumerkenntnis sowie der wahrgenommenen natürlichen Welt der Dinge und der menschlichen Welt der sog. Anderen. Ein dritter und letzter Teil ist „Für-sich-sein und Zur-Welt-sein“ überschrieben und erörtert das cogito, die Zeitlichkeit und die Freiheit. Phänomenologie menschlicher Wahrnehmung Im Zusammenhang seiner kritischen Auseinandersetzung mit den Repräsentanten der Philosophischen Anthropologie unterstreicht Pannenberg vor allem die „Zurücknahme des absoluten Subjektbegriffs in den Gedanken einer durch die Leiblichkeit begründeten Situiertheit des Ich als Ort einer bestimmten endlichen Perspektive der Weltwahrnehmung“ (Anthr., 64 Anm. 62), wie sie für Merleau-Pontys Konzeption kennzeichnend sei. Zwar sei ihm „(d)ie Bedeutung des Wissens vom eigenen Leibe für die Entwicklung des Selbstbewußtseins 1 M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Aus dem Französischen übersetzt und eingeführt durch eine Vorrede von R. Boehm, Berlin 1966; Pannenberg-Bibliothek Nr. 03080.

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Verständiges Gegenstandsbewusstsein

… seltsamerweise … noch nicht zum Problem“ (ebd.) geworden, was möglicherweise damit zusammenhänge, „daß er das Verhältnis zum eigenen Leibe nur als das einer ‚präobjektiven‘ Urgewohnheit dachte, den Leib nicht auch als Gegenstand begriff “ (ebd.). Nichtsdestoweniger sei Merleau-Pontys Ansatz bei einem in seinem Grund und Ursprung leiblich verfassten Sein des Menschen in der Welt gegenüber einer unvermittelt auftretenden Subjekttheorie der eindeutige Vorzug zu geben und das umso mehr, als sich damit die Einsicht in den perspektivischen Charakter aller Einzelwahrnehmung im umfassenden Welthorizont verbinde, der ihren Sinn und ihre Bedeutung bedinge. Es ist „meine Bindung an einen Gesichtspunkt“, schreibt Merleau-Ponty, „die in eins die Endlichkeit und Offenheit meiner Wahrnehmung für das Weltganze als ihren Horizont begründet“2 : „Die Welt ist eine offene, indefinite Einheit, in der ich situiert bin, wie Kant es in der transzendentalen Dialektik angezeigt hat, doch in der Analytik vergessen zu haben scheint.“3 Wie Merleau-Ponty hat auf seine Weise auch Max Scheler eine Phänomenologie der menschlichen Wahrnehmung entworfen und zwar unter dem Aspekt ihrer Sachlichkeit, die, wie vermerkt, das fundamentale Datum seiner Analyse darstellt. Diesen Ansatz greift Pannenberg unbeschadet seiner Kritik an der Unvermitteltheit, mit dem seinem Urteil zufolge Scheler den Geistbegriff in die Phänomenanalyse einführt, auf, um von ihm her die Sonderstellung des Menschen im Kosmos so zu begründen, dass sich jeder Dualismus von Geist und Leben erübrigt, weil Geistigkeit als ein Prinzip menschlichen Lebens selbst erkennbar wird. Auch die Behebung eines bleibenden Mangels der Herder’schen Argumentation verspricht sich Pannenberg von einem anthropologischen Ansatz bei der humanbiologisch zutage tretenden Fähigkeit des Menschen zur Sachlichkeit. Herders anthropologisches Zentralthema war nach Pannenberg „das Werden des Menschen, in dessen Prozeß seine Subjektivität selber erst entsteht, so daß sein Ergebnis nicht schon als ihr Produkt verstanden werden kann. Als Schlüsselbegriff zur Beschreibung eines solchen Bildungsprozesses diente ihm der Gedanke der Bestimmung des Menschen zur Gottebenbildlichkeit. Dabei hat Herder die biologische Ausgangslage des Menschen als Anlage für diese seine Bestimmung gedeutet und so mit ihr verknüpft. Sieht man allerdings genauer zu, so ist der Gedanke der Gottebenbildlichkeit bei Herder nicht inhaltlich durch die Beschreibung der biologischen Ausgangslage des Menschen vermittelt, sondern tritt ebenso wie der Vorsehungsgedanke äußerlich zu den 2 A. a. O., 352. 3 Ebd.; bei Pannenberg teilweise zitiert in: Anthr., 65 Anm. 64. Vgl. ferner Anthr., 28 Anm. 6, wo Merleau-Pontys Einsicht in „die Irreduzibilität des Ganzen auf eine bloße Summe seiner Teile“ hervorgehoben wird.

Sein beim Anderen

anthropologischen Daten hinzu. In diesem Punkte kann Herders Argumentation heutigen Plausibilitätsansprüchen an eine Einführung theologischer Begriffe in die Beschreibung empirisch-anthropologischer Sachverhalte nicht mehr genügen. Wenn es dafür überhaupt eine Rechtfertigung geben soll, so muß gezeigt werden, daß die religiöse und theologische Begrifflichkeit den Phänomenen nicht äußerlich ist, sondern einer an ihnen selber aufweisbaren Dimension entspricht.“ (Anthr., 62f.) Die Möglichkeit hierzu erschließt nach Pannenbergs Urteil der Ansatz bei der Fähigkeit des Menschen zur Sachlichkeit, wie sie sich bereits unter humanbiologische Gesichtspunkten aufweisen lasse. „Der Mensch ist ursprünglich immer schon beim andern seiner selbst.“ (Anthr., 58) Damit ist die Struktur seines Sachlichkeitsvermögens gekennzeichnet, wie es sich in seinem Weltverhältnis und in seinem Selbstverhältnis realisiert. „Menschen sind bei andern ihrer selbst als einem andern. Indem sie sich einem Gegenstand zuwenden, haben sie das Bewußtsein seiner Unterschiedenheit, seiner Andersheit. Dabei wird die Andersheit des Gegenstandes im gleichen Akt sowohl hinsichtlich seiner Differenz von mir selbst als auch von den ihm gegenüber anderen Gegenständen unterschieden, der Gegenstand so in seiner eigentümlichen Bestimmtheit erfaßt. Das schließt wiederum nicht aus, daß die Reflexion sich hier gesondert der Andersheit des Wahrnehmungsgegenstandes gegenüber andern solchen Gegenständen oder aber seiner Andersheit gegenüber mir selber, dem wahrnehmenden Subjekt, zuwenden kann. Auch das ist – auf anderer Stufe – noch einmal ein Beispiel für die Zuwendung zu einem gegenständlichen Gehalt auf Grund seiner Unterscheidung als eines solchen. Weil so die Unterscheidung eines gegenständlichen Gehalts schon Bedingung der Zuwendung zu ihm ist, eben darum kann die Zuwendung zum Gegenstand auf bewußter, wenn auch nur zeitweiliger Abkehr von allem andern beruhen. So ist gerade das Versunkensein der reinen Sachlichkeit, das Hingegebensein an eine Sache erst durch das Wissen um das Anderssein der Sache möglich.“ (Anthr., 59) Sachliche Hingabe und Selbstsein Zu sich selbst zu kommen vermag der Mensch nur, weil er beim anderen seiner selbst als einem anderen zu sein vermag, mithin das Vermögen zur Sachlichkeit hat. Erst wenn er selbsttranszendent wird und exzentrisch bei der Sache ist, gelangt er zum entwickelten Bewusstsein seiner selbst. Ohne sachliches Weltverhältnis kann es kein Selbstbewusstsein geben, in welchem sich ein Ich als mit sich identisch und von allem unterschieden weiß, was es nicht selbst ist. In seiner Gegenstandsorientierung, in seinem Sein beim anderen als einem anderen, wie es für die Sachlichkeit seines Umgang mit den Dingen der Welt charakteristisch ist, sind die exzentrische Verfassungs- und Verhaltensstruktur

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Verständiges Gegenstandsbewusstsein

des Menschen sowie seine Selbsttranszendenz und Weltoffenheit manifest. Zwar ist das sachliche Verweilen beim Gegenstand der Wahrnehmung nach Pannenberg nur eine Form menschlicher Exzentrizität, aber doch nicht nur irgendeine, sondern „die Grundform, als deren Entfaltung auch die anderen Weisen des exzentrischen Verhaltens sich verstehen lassen“ (Anthr., 63): „Der Erfassung des Gegenstandes als eines andern bedeutet zunächst, daß der Mensch immer schon bei den Gegenständen seiner Welt ist. Zugleich aber, weil der Mensch der Andersheit seines Gegenstandes gewahr ist, kann er von jedem Gegenstand auch wieder Distanz nehmen, indem er seine Aufmerksamkeit anderen Gegenständen zuwendet, die gegenüber dem ersten als ‚andere‘ bestimmt sind.“ (Anthr., 63f.) Mit der Wahrnehmung einer wechselseitigen Differenz von Wahrnehmungsgegenständen und dem Vermögen, die Aufmerksamkeit von einem ab- und dem andern zuzuwenden, ist nach Pannenberg die grundsätzliche Möglichkeit gegeben, alle externe Gegenständlichkeit zu distanzieren und die Wahrnehmung und mit ihr den Wahrnehmenden selber zum Gegenstand der Wahrnehmung zu machen. Der „Ansatz zur Rückwendung von der Gegenstandserfahrung auf das eigene Selbst oder Ich“ (ebd.) liegt mithin in der Wahrnehmung selbst begründet. In ihr hat „eine Überschreitung der ganzen Sphäre der gegenständlichen Wahrnehmung (statt), die aber dennoch in der Wahrnehmung des Gegenstandes als eines anderen angelegt ist und in der“, wie Pannenberg annimmt, „auch das eigene Dasein zunächst als Gegenstand unter Gegenständen erfaßt wird“ (Anthr., 64f.). Wahrnehmung der Wahrnehmung Wahrzunehmen, was es mit der Wahrnehmung auf sich hat, heißt zu erkennen, dass das exzentrische Sein beim anderen die Wesensstruktur menschlichen Daseins ausmacht. Indem es wahrnehmend bei der Sache ist, wird das menschliche Dasein der gegenständlichen Welt dergestalt gewahr, dass ihm die Gegenstände, deren Gegenständlichkeit sich als durch wechselseitiges Entgegenstehen bedingt zu erkennen gibt, als das Andere seiner selbst präsent werden. In den Weltgegenständen nimmt der Mensch das Andere seiner selbst als anderes wahr. Auch sich selbst vermag er auf sachliche Weise und als Weltgegenstand wahrzunehmen, jedoch in singulärer Weise insofern, als er sich in seiner gegenständlichen Selbstwahrnehmung zugleich als eine Größe wahrnimmt, die allen Weltgegenständen entgegensteht, ohne deshalb aufzuhören, selbst ein Weltgegenstand zu sein. Im Vollzug der Wahrnehmung nimmt sich der Mensch selbst als differenzierte Einheit von Selbst und Welt wahr, um so zugleich bei sich und über sich hinaus zu sein.

Sein beim Anderen

Folgt man Pannenberg, dann ist die exzentrische Positionalität des Menschen, wie sie am Phänomen der Wahrnehmung zur Einsicht zu bringen ist, durch die Begriffe der Selbsttranszendenz und Weltoffenheit noch nicht hinreichend umschrieben. In ihr findet sich vielmehr angelegt, was Gottoffenheit zu nennen ist, sofern in allen Selbst- und Weltwahrnehmungen ein Gottesbezug mitgesetzt ist, wenngleich nur auf implizite, unthematische, erst in der Reflexion zu Bewusstsein kommende Weise. Ist dieser Schritt von Selbsttranszendenz und Weltoffenheit zu Gottoffenheit, wie er ihn schon in seinen anthropologischen Studien von 1962 vollzogen hatte4 , berechtigt, fragt Pannenberg. „Ist der Mensch in seiner offenen Transzendenz über sich selber und über alle Gegenstände seiner Erfahrung hinaus nicht nur auf einen sie alle umgreifenden allgemeinsten Horizont bezogen? Bleibt von da aus nicht immer noch ein Sprung zur Intuition göttlicher Wirklichkeit? Die Antwort lautet: Noch im Hinausgehen über alle Erfahrung oder Vorstellung wahrzunehmender Gegenstände bleibt der Mensch exzentrisch, bezogen auf ein anderes seiner selbst, nun aber auf ein Anderes jenseits aller Gegenstände seiner Welt, das zugleich diese ganze Welt umgreift und so dem Menschen die mögliche Einheit seines Lebensvollzuges in der Welt und trotz der Mannigfaltigkeit und Heterogenität ihrer Einwirkungen verbürgt. Ein bloßer allgemeinster Horizont aller Gegenstände 4 Der Begriff der Weltoffenheit, den Pannenberg im ersten Vortrag seiner „kleinen“ Anthropologie im Anschluss an Scheler, Portmann und Gehlen thematisiert (vgl. W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 3 1968, 5–13), bildet den Schlüssel zum Gesamtkonzept und die Basis dessen, was unter Bezug auf Plessner Exzentrizität genannt wird. Primäres Kennzeichen von Weltoffenheit ist Pannenberg zufolge Sachlichkeit. „Nur weil der Mensch in offener Sachlichkeit bei dem ‚andern‘, das er sich gegenüber findet, verweilen kann, vermag er von da auf sich selbst zurückzukommen.“ (104, Anm. 1) Ein sachliches Verhältnis zur Welt ist dem Menschen möglich, weil er im Unterschied zu anderen Lebewesen nur bedingt umweltgebunden ist. Die ihm eigentümliche Freiheit erlaubt es ihm, „über alle vorfindliche Regelung seines Daseins hinauszufragen und hinwegzuschreiten“(6). In seiner weltoffenen Exzentrizität ist der Mensch zu Selbsttranszendenz befähigt. Diese Fähigkeit ist kein bloßes seelisches Vermögen, sondern in der Besonderheit menschlicher Leiblichkeit begründet. Einen Leib-Seele-Dualismus, wie er in Teilen der griechischen Antike vertreten worden sei, lehnt Pannenberg unter Berufung auf das christliche Menschenbild ebenso entschieden ab wie eine materialistische Anthropologie. „Es gibt keine dem Leibe gegenüber selbständige Wirklichkeit ‚Seele‘ im Menschen, ebensowenig aber auch einen bloß mechanischen oder bewußtlos bewegten Körper. Beides sind Abstraktionen. Wirklich ist nur die Einheit des sich bewegenden, sich zur Welt verhaltenden Lebewesens Mensch.“ (36). Der Mensch gilt Pannenberg als psychosomatische Differenzeinheit, die im Geiste als dem dritten im anthropologischen Bunde dazu bestimmt ist, selbsttranszendente Weltoffenheit als Gottoffenheit zu realisieren. Nur in Gott findet der Mensch den exzentrischen Grund seiner selbst und seiner Welt, wobei hinzuzufügen ist: „Das Wort Gott kann nur sinnvoll verwendet werden, wenn es das Gegenüber der grenzenlosen Angewiesenheit des Menschen meint. Sonst wird es zu einer leeren Vokabel.“ (11)

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hätte für sich kein Dasein. Im Ausgriff auf den alles Einzelne tatsächlicher und möglicher Wahrnehmung umgreifenden allgemeinsten Horizont verhält sich aber der Mensch exzentrisch zu einer ihm vorgegebenen Wirklichkeit, und daher ist in diesem Ausgriff implizit die göttliche Wirklichkeit mitbejaht, auch ohne als solche schon thematisch oder gar schon in dieser oder jener besonderen Gestalt erfaßt zu sein.“ (Anthr., 66) Weltoffenheit als Gottoffenheit In jedem Welt- und Selbstverhältnis des Menschen ist eine Unendlichkeitsdimension und damit ein religiöser Gottesbezug mitgesetzt, wenngleich auf unthematische Weise. Die elementare Bedeutung dieser im Anschluss an Herder erschlossenen Einsicht für Pannenbergs Anthropologie sowie für seine metaphysisch-theologische Gesamtkonzeption ist evident.5 Evident sind ferner die Bezüge zwischen Pannenbergs Sachlichkeitstheorie und dem Ansatz der Hegel’schen Geistphänomenologie. Auch diese nimmt bei der sinnlichen Wahrnehmung und dem menschlichen Gegenstandsbewusstsein ihren Ausgang, um vom Vermögen, Gegenstandswahrnehmung als sachliche Wahrnehmung wahrzunehmen zu Selbstwahrnehmungsformen und zu einem Bewusstsein zu gelangen, das um sich und seine unendliche Bestimmung weiß.6 Offen zu Tage tritt dieser Zusammenhang, wenn man die enzyklopädische Phänomenologie auf die die Phänomenologie des Geistes von 1807 rückbezieht und nach der Funktion von Hegels erster großer Monographie für das Gesamtsystem fragt.

5 Vgl. G. Wenz, Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, in: ders. (Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016, 15–70, bes. 25ff. Angemerkt sei, dass Pannenberg zufolge mit dem exzentrischen „Sein beim anderen als einem anderen“, wie es für die Sachlichkeit des menschlichen Umgangs mit den Dingen charakteristisch ist, „präzise die Wesensstruktur des Glaubens als Vertrauen beschrieben“ (Anthr., 68) wird. Der Glaube ist, was er ist, indem er sich verlässt; der Glaubende lebt, mit Luther zu reden, extra se in Christo: Gerade so entspricht er der Gottebenbildlichkeit, zu welcher er bestimmt ist. Pannenbergs Überlegungen zur Bedeutung des Grundvertrauens für die Konstruktion des Selbst in seinem Weltumgang nehmen an späterer Stelle die strukturelle Analogie von weltoffener Sachlichkeit und selbsttranszendentem Glauben wieder auf. Zum Weltverhältnis als Ausdruck der Gottebenbildlichkeit des Menschen vgl. Anthr., 71ff., wo u. a. von der Zusammengehörigkeit der Gottebenbildlichkeit des Menschen und seiner „Berufung zur Weltherrschaft in Vertretung Gottes“ (Anthr., 73) sowie von dem Zusammenhang gehandelt wird, der „zwischen Gottesbeziehung und zunehmender Herrschaft des Menschen über die Naturbedingungen seines Daseins besteht“ (ebd.). 6 Vgl. hierzu im Einzelnen Th. Oehl, Die Aktualität der Wahrnehmung und die Metaphysik des Geistes. Eine aktualisierende Lektüre von Hegels Philosophie des Geistes, Phil. Diss. München 2020.

Die enzyklopädische Phänomenologie und die Phänomenologie des Geistes von 1807

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Die enzyklopädische Phänomenologie und die Phänomenologie des Geistes von 1807

Nach Maßgabe des Hegel’schen Systemkonzepts ist der subjektive Geist, von dem die Lehre vom Menschen zu handeln hat, „als eine Mitte zwischen zwey Extreme, die Natur und Gott, gestellt, – zwischen einen Ausgangspunkt und zwischen einen Endzweck und Ziel. Die Frage, was der Geist ist, schließt damit sogleich die zwey Fragen in sich, wo der Geist herkommt, und wo der Geist hingeht! Und wenn diß zunächst zwey weitere Betrachtungen zu seyn scheinen über die, was er ist, so wird sich bald zeigen, daß sie es allein wahrhaftig sind, durch welche er erkannt wird, was er ist.“ (GW 15,249)7 Wo kommt der Mensch her? Hegel antwortet: Von der Natur; ohne Kenntnis seiner natürlichen Herkunftsgeschichte kann das Wesen des subjektiven Geistes nicht erfasst werden. Was ist das künftige Ziel seiner Entwicklung, wohin geht er? Zur „Freyheit“ (ebd.), sagt Hegel, um hinzuzufügen: „Was er ist, ist eben diese Bewegung selbst von der Natur sich zu befreyen. Diß ist sosehr seine Substanz selbst, daß man von ihm nicht als einem so feststehenden Subjecte sprechen darf, welches diß oder jenes thue und wirke, als ob solche Thätigkeit eine Zufälligkeit, eine Art von Zustand wäre, ausser welchem es bestehe, sondern seine Thätigkeit ist seine Substantialität, die Actuosität ist sein Seyn.“ (Ebd.) Selbstwerdungsprozess Sein und Wesen des Menschen sind in Bewegung begriffen und nur aus der Spannung von natürlicher Herkunftsgeschichte und humaner Bestimmung zur Zukunft der Freiheit heraus zu begreifen. Um zu sich selbst zu gelangen und sein Wesen als subjektiver Geist zu verwirklichen, muss sich der Mensch über die Natur und alles Natürliche in ihm selbst erheben. Zwar bleibt er der Natur im Allgemeinen und seiner eigenen im Besonderen elementar verbunden; gleichwohl ist es seine Bestimmung, sein Naturleben zu transzendieren, um es im Prozess fortschreitender Selbstwerdung aufzuheben. Die ersten naturtranszendierenden Schritte, die der subjektive Geist auf dem Weg zu sich selbst 7 Zu Hegels bruchstückhaften Vorarbeiten zu einem geplanten, aber nicht realisierten Kompendium zur Philosophie des subjektiven Geistes vgl. GW 15, 301–304. Ein erstes Bruchstück handelt nach allgemeinen Bemerkungen zur Philosophie des Geistes von Menschenkenntnis und Selbsterkenntnis, von Psychologie und Pneumatologie sowie davon, wie aus dem Begriff des Geistes und den Momenten seiner Selbstentwicklung heraus die Einteilung der ihn thematisierenden Wissenschaft vorzunehmen ist; konkret bestimmt wird indes nur die Idee der Natur als des Anderen oder Äußerlichen des Geistes. Das zweite Bruchstück erörtert die Schranken, die dem endlichen Geist gesetzt sind, damit er sie transzendiere, im dritten und vierten werden mit den Theorien von sog. Rassenverschiedenheiten und Lebensaltern spezielle Stücke des ersten Teils der Philosophie des subjektiven Geistes expliziert. Die beiden letzten Bruchstücke haben die empfindende Seele und ihre reale Individualität zum Gegenstand.

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vollzieht, hat gemäß der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ die sog. Anthropologie zu bedenken. Sie betrachtet den Geist, „wie er noch in die Natur versenkt ist; wo der Geist noch in Conflikt mit seiner Leiblichkeit ist“ (GW 25/2, 555). Ziel der anthropologischen Betrachtung ist die Einsicht in das Wesen fühlenden Lebens. Alle Lebewesen sind fühlende, Hegel kann auch sagen: beseelte Wesen. Sie sind – auf welch rudimentäre Weise auch immer – der Differenz von Innen und Außen inne. Dies unterscheidet sie kategorial von seelenlosen Entitäten ohne Gefühl, wie sie in der anorganischen Welt vorkommen. Zwar sind Organismen ohne anorganische Prämissen, die ihnen implizit sind, nicht denkbar, und der Übergang aus der leblos-unbeseelten in die beseelt-fühlende Sphäre des Lebendigen verläuft fließend und kontinuierlich, wie sich an der Grenze des Pflanzlichen und am Verhältnis des Vegetabilischen zum Animalischen im Einzelnen aufweisen ließe. Dennoch stellen Lebewesen eine Novität in der Welt der Natur dar, deren Eigenart sich nicht auf ihre natürlichen Ursprünge reduzieren lässt, so unveräußerlich und konstitutiv die Naturgeschichte ihrer Herkunft für ihr Sein ist. Im anorganischen Bereich bleibt die Natur, wenn man so will, sich selbst äußerlich; im lebendigen Wesen geht sie in sich, um fühlend der Differenz von Innen und Außen inne zu werden. Fühlendes Innesein und Gegenstandsbewusstsein Es ist dem Menschen mit allen Lebewesen gemein, fühlend zu sein. Als lediglich fühlendes Wesen ist er ein animalisches Wesen mit vegetabilischen und anorganischen Anteilen, deren Verhältnis zueinander aufzuklären Aufgabe einer biologischen Anthropologie ist, wie Hegel sie im ersten Teil seiner Philosophie des subjektiven Geistes entwickelt. Er schließt direkt an die Naturphilosophie an in dem Bestreben, Zusammenhang und Unterschied von Mensch und Tier zu erkunden.8 Auch der Mensch hat nach Hegel als ein „animal“ zu gelten, aber 8 Den Anfang des Beginnens, welches der erste Teil der Lehre vom subjektiven Geist anthropologisch bedenkt, erblickt Hegel im animalischen Geschlechtsverhältnis, mit dessen Beschreibung die Naturphilosophie endet. In dem Moment, in welchem vitalste Lust und individuelles Gattungsschicksal sich wechselseitig besiegeln, hebt eine die Natur grundsätzlich transzendierende Bewegung an. Der Prozess der Naturtranszendierung des subjektiven Geistes verläuft zunächst auf unbewusste Weise, um erst allmählich zu Bewusstsein gebracht zu werden (vgl. M. Greene, Towards a Notion of Awareness, in: D. Henrich [Hg.], Hegels philosophische Psychologie, Bonn 1979, 65–80). Trotz ihrer Grenzstellung gehört Hegels sog. Anthropologie als Lehre vom präbewussten Leben des Menschen „ganz und ungeteilt in den Bereich der ‚Philosophie des Geistes‘, also auch nicht teilweise in den Bereich der Naturphilosophie. Insofern ist sie für diese in anderer Weise Grenze als für jene, nämlich äußere Grenze im Unterschied zur inneren.“ (R. Wiehl, Das psychische System der Empfindung in Hegels „Anthropologie“, in: a.a.O., 81–139, hier: 104. Wiehls Text enthält eingehende Erörterungen zum philosophischen Begriff der Hegel’schen „Anthropologie“ [81–91], zu ihrem Ort im System [91–102] sowie

Die enzyklopädische Phänomenologie und die Phänomenologie des Geistes von 1807

als ein solches der besonderen Art, wie sich bereits in zoologisch-biologischer Hinsicht in charakteristischer Weise zeigt. Beseelte Körper bzw. leibhafte Seelen finden sich auch in der extrahumanen Kreatur. Doch gehört der Mensch dem Tierreich nur bedingt an, sofern er bereits seiner animalischen Anlage gemäß dazu bestimmt ist, das Tierische zu transzendieren. Allerdings tritt das naturund selbsttranszendente Wesen des Menschen erst allmählich zutage. Definitiv manifest wird es erst im Prozess der Ich-Genese, die Hegel im zweiten Teil seiner Philosophie des subjektiven Geistes als Vorgang des Reflexwerdens der leibhaften Menschenseele beschreibt. Die Ichwerdung des Menschen setzt das Erwachen der Seele zum Bewusstsein voraus. Statt bloßes Empfinden zu bleiben, wird die Seele eines ihr Gegenüberstehenden gegenständlich bewusst, welches Gegenstandsbewusstsein mit Selbstbewusstsein untrennbar verbunden ist. Im Wissen um die Gegenstände weiß die Seele zugleich um sich selbst und ist sich wissendes Ich geworden. Das Ich findet die Welt vor als für es vorhanden, welches Bewusstsein mit dem Selbstbewusstsein einhergeht, eine Größe zwar in der Welt, aber nicht von ihr zu sein. Seine Transmundaneität entnimmt das Ich nicht dem Weltzusammenhang, lässt es aber auch nicht in ihm aufgehen. Mit der Ichwerdung des Menschen ist die Natur im Allgemeinen und seine eigene Natürlichkeit im Besonderen aufgehoben, bestimmt negiert, bewahrt und in Freiheit überführt worden: „im bewußtsein geht erst die Freiheit an; da ist: Ich und eine Welt die von mir ausgeschlossen ist, die mir gegenüber steht …“ (GW 25/2, 746) Gegenstands- und Selbstbewusstsein Was ist das weltunterschiedene und in seiner Weltunterschiedenheit weltlose Ich an sich selbst? Antwort: „das vollkommen leere, einfache, das ganz bestimmungslose“ (GW 25/2, 747). Es ist das abstrakt sich selbst gleiche Allgemeine, dass sich als das Allgemeine weiß: „(I)ch habe mich zum Gegenstand, wenn ich ich habe, ohne etwas von mir Unterschiedenes; ich weiß, und was ich weiß bin ich; ich verhält sich zu seinem Ich (zu sich) es verhält sich zu sich selbst; das allgemeine bezieht sich auf das allgemeine; es ist nicht unterschieden und doch; es ist ein Unterschied zwischen ihnen der keiner ist.“ (Ebd.) Unmittelbar zu ihren Grenzen und deren verschiedenen Deutungsmöglichkeiten [103–115]. Zu Hegels Methode in der Erkenntnis des Seelischen sowie zu seinem Verständnis seelischer Empfindungen und seelischen Selbstgefühls vgl. 115–139. „Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der seelischen Phänomene, dass sie sich zunächst und dem äußeren Anschein nach nicht von den Phänomenen animalischen Lebens unterscheiden lassen. In beiden Phänomenbereichen finden wir die Erscheinungen der natürlichen Veränderungen der Lebensalter, des Wachens und Schlafens, der Gesundheit und Krankheit, der Gewohnheit und des Lebens. Aber hinter dieser scheinbaren Gleichheit des Verhaltens verbirgt sich eine absolute Differenz, die in der Tatsache des Geistes und seiner Gesetzmäßigkeit gründet.“ [139])

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bei sich selbst ist das Ich nichts anderes als reine Indifferenz. Damit es in ein differentes Verhältnis zu sich selbst und zur Welt gelange, kann es nicht in vermittlungsloser Unmittelbarkeit verharren, sondern muss aus sich herausgehen, um im Anderen seiner selbst und nachgerade in Wesen, die seinesgleichen sind, auf vermittelte Weise zu sich zu gelangen und eine Identität auszubilden, in der Einheit und Verschiedenheit einen differenzierten Zusammenhang bilden.9 Die anhand einer Nachschrift zu Hegels Vorlesung über die Lehre vom subjektiven Geist vom WS 1827/2810 vorläufig und lediglich in groben Grundzügen skizzierte Wegstrecke im Entwicklungsgang geistiger Freiheit ist in der dem Kolleg grundgelegten Enzyklopädieausgabe von 1827 unter der Überschrift „Die Phänomenologie des Geistes“ in den §§ 413–439 als Lehre vom Bewusstsein zur Darstellung gebracht und zwar in drei Hauptteilen: 1. Das Bewusstsein als solches (§§ 418–423); 2. Das Selbstbewusstsein (§§ 424–437); 3. Die Vernunft (§§ 438f.). In der Drittauflage der Enzyklopädie von 1830 sind die drei Erhebungsstufen des subjektiven Geistes unverändert beibehalten und mit einer förmlichen Untergliederung versehen worden. Unter dem Aspekt des „Bewusstseyn(s) überhaupt …, welches einen Gegenstand als solchen hat“ (GW 19, 9 Um der Differenziertheit dieses Zusammenhangs vorläufig gewahr zu werden, empfiehlt es sich, den Gedankengang der Philosophie des subjektiven Geistes antizipativ als Ganzes ins Auge zu fassen und zwar von dem Moment des erfolgten Übergangs der sog. Anthropologie in die sog. Phänomenologie des Geistes an. Der endliche Geist des Menschen steht, wie schon gesagt, „zwischen 2 Welten zwischen der Natur, noch in die Natur versenkt, und zwischen dem Unendlichen Absoluten: Gott“ (GW 25/2, 557). Die Mitte innerhalb dieser Doppelstellung hinwiederum ist durch den Standpunkt des Ich markiert, welches seine anthropologische Natur, sofern sie natürlich ist, bereits transzendiert und aufgehoben hat, ohne recht eigentlich schon zur Vernunft und zu seiner geistigen Bestimmung in Theorie und Praxis gelangt zu sein. Um dies zu bewerkstelligen, bedarf es vorzugsweise der Selbsterkenntnis. Aus dem, was Hegel seine natürliche „Ausgelassenheit“ (GW 25/2, 558) nennt, muss das Ich in sich gehen, ohne sich in sich einzuhausen. Es hat sich im Gegenteil durch das gewonnene Bewusstsein seiner selbst hinausführen zu lassen über sich und seinen geistigen Horizont ins Universale und Unendliche zu weiten. Auf diese und nur auf diese Weise vermag der subjektive Geist wahrhaft zu sich und zur Realisierung seiner Bestimmung zu gelangen. Er ist frei allein dadurch, dass er seine Freiheit verwirklicht, statt unmittelbar auf ihr zu insistieren. Unmittelbare Selbstbestimmung verfehlt das Wesen menschlicher Freiheit und ist verkehrt in sich selbst. Zu sich selbst befreit wird das Ich dagegen nur, wenn es sich mit dem, was es nicht unmittelbar selbst ist, vermittelt und im Andern sein Selbst expliziert. In diesem Sinne kann Hegel sagen: „Die Wissenschaft des Geistes stellt den Gang der Befreiung der Geistes dar.“ (GW 25/2, 576) 10 Man hat diesen Vorlesungsjahrgang als einen „besonders wichtigen und wertvollen“ (B. Tuschling, Hegels Vorlesungen zur Philosophie des subjektiven Geistes, in: Hegel-Studien 26 [1991], 54–63, hier: 55; a.a.O., 57–59 gibt Tuschling einen Überblick über das überlieferte Material.) bezeichnet. Diese Qualifikation hat u. a. deshalb ihre Richtigkeit, weil es sich bei ihm um den letzten, der durch erhaltene Nachschriften dokumentiert ist, und zugleich um denjenigen handelt, der erstmals nicht mehr auf der Enzyklopädieausgabe von 1817, sondern auf der Zweitauflage von 1827 basiert und diese zugleich mit der Drittauflage von 1830 verbindet.

Die enzyklopädische Phänomenologie und die Phänomenologie des Geistes von 1807

318; GW 20, 424), kommen das sinnliche Bewusstsein, das Wahrnehmen und der Verstand in Betracht, im Hinblick auf das „Selbstbewußtsein, für welches Ich der Gegenstand ist“ (GW 20, 424; vgl. GW 19, 318), die Begierde als der Trieb des Ich zu unmittelbarer Selbstdurchsetzung, das anerkennende sowie das allgemeine Selbstbewusstsein, aus dem heraus sich dann die Einheit des Bewusstseins und des Selbstbewusstseins und damit die Vernunft ergibt, vermöge derer „der Geist den Inhalt des Gegenstandes als sich selbst und sich selbst als an und für sich bestimmt anschaut“ (GW 19, 318; vgl. GW 20, 424). Der Begriff des subjektiven Geistes ist mithin nicht schon durch die Ichwerdung des Menschen und sein Ichsein als solches, sondern erst dadurch realisiert, dass das Ich zur Vernunft kommt und zu einem Selbstbewusstsein gelangt, das sich theoretisch und praktisch mit allem zu vermitteln weiß, was ist. Kleine und große Phänomenologie Die in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“ seit der Auflage von 1817 als Lehre vom Bewusstsein als solchem, vom Selbstbewusstsein und von der Vernunft entwickelten Bestimmungsmomente des subjektiven Geistes stellen in Hegels Denken keine Novität dar, sondern charakterisieren bereits den Entwicklungsgang der Gedanken in seiner ersten großen philosophischen Monographie, die just unter dem Titel in die Geschichte einging, der dann auch für den zweiten Teil der enzyklopädischen Lehre vom subjektiven Geist kennzeichnend werden sollte. Die „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 beginnt nach einer Vorrede (vgl. GW 9, 9–49) und einer Einleitung (vgl. GW 9, 53–62) unter dem Titel „Bewusstseyn“ mit Überlegungen über die sinnliche Gewissheit, das Dieses und das Meinen, über die Wahrnehmung, das Ding und die Täuschung sowie über Kraft und Verstand, Erscheinung und übersinnliche Welt (vgl. GW 9, 63–102). Diese Abschnitte weisen voraus auf die drei Bestimmungsmomente des gegenständlichen Bewusstseins in der enzyklopädischen Phänomenologie. Vergleichbares ist in Bezug auf die Ausführungen zur Wahrheit der Gewissheit seiner selbst zu sagen, die in dem Werk von 1807 mit der Überschrift „Selbstbewußtseyn“ versehen sind (vgl. GW 9, 103–131). Sie nehmen in dem, was sie über Selbstständigkeit und Unselbstständigkeit des Selbstbewusstseins, über Herrschaft und Knechtschaft sowie über die zu erlangende vernünftige Freiheit sagen, viele von den Inhalten des zweiten und dritten Teils der enzyklopädischen Phänomenologie vorweg. In die sog. Psychologie als dem dritten Teil der enzyklopädischen Lehre vom subjektiven Geist schließlich ist manches von dem eingegangen, was in der „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 unter dem Gesichtspunkt der theoretisch beobachtenden und der praktisch gestaltenden Vernunft thematisiert worden ist (vgl. GW 9, 132–237). Im Unterschied zur

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sog. Anthropologie als dem ersten Teil der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften skizzierten und auf ihrer Basis dann in Vorlesungen eigens ausgeführten Lehre vom subjektiven Geist empfiehlt es sich daher, in Bezug auf die enzyklopädische Phänomenologie und Psychologie das philosophische Frühwerk zumindest ansatzweise mit zu berücksichtigen. Wahrheit als Resultat Für die Methodik der „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 ist wie für die enzyklopädische ein fortschreitendes Aufheben anfänglicher Abstraktionen kennzeichnend. Es gilt die Maxime: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Jegliches, Subject, oder sich selbst Werden, zu seyn.“ (GW 9, 19) Geistlos nicht nur, sondern geistwidrig wäre es hingegen, das Anfängliche im Sinne eines Grundsatzes oder Prinzips zur philosophischen Wahrheit zu erklären. Denn aller Anfang ist weniger schwer als leer. Es ist nach Hegel leicht zu begreifen, dass „ein sogenannter Grundsatz oder Princip der Philosophie, wenn er wahr ist, schon darum auch falsch ist, weil er Grundsatz oder Princip ist“ (GW 9, 21). Denn das Grundsätzlich-Prinzipielle ist nicht das Ganze, welches zu sein es beansprucht, sondern als das Anfängliche dasjenige, dem jede Fülle mangelt, ja dass an sich selbst nichts ist: völlige Indifferenz. Als ein desaströser Widerspruch in sich muss es daher beurteilt werden, wenn die Philosophie mit dem absoluten Wissen, indem es sich vollendet, wie aus der Pistole geschossen ihren unmittelbaren Anfang nehmen möchte. Durch ein solches Verfahren wird nach Hegel in naiver Erkenntnisleere das Absolute als die Nacht ausgegeben, „worin, wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind“ (GW 9, 17). Wie das Wissen ist auch die Wissenschaft als System des Wissens Resultat, in welchem der Prozeß des Resultierens aufgehoben ist. „Wo wir eine Eiche in der Krafft ihres Stammes und in der Ausbreitung ihrer Aeste und den Massen ihrer Belaubung zu sehen wünschen, sind wir nicht zufrieden, wenn uns an dieser Stelle eine Eichel gezeigt wird. So ist die Wissenschaft, die Krone einer Welt des Geistes, nicht in ihrem Anfange vollendet.“ (GW 9, 15) Als Resultat der Genese des Wissens ist das wissenschaftliche System die Gestalt, in welcher das Wissen wirklich ist und die Wahrheit existiert. Im System der Wissenschaft ist die Substanz aufgehoben und wahrhaft als dasjenige realisiert, das im Anderssein in sich reflektiert und zu sich gekommen ist.11 11 Nach allgemeinen Vorbemerkungen zur Einschätzung der Zeitlage und einer speziellen Abgrenzung gegen Schelling hat Hegel in der Vorrede der Phänomenologie den Grundsatz formuliert, dass philosophisch alles darauf ankomme, das Wahre nicht als Substanz, sondern

Die enzyklopädische Phänomenologie und die Phänomenologie des Geistes von 1807

In der Erkenntnis der absoluten Vermitteltheit des Seins, das als substantieller Inhalt Begriff ist, vollendet sich die Erkenntnis der Phänomenologie des Geistes, die als Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins der wissenschaftliche Weg zur Wissenschaft genannt werden kann, ohne bereits das Wissenschaftssystem selbst zu sein, welches in reiner Form in der Logik entwickelt ist, um sich in Naturwissenschaft und Wissenschaft des Geistes realphilosophisch zu

ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken (vgl. GW 9, 18). Damit ist nicht etwa eine unvermittelte Alternative zwischen Substanzontologie und Subjektivitätsphilosophie formuliert, wohl aber gesagt, dass substanzontologische Aussagen auf die subjektivitätsphilosophischen Bedingungen ihrer Möglichkeit hin zu untersuchen sind, nicht um es bei einem transzendentalphilosophischen Ansatz oder bei Formen eines subjektiven Idealismus zu belassen, sondern um zur gedanklich entwickelten Einsicht in die Einheit von Sein und Denken zu gelangen, in welcher der abstrakte Gegensatz von Substanzontologie und Subjektivitätsphilosophie aufgehoben ist. „Daß das Wahre nur als System wirklich, oder daß die Substanz wesentlich Subject ist, ist in der Vorstellung ausgedrückt, welche das Absolute als Geist ausspricht, – der erhabenste Begriff, und der der neuern Zeit und ihrer Religion angehört. Das Geistige allein ist das Wirkliche; es ist das Wesen oder an sich seyende, – das sich Verhaltende oder bestimmte, das Andersseyn und Fürsichseyn – und in dieser Bestimmtheit oder seinem Aussersichseyn in sich selbst bleibende; – oder es ist an und für sich. – Diß an für sich seyn aber ist es erst für uns oder an sich, oder es ist die geistige Substanz. Es muß diß auch für sich selbst, – muß das Wissen von dem Geistigen und das Wissen von sich als dem Geiste seyn; das heißt, es muß sich als Gegenstand seyn, aber eben so unmittelbar als vermittelter das heißt aufgehobener, in sich reflectirter Gegenstand. Er ist für sich nur für uns, in so fern sein geistiger Inhalt durch ihn selbst erzeugt ist; in so fern er aber auch für sich selbst für sich ist, so ist dieses Selbsterzeugen, der reine Begriff, ihm zugleich das gegenständliche Element, worin er sein Daseyn hat; und er ist auf diese Weise in seinem Daseyn für sich selbst in sich reflectirter Gegenstand. – Der Geist, der sich so als Geist weiß, ist die Wissenschaft. Sie ist seine Wirklichkeit und das Reich, das er sich in seinem eigenen Elemente erbaut.“ (GW 9, 22) – Der Phänomenologie des Geistes als der Genetisierung des Werdens des Wissens weist Hegel die Funktion einer Leiter zu (vgl. GW 9, 23), welche das Bewusstsein als das unmittelbare Dasein des Geistes, welches durch die unbegriffene Differenz von Wissen und wissensnegativer Gegenständlichkeit bestimmt ist, über sich hinaus und zum reinen Selbsterkennen im absoluten Anderssein als der Wahrheit der Wissenschaft hinführt. Ohne selbst bereits integrativer Bestandteil des Systems zu sein, fungiert die Phänomenologie sonach als eine den endlichen Geist zur Selbsttranszendenz anleitende wissenschaftliche Propädeutik. Sie kann ihrer Einleitung zufolge „als der Weg des natürlichen Bewußtseyns, das zum wahren Wissen dringt, genommen werden; oder als der Weg der Seele, welche die Reihe ihrer Gestaltungen, als durch ihre Natur ihr vorgesteckter Stationen durchwandert, daß sie sich zum Geiste läutere, indem sie durch die vollständige Erfahrung ihrer selbst zur Kenntniß desjenigen gelangt, was sie an sich selbst ist.“ (GW 9, 55) Im Nachvollzug der Erscheinungsgeschichte des Geistes bildet sich das Bewußtsein selbst zur Wissenschaft aus, wobei es zu bewusster Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens gelangt, welches in Wahrheit nur der nichtrealisierte Begriff ist bzw. die unbegriffene Entzweiung des Bewusstseins in ein Bewusstsein des Gegenstandes einerseits und des Bewusstseins seiner selbst andererseits.

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explizieren.12 Dass es dabei namentlich in Hinblick auf die Philosophie des subjektiven Geistes zu mannigfachen Rückgriffen auf die Phänomenologie kommt, erweist nicht nur den antizipatorischen Charakter der mit ihr gegebenen Wissenschaftspropädeutik, sondern konfrontiert zugleich mit der für das Verständnis Hegel’schen Denkens zentralen Frage, wie sich die in der Phänomenologie in propädeutischer, in der Enzyklopädie in systematischer Absicht entwickelte sog. Realphilosophie zur Logik als der stricte dictu spekulativen Philosophie verhält, in deren Zusammenhang die Momente des Geistes nicht in der Unterscheidung von Sein und Wissen begriffen, sondern nur durch die Selbstbewegung des Begriffs, der in den logischen Formen sein reines Wesen findet, zum Ganzen organisiert sind.13 12 Wie sich die in der Wissenschaft der Logik entwickelte gedankliche Struktur des Begriffs von Subjektivität zur Realität des in der Enzyklopädie thematisierten subjektiven Geistes verhält, hat K. Düsing in dem Beitrag erörtert: Hegels Begriff der Subjektivität in der Logik und in der Philosophie des subjektiven Geistes, in: D. Henrich (Hg.), Hegels philosophische Psychologie, 201–214. Die realphilosophische Abfolge von Anthropologie, Phänomenologie und Psychologie korrespondiert der logischen Sequenz von Dasein, Wesen und Begriff, die Hegel im dritten Teil der Wissenschaft der Logik explizit mit Seele, Bewusstsein und freier Geistigkeit als den Entwicklungsmomenten des subjektiven Geistes in Verbindung bringt (vgl. dazu auch: R. Horstmann, Subjektiver Geist und Moralität. Zur systematischen Stellung der Philosophie des subjektiven Geistes, in: a.a.O., 191–199, hier bes. 191f.) 13 Fragen ergeben sich nicht nur in Bezug auf den systematischen Status der „Phänomenologie des Geistes“, sondern auch hinsichtlich der Systematik ihrer Gliederung. Die Dreiteilung in Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Vernunft hat Hegel zwecks Verbesserung der Übersichtlichkeit wahrscheinlich erst während der Drucklegung vorgenommen. Verbunden mit ihr ist eine wohl ursprünglichere Zählung der Hauptabschnitte nach römischen Ziffern. Danach unterteilt sich das Bewusstseinskapitel in Abschnitte über die sinnliche Gewissheit, das Dieses und das Meinen (I.), die Wahrnehmung, das Ding und die Täuschung (II.) sowie über Kraft und Verstand, Erscheinung und sinnliche Welt (III.). Dem Selbstbewusstseinskapitel ist nur ein römisch bezifferter Abschnitt zugeordnet, nämlich derjenige über die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst (IV.), der allerdings umfangreiche Unterteile über Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewusstseins, Herrschaft und Knechtschaft sowie über Freiheit des Selbstbewusstseins mit Ausführungen über Stoizismus, Skeptizismus und das unglückliche Bewusstsein enthält. Das Vernunftkapitel schließlich untergliedert sich in folgende Teile: V. Gewissheit und Wahrheit der Vernunft; hier handelt Hegel zunächst von der beobachtenden Vernunft in Form der Naturbeobachtung, der Beobachtung des Selbstbewusstseins in seiner Reinheit und in seiner Beziehung auf äußere Realität sowie auf seine unmittelbare Wirklichkeit, sodann von der Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst, schließlich von der Individualität, welche sich an und für sich reell ist. VI. Der Geist als wahrer (Sittlichkeit), sich entfremdeter (Bildung) und seiner selbst gewisser (Moralität) Geist. VII. Die Religion als natürliche, als Kunstreligion und als offenbare Religion. VIII. Das absolute Wissen. – Der Eindruck einer gewissen Unausgeglichenheit der Gesamtstruktur des Werkes, welchen die vorgenommene Kombination zweier Gliederungssysteme hinterlässt, wird durch die Disposition der verarbeiteten Materialbestände verstärkt. Diese wirkt auf den ersten Blick nicht nur disparat, sondern teilweise chaotisch. Eine genaue Topographie der

Die Anfänge der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins von sich selbst

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Die Anfänge der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins von sich selbst

Die dramatischen Umstände der Fertigstellung von Hegels erstem großen philosophischen Werk in den Oktobertagen 1806, als Jena von den Franzosen besetzt wurde und der Anblick Napoleons („diese Weltseele“14 ) den Philosophen mit Bewunderung erfüllt hat, sind bekannt und vielfach beschrieben worden. weitläufigen Erkenntnisräume scheint schwer ersichtlich, das Panorama der diversen Bewusstseinsgestalten insbesondere dann kaum überschaubar zu sein, wenn man die vielfältigen historisch-geistesgeschichtlichen Bezüge mit in Betracht zieht. Hegel hat selbst eingestanden, dass seine Vertiefungen ins Detail und die Anhäufung von Stoffmassen für den Gesamtüberblick hinderlich geworden seien. Doch gibt sich trotz mancher Unübersichtlichkeiten infolge eines immensen Perspektivenreichtums bei genauerem Zusehen eine klare Ordnung des Werkes durchaus und zwar nachgerade in Bezug auf die Lehre vom Bewusstsein und vom Selbstbewusstsein zu erkennen, die im gegebenen Zusammenhang allein interessieren soll. (Die interne Ordnung der Phänomenologie und das Übergehen einer Wissensform in die andere „womöglich deutlicher noch“ herauszuarbeiten, „als es nach eigenem Dafürhalten Hegel selbst gelungen ist“, bemüht sich der Kommentar von F.-P. Hansen, G. W. F. Hegel: „Phänomenologie des Geistes“. Ein einführender Kommentar, Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, hier: 11. Hansen ist der Auffassung, dass Hegel über das durch die Phänomenologie vorbereitete, im Einzelnen noch auszuarbeitende Gesamtsystem seiner Philosophie „schon 1807 im Bilde war“ [a.a.O., 144]. Vgl. ders., Hegels „Phänomenologie des Geistes“. „Erster Teil“ des „Systems der Wissenschaft“ dargestellt an Hand der „System-Vorrede“ von 1807, Würzburg 1994.) 14 Briefe von und an Hegel. 4 Bde., hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg 1952–1960, hier: Bd. 1, 120. Vgl. O Pöggeler, Hegels Idee einer Phänomenologie des Geistes, Freiburg/München 2 1993, 433f.: „Die Phänomenologie des Geistes war auf dem Weg Hegels ein Werk, das schon durch die Umstände seines Entstehens in besonderer Weise Elend und Glanz des Philosophierens in sich sammelte. Der außerplanmäßige Jenaer Professor war so gut wie ohne Gehalt; mit der Publikation seines ‚Systems‘ wollte er sich auch die Mittel für das nackte Überleben erwerben. So mußte er mit seinem Verleger aneinandergeraten, als er das versprochene Buch völlig umgestaltete. In der Nacht vor der Schlacht bei Jena konnte er das Manuskript vollenden; als die Stadt brannte und seine Wohnung geplündert wurde, irrte Hegel mit den letzten Manuskriptteilen durch die Straßen. Zeitweise fand er Unterschlupf beim Verleger Frommann: ‚mit seinem ganzen Hause, sechs Personen’. Zu diesen sechs Personen zählte wohl jene Aushilfe, die nach zwei Kindern ‚in Unehren’ auch von Hegel ein Kind erwartete. Dann aber konnte Hegel dem Freunde Niethammer berichten, daß er Napoleon habe durch die Stadt reiten sehen: die ‚Weltseele’ auf den Punkt über dem Sattel des Pferdes konzentriert, doch auf die Welt übergreifend und sie beherrschend. Zu Unrecht zitiert man diese Bemerkung immer so, als habe Hegel den avancierenden ‚Weltgeist’ in dem Emporkömmling und Kaiser gesehen. Hegel meinte: wie die Weltseele nach den neuplatonischen Vorstellungen die Gesetze für das Wirkliche in sich trägt, so trägt Napoleon, der ein altes Staatsgebäude nach dem anderen stürzt, die Gesetze für neue Verfassungen und das Recht für neue bürgerliche Verhältnisse in seinem Kopf. Die Phänomenologie zeigt, wie die logischen Strukturen nach und nach vom Menschen erworben wurden und wie die Geschichte dieses Erwerbs in einer Geschichte der Erfahrungen rekapituliert werden kann. In jedem Fall geht die konkrete Geschichte ein

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Geplant war die Phänomenologie als erster Teil eines Gesamtsystems der Philosophie. Entsprechend erschien das Werk 1807 in Bamberg und Würzburg unter dem Titel: System der Wissenschaft. Erster Theil, die Phänomenologie des Geistes. In Abbreviatur wurde sie später, wie mehrmals vermerkt, als Lehre vom Bewusstsein in die Philosophie des subjektiven Geistes integriert, dessen zweiten Teil sie bildet. Die Realisierung des Vorhabens einer Neuauflage der Phänomenologie wurde durch den plötzlichen Tod Hegels verhindert.15 Anlage und Systemstellung Gesamtanlage und systematische Stellung der Phänomenologie im Hegel’schen Denken wurden in der Forschung unterschiedlich gedeutet. Gehört für einen Teil der Interpreten das Werk lediglich in den Entdeckungszusammenhang spekulativer Philosophie, so lassen andere mit ihm das System selbst seinen Anfang nehmen, dessen konstitutiver Bestandteil es sei. Vermutlich stellt diese Auslegungsdifferenz keine echte Alternative dar. Hegels Philosophie sieht keine formalen Prolegomena vor, denen die materiale Durchführung nachträglich zu folgen hätte. Anderes zu behaupten, müsste zwangsläufig zu einer Verkennung des Verhältnisses von Gehalt und Gestalt seines Denkens führen. Hingegen trifft es zu, dass das Konzept der Phänomenologie ebenso wie die Einheit des Systemganzen für Hegel stets ein offenes Problem geblieben ist, das keine fixen Abschlüsse erlaubt.

in Hegels Werk, das in einer Zeit der Geburt und des Übergangs in geordneter Form die entscheidenden Erfahrungen der Menschheit wiederholt.“ 15 Zur Gesamtkonzeption des Werkes vgl. die Beiträge in: K. Vieweg/W. Welsch (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt am Main 2008, 11–111. Gründe, warum die Wissenschaft von der Erfahrung des Bewusstseins zu einer Phänomenologie des Geistes werden musste, sind bei E. Förster, Hegels „Entdeckungsreisen“. Entstehung und Aufbau der Phänomenologie des Geistes“, in: a.a.O., 37–57, benannt. Der Text enthält zudem eine hilfreiche Zusammenfassung der einzelnen Gedankenschritte Hegels. Sein Titel spielt auf eine von C. L. Michelet überlieferte Bemerkung Hegels zur Phänomenologie an, die er seine „Entdeckungsreise“ zu nennen pflegte. – „Die Entstehung der ‚enzyklopädischen’ Phänomenologie in Hegels propädeutischer Geisteslehre in Nürnberg“ erläutert der gleichnamige Artikel von U. Rameil, in: D. Köhler/O. Pöggeler (Hg.), G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, Berlin 1998, 261–287. In dem Sammelwerk finden sich neben einer Einführung zu Ansatz, Ausführung, Einordnung und Wirkungsgeschichte des Werkes (1–31) wichtige Literaturhinweise zu den Einzelkapiteln. Wirkungsgeschichtliche Notizen bietet auch das Vorwort der von H. F. Fulda und D. Henrich hgg. „Materialien zu Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘“, Frankfurt am Main 1973, (a.a.O., 7–41, bes. 14ff.). Dass über Komposition und Systematik der Phänomenologie unterschiedlich geurteilt werden kann, zeigen die den Materialienband abschließenden Beiträge von O. Pöggeler (329–390: Die Komposition der Phänomenologie des Geistes) und H. F. Fulda (391–425: Zur Logik der Phänomenologie von 1807).

Die Anfänge der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins von sich selbst

Von den frühen Jenaer Jahren bis zum Ende seines Lebens haben Anlage und Systemstellung seines ersten Hauptwerkes Hegel selbst intensiv beschäftigt. Er hat nicht nur den anfänglichen Titel des Buches geändert und aus der Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins eine Phänomenologie des Geistes werden lassen, er hat auch die Konzeption des Werkes während der Niederschrift mehrfach variiert, ja neu geplant sowie dessen Einordnung in das Gesamtsystem im Laufe seiner philosophischen Entwicklung modifiziert. Dieser Sachverhalt wirft nicht nur eine Fülle philologischer und historischer Fragen auf, sondern ist auch von philosophischem Interesse, sofern er eine versteckte hermeneutische Anweisung enthält. Hegels System liegt nicht als fixe Größe vor, sondern ist nur im Vollzug eines dynamischen Denkprozesses zu erfassen, der in ständiger Bewegung begriffen und nur als in ständiger Bewegung begriffen zu begreifen ist. Hegels Gedanken lassen sich nur in einem aktuellen Denkvollzug erfassen. Die Methodik, welche die Phänomenologie kennzeichnet, um im Fortgang sich zum System zu entwickeln, hat nicht lediglich instrumentelle Funktion, sondern leitet zu einem gedanklichen Erhebungsprozess an, ohne dessen Vollzug der philosophische Inhalt nicht zu fassen ist. Gedanken lassen sich auf formale Weise nicht erschließen. Sie müssen gedacht werden, um ihrer Bedeutung inne zu werden. Dabei kommt der Prozess der Erhebung, welchen das Denken vollzieht, um seinen Begriff zu realisieren, offenbar zu keinem Ende, welches Stillstand bedeutet, sondern geht auf lebendig bewegte Weise in sein Resultat ein, das fortlaufende Verstehensbewegungen erzeugt. So gesehen steht die Phänomenologie für eine Systemoffenheit, die Hegels systematischem Denken nicht extern, sondern intern ist. Werdendes Wissen In einer Selbstanzeige der „Phänomenologie des Geistes“ von 1807, die ihrer historisch-kritischen Ausgabe im 9. Band der Gesammelten Werke beigegeben ist (vgl. GW 9, 446f.), hat Hegel die Darstellung des „werdende(n) Wissen(s)“ (GW 9, 446) als Aufgabe und Ziel seiner Untersuchung bezeichnet.16 Ihre wesentliche Absicht bestehe darin, das natürliche Bewusstsein durch Erfahrungen, 16 Anstelle psychologischer Erklärungen oder abstrakter Erörterungen über die Begründung des Wissens soll die „Phänomenologie“ dessen verschiedene Gestalten als Stationen auf dem Weg zum absoluten Wissen bzw. zum Wissen des Absoluten begreifen und zwar ausgehend von der sinnlichen Gewissheit. Als zweiter Band des Systems der Wissenschaften werden die Logik als spekulative Philosophie und die Philosophie der Natur und des Geistes angekündigt. Obwohl über die Entstehung der Anzeige „nichts Näheres bekannt“ (GW 9, 471) ist, „darf mit großer Wahrscheinlichkeit angenommen werden, daß der Text von Hegel selbst formuliert wurde“ (ebd.); dafür spricht, dass er zuerst in der Bamberger Zeitung erschienen ist, „deren Redakteur Hegel nach seinem Weggang aus Jena geworden war“ (ebd.). Zur Entstehungsund Druckgeschichte der Phänomenologie von 1807 vgl. im Einzelnen GW 9, 456–464; zur

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die es mit sich selbst zu machen vermöge, über sich und seine Alltäglichkeit hinauszuführen, in dessen Schranken es sich gewohnheitsmäßig eingehaust habe, um es zur philosophischen Wissenschaft heranzubilden. Um ihr Bildungsziel zu erreichen, holt die phänomenologische Wissenschaft des Geistes das Bewusstsein dort ab, wo es sich seiner alltäglichen Verfassung gemäß befindet, am Ort der sinnlichen Gewissheit als dem, wenn man so will, Ort bewusstlosen Wissens, damit es zu Verstand und zum Bewusstsein seiner selbst gebracht werde. Als sich wissendes Wissen ist das Bewusstsein nicht länger bewusstlos in Bezug auf sich, wie das im Stadium bloß sinnlicher Gewissheit der Fall ist, sondern zum Verständnis seiner selbst gelangt und Selbstbewusstsein als ein Wissen geworden, das um sich selbst weiß.17 Hegels geistphänomenologisches Beginnen hebt an mit der sinnlichen Gewissheit als einem Wissen im Modus der Unmittelbarkeit (vgl. GW 9, 63ff.). Es scheint, als liefere die Sinnlichkeit durch die vielfältigen Sinneseindrücke, die sie erhält, die reichste Erkenntnis. Doch erweist sie sich bei genauerem Zusehen als die denkbar ärmste aller Wissensformen. Die einfache Unmittelbarkeit bloßen Seins macht die ganze Wahrheit sinnlichen Wissens aus. Bewusstsein im Modus des unmittelbaren sinnlichen Eindrucks ist weder die reichste, noch gar die wahrhafteste Erkenntnis, weil ihr jeder Begriff, jedes Verständnis, ja selbst eine bestimmte Wahrnehmung des Seins abgeht, das sie wahrzunehmen vorgibt. Sinnliche Gewissheit ist nicht, was ihr Name besagt; denn sie ist begrifflos und ohne Wissen. Sie ist in Wahrheit nichts als ein unbestimmter Eindruck, der keinen Bewusstseinsbestand hat, sondern zu Bewusstlosigkeit tendiert. Sinnliche Gewissheit Wenn die sinnliche Gewissheit auf „Dieses“ verweist und auf ein „Hier“ und „Jetzt“, dann nimmt sie in Anspruch, was ihr in ihrer unmittelbaren Verfassung besonderen Erfahrung, die Hegel anlässlich einer Vorlesung mit der „Wahrheit oder vielmehr Unwahrheit der sinnlichen Gewissheit“ gemacht hat, vgl. GW 9, 459. Eine Zweitauflage der Phänomenologie ohne den Titel eines ersten Teils des Wissenschaftssystems war lange geplant; erhebliche Umarbeitungen wurden für nötig erachtet: vgl. GW 9, 437–443 sowie 448 (464–468; 472–478). 17 Alles steht unter der Bedingung, gewusst werden zu können. Dies gilt nach Hegel auch für das Bewusstlose bzw. für das Unbewusste. „Alles Unbewußte ist als ein Nichtbewußtes vom Bewußtsein her interpretiert, und wenn man wissen will, was Schlaf und Raum und Unbewußtes sind, darf man nicht schlafend und träumend bewußtlos dahinleben.“ (K. Löwith, Die Ausführung von Hegels Lehre vom subjektiven Geist durch Karl Rosenkranz, in: D. Henrich [Hg.], Hegels philosophische Psychologie, 227–234, hier: 233.) Mit diesem schon einmal zitierten Satz ist indes nach Löwith nicht gesagt, dass das Unbewusste in dem Begriff aufgeht, den das Bewusstsein von ihm hat. Was es an sich selber ist, ist nach seinem Urteil etwas anderes als dasjenige, was es für das Bewusstsein ist. Bleibt zu fragen, woher man das wissen will.

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nicht eignet. Als die vermittlungslose Unmittelbarkeit, die sie ist, vermag sinnliche Gewissheit nicht zu sagen, was der Fall ist. Sie verstummt und fällt in sich selbst zusammen. Denn das „Jetzt“ ist ebenso wie das „Hier“ des sinnlichen „Dieses“ von bestimmungsloser Unbestimmtheit und keineswegs Etwas im Sinne von etwas Bestimmtem. „Hier“ ist überall und nirgends, „Jetzt“ zugleich stets und nie, „Dieses“ alles und nichts, jedenfalls nichts Bestimmtes. Zu einem bestimmten Etwas wird das sinnliche Sein erst, wenn es von anderem unterschieden wird. Erst im Modus der Differenz kommt Sein als Seiendes zu Bewusstsein und die bloßen Möglichkeitssphären von Raum und Zeit nehmen rudimentäre Konkretionsform an. Doch über ein bloßes Wähnen und Meinen gelangt das Bewusstsein im anfänglichen Stadium sinnlicher Gewissheit nicht hinaus. Als „Meinung“ ist das Seinsbewusstsein zwar nicht mehr gänzlich unbestimmt, aber auch noch nicht zu klarer Bestimmtheit gelangt. Meinen heißt: nicht wissen. Auch ein Ich, das zu wissen meint, weiß in Wahrheit nicht, was Inhalt seines Wähnens ist. Ein Ich, das meint, hat weder ein klares Bewusstsein dessen, was es zu wissen wähnt, noch gar ein klares Ichbewusstsein. Es ist kein bestimmtes Ich, sondern verbleibt im Unbestimmten. „Ich“ kann bekanntlich jedermann sagen und sein. Ja, man wird fragen müssen, ob das Wähnen und Meinen, wie es dem sinnlichen Empfinden eigen ist, überhaupt schon Ichassoziationen nahelegt. Auch Tiere und möglicherweise Pflanzen fühlen, ohne des Gefühlten in bewusster Weise inne zu sein, wie das für ein Ich in Anschlag zu bringen ist. Die sinnliche Gewissheit markiert als solche noch kein Bewusstseinsstadium, das den entwickelten Begriff des Bewusstseins erfüllt. Nachempfinden kann man das Anfangsstadium, in dem das Bewusstsein bewusst zu werden beginnt, entweder durch den Akt einer gedanklichen Abstraktion oder in der momentanen Wahrnehmung schwindenden Bewusstseins. Das Sein, von dem das Kapitel über sinnliche Gewissheit handelt, schlägt ein wie ein Blitz, dem absolute Dunkelheit folgt. Vom Schlag des Seins als eines bloß Diesigen im unbestimmten Hier und Jetzt getroffen, müsste das Bewusstsein instantan und augenblicklich kollabieren, ohne je zur Wahrnehmung dessen zu gelangen, was es betraf. Reines Sein lässt sich nicht in Erfahrung bringen. Es ist nichts mit ihm. Aus dieser Aporie ergibt sich gleichwohl eine Einsicht, dass nämlich jenes Weltverhältnis, welches man den naiven Realismus zu bezeichnen pflegt, grundund bodenlos ist. Seiendes ist nicht da ohne Bewusstsein. Es ist als dasjenige, was es ist, zwar vom Bewusstsein unterschieden, aber in seinem Dasein nicht einfachhin unabhängig von ihm. Dinge sind, um in Erfahrung gebracht zu werden, ebenso auf Wissen angewiesen wie Wissen auf Dinge.

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Bloße Meinung Das sinnliche Wissen weiß nur rein dieses und sonst nichts. Doch kann es bei solcher Indifferenz nicht sein Bewenden haben. Das allgemeine Dieses oder das Sein überhaupt tritt, wenn es in Form des Hier und Jetzt erscheint, nie als solches, sondern als mein Sein oder mein Dieses, also als Meiniges und damit so in Erscheinung, dass die Differenz von Ich als Dieser und Dieses als Gegenstand unbegriffen bleibt und noch nicht zur Wahrnehmung als seiner Wahrheit gelangt. Das sinnliche Gewisse ist sonach nichts als bloße Meinung und als bloße Meinung nichtig. Denn der bloßen Meinung entgeht mit der Differenz von Ich und Gegenstand zugleich deren Bestimmtheit: „Indem ich sage, dieses Hier, Itzt oder ein einzelnes, sage ich, ALLE diese, alle Hier, Itzt, einzelne; ebenso indem ich sage, Ich, dieser einzelne Ich, sage ich überhaupt, ALLE Ich; jeder ist das was ich sage, Ich, dieser, einzelne, Ich. Wenn der Wissenschafft diese Forderung, als ihr Probierstein, auf dem sie schlechthin nicht aushalten könnte, vorgelegt wird, ein sogenanntes dieses Ding, oder einen diesen Menschen, zu deduciren, construiren, à priori zu finden oder wie man diß ausdrücken will, so ist billig, daß die Forderung sage, welches dieses Ding oder welchen diesen Ich, sie meyne; aber diß zu sagen ist unmöglich.“ (GW 9, 66) Die Unaussprechlichkeit dessen, was mit dem sinnlich Gewissen in seiner Unmittelbarkeit gemeint ist, bedeutet nichts anderes, als dass das bloß sinnlich Gewisse das Unwahre, eben bloße Meinung sei. „Wird von etwas weiter nichts gesagt, als dass es ein wirkliches Ding, ein äußerer Gegenstand ist, so ist es nur als das allerallgemeinste, und damit vielmehr seine Gleichheit mit allem, als die Unterschiedenheit ausgesprochen. Sage ich ein einzelnes Ding, so sage ich es vielmehr ebenso als ganz allgemeines, denn Alle sind ein einzelnes Ding; und gleichfalls dieses Ding ist alles, was man will.“ (GW 9, 70) Zur Wahrnehmung und damit zur Wahrheit ihrer selbst gelangt die sinnliche Gewißheit, indem sie an sich und damit am Sein des sinnlichen Dings nicht nur zweifelt, sondern verzweifelt. Von der Weisheit, die in dieser Verzweiflung liegt, sind nach Hegel auch die Tiere nicht ausgeschlossen. Sie „erweisen sich vielmehr am tiefsten in sie eingeweiht zu seyn, denn sie bleiben nicht vor den sinnlichen Dingen als an sich seyenden stehen, sondern verzweifelnd an dieser Realität und in der völligen Gewißheit ihrer Nichtigkeit langen sie ohne weiteres zu, und zehren sie auf; und die ganze Natur feyert, wie sie, diese offenbare Mysterien, welche es lehren, was die Wahrheit der sinnlichen Dinge ist.“ (GW 9, 69) Die Wahrnehmung Erst wenn ihm in der Aufhebungsdialektik der sinnlichen Gewissheit Hören und Sehen vergangen und das unmittelbare Sein und Meinen zu einem Gewesenen geworden sind, gelangt das Bewusstsein zu konkreter Wahrnehmung von

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mit Eigenschaften versehenen Dingen, die kraft des Verstandes sich zu einer differenzierten und gesetzlich geordneten Erscheinungswelt zusammenschließen. Als verständiges Grundgesetz der Erscheinungswelt, welche sich das Bewusstsein im Vollzug seiner Entwicklung zur Erfahrung bringt, hat dabei das Gesetz der Attraktion zu gelten, demzufolge „Alles einen beständigen Unterschied zu anderem hat“ (GW 9, 92). Der bloße Verstand vermag dieses Gesetz nicht in sich zu begreifen, sondern belässt es in bloßer Äußerlichkeit. Das macht seine Schranke aus, die ihn auf das Endliche fixiert. Zur Vernunft gebracht wird er erst dadurch, dass das Gesetz der Differenz identifiziert und als dem Bewußtsein eigentümlich zugehörig bewusst wird. Das Bewusstsein des Unterschieds kehrt so gewissermaßen in sich selbst ein, kommt zum Bewusstsein seiner selbst: „es ist für sich selbst, es ist Unterscheiden des Ununterschiedenen, oder Selbstbewußtseyns.“ (GW 9, 101) Die Analyse des Dieses, des Hier und des Jetzt sowie des meinenden „Ich“ im Kapitel über die sinnliche Gewissheit erinnert an Kants Ding-an-sich-Begriff, an die transzendentalen Anschauungsformen von Raum und Zeit sowie an die transzendentale Apperzeption als eine unabdingbare Bedingung a priori der Möglichkeit von Erfahrung. Tatsächlich geht es auch Hegel um die Frage der Konstitution von Objekten in Raum und Zeit für und durch Ichapperzeption. Doch eine Antwort auf diese Frage, die von Kants Theoremen nicht unerheblich abweicht, ist der beginnenden Denkbewegung, wie sie in sinnlicher Unmittelbarkeit ihren Anfang nimmt, in gediegener Weise noch nicht möglich. Sie ergibt sich erst im Laufe fortschreitender Erkenntnis, wie das ja auch im anders gelagerten Falle Kants zutrifft. Man hat generell bezweifelt, ob schon die sinnliche Gewissheit und nicht erst die Wahrnehmung die erste Bewusstseinsstufe der Phänomenologie des Geistes darstellt. „Die sinnliche Gewissheit“, so wurde gesagt, „ist eine unwirkliche Abstraktion. Unser Wissen von der äußeren Welt fängt nicht in der verdünnten Atmosphäre reiner Sinnlichkeit an, sondern in der konkreten Lebenswelt des alltäglichen Bewußtseins von Dingen und ihren Eigenschaften. Es ist die Welt des Baumes hier und des Hauses dort, die Welt des Wechsels von Tag und Nacht, die Welt, in der Krämer und Hausfrau sich beklagen, daß es allemal beim Jahrmarkt und am Waschtag regnet, die Welt, in der das Federmesser neben der Schnupftabaksdose liegt, und neben beiden ein Würfel Salz mit seiner vertrauten Weiße und Schärfe.“18 Richtig an dieser mit Hegel’schen Beispielen versehenen Bemerkung ist die Einsicht, dass Sinnliches mit Bestimmtheit nicht schon durch sinnliche Gewissheit, welche in ihrer Unmittelbarkeit in 18 M. Westphal, Hegels Phänomenologie der Wahrnehmung, in: H. F. Fulda/D. Henrich (Hg.), a.a.O., 83–105, hier: 89. Interessant sind die Verweise auf Bezüge der drei ersten Phänomenologiekapitel zu Platons Theaitet.

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der Unbestimmtheit verbleibt, sondern erst durch ein entwickeltes Wahrnehmungsbewusstsein bewusst wahrgenommen wird. Erst die Wahrnehmungswelt des Bewusstseins ist wirkliche Welt von Bestand, wohingegen die Realität der sinnlichen Gewissheit auf einen Schlag entsteht und vergeht. Die Wahrnehmungswelt ist die Alltagswelt des natürlichen Bewusstseins, in der Erfahrungen gemacht werden, ohne dass eigens darüber reflektiert werden müsste. Man bedarf keiner gesonderten Verständigung, um sich zu ihr ins Verhältnis zu setzen. Denn sie gilt als selbstverständlich gegeben. Die Selbstverständlichkeit ihres Gegebenseins ist das charakteristische Kennzeichen der Alltagswelt. Man kennt sich in ihr aus und ist in ihr gewohnheitsmäßig heimisch. Das Wissen um sie ist präreflexiv, und man pflegt Umgang mit ihr in selbstvergessener Weise. Diese Selbstvergessenheit impliziert, dass gemachte Wahrnehmungen ganz dem Wahrgenommenen zugeschrieben werden. Das Wahrnehmungsbewusstsein ist sich recht eigentlich nicht dessen bewusst, Wahrnehmungsbewusstsein zu sein, es denkt sich, wenn es denn denkt, die Funktion einer tabula rasa zu, die sinnliche Eindrücke passiv hinnimmt. Je reiner und, wenn man so will, subjektloser das Gegebene empfangen wird, desto wahrer und wirklicher gilt es dem Wahrnehmungsbewusstsein. Es ist ein Bewusstsein, das tendenziell noch ganz dem Sein hingegeben ist. Der Verstand Erst wenn dem alltäglichen Seinsbewusstsein bewusst wird, dass das Seiende, das ihm bewusst ist, ohne Bewusstsein nicht präsent ist, beginnt es auf die Aktivität seiner Vergegenwärtigungsleistung aufmerksam zu werden. Dies ist der erste Schritt zum Verstand. Vermittelt wird dieser Schritt durch eine anfängliche Selbstverständigung des Bewusstseins, das beginnt, reflexive Form anzunehmen. Zu solch bewusster Selbstreflexion besteht keineswegs nur subjektiver, sondern auch objektiver Anlass. Denn das Seiende, das sinnlicher Wahrnehmung zu Bewusstsein kommt, ist in seiner Besonderheit ohne die Allgemeinheit des Gedankens, der eines von anderem zu unterscheiden weiß, nicht zu fassen. Die Wahrnehmung der Identität einer Entität setzt die Reflexion auf dasjenige voraus, was diese nicht ist. Bewusst wahrnehmen heißt: unterscheiden. Fehlt das Differenzierungsvermögen, das dem bewusstlos Seienden nicht eignet, kommt Wahrnehmung nicht zustande. Wird dies wahrgenommmen, dann macht die Erfahrung eine Erfahrung mit sich selbst. Dem Wahrnehmungsbewusstsein wird bewusst, dass es in sich reflektiert und ohne diese interne Reflexivität nicht ist, was es ist. Durch diese Selbstverständigung kommt das sinnliche Wahrnehmungsbewusstsein zum Verstand. Im Wahrnehmungskapitel der Phänomenologie von 1807 wird dieser Sachverhalt in Bezug auf das Ding und seine Eigenschaften, die zu unterscheiden

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und zusammenzuhalten Aufgabe des Bewusstseins ist, ausführlich diskutiert. Etwas als etwas und damit in seiner spezifischen – differenzvermittelten – Bestimmtheit wahrzunehmen, ist nur durch einen Bewusstseinsakt möglich, der verständig zu unterscheiden vermag und sein Unterscheidungsvermögen regelhaft ausbildet. Zu Verstand gekommen begreift das Wahrnehmungsbewusstsein, dass die Entitäten, die es wahrnimmt, keine distinkten Gegenstände des Bewusstseins sein können, wenn nicht auf die Beziehung reflektiert wird, in der sie zu anderen Entitäten und zum Sachverhalt ihrer eigenen Veränderung stehen. Dinge sind, wie ihr Name sagt, bedingt und lassen sich nur durch den Reflex auf ihre Bedingungsverhältnisse adäquat erfassen. Um die Gesetzlichkeit dieser Bedingungsverhältnisse in ihrer Totalität zu kennen, muss das Wahrnehmungsbewusstsein, das am einzelnen Eindruck haftet, hintergangen werden, um es wissenschaftlich zu gestalten. Der alltäglichen Wahrnehmungwelt tritt so die Gesetzeswelt des Verstandes gegenüber, wie sie namentlich in den Naturwissenschaften förmliche Gestalt angenommen hat. Für die Alltagswelt des natürlichen Wahrnehmungsbewusstseins ist Wasser eine Gegebenheit, die zum Trinken oder zum Bade (Eisbach!) einlädt. Die Naturwissenschaft setzt an die Stelle dessen die Formel H2 O, womit sie ein zwar sinnlichkeitsbezogenes, aber zugleich sinnlichkeitstranszendentes Gesetz benennt, das aus Verstandesreflexion hervorgeht. Verständige Wissenschaft ist mit einer Abkehr von dem in alltäglicher Wahrnehmung heimischen Bewusstsein stets verbunden. Sie wirkt daher auf jenes nicht selten befremdlich. Gleichwohl ist der Übergang von der Wahrnehmung zum Verstand kein bloßer Zufall und kein Schritt, der auch unterlassen werden könnte, sondern von interner Notwendigkeit, sofern das Erfordernis, sich selbst zu transzendieren, im sinnlichen Bewusstsein als solchem begründet liegt. Die theoretische Notwendigkeit des Verstandes ist in der kategorialen Struktur des Wahrnehmungsbewusstseins mitgesetzt. Es bedarf daher nur eines Bewusstwerdens der Implikate des Wahrnehmungsbewusstseins, um verständiges Wissen und entsprechende Wissenschaften auszubilden. Wesen der Erscheinung Indem das Wahrnehmen den Gegenstand seiner Wahrnehmung als Ding unter Dingen und als Ding mit vielen Eigenschaften erfasst, nimmt es die Differenz von Einheit und Vielheit wahr, zwischen denen wahrgenommene Entitäten ständig changieren. Um die Sichselbstgleichheit seiner Gegenstände und damit die Wahrheit seiner Wahrnehmung zu gewährleisten, sieht sich das Wahrnehmungsbewusstsein genötigt, sich bezüglich seiner selbst und seiner Gegenstände zu verständigen und ein Regelwerk ausfindig zu machen, das den Widerspruch zwischen Einheit und Vielheit behebt und Identität in der

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Differenziertheit durch Reflexion auf das Wesen der Erscheinungen garantiert. Die Idee des Substanz-Akzidenz-Verhältnisses sowie die Annahme einer Energie, die in allen Entitäten auf diversifizierende Art wirksam ist, gehört in diesen Zusammenhang, der hier nicht weiter zu explizieren ist und von dem zunächst nur soviel gesagt werden soll, dass er in seiner entwickelten Form zum Auseinandertreten der Verstandeswelt und der alltäglichen Welt des Wahrnehmungsbewusstseins führt. Erst unter den Bedingungen des Selbstbewusstseins, in dessen Entwicklungszusammenhang der Verstand zur Vernunft gebracht wird, hebt sich dieser Gegensatz auf, womit eine neue Stufe in der Phänomenologie des Geistes erreicht ist. Der Übergang zum Selbstbewusstsein ist in der Geistesphänomenologie u. a. durch die Einsicht vermittelt, dass das gesetzliche Verstandeswissen, wie es im Unterschied zur Alltagswelt des natürlichen Bewusstseins namentlich die Naturwissenschaften und ihre Wissensformation bestimmt, zwar möglicherweise mechanische und physikalische Phänomene, nicht aber organische Gestalten adäquat zu erfassen vermag, die wesentlich dadurch ausgezeichnet sind, dass in ihnen die Natur nicht nur äußerlich erscheint, sondern die Form der Selbstverinnerlichung annimmt. Diese Selbstverinnerlichung hebt an in rudimentären Empfindungsweisen und im Gefühl. Organische Wesen sind fühlende Wesen. In ihnen geht, wie Hegel sagt, die Natur in sich, sofern nun ein Innesein der Differenz von Innen und Außen statthat. Damit ist der Begriff des Lebens gesetzt. Seine Realität muss dem Verstand und einer verständigen Wissenschaft entgehen, die ausschließlich am instrumentellen Regelwerk mechanischer und physikalischer Gesetze orientiert ist, deren Logik der Lebendigkeit des Lebens äußerlich bleibt. Innesein und Selbstgewissheit Lebewesen sind nicht nur wie Dinge sich selbst gleich, sondern dessen auch fühlend inne. Dies lässt sich angemessen nicht als Sachverhalt registrieren, weil es sich um ein Verhalten handelt, das sich nur einem Selbstverhältnis erschließt. Die Lebendigkeit des Lebens der Welt ist durch reine Anschauung und bloßen Verstand nicht zu fassen, sondern verweist beide über sich hinaus auf eine Apperzeptionseinheit, der Innesein eigen ist. Das Wahrnehmende muss vermittels des verständigen Bewusstseins in das Bewusstsein seiner selbst überführt werden, um dessen inne zu werden, was Leben heißt. Hat sich das Ding in seinem Verhältnis zu anderen Dingen und in seinem Verhältnis zu seinen Eigenschaften, auf welche sich das Wahrnehmungsbewusstsein bezogen wusste, dem Verstand als Formgestalt materieller Energie und Resultat eines Spiels von Kräften erwiesen, so gilt es nun das Verständnis der Wirklichkeit dahingehend zu vertiefen, das nicht nur hinter die Äußerlichkeit der Erscheinungen auf

Sinnlichkeit, Wahrnehmung und Verstand

intern wirksame Gesetze rekurriert, sondern erkannt wird, dass Leben Innesein der Differenz von Innen und Außen bedeutet. Das Verstandesallgemeine ist zwar der Begriff der dem Besonderen hingegebenen Wahrnehmung, aber es stellt selbst nur ein Moment an demjenigen dar, was wirklich ist. Denn es kann für sich genommen nicht erfassen, was Leben ist. „Das Lebendige ist nicht mehr bloßer Fall von Gesetz und Resultat aufeinander wirkender Gesetze, sondern es ist gegen sich selbst gekehrt oder, wie wir sagen: es verhält sich. Es ist ein Selbst.“19 9.4

Sinnlichkeit, Wahrnehmung und Verstand

Die Phänomenologie des Geistes von 1807, deren Manuskript Hegel in der Nacht vor der Schlacht bei Jena vollendete, hat die Aufgabe, das Werden des Wissens darzustellen und damit die Wissenschaft vorzubereiten und zu generieren. Sie fasst die verschiedenen Gestalten des Geistes in sich, in deren Werden dessen Sein begriffen ist, um im Absoluten sich zu vollenden. Als Resultat des Geistes ergibt sich der Begriff der Wissenschaft, den zu realisieren die Philosophie bestimmt ist. Das Werden des Wissens hebt an mit der sinnlichen Gewissheit als der ersten und zugleich rudimentärsten Erscheinungsgestalt des Geistes. Sie ist unmittelbares Wissen des Seienden und erweist sich, obwohl scheinbar die reichste Erkenntnis, recht bedacht als die ärmste, da sie von dem, was sie weiß, nur zu sagen vermag, dass es ist. Dabei kann es erkenntlich nicht sein Bewenden haben. Repetitio est mater studiorum Um sich als geklärtes Bewusstsein auszubilden, muss die sinnliche Gewissheit, die an sich selbst nichts ist als bloßes Meinen, verständig werden. Erst durch den Verstand wird das unmittelbare sinnliche Meinen zu konkreter Wahrnehmung der Dinge im einheitlichen Zusammenhang einer differenziert geordneten Erscheinungswelt geführt. Ist das Wissen im bloßen Bewusstsein unmittelbar der Erscheinungswelt hingegeben, so wird die Bewusstlosigkeit des Bewusstseins im Hinblick auf sich selbst im sich wissenden Wissens des Selbstbewusstseins behoben. Rein als es selbst ist das Selbstbewusstsein nichts anderes als das leere Wissen um die Sichselbstgleichheit des Ich. Konkrete Form nimmt es erst in Anerkennungsvollzügen an, in deren Vollzug das Ich zu subjektiver und objektiver Vernunft gelangt, um schließlich durch Kunst, Religion und die Wissenschaft philosophischer Spekulation zum absoluten Geist erhoben zu 19 H. G. Gadamer, Die verkehrte Welt, in: H. F. Fulda/D. Henrich (Hg.), a.a.O., 106–130, hier: 127.

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werden, dessen Totalität die Wahrheit ist. Es ergibt sich, dass das Ganze nicht anfänglich, sondern nur als Resultat zu begreifen ist. In der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ von 1817 (vgl. GW 13), 1827 (vgl. GW 19) und 1830 (vgl. GW 20) finden sich Sachbezüge zur „Phänomenologie des Geistes“ keineswegs nur in den Teilen, die seit der Zweitauflage mit dem Titel des Werkes von 1807 versehen worden sind. Auch in der sog. Psychologie als dem dritten Teil der enzyklopädischen Lehre vom subjektiven Geist sind sie gegeben und darüber hinaus in der Lehre vom objektiven und vom absoluten Geist bis hin zur philosophischen Wissenschaft als der Einheit von Kunst und Religion und zur Idee des Absoluten. Was den ersten Teil der enzyklopädischen Phänomenologie des Geistes anbelangt, so schließt er an die Eingangspassagen des Werkes von 1807 an. Thematisiert werden erneut die sinnliche Gewissheit, die Wahrnehmung und der Verstand mit dem Ziel, einen Begriff verständigen Gegenstandsbewusstseins auszuprägen. Phänomenologie 1807/Enzyklopädie 1817/27/30 Wie Hegel in der Erläuterung des ersten Paragraphen der Erstauflage der Enzyklopädie (§ 335) eigens vermerkt, entspricht die Bestimmung des sinnlichen Bewusstseins als unmittelbarer Gegenstandsgewissheit genau dem, was er 1807 über das Dieses in seinem Hier und Jetzt ausgeführt habe (vgl. GW 13, 196). Analoges trifft für die Wahrnehmung als zweite Entwicklungsstufe des Bewusstseins als solchem zu. Sie markiert den „Standpunkt unsers gewöhnlichen Bewußtseyns und mehr oder weniger der Wissenschaften“ (GW 13, 197), jedenfalls solange diese nicht zu einem förmlichen Bewusstsein ihrer selbst als Wissenschaft gelangt sind. Das Wahrnehmungsbewusstsein ist zwar „über die Sinnlichkeit hinausgegangen“ (ebd.), um „dem Gegenstand in seiner Wahrheit (zu) nehmen, nicht als bloß unmittelbaren, sondern in sich vermittelten, und in sich reflectirten“ (ebd.); voll entwickeltes Gegenstandsbewusstsein wird die Wahrnehmung allerdings erst, wenn sie zum Verstand gelangt, dem die „Dinge der Wahrnehmung als Erscheinungen“ (GW 13, 198) gelten, denen Gesetzmäßigkeit eignet. Im verständigen Bewusstsein, das die Sinnenwelt nach internen Gesetzen ordnet, gelangt die Wahrnehmung – und mit ihr das Gegenstandsbewusstsein überhaupt – in seine Wahrheit, um durch die Anschauung lebendiger Objekte hindurch ihrer selbst gewahr zu werden. Wie es im Schlussparagraphen (§ 343) der Lehre vom Bewusstsein als solchem in der Enzyklopädie von 1817 heißt: „Am Bewußtseyn des Lebens … zündet sich das Selbstbewußtseyn an; denn als Bewußtseyn hat es einen Gegenstand, als ein von ihm unterschiedenes; aber, gerade dieß im Leben, daß der Unterschied kein Unterschied ist. Die Unmittelbarkeit, in der das lebendige Object des Bewußtseyns ist, ist eben dieß

Sinnlichkeit, Wahrnehmung und Verstand

zur Erscheinung oder zur Negation herabgesetzte Moment, die nun als innerer Unterschied, oder Begriff, die Negation ihrer selbst gegen das Bewußtseyn ist.“ (GW 13, 199) Kolleg SS 1822 In seiner Vorlesung zur Philosophie des subjektiven Geistes vom SS 1822 hat Hegel gemäß der Nachschrift Hothos diesen Paragraphen mit dem Hinweis kommentiert, dass der Verstand, der den Gegenstand zur gesetzmäßigen Erscheinung herabsetzt, um seiner Wahrheit als einer inneren gewahr zu werden, in der Anschauung des Lebendigen auf einen in sich reflektierten Gegenstand trifft, der ihn äußerlich dazu bewegt, sein Inneres an sich selbst zu begreifen, damit er über die Grenzen verständiger Gesetzlichkeit hinausgeführt werde hin zur Einsicht in die Verfasstheit von Entitäten, die selbstzwecklich sind. Im bloß verständigen Bewusstsein ist das Innere noch abstrakt innerlich und vom Äußeren der Erscheinung geschieden. „Die höhere Vereinigung des Innern und Äußern ist wo das Innere an und für sich bestimmt ist, das Äußere im Innern selbst ist, und im Äußern das Innere, das ist das Lebendige. Hier ist das Innere nicht nur Gesetz sondern Selbstzweck, Zweck an und für sich. Das concrete höhere Bewußtsein ist daher das Bewußtsein der Lebendigkeit.“ (GW 25/1, 107) Mit diesem kehrt das Bewusstsein in sich selbst ein und wird Bewusstsein seiner selbst: „Es hat in sich selbst seinen Gegenstand; und so geht es zum Selbstbewußtsein über.“ (GW 25/1, 108) Kolleg SS 1825 Analog ist der Übergang vom Bewusstsein als solchem zum Selbstbewusstsein im Kolleg vom SS 1825 zur Darstellung gebracht. „Das sinnliche Objekt war das Erste, das Zweite war das Objekt für die Wahrnehmung, wie es in den Reflexionsverhältnissen ist, die Spitze ist die Nothwendigkeit, sie ist das Wahre des Zusammenhangs und das Innere desselben ist das Gesetz.“ (GW 25/1, 450) Von der Verstandesnotwendigkeit des Gesetzes aber ist überzugehen zur Selbstzwecklichkeit des Lebendigen, an dessen Bewusstsein sich das Selbstbewusstsein entzündet: „das dritte Bewußtsein ist so das des Lebens, der Lebendigkeit“ (ebd.), wie es in der Kollegnachschrift Griesheim heißt. Im Bewusstsein des Lebendigen wird das Bewusstsein tendenziell für sich selber gegenständlich und äußerlich seiner selbst inne, um zum Sich-Wissen und zum Bewusstsein seiner selbst zu gelangen.20 20 Zum sinnlichen Bewusstsein in seiner Unmittelbarkeit (GW 25/1, 434: „das ärmlichste Denken, wenn es sich auch für das reichste hält“), zur Wahrnehmung des Sinnlichkeitsbewusstseins als der Reflexionsform ihrer Gegenständlichkeit und zum verständigen Gegenstandsbewusstsein, mittels dessen das Bewusstsein seiner selbst inne zu werden beginnt vgl. die Griesheimnachschrift GW 25/1, 435–451.

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Kolleg WS 1827/28 Basierten die Vorlesungen zur Philosophie des subjektiven Geistes vom SS 1822 und 1825 auf der Erstauflage der Enzyklopädie von 1817, so repräsentiert das Kolleg vom WS 1827/28, das u. a. in einer Nachschrift Stolzenberg vorliegt (vgl. GW 25/2, 551ff.), den erfolgten Wechsel zur Zweitauflage von 1827, die nun die Grundlage der Einzelerläuterungen bildet. An der systematischen Anlage der Lehre vom Bewusstsein, die nun explizit als „Phänomenologie des Geistes“ qualifiziert wird (vgl. GW 19, 316), hat sich weder generell noch in Bezug auf ihre erste Entwicklungsstufe (vgl. §§ 418–423) etwas Grundsätzliches geändert. Vom „Bewußtsein überhaupt …, welches einen Gegenstand als solchen hat“ (GW 19, 318), wird, wie gehabt und wie dann auch in der Drittauflage von 1830, in Bezug auf das sinnliche, das wahrnehmende und das verständige Bewusstsein gehandelt, aus dem schließlich das Selbstbewusstsein hervorgeht, „für welches Ich der Gegenstand ist“ (ebd.). Redundanzen Durch den Verstand, der die Gegenständlichkeit des Außen nach inneren Gesetzen ordnet, wird das Bewusstsein auf sich selbst aufmerksam und gelangt zum Wissen um sich selbst, also dorthin, wo die Gegenständlichkeit der Gegenstände, der Gegensatz von Außen und Innen, die Selbstständigkeit von Objekt und Objektwahrnehmung gegeneinander aufgehoben und ihr Unterschied als ein Unterschied zutage getreten ist, der in Wahrheit keiner ist: „Ich hat als urtheilend einen Gegenstand, der nicht von ihm unterschieden ist, – sich selbst; – Selbstbewußtseyn.“ (GW 19, 320) In der Stolzenbergnachschrift findet sich dazu folgender Kommentar: „Wir haben Unterschiedenes, die aber Einheit sind, koncrete Einheit, in der der Widerspruch auch ist, aber als aufgehoben, und nicht mehr die Einheit des Mannigfaltigen, eine Einheit welche in ihrer bestimmung das Unterschiedene. So haben wir also diesen Unterschied, der unmittelbar aufgehoben ist, der einer ist der keiner, und dessen aufgehoben sein nicht Null ist, sondern das Affirmative. Das gehört zum Innersten des begriffs; es ist schwer dahin zu gelangen; wenn man aber weiß, daß die Wahrheit hierin ist, so hat man den Schlüssel zu aller Erkenntniß.“ (GW 25/2, 776) Am Fortgang der Gedanken wird sich die Richtigkeit dieser Annahme zu erweisen haben, wobei der Erweis, dass das sich wissende Ich die Möglichkeitsbedingung aller Erkenntnis darstellt, nicht in kompilatorischer Manier, sondern so erbracht werden soll, dass werkgeschichtliche Aspekte zumindest ansatzweise und in paradigmatischer Perspektive in den Blick kommen. Dass Redundanzen zwangsläufige Folgen eines solchen Vorgehens sind, wurde eingangs bereits gesagt.

10.

Vernünftiges Selbstbewusstsein

Zugänge zu Hegels Verständnis des seiner selbst gewissen Ichs

10.1

Das sich wissende Ich auf dem Weg zur Vernunft gemäß der Enzyklopädie von 1817

Hegel hat das Selbstbewusstsein zur Wahrheit und zum Grund des Bewusstseins erklärt, weil allem Bewusstsein ein Wissen um sich selbst eigne dergestalt, dass in jedem gegenständlichen Wissen ein Bewusstsein des Wissenden um sich selbst mitgesetzt sei. Ich weiß, indem ich vom Gegenstand weiß, unmittelbar von mir selbst. Doch ist das in jedem gegenständlichen Bewusstsein mitgesetzte Selbstbewusstsein in seiner Unmittelbarkeit ohne jede Realität, nichts als reine Idealität: indifferente Selbstgleichheit im Sinne der tautologischen Formel Ich = Ich. Ich = Ich Das sich wissende Bewusstsein, wie es an sich selbst ist, wird sich selbst gegenständlich, aber nur scheinbar, da es für sich selbst recht eigentlich keinen Gegenstand darstellt, da zwischen Ich und Selbst kein realer Unterschied waltet. Das selbstbewusste Ich im Modus der Unmittelbarkeit ist mithin eine zwar unleugbare, aber gänzlich abstrakte Größe, von deren Abstraktheit abstrahiert werden muss, damit sie Realität gewinne. Beide Aspekte, nämlich dass das Selbstbewusstsein die fundierende Wahrheit des Bewusstseins, aber an sich selbst eine tautologische und ansonsten nichtssagende Größe sei, hat Hegel im § 424 der Drittauflage seiner Enzyklopädie bündig zum Ausdruck gebracht, wenn es heißt: „Die Wahrheit des Bewußtseyns ist das Selbstbewußtseyn, und dieses der Grund von jenem, so daß in der Existenz alles Bewußtseyn eines andern Gegenstandes Selbstbewußtseyn ist; Ich weiß von dem Gegenstande als dem Meinigen (er ist meine Vorstellung), Ich weiß daher darin von mir. – Der Ausdruck vom Selbstbewußtseyn ist Ich = Ich; – abstracte Freiheit, reine Idealität. – So ist es ohne Realität, denn es selbst, das Gegenstand seiner ist, ist nicht ein solcher, da kein Unterschied desselben und seiner vorhanden ist“ (GW 20, 427f.)1 1 Zur genauen Analyse dieses Paragraphen vgl. K. Cramer, Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Vorschläge zur Rekonstruktion der systematischen Bedeutung einer Behauptung Hegels in § 424 der Berliner Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften, in: D. Henrich (Hg.), Hegels philosophische Psychologie, Bonn 1979, 215–225. Zur Kennzeichnung von Selbstbewusstsein als Wahrheit und Grund des Bewusstseins vermerkt Cramer, dass ein „Unterscheiden

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Vernünftiges Selbstbewusstsein

zwischen sich und seinem Gegenstand“ (217) nach Hegel unmittelbar ins Bewusstsein selber falle, weil im Bewusstsein von Gegenständen ein Bewusstsein von dem den Gegenständen Entgegenstehenden notwendig impliziert sei. „Bewußtsein ist als Transzendieren zu einem Gegenstand als einem solchen notwendigerweise auch Bewußtsein von sich – ‚Selbstbewußtsein‘.“ (217f.) Bewusstsein fungiert nie als bloßes Bewusstsein, sondern immer selbstreferenziell. Als Bewusstsein von etwas ist das Bewusstsein stets Bewusstsein davon, Bewusstsein von etwas zu sein. Es gehört nach Hegel, so Cramer, zur strukturellen Eigenschaft von Bewusstsein, selbstbezüglich zu sein. „Daß Bewußtsein grundsätzlich die Struktur bewußter Beziehung auf sich aufweist, ist die bewußtseinstheoretische Grundthese Hegels.“ (218 Anm. 9) Allerdings bleibe die interne Verfassung dieser Selbstbeziehung völlig unbestimmt, was Hegel selbst zu erkennen gebe, wenn er Unbestimmtheit und Indifferenz zu ihrem Charakteristikum erkläre. Das sich wissende Bewusstsein weiß nichts Bestimmtes, weil es einen Gegenstand hat, der keiner bzw. nichts ist denn Gegenstandsbezug als solcher. Mit Cramer zu reden: „Die Operation, welche diese Selbstbeziehung des Bewußtseins rein als solche zu fassen versucht und als Selbstbewußtsein auszuzeichnen bestrebt ist, vindiziert dem Bewußtsein einen solchen Gegenstand, der nicht mehr der Bedingung genügt, ein Anderes des Bewußtseins zu sein.“ (220) Cramer zieht daraus den Schluss, dass die kritische Pointe des § 424 der Berliner Enzyklopädie darin bestehe, den Gedanken des Selbstbewusstseins als eines nichtgegenständlichen Wissens des Bewusstseins um sich selbst als einen Ungedanken zu erweisen. „Indem Selbstbewußtsein durch den Gedanken einer reinen Beziehung auf die Beziehung von etwas interpretiert wird, wird ihm gerade diejenige Struktur genommen, unter deren Voraussetzung die Bestimmung seiner formal-invarianten Bestände allein ein sinnvoller Gedanke war: Der dergestalt entwickelte Gedanke von Selbstbewußtsein ist gerade kein haltbarer Gedanke, weil Selbstbewußtsein in diesem Gedanken nicht mehr der essentiell zu erfüllenden Bedingung genügt, Bewußtsein zu sein.“ (221) An dieser Bemerkung ist richtig, dass der Gedanke eines in der „bewegungslosen Tautologie bloßer Selbstbezüglichkeit“ (222) verharrenden Selbstbewusstseins ein nicht zu haltender Gedanke ist. Mehr noch: Insistiert das Selbstbewusstsein auf dem tautologischen Status leerer Sichselbstgleichheit (Ich = Ich), dann ist dies, theologisch zu reden, mit dem Fall der Sünde gleichzusetzen. Dennoch wird man der abstrakten Freiheit, wie sie in der reinen Idealität des Sich-Wissens des Bewusstseins begründet liegt, die Stellung eines notwendigen Gedankens nicht bestreiten können, welcher das Bewusstsein über seine gegenständliche Verfassung hinaustreibt. Nach Cramer lässt sich Hegels Begriff von der Aufgabe einer Theorie des Selbstbewusstseins in der Forderung formulieren: „Selbstbewußtsein muß Bewußtsein werden.“ (224) Zur Regression in die Gegenstandswelt verleitet dieses Postulat allerdings nur unter der Bedingung nicht, dass das Bewusstsein, welches Selbstbewusstsein werden muss, bewusst auf Selbstbewusstsein ausgerichtet ist, nämlich auf ein alter Ego, ohne dessen Andersheit die Stetigkeit des Ich nicht gedacht werden kann. Um reales Selbstbewusstsein zu werden und zu einem konkreten Bewusstsein seiner selbst zu gelangen, kann das Ich nicht in der unmittelbaren Sichselbstgleichheit verharren. Um seine innere Leere zu erfüllen, bedarf es einer Gegenständlichkeit, mittels welcher es seiner wirklich und nicht nur zum Schein bewusst wird. „Dies kann nur so geschehen, daß Gegenstände namhaft gemacht werden, die dem Selbstbewußtsein (1) überhaupt die Qualität des Bewußtseins restituieren, dies aber (2) zugleich so, daß das Selbstbewußtsein an diesen Gegenständen einen Anhalt gewinnt, sich als Selbstbewußtsein in nicht-tautologischer Weise zu bestimmen oder zu finden. Solche Gegenstände unterscheiden sich von den Gegenständen des Bewußtseins, die es in seiner engeren Sphäre hatte, dadurch, daß sie nicht nur unter der Bedingung der an sich bestehenden Selbstbezüglichkeit des Bewußtseins Gegenstände sind, sondern in ihrer Gegenständlichkeit, in ihrem substanziellen

Das sich wissende Ich auf dem Weg zur Vernunft gemäß der Enzyklopädie von 1817

Ganz ähnlich, nur etwas knapper ist der zitierte Paragraph bereits in den Auflagen von 1817 und 1827 formuliert, wobei er in der Erstausgabe als geteilt erscheint, um so der Ambiguität des Selbstbewusstseins im Status der Unmittelbarkeit schon formalen Ausdruck zu verschaffen. Dass Ich gleich Ich sei, ist zwar der Grundsatz der Freiheit; insistiert das Ich indes auf seiner indifferenten Sichselbstgleichheit, um sich unmittelbar selbst zu bestimmen und durchzusetzen, dann verkehrt es sich in sich und wird zum Inbegriff des Bösen. Der „Trieb, seine Subjectivität aufzuheben und sich zu realisieren“ (GW 13, 199; § 345), entartet zu selbstsüchtiger Begierde des Ich. Verharrt das Ich in seiner Unmittelbarkeit, um vermittlungslos auf sich zu insistieren, verfällt es einer Begierde, die alles, was das Ich nicht unmittelbar selbst ist, zu negieren trachtet: „Die Begierde ist daher“, wie es in der Erstauflage der Enzyklopädie heißt, „überhaupt zerstörend, und selbstsüchtig.“ (GW 13, 201) Die Folgeauflagen übernehmen diese Formulierung (§ 428), wobei diejenige von 1830 hinzufügt: „da die Befriedigung nur im Einzelnen geschehen, dieses aber vorübergehend ist, so erzeugt sich in der Befriedigung wieder die Begierde.“ (GW 20, 429) Beendet werden kann der in den Abgrund des Bösen führende Prozess oder besser: Regress fortgesetzter Gier des Ich, alles, was es nicht unmittelbar selbst ist, zu negieren, nur dadurch, dass es seine Negationsfähigkeit überhaupt negiert und durch Negation der Negation das Andere seiner selbst in seiner Andersheit anerkennt. Negation der Negation Der Prozess der Anerkennung hebt nach Maßgabe der Enzyklopädieausgaben dadurch an, dass sich das Ich im Bewusstsein seines Fürsichseins allem entgegensetzt, was es nicht ist. Seine abstrakte Freiheit der Negationsfähigkeit überhaupt nimmt so die konkrete Form des Kampfes an, wobei als adäquater Gegner nicht alles Nichtich, sondern recht eigentlich nur jenes infrage kommt, das selbst Ich ist. Ich versus Ich: Um seiner Freiheit Dasein zu geben, kämpft das Ich um Anerkennung und zwar zunächst so, dass es das Anderssein des anderen Ich zu negieren trachtet. „Ich kann mich im Andern nicht als mich selbst wissen, insofern das Andre ein unmittelbares anderes Daseyn für mich ist. Ich bin daher auf die Aufhebung dieser Unmittelbarkeit gerichtet.“ (GW 13, Inhalt die Selbstbezüglichkeit des Bewußtseins selber thematisch werden kann.“ (224) Vgl. ferner: Chr. Schalhorn, Hegels enzyklopädischer Begriff vom Selbstbewußtsein, Hamburg 2000. Schalhorn bietet einen exegetischen Kommentar zu den §§ 424 und 413f. der Berliner Enzyklopädie, den Vorschlag einer systematischen Rekonstruktion von Hegels Beschreibung, Deutung und Begründung von Bewusstsein sowie den Versuch einer systematischen Typologie von Selbstbewusstsein als Ich-Bewusstsein, Selbst-Erkenntnis und Selbst-Kenntnis. Die logische Grundlage der enzyklopädischen Subjektivitätstheorie ist detailliert behandelt in dem Werk von K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, Bonn 1976.

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Vernünftiges Selbstbewusstsein

201) Das Andere des Ich muss als anderes Ich bekämpft werden. Dieser Kampf geht „auf Leben und Tod; jedes der beyden Selbstbewußstseyn bringt das Leben des Andern in Gefahr und begiebt sich selbst darein, – aber nur als in Gefahr, denn eben so ist jedes auf die Erhaltung seines Lebens, als wesentlichen Moments, gerichtet. Der Tod des einen, der den Widerspruch nach einer Seite auflöst, durch die abstracte, daher rohe Negation der Unmittelbarkeit, ist nach der wesentlichen Seite, dem Daseyn des Anerkennens, somit der grössere Widerspruch.“ (GW 13, 202) Um besagten Widerspruch zu beheben, muss der anfängliche Anerkennungskampf, den das Ich mit dem andren Ego auf Leben und Tod führt, in ein „Verhältniß der Herrschaft und Knechtschaft“ (ebd.) überführt werden. Das Ich knechtet das Andere seiner selbst, um es in seinem Anderssein zu beherrschen. Indes kann es auch damit nicht sein Bewenden haben, da der Herr, der sein Herrsein dem Gegensatz zum Knecht verdankt, recht eigentlich nicht Herr, sondern Knecht des Knechtes ist. Das Herr-Knecht-Verhältnis muss daher im Zuge einer Dialektik, die dem Geist der Freiheit folgt und aus ihm hervorgeht, in ein Verhältnis paritätischer Anerkennung überführt werden. In ihm vermag das Ich im Andern seiner selbst als einem Anderen bei sich selbst zu sein. Paritätische Anerkennung Damit ist der Übergang zu derjenigen Ichformation vollzogen, die Hegel allgemeines Selbstbewusstsein nennt. „Das allgemeine Selbstbewußtseyn ist das positive Wissen seiner selbst im andern Selbst, deren jedes als freye Einzelnheit absolute Selbstständigkeit hat, aber durch die Negation seiner Unmittelbarkeit sich nicht vom andern unterscheidet, allgemeines und objectiv ist und die reelle Allgemeinheit so hat, als es im freyen Andern sich anerkannt weiß, und dieß weiß, insofern es das andere anerkennt und es frey weiß.“ (GW 13, 203) Hegel fügt hinzu: „Dieß allgemeine Wiederscheinen des Selbstbewußtseyns, der Begriff, der sich in seiner Objectivität als mit sich identische Subjectivität und darum allgemein weiß, ist die Substanz jeder wesentlichen Geistigkeit, der Familie, des Vaterlandes, des Staats; so wie aller Tugenden, – der Liebe, Freundschaft, Tapferkeit, der Ehre, des Ruhms.“ (Ebd.) Indem das Ich als Negationsfähigkeit überhaupt fortschreitend die Unmittelbarkeit seiner selbst negiert und sich durch paritätische Anerkennung des anderen Ich als allgemeines Selbstbewusstsein erweist, dass sich im Anderen als einem Anderen zu explizieren vermag, gelangt es zur Vernunft. Zur Vernunft gekommen und vernünftiges Selbstbewusstsein geworden ist das Ich in der Lage, sich durch Theorie und Praxis eine Welt zu schaffen, die im Unterschied zur natürlichen, die in sie aufzuheben ist, als kultiviert gelten darf. Damit ist der Übergang von der enzyklopädischen Phänomenologie des Geistes zur Geistleh-

Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst gemäß der Phänomenologie von 1807

re der enzyklopädischen Psychologie und zugleich derjenige von der Lehre vom subjektiven zu der vom objektiven Geist markiert. Als Dreh- und Angelpunkt fungiert dabei die Vernunft, die Hegel als die Einheit von Selbstbewusstsein und Bewusstsein, als die Identität der Subjektivität des Ich und der objektiven Allgemeinheit bestimmt, die ihm eignet. Als Subjekt-Objekt-Identität ist die Vernunft, wie es im § 362 der Erstauflage der Enzyklopädie heißt, „die absolute Substanz, welche die Wahrheit ist. Die eigenthümlich Bestimmtheit, welche sie hier hat, nachdem das gegen Ich vorausgesetzte Object, so wie das gegen das Object selbstische Ich seine Einseitigkeit aufgehoben hat, – ist die substantielle Wahrheit, deren Bestimmtheit der für sich selbst seyende reine Begriff, Ich, – die Gewißheit seiner selbst als unendliche Allgemeinheit, ist. Diese wissende Wahrheit ist der Geist.“ (GW 13, 204) Sachlich entsprechend, wenngleich im Wortlaut modifiziert, formulieren die einschlägigen Paragraphen der Zweit- und der Drittauflage der Enzyklopädie (jeweils § 439). 10.2

Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst gemäß der Phänomenologie von 1807

Die Stationen des Weges, den das sich wissende Ich zu durchlaufen hat, um zur Vernunft zu kommen, sind nach Maßgabe der Ausgaben von Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ durch selbstsüchtiges Begehren, den Prozess des Anerkennens und durch dasjenige gekennzeichnet, was allgemeines Selbstbewusstsein genannt wird. In letzterem ist das Ich verallgemeinerungsfähig und vermöge seiner Verallgemeinerungsfähigkeit vernünftig geworden dergestalt, dass der Gegensatz zwischen Bewusstsein und Selbstbewusstsein vernunftgemäß behoben ist. In den Paragraphen zur Vernunft vollendet sich mithin die enzyklopädische Phänomenologie des Geistes, um in die Geistlehre der Psychologie einzugehen, welche die Realisierung der Vernunft durch Theorie und Praxis thematisiert mit dem Ziel, der Freiheit des Geistes wirksame Geltung zu verschaffen. Was in den Enzyklopädieausgaben über den Weg des sich wissenden Ich zur Vernunft in Grundzügen skizziert wurde, ist in den Vorlesungen, die Hegel regelmäßig zur Lehre vom subjektiven Geist gehalten hat, breit ausgeführt, wie u. a. die Nachschriften von Hotho (vgl. GW 25/1, 108–117), Griesheim (vgl. GW 25/1, 452–483) und Stolzenberg (vgl. GW 25/2, 776–798) belegen. Dabei konnte Hegel auf Stoffe zurückgreifen, die er bereits in seiner „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 thematisch im Einzelnen ausgearbeitet hatte. Ihr zentraler Gegenstand ist, wie mehrfach erwähnt, das Bewusstsein und damit der Geist in jenem Verhältnis, das äußerlich als Subjekt-Objekt-Beziehung beschrieben zu

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werden pflegt, sich aber nach Hegel bei rechter Einsicht als identische Reflexion in sich und in Anderes zu erkennen gibt. Dabei werden nicht, wie bei besagter äußerlicher Betrachtung, ein fertiges Subjekt und ein gegebenes Ding an sich vorausgesetzt, um beide nachträglich in Korrelation zu bringen. Angestrebt wird vielmehr, des Prozesses des werdenden Bewusstseins in eins mit der Genese der dem Bewusstsein präsenten Erscheinungsgegenstände inne zu werden. Ziel ist es, die Erscheinungen als mit dem geistigen Wesen identisch zu erkennen und die Ichgewissheit über ihre bloße Subjektivität hinaus zur Wahrheit objektiven und absoluten Geistes zu erheben, in der sie ihre Erfüllung findet. Zu Verstand kommende Sinnlichkeit Ob die sinnliche Gewissheit in der „Phänomenologie des Geistes“ von 1807 (vgl. GW 9, 63ff.) das bereits erwachte Bewusstsein zur Voraussetzung hat oder dessen Erwachen thematisiert, braucht nicht entschieden zu werden. Vieles spricht dafür, dass Hegel beides im Sinne hatte. In der enzyklopädischen Phänomenologie baut die Lehre vom sinnlichen Bewusstsein auf das bereits zur Realität gestaltete Seelenleben auf, dessen Entwicklung durch Momente wie Empfindung, Gefühl, Selbstgefühl etc. bis hin zu seelisch durchgebildeter Leiblichkeit bestimmt ist. Als sinnliches Bewusstsein unterscheidet sich die leibhafte Seele von ihrem Bewusstseinsgegenstand, der für sie zunächst nur die Bestimmung unbestimmten Seins hat, um ihn sodann jenen bestimmteren Bestimmungen zuzuführen, die er für das Wahrnehmungsbewusstsein annimmt. In der Wahrnehmung ist der Gegenstand in seiner Wahrheit genommen und als ein bestimmtes Seiendes gewusst. Im Verstand als der Wahrheit, die auf die Wahrnehmung folgt, ist das sinnlich Mannigfaltige zur Einheit gebracht bzw. als jene in sich differenzierte Differenziertheit erkannt, welche in dem sie kennzeichnenden Wechsel der Erscheinungen mit sich identisch bleibt und statt eines konfusen Chaos’ eine geregelte Weltordnung bildet. In den Naturgesetzen wird diese Ordnung regelrecht auf den Begriff gebracht. Der sinnlichen Welt steht die Verstandeswelt als ihr ruhiges Abbild gegenüber. Im Verstand (vgl. GW 9, 82ff.) ist der Bewusstseinsgegenstand vom Bewusstsein selbst nicht länger unterschieden. Das Bewusstsein weiß die Verstandeswelt als seine eigene. Damit ist der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt und damit das Bewusstsein, das an sich selbst durch diesen Unterschied bestimmt ist, verschwunden oder besser: dergestalt eingekehrt in sich, dass es Selbstbewusstsein geworden ist. Alles Gegenstandsbewusstsein setzt Selbstbewusstsein und damit ein Ich voraus, das, indem es den Gegenstand als den Seinigen weiß, darin von sich selbst weiß. Der abstrakte Ausdruck von Selbstbewusstsein lautet Ich = Ich. Diese Gleichung besagt, dass das sich selber gleiche Ich der Grund allen Gegenstandsbewusstseins ist. An sich selbst ist das unmittelbar mit sich

Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst gemäß der Phänomenologie von 1807

identische Ich gegenstandslos, ohne Realität und nichts als Negationsfähigkeit überhaupt, also jene unbedingte Instanz, die alles Bedingte bedingt. Die erste Weise, in der das sich selbst gleiche Ich seiner formalen, gehaltlosen Leere Realität zu verschaffen sucht, ist nach Hegel durch den hemmungslosen Aneignungstrieb der Begierde bestimmt. Auch hier stellt sich wieder analog zum Problem der Stellung der sinnlichen Gewissheit in der Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins die Frage, ob Begierde tatsächlich als erstes Bestimmungsmoment von Selbstbewusstsein gelten kann. Dass Hegel dies annimmt, bestätigt nicht nur die enzyklopädische, sondern auch die Phänomenologie von 1807. Allerdings wird in ihr der Übergang von Bewusstsein zum Selbstbewusstsein sehr viel ausführlicher und unter Bezug auf organische Lebensphänomene beschrieben, deren Wahrnehmung sich der Verstand nicht verschließen kann, wenn seine Gesetzeswelt der sinnlichen Welt nicht entgegenstehen und zu einer abstrakten Ideenwelt ohne Realität verkommen soll. Selbstverständigung Mit dem Wissen des Wissens, wie es im Selbstbewusstsein statthat, ist eine Grenzmarke in der Selbsterfassung des Bewusstseins erreicht und überschritten. Das natürliche Bewusstsein, wie es den Alltag, aber auch die positiven Erfahrungswissenschaften prägt, ist durchgängig von der Differenz von Subjekt und Objekt, Begriff und Sache, Denken und Gegenstand etc. bestimmt, ohne dass diese Differenz an sich selbst erfasst würde. Erst im sich wissenden Wissen des Selbstbewusstseins wird das Denken reflexiv und selbstreferentiell, um Gegenständlichkeit als Selbstverhältnis zu erschließen. Gegenstandsbewusstsein ist ohne Selbstbewusstsein nicht nur nicht möglich, im sich wissenden Wissen gelangen die objektiven Bewusstseinsgestalten nach Hegel überhaupt erst in ihre Wahrheit. Dem Bewusstsein, welches das Wesen der Dinge zu erfassen sucht, zeigt sich dieses in erfüllter Form nicht ohne den lebendigen Vollzug eines Wissens, das um sich selbst weiß. Durch selbstreferentielles Wissen wird der Unterschied, den das Bewusstsein zwischen seiner Subjektivität und der Objektivität ihrer Sachgegenstände macht, als ein dem Bewusstsein nicht äußerlicher, sondern interner erfasst. Das Bewusstsein erlangt ein Bewusstsein seiner selbst und ist Selbstbewusstsein im Sinne sich wissenden Bewusstseins geworden. Mit dem Schritt vom Bewusstsein zum Selbstbewusstsein und mit der gedanklichen Aufhebung der zunächst unbegriffenenen Dualität von Innen- und Außenwelt, Erkennen und Erkanntem ist nicht nur die naive Annahme überwunden, die Wahrheit der Erkenntnis erschließe sich in sinnlicher Unmittelbarkeit, sondern in der Konsequenz der Einsicht, dass alles unter der Bedingung von Wissen und sich wissendem Bewusstsein steht, auch der Kant’sche Ding-an-sich-Begriff destru-

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iert. Doch belässt es Hegel ebensowenig bei Kants transzendentalem Begriff des Ich-denke, das all meine Vorstellungen muss begleiten können. Zwar ist bestimmtes Wissen von Welt nur unter Voraussetzung jener Selbstreferentialität möglich, die im sich wissenden Wissen des Selbstbewusstseins statthat. Aber das Selbstbewusstsein ist keine fixe Einheitsgröße in einem abstrakten Jenseits der Welt, sondern unbeschadet seiner Transmundaneität an sich selbst von dem jeweiligen Verhältnis bestimmt, in welches es sich zu demjenigen setzt, das es nicht unmittelbar selbst ist, obwohl es seine nicht wegzudenkende Voraussetzung darstellt. Wie alle Begriffe wird in Hegels Geistphänomenologie auch der Begriff des Selbstbewusstseins dynamisiert und beweglich gehalten, statt als bloß formale Einheitsgröße im transzendentalen oder im Sinne der Ich=Ich-Gleichung derer in Anschlag gebracht zu werden, die Hegel subjektive Idealisten nennt. Dass selbstbewusste Subjektivität nach seinem Urteil keinen positionellen Standpunkt, sondern ein – freilich konstitutives – Moment der Gedankenbewegung hin zur Realisierung des Geistes darstellt, lässt sich an den einschlägigen Ausführungen der Phänomenologie von 1807 über die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst unschwer ersehen (vgl. GW 9, 103ff.). Als die Wahrheit des Bewußtseins und all dessen, was gewusst werden kann, kurzum: als die Wahrheit der Beziehung von Bewußtsein und Gegenstand ist das Selbstbewusstsein nicht eine reine Apperzeption im Sinne des Kantischen Ich-denke, aber auch nicht das einzelne Ich, sondern eine Erscheinungsgröße des Geistes, von deren Abstraktheit abstrahiert werden muss, um ihre Wahrheit konkret zu erfassen. In der Reihe der Erfahrungen, welche das Selbstbewusstsein macht, um wahrhaft zu sich selbst zu kommen, steht, wie gehört, ein Kampf auf Leben und Tod am Anfang, durch dessen fortschreitende Aufhebung es zu einer Überwindung des Gegensatzes von Selbständigkeit und Unselbständigkeit kommt (vgl. GW 9, 109ff.). In einer weiteren Erfahrungsreihe des Selbstbewusstseins zeigt sich, zu welchen Gestalten des Verständnisses ihrer selbst sich die errungene selbsthafte Freiheit entwickelt, zur stoischen, zur skeptischen, schließlich zur Gestalt als unglückliches Bewusstsein (vgl. GW 9, 116ff.). Das sich selbst gleiche Ich Im Selbstbewusstsein sind die Weisen des Bewusstseins, nämlich Meinen, Wahrnehmen und Verstehen aufgehoben, bestimmt negiert, bewahrt und zur Vollendung gebracht, jedoch zunächst nur auf unmittelbare Weise, nämlich so, dass das Selbstbewusstsein zwar als der Grund des Bewusstseins erkannt ist, ohne doch an sich selbst in seinen Entwicklungsmomenten und seinem Zusammenhang mit dem Bewusstsein begriffen zu sein. Die Erkenntnis dessen, „was das Bewußtseyn weiß, indem es sich selbst weiß“ (GW 9, 102), folgt der

Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst gemäß der Phänomenologie von 1807

Einsicht, dass die im Selbstbewusstsein aufgehobenen Bewusstseinsmomente des Meinens, Wahrnehmens und Verstehens als aufgehobene in der Weise der Erinnerung wiederkehren und die Entwicklung des Selbstbewusstseins bestimmen. Als erinnertes Meinen ist das Selbstbewusstsein zunächst nichts als unmittelbare Identität von Identität und Differenz im Sinne tautologischer Sichselbstgleichheit: Ich bin Ich.2 Das Selbstbewusstsein als der Grund des Dingbewusstseins hat sich in dieser Gestalt als reines Ich zum unmittelbaren Gegenstand. Doch ist es damit noch nicht eigentlich zur Wahrnehmung und zum rechten Verständnis seiner selbst gelangt. Begierig, es selbst und nichts als es selbst zu sein, droht das Ich in sich zu verkommen und sich um sein wahres Selbstbewusstsein zu bringen. Wahrhaft zu sich selbst zu kommen vermag das Ich nur auf vermittelte Weise, nicht unmittelbar. Es bedarf des Anderen seiner selbst, um entwickeltes Ich zu sein – oder, mit Hegel zu reden: „Das Selbstbewußtseyns erreicht seine Befriedigung nur in einem andern Selbstbewußtseyn.“ (GW 9, 108) Zur verständigen Wahrnehmung seiner selbst gelangt das Ich nur als Selbstbewusstsein für ein Selbstbewusstsein: „Erst hiedurch ist es in der That; denn erst hierin 2 Das sich selbst gleiche Ich findet kein Genügen in sich selbst. Es ist an sich selbst weder eine rein ideale, noch auch eine transzendentale Größe wie bei Kant. Es ist in seiner Unmittelbarkeit zwar nicht nichts, aber ein Leeres, das sich in der Weise der Begierde zu erfüllen trachtet. Begierde ist hemmungsloses Aneignungsstreben, die dem tierischen Triebe gleicht und noch nicht zum bewussten und vernünftigen Willen herausgebildet ist. Im konkupiszenten Begehren fungiert die animalische als unbegriffene Voraussetzung menschlicher Existenz. Während anorganische Entitäten der Begierde ermangeln oder allenfalls rudimentäre Strebungen aufweisen, dasjenige, was sie nicht unmittelbar selbst sind, ins eigene Sein zu überführen, äußert sich das tierische Leben ursprünglich im Trieb, sei es des Fressens, sei es der Begattung, die dem Einzelexemplar dauerhaftes Sein bei eigener Nichtigkeit verheißt. Hegels „Phänomenologie des Geistes“ scheut sich nicht, die Anfänge menschlichen Selbstbewusstseins mit dem tierischen Triebleben in Verbindung zu bringen. Das unmittelbare Beginnen menschlichen Selbstbewusstseins ist triebhafter Art und folgt blinder Begierde, aus der ein Kampf auf Leben und Tod zwangsläufig hervorgeht: „Homo homini lupus“. Doch kann es unter Selbstbewusstseinsbedingungen nicht beim Kampf aller gegen alle sein Bewenden haben. Der tobende Streit wird in ein Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft überführt, in dem er einstweilige Beruhigung findet. Unterschwellig freilich wirkt er fort, bis aus dem Verhältnis von Herr und Knecht eine rechtliche Beziehung wechselseitiger Anerkennung wird, die in Form von Sittlichkeit und Moral ebenso prägende wie geprägte Gestalt annimmt. Statt auf Einzelheiten einzugehen, sei auf den „Zusammenfassende(n) Kommentar zu den ersten sechs Kapiteln der ‚Phänomenologie des Geistes’“ von A. Kojève verwiesen, in: H. F. Fulda/D. Henrich (Hg.), Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“, Frankfurt am Main 1973, 133–188. Ferner: G. A. Kelly, Bemerkungen zu Hegels „Herrschaft und Knechtschaft“, in: a.a.O., 189–216; H.-G. Gadamer, Hegels Dialektik des Selbstbewusstseins, in: a.a.O., 217–242 sowie die Beiträge zum Selbstbewusstseinskapitel in: K. Vieweg/W. Welsch (Hg.), Hegels Phänomenologie des Geistes. Ein kooperativer Kommentar zu einem Schlüsselwerk der Moderne, Frankfurt am Main 2008, 169ff. und in: D. Köhler/O. Pöggeler (Hg.), Phänomenologie des Geistes, Berlin 1998, 107ff.

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wird für es die Einheit seiner selbst in seinem Andersseyn.“ (Ebd.) oder anders: „Das Selbstbewußtseyn ist an und für sich, indem, und dadurch, daß es für ein anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.“ (GW 9, 109) Herrschaft und Knechtschaft Der Kampf um Anerkennung steht in diesem Sinne am Anfang der Entwicklung des Selbstbewusstseins. Es ist ein Kampf auf Leben und Tod, der vorläufig befriedet wird durch die Etablierung eines asymetrischen, einseitigen und ungleichen Anerkennungsverhältnisses, wie es zwischen dem arbeitenden Knecht und dem genießenden Herrn obwaltet. Wie befreit sich das Selbstbewusstsein vom Herr-Knecht-Verhältnis? Nicht auf einen Schlag, sondern nach Maßgabe von Hegels erstem philosophischen Hauptwerk im Verlauf eines Prozesses, dessen geistesgeschichtlicher Anfang beispielhaft durch den Stoizismus vertreten wird, in dem sich der Geist aus der Außenwelt ganz in die Sphäre reinen Denkens zurückzieht: „Im Denken bin Ich frey, weil ich nicht in einem Andern bin, sondern schlechthin bey mir selbst bleibe, und der Gegenstand, der mir das Wesen ist, in ungetrennter Einheit mein Fürmichseyn ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir selbst.“ (GW 9, 117) In der Selbstbewusstseinsgestalt, welche Hegel durch den Stoizismus repräsentiert sein lässt, sind der Anerkennungskampf auf Leben und Tod und das Herr-Knecht-Verhältnis prinzipiell vergangen; aus der Differenz von Aktion und Passion hat sich das stoische Bewusstsein ganz „in die einfache Wesenheit des Gedankens“ (ebd.) zurückgezogen, um alles andere sich selbst zu überlassen. Was ihren unmittelbaren Eigensinn nicht betrifft – und das ist alles außer ihr – lässt sich die stoische Freiheit nichts angehen: es ist ihr gleichgültig. Doch vergleichgültigt sie sich damit selbst und reproduziert auf bestimmte Weise die Abhängigkeit, von der sie sich zu lösen trachtete. Unglückliches Bewusstsein Der im Stoizismus nach innen gekehrte Eigensinn selbstbewusster Freiheit kehrt sich in dem – alles außer sich selbst in Zweifel ziehenden – Skeptizismus nach außen, bis schließlich die Differenz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit der Freiheit als manifester Widerspruch im Selbstbewusstsein manifest wird und als dessen Selbstwidersprüchlichkeit zutage tritt. Als Bewusstsein seiner als eines in sich widersprüchliches Wesen ist das Selbstbewusstsein unglückliches Bewusstsein. „Dieses unglückliche, in sich entzweyte Bewußtseyn muß also, weil dieser Widerspruch seines Wesens sich Ein Bewußtseyn ist, in dem einen Bewußtseyn immer auch das andere haben, und so aus jedem unmittelbar, indem es zum Siege und zur Ruhe der Einheit gekommen zu seyn meynt, wieder daraus ausgetrieben werden. Seine wahre Rückkehr aber in sich selbst,

Die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst gemäß der Phänomenologie von 1807

oder seine Versöhnung mit sich wird den Begriff des lebendig gewordenen und in die Existenz getretenen Geistes darstellen, weil an ihm schon diß ist, daß es als Ein ungetheiltes Bewußtseyn ein gedoppeltes ist; es selbst ist das Schauen eines Selbstbewußtseyns in ein anderes, und es selbst ist beyde, und die Einheit beyder ist ihm auch das Wesen, aber es für sich ist sich noch nicht dieses Wesens selbst, noch nicht die Einheit beyder.“ (GW 9, 122)3 Damit ist der Weg des sich wissenden Ich zur Vernunft durchschritten, und es ergibt sich, dass seine in der enzyklopädischen Phänomenologie von 1817 in geraffter Form gegebene Beschreibung in der ein Jahrzehnt vorher erschienenen „Phänomenologie des Geistes“ bereits ausführlich zur Darstellung gebracht ist. Auch die thematisch einschlägigen Vorlesungen, die auf der Basis der Enzyklopädie vorgetragen wurden, schließen strukturell an die 1807 gefundene Wegbeschreibung an, wie sich am Kolleg vom WS 1827/28 exemplarisch 3 Zu Hegels philosophiegeschichtlicher Beurteilung von Stoizismus und Skeptizismus sowie desjenigen, was er unglückliches Bewusstsein nennt, vgl. G. Wenz, Geistlose Macht und machtloser Geist. Das Imperium Romanum im philosophischen Urteil Hegels, in: KuD 65 (2019), 272–293, bes. 273ff. Zum „Skeptizismus als ‚Vorstufe‘ und ‚Moment‘ der Hegel’schen Dialektik“ vgl. G. Maluschke, Kritik und absolute Methode in Hegels Dialektik, Bonn 1974, 19ff.; interessant ist der Vergleich des antiken Skeptizismus mit demjeningen von Gottlob Ernst Schulze („Aenesidemus-Schulze“), a.a.O., 27ff. Ferner: H. Buchner, Zur Bedeutung des Skeptizismus beim jungen Hegel, in: H.-G. Gadamer (Hg.), Hegel-Tage in Urbino 1965. Vorträge, Bonn 1969, 49–56. In konstruktiver Hinsicht bedeutsamer als Stoizismus und Skeptizismus war für Hegel der Neuplatonismus von Plotin und Proklos. Die neuplatonische Metaphysik des Einen und des Nous „ist für Hegel … einerseits die Vollendung der antiken, griechischen Philosophie, da sie eine Intellektualwelt ausgebildet hat, in der sich das Denken bzw. das Selbstbewusstsein in seinen Bestimmungen als das Absolute erkennt, das in seiner wahrhaften Unendlichkeit nichts ihm Äußeres und Fremdes mehr sich gegenüber hat; sie enthält für Hegel eben damit aber auch bereits das mit dem Christentum ans Licht der Geschichte getretene Prinzip der Subjektivität als denkende Selbstbezüglichkeit, die sich als ursprüngliche Einheit in sich unterscheidet und sich zugleich im Unterschied auf sich selbst bezieht, darin mit sich identisch ist und sich so als erfüllte Einheit der Trinität und d. h. als Geist selbst weißt.“ (J. Halfwassen, Hegel und der spätantike Neuplatonismus. Untersuchungen zur Metaphysik des Einen und des Nous in Hegels spekulativer und geschichtlicher Deutung, Bonn 1999, 110; zur Näherbestimmung des Verhältnisses von Neuplatonismus und Christentum bei Hegel vgl. 126ff. Anders als im Neuplatonismus vollendet sich die konkrete Allgemeinheit des Absoluten, wie sie im Trinitätsgedanken inbegriffen ist, „erst darin, daß sie bis zur unmittelbaren Einzelheit eines wirklichen individuellen Selbst fortgeht und dabei doch in sich selbst bleibt“ [139f.]. Zwar finde sich der trinitarische Gedanke auch im Neuplatonismus; aber dieser verbleibe „noch in der logischen Sphäre der reinen Idee und des Allgemeinen“ [148], wohingegen im Christentum das dreieinige Absolute „auch in der realen Sphäre des Besonderen und des unmittelbar Einzelnen angeschaut wird, womit Gott nicht nur als transzendente Idee, sondern als unendliche Subjektivität und absolute Persönlichkeit erfaßt ist“ [ebd.]. Vgl. ferner die Untersuchung von Halfwassens Lehrer K. Düsing, Hegel und die Geschichte der Philosophie. Ontologie und Dialektik in Antike und Neuzeit, Darmstadt 1983.)

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Vernünftiges Selbstbewusstsein

belegen lässt. Was Hegel zwanzig Jahre nach Publikation seines ersten großen philosophischen Werkes über die Gewissheit und Wahrheit vernünftigen Selbstbewusstseins und seine Genese vorträgt, bestätigt und variiert seine geistphänomenologischen Grundeinsichten, die anhand des Epochenwerkes von 1807 in Abschnitt 4 noch einmal aufgerufen werden sollen. Die buchstäblich bis in den Wortlaut hineinreichenden Wiederholungen mögen dabei als Beleg für die These gewertet werden, deren Beweis zu erbringen war. 10.3

Die enzyklopädische Geistphänomenologie gemäß der Vorlesung vom WS 1827/28

Hegel hat insgesamt sechsmal über die Philosophie des subjektiven Geistes gelesen: 1817, 1820, 1822, 1825, 1827/28 und 1829/30. Zu drei Vorlesungen sind Nachschriften erhalten, die in GW 25/ 1 und 2 dokumentiert sind: „für das Kolleg von 1822 die Nachschrift Hotho, für das Kolleg von 1825 die Nachschrift Griesheim als Leittext mit Varianten aus den Nachschriften Kehler und Pinder und für das Kolleg von 1827/28 die Nachschrift Stolzenberg als Leittext mit Varianten aus den Nachschriften Walter und Erdmann.“ (GW 25/3, 1133) Letztere sind auch separat veröffentlicht worden4 , was zum Anlass genommen sei, im Unterschied zu GW 25/2 abwechslungshalber sie zum Leittext zu wählen und nur anmerkungsweise auf die Stolzenbergnachschrift Bezug zu nehmen. Weg zur Vernunft Markiert die Vernunft den Skopus der geistphänomenologischen Bewusstseinslehre, der in die Psychologie als Lehre von der durch Theorie und Praxis sich objektivierenden Vernünftigkeit überleitet, so nimmt die Lehre vom Bewusstsein ihren Anfang bei der zum sich selbst gleichen Ich herangebildeten wirklichen Seele, mit deren Entwicklung die Anthropologie als der erste Teil der Philosophie des subjektiven Geistes sich vollendet. „Das Allgemeine, das für das Allgemeine ist, ist – Ich, dieses schließt das Äußerliche aus sich aus, und dieses ausgeschlossene Äußerliche in seiner Totalität ist die Welt …“ (V13, 137, 301–304). Mit der Ausbildung einer unmittelbaren Ich-Welt-Differenz ist der Übergang vom Sein der Seele als Naturgeist zum Ichbewusstsein vollzogen, das freilich anfänglich völlig abstrakt und noch nicht mit konkreten Bewusstseinsgehalten verbunden ist. „Beim Bewußtsein“, sagt Hegel im Kolleg 1827/28, „haben wird zuerst: Ich.“ (V13, 138, 326f.) „Ich ist das Allgemeine, 4 G.W.F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 13 (= V13): Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/28. Nachgeschrieben von J. E. Erdmann und F. Walter. Hg. v. F. Hespe und B. Tuschling, Hamburg 1994.

Die enzyklopädische Geistphänomenologie gemäß der Vorlesung vom WS 1827/28

Einfache, was unterscheidet und ebenso den Unterschied aufhebt und nur das Allgemeine, Einfache selbst hat zum Gegenstand. Ich ist das ganz reine und leere, vollkommen einfache, sich selbst Gleiche, das ganz Bestimmungslose.“ (V13, 138, 331–334) Ich ist Negationsfähigkeit überhaupt, sonst nichts, und darin schlechterdings abstrakter Geist ohne konkrete Realität. Als „Wahrheit der natürlichen Seele“ (V13, 137, 317) umfasst es in seiner Unmittelbarkeit zwar alles, was in der Anthropologie von dieser zu lehren war, ohne doch als der existierende Begriff schon realiter verwirklicht zu sein.5 5 Was das Grundsätzliche betrifft, so ergeben sich auf der Basis der Nachschrift Stolzenberg keine anderen Befunde, wie denn generell eine große Konstanz in Hegels einschlägiger Gedankenentwicklung zu konstatieren ist: Nachdem sie ihren Anfang beim Naturgeist genommen und verfolgt hat, wie sich dieser aus seiner natürlichen Versenkung zu seinem Wesen emporarbeitet, thematisiert die Philosophie des subjektiven Geistes in ihrem zweiten Teil die Reflexion des Geistes in sich und sein Verhältnis zur gegenständlichen Bewusstseinswelt, von der er sich unterschieden und auf die er sich zugleich bezogen weiß: „das ist der Standpunkt des Verhältnisses, oder des Widerspruchs. Ich bin selbst ständig und die äußren Dinge sind auch selbst ständig, und dennoch haben sie Macht über mich, und ich über sie.“ (GW 25/2, 578) Während der Geist in dem, was Hegel seine Phänomenologie nennt, eingespannt ist in die Differenz von Ich und gegenständlicher Welt, der sich das Ich gegenübergestellt weiß, wenn es sich seines Bewusstseins bewusst und zu Selbstbewusstsein gelangt ist, verhält er sich in der sog. Psychologie, welche der dritte Teil der Philosophie des subjektiven Geistes zum Thema hat, nur noch zu sich selbst, um sich aus seinem Selbstverhältnis heraus als Vernunft und Wille zu bestimmen. – Um dasselbe noch einmal anders zu sagen: Wer aus dem Schlafe erwacht, kommt augenblicklich und instantan zum Bewusstsein seiner selbst und seiner Welt. Was sich im Erwachen aus dem Schlaf vollzieht, kann als Gleichnis dienen für den Prozess des Zusichkommens des Geistes, wie Hegels Anthropologie ihn nachvollzieht. An ihrem Ende ist der Geist, der in naturhafter Versenkung versunken schien, erwacht und zu sich gekommen, um sich als sich wissendes Ich die Welt auf gegenständliche Weise zu Bewusstsein zu bringen. Im Bewusstsein ist der Gegenstand in seinem Sein als vom wissenden Ich unterschieden und mithin gegenständlich gewusst, im „Selbstbewusstsein ist der Gegenstand von dem ich weiß identisch mit dem Subject, welches weiß; ich und das Gegenständliche sind ein und dasselbe.“ (GW 25/2, 581 f.) Ich ist mit sich selbst eins; „(I)ch bin für mich selbst, und das ist ich: für mich selbst zu sein; ich bin beim Ich.“ (GW 25/2, 583) – Im sich wissenden Ich ist aus der seelischen Substanz, wie Hegel sagt, Subjektivität geworden: „Subjektivität ist die negative Einheit die sich subjektivierende Einheit, in der das besondre ein Aufgehobenes ist. die Seele ist noch der schlafende Geist….“ (GW 25/2, 587) Beim ersten Erwachen kommt er zu sich, zu Bewusstsein und zu dem Wissen, dass das Bewusstsein sein eigenes ist. Ohne Ichbewusstsein ist Weltbewusstsein nicht möglich, wie denn auch alles Gegenständliche unter der Voraussetzung steht, gewusst werden zu können. Ich ist an sich selbst Negationsfähigkeit überhaupt und darin ein Allgemeines, dessen Allgemeinheit für Subjektivität generell kennzeichnend ist. Zugleich ist das Ich für sich ein Besonderes, das sich auf eine Weise gegenständlich zu werden vermag, die mit dem Gegenständlichwerden anderer Weltgegenstände vergleichbar ist. Zur manifesten Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit des Ich kommt es erst, wenn es sich im Anderen seiner als es selbst wahrzunehmen und zu explizieren vermag. Wo dies geschieht, ist das Ich zur Vernunft gekommen, die es an und für sich ist; wo es nicht statthat und das Ich

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Als Negationsfähigkeit überhaupt ist das sich selbst gleiche Ich durch den abstrakten Gegensatz zum „All“ dessen bestimmt, was es nicht unmittelbar selbst ist. Die Geistphänomenologie hat die Aufgabe, den Prozess der Aufhebung dieses Gegensatzes und der Vermittlung von Ich und Welt schrittweise nachzuvollziehen mit dem Ziel, das Ich mit sich selbst zu vermitteln und mittels des Bewusstseins seiner selbst zur Vernunft zu bringen. Der Aufhebungsprozess, der sich in dem phänomenologisch zur Darstellung zu bringenden Gang des Bewusstseins vollzieht, hebt beim unmittelbaren sinnlichen Bewusstsein als dem ersten Bestimmungsmoment des Bewusstseins als solchem an, um von Eindrücken bloßer Sinnlichkeit zur Wahrnehmung und seiner verständlich erschlossenen Erfahrungswelt zu gelangen. Im sinnlichen Bewusstsein ist das Seiende dem Bewusstsein noch gänzlich äußerlich und als bloße Empfindungsbestimmung, noch nicht hingegen in konkreter Gegenständlichkeit präsent. Zwar scheint das sinnliche Bewusstsein das „Allerreichste“ (V13, 149, 671) zu sein, aber das solchermaßen Erscheinende erweist sich bei näherem Zusehen als das Gedankenärmste, welches in völliger Unbestimmtheit vergehen müsste, würde es nicht reflexiv zu konkreter Wahrnehmung herangebildet. Durch Reflexion in sich wird das sinnliche Bewusstsein zur Wahrnehmung geführt und das unbestimmte Etwas, das ihm vorschwebt, zum Ding mit mannigfaltigen Eigenschaften, die es zur Mannigfaltigkeit anderer Entitäten in Beziehung setzt und zugleich von diesen auf seiner Unmittelbarkeit insistiert, da herrscht Unvernunft, ja die Vernunftwidrigkeit des Bösen. Unmittelbare Selbstinsistenz ist dem Geist zuwider. Geistgemäß verfasst ist das Ich nur, wenn es sein Negationsvermögen auf sich selbst anwendet und sich dazu bestimmt, in seiner Besonderheit allgemein und in seiner Allgemeinheit besonders und so konkrete Einzelheit zu sein. – Das Walten des Geistes in ihm bringt den Menschen vom Bewusstsein überhaupt zum Selbstbewusstsein und dahin, sein sich wissendes Ich vernünftig zu gestalten. Als Bewusstsein überhaupt, das noch nicht zum Bewusstsein seiner selbst gelangt ist, ist das Ich selbstvergessen und gleichsam ohne Selbstbewusstsein bei den Gegenständen. Es weiß um sie, ohne um sein Wissen von ihnen zu wissen. Darin liegt nach Hegel der Mangel des bloßen Bewusstseins, „worin mein bewußtsein ein Negatives meiner ist; es hat zu viel Objektivität“ (GW 25/2, 759). Behoben wird der Bewusstseinsmangel durch Reflexion im Sinne der Beziehung des Bewusstseins auf sich selbst. Das Bewusstsein wird sich bewusst, Bewusstsein zu sein und ist damit Selbstbewusstsein geworden. Als sich wissendes Wissen weiß das Selbstbewusstsein, dass es ohne es kein Bewusstsein und damit kein Wissen von Seiendem geben kann. Seinswissen kann seinem Wesen nach ohne sich wissendes Bewusstsein nicht verstanden, Seiendes in seinem Sein grundsätzlich nicht erfasst werden, wenn ein Wissen um das Bewusstsein fehlt. Doch gilt nach Hegel umgekehrt auch, dass das sich wissende Wissen des Selbstbewusstseins, in dem das Ich sich selbst Gegenstand ist, abstrakt und in der Leere bloßer Selbstbezüglichkeit befangen bleibt, wenn es sich nicht entäußert und an dasjenige hingibt, was es nicht unmittelbar selbst ist. Das Ich, das allein sich selbst zum Gegenstand hat, ist eine Schimäre ohne Objektivität. Objektiven Gehalt und objektive Geltung erhält Subjektivität erst durch Vernunft, in der das Ich seine eigene Wesensbestimmung vernimmt.

Die enzyklopädische Geistphänomenologie gemäß der Vorlesung vom WS 1827/28

unterscheidet. „Das Bewußtsein, das über die Sinnlichkeit hinausgegangen, will den Gegenstand in seiner Wahrheit nehmen, nicht als blos unmittelbaren, sondern in sich vermittelten und in sich reflectirten.“ (GW 19, 319) Bedingtes Ding In seiner Wahrheit wirklich wahrgenommen ist der Gegenstand nach Hegel nicht , wenn er als ein dem Ich im Grunde Transzendentes wie bei Kant oder als ein dem Ich abstrakt gegenüberstehendes Nicht-Ich statuiert wird wie bei Fichte, sondern nur dann, wenn er als ein nachgerade in seiner Gegenständlichkeit vom Ich mitbedingter Erfahrungsgegenstand in Betracht kommt (vgl. GW 19, 317). Das Ding steht, um zu sein, was es ist, unter der Bedingung, vom Ich als solches wahrgenommen zu werden: Ohne Wahrnehmungssubjekt gibt es keine Dingwahrnehmung in der Gegenstandswelt; das Ich muss alle gegenständlichen Erfahrungen nicht nur begreifen, sondern machen im durchaus konstruktiven Sinne des Begriffs. Gleichwohl sind Gegenstände keineswegs bloße Ichkonstrukte und Machwerke von Subjektivität. Sie lediglich so zu nehmen, als ob sie seien oder sie gar als gänzlich fiktiv zu erachten, ist nach Hegels Urteil abwegig: „Hier walten Mißverständnisse ob. ‚Den Gegenstand setze ich, und es hängt von meinem Willen ab, was ich vor mir habe!‘ – das ist der gewöhnliche Mißverstand über den Idealismus. Jenes gibt man mit Recht für Narrheit aus.“ (V13, 154, 799–802) Dinge sind keine Fiktionen des Ich, sondern stehen diesem gegenständlich entgegen, um in ihrer Gegenständlichkeit wahrgenommen zu werden. „Die Dinge finden sich von selbst so, wie wir sie finden, und wir sind darin unfrei.“ (154, 802f.) Die Unfreiheit in der Dingwahrnehmung ist freilich keine absolute, sondern relativ und mit relativer Freiheit des Ichsubjekts der Objektwelt gegenüber verbunden, ohne deren Annahme das Bewusstseinsphänomen der Wahrnehmung unmöglich verstanden werden könnte. Im sinnlichen Bewusstsein herrscht Unmittelbarkeit, und Gegenständliches beeindruckt die Sinnlichkeit unmittelbar, ohne in seiner Objektivität bereits bestimmt und konkret in Erscheinung getreten zu sein. Dies geschieht erst im Vollzug dessen, was Hegel Wahrnehmung nennt. Im Wahrnehmungsbewusstsein nehmen die Dinge bestimmte und konkrete Gestalt an und erweisen sich als mit sich selbst vermittelt, was mit der Vermittlung eins ist, die im in sich reflektierten Wahrnehmungsbewusstsein statthat. In diesem sind sensible und intelligible Bestimmungen reflexiv mediatisiert und die unmittelbaren Gewissheiten der Sinnlichkeit zu einem Wissen entwickelt, dessen Fortbestimmung Aufgabe des Verstandes und seiner Operationen ist. Die gewöhnliche Wahrnehmung, wie sie das Alltagsbewusstsein kennzeichnet, ist zwar in der Regel nicht unverständig. Schon das wahrnehmende Bewusstsein kommt ohne

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Verstand nicht aus. Aber dieser ist in jenem noch nicht ausdrücklich, sondern lediglich stillschweigend am Werke. Verständiges Verstehen Eine explizite Eigentätigkeit entfaltet verständiges Verstehen dort, wo das Wahrnehmungsbewusstsein und seine Gegenstandserfahrungen sich wissenschaftlich fortbilden, damit begriffen werde, was bislang nur empfunden und wahrgenommen wurde. Das sinnliche Bewusstsein ist seiner Empfindungen unmittelbar gewiss, das Wahrnehmungsbewusstsein schreitet von der unmittelbaren Gewissheit des Sinnlichen zu einem in sich reflektierten Wissen fort, der Verstand schließlich gestaltet beides zu einer differenzierten Einheit von erfahrungswissenschaftlichem Format. Zu erheben, gemäß welcher Kategorien er dieses Gestaltungswerk vollzieht, ist Aufgabe einer philosophischen Lehre von den Erfahrungswissenschaften. Sie sucht die Gesetze verständigen Wahrnehmens sinnlicher Wirklichkeit zu verstehen, um so das Bewusstsein über sich selbst zu verständigen und zu sich wissendem Selbstbewusstsein zu bringen. Erfahrungsgesetze zu erheben, ist nicht leicht und erfordert wissenschaftliche Mühe. Denn die Gesetze der Erfahrung liegen „nicht auf der Oberfläche der Erscheinung“ (V13, 158, 939), freilich auch nicht einfachhin hinter ihr oder jenseits ihrer. Wer die gesetzlichen Regeln des Empirischen finden will, muss sie in der Erfahrungswelt suchen, was eindringliche Untersuchungen nötig macht. Ziel muss es sein, zu erklären, warum etwas so und nicht anders ist, wie es in Erscheinung tritt, warum sich etwas so und nicht anders in Erfahrung bringt, wie es faktisch erfahren wird. Das Erfahrungsbewusstsein wird durch Verstandesregeln geordnet, welche die Fülle empirischer Mannigfaltigkeiten zu vereinen streben. Der Verstand hebt das sinnliche und das wahrnehmende Bewusstsein in sich auf, damit aus unmittelbarer Gewissheit und dem Wissen, welches das Alltagsbewusstsein vermittelt, wissenschaftliches Ordnungswissen werde. Die Gesetze, die der Verstand formuliert, machen das förmliche Wesen der materialen Erscheinungen aus. Form und Materie sind zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen, da das Wesensgesetz des Empirischen sich nur in, mit und unter Sinneserscheinungen zur Geltung bringt, die wahrzunehmen sind. „Das Gesetz, Wesen, das nicht in der Erscheinung wäre, würde gar nicht Gesetz, Wesen sein, was in der Erscheinung sich zeigt, ist das Gesetz, sie ist die Manifestation des Gesetzes.“ (V13, 159, 952–955) Indes ist das Gesetz, das ihre Ordnung prägt, in den Erscheinungen anfänglich verborgen und erst im Zuge einer Erforschung offenbar, die Regeln verständigen Begreifens zutage fördert.

Die enzyklopädische Geistphänomenologie gemäß der Vorlesung vom WS 1827/28

Wahrheit des Bewusstseins Sinnliches Bewusstsein, Wahrnehmungsbewusstsein, Verstand6 : Aufgehoben ist die bewusstseins-phänomenologische Trias Hegel zufolge im Selbstbewusstsein als einem sich wissenden Bewusstsein. Stehen sich im Bewusstsein als solchem Ich und Gegenstandswelt anfangs unvermittelt gegenüber, so wird ihre alternative Stellung im phänomenologisch zu erhebenden Verlauf der Entwicklungsgeschichte des subjektiven Geistes fortschreitend behoben, bis dieser aus dem äußeren Gegenständen hingegebenen Bewusstsein heraus zu sich findet und zum Bewusstsein seiner selbst gelangt. Im Selbstbewusstsein ist das Ich sich selbst Gegenstand, wenngleich auf ungegenständliche Weise bzw. so, dass es seiner prinzipiellen Gegenstandsüberlegenheit gewahr wird. In diesem

6 Zu dieser Trias vgl. die Stolzenbergnachschrift in GW 25/2, 761ff.: In seiner sinnlichen Unmittelbarkeit ist das Bewusstsein ganz beim Gegenstand, um den es weiß. Es hat kein bewusstes, sondern allenfalls ein unbewusstes Wissen um sich und ist ganz, um nicht zu sagen: bewusstlos der Sache hingegeben. Das sinnliche Bewusstsein scheint „das aller reichste“ (GW 25/2, 762) zu sein, da es die unendliche Fülle der Dinge erschließt. Doch vergingen diese augenblicklich, ja noch bevor sie überhaupt als Dinge erfasst sind, im Chaos, wenn nicht auf bewusste Weise Ordnung geschaffen würde, was immer schon der Fall ist, wenn Sinnliches wirklich wahrgenommen wird. Ansonsten nämlich bliebe es bei bloßer Empfindung, ohne dass verstanden würde, was empfunden wird. Ist die Dingheit der Dinge bewusstseinsbedingt und ohne Bewusstsein nicht zu fassen, so kann es bei sinnlicher Unmittelbarkeit nicht sein Bewenden haben. Es muss über sie hinausgeschritten werden, wenn es zu einer Wahrnehmung kommen soll, die ihrem Namen entspricht und ihn verdient. In dem, was Hegel Wahrnehmung nennt, gelangt das sinnliche Empfinden in seine Wahrheit insofern, als in ihr der unbestimmte Eindruck gegenständlich bestimmt wird. Die chaotische Materie bloßer Sinnlichkeit nimmt auf diese Weise Form an, was die Voraussetzung dafür ist, Wirklichkeit wirklich wahrzunehmen und Erfahrungen zu machen. Wirklichkeitswahrnehmung und Welterfahrung vollziehen sich nicht nur rezeptiv und mere passive; ohne konstitutive Mitwirkung von Subjektivität könnte es zu objektivem Gegenstandsbewusstsein nicht kommen, was freilich nicht heißt, dass gegenständliche Objektivität von Seiten des Subjekts fingiert bzw. unmittelbar hervorgebracht würde: „das behauptet der Idealismus nicht.“ (GW 25/2, 769) Seine Behauptung geht vielmehr dahin, dass die Sinnlichkeit mit Gedankenbestimmungen verbunden sein muss, damit Wahrnehmung zustande komme. Wahrnehmungen hinwiederum müssen verstanden und in einem Zusammenhang von kosmischer Universalität integriert werden, wenn sich aus ihren sinnlichen Beständen Sinn ergeben soll. Hält sich die Sinnlichkeit an den äußeren Schein der Dinge, so geht der Verstand auf das Innere und auf den Wesensgrund der Erscheinung. Anders können die gegenständlichen Gehalte nicht sinnvoll erfasst und die Gesetzmäßigkeiten nicht erhoben werden, die in den Phänomenen in zeitlicher und räumlicher sowie in kategorialer – Qualitäts-, Quantitäts- oder Kausalitätsverhältnisse betreffender – Hinsicht walten. „Die Gesetze liegen nicht oben auf der Erscheinung, es hat vielmehr Nachdenken und Anstrengung gekostet sie zu finden“ (GW 25/2, 775); doch kann das Wesen der Erscheinung nur kraft ihrer Erkenntnis wahrhaft verstanden werden.

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Sinne erklärt Hegel das Selbstbewusstsein, in welchem das Ich sich selbst zum Gegenstand hat, zur Wahrheit des Bewusstseins.7 Im Selbstbewusstsein, welches das Ich von sich hat, ist das Bewusstsein zu einem Wissen vorgedrungen, welches alles empirische Gegenstandswissen transzendiert, um dem subjektiven Geist zwar keine weltlose, aber eine transmundane Stellung zuzuweisen. Der zum selbstbewussten Ich gewordene subjektive Geist weiß sich aller Welt überlegen und das nach Hegels Urteil zurecht. Verharrt er jedoch bei seinem Überlegenheitsbewusstsein, um sich unmittelbar auf sich selbst zu fixieren, dann droht er den Verstand zu verlieren und wie von Sinnen zu sein, will heißen: hinter das Bewusstsein überhaupt zurückzufallen und in Zustände des Naturgeists zu regredieren. Solcher Regress wäre im Sinne Hegels Sünde zu nennen, deren Unwesen er auf die Selbstverkehrtheit des auf seiner Unmittelbarkeit insistierenden Ich zurückführt. Selbstverkehrtes Ich Der Mensch ist dazu bestimmt, Ich zu werden und zu sein. Fichte hatte nach Hegels Urteil guten Grund, ein großes Fest zu veranstalten, als sein Sohn „zum ersten Mal Ich sagte“ (V13, 160, 14). Die Selbstidentifikation gemäß der Gleichung Ich = Ich kann aber nur der Anfang des Selbstbewusstseinsprozesses sein, da es bei der abstrakten Freiheit und reinen Idealität seines unmittelbaren Beginnens nicht bleiben kann. In seiner Unmittelbarkeit ist das Selbstbewusstsein Hegel zufolge durch Begierde und den konkupiszenten Trieb gekennzeichnet, sich eine Einzelexistenz zu geben, die durch den Gegensatz zu allem Anderssein bestimmt ist. Das Ich ist im Interesse seiner Selbstgleichheit darauf aus, alles zu negieren, was es nicht unmittelbar selbst ist. Sein Begehren ist demnach ebenso selbstsüchtig wie zerstörerisch. Insistiert das Ich auf seiner unmittelbaren Selbstbestimmung, statt diese zum bloßen Moment der Genese seines Selbstbewusstseins herabzusetzen, dann verfällt es sich selbst und dem bodenlosen Abgrund seiner Selbstverkehrtheit. Überwunden werden können Selbstsucht und Destruktionsfuror nur, wenn das Ich Abstand nimmt von der Unmittelbarkeit seiner Selbstbestimmung und Anderes als Anderes anerkennt.

7 Zur Annahme einer systematischen Typologie von Selbstbewusstsein als unthematischem bzw. thematischem Ich-Bewusstsein, unthematischer bzw. thematischer Selbsterkenntnis sowie als Selbst-Kenntnis vgl. Chr. Schalhorn, Hegels enzyklopädischer Begriff des Selbstbewußtseins, Hamburg 2000, 159ff. Auch wenn man zweifeln mag, ob der „Satz als Prinzip der Philosophie Hegels taugt“ (J. Stolzenberg, Geschichten des Selbstbewußtseins. Fichte-Schelling-Hegel, in: B. Sandkaulen u. a. [Hg.], Gestalten des Bewusstseins. Genealogisches Denken im Kontext Hegels, Hamburg 2009, 27–49, hier: 41), die Grundstruktur ihres Begriffs von Subjektsein gibt er zutreffend wieder: „Das Bewußtsein unterscheidet etwas von sich, auf das es sich so bezieht, dass es sich zugleich auf sich bezieht.“ (Ebd.; bei St. kursiv)

Die enzyklopädische Geistphänomenologie gemäß der Vorlesung vom WS 1827/28

Diese Anerkennung bezieht sich primär auf andere Ichwesen, soll aber mit diesen die ganze Welt und alles umfangen, was in ihr ist. Eigenes und anderes Ich Unmittelbar auf sich selbst insistierend gerät das Ich zwangsläufig in einen Widerspruch zu sich selbst und bereitet sich so seinen Untergang. Das Ich von sich selbst zu der Freiheit befreien, zu der es bestimmt ist, kann nur eine Negation, welche seine unmittelbare Selbstbestimmung negiert und das unbedingte Negationsvermögen, das ihm eignet, auf es selbst anwendet, womit besagter Anerkennungsprozess, der das Selbstbewusstsein zur Vernunft bringen soll, seinen Anfang zu nehmen hat. Anfänglich stellt sich der Selbstbewusstseinsprozess Hegel, wie wiederholt gesagt, als Kampf aller gegen alle dar, da jedes Ich unmittelbar auf sich selbst besteht und seine abstrakte Selbstgleichheit gegen jeden Widerstand und namentlich gegen denjenigen zur Durchsetzung zu bringen sucht, der von anderen Ichwesen her droht. Der erste Schritt zur Pazifizierung der Ichbeziehungen ist mit der Transformation unmittelbarer Aktion-PassionVerhältnisse in Beziehungen von Herr und Knecht vollzogen. Doch ist die Herr-Knecht-Dialektik darauf angelegt, in paritätische Anerkennungsverhältnisse umzuschlagen. Erst in ihnen vermag sich das Ich im Anderen selbst explizieren und zwar unter Wahrung, ja Förderung des Andersseins Anderer. Wo Anerkennung grundsätzlich statthat, ist der Prozess der Selbstgenetisierung des Ich vollendet und das Selbstbewusstsein wahrhaft zu sich selbst und dorthin gebracht, wo es Vernunft annimmt und sich vernünftig realisiert.8 8 Zum Übergang vom verständigen Bewusstsein zum Selbstbewusstsein und zum Prozess von dessen Vernünftigwerden vgl. die Stolzenbergnachschrift GW 25/2, 776ff. Vermöge des Verstandes ordnet der subjektive Geist die Erscheinungswelt, ohne seiner selbst in ihr und jenseits ihrer bereits hinreichend bewusst geworden zu sein. Um zum entwickelten Bewusstsein seiner selbst zu gelangen, muss er Hegel zufolge eine Sequenz von Selbstbewusstseinsformen durchlaufen, ausgehend von der Begierde, die durch die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft aufzuheben und in Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung zu überführen ist. In Form der Begierde ist das Selbstbewusstsein durch das Streben unmittelbarer Selbstbestimmung bestimmt. Das Ich will in seinem Selbst- und Weltverhältnis sich selbst und nichts und niemand sonst. „Ich bin ich das ist der Ausdruck der Freiheit“ (GW 25/2, 778), einer Freiheit allerdings, die mit Willkür und reinem Belieben koinzidiert: „diese Freiheit ist noch abstrakt.“ (Ebd.) Um sie konkret zu gestalten, muss von ihrer Abstraktheit abstrahiert werden, was möglich wird, wenn man weiß: „alles Abstracte ist ein Abstractes von irgend etwas.“ (Ebd.) Ohne dasjenige, von welchem es abstrahiert, wäre das Abstrakte nicht, was es ist. So abstrahiert die Gleichung Ich = Ich von dem Nicht-Ich, das dem sich selbst gleichen Ich dergestalt zugehört, dass es ohne Bezug darauf keinen Bestand hätte. Diese Annahme trifft für die Beziehung des selbstbewussten Ich zur Gegenstandswelt des Bewusstseins zu, und sie gilt erst recht – wenngleich in anderer Weise – für die Beziehung zu anderen Ich-Subjekten, die der Welt angehören, ohne doch in ihr aufzugehen. – Konkrete Gestalt nimmt das Ich nur in Subjekt-Objekt-Relationen, besser: in Subjekt-Subjekt-Objekt-Verhältnissen an. Weil die Beziehung auf dasjenige, was es nicht

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10.4

Gewissheit und Wahrheit der Vernunft gemäß der Phänomenologie von 1807

Um zur entwickelten Vernunft zu kommen und sich in Theorie und Praxis vernünftig zu verwirklichen, kann das sich wissende Wissen verständigen Selbstbewusstseins nicht unmittelbar in sich selbst verharren, sondern hat sich selbst zu transzendieren, um geistige Gestalt anzunehmen. Der Verlauf vernünftiger Selbsttranszendierung selbstbewusster Subjektivität, den Hegel als einen Prozess sich steigernder „Begeisterung“ beschreibt, führt über die konzentrierte Einsichtnahme des Bewusstseins in sich selbst zu den objektiven Geistformationen von Recht, Moralität und Sittlichkeit sowie schließlich zur Religion, um sich im absoluten Wissen zu vollenden. Im absoluten Wissen als dem Resultat der Phänomenologie des Geiste, sollen alle vorhergegangenen Stationen im Werdegang des Wissens aufgehoben, will heißen: bestimmt negiert, bewahrt und zur Erfüllung gebracht sein. Das Kapitel über Gewissheit und Wahrheit der Vernunft der „Phänomenologie des Geistes“ (vgl. GW 9, 132ff.) setzt voraus, dass der Geist im Durchgang durch sinnliche Gewissheit, Wahrnehmung und Verstand, die Hegel unter der Überschrift „Bewußtsein“ subsumiert, zur Gewissheit seiner selbst, also zu Selbstbewusstsein als sich wissendem Bewusstsein gelangt ist. Dieser Prozess wurde im Anschluss an die Kapitel I–IV der Monographie von 1807 (vgl. GW 9, 63–131) bereits rekonstruiert. War das zum Bewusstsein seiner selbst unmittelbar selbst ist, zu ihr gehört, ist die Freiheit des Ich stets mit Abhängigkeit verbunden. Um hierdurch nicht in einen Widerspruch zu sich selbst und zu der in seinem Selbstbewusstsein unmittelbar mitgesetzten Freiheitsgewissheit gezwungen zu werden, ist das Ich begierig darauf aus, sich unmittelbar selbst zu setzen und alles Entgegengesetzte zu negieren. Dieses Treiben selbstbewusster Begierde stößt zwangsläufig auf eine Grenze und zwar namentlich dort, wo Ich seinesgleichen begegnet und Selbstbewusstsein auf Selbstbewusstsein trifft: „der andre ist auch ich, und es ist das Ich also ganz allgemein.“ (GW 25/2, 785) Das andere Ich beschränkt das eigene derart, wie sonst nichts auf der Welt; „das Sein der Persönlichkeit ist ein viel spröderes härteres Sein als irgendein Gegenstand in der Natur; es ist das Härteste und leistet Widerstand, wie kein andres.“ (Ebd.) So kommt es zum Kampf Ich gegen Ich mit dem vorläufigen Ergebnis von Herrschaft und Knechtschaft, bei dem es aber nicht bleiben kann, weil der Freie nur unter Freien frei sein kann. – Herr-Knecht-Verhältnisse sind in wechselseitige Anerkennungsverhältnisse zu überführen. In ihnen erkenne und anerkenne ich andere Ichwesen als meinesgleichen, um von ihnen seinerseits erkannt und anerkannt zu werden. Damit ist die selbstsüchtige Begierde des in sich verkehrten Ich überwunden und die Möglichkeit erschlossen, sich für das andere Selbst vernunft- und der eigenen Bestimmung gemäß zu explizieren. Anerkennung ist die Realgestalt der Freiheit. Es ist nach Hegel ein verwerflicher Irrtum zu meinen, „mein subjectives Interesse, meine Willkühr sei Freiheit“ (GW 25/2, 794). In Wahrheit hebt Freiheit alles willkürliche Belieben auf, um sich in gehorsamer Bindung an die Vernunft und die Maxime notwendiger Verallgemeinerbarkeit alles besonderen Sinnens und Trachtens zu erfüllen.

Gewissheit und Wahrheit der Vernunft gemäß der Phänomenologie von 1807

durchgedrungene Ich anfangs unmittelbar und ausschließlich auf seine Selbstständigkeit und Selbstbestimmung bedacht, so vermag es im Modus der durch wechselseitige Anerkennungsverhältnisse von Ichsubjekten vermittelten Vernünftigkeit seiner Freiheit in Theorie und Praxis fortschreitend objektive Gestalt zu geben. Der Realität seiner Vernunft gewiss kann sich das Selbstbewusstsein vernünftig realisieren.9 Es belässt es nicht dabei, sich selbst unmittelbar und im abstrakten Negieren von Gegenständlichkeit gegenständlich zu werden, es muss vielmehr, dem Begriff seiner Vernunft entsprechend, notwendigerweise sich im andern seiner selbst als einem andern zu finden und zu explizieren suchen. Ansonsten bliebe seine Gewissheit, alle Realität zu sein, bloße Versicherung, der die Wirklichkeit entgegentreten müsste, wie das bei jenem schlechten Idealismus geschieht, dessen Ich mit einem uneinholbaren Ding-an-sich bleibend konfrontiert wird. Beobachtende Vernunft Um die Gewissheit, alle Realität zu sein, zur Wahrheit zu erheben und wahrhaft und wirklich Geist zu sein, erfüllt sich die Vernunft durch Beobachtung, mittels welcher sie ihre anfängliche Leere hinter sich lässt und aus sich heraustritt, um sich auf ihr Anderes hin zu transzendieren. „Sie sucht ihr Anderes, indem sie weiß, daran nichts Anders als sich selbst zu besitzen; sie sucht nur ihre eigne Unendlichkeit.“ (GW 9, 137) In der Weise der Beobachtung die Dinge scheinbar als dem Ich entgegengesetzt hinnehmend erkennt sie diese in Wahrheit, indem sie das Sinnliche in Begriffe verwandelt, „d. h. eben in ein Seyn, welches zugleich Ich ist, das Denken somit in ein seyendes Denken, oder das Seyn in ein gedachtes Seyn, und behauptet in der That, daß die Dinge nur als Begriffe Wahrheit haben“ (GW 9, 138). In den einzelnen Momenten ihrer Entwicklung ist die beobachtende Vernunft erstens Naturbeobachtung (vgl. GW 9, 139ff.), zweitens Beobachtung des Selbstbewusstseins in seiner Reinheit und seiner Beziehung auf äußere Wirklichkeit (vgl. GW 9, 167ff.) und drittens Beobachtung der Beziehung des Selbstbewusstseins auf seine unmittelbare Wirklichkeit (vgl. GW 9, 171ff.). In letzterer Hinsicht handelt Hegel sarkastisch von Physiognomik und Schädellehre, mit dem Ergebnis, dass „diese letzte Stuffe der beobachtenden Vernunft ihre schlechteste, aber darum ihre Umkehrung notwendig“ (GW 9, 189) sei. In der Herabsetzung ihrer selbst zu einem toten Gegenstand, wie er in 9 In der Vernunft entäußert sich das aufs äußerste verinnerlichte Verhältnis von Selbstbeziehung und Beziehung zum Anderssein, und die Subjektivität sich wissenden Selbstbewusstseins beginnt objektive Gestalt anzunehmen. „Die Entäußerung als philosophischer Zentralbegriff der ‚Phänomenologie des Geistes’“ ist Thema des gleichnamigen Beitrags von G. Lukacs, in: H. F. Fulda/D. Henrich (Hg.), a.a.O., 276–325. „Der Begriff der Vernunft in Hegels Phänomenologie“ wird behandelt von K. Düsing, in: D. Köhler/O. Pöggeler (Hg.), a.a.O., 143–162. Vgl. ferner die einzelnen Beiträge zum Vernunftkapitel in: K. Vieweg/W. Welsch (Hg.), a.a.O., 309ff.

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Vernünftiges Selbstbewusstsein

der Gestalt des Schädelknochens vorstellig wird, richtet sich die bloß beobachtende Vernunft selbst zugrunde, um aus äußerster Selbstvergessenheit als sich durch sich selbst verwirklichende Vernunft zu erstehen. Denn der Begriff und die Wahrheit ihrer Selbstvorstellung als toter Knochen ist, „daß die Vernunft sich alle Dingheit, auch die rein gegenständliche selbst ist; sie ist aber diß im Begriffe, oder der Begriff nur ist ihre Wahrheit, und je reiner der Begriff selbst ist, zu einer desto albernern Vorstellung sinkt er herab, wenn sein Inhalt nicht als Begriff, sondern als Vorstellung ist.“ (GW 9, 192) Selbstverwirklichung vernünftigen Selbstbewusstseins Wie die beobachtende Vernunft in ihrer Sphäre die Bewegung des Bewusstseins von der sinnlichen Gewissheit über die Wahrnehmung zum Verstande hin durchlief, so vollzieht sich die Selbstverwirklichung der aus der Vorstellung zum Begriff ihrer selbst gelangten Vernunft auf analoge und in sich differenzierte Weise. „Zuerst ist diese thätige Vernunft ihrer selbst nur als eines Individuums bewusst, und muß als ein solches seine Wirklichkeit im andern fodern und hervorbringen – alsdenn aber, indem sich sein Bewußtseyn zur Allgemeinheit erhebt, wird es allgemeine Vernunft, und ist sich seiner als Vernunft, als an und für sich schon anerkanntes bewußt, welches in seinem reinen Bewußtseyn alles Selbstbewußtseyn vereinigt; es ist das einfache geistige Wesen, das indem es zugleich zum Bewußtsein kommt, die reale Substanz ist, worein die frühern Formen als in ihren Grund zurückgehen, so daß sie gegen diesen nur einzelne Momente seines Werdens sind, die zwar losreissen, und als eigne Gestalten erscheinen, in der That aber nur von ihm getragen, Daseyn und Wirklichkeit, aber ihre Wahrheit nur haben, insofern sie in ihm selbst sind und bleiben.“ (GW 9, 193) Es ist nicht möglich, aber auch nicht nötig, den Verlauf der Verwirklichung vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst (vgl. GW 9, 193ff.) und den Prozess zu verfolgen, der zur Aufhebung der Differenz von beobachtender und selbsttätiger Vernunft in demjenigen führt, was Hegel in der Phänomenologie von 1807 die an und für sich reelle Individualität nennt (vgl. GW 9, 214ff.). Vermerkt sei lediglich, dass sich im fünften Phänomenologiekapitel („Gewissheit und Wahrheit der Vernunft“) unter allem überbordenden Materialreichtum, der geboten wird, unschwer die Grundstruktur jener Argumentation erkennen lässt, welche (im Anschluss an die enzyklopädische Phänomenologie) die enzyklopädische Psychologie und ihre Lehre von Theorie und Praxis des seine Subjektivität realisierenden Geistes bestimmt. Entsprechendes gilt für die an die enzyklopädische Theorie des subjektiven Geistes anschließende Theorie des objektiven Geistes in seinen Realisierungsmomenten Recht, Moralität und Sittlichkeit.

Gewissheit und Wahrheit der Vernunft gemäß der Phänomenologie von 1807

Subjektiver und objektiver Geist Im sechsten Phänomenologiekapitel (vgl. GW 9, 238ff.) „kommen alle Formen des objektiven Geistes vor, die Hegel seit den Jenaer Entwürfen konzipiert hat und die später in der Enzyklopädie und der Rechtsphilosophie systematisch entfaltet wurden“10 . Um aus Übersichtlichkeitsgründen bereits an dieser Stelle einige vorgreifende Hinweise auf strukturelle Analogien zu geben, so umfasst die Lehre vom objektiven Geist sowohl in der Enzyklopädie als auch in der Rechtsphilosophie drei Themenbereiche und handelt zum einen vom abstrakten Recht, zum andern von der Moralität und zum dritten von der Sittlichkeit in Bezug auf Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat. Auch wenn – anders als in der enzyklopädischen Psychologie – die Parallelen zur Phänomenologie von 1807 nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind, so lassen sie sich doch bei genauerem Zusehen leicht entdecken. Die sittliche Welt des objektiven Geistes kommt hier wie dort erst im Durchgang durch eine Dreierreihe von Entwicklungsgestalten zur Realisierung ihres Begriffs. Die erste hat Hegel in der Phänomenologie als Sittlichkeit bezeichnet (vgl. GW 9, 240ff.), worunter er aber anderes versteht als im enzyklopädischen und rechtsphilosophischen Kontext, auch wenn sich thematische Bezüge zu den Themenkreisen Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat ergeben. Ziel des phänomenologischen Sittlichkeitskapitels ist eindeutig der Zustand des Rechts (vgl. GW 9, 260) und zwar in seiner formalen Allgemeinheit, in welcher die schöne Sitte aufgehoben ist, wie sie im Naturgeist einer Volksindividualität und im gesitteten Gemeinwesen von Ehe und Familie herrscht. Indem sich die einzelne Individualität gegen die natürlichen Familienbande entschieden behauptet, wird die Ordnung natürlicher Sitte entzweit und die paradiesische Unschuld des Kindseins verlassen. Der Differenz von Gut und Böse gewahr entwächst der Geist seiner Ursprünglichkeit und nimmt die Schuld selbstbestimmter Tat auf sich, um im allgemeinen Rechtszustand sich ein förmliches Dasein zu geben. Die formale Allgemeinheit des Rechts ist bestimmt 10 L. Siep, Moralischer und sittlicher Geist in Hegels Phänomenologie, in: K. Vieweg/W. Welsch (Hg.), a.a.O., 415–438. Vgl. ferner die übrigen Beiträge zum Geistkapitel, a.a.O., 439–519. Man kann fragen, ob „mit dem Geist-Kapitel nicht überhaupt ein Neuansatz ins Spiel gebracht (ist), der das vorausgehende Programm, nämlich die Prüfung von Wissensformen sprengt“ (E. Weisser-Lohmann, Gestalten nicht des Bewusstseins, sondern einer Welt – Überlegungen zum Geist-Kapitel der Phänomenologie des Geistes, in: D. Köhler/O. Pöggeler Hg., a.a.O., 183–207, hier: 190). Tatsächlich macht das im vernünftigen Vollzug sich wissenden Wissens begriffene Bewusstsein die Erfahrung von Geistgestalten, die ihm nicht als von seiner eigenen Subjektivität getragen, sondern als sich selbst tragende Wesenheiten erscheinen, deren Objektivität alle Formen subjektiven Selbstbewusstseins transzendiert. Dennoch sind die Formationen des objektiven Geistes dazu bestimmt, der Subjektivität des subjektiven nicht äußerlich zu bleiben, sondern sich im Absoluten mit ihr zusammenzuschließen.

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durch den Geist bloßer „Gleichheit, worin Alle als Jede, als Personen gelten“ (GW 9, 260). Die natürliche Gemeinschaft der Sitte ist damit atomisiert und in absolut viele Individuen zersplittert, deren sprödes Selbst nichts anderes bezeichnet „als das reine leere Eins der Person“ (GW 9, 262). Rechtszustand und Entfremdung des Geistes Durch die Etablierung des allgemeinen Rechtszustands ist der erste Schritt zur Realisierung der Objektivität des Geistes über seine bloße Subjektivität hinaus getan. Aber die Abstraktheit jener rechtlichen „Gleichheit, worin Alle als Jede“ (GW 9, 260) gelten, führt zugleich geistige Entfremdung herbei (vgl. GW 9, 264ff.). Die Welt entzweit sich und zwar in eine solche des Wissens oder der Bildung, wie Hegel sagt11 , und in eine solche des Glaubens. Der Versuch, die Entzweiung durch Aufklärung zu beheben (vgl. GW 9, 292ff.), schafft neuen Zwist und endet im Terror der Freiheit, wie unter der Überschrift „Die absolute Freyheit und der Schrecken“ (vgl. GW 9, 316ff.) mit Bezug auf die Französische Revolution ausgeführt wird.12 Die Schlusssätze des Revolutionskapitels lauten: 11 „Der Geist der Entfremdung seiner selbst hat in der Welt der Bildung sein Daseyn; aber indem dieses Ganze sich selbst entfremdet worden, steht jenseits ihrer die unwirkliche Welt des reinen Bewußtseyns oder des Denkens. Ihr Inhalt ist das rein Gedachte, das Denken ihr absolutes Element. Indem aber das Denken zunächst das Element dieser Welt ist, hat das Bewusstseyn nur diese Gedanken, aber es denkt sie noch nicht, oder weiß, daß es Gedanken sind; sondern sie sind für es in der Form der Vorstellung.“ (GW 9, 286) Weil die Welt des Denkens unter den Bedingungen der Entzweiung des Geistes kein entsprechendes Bewusstsein ihrer selbst hat, kann sie sich nur als Jenseits des Diesseitigen vorstellig werden. Es liegt in der Konsequenz dieser unbegriffenen Vorstellung, dass die Differenz zwischen Diesseits und Jenseits auf die Welt des Denkens selbst zurückschlägt und in sie in der Weise des Gegensatzes von Glauben und Einsicht Einzug hält. Die Welt des Denkens erweist sich damit an sich selbst als von ihrer unmittelbaren Wirklichkeitsjenseitigkeit, für die der Glaube steht, durch Einsicht entfremdet. „Der eigenthümliche Gegenstand, gegen welchen die reine Einsicht die Krafft des Begriffes richtet, ist der Glaube, als die ihr in demselben Elemente gegenüberstehende Form des reinen Bewußtseyns. Sie hat aber auch Beziehung auf die wirkliche Welt, denn sie ist wie jener, die Rückkehr aus derselben in das reine Bewußtseyn.“ (GW 9, 292) 12 Gehandelt wird im Aufklärungskapitel der Phänomenologie zunächst vom aufklärerischen Kampf mit dem Aberglauben, an dessen Ende der Gegensatz von Glaube und Einsicht entfällt und beide in ihrer inhaltlichen Indifferenz koinzidieren: „Der Glauben ist in der That hiemit dasselbe geworden, was die Aufklärung, nemlich das Bewußtseyn der Beziehung des ansichseyenden Endlichen auf das prädicatlose, unerkannte und unerkennbare Absolute; nur daß sie die befriedigte, er aber die unbefriedigte Aufklärung ist.“ (GW 9, 310) Zu ergänzen ist, dass die Aufklärung über jenes prädikatlose Absolute schließlich mit sich selbst in den gleichen Streit gerät, welchen sie vorher mit dem Glauben hatte. Sie teilt sich in zwei Parteien, was Hegel als eine Folge ihres Erfolgs deutet: „Eine Parthey bewährt sich erst dadurch als die Siegende, daß sie in zwey Partheyen zerfällt; denn darin zeigt sie das Princip, das sie bekämpfte, an ihr selbst zu besitzen, und hiermit die Einseitigkeit aufgehoben zu haben, in der sie vorher auftrat.“ (GW 9, 312) Die eine Aufklärungspartei nennt das prädikatlose, ebenso unerkannte wie un-

Gewissheit und Wahrheit der Vernunft gemäß der Phänomenologie von 1807

„Wie das Reich der wirklichen Welt in das Reich des Glaubens und der Einsicht übergeht, so geht die absolute Freyheit aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes über, worin sie in dieser Unwirklichkeit als das Wahre gilt, an dessen Gedanken er sich labt, insofern er Gedanke ist und bleibt, und dieses in das Selbstbewußtseyn eingeschlossene Seyn als das vollkommene und vollständige Wesen weiß. Es ist die neue Gestalt des moralischen Geistes entstanden.“ (GW 9, 323) Moralität und Sittlichkeit Der moralische Geist (vgl. GW 9, 323ff.) und seine Weltanschauung werden in der Phänomenologie in Sonderheit durch Kant und die in seiner Philosophie statthabende Selbstaufklärung der Aufklärung repräsentiert. Dass Hegel in diesem Zusammenhang „ein ganzes Nest gedankenloser Widersprüche“ (GW 9, 332) zu entdecken meint, darf nicht über den gegebenen Kontinuitätszusammenhang seines Systems mit dem Kant’schen hinwegtäuschen. Hegels Kritik richtet sich vor allem gegen den unaufgehobenen Gegensatz von Sein und Sollen, aus dem sich das moralische Subjekt in die reine Innerlichkeit seines Gewissens zurückzieht, um allein seinen Überzeugungen zu leben. Aus der Krise der schönen Seele, der die Kraft der Entäußerung fehlt, ergibt sich die Einsicht, dass nicht der Geist, der die Wirklichkeit scheut, um sich vom Bösen rein zu halten, seinem Begriff entspricht. Wie es in der Vorrede der Phänomenologie heißt: „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt, und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht, als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, diß ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bey ihm verweilt.“ (GW 9, 27) In dem, was Hegel in der Phänomenologie Moralität, in der Enzyklopädie und Rechtsphilosophie Sittlichkeit nennt, nimmt der Geist, der dem Negativen standzuhalten vermag, erkennbare Absolute absolutes Idealwesen, die andere reine Materie, wobei zu bedenken ist, „daß die reine Materie nur das ist, was übrig bleibt, wenn wir vom Sehen, Fühlen, Schmecken und so fort abstrahiren, das heißt, sie ist nicht das gesehene, geschmeckte, gefühlte, und so fort; es ist nicht die Materie, die gesehen, gefühlt, geschmeckt wird, sondern die Farbe, ein Stein, ein Salz u.s.f.; sie ist vielmehr die reine Abstraction; und dadurch ist das reine Wesen des Denkens, oder das reine Denken selbst vorhanden, als das nicht in sich unterschiedene, nicht bestimmte, prädicatlose Absolute.“ (GW 9, 312) Wie immer es aufgefasst werden mag, in Wahrheit ist das prädikatlose Absolute nichts anderes als die ungeteilte Substanz der absoluten Freiheit, deren alles nichtende Negativität nach Hegel in der Französischen Revolution Epoche machte.

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Vernünftiges Selbstbewusstsein

objektive Realität an, ohne bereits zur Vollendung gelangt zu sein, die er erst mittels der Religion (vgl. GW 9, 363ff.) im absoluten Wissen (vgl. GW 9, 422ff.) erlangt.

11.

Der Geist der Freiheit und seine Realisierung

Hegels Lehre von der theoretischen und praktischen Vernunft

11.1

Die enzyklopädische Psychologie gemäß der Vorlesung vom SS 1825

Die Trias von Bewusstsein, Selbstbewusstsein und Vernunft, anhand derer in der „Phänomenologie des Geistes“ die Konstitutionsmomente des im Werden begriffenen Wissens thematisiert werden, begegnen im Rahmen der enzyklopädischen Philosophie des subjektiven Geistes im zweiten Teil wieder, wobei der Vernunftbegriff erst im anschließenden dritten Teil, der sog. Psychologie1 , detailliert in Bezug auf den theoretischen und den praktischen Geist expliziert wird, was an die Ausführungen von 1807 über die beobachtende Vernunft und die Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewusstseins durch sich selbst erinnert. Ihr Skopus ist der Begriff der an und für sich reellen Individualität, von dem aus zu den Lehren vom objektiven und vom absoluten Geist übergeleitet wird, die bei allen Abweichungen in der Phänomenologie und in der Enzyklopädie strukturanalog gestaltet sind. Anhand der Griesheimnachschrift des auf der Erstauflage der Enzyklopädie basierenden Kollegs zur Lehre vom subjektiven Geist vom SS 1825 sei deren dritter Teil in einem ersten Abschnitt in Grundzügen skizziert, um ihn dann in zwei weiteren anhand von Einzelthemen der „Psychologie“ auf der Basis u. a. der Stolzenbergnachschrift der Vorlesung vom WS 1827/28 noch einmal gesondert zu verhandeln und mit Anmerkungen insbesondere aus der umgearbeiteten Zweitausgabe der Enzyklopädie von 1827 zu versehen. Der Kenner kann sich die Lektüre der beiden Abschnitte (11.2 u. 3) ersparen, weil sie im Wesentlichen Wiederholungen bieten. Dem weniger Kundigen möge die Repetition – wie schon in 10.2 und 3 – dazu verhelfen, einen nicht leichten Gedankengang selbstdenkend nachzuvollziehen und ihn so nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, sondern zu verstehen. Am Schluss des Kapitels sei erneut der subjektivitätstheoretische Status des „Ich“ erörtert und gefragt, ob sich die Selbstbewusstseinsproblematik durch semantische Reduktion bewältigen lässt, was Pannenberg bei allen Vorbehalten gegenüber der Ichlehre Hegels wie dieser entschieden verneint hat. 1 Die Stellung der Psychologie im Kontext der Enzyklopädie ist in Bezug v.a. auf deren Heidelberger Erstauflage von 1817 eingehend untersucht worden von L. Lugarini in der Studie „Die ‚vernünftige Betrachtungsweise‘ des Geistes in der Hegel’schen Psychologie“, in: D. Henrich (Hg.), Hegels philosophische Psychologie (Hegel-Studien Beiheft 19), Bonn 1979, 141–158.

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Der Geist der Freiheit und seine Realisierung

Denken und Handeln Nach Hegel erfüllt sich der Begriff des subjektiven Geistes durch Vernunftrealisation in Theorie und Praxis. Damit die Vernunft fortschreitend Wirklichkeit werde, stellt das geistige Subjekt sein Wissen und Tun und alles sonstige Vermögen in ihren Dienst. Nicht als ob der Geist eine Ansammlung von Potenzen, Kräften oder separaten Möglichkeiten von Tätigkeit sei; eine solche von der Tradition nahegelegte Sicht lehnt Hegel entschieden ab. Denken und Handeln sind mit allem, was ihnen zugehört, Vollzugsmomente der einen Wirklichkeit des Geistes. Doch folgt geistiges Wirken einer internen Logik, derzufolge man zunächst zu theoretischer Vernunfteinsicht gelangen muss, um diese dann praktisch zu realisieren und seiner Subjektivität eine objektive Gestalt zu geben. Wie der Wille der Intelligenz entsprechen muss, wenn es vernünftig zugehen soll, so hat sich willentliche Praxis an Theorievorgaben zu orientieren, die indes ihrerseits ohne praktische Befolgung leere Prämissen blieben. Die Entwicklung des subjektiven Geistes geht dahin, dass die Vernunft sich in ihm und durch ihn realisiere, theoretisch in Form vernünftigen Wissens, praktisch in Form vernünftigen Tuns mit dem Ziel einer Aufhebung jedes Gegensatzes von Theorie und Praxis im Vollzug einer Freiheit, die im objektiven Geist ihre naturüberlegene, kultivierte Gestalt annimmt. Im freien Geist sind Theorie und Praxis vollkommen übereingekommen, und Subjektivität stellt sich als die entwickelte Einheit von Denken und Handeln dar. Insofern gibt sich die getrennte Behandlung von theoretischem Wissen und praktischem Tun rückblickend und vom Schluss her betrachtet als eine Abstraktion zu erkennen, die der Diskursivität des Denkens momentan geschuldet, aber durch seinen Fortgang ebenso zum Moment herabzusetzen ist wie der theoretische Beginn, der anfangs in nichts anderem besteht als in der formellen Ichgewissheit vernünftiger Selbstbestimmung. Alle Theorie, so sagt das Sprichwort, ist grau. Hegel stimmt diesem Verdikt insofern zu, als nach seinem Urteil am theoretischen Anfang lediglich die unmittelbare, im Selbstbewusstsein des Ich mitgesetzte Gewissheit der Vernunft steht, bei welcher allein es nicht sein Bewenden haben kann, da sie inhaltlich unbestimmt und leer ist. Sie bedarf der Ausdifferenzierung in vernünftige Wissensgestalten, mittels derer sich der theoretische Geist konkret herauszubilden hat. Erst im konkreten Wissen wird Gewissheit zur Wahrheit und die Idealität der Vernunft real, was hinwiederum ohne tätigen Willen nicht denkbar ist; die Hinordnung von Theorie auf Praxis ergibt sich hieraus von selbst. Freie Intelligenz Der theoretische Geist, den Hegel auch Intelligenz nennt, hebt – wie das Bewusstsein – von Seiendem an, unterscheidet sich aber vom Bewusstsein, das

Die enzyklopädische Psychologie gemäß der Vorlesung vom SS 1825

im Durchgang durch Selbstbewusstsein allererst zur Vernunft zu bringen ist, dadurch, dass ihm das Gegebene nicht gegenständlich oder als „eine Negation seiner“ (GW 25/1, 490), sondern als die Unmittelbarkeit seiner Vernunftgewissheit präsent ist, welche die Vernünftigkeit der Gegenstandswelt voraussetzt. „Der theoretische Geist betrachtet, er verhält sich versöhnt zum Gegenstande in der Gewißheit daß das Objekt vernünftig ist, erst im Praktischen wird der Gegenstand wieder das Negative meiner.“ (GW 25/1, 490f.) Ist in der Theorie die Widersetzlichkeit des Gegenständlichen grundsätzlich aufgehoben, so waltet in ihm das Gesetz der Vernunft anfangs doch nur unmittelbar und auf eine, wenn man so will, gesetzliche Weise, der die nötige Freiheit noch abgeht. Damit die Intelligenz frei werde, wie es für sie notwendig ist, weil Freiheit ihre Bestimmung ist, kann sie nicht auf ihrer Unmittelbarkeit insistieren, sondern hat sich eine Welt der Vernunft zu erschaffen, in welcher die sinnliche Welt nur mehr als prinzipiell vergangene, in der Erinnerung präsente, also in aufgehobener Gestalt gegenwärtig ist. Nur so bewährt sich die theoretische Grundmaxime: „Die Intelligenz überhaupt ist frei, hat es mit Seiendem zu thun das aber nicht als negativ gegen sie bestimmt ist, die Objektivität ist nicht mehr als Negatives des Ich wie auf der Stufe des Bewußtseins, sondern diese Negativität ist bis zur Vernünftigkeit fortgegangen und der Geist ist Gewißheit der Vernunft, der Geist der sich beschließt, entschließt und so Endlichkeit als solche setzt.“ (GW 25/1, 493) Intellektuelle Anschauung Die Stufenfolge, welche der theoretische Geist fortschreitend durchläuft, beschreibt Hegel mit der Sequenz von Anschauung, Vorstellung und Gedächtnis. Bei der Anschauung als der ersten Entwicklungsstufe des theoretischen Geistes handelt es sich um ein unmittelbares, gleichsam gefühlsmäßiges Erkennen, das sich vom sinnlichen Fühlen wesentlich durch seinen nicht primär rezeptiven, sondern wesentlich produktiven Charakter unterscheidet. Im Sinne des Begriffs, den Hegel von ihr hat, ist Anschauung ein aktives Erkennen, in welchem der Geist kein äußeres Anderes mehr zum Gegenstand, sondern gegenständliche Äußerlichkeit in Erinnerung überführt hat, um so in ihr nicht länger einem fremden Anderen, sondern dem Anderen seiner selbst zu begegnen. Der theoretische Geist erinnert Externes, um sich in ihm selbst zur Anschauung zu bringen. Nicht von ungefähr ist der Elementarbegriff der Theorie derjenige der Schau und zwar einer Schau, in der sich der Geist auf unmittelbare Weise selbst anschaut. „Hier ist unmittelbares Sein und seine Erinnerung, Beisichsein unmittelbar identisch.“ (GW 25/1, 498) Ausdrücklich nimmt Hegel im gegebenen Zusammenhang auf Schelling und seine Theorie intellektueller Anschauung Bezug; intellektuelle sei von der Anschauung des sinnlichen Bewusstseins sorg-

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sam zu unterscheiden, weil in ihr der Geist sich unmittelbar selbst anschaut (vgl. ebd.). „Anschauung ist nicht das sinnliche, empirische Wissen von der Äusserlichkeit, sondern das Erkennen des theoretischen Geistes, ist Gewißheit der Vernunft und das Vernünftige hier in seiner Gediegenheit ist Substanz …“ (GW 25/1, 499f.) Als Substanz des theoretischen Geistes ist intellektuelle Anschauung nicht sinnliche Schau, sondern „Auffassen der Totalität, in der Sache als ganze stehen“ (GW 25/1, 501), unmittelbares Innesein des fundierenden Grundes und Sinnziels von Selbst und Welt. Indes ist mit der Unmittelbarkeit, in der die Anschauung, wie es heißt, der Identität des Objektiven und des Subjektiven inne wird (vgl. GW 25/1, 500), und mit ihrem gleichsam substanzhaften Charakter ebenso ihre Grenze bezeichnet, über die der theoretische Geist seinem Wesen nach hinausstreben muss, will er es nicht bei bloßer Verwunderung und staunender Aufmerksamkeit belassen, mit denen Hegel die theoretische Anschauung vergleicht. Diese und ihr verwundertes Aufmerken sind lediglich der erste Schritt in der Entwicklung des theoretischen Geistes. Die Vernunftgewissheit, die sich in der intellektuellen Anschauung manifestiert, kann nicht vermittlungslos auf ihrer Unmittelbarkeit beharren, weil sie sonst in ein nächtliches Dunkel versinkt, in dem mit der äußeren Welt auch die innere in Vergessenheit zu geraten droht. Erinnerung hätte dann nichts mehr zu erinnern, und die Anschauung würde jeder Bestimmtheit entbehren. Nötig und der Bestimmung des theoretischen Geistes entsprechend ist es daher, die unmittelbare Vernunftgewissheit intellektueller Anschauung zu transzendieren und zur zweiten Stufe geistiger Theorieentwicklung fortzuschreiten, die Hegel Vorstellung nennt. Die theoretische Vorstellung expliziert die Unterschiede, die in der Anschauung wie in einem „Convolut“ (GW 25/1, 502) beschlossen und eingeschlossen sind, differenziert so ihre anfängliche Indifferenz und behebt vermittelnd ihre Unmittelbarkeit. Sie, die Vorstellung, ist, wie Hegel sagt, „das Dirimiren der Anschauung, Entwickeln derselben“ (ebd.). Vorstellung In der Anschauung als dem unmittelbaren Innesein des theoretischen Geistes ist Erinnerung enthalten, ja intellektuelle Anschauung erinnert alles sinnlich Äußerliche, um es sich vernunftmäßig anzueignen. Aber die Erinnerung wird in der Anschauung noch nicht als Erinnerung erinnert und bleibt daher unbestimmt. Zur Bestimmtheit gelangt sie durch die Vorstellung, zu deren erstem Moment Hegel die explizite Erinnerung erklärt. „Die Vorstellung ist Erinnerung, das Setzen des Gegenstandes als des meinigen und zugleich als Seienden, als Äusserlichen.“ (GW 25/1, 502) In der Erinnerung wird der erinnerte Gegenstand als der meinige vorstellig. Er ist als er selbst da, aber nicht in sinnlicher

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Gegenständlichkeit, sondern als erinnerter, in seiner Objektivität in Subjektivität transformierter. So geht aus dem unmittelbaren Innesein intellektueller Anschauung mittelbar eine Bilderwelt hervor, die Inneres und Äußeres auf innige Weise vereint. War die anfängliche Schau der Theorie bildlos, so werden nun Erinnerungsbilder vorstellig, mittels derer der theoretische Geist konkrete Form annimmt. Doch bleiben die Formen der Erinnerung instabil und ihre Bilder flüchtig, solange sie sich nicht mit der Kraft der Einbildung verbinden, vermöge derer das Erinnerte die Gestalt einer dauerhaften Vorstellung annimmt. Die Einbildungskraft „bestimmt die Bilder zunächst in’s Dasein zu treten, das Zweite ist sie zu bestimmen als allgemein gegen ihre Besonderheit d. h. sie zu Vorstellungen zu machen und das Dritte ist diese allgemeine Vorstellungen identisch zu setzen mit dem Besonderen des Bildes.“ (GW 25/1, 507) Erinnerung und Einbildungskraft Zu unterscheiden ist zwischen einer reproduktiven und einer produktiven Kraft der Einbildung. Die reproduktive bildet Bilder nach, die durch sinnliche Wahrnehmung zur Anschauung gebracht wurden, um sie auf diese Weise zu erinnern. Auch die reproduktive Einbildungskraft entbehrt nicht der Produktivität, weil ohne ihre Tätigkeit die Eindrücke der Sinnlichkeit augenblicklich oder sehr bald der Vergessenheit anheimfallen müssten. Sie ruft sie in Erinnerung und ordnet die Erinnerungsbilder zugleich aktiv zu einem inneren Zusammenhang, der über bloßes Assoziieren hinausreicht. Zur Ordnung der Erinnerung gehört es ferner, das besondere Erinnerungsbild dergestalt zu verallgemeinern, dass es sich im Wechsel seiner Erscheinungen als identisch präsentiert. Das anschaulich Erinnerte wird so gemäß seiner Idee vorstellig, wie Hegel am Beispiel der Rose illustriert, deren Vorstellungsbild nicht die Summe diverser Einzeleindrücke, sondern ein Ganzes, eine Totalität für sich darstellt. „Die Rose hat vielerlei Gestalten, im Bilde als der Totalität der Rose bin ich ihre Seele …“ (GW 25/1, 510) Oder: „Ich habe die Vorstellung einer Rose, es ist dabei nicht als käme sie in meinen Kopf und ihr Roth suche sich das Roth in meinem Gehirn auf, ich bin vielmehr das Thätige das das Einzelne, das Rothe, heraushebt und es absondert von anderen empirischen Eigenschaften.“ (GW 25/1, 511) Gedächtnis Ist bereits die reproduktive produktiv, so tritt die Produktivität der Einbildungskraft direkt dort hervor, wo sie Vorstellungen tätig hervorruft und phantasievoll etwa dadurch generiert, dass sie Zeichen setzt, die sie bewirken, ohne in einem sinnlichen Entsprechungsverhältnis zu ihnen zu stehen. Man ist im Bilde, auch wenn man ansonsten nichts zu sehen und zu hören, zu riechen, schmecken

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und tasten bekommt. Hegel nennt die „Zeichen setzende Intelligenz“ (GW 25/1, 516) Gedächtnis und bestimmt dieses als „die Einheit selbstständiger Vorstellung und der Anschauung, zu welcher jene als freie Phantasie sich äussert“ (GW 25/1, 51). Im Gedächtnis, aus dem Sprechen und Denken hervorgehen, vollendet sich der theoretische Geist, und die anfängliche Leere intellektueller Anschauung gelangt im Durchgang durch Erinnerung und Vorstellung vermöge der Einbildungskraft zur Erfüllung. Das Gedächtnis ist Hegel zufolge nicht nur Fähigkeit des Erinnerns als eines reproduktiven Gedenkens, sondern auch ein Gedenken produktiver Art, das Erfahrungen zu machen erlaubt, selbst wenn der sinnliche Anlass dazu fehlt. Der Fall ist dies beispielsweise dann, wenn das Gedächtnis seine Erinnerungsgehalte in Worte fasst und zur Sprache bringt. In Worte gefasst und zur Sprache gebracht gewinnen die erinnerten Dinge und Sachverhalte eine äußere Daseinsform jenseits ihrer sinnlichen Existenz. Sie werden gegenwärtig, ohne sinnlich präsent zu sein. „Die Sache ist das Ding, als äusserliches Dasein, das andere Dasein ist das Dasein als Name, es ist so der Gegenstand aufgenommen in das Reich der Intelligenz.“ (GW 25/1, 516) Sprache Die Sprachwissenschaft, auch Linguistik genannt, beschäftigt sich im Unterschied zur Literaturwissenschaft nicht mit dem Geschriebenen, sondern mit dem gesprochenen Wort und hat sich in jüngerer Zeit in eine Reihe von Teildisziplinen ausdifferenziert: Die linguistische Phonetik untersucht als klassische Lautwissenschaft die physikalischen Prozesse der Sprachschallerzeugung, die physiologischen Prämissen akustischer Signalgebung und ihrer Rezeption oder die Manifestationsweisen phonetischer Vollzüge sowie als Phonologie sprachliches Vorkommen und Kontinuierbarkeit von Lauten. Um einen exemplarischen Eindruck von dem artikulatorischen, akustischen und auditiven Aspekt der Phonetik zu gewinnen, studiere man beispielsweise das Lautinventar im Deutschen, die Aussprache von Vokalen und Konsonanten, die Silbenstruktur und Lautgrammatik, die Wortakzente, die Opposition von Kurz- und Langvokalen bzw. die Phonem-Graphem-Korrespondenzen etc.2 . Thema der sprachwissenschaftlichen Morphologie sind Flexion und Wortbildung in Bezug auf Nomen und Verb3 , dasjenige der Syntax der Aufbau von Sätzen, wohingegen die Semantik die Bedeutung von Wörtern und Sätzen und die Pragmatik ihre kontextuelle Verwendung untersucht.4 Auch wenn bei Hegel Phonetik, Morphologie, Syntax, Semantik und Pragmatik nicht förmlich begegnen, sind die bezeichneten Themenbereiche in seiner Sprachphilosophie doch alle präsent, wobei er den 2 Th. Becker, Einführung in die Phonetik und Phonologie des Deutschen, Darmstadt 2012. 3 Vgl. S. Sahel/R. Vogel, Einführung in die Morphologie des Deutschen, Darmstadt 2013. 4 Vgl. K. Pittner, Einführung in die germanistische Linguistik, Darmstadt 2013.

Die enzyklopädische Psychologie gemäß der Vorlesung vom SS 1825

Ursprung der Sprache und ihre Genese unter Rückgriff nicht zuletzt auf biologische Eigentümlichkeiten der Menschennatur zu ergründen sucht. Anfangs lediglich imitatives Tönen und Lautmalerei (unterstrichen etwa durch Gebärden und Minenspiel etc.) emanizipiert sich die Sprache im Laufe der menschlichen Entwicklung immer mehr von sinnlichen Vorgaben, ohne sie freilich je gänzlich hinter sich zu lassen, und löst das Zeichen fortschreitend von der äußeren Bindung an die bezeichnete Sache, um den Worten und Sätzen gerade so ihre Bedeutungsfülle zu sichern. Der Name Löwe etwa hat mit dem Tier, das er benennt, äußerlich nichts gemein und ist doch in der Lage, eine präzise Vorstellung vom Benannten hervorzurufen. Entsprechendes gilt von anderen Wörtern und Satzgebilden, deren kommunikative Potenz desto größer wird, je geringer die Abhängigkeit von unmittelbaren Gegebenheiten der Sinnlichkeit ausfällt. Komplexe Verständigung lässt sich ohne solche Abstraktion nicht erreichen, weil sie eine Konkretion erzeugt, die derjenigen sinnlichen Unmittelbarkeit ebenso überlegen ist wie der unmittelbaren Anschauung, mit welcher der Geist seine theoretische Entwicklung beginnt. Schrift Eine zusätzliche Komplexitätssteigerung erhält die Sprache durch ihre buchstäbliche Aufzeichnung. Zur Schrift geworden ist sie dauerhaft abrufbar und das, was sie zu sagen hat, wird über den Vorgang des Sprechens hinaus konserviert. Dabei zeigt sich erneut, dass gesteigerte Abstraktion konkrete Bedeutungsfülle nicht notwendig einschränkt, sondern im Gegenteil steigert, wie Hegel am Verhältnis von hieroglyphischer und alphabetischer Schrift verdeutlicht: Erstere „bezeichnet unmittelbar für das Auge den Gegenstand“ (GW 25/1, 519) und benötigt eine große Menge von Zeichen, um verstehbar zu sein; letztere verzichtet auf gegenständliche Abbildung und kann mit einem vergleichsweise geringen Zeicheninventar einen ungleich höheren Verständigungserfolg erzielen. Bleibt hinzuzufügen, dass das Verstehen von gesprochener und geschriebener Sprache nicht lediglich einen rezeptiven, sondern einen produktiven Vorgang darstellt, sofern der Hörer des Worts und der Leser der Schrift das Gehörte und Gelesene entziffern und rückübersetzen muss in konkrete Vorstellungszusammenhänge. Indes vermerkt Hegel auch gegenläufige Übersetzungsvollzüge von signifikanter Bedeutung, etwa die durch Eigenbeobachtung verifizierbare Tatsache, dass man, „um sich einen Gegenstand zu merken, ihn sich geschrieben vorstellt“ (GW 23/1, 522). Auch sage man sich mitunter etwas vor, um einen gewissen Eindruck von besagter Sache zu erhalten. Vorstellungen hingegen, die nicht zur Sprache zu bringen sind, bleiben nach Hegels Urteil unklar: „Man sagt oft daß das Unaussprechliche das Vortrefflichere sei, aber dieß ist erst ein Gähren in mir, damit es erst ein wahrhafter Inhalt sei muß ich dessen bewußt

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werden, es muß für mich vorhanden sein durch Worte, das Unaussprechliche ist vielmehr so das Geringere, das Schlechtere.“ (Ebd.) Sprache hat etwas mit Bedeutung zu tun. Wenn Worte und Sätze bedeutungslos sind, haben sie uns nichts zu sagen. Sprache entspricht also offenbar nur dann sich selbst, wenn sie bedeutungsvoll ist und zeichenhaft hindeutet auf etwas, was durch sie erinnert und vorstellig gemacht wird. So plausibel diese Feststellung ist, so weist Hegel in ihrem Kontext zugleich auf einen Sachverhalt hin, der ihr zu widersprechen scheint. Jeder wisse aus Eigenbeobachtung, dass Sätze durch dauerhafte Wiederholung ihre Bedeutung verlören und nichts mehr besagten. Die Übung des Auswendiglernens bestätige dies: Es funktioniere am besten, wenn man mit den zu erlernenden Sätzen möglichst wenig Sinn verbinde oder es beim Äußerlichen des Wortlauts belasse, ohne ihn bedeutungssuchend nach Innen zu wenden. Hegel spricht vom mechanischen Gedächtnis und deutete seinen Vorgang als Selbstveräußerung der Intelligenz, um hinzuzufügen: „Man spricht gewöhnlich vom mechanischen Gedächtniß schlecht, daß das Auswendiglernen sinnlos sei, allein das Gedächtniß ist der höchste Punkt des Vorstellens, wo die Intelligenz sich selbst zum Sein macht, dieß ist die unendliche Kraft der Intelligenz.“ (GW 25/1, 525) Warum dies nach seinem Urteil so ist, erläutert Hegel durch den Hinweis, dass durch die „absolute Entäusserung der Intelligenz“ (ebd.) und ihre Selbstherabsetzung zum bloßen auswendigen Sein, dem jede innere Bedeutung abgeht, der Übergang von der Vorstellung zum Begriff, vom Sprechen zum Denken vermittelt sei. Denken Sprache macht ihre Bedeutung von Vorstellungen abhängig, die, wenngleich auf sehr vermittelte Weise, immer noch sinnliche Erinnerungen hegen. Damit muss es nach Hegel im Denken ein Ende haben. Im Denken sind Hören und Sehen samt allem Sinnlichen gründlich vergangen; in ihm wird die Vorstellung in den Begriff erhoben. Dieser Aufhebungsprozess ist durch die bestimmte Negation des Bedeutungsinhalts der Sprache vermittelt, wie sie sich beispielweise im Auswendiglernen als eine Übung des mechanischen Gedächtnisses vollzieht. „Sofern der Sinn nicht mehr vorhanden ist entäussert sich die Intelligenz der Äusserlichkeiten und damit ist der Uebergang in’s Denken gemacht.“ (GW 25/1, 527) Das Denken bedarf nicht länger der Vorstellungsbilder, um sich den Sinn seiner selbst und seiner Gedanken zu versichern. „Der Gedanke ist die Sache, einfache Identität des Subjektiven und Objektiven. Was gedacht ist, ist; und was ist, ist nur, sofern es Gedanke ist.“ (Ebd.)

Die enzyklopädische Psychologie gemäß der Vorlesung vom SS 1825

Willentliches Tun In der Theorie geht die Vernunft in sich, in der Praxis entäußert sie sich, um sich zu objektivieren. Motivationsgrund der Entäußerung ist der vernünftige, theoriebestimmte, bewusste Wille. Mittels seiner nimmt die Intelligenz des erkennenden Geistes Gestalt an. Seinem Wesen nach ist der Wille frei, aber nur momentan in der Weise unmittelbarer Selbstbestimmung, die nur dann nicht zur Willkür entartet, wenn sie sich mit dem Wollen des Allgemeinen verbindet. Im sittlichen Gemeinwillen sind Sozialität und Individualität eins. Durch die Aufhebung seiner Unmittelbarkeit, in der das Gewollte nur gefühlt, nicht aber als gesollt gewusst wird, unterscheidet sich der vernünftige Wille vom bloßen Trieb, der zwar auch auf etwas aus ist, aber nicht aus Vernunftgründen, sondern aus natürlicher Neigung. Diese ist zwar nicht böse an sich, sondern sittlich indifferent; folgt der Wille ihr aber direkt, ohne sie reflexiv zu brechen, dann wird er verkehrt und schuldig. Da die genannten Zusammenhänge in Griesheims Nachschrift des Kollegs vom SS 1825 nur sehr knapp skizziert sind, liegt es nahe, sich in Bezug auf den Schluss der Lehre vom subjektiven Geist direkt an dem einschlägigen Paragraphen der Enzyklopädie von 1830 (§§ 469–482) und den beigegebenen Erläuterungen zu orientieren. Seinen Anfang nimmt das Beginnen des praktischen Geistes in der Weise unmittelbaren Wollens bzw. im praktischen Gefühl. Ist das theoretische Gefühl unmittelbares Anschauen, so das praktische Gefühl bloße Neigung. Fühlend ist der praktische Geist zu diesem oder jenem geneigt, wobei seine Neigung wesentlich durch die Gefühlsdifferenz von Angenehmem und Unangenehmem bestimmt ist. Das gute Gefühl des Angenehmen ist der Grund praktischen Wohlwollens. Doch ist das Wohlwollen auf der Basis guten Gefühls in Wahrheit noch indifferent und ambivalent in Bezug auf das Verhältnis von Gut und Böse; mehr noch: als fundierender Grund des Willens behauptet, vermag das gute Gefühl zur Wirkursache des Bösen zu werden. Sein und Sollen Seine Aufhebung erfährt der fühlende Wille durch den Schmerz des Übels, der ihn aus dem guten Gefühl träumender Unschuld heraustreibt und mit der Differenz von Sein und Sollen konfrontiert. Dass das Gesollte etwas anderes ist als das Sein, zeigt das Übel: es ist „nichts anders als die Unangemessenheit des Seyns zu dem Sollen“ (GW 20, 469; § 472). Zugleich meldet sich in ihm das Recht des Sollens auf Sein an, wodurch das Geneigtsein des guten Gefühls zur Leidenschaft angetrieben wird. Der triebbestimmte leidenschaftliche Wille ist gänzlich besondert und nicht mehr auf dieses oder jenes, sondern nur noch auf eines aus, auf welches sein gesamtes Streben ausgerichtet ist. Wie Hegel sagt: „Die Leidenschaft enthält in ihrer Bestimmung, daß sie auf eine

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Besonderheit der Willensbestimmung beschränkt ist, in welcher sich die ganze Subjectivität des Individuums versenkt, der Gehalt jener Bestimmung mag sonst seyn, welcher er will. Um dieses Formellen willen aber ist die Leidenschaft weder gut noch böse; diese Form drückt nur diß aus, daß ein Subject das ganze lebendige Interesse seines Geistes, Talentes, Charakters, Genusses in einen Inhalt gelegt habe. Es ist nichts Großes ohne Leidenschaft vollbracht worden, noch kann es ohne solche vollbracht werden. Es ist nur eine todte, ja zu oft heuchlerische Moralität, welche gegen die Form der Leidenschaft als solche loszieht.“ (GW 20, 471; § 474) In Trieb und Leidenschaft ganz dem Gewollten hingegeben, hört der passionierte Wille gleichwohl nicht auf, in seinen Passionen aktiv bzw. von der Besonderheit des sehnlich Erwünschten unterschieden zu sein. Noch im Triebhaftesten und leidenschaftlichsten Verhältnis bleibt der Wille auf sich bezogen und damit in sich reflektierter und reflektierender Wille. Aus Trieb und Leidenschaft zu sich gekommen, bestimmt sich der Wille als wählender Wille oder als Willkür, die ihre Erfüllung im Beschluss als solchem findet. Doch ist der Wille als Willkür nur zufällig, wobei es nicht sein Bewenden haben kann: „Als der Widerspruch, sich in einer Besonderheit zu verwirklichen, welche zugleich für ihn eine Nichtigkeit ist, und eine Befriedigung in ihr zu haben, aus der er zugleich heraus ist, ist er zunächst der Proceß der Zerstreuung und des Aufhebens einer Neigung oder eines Genusses durch eine Andere und der Befriedigung, die diß eben so sehr nicht ist, durch eine andere ins Unendliche.“ (GW 20, 474; § 478) Eine Kehre muss erfolgen: Indem er das Allgemeinwohl will und sich die Glückseligkeit aller zum Zwecke setzt, will der Wille nichts, als was von allen zu wollen ist. Er ist damit in seiner Besonderheit Allgemeinwille bzw. jener Wille geworden, in welchem sich Allgemeines und Besonderes ineinander aufheben und im jeweils anderen sich selbst explizieren: denkender Wille. Als solcher ist er wirklich freier Wille geworden, der in der Einheit von Theorie und Praxis für sich als freier Wille ist, und der subjektive Geist ist als freier Geist, als der existente Begriff seiner selbst manifest. Freier Wille und denkende Intelligenz In diesen Zusammenhang gehört, was Hegel in der Einleitung seiner Rechtsphilosophie von 1821 über das Dasein des freien Willens in Recht, Moral und Sittlichkeit sagt. In ihnen erst gelangen Triebe, Begierden und Neigungen des Menschen zu ihrer vernünftigen Erfüllung. Freier Wille darf also mit Willkür keineswegs verwechselt werden. „Wenn man sagen hört, die Freiheyt überhaupt sey dieß, daß man thun könne, was man wolle, so kann solche Vorstellung nur für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden, in welcher sich von dem, was der an und für sich freye Wille, Recht, Sittlichkeit

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u.s.f. ist, noch keine Ahnung findet.“ (§ 15; GW 14/1, 38) Nur als denkende Intelligenz ist der Wille wahrhaft frei. Als denkende Intelligenz hinwiederum ist der freie Wille ein Wille, der nicht nur das Seine, sondern das Seine in der Einheit von Ich und Anderem will, kurzum: der frei nur unter Anerkennung und Achtung des freien Willens aller Subjekte sein will. Der freie Wille ist einzelner Wille in der Einheit von allgemeinem und besonderem Willen. In der reinen Unbestimmtheit arbiträrer Indifferenz verharrend ist der freie Wille hingegen kein neutrales Datum, sondern manifest böse. „Nur, indem er etwas zerstört, hat dieser negative Wille das Gefühl seines Daseyns; er meynt wohl etwa irgend einen positiven Zustand zu wollen, z. B. den Zustand allgemeiner Gleichheit oder allgemeinen religiösen Lebens, aber er will in der That nicht die positive Wirklichkeit desselben, denn diese führt sogleich irgend eine Ordnung, eine Besonderung sowohl von Einrichtungen, als von Individuen herbey, die Besonderung und objective Bestimmung ist es aber, aus deren Vernichtung dieser negativen Freyheit ihr Selbstbewußtseyn hervorgeht. So kann das, was sie zu wollen meynt, für sich schon nur eine abstracte Vorstellung, und die Verwirklichung derselben nur die Furie des Zerstörens seyn.“ (§ 5; GW 14/1, 32 f.) Der Wille muss also, um wahrhaft frei zu sein, von seiner indifferenten Unbestimmtheit freikommen und zur Unterscheidung und zum Setzen eines bestimmten Inhalts und gewollten Gegenstandes übergehen, um durch seine Besonderung hindurch zur Einzelheit als der manifesten Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit zu gelangen, die seinen Begriff und den Begriff des Begriffs als sich auf sich beziehender Negativität überhaupt ausmacht. Indem er von ihm Unterschiedenes nicht als bloßes Gegenteil und als Schranke seiner selbst begreift, sondern gewollt hervorbringt, ist er durch solchen Beschluss wahrhaft wirklicher Wille und frei geworden. Zugleich ist das Ziel der Philosophie des subjektiven Geistes und der springende Punkt erreicht, dass Subjektivität durch Denken und willentliches Handeln in Recht, Moral und Sittlichkeit objektive, institutionelle Gestalt annehme. Damit indes das bisher Gelesene wenn nicht auswendig gelernt, so doch durch Gewohnheit angeeignet und zum habituellen Eigenbesitz werde, sei zum Zwecke der Einübung in rechtes Wissen und Tun der Theorieweg des subjektiven Geistes hin zum Denken sowie der Realisierungsgang entwickelter Intelligenz mittels vernünftiger Praxis noch einmal durchlaufen und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Zweitauflage der Enzyklopädie sowie der Stolzenbergnachschrift des Kollegs vom WS 1827/28; auch auf die Phänomenologie von 1807 wird erneut Bezug genommen werden.5 5 Als Begleitlektüre sei die am Ende von Kapitel 5 anmerkungsweise erwähnte „Psychologie oder Wissenschaft vom subjectiven Geist“ (Königsberg 1837, 2 1843, 3 1863) des Hegelschülers

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Anschauung und Vorstellung. Der Theorieweg des subjektiven Geistes zum Denken

Thema des dritten Teils von Hegels Lehre vom subjektiven Geist, wie er anhand der Griesheimnachschrift der Vorlesung vom SS 1825 in Grundzügen zur Darstellung gebracht wurde, ist der endliche Geist in seiner theoretischen und praktischen Entwicklung hin zu jener vernünftigen Freiheit, deren Verfassung die Lehre vom objektiven Geist zu bedenken hat.6 Seit der Zweitauflage der (und Biographen des Meisters) Karl Rosenkranz empfohlen, der seit 1833 an der Königsberger Universität als Nachfolger Kants, Krugs und Herbarts Philosophie lehrte. In der Polemik gegen ihn und sein Denken wurde dieser Umstand gerne benutzt, um ihn, wie er in der Zweitauflage der „Psychologie“ eigens vermerkt, bald mit diesem, bald mit jenem „verkleinernd zu kontrastieren“ (376). Sachlich besteht dazu kein Anlass. Zwar will seine „Wissenschaft vom subjectiven Geist“ nur einen Kommentar zu dem enzyklopädischen Entwurf Hegels geben. „Sie macht in Ansehung der Grundanschauung und der allgemeinen Organisation des Stoffs nicht auf die geringeste Neuheit Anspruch.“ (VIII) Gleichwohl hat sie den Vorzug großer Detailgenauigkeit und Begriffspräzision. Zu vernünftiger Freiheit gelangt ist der Geist Rosenkranz zufolge als subjektiver „in seiner Endlichkeit unendlich“ (XXV), um sich durch den in seiner Unendlichkeit endlichen objektiven Geist zum Absoluten zu erheben und „in seiner Unendlichkeit unendlich“ (XXVI) zu sein. Von besonderem Interesse ist der Anhang der Zweitauflage der Rosenkranz’schen Psychologie, der eine „Widerlegung der von Herrn Dr. Exner gegebenen vermeintlichen Widerlegung der Hegel’schen Psychologie“ (365–430) enthält. F. S. Exner, der seit 1831 in Prag Philosophie lehrte, hatte Anfang der 40er Jahre zwei polemische Hefte gegen „Die Psychologie der Hegel’schen Lehre“ publiziert. Die Replik von Rosenkranz enthält bemerkenswerte Erwägungen zu Rückbezügen Hegels auf das Wolff ’sche System (409ff.), zur trichotomischen Darbietung des Stoffs (355ff.), zur Gedankenfigur der Negation der Negation (407ff.), zur dialektischen Methode (387ff.) in ihrem Verhältnis zur Logik und ihren Kategorien (399ff.), zum Verhältnis von dialektischer und realer Genesis (402ff.) sowie von Spekulation und Erfahrung (378ff.). Bemerkt zu werden verdient fernerhin die Erwägung von Rosenkranz, „vom Begriff des Bösen eine weitere Eyposition“ (XXXI) zu geben (vgl. Kap. 16,3). Schließlich begnügt er sich mit der Feststellung: „Das Böse existirt nur als die actuose Negation der Idee.“ (XXXII) Es sei keine bloße Defizienz, sondern „die durch die Freiheit gegen ihr Wesen gesetzte Unfreiheit“ (ebd.), „worin aus der Freiheit nur das Radical der Willkür verbleibt“ (ebd.). 6 Geist ist der Mensch nicht an sich, in seiner naturhaften Verfassung. Zwar kann Hegel von Naturgeist sprechen, wenn er das Thema seiner „Anthropologie“ benennt. Aber diese ist, wie der natürliche Geist, von dem sie handelt, lediglich Moment und zwar aufzuhebendes Moment der Philosophie des subjektiven Geistes. Subjektiver Geist heißt, was der Mensch nicht einfachhin ist, sondern zu sein bestimmt ist. Erst wenn sein Wesen von den naturgebundenen Anfängen über Bewusstsein und Selbstbewusstsein zur Vernunft gebracht ist, um in vernünftiger Theorie und Praxis sich zu verwirklichen, kann der Mensch wahrhaft subjektiver Geist genannt werden. Von dem seinem Begriff entsprechenden subjektiven Geist handelt Hegel unter dem Titel „Psychologie“, worunter er nicht Seelenlehre im „anthropologischen“ Sinne versteht, auch nicht, wie in Teilen der überkommenen Philosophie, das „Vermögen oder allgemeine Thätigkeitsweisen des Geistes als solchen“ (GW 19, 325, 21f.), sondern den Prozess

Anschauung und Vorstellung. Der Theorieweg des subjektiven Geistes zum Denken

Enzyklopädie (vgl. §§ 440–481; GW 19, 325–351) wird dieser Teil mit dem Titel „Psychologie“ versehen, der in der Erstauflage von 1817 (vgl. §§ 363–399; GW 13, 204–223) noch fehlt. Der Gang der Entwicklung und ihr Skopus sind in allen Enzyklopädieausgaben bis hin zur derjenigen von 1830 (vgl. §§ 440–482; GW 20, 434–477) identisch. Ziel ist die geistige Aufhebung der Differenz von Anthropologie und Geistphänomenologie bzw. des Seelen- und des Bewusstseinslebens des Menschen. Führt das menschliche Bewusstsein über das unmittelbare Innesein der Innen-Außen-Differenz, wie sie im Gefühl statthat, hinaus und zu einer distinkten Unterscheidung von Ich und Gegenstandswelt, so transzendiert der zur Vernunft gelangte subjektive Geist die Differenz von Subjekt und Objekt und triumphiert über jeden Widerspruch: „der Geist ist, das ursprünglich in sich Versöhnte.“ (GW 25/2, 798, 20) Denn er ist gewiss, „daß die Welt die ihm gegen über steht, vernünftig ist, daß, wenn er sich denkend an sie wendet, das System seiner Denkbestimmungen in derselben vorfindet.“ (GW 25/2, 799, 6–8)

fortschreitender Entwicklung des endlichen Menschengeistes als der „Wahrheit der Seele und des Bewußtseyns“ (GW 19, 325, 15) im Vollzug der Realisierung seiner Vernunft. Bei den geistigen Entwicklungsfortschritten ist dabei Hegel zufolge nicht, jedenfalls nicht in erster Linie an phylo- oder ontogenetische Prozesse empirischer Natur (vgl. GW 19, 326, 27ff.), sondern an Prozessvollzüge zu denken, die im Realbegriff des Geistes selbst ihren Grund haben. Hat dieser es doch in der Philosophie des Geistes mit nichts anderem als mit sich selbst und seiner Bestimmung zu tun, der seine Entwicklung zu entsprechen hat und tatsächlich entspricht. Dies gilt nicht zuletzt dahingehend, dass der subjektive Geist seine Endlichkeit auf das Unendliche hin zu transzendieren hat, das nach Durchgang durch die Lehre vom objektiven in der Lehre vom absoluten Geist in ästhetischer, religionsphilosophischer und philosophisch-spekulativer Weise zu bedenken ist. Die Schranken der Endlichkeit lässt der subjektive Geist auf keiner seiner Entwicklungsstufen gänzlich hinter sich, und auch der objektive Geist bleibt ihnen auf seine Weise verhaftet, wie der Verlauf der Welt- und Menschheitsgeschichte beweist. Allerdings ist die geistige Endlichkeit des Menschen mit der seines Seelen- und Bewusstseinslebens nicht unmittelbar vergleichbar. „Die Seele ist endlich, in sofern sie unmittelbar oder von Natur bestimmt ist; das Bewußtseyn, in sofern es einen Gegenstand hat; der Geist, in sofern er nicht mehr zwar einen Gegenstand, aber eine Bestimmtheit unmittelbar in seinem Wissen hat, oder in sofern sie eine von ihm nur gesetzte ist. An und für sich ist er die schlechthin unendliche, objektive Vernunft, die sein Begriff, und deren Realität das Wissen oder die Intelligenz ist.“ (GW 19, 326, 6–11) Endlich ist der subjektive Geist nicht wegen einer ihm äußeren Schranke, sondern einer inneren Beschränktheit wegen, die darin begründet liegt, dass er sich in seiner Geistigkeit nicht absolut, sondern nur so zu begreifen vermag, dass er die Unendlichkeit des Absoluten von sich unterscheiden und als eine nicht von ihm selbst gesetzte Voraussetzung voraussetzen muss. Damit hat eine Selbstverendlichung statt, die zwar zum Begriff des subjektiven Geistes gehört, insofern er vom absoluten unterschieden ist, die aber philosophisch aufgehoben und zum Moment der Geistentwicklung herabgesetzt werden muss, soll das Absolute als Absolutes gewusst und begriffen werden.

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Für den entwickelten subjektiven Geist stellt die gegenständliche Welt nicht länger eine Schranke dar, da er die Differenz zu ihr in sich aufgehoben und vernünftig transzendiert hat. Gleichwohl bleibt er endlich, insofern er die ihm eigene Vernunft noch nicht zum Gegenstand gemacht und in ihrer Totalität entfaltet hat. Diese Entfaltung wird im Durchgang durch den objektiven erst vermöge des absoluten Geistes geleistet werden, dessen unendliches Wesen in der Hegel’schen Ästhetik, Religionsphilosophie und philosophischen Wissenschaftslehre thematisiert wird. Als ein Indiz dafür, dass der subjektive Geist erst zur Gewissheit, aber noch nicht eigentlich zur Wahrheit der Vernunft gelangt und damit als endlich zu qualifizieren ist, deutet Hegel die Tatsache, dass er die ihm gewisse Vernünftigkeit durch Theorie und Praxis allererst zu realisieren hat.7 Sein theoretisches Bestreben geht dahin, sich alles Äußere vernünftig anzueignen, sein praktischer Wille ist darauf aus, die eigene Vernünftigkeit äußerlich zu machen, damit eine vernünftige Welt sei. Ausdrücklich wendet sich Hegel gegen die traditionelle Bestimmung von Intellekt und Wille als Vernunftvermögen bzw. vernünftige Tätigkeitsweisen: in beiden Annahmen liege „die schlechte Vorstellung, daß jede derselben für sich isoliert sei, und der Geist also nichts wäre als eine Sammlung von solchen Kräften und Täthigkeiten“ (GW 23/2, 805, 2–4). In Wahrheit handle es sich bei intellektuellen und praktischen Vernunftvollzügen um „Momente in dem System des Thuns des Geistes überhaupt“ (GW 23/2, 7f.). Entwicklungsstufen theoretischer Vernunft Während der subjektive Geist durch willentliche Praxis Vernünftiges „aus sich zu produciren“ (GW 25/2, 805, 24) sucht, ist er theoretisch darum bemüht, das 7 Was die Gliederung des dritten, „Psychologie“ betitelten Teils der Hegel’schen Philosophie des subjektiven Geistes angeht, so ist er in der Zweitauflage der Enzyklopädie in einen theoretischen und einen praktischen, einen vernünftiges Wissen und einen das Tun und Lassen vernünftigen Willens betreffenden Teil untergliedert. Über den Sinn dieser Unterscheidung, den er von jeder „falschen Trennung“ (GW 19, 329, 7f.) abheben will, hat sich Hegel ausführlich in einem Kommentar geäußert, der dem 445. Paragraphen beigegeben ist. Entschieden wendet er sich dort gegen jeden Versuch, den Menschengeist als ein „Aggregatwesen“ (GW 19, 329, 33f.) verstehen zu wollen, das sich aus diversen Potenzen zusammensetzt wie etwa derjenigen der Intelligenz oder des rationalen Wollens. Theorie und Praxis, Denken und Handeln, Wissen und Tun sind Bestimmungsmomente im Begriff des subjektiven Geistes, deren Bedeutung sich nur aus dem Vollzug seiner Selbstrealisierung heraus erschließt. Die Selbstrealisierung des subjektiven als eines theoretischen und praktischen Geistes ist ihrerseits durch jeweils drei Momente bestimmt: Anschauung, Vorstellung und Denken in theoretischer, Wollensgefühl, triebhafte Neigung und zur Freiheit gelangter Wille in praktischer Hinsicht. In der Drittauflage der Enzyklopädie werden dann Willensfreiheit und vernünftiges Denken als Vollendungsmomente der Entwicklung subjektiver Geistigkeit eigens zum freien Geist synthetisiert, durch dessen Vermittlung die Philosophie des subjektiven in diejenige des objektiven Geistes übergeht.

Anschauung und Vorstellung. Der Theorieweg des subjektiven Geistes zum Denken

„Vorgefundene zu dem Seinigen zu machen“ (GW 25/2, 805, 16). Dennoch sind Theorie und Praxis „nicht unterschieden wie passiv und aktiv“ (GW 25/2, 806, 7). Zwar scheint der theoretische Geist lediglich hinnehmend und leidentlich zu sein: „aber er ist es nicht; er ist sogleich thätig“ (GW 25/2, 806, 9), indem er das ihm vorgegebene Andere produktiv aneignet und aktiv zu dem Seinen werden lässt. Drei Stufen sind nach Hegel in Bezug auf das theoretische Wirken des subjektiven Geistes zu betrachten: Anschauung, Vorstellung und Denken. In der theoretischen Anschauung verhält sich der subjektive Geist unmittelbar zu sich. In der Vorstellung tritt er aus dem bloßen Gefühl seiner selbst heraus, um seine Unmittelbarkeit zu vermitteln und zwar durch Erinnerung, Einbildungskraft und Gedächtnis. Mittels des Gedächtnisses wird schließlich das Denken ermöglicht, mit dessen Erschließung sich die Lehre vom theoretischen Tun des subjektiven Geistes vollendet. Was die Anschauung als das erste Entwicklungsmoment des theoretisch tätigen subjektiven Geistes anbelangt, so ist der Intellekt in ihr unmittelbar seiner selbst inne, um sein ganzes und ungeteiltes Dasein zu fühlen. Die theoretische, man kann auch sagen: die intellektuelle Anschauung ist, mit der Erstauflage der Enzyklopädie zu reden, „das dumpfe Weben des Geistes in sich selbst, worin er sich stoffartig ist, und den ganzen Stoff seines Wissens hat. Um der Unmittelbarkeit willen, in welcher der Geist als fühlend oder empfindend ist, ist er darin schlechthin nur als einzelner und subjectiver.“ (§ 369; GW 13, 17–21) Damit die theoretische Anschauung des subjektiven Geistes sich nicht in der isolierten Partikularität ihrer Gefühlsunmittelbarkeit abschließe8 , bedarf es 8 Hegel nennt das Anfangsmoment theoretischer Anschauung Gefühl, nicht ohne sich zugleich vehement gegen „ein gewöhnliches Vorurtheil“ (GW 19, 330, 24) zu wenden, „daß im Gefühl mehr sey als im Denken“ (GW 19, 330, 24f.). Zwar sei das Gefühl des theoretischen Sinnganzen inne, aber auf lediglich fühlende und damit auf indifferente, ebenso unbestimmte wie unentwickelte Weise. Geleugnet wird nicht, um es im Stile Hegel’scher Schleiermacherkritik zu sagen, dass sich im Gefühl das Universum zur Anschauung bringe; aber weil dies im Modus der Unmittelbarkeit geschehe, sei das fühlende Anschauen „die unterste und schlechteste“ (GW 19, 330, 30) Theorieform des subjektiven Geistes. Berufe sich einer mithin ohne Anerkennung weitergehender Argumentationspflichten auf sein Gefühl „so ist nichts anders zu thun, als ihn stehen zu lassen, weil er sich dadurch der Gemeinschaft der Vernünftigkeit verweigert, und sich in seine isolirte Subjectivität, die Particularität, abschließt“ (GW 19, 331, 6–8). Aus der Selbstversunkenheit lediglich fühlender Anschauung seiner Geistigkeit arbeitet sich der subjektive Geist dadurch heraus, dass er auf geistige Momente, die ihn konstituieren, aufmerksam wird und durch „die Aufmerksamkeit, ohne welche nichts für ihn ist“ (GW 19, 331, 11f.), und durch „Erinnerung in sich“ (GW 19, 331, 27f.) zu jener Vorstellung gelangt, in der ihm seine Geistigkeit als die seine vorstellig wird, sodass der subjektive Geist nicht länger Geist an sich, sondern auch für sich ist. Es ist Hegel zufolge angemessen, das Gefühl, mit welchem die Selbstanschauung des Geistes ihren Anfang nimmt, sinnvoll und sinnig zu nennen, insofern sich in ihm der Sinn des Ganzen und des geistigen Lebens insgesamt manifestiert. Als unangemessen hingegen müsse die unmittelbare Form dieser Manifestation beurteilt werden. Dabei könne es

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eines Schrittes der Vermittlung hin zur vorstellenden Tätigkeit der Intelligenz als der Reflexionsstufe der Anschauung. Er vollzieht sich in Form dessen, was Hegel Aufmerksamkeit als die formelle Selbstbestimmung der Intelligenz nennt. Indem sie aufmerkt, wird die Anschauung dahin geführt, den Inhalt ihrer gefühlten Geistempfindung von innen her außer sich zu setzen und vermöge der Anschauungsformen von Raum und Zeit raumzeitlich vorstellig zu machen und zwar im Modus der Erinnerung. Erinnernde Anschauung „Die Vorstellung“, sagt Hegel in § 451 der Zweitauflage der Enzyklopädie, „ist als erinnerte Anschauung die Mitte zwischen dem unmittelbaren Bestimmt-sichfinden der Intelligenz und zwischen derselben in ihrer Freiheit, dem Denken.“ (GW 19, 332, 3–5)9 In der Vorstellung wird der Inhalt, der in der Anschauung unmittelbar gegeben war, eigens und damit auf vermittelte Weise wahrgenommen und zwar zunächst in der Form des Erinnerungsbildes, in dem einmal Gesehenes oder durch andere Sinne in Erfahrung Gebrachtes, obwohl längst vergangen, anschaulich vergegenwärtigt wird. Das Erinnerungsbild hat eine repräsentative und reproduktive Funktion, indem es geistig zur Anschauung bringt und vorstellig macht, was sinnlich längst entschwunden ist. Wer eine Vorstellung in Form erinnerter Anschauung hat, ist im Bilde, freilich nur momentan, weil das Erinnerungsbild für sich genommen vorübergehend ist. Doch verfällt es nicht zwangsläufig dem Vergessen, insofern es, auch wenn es nicht mehr unmittelbar präsent ist, doch auf vermittelte Weise erneut gegenwärtig werden und in Erinnerung gebracht werden kann. Hegel vergleicht in diesem Zusammenhang die Intelligenz mit einem, wie es in § 453 der Zweitauflage der Enzyklopädie heißt, „nächtlichen Schacht, in welchem eine Welt unendlich vieler Bilder und Vorstellungen aufbewahrt ist, ohne daß sie im Bewußtseyn wären“ (GW 19, 332, 25–27). Sie aus jener Dunkelheit, in welcher sinnvollerweise nicht sein Bewenden haben. Die Formen von Gefühl und Anschauung seien zu beheben, dass der subjektive Geist seine Geistigkeit zu Bewusstsein bringe und sie objektiv verwirkliche. 9 Durch das, was Hegel Vorstellung nennt, wird, was Anschauung heißt, jedweder Äußerlichkeit entnommen und dergestalt verinnerlicht, dass dem subjektiven Geist seine Geistigkeit theoretisch als die seine vorstellig wird, ohne dass es zu diesem Vorstelligwerden noch eines äußeren Anhalts bedürfte. Als „erinnerte Anschauung“ (GW 19, 332, 3) hat die Vorstellung in sich selbst Bestand und mit ihr die Intelligenz des subjektiven Geistes, die mittels ihrer zu sich und zum Bewusstsein ihrer selbst kommt. Die Anschauung erinnernd bildet sich die Vorstellung deren geistigen Gehalt ein, indem sie alle Anschaulichkeit aufhebt und im Inneren des subjektiven Geistes theoretische Bilder entwirft, die nicht mehr unmittelbar an etwas Äußerem haften. Durch die Erinnerung als erstes Vorstellungsmoment wird das Außen seiner Äußerlichkeit und anschaulichen Unmittelbarkeit entnommen und dem Inneren übergeben, in dem es verbleibt, auch wenn es äußerlich nicht mehr da ist.

Anschauung und Vorstellung. Der Theorieweg des subjektiven Geistes zum Denken

sie als „nicht mehr existirend (bewusstlos) aufbewahrt“ (ebd.) sind, erneut ans Licht zu holen, darin besteht nach Hegel die eigentümliche Leistung der Erinnerung10 , in der sich ihr Begriff erfüllt, um sich in der Kraft einer Einbildung als mächtig zu erweisen, die zuletzt keinerlei äußerer Anschauung mehr bedarf, um Vorstellungen hervorzubringen. Erinnerungsbilder Erfüllt sich der Begriff der Einbildung kraft ihrer Produktivität, so ist ihre Anfangsbestimmung doch diejenige einer reproduktiven Einbildungskraft. Sie ruft Bilder aus der dem Ich eigenen Innerlichkeit hervor, die von außen an es gelangt sind. Bereits durch die reproduktive Kraft der Einbildung ist der subjektive Geist der Äußerlichkeit der sinnlichen Außenwelt mächtig. Der Gebildete weiß das, und seine Gewissheit bestätigt sich eben dadurch, dass seine Anschauungen im Wesentlichen aus Erinnerungen bestehen: Er „kennt alles schon so ziemlich“ (GW 25/2, 829, 16), wie Hegel sagt. Anders als Kinder und „andre müßige neugierige Leute“ (GW 25/2, 830, 9) wird er daher nicht stets vermeintlich neuen Sinneseindrücken nachjagen, um zuletzt nichts als eitlen Kontingenzschutt anzuhäufen, sondern sich an die Bilder der Erinnerung halten, die er stets und ohne jeden sinnlichen Aufwand zu reproduzieren vermag. Einen weiteren Zuwachs wird die Bildung des Gebildeten dadurch erfahren, dass er die kraft geistiger Einbildung reproduzierten Erinnerungsbilder zunächst in Form einer Assoziationskette, dann nach streng kategorialen Mustern ordnet, um sie unter allgemeine Bedeutungsaspekte zu subsumieren. Hegel spricht diesbezüglich von symbolisierender Phantasie, welche die Erinnerungsbilder mit gleichsam allegorischem Sinn versieht und so zu Sinnbildern macht. Zur Vollendung ihrer Macht und Möglichkeiten gelangt die Einbildung als zweite Stufe theoretischen Vorstellens des subjektiven Geistes in demjenigen, was Hegel zeichensetzende Phantasie nennt.11 Durch sie wird, was ist, zur Spra10 Der Geist der Erinnerung negiert, indem er sie in bewusstlose Sphären versenkt, die Äußerlichkeit der Außenwelt, nicht aber auf abstrakte Weise und so, dass er sie einem indifferenten Nichts überlässt. Würde er derart verfahren, müsste er als umnachtet und tendenziell entschlafen gelten. Der wache und helle Geist hingegen gibt dem Vollzug erinnernder Anschauung das Angeschaute nicht prinzipiell, sondern nur momentan der Vergessenheit preis, um es der Möglichkeit nach jederzeit und an jedem Ort in Erinnerung zu rufen, um sich darüber äußern zu können. „Die innere Vorstellung, die nun zugleich mit der Bestimmung der Aeußerlichkeit im Besitze der Intelligenz ist, ist damit zugleich als unterscheidbar von der Anschauung und trennbar von der einfachen Nacht, in der sie zunächst versenkt ist, gesetzt. Die Intelligenz ist so die Gewalt sie äußern zu können, und für die Existenz solcher Vorstellung in ihr nicht mehr der äußern Anschauung zu bedürfen.“ (GW 19, 333, 10–15) 11 Hegel unterscheidet Zeichen ausdrücklich von Symbolen, wobei er ersteren letzteren gegenüber einen, wenn man so will, höheren Grad an Intelligenz zuerkennt. Während beim

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che gebracht und zwar kraft einer nicht mehr lediglich reproduktiven, sondern produktiven Einbildungskraft. Zeichensetzende Phantasie Sprache hebt die Gegenstandswelt ins Wort auf und bringt auf den Begriff, was Sache ist. Hegel erörtert das Thema der Sprachbildung in seinem enzyklopädischen System sehr ausführlich. Im Reden und Sprechen werden natürliche Töne ihrer bloßen Natürlichkeit enthoben und in den Dienst geistiger Verlautbarung gestellt, damit durch akustische Signalgebung eine vernünftige Verständigung erzielt werde. Mit der Zweitauflage der Enzyklopädie zu reden: „Der für die bestimmten Vorstellungen sich weiter articulirende Ton, die Rede und ihr System, die Sprache gibt den Empfindungen, Anschauungen ein zweites höheres, als ihr unmittelbares Daseyn und den Vorstellungen überhaupt eine Existenz, die im Reiche des Vorstellens gilt.“ (GW 19, 336, 25–28) Sprechend und beredt werden Töne nicht kraft ihres natürlichen Daseins, sondern als Lautzeichen, die fortschreitende geistige Bedeutung gerade dadurch gewinnen, dass ihre Eigenbedeutung immer mehr dahinschwindet. Zwar bleibt das akustische Signal in seiner eigentümlichen Spezifizität die Naturbasis der Tonsprache; ein Mittel vernünftiger Verständigung und damit ein Medium, das Sprache zu nennen ist, wird diese allerdings erst, wenn das natürliche Tönen transzendiert und Tonzeichen ausgebildet werden, deren geistiges Bedeutungsvermögen umso größer ist, je weniger sie an sich selbst bedeuten. Das „Princip der Nachahmung“ (GW 19, 337, 3) will Hegel dezidiert auf den engen Bereich sog. tönender Gegenstände beschränkt wissen. So möge, wer wolle, bewundern, wie im Deutschen die akustischen Phänomene von „Rauschen, Sausen, Knarren u. s. f.“ (GW 19, 337, 6) lautmalerisch zur Sprache gebracht werden; zu den Indizien einer gebildeten Sprache seien verbale Imitationen nonverbaler Vorgänge gleichwohl nicht zu rechnen. Ihr Charakteristikum sei es, in bildloser Zeichenhaftigkeit vorstellig zu machen, was Sache ist, und nicht eine vermeintliche Vorgegebenheit abzubilden. Symbolisieren ein Entsprechungszusammenhang zwischen Symbol und Symbolisiertem in Anschlag gebracht wird dergestalt, dass die Eigenbedeutung des Symbols in Beziehung steht zur Bedeutung des in ihm Symbolisierten, ist diese Beziehung im Falle von Zeichen gänzlich gekappt. „Das Zeichen ist irgend eine unmittelbare Anschauung, aber die einen ganz anderen Inhalt vorstellt, als den sie für sich hat; – die Pyramide, in welche eine fremde Seele versetzt und aufbewahrt ist.“ (GW 19, 335, 24–26) Erst die Herabsetzung seiner Eigenbedeutung zur Bedeutungslosigkeit macht das Zeichen zu einem intelligenten Bedeutungsträger. „Als Bezeichnend beweist“, so Hegel, „die Intelligenz eine freiere Willkühr und Herrschaft im Gebrauch der Anschauung, denn als symbolisirend.“ (GW 19, 335, 31f.) Im Unterschied zur Symbolisierung ist Zeichensetzung ein nicht nur reproduktives, sondern produktives Geschäft, wofür Sprachbildung ein exemplarischer Beleg ist.

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Nach Hegels Urteil sind Tonzeichen umso bedeutsamer, je weniger Eigenbedeutung sie beanspruchen. Diese ist ganz dem Sprachzusammenhang anheimzustellen, in dessen Kontext Verlautbarungen ihren worthaften Sinn erhalten. Die grammatische Strukturierung der Wortsprache leistet dabei der Verstand, „der seine Kategorien in sie einbildet“ (GW 19, 337, 16). Gleichwohl kann eine vernünftige Hermeneutik durch rationale Grammatikanalyse nicht ersetzt werden. Dies trifft Hegel zufolge sowohl für die Tonsprache als auch für Schriftsprache und das Verständnis von literarischen Erzeugnissen zu. In der Schriftsprache werden Töne, deren Eigenbedeutung bereits ganz hinter die Bedeutung zurückgetreten ist, die sie im Wortzusammenhang zum Ausdruck zu bringen haben, durch buchstäbliche Zeichen ersetzt, die an sich selbst ebenfalls bedeutungslos und willkürlich gewählt sind. Die Buchstabenschrift „besteht daher aus Zeichen der Zeichen, und so, daß sie die concreten Zeichen der Tonsprache, die Worte, in ihre einfachen Elemente auflöst, und diese bezeichnet“ (GW 19, 337, 32–34). Gedächtnis und Denken Seine theoretischen Selbstvollzüge vollendet der subjektive Geist im Denken, nachdem er, was Hegel Vorstellung nennt, von der Unmittelbarkeit geistiger Anschauung im Gefühl über die Einbildungskraft ins Gedächtnis aufgehoben hatte. Kraft des Gedächtnisses bleibt die durch Namenszeichen repräsentierte Sache namentlich in Erinnerung dergestalt, dass sie jederzeit vergegenwärtigt werden kann, ohne aktuell präsent zu sein. So bedarf es, um es bei dem schon erwähnten Beispiel zu belassen, zum Verständnis dessen, was der Name Löwe besagt und bedeutet, „weder der Anschauung eines solchen Thieres, noch auch selbst des Bildes, sondern der Name, indem wird ihn verstehen, ist die bildlose einfache Vorstellung. Es ist im Namen, daß wir denken.“ (GW 19, 340, 5–8) Hegel verweist ausdrücklich auf die nahe Verwandtschaft, die im Deutschen zwischen den Begriffen des Gedächtnisses und der Gedanken besteht (vgl. GW 19, 342, 8–10). Dies komme nicht von ungefähr: bezeichne doch das Gedächtnis, das alles Erinnerte als Erinnertes in sich enthalte, den „Uebergang in den Gedanken“ (GW 19, 342, 4f.) insofern, als in diesem dasjenige, dessen das Gedächtnis gedenkt, ohne jeden „Gegensatz gegen eine subjective Innerlichkeit“ (GW 19, 342, 16) gedacht werde. Das Denken weiß seine Gedanken an keinerlei äußere Vorstellungen mehr gebunden, sondern restlos und vollkommen als seine eigenen. Hegel rechnet es zu den schwierigsten Problemen der Lehre von den theoretischen Denkvollzügen des subjektiven Geistes, „in der Systematisirung der Intelligenz die Stellung des Gedächtnisse zu fassen, und dessen organischen Uebergang in das Denken zu begreifen“ (GW 19, 342, 19–21). Bleibt alles Vor-

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stellen bis hin zum Gedächtnis, das es in sich aufhebt, mit einem Moment des Gegensatzes zwischen Gedenken und demjenigen behaften, dessen das Gedenken gedenkt, so ist diese Differenz im Verhältnis von Denken und Gedanken gänzlich behoben und nicht einmal mehr momentan präsent. „Der Gedanke ist die Sache; einfache Identität des Subjectiven und Objectiven. Was gedacht ist, ist; und was ist, ist nur, in sofern es Gedanke ist.“ (GW 19, 342, 27–29) In Gedanken expliziert das Denken kein ihm Anderes, sondern das Andere seiner selbst. Es erweist sich somit als alles bestimmende Wirklichkeit, allerdings nicht unmittelbar, sondern auf vermittelte Weise, nämlich so, dass es das gedanklich Bestimmte in seiner Selbstbestimmtheit zur Geltung bringt. In seinem Gedenken achtet das Denken das Anderssein des Anderen, in dem es sich selbst expliziert. 11.3

Die entwickelte Intelligenz und ihr tätiger Wille

In der zeichenmachenden, semiotischen Phantasie hat die Einbildungskraft ihre äußerste Leistungsfähigkeit erreicht, um mittels des Gedächtnisses dem Denken Bahn zu brechen. Zeichen sind nicht nur künstliche Setzungen des Geistes, sondern im Unterschied zu Symbolen für sich genommen bedeutungslos. Das Zeichen entspricht dem, was es bezeichnen soll, nicht nur nicht, sondern ist diesem durch keinerlei Ähnlichkeit verbunden. Spätestens im Sprachzeichen des Wortes wird dies evident. Eignet vorsprachlichen Zeichen wie Schildern, Wegweisern u.ä. oder Gesten und Gebärden eine gleichsam symbolnahe Wirkweise, so ist die Symbolnähe in der Sphäre verbaler Zeichensetzung behoben, was u. a. daraus erhellt, dass als ihre, wenn man so will, Grundmaterie der organisch hervorgebrachte Ton fungiert, für dessen sinnliche Erscheinung Flüchtigkeit kennzeichnend ist. Noch einmal: Vom Sprechen zum Denken Wie sich der mündlich erzeugte Ton zu anderen Klangerzeugnissen verhält, wäre einer eigenen Untersuchung wert. Im gegebenen Zusammenhang genügt die Feststellung, dass der in der differenzierten Einheit von Selbstlaut und Mitlaut, von Vokalen und Konsonanten artikulierte Ton die Silbe als Grundeinheit des Wortes erzeugt. Durch die bestimmten Regeln folgende Wortverbindungen werden sodann Sätze hervorgebracht, durch deren Aneinanderreihung der subjektive Geist seinen Vorstellungen Ausdruck verschafft. Sprache ist ihrem Begriff nach eine Schöpfung der Zeichen setzenden Intelligenz des subjektiven Geistes und keine Naturgegebenheit, so sehr Ansätze semiotischer Signalsetzungen bereits im Naturreich namentlich entwickelter Tiere zu beobachten

Die entwickelte Intelligenz und ihr tätiger Wille

sind. Die Anleihe, die menschliches Sprechen in Form des Tones bzw. organischen Tönens durch Kehl-, Lippen- und Zungenlaute an der sinnlichen Natur nimmt, ist in seinem Vollzug nur mehr als aufgehobenes Moment präsent. Zwar bildet sich die Stimme erst allmählich zum artikulierten Sprechen heran, von mehr oder minder unartikuliertem Geplapper beginnend über Lautmalereien der imitativen Art bis hin zu Artikulationen, die klaren grammatikalischen und syntaktischen Ordnungen folgen. Aber sobald der Mensch sprechen gelernt hat, was ohne Verstand und vernünftige Selbstverständigung nicht möglich ist, gilt ihm die natürliche Tonerzeugung, die er tätigt, nur mehr als ein im Verschwinden begriffenes und dem Vergessen anheimzustellendes Moment seiner Sinnexplikation. Entsprechendes gilt vom sinnlichen Eindruck, dessen Unmittelbarkeit in die Sprache eingeht, um in ihr aufgehoben zu werden. Sprache kann Abwesendes vergegenwärtigen, und sie vermag dies durch produktive Einbildungskraft, näherhin durch zeichensetzende Phantasie. Zeichen verweisen auf etwas, was sie nicht unmittelbar selbst sind. Sie zeigen und deuten. Der Fingerzeig kann in diesem Sinn als elementares Beispiel der Zeichengebung gelten. Der Verweischarakter, der ihn kennzeichnet, enthält u. a. einen Hinweis darauf, dass selbst naturhaft Gegebenes zu seiner Bedeutung erst im Zusammenhang eines Deutungsvollzugs gelangt. Durch Deuten, wie es im Fingerzeig beispielhaft statthat, wird dasjenige identifiziert, worauf verwiesen wird. Ohne diese Identifikation ist das Gezeigte nicht bedeutsam. Bedeutsame Zeichen Die Wissenschaft von den Zeichen im Allgemeinen wird in der Regel Semiotik (von griech. sema), gelegentlich auch Semantik genannt. Im spezifischen Sinne bezeichnet Semantik die Lehre von der Beziehung des Signifikanten zum Signifikat, also des Zeichens als Zeichen zu dem von ihm Bezeichneten, ohne welche Bedeutsamkeit nicht zustande kommt. In jedem Fall bilden Semiotik und Semantik einen untrennbaren Zusammenhang, sofern Zeichen überhaupt nur dann etwas bedeuten, wenn sich im Zeichenvollzug Signifikant und Signifikat auf differenzierte Weise vereinen. Dies gilt insonderheit für Sprachzeichen, in deren Zusammenhang sich ungleich komplexere Bedeutungen generieren lassen als dies durch einen bloßen Fingerzeig oder ein lediglich naturhaft gegebenes Zeichen möglich ist. Indem es zur Sprache gebracht wird, gewinnt das unwillkürlich Gegebene erst jene Bedeutung, die es für sich genommen nicht nur nicht hätte, sondern ohne die es nicht dasjenige wäre, was es ist. Zwar setzt Sprechen sinnliche Eindrücke voraus, was sich im unartikulierten Laut entsprechenden Ausdruck verschafft, der seinerseits ein Indiz für Sinnlichkeit überhaupt als der conditio sine qua non bedeutsamer Rede ist. Aber so wie die in und durch die Natur gelegte Spur des

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Lesens bedarf, um verstanden zu werden, so kann jedwedes sinnliche Datum überhaupt nur dadurch identifiziert und als gegeben wahrgenommen werden, dass es durch Zeichen gezeigt und gedeutet wird, was umso differenzierter geschieht, je umfassender der Deutehorizont angesetzt ist. Sprache ist ein Geistprodukt, durch die Kraft der Einbildung erzeugt. Für die Schrift gilt dies nicht minder. Zwar scheint in ihr der subjektive Geist auf eine Stufe unterhalb semiotischer Phantasie zurückzufallen. Doch gilt dies allenfalls für die hieroglyphische Bilderschrift oder für keilschriftliche Notationen, nicht aber für die Buchstabenschrift, die nach Hegels Urteil den subjektiven Geist keineswegs in den erneuten Bann von Anschauung und Vorstellung stellt, sondern im Gegenteil seine Erhebung zum Denken befördert; Schreiben und Lesen böten die besten Voraussetzungen, sich in seinem Gebrauch zu üben und zwar durch Pflege des Gedächtnisses. Dieses behält die sachliche Bedeutung des verbal und buchstäblich Bezeichneten in sich, sodass sie stets abrufbar und offen ist für erneutes Verstehen. Hegel spricht vom auswendig behaltenden und reproduktiven Gedächtnis, um von dort zum mechanischen überzugehen, welches Wort und Ton aller sinnlichen Äußerlichkeit entkleidet und auf diese Weise das Denken vorbereitet, welches weder des verbalen Tones noch des Schriftzeichens bedarf, um sich zu vollziehen. In diesem Sinne gilt: „Denken hinterlegt oder offenbart sich in Sprache, ohne doch selbst nur Sprache zu sein.“12

12 Th. Bodammer, Hegels Deutung der Sprache. Interpretationen zu Hegels Äußerungen über die Sprache, Hamburg 1969, 60. Bodammers Untersuchung setzt mit der – in der „Psychologie“ der Lehre vom subjektiven Geist entwickelten – Theorie von der Sprache als Produkt zeichensetzender Phantasie ein, handelt aber auch ausführlich von sprachphilosophischen Aspekten in anderen Systemeinheiten einschließlich der Religionsphilosophie (vgl. 197ff.). Zur vorliegenden Forschungsliteratur vgl. 4ff. Abweichend von der Mehrheit der Interpreten will Bodammer zeigen, „daß Hegel der Sprache schlechthin nirgends, auch nicht in der Lehre vom subjektiven Geist, eine feste Stelle in seinem System gegeben hat, sondern daß er die Sprache aus keineswegs zufälligen Gründen in so gut wie jedem Systemteil seiner Philosophie betrachten kann und tatsächlich auch betrachtet“ (18). So wichtig diese Beobachtung einerseits ist, so unbestreitbar ist doch andererseits die Tatsache, dass als der primäre Ort einer Theorie der menschlichen Sprache in Hegels System die „Psychologie“ zu gelten hat. Indes ist dieser Ort in der Tat keine feste Stelle und kein fixer Punkt, sondern rückvermittelt mit der Bewusstseinslehre der Phänomenologie, mit der sog. Anthropologie und der Naturphilosophie und zum andren angelegt auf die Philosophie des objektiven und des absoluten Geistes und auf die dort gepflegte Sprache des Rechts, der Moral, der Sitte, der Poesie, der Religion und der spekulativen Wissenschaften. Hegels Lehre vom spekulativen Satz und dem Wort des sich selbst entsprechenden Gottes bietet einen Beleg hierfür. Die Sprache als ein System von Zeichen, die auf etwas ganz anderes verweisen als sie selbst gemäß ihrer unmittelbaren Beschaffenheit sind, erhebt sich ihrer Bestimmung nach über sich selbst, um schließlich auch dem Unaussprechlichen logoshaften Ausdruck zu verschaffen.

Die entwickelte Intelligenz und ihr tätiger Wille

Im Denken vollendet sich der Theorieweg des subjektiven Geistes und zwar vermittels des Gedächtnisses als der, wie es in der Erstauflage der Enzyklopädie von 1817 heißt, „Einheit selbständiger Vorstellung und der Anschauung, zu welcher jene als freye Phantasie sich äussert“ (§ 379; GW 13, 211, 21–23). Indem das „auswendig behaltende“ (§ 381; GW 13, 215, 10) und das „mechanisch genannt(e)“ (§ 382; GW 13, 215, 17) Gedächtnis das durch die zeichensetzende Einbildungskraft ermöglichte Sprechen und Lesen zur Gewohnheit macht, behebt es die Differenz von Zeichen und Sache endgültig, womit der „Uebergang zum Denken“ (§ 383; GW 13, 215, 28) vollzogen ist. Im Denken sind Zeichen und Bezeichnetes eins. Noch einmal: „Der Gedanke ist die Sache; einfache Identität des Subjectiven und Objectiven. Was gedacht ist, ist; und was ist, ist nur, insofern es Gedanke ist.“ (§ 384; GW 13, 216, 5f.) In Gedanken aufgehobenes Gedächtnis In der Zweitauflage seiner Enzyklopädie hat Hegel die enge Verbindung zwischen Gedächtnis und Denken erneut eigens hervorgehoben und ausführlicher als in der Heidelberger Enzyklopädie thematisiert. Schon die Sprache gebe „dem Gedächtniß, von dem es zum Vorurtheil geworden ist, verächtlich zu sprechen, die hohe Stellung der unmittelbaren Verwandtschaft mit dem Gedanken“ (§ 464; GW 19, 342, 8–10). Dieser Status werde u. a. durch die Tatsache unterstrichen, dass ein gründliches Talent „mit einem guten Gedächtnisse in der Jugend verbunden zu seyn“ (GW 19, 342, 17f.) pflege. Ohne konsequente Übung des Gedächtnisses gelange man nicht zum Denken. Den Zusammenhang beider genau zu erschließen, falle gleichwohl nicht leicht. Als entscheidend habe die Erkenntnis zu gelten, dass das Gedächtnis im Laufe seiner Entwicklung dahin gelange, die Differenz zwischen Faktizität und Bedeutung zum Verschwinden zu bringen, womit dem Denken von Gedanken das Feld bereitet sei, in dessen Vollzug die Verschiedenheit von Objektivität und Subjektivität definitiv behoben werde. Das Gedächtnis ist dazu bestimmt, sich in den Gedanken aufzuheben, „der keine Bedeutung mehr hat, d.i. in dessen Objectivität nicht mehr das Subjective ein von ihm Verschiedenes ist, so wie diese Innerlichkeit an ihr selbst seyend ist“ (§ 464; GW 19, 342, 5–7). Als Ergebnis wiederholt die Zweitauflage der Enzyklopädie und fast wortgleich auch die Drittauflage den Grundsatz, der bereits in der Erstauflage als Resultat des vollzogenen Übergangs vom Gedächtnis zum Denken formuliert wurde: „Der Gedanke ist die Sache; einfache Identität des Subjectiven und Objectiven. Was gedacht ist, ist; und was ist, ist nur, in sofern es Gedanke ist.“ (GW 19, 342, 27–29; vgl. GW 20, 464, 5–8) Wie das Resultat des Übergangs vom Gedächtnis zum Denken werden auch dessen Entwicklungsmomente in allen drei Enzyklopädieauflagen einheitlich bestimmt. Das

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Denken ist, um die Erstauflage zu zitieren, „nicht α) nur der formell identische Verstand, sondern β) wesentlich Diremtion und Bestimmung, – Urtheil, und γ) die aus dieser Besonderung sich selbst findende Identität; der Begriff und die Vernunft“ (§ 386; GW 13, 216, 15–17; vgl. GW 19, 343; GW 20, 464f.). In der Hothonachschrift der Vorlesung von 1822 ist dazu folgendes vermerkt: „Das erste nun ist der abstracte Verstand, der die abstracte Allgemeinheit hervorbringt. Z. B. Gattung. Sie ist das Wesen, das Beharrende, das Andre ist nur ein Beispiel, etwas das nur so bei dem Allgemeinen beiherspielt. Dieses Allgemeine ist zunächst selbst nur formell, denn zu dem wahrhaften Allgemeinen gehört noch die Theilung, das Urtheil. Im Verlauf also unterscheidet das Denken, urtheilt, bestimmt die Allgemeinheit. Urtheil ist Beziehung des Einzelnen auf das Allgemeine. Nennen wir das Objective das Allgemeine so ist dann das Subjective die Vereinzlung dieses Allgemeinen. Das Dritte ist die Resumtion der Besondrung in die Allgemeinheit. Die Form diese Dritten ist der Schluß[.]“ (GW 25, 1, 136, 25–33) Begreifende Intelligenz Im Schluss ist das Denken in sich vollendet, der Begriff als gesetzter vorhanden, wie es in der Stolzenbergnachschrift des Kollegs von 1827/28 heißt (vgl. GW 25/ 2, 880). Die fast zeitgleich erschienene Zweitauflage der Enzyklopädie vermerkt entsprechend: „Die Intelligenz hat als begreifend das Bestimmtseyn, welches in ihrer Empfindung zunächst unmittelbar Stoff ist, in sich selbst als ihr schlechthin eigenes.“ (§ 467; GW 19, 343, 11–13) Sie ist als existierender Geist ganz für sich und damit zur Vernunft gekommen, wenngleich nur zur formellen, welche – ihrer vernünftigen Form gemäß – inhaltlich zu explizieren dem Willen aufgetragen ist. Er führt den subjektiven Geist durch seine praktische Tätigkeit zu wahrer Freiheit und erhebt ihn zugleich in die Sphäre des objektiven und schließlich des absoluten Geistes. Dass dies nicht gedankenlos, sondern nach Weise des Denkens geschieht, ist evident. Offenkundig wird damit zugleich, dass sich die Philosophie nicht in derjenigen des subjektiven Geistes und seines Denkens erschöpft, sondern dass umgekehrt die Intelligenz des subjektiven Geistes darauf angelegt ist, das Objektive von Recht, Moral und Sitte zu denken, um zuletzt im Gedanken des Absoluten und im Begriff des Begriffs aufgehoben zu werden. Das Denken, heißt es in den drei Auflagen der Hegel’schen Enzyklopädie, tritt in den „verschiedenen Theilen der Wissenschaft deßwegen immer wieder hervor, weil sie nur durch das Element und die Form des Gegensatzes verschieden, das Denken aber dieses eine und dasselbe Centrum ist, in welches als in ihre Wahrheit die Gegensätze zurückgehen“ (GW 13, 217, 1–4; vgl. GW 19, 343; GW 20, 465). Was in der Enzyklopädie von 1817 an zu lesen steht, wird durch

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die zehn Jahre vorher publizierte „Phänomenologie des Geistes“ bestätigt. Wie immer ihr Systemstatus beurteilt werden mag: Dass ihr Begriff vom Denken kein anderer ist als der enzyklopädische, steht fest. „Im Denken bin Ich frey“, heißt es im zweiten Teil des Phänomenologiekapitels über die Wahrheit der Gewissheit seiner selbst (GW 9, 117, 8–12), „weil ich nicht in einem Andern bin, sondern schlechthin bey mir selbst bleibe, und der Gegenstand, der mir das Wesen ist, in ungetrennter Einheit mein Fürsichseyn ist; und meine Bewegung in Begriffen ist eine Bewegung in mir selbst.“ Das Denken, so liest man weiter, steht der Andacht nahe, sofern diese nicht lediglich ein „Sausen des Glockengeläutes oder eine warme Nebelerfüllung“ (GW 9, 125, 27) bleibt, „ein musicalisches Denken, das nicht zum Begriffe, der die einzige immanente gegenständliche Weise wäre, kommt“ (GW 9, 125, 28f.). Nachgerade dem Gedächtnis ist das Denken nicht nur terminologisch verbunden, da in ihm der Erinnerungsprozess zur Vollendung gelangt, der sich von der Anschauung über die Vorstellungswelt des subjektiven Geistes entwickelt hat. Im Gedächtnis ist der subjektive Geist dabei, ganz zu sich zu gelangen und die Differenz zwischen Gedenken und demjenigen, dessen gedacht wird, in sich aufzuheben. Wo dies geschieht, ist aus dem Gedächtnis Denken geworden. Einheit von Denken und Gedanken Die Gedanken des Denkens sind ausschließlich die ihm eigenen. Insofern sie nur für dieses sind, haben sie aufgehört, für sich selbst ein Anderssein ihm, dem Denken, gegenüber zu sein, wie das bei den Inhalten des Gedächtnisses momentan noch der Fall war. Im Unterschied zum Gedächtnis ist das Denken die manifeste Einheit seiner selbst und seines Anderen, von Denken und Gedanken, worin das theoretische Bestreben zur Erfüllung gelangt. Indes wäre die Bestimmung der Theorie verkannt, würde sie im Status ihrer Unmittelbarkeit verharren, um nichts zu sein als bloße Theorie. Ein theoretisches Denken in diesem Sinne bliebe abstrakt. Um von solcher Abstraktheit zu abstrahieren, muss der subjektive Geist sich seiner unmittelbaren theoretischen Verfasstheit entäußern, damit sein Denken wahrhaft vernünftig sei. „Die Vernunft“, heißt es zu Beginn des ihrer Gewissheit und Wahrheit gewidmeten Kapitels in der „Phänomenologie des Geistes“, „ist die Gewißheit alle Realität zu seyn“ (GW 9, 134, 20). Zwar ist im theoretischen Denken des subjektiven Geistes die Differenz zum Gedachten grundsätzlich behoben und die Einheit von Denken und Gedanken und damit das Wesen der Vernunft idealiter manifest. Aber es wäre ein abstrakter Idealismus, der es beim reinen Denken der Theorie beließe, weil deren Wirklichkeit dann allein ins Subjekt fiele. Bereits der von der Anschauung über die Vorstellung zum Denken verlaufende Prozess theoretischer Selbstrealiserung des subjektiven Geistes zielte auf

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eine Vernunftwirklichkeit, die anderes ist als eine bloße Idee. Dies lässt sich schon an den einschlägigen Ausführungen zur beobachtenden Vernunft in der „Phänomenologie des Geistes“ leicht ersehen, die in vielerlei Hinsicht die enzyklopädische Lehre vom theoretischen Geist vorwegnehmen. Durch vernünftige Beobachtung der Natur (vgl. GW 9, 139–166), des Selbstbewusstseins in seiner Reinheit und in seiner Beziehung auf äußere Wirklichkeit (GW 9, 167–192) werden sinnliche Gegebenheiten zwar in Begriffe verwandelt, aber mit dem Anspruch, die Realität als vernünftig und die Vernunft als real zu erkennen. Schon die theoretische Bestrebung des subjektiven Geistes, die sich im Denken vollendet, geht dahin, es nicht bei einer Gegenüberstellung geistiger Subjektivität und einer vermeintlich geistlosen Realität zu belassen. Es wäre ein Unglück für das Bewusstsein und ein Indiz seiner Entzweiung, würde die Theorie die Antithese von Ich und Nichtich befestigen, statt sie aufzuheben und zur Erkenntnis zu gelangen, dass das gedachte Nichtich im Grunde mit dem denkenden Ich eins ist. Doch kann es bei dieser Erkenntnis, wie gesagt, nicht sein Bewenden haben. Die Theorie muss vielmehr zur Praxis werden, damit es zur „Verwirklichung des vernünftigen Selbstbewußtseyns durch sich selbst“ (GW 9, 193, 2–4) komme, um mit der Überschrift des einschlägigen Kapitels der „Phänomenologie des Geistes“ zu reden. Alle Realität zu sein, wird dem Geist zwar in der Theorie unmittelbar gewiss. Doch würde sich seine Selbstgewissheit als verkehrt erweisen, wollte er in theoretischer Unmittelbarkeit verharren, statt durch Praxis aus ihr herauszutreten und sich seiner bloßen Subjektivität zu entäußern, damit Vernunft sich als objektiv erweise. Setzung vernünftiger Zwecke Der Übergang von der beobachtenden zur handelnden Vernunft in der „Phänomenologie des Geistes“ entspricht demjenigen vom theoretischen zum praktischen Geist in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“. In der Erstauflage wird er mit dem Hinweis vollzogen, dass die denkende Subjektivität als theoretisch voll entwickelter Geist freier, zur Setzung vernünftiger Zwecke bestimmter Wille sei (vgl. § 387; GW 13, 217, 5–9). Entsprechend heißt es in der Zweit- und Drittauflage: „Die Intelligenz sich wissend als das Bestimmende eines Inhalts, der ebenso der ihrige ist, als er als seyend bestimmt ist, ist Wille.“ (§ 468; GW 19, 343, 29f.; GW 20, 465, 24f.) Um sich als frei und damit dem zur Vernunft gekommenen subjektiven Geist gemäß zu realisieren, muss der Wille über das praktische Gefühl, das ihn anfänglich und auf unmittelbare Weise erfüllt, hinausgelangen und den leidenschaftlichen Trieb bloßer Neigung überwinden. Erst dann ist seine Freiheit manifest und zwar so, dass sie arbiträre Willkür transzendiert, die zum bloßen Moment des freien Willens herabgesetzt wird. Willensfreiheit geht nicht im liberum arbitrium auf und ist mehr und an-

Die entwickelte Intelligenz und ihr tätiger Wille

deres als bloße Wahl- und Entscheidungsfreiheit, so sehr sie auch diese ist. Ihre reale, dem freien Geist gemäße Verfassung ist diejenige, die sie sich in Recht, Moral und Sitte gibt, welche die Philosophie des objektiven Geistes bedenkt.13

13 Im realisierten Begriff des subjektiven Geistes, der sich im objektiven zu explizieren bestimmt ist, sind Theorie und Praxis eins. „Intelligenz und Wille, erkennender und wollender Geist ist ein Unterschied, aber nicht aus einander zu halten als zweierlei Geist“ (GW 25/1, 532, 4f.). Theoretisches Denken ist seinem Wesen nach auf praktische Vernunftgestaltung aus, vernünftiges Wollen stets gedankengeleitet: „nur das Denkende ist Willen, das Thier ist nicht Willen“ (GW 25/1, 532, 6f.). In seiner Unmittelbarkeit ist der Wille zwar frei und durch nichts als sich selbst bestimmt, aber nur an sich und noch nicht für sich dergestalt, dass er seine freie Bestimmung mit derjenigen der Freiheit überhaupt vermittelt hat. Er ist Vernunftwille aber noch nicht in der vermittelten Form der Allgemeinverbindlichkeit und deshalb auf die unentwickelte Weise dessen, was Hegel praktisches Gefühl nennt. In diesem ist der wollende Geist seiner Vernünftigkeit zwar unmittelbar inne, doch ohne seinem vernünftigen Willen bereits allgemeine Gestalt gegeben zu haben. – Seit der Erstauflage der Enzyklopädie ist die Lehre vom praktischen Gefühl mit ausführlichen Exkursen zu dessen Recht und Grenzen, zu den diversen Modifikationen, die es erfährt, und zu den Empfindungen des Angenehmen und des Unangenehmen verbunden bis hin zu einer knappen Theorie vom Ursprung des Übels in der Welt: Den Ausgangspunkt bildet die These, wonach der Begriff gegen das unmittelbare Sein notwenigerweise gleichgültig sei. Das Übel ergebe sich aus der Insistenz kontingenten Seins auf seiner Unmittelbarkeit und sei insofern „nichts anders als die Unangemessenheit des Seyns zu dem Sollen“ (GW 13, 219, 11f.; vgl. GW 19, 346; GW 20, 469). Behoben werde diese Unangemessenheit, die nur im Leben und insbesondere in demjenigen des Geistes auftrete (GW 13, 219, 22–24: „Im Todten ist kein Uebel noch Schmerz, weil der Begriff nicht in ihm existirt, oder weil er in der unorganischen Natur seinem Daseyn nicht gegenüber tritt.“), allein dadurch, dass sich der subjektive Geist vom praktischen Gefühl zum praktischen Sollen erhebe, seine Triebe, Neigungen und Leidenschaften dem Gesetz der Vernunft unterstelle und sich pflichtgemäß auf allgemeine Glückseligkeit ausrichte, in der allein eine geistgemäße Befriedigung zu finden sei. Zwar kommt, wie Hegel ausdrücklich sagt, praktisch „nichts ohne Interesse zu Stande“ (GW 13, 221, 22; vgl. GW 19, 348; GW 20, 474); aber geistgemäß ist dieses nur dann, wenn es mit dem Interesse, welches die Vernunft an sich selbst hat, koinzidiert und das einzelne Subjekt auf Allgemeinverbindliches ausrichtet. Die Intelligenz des subjektiven Geistes entspricht ihrem Begriff nur, wenn sie praktisch nach Glückseligkeit aller strebt. Doch bedarf der „Trieb nach Glückseligkeit“ (GW 19, 350, 5) und deren Begriff nach Hegel einer weitergehenden Bestimmung, damit es nicht bei der verworrenen Vorstellung einer Befriedigung aller Neigungen bzw. der Neigungen aller bleibe und der Geist wirklich frei werde. Dazu ist die gänzliche Aufhebung aller formalen, zufälligen und beschränkten Gehalte nötig, welche die willentliche Praxis im Verlaufe ihrer geistigen Entwicklung bestimmten, und die vollkommene Koinzidenz theoretischer und praktischer Vernunft. Erst wenn die völlige Einheit des theoretischen und praktischen Geistes erreicht ist, kann der freie Wille als real und die Freiheit der Subjektivität als wirklich gelten.

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Der Geist der Freiheit und seine Realisierung

11.4

„Ich“ als Indexwort? Wider die semantische Reduktion der Selbstbewusstseinsthematik

Hegels Philosophie des subjektiven Geistes ist für Pannenbergs Lehre vom Menschen in hohem Maße einflussreich geworden, wie ein Vergleich unschwer zu erkennen gibt. Dennoch wurde sie von ihm im Rahmen der Anthropologie und darüber hinaus wiederholt und in grundsätzlicher Weise kritisiert, etwa mit dem weitreichenden Hinweis, sie sei wie schließlich das gesamte Hegel’sche System „auf dem Boden des bewußtseinsphilosophischen Ansatzes der Transzendentalphilosophie geblieben“ (Anthr., 197). Zwar habe Hegel die „Vermittlung des Selbstbewußtseins mit sich selber durch das andere seiner, das Gegenstandsbewußtsein“ (ebd.), betont herausgestellt; doch dessen ungeachtet sei die Einheit des seiner selbst bewussten Ich dem Vermittlungsprozess unmittelbar zugrunde gelegt worden. Im Zuge dieses prinzipiellen Vorbehalts wird von Pannenberg die Stellung der Hegel’schen Ichphilosophie derjenigen Fichtes gegenüber als ambivalent beurteilt. Einerseits habe Hegel die Abstraktheit des sich selbst setzenden Ich der frühen Wissenschaftslehre erkannt, andererseits die den transzendentalphilosophischen Ansatz konsequent hinter sich lassende Fortentwicklung der Fichte’schen Spätphilosophie in ihrer Tragweite nicht wirklich zu Kenntnis genommen, so dass er „an dieser Stelle, also mit seinem Begriff des Subjekts, hinter dem späten Fichte zurückgeblieben“ (Anthr. 198)14 sei. Pannenbergs intensives Interesse an der Entwicklung der Fichte’schen Ichphilosophie, von der im Zusammenhang seiner Egologiekritik sogleich zu handeln sein wird, erklärt sich aus dem skizzierten Zusammenhang. Es macht aber zugleich deutlich, dass er den subjektivitätstheoretischen Problemkonstellationen, welche die klassische deutsche Philosophie bestimmten, auch dort aufs Engste verbunden blieb, wo er Kritik übte. Beispielhaft zeigt sich dies an seiner strikten Weigerung, die Subjektivitäts-und Selbstbewusstseinsthematik semantisch zu reduzieren. Wer von sich selbst „Ich“ sage, stehe in einem Selbstverhältnis, welches sich wissendes Wissen zur impliziten Prämisse habe. Das die Philosophie sowohl Kants als auch Fichtes, Schellings und Hegels bewegende egologische Problem könne also nicht durch die in der Gegenwartsphilosophie verbreitete Annahme erledigt werden, „Ich“ sei nichts anderes als ein Indexwort.

14 Vgl. auch Anthr. 198, Anm. 26 und darin insbesondere den Bezug auf Dieter Henrich, der ebenfalls geurteilt habe, „daß Hegels Begriff des Ich der kantischen Reflexionstheorie des Selbstbewußtseins verhaftet geblieben sei“.

„Ich“ als Indexwort? Wider die semantische Reduktion der Selbstbewusstseinsthematik

Index als Fingerzeig Das aus dem Lateinischen übernommene Wort „Index“ kann vieles bedeuten: ein Verzeichnis verbotener Bücher, ein Verhältnis zweier Maße oder ein Namens-, Titel- oder Schlagwortregister etc. Die Vielzahl der Bedeutungen überrascht insofern nicht, als der Terminus von seiner Wurzel her nichts anderes als „Ansage“ meint. In der Semiotik benennt er jede Art von sprachlichen Hinweiszeichen, wobei die Grundbedeutung vom Deuten herrührt; nicht von ungefähr wird Index in der Medizin zur Fachbezeichnung für den Zeigefinger, der seinen Namen von der Ursprungshandlung des Zeigens und Deutens her hat, die er ausführt, wenn er Fingerzeige gibt. Dementsprechend zeigen Indexwörter an, wovon „gerade die Rede ist“ (Anthr., 200). Neben Bezeichnungen wie „dieses“, „hier“ und „jetzt“ stellt nach Auffassung namhafter Sprachanalytiker auch das Pronomen „Ich“ ein Indexwort dar, mittels dessen der jeweilige Sprecher in wortsprachlicher Weise so auf sich verweist, wie wenn er mit seinem Zeigefinger auf seinen Körper deuten würde. Weiß man nicht, was das Wort „Ich“ heißt und wer oder was damit gemeint ist, genügt ein Fingerzeig des Sprechers, um die nötige Klarheit zu schaffen. Auch ontogenetisch geht, wie sich an Kleinkinder studieren lässt, das Deuten auf den eigenen Körper dem Ich-sagen voraus. Ich, Gunther Wenz Nach Maßgabe des 1949 erschienenen Werkes „The Concept of Mind“ des britischen Philosophen Gilbert Ryle, der neben L. Wittgenstein und J. L. Austin als einer der Hauptvertreter der sog. Ordinary Language Philosophy gilt15 , fungiert das Indexwort „Ich“ als namentliche Selbstbezeichnung dessen, der es gebraucht und in seiner Bedeutung durch deutenden Verweis auf seine körperliche Erscheinung vor anderen Individuen verifizieren kann, die ihn zu benennen vermögen. Außerhalb dieses Gebrauchs ist das Pronomen „ich“ wie jeder bloße Name Ryle zufolge bedeutungslos. „‘I’ is not an extra name for an extra being; it indicates, when I say or write it, the same individual who can also be addressed by the proper name ‘Gilbert Ryle’. ‘I’ is not an alias for ‘Gilbert Ryle’; it indicates the person whom ‘Gilbert Ryle’ names, when Gilbert Ryle uses ‘I’.“16 In diesem und nur in diesem Sinne sei ein Unterschied zwischen „Ich“ und „all the rest“17 , die restlichen Indexwörter und andere Personalpronomina eingeschlossen. „‘I’, in my use of it, always indicates me and only indicates me. 15 Vgl. G. Ryle, Ordinary Language, in: V.C. Chappell (Ed.), Ordinary Language. Contemporary Perspectives in Philosophy Series, Englewood Cliffs, N. J., 1964, 24–40. 16 Ders., The Concept of Mind, New York 1949, 188; vgl. zur Thematik „Self-Knowledge“ bes. 154–198. 17 A.a.O. 198.

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Der Geist der Freiheit und seine Realisierung

‘You’, ‘she’ and ‘they’ indicate different people at different times. ‘I’ is like my own shadow; I can never get away from it, as I can get away from your shadow.“18 Das Fürwort „Ich“ steht für den Sprecher oder Schreiber, der es gebraucht, und für sonst nichts. Um über seine bloße Sichselbstgleichheit hinaus anderes über sich zum Ausdruck zu bringen, muss er Ryle zufolge andere Wörter benutzen und Sätze bilden, die seinem Selbstverständnis entsprechen. Pannenberg bezweifelt, ob mit diesem Hinweis das Problem von „Self-Knowledge“ und „Self-Consciousness“ einer Lösung zugeführt ist. Denn offen bleibe die Frage, wie Selbstzuschreibungen des sich mit dem ersten Personalpronomen bezeichnenden Ich über die Aussage bloßer Selbstgleichheit hinaus möglich seien und zwar so, dass etwas von dem bloßen Ich Differentes ausgesagt werde, das gleichwohl als eine Aussage über das Ich selbst zu gelten habe. Das traditionelle Problem von Differenz und Identität von Ich und Selbst iteriere und lasse sich weder auf behavioristische, durch äußerliche Beobachtungen äußerlichen Verhaltens, noch auf sprachanalytische Weise beheben, weil die Selbstbenennung mit dem Personalpronomen „Ich“ das Innesein der Identität meiner selbst mit mir voraussetze. Sei man der Identität von Ich und Selbst in ihrer Unterschiedenheit nicht schon inne, könne man sich auch nicht als „Ich“ benennen und Selbstaussagen tätigen. Selbstbewusstsein Sätze, in denen sich der Sprecher, der von sich „Ich“ sagt, selbst expliziert, sind nach Pannenberg sinnvoll nur unter der Voraussetzung selbstbewussten Wissens. Ein Selbstverhältnis des Ich, das um sich weiß, ist ihm zufolge die implizite Prämisse sowohl sinnvoller Selbstaussagen als auch eines sinnvollen Gebrauchs des Indexwortes „Ich“. Somit führe die Sprachanalyse erneut zur „transzendental-philosophische[n] Frage nach der Konstitution des Selbstbewusstseins“ (Anthr., 202). Wie weit die sog. Sprachanalytische Philosophie nach seinem Urteil davon entfernt ist, „die idealistische Problemstellung in der Frage nach der Möglichkeit des Selbstbewußtseins überwunden zu haben“ (Anthr., 205), illustriert Pannenberg eingehend am Beispiel Ernst Tugendhats (vgl. Anthr., 202ff.), einer der führenden Sprachanalytiker Deutschlands, und insbesondere an dessen dreißig Jahre nach „The Concept of Mind“ erschienenen Interpretationen zu „Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung“, worin unter Bezugnahme vor allem auf Wittgenstein eine sprachanalytische Transformation traditioneller Strukturmodelle zum Thema intendiert wird, welche das Selbstbewusstsein wesentlich durch eine Beziehung des Ich auf sich charakterisiert sehen.

18 Ebd.

„Ich“ als Indexwort? Wider die semantische Reduktion der Selbstbewusstseinsthematik

In einer seiner „Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie“ hatte Tugendhat das egologische Reflexionsmodell auf eine Orientierung an Satzformen, in denen das Indexwort „Ich“ zweimal auftrete, und auf die irrige Annahme zurückgeführt, dass zwischen einem Satz wie „ich habe Schmerzen“ und „ich weiß, dass ich Schmerzen habe“ ein Bedeutungsunterschied statthabe, was nicht der Fall sei. Zutreffend sei vielmehr, dass das „Kriterium eines Erlebnissatzes in der 1. Person Präsens wie ‚ich habe Schmerzen‘“19 just darin bestehe, dass er ohne weiteres „umgeformt werden könne in ‚ich weiß, daß ich Schmerzen habe‘“20 . Durch letztere Satzform sei nichts anderes zum Ausdruck gebracht als durch erstere, weshalb sie umgangssprachlich auch kaum vorkomme. „Wo sich nun die Philosophie gleichwohl an diesem Satz ‚ich weiß, dass ich Schmerzen habe‘ orientiert hat, ohne zu beachten, daß sein Sinn eben der des Satzes ‚ich habe Schmerzen‘ ist, ergab sich der Schein, daß der, der einen solchen Satz ausspricht, sich beobachtet und an sich mit absoluter Gewißheit den Erlebniszustand feststellt.“21 Auf diesem falschen Schein beruht nach Tugendhat das Standardmodell traditioneller Selbstbewusstseinstheorien. Sowohl das transzendentalphilosophische Reflexionsmodell als auch seine egologischen Fortbildungen erzeugten selbst die Probleme, deren Lösung zu sein sie beanspruchten. Vom Ich zum ich In seinen sprachanalytischen Interpretationen „Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung“ hat Tugendhat die skizzierte Überlegung fortgeführt und die These verteten, der Weg aus der Sackgasse traditioneller Selbstbewusstseinstheorien führe über den „Abstieg vom Ich zum ‚ich‘“, das zwar „den letzten Bezugspunkt aller Identifizierung“22 bezeichne, ohne dass der sich als Ich bezeichnende Sprecher über bloße Identifizierbarkeit hinaus identifiziert wäre: „Ich“ kann jeder sein, der „ich“ zu sagen vermag. Weil sie „die sprachliche Artikulation der Erkenntnisrelation mißachtet“23 hätte, sei die Frage nach dem Subjekt in der traditionellen Bewusstseinsphilosophie falsch, nämlich nach Maßgabe eines an gegenständlicher Vorstellung orientierten Erkenntnismodells gestellt worden. Die Aporien bewusstseinsphilosophischer Selbstbewusstseinstheorien seien 19 E. Tugendhat, Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie, Frankfurt/Main 1976, 96. 20 Ebd. 21 Ebd. 22 Ders., Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt/Main 1979, 87; vgl. 68ff. (Inhaltsverzeichnis). Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 23 G. Soldati, Selbstbewußtsein und unmittelbares Wissen bei Tugendhat, in: M. Frank u. a. (Hg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt/M. 1988, 85–100, hier: 86.

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Der Geist der Freiheit und seine Realisierung

im Wesentlichen darauf zurückzuführen, das Sich-Selbst-Vorstellen des Ich als einen Sonderfall der Vorstellung von Gegenständen statt als einen Sachverhalt aufzufassen, „wie er sich sprachlich als Proposition artikuliert“24 . Wer „Ich“ sage, erbringe zwar eine begriffliche Identifizierungsleistung, die aber nicht den Charakter einer Selbstvergegenständlichung, sondern denjenigen einer „nominalisierte(n) Proposition“25 habe. Von Pannenberg ist „Tugendhats semantische Reduktion des Selbstbewußsteinsproblems“26 sehr kritisch beurteilt worden. Er hat die Annahme, dass ich mich mit „Ich“ zwar meine und propositional identifiziere, ohne damit notwendigerweise ein bewusstes Wissen zu verbinden (vgl. 124), in seinem Handexemplar von „Selbstbewußstsein und Selbstbestimmung“ ebenso mit einem großen Fragezeichen versehen wie die These, dass Erlebnissätze der ersten Person Präsens ohne Weiteres, weil ohne Sinnzuwachs, in Sätze umformuliert werden könnten, die ein Wissen des Sprecher-Ich vom Erlebten zum Ausdruck brächten. Auch performative Äußerungen im Sinne etwa einer verbalen Schmerzartikulation seien, so Pannenberg, „durchweg an Sachkriterien gebunden“ (Anthr., 201, Anm. 38). Entsprechend gehe die Bedeutung des Pronomens der ersten Person Singular in seiner proportionalen Verwendung nicht auf. Namentlich wer cogito sage, könne nicht leugnen, dass sein Denken mit einem Bewusstsein desselben und insofern mit Selbstbewusstsein untrennbar verbunden sei. Nominalisierte Proposition? Nach Pannenbergs Urteil hat Tugendhat die für seine Konzeption entscheidende Frage der „Wissensrelation zu den eigenen Zuständen“ (158) im Zuge seiner Interpretation von „Wittgensteins Theorie des unmittelbaren epistemischen Selbstbewußtseins“ (135) nicht angemessen zu beantworten vermocht. Das traditionelle Selbstbewusstseinsproblem sprachanalytisch zu lösen bzw. aufzulösen, sei weder ihm noch sonstigen Vertretern der Zunft gelungen. Pannenberg zufolge gilt, was sein langjähriger Münchner Kollege und Mitstreiter in zahlreichen Oberseminaren, Dieter Henrich, so gesagt hat: „Man muß die im ‚ich‘-Gebrauch wirklich gelegene Perspektive auf die Identifikation der Entität, welche der ‚ich‘-Sprecher ist, von jenem Selbstverhältnis im Wissen unterscheiden, in dem sich der ‚ich‘-Sprecher dann immer schon befindet, wenn er aus einem Wissen von jener Perspektive auf mögliche Identifikation heraus das Personalpronomen der ersten Person singularisch sinnvoll verwendet. Zu den 24 M. Frank, Subjekt, Person, Individuum, in: a.a.O., 7–28, hier: 18. 25 A.a.O., 19. Vgl. ferner: G. Mohr, Vom Ich zur Person. Die Identität des Subjekts bei Peter F. Strawson, in: a.a.O., 29–84. 26 M. Frank, a.a.O., 21.

„Ich“ als Indexwort? Wider die semantische Reduktion der Selbstbewusstseinsthematik

Konsequenzen, welche sich aus dieser Unterscheidung schon an der Wurzel ergeben, gehört es, daß jede Person sich selbst als Subjekt von der Entität, als die sie in der Welt existiert und an die sie sich auch in ihrem Begriff gebunden weiß, zugleich auch muß unterscheiden können und wirklich unterscheidet.“27 Die Problematik verweist somit erneut auf jene philosophischen Konstellationen zurück, innerhalb derer sie ursprünglich behandelt wurde und für die Fichtes Ichphilosophie entscheidende Bedeutung bekam.

27 D. Henrich, Noch einmal in Zirkeln. Eine Kritik von Ernst Tugendhats semantischer Erklärung von Selbstbewußtsein, in: C. Bellut/U. Müller-Schöll (Hg.), Mensch und Moderne. Beiträge zur philosophischen Anthropologie und Gesellschaftskritik, Würzburg 1989, 93–132, hier: 128.

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12.

Das Ich und das Selbst

Kontexte Pannenberg’scher Egologiekritik

12.1

Der Ichphilosoph unter Atheismusverdacht

Im vierten Kapitel des zur Ostermesse 1796 erschienenen ersten Bandes seines „Siebenkäs“ lässt Jean Paul einen gewissen Leibgeber in die Rolle des Protoplasten schlüpfen, damit er „Adams Hochzeitsrede“ halte und als Urautor über den Ursprung des Menschengeschlechts räsoniere. Knapp vier Jahre später betritt auf Geheiß des Dichters Leibgeber erneut die literarische Bühne, um zwar nicht mehr als Urvater der Menschheit, aber keineswegs minder aktiv, nämlich als ein Ich zu agieren, das mit sich auch alles hervorzubringen beansprucht, was es nicht unmittelbar selbst ist, um so Leib, Seele und Geist, ja die ganze sensible und intelligible Welt zu generieren. Leibgeber ist Fichteaner, ja, weil in bestimmter Weise alles in allem, Fichte selbst und in, mit und durch ihn zu einer absoluten Größe geworden, die Ich und Nicht-Ich zu setzen vermag. „Leibgeber. ‚Es frappiert mich selber,‘ (sagt‘ ich, als ich mein System während eines Fußbades flüchtig überblickte, und sah bedeutend auf die Fußzehen, deren Nägel man mir beschnitt) ‚daß ich das All und Universum bin; mehr kann man nicht werden in der Welt als die Welt selber … und Gott … und die Geisterwelt … dazu.‘“1 So kann man es nachlesen in der oder, wie der Oberfranke lieber sagt, dem „Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana“, einer Satire auf Fichte in seiner Eigenschaft als Ichphilosoph und Egologe; sie war zunächst als Anhang zum Anhang des „Titan“ vorgesehen, im März 1800 dann aber gesondert publiziert worden – gerade rechtzeitig zum sog. Atheismusstreit. 1 Jean Paul, Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana, in: ders., Jean Paul. Sämtliche Werke. Abteilung I. Dritter Band, Darmstadt 2000, 1011–1056, hier: 1037. Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund vgl. G. Wenz, Schlüssel zur Clavis. Kontexte einer F. H. Jacobi gewidmeten Fichte-Satire Jean Pauls, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 52 (2017), 117–141. Ähnlich wie Leibgeber lässt Goethe in offenkundiger Anspielung auf Fichtes emphatische Ichphilosophie einen Baccalaureus in seinem „Faust“ (Der Tragödie zweiter Teil: Kap. 20) sprechen: „Die Welt, sie war nicht, eh‘ ich sie erschuf; / Die Sonne führt‘ ich aus dem Meer herauf; / Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf; / Da schmückte sich der Tag auf meinen Wegen, / Die Erde grünte, blühte mir entgegen. / Auf meinen Wink, in jener ersten Nacht, / Entfaltete sich aller Sterne Pracht. / Wer, außer mir, entband euch aller Schranken / Philisterhaft einklemmender Gedanken? / Ich aber frei, wie mir’s im Geiste spricht, / Verfolge froh mein innerliches Licht, / Und wandle rasch, im eigensten Entzücken, / Die Helle vor mir, Finsternis im Rücken. (Ab.)“ Darauf Mephistopheles: „Original, fahr hin in deiner Pracht! –“ (Vgl. hierzu: H. Lindau, Die Schriften zu J. G. Fichtes Atheismus-Streit, München 1912, XXIVff. Die inkriminierten Schriften Fichtes und Forbergs finden sich a.a.O., 21–58.)

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Das Ich und das Selbst

Atheismusstreit 1799 Der berühmt-berüchtigte Streit um Theismus und A-Theismus wurde durch Fichtes Schrift „Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung“ ausgelöst, die im Oktober 1798 zusammen mit einem Text des Fichteschülers Friedrich Karl Forberg zur „Entwickelung des Begriffs der Religion“ im ersten Heft des achten Bandes des von Fichte und Friedrich Immanuel Niethammer gemeinsam herausgegebenen „Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten“ veröffentlicht wurde.2 Beide, Forberg und Fichte, lehnten darin mit dem Gedanken der Persönlichkeit Gottes zugleich denjenigen seines substantialen Wesens und Ansichseins ab, der Schüler auf provokative, der Lehrer auf eher dezente Weise, was nicht verhinderte, dass er seine Jenaer Professur verlor. Kaum war das Journalheft erschienen, da entbrannte eine heftige Fehde, in die sich bald kirchliche und staatliche Obrigkeiten einschalteten. Bereits am 29. Oktober 1798 erstattete das Dresdener Oberkonsistorium Anzeige gegen Forbergs Aufsatz und wandte sich mit dem Ersuchen um Intervention an den Kurfürsten von Sachsen. Am 8. November wurde von sächsischer Seite die Konfiszierung des gesamten Journalheftes ministeriell verfügt. Weiter aufgeheizt wurde die Stimmung durch das „Schreiben eines Vaters an seinen studierenden Sohn über den Fichteschen und Forbergischen Atheismus“. Nachdem das kursächsische Requisitionsschreiben bereits an mehrere protestantische Höfe mit der Bitte ausgegangen war, sich dem Verbot anzuschließen, traf es zu Weihnachten 1798 in Weimar ein. Daraufhin wurden Fichte und Niethammer aufgefordert, sich gegenüber der Klage gerichtlich zu verantworten. Eine offizielle Aufforderung, entsprechende Verantwortungsschreiben zu erstellen und einzureichen, erging am 10. Januar 1799 durch den Prorektor der Universität Jena. Fichte hatte damals schon den Plan gefasst, sich mit einer Appellationsschrift direkt an die Öffentlichkeit zu wenden. Diese Schrift wurde umgehend erstellt und unter folgender Überschrift vertrieben: „J. G. Fichtes, des philosophischen Doktors und ordentlichen Professors zu Jena, Appellation an das Publikum über die durch ein kurfürstlich sächsisches Konfiskationsreskript ihm beigemessenen atheistischen Äußerungen.“ Der Titel war mit dem Zusatz versehen: „Eine Schrift, die man erst zu lesen bittet, ehe man sie konfisziert.“ Das Erscheinen der Appellation löste ab Mitte Februar 1799 eine breite, kontrovers und hitzig geführte Debatte und eine Flut von Stellungnahmen aus. Am

2 Zum Atheismusstreit und den Schriften, die ihn auslösten, vgl. im Einzelnen G. Wenz, Hegels Freund und Schillers Beistand, Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848), Göttingen 2008, 149ff. Zur Rolle F. H. Jacobis als des philosophischen Gewährsmanns von Jean Paul und zu seinem „Brief an Fichte“ vgl. meinen Beitrag in: KuD 57 (2011), 112–139: Der Glaubensphilosoph. Eine Erinnerung an Friedrich Heinrich Jacobi und seinen Streit mit Schelling 1811/12, hier: 118ff.

Der Ichphilosoph unter Atheismusverdacht

18. März reichten Fichte und Niethammer sodann gemeinsam ihre einverlangten Verantwortungsschriften ein, die Anfang Juni im Druck erschienen. Appelation an das Publikum Hatte Fichte bereits in seiner „Appellation an das Publikum“ die Rolle des Angeklagten mit derjenigen des Anklägers vertauscht, so setzte er dieses Verfahren für seinen Teil auch in der offiziellen Verteidigungsschrift gegenüber der Universitätsleitung zu Jena bzw. dem Weimarer Hof fort. Er bestätigte nicht nur, dass er seinen Beitrag über den Grund des Glaubens an eine moralische Weltregierung bei klarem Geiste geschrieben und Forbergs Text im Verein mit Niethammer bewusst zum Druck befördert habe, sondern erklärte zugleich den Atheismusvorwurf für ausgemachten Blödsinn, um sich energisch gegen ihn zu verwahren. Offen spricht er aus, dass die Atheismusbeschuldigung nur vorgeschoben sei, um ihn indirekt politischer Umtriebe bezichtigen zu können. Seine Freiheitslehre sei der eigentliche Kern der Debatte und Zielpunkt der Kritik, weil man von freiem Denken und Handeln eine Verletzung der Bürgerpflicht zu Ruhe und Ordnung befürchte. Fichte wählte für seine Verteidigung die Strategie des gezielten Angriffs. Dies war mutig und konsequent, aber unter Gesichtspunkten der Opportunität, um die er sich wenig bekümmerte, kontraproduktiv und im Ergebnis vorderhand tragisch, jedenfalls sofern es das persönliche Berufsschicksal des Philosophen betraf. Die Weimarer Regierung nutzte eine Ungeschicklichkeit Fichtes als mehr oder minder willkommene Gelegenheit, ihn unter Vermeidung des äußeren Anscheins verletzter Lehrfreiheit aus seiner Professur in Jena zu entlassen. So gravierend die lebensgeschichtlichen Folgen für Fichte waren, als schwerwiegender empfand er die Atheismusanklage selbst, von der er sich „tief getroffen gefühlt“3 und die er als sachlich unangemessen empfunden hat. Wie immer hier zu urteilen ist: Eine Zäsur stellt der Atheismusstreit auch unter systematischen Gesichtspunkten insofern dar, als Fichte in der Folgezeit deutlicher als vorher auf den göttlichen, nur religiös zu erfassenden Grund von Subjektivität und Selbstbewusstsein abhob und das Verhältnis der moralischen Weltordnung zu Gott nicht mehr so umschrieb, dass der Eindruck einer unmittelbaren Gleichsetzung aufkommen konnte, wie das in seiner vormaligen Ethikotheologie der Fall war. Dies geschah nicht unter Verabschiedung, sondern in Fortsetzung seines Bemühens, Kants Praxistheorie systematisch zu begründen und das als transzendentaler Grenzwert eingeführte Ich an sich selbst zu denken. Die Problemstellung blieb kontinuierlich erhalten; doch änderten sich 3 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 226. Vgl. insgesamt 216ff.: Johann Gottlieb Fichte und der Atheismusstreit.

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die Ansätze ihrer Lösung, wie aus einem Vergleich der konzeptionellen Gestalten der Wissenschaftslehre Fichtes von 1794 bis in seine Spätzeit zu ersehen ist. Pannenberg hat dieser Entwicklung große Bedeutung beigemessen, deren gedankliche Motive der damaligen Öffentlichkeit weithin verborgen blieben, „weil die Entwürfe zur Neugestaltung der Wissenschaftslehre bis auf den von 1810 ungedruckt blieben“4 . Der späte Fichte habe, so Pannenberg, durch absolutheitstheoretische Fortschreibungen seiner ursprünglichen Ich-Lehre über Hegel, aber auch über den spekulativen Theismus und über Feuerbachs Religionskritik hinausgewiesen hin „auf eine künftige, der Transzendenz Gottes besser gerecht werdende philosophische Theologie, deren Ausführung ihm allerdings versagt blieb“5 . Kritik aller Offenbarung Über die Grenzen seines akademischen Faches hinaus ist Fichte nicht erst durch den Atheismusstreit, sondern schon zu Beginn des letzten Dezenniums des 18. Jahrhunderts bekannt geworden. Nachdem er im Sommer 1790 von seiner vormals deterministischen Weltsicht befreit und für die Transzendentalphilosophie gewonnen worden war, reiste er bald schon, wenngleich nur für kurze Zeit, nach Königsberg, um sich der gewonnenen Erkenntnis durch persönliche Begegnung mit Kant zu versichern. An Ort und Stelle erarbeitete er im Juli/August 1791 innerhalb weniger Wochen seinen „Versuch einer Critik aller Offenbarung“, um ihn als eine Art von Gesellenstück dem Meister zu überreichen. Die erste Auflage des Textes erschien zur Ostermesse 1792 anonym und wurde vom Publikum für die lange erwartete Religionsschrift Kants gehalten. Als dieser den Irrtum aufdeckte, war Fichte über Nacht zu einer philosophischen Berühmtheit geworden, obwohl er von der inhaltlichen Konzeption seines religionsphilosophischen Erstlings bald schon abrückte. Zur Jubilatemesse 1793 kam eine Zweitauflage der „Critik“ auf den Buchmarkt, die Fichte als Verfasser zu erkennen gab. Ein neu hinzugefügter Paragraph (§2) schlug die Brücke zur Wissenschaftslehre, in der Fichte die „Analyse der Struktur unseres Erfahrungsbewußtseins von dessen Basis im Ichbewußtsein her neu zu begründen (suchte) in der Form einer geschlosseneren systematischen Darstellung“6 und zwar unter Beibehaltung und konsequenter Fortsetzung des praktischen Grundzugs der Kant’schen Philosophie. Konzipiert hat er sie in seinen zwischen November 1792 und Januar 1794 abgefassten elementarphilosophischen Meditationen. Nachdem er von Februar bis April 1794 im Züricher Hause Lavaters vor einer kleinen 4 A.a.O., 226. 5 Ebd. 6 A.a.O., 217; ferner: 222ff.

Der Ichphilosoph unter Atheismusverdacht

erlesenen Hörerschar Vorlesungen gehalten hatte, ließ Fichte als Basistext seiner beginnenden Jenaer Lehrveranstaltungen im selben Jahr eine Schrift „Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie, als Einladungsschrift zu seinen Vorlesungen“ im Buchhandel erscheinen. Zur Michaelimesse 1794 folgten die ersten beiden Lieferungen der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“, deren Vorrede zusammen mit der Grundlegung des praktischen Komplexes erst Ende Juli/Anfang August 1795 erschien. Der Terminus „Wissenschaftslehre“ ist erstmals Anfang März 1794 nachweisbar. Er ersetzt den Reinhold’schen Begriff der Elementarlehre bzw. Elementarphilosophie, bestimmt Philosophie als sich wissendes Wissen und führt ihren Grund auf die ursprüngliche Tathandlung zurück, in welcher dass Ich sich selbst und als solches ins Verhältnis zu demjenigen setzt, was es nicht unmittelbar selbst ist. Damit war das Prinzip formuliert, das die Folgeentwürfe der Fichte’schen Wissenschaftslehre in Konstruktion und Kritik fortzuentwickeln suchten. Wissenschaftslehre Alles philosophische Streben ist gemäß Fichte in Theorie und Praxis auf ein absolutes Ich ausgerichtet, das in, mit und durch sich selbst zugleich dasjenige setzt, was es nicht unmittelbar selbst ist, und in der unendlichen Selbsttätigkeit seiner Freiheit mit dem Nicht-Ich auch dessen Differenz zu jedem von ihm unterschiedenen Ich umgreift. Als Fluchtpunkt endlichen Denkens und Tuns bedingt das unendliche Ich nicht nur die Möglichkeit jedes konkreten Wissensund Handlungsvollzugs, sondern begründet zugleich die Wissenschaft von der Wissenschaft, um als Prinzip der Philosophie zu fungieren. Nachdem im Schlussteil der Studie über den Begriff der Wissenschaftslehre deren Einteilung bereits hypothetisch skizziert worden war, wurde in der Schrift über ihre Grundlage das Fundament des theoretischen Wissens (§4) und der Wissenschaft des Praktischen (§5ff.) im Detail umrissen und zwar auf der Basis dreier Grundsätze, deren erster – schlechthin unbedingter, in seiner Absolutheit weder zu beweisender, noch zu bestimmender, sondern sich von selbst verstehender und zu verstehen gebender – auf diejenige Tathandlung bezogen ist, „die unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewustseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, vielmehr allem Bewustseyn zu Grunde liegt, und allein es möglich macht“7 . Dieser „absoluterster Grundsaz“ (Akad.-Ausg. I/2, 255) lautet dahingehend, dass das Ich sich selbst setzt, um vermöge dieses Setzens zu sein, wie denn umgekehrt sein Sein in nichts anderem besteht als im Setzen seiner selbst. 7 J. G. Fichte, Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre als Handschrift für seine Zuhörer, Leipzig 1794, in: ders., Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (=Akad.Ausg.), Stuttgart 1962–2012, Reihe I: Werke. Band 2, 249–451, hier: 255.

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Absolutes Ich Aus dem Prinzip des absoluten Ich ergeben sich die beiden Folgegrundsätze, deren erster als Satz des Entgegensetzens auf das Nicht-Ich als auf dasjenige bezogen ist, was nicht Ich bzw. Ich nicht ist, und deren zweiter als „nicht wie jener, von Einem, sondern von Zwey Sätzen“ (Akad.-Ausg. I/2, 268) bestimmter sich nach Fichte in folgender Formel ausdrücken lässt: „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich entgegen.“ (Akad.-Ausg. I/2, 272) Damit ist gesagt, dass das absolute Ich im Vollzug seiner Selbstsetzung die Voraussetzung sowohl von Nicht-Ich als auch des durch den Unterschied von diesem bestimmten Ich ist, deren relative Differenz es sowohl begründet als auch in sich begreift. In seiner unbedingten Selbsttätigkeit fungiert das absolute Ich als Negationsfähigkeit überhaupt, als alles bestimmende Wirklichkeit, die als fundierender Grund von Selbst und Welt deren Unterschied in sich befasst. Das absolute Ich ist kraft seiner unbedingten Tathandlung in sich eins, aber als Identität von Identität und Differenz, welche das Streben des Ich und das Gegenstreben des Nicht-Ich in sich birgt, jedoch auf ichhafte Weise und mithin dergestalt, dass das vom Nicht-Ich unterschiedene Ich mit Grund gewiss sein kann, sich auch unter den Bedingungen von Nicht-Ich auf Vollendung hin realisieren zu können, weil es in dem, was es nicht unmittelbar selbst ist, auf keine definitive Schranke stößt. Der praktische Grundzug der Philosophie Fichtes bleibt in seiner Ichtheorie nicht nur erhalten, sondern bildet ihren Skopus: „Die Setzung des Ich … und die des ersten Nichtich sind, wie Fichte mehrfach betont hat, nicht theoretisch ableitbar. Sie haben ihren Grund in der ‚Selbsttätigkeit und Freiheit‘, die wir im Anspruch des Sittengesetzes erfahren. Das Ich soll von ihm selbst als schlechterdings frei und sich selbst sowie alles Nichtich unbedingt bestimmend gedacht werden.“8 Henrichs Fichtestudie Pannenberg hat sich nicht nur mit der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre“ von 1794 wiederholt und sehr intensiv beschäftigt9 , sondern auch ihre konzeptionelle Weiterentwicklung und den Fortgang der philosophischen Gedankenentwicklung Fichtes genau verfolgt, wie die einschlägigen Texte in seiner Handbibliothek belegen.10 Als Leitlinie und Richtschnur diente ihm 8 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 219. 9 Textgrundlage für sie und für spätere Entwürfe der Wissenschaftslehre (1795; 1797/98; 1801/02; 1804) bildeten die in der Philosophischen Bibliothek des Felix Meiner Verlags erschienenen Ausgaben (vgl. Pannenberg-Bibliothek Nr. 01952, 01953, 01954, 01957, 01958). Vgl. ferner: J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umriß (1810). Einl. u. Kommentar G. Schulte, Frankfurt a. M. 1976. 10 Neben Einleitungen in sie hat Fichte seit 1794 immer wieder neue Fassungen seiner Wissenschaftslehre entworfen, um sein System zu befestigen und auf tragfähigen Fundamenten

Der Ichphilosoph unter Atheismusverdacht

explizieren zu können. Nach Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten gab er Ende Juli 1795 „als Handschrift für seine Zuhörer“ einen „Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rüksicht auf das theoretische Vermögen“ heraus, der einen Systemteil der Wissenschaftslehre ansatzweise ausführt. Auf der Basis des in der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre“ fundierten Satzes: „das Ich sezt sich als bestimmt durch das Nicht-Ich“ (J. G. Fichte, Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rüksicht auf das theoretische Vermögen als Handschrift für seine Zuhörer, Jena u. Leipzig 1796, in: Akad.-Ausg. I/3, 137–208, hier: 143; zur Einführung 129ff.) sucht er mit der Deduktion von Raum und Zeit die Notwendigkeit der im Nicht-Ich inbegriffenen Mannigfaltigkeit zu beweisen, mit der es das Ich zu tun bekommt, ohne deshalb aufzuhören, Prinzip der Einheit des Verschiedenen zu sein. Im darauffolgenden Jahr wurde die „Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre“ (ders., Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre, Jena u. Leipzig 1796, in: Akad.-Ausg. I/3, 311–460; zur Einführung 291ff.) entwickelt und zwar in drei Hauptstücken, deren erstes die Deduktion des Begriffs des Rechts anhand dreier Leitsätze zur Aufgabe hatte. Danach kann ein endliches Vernunftwesen sich selbst nicht setzen, ohne sich eine freie Wirksamkeit zuzuschreiben, wobei hinzuzufügen ist, dass es durch das Setzen seines Vermögens zur freien Wirksamkeit eine Sinnenwelt außer sich setzt, um sie zu bestimmen (vgl. Akad.-Ausg. I/3, 329ff., 335ff.). Zugleich ist es ihm unmöglich, sich selbst eine freie Wirksamkeit in der Sinnenwelt zuzuerkennen, ohne dies in entsprechender Weise auch in Bezug auf andere endliche Vernunftwesen zu tun, deren externe Existenz anzunehmen sei. Daraus ergibt sich der Begriff der Gerechtigkeit nach Maßgabe des dritten Lehrsatzes des ersten Hauptstücks, welcher besagt, dass ein endliches Vernunftwesen andere endliche Vernunftwesen außer sich nicht annehmen kann, ohne sich als in einem bestimmten Rechtsverhältnis zu ihnen stehend zu setzen. Es gilt die Maxime: „Ich muß das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken.“ (Akad.-Ausg. I/3, 358; bei F. kursiv) Die verbleibende Aufgabe der beiden folgenden Hauptstücke der nach Prinzipien der Wissenschaftslehre entwickelten Grundlage des Naturrechts besteht darin, die Anwendbarkeit des seiner Bestimmung zugeführten Rechtsbegriffs auf individuelle Personen in ihrer leibhaften Verfassung zu deduzieren und ihn schließlich zu konsequenter Anwendung zu bringen durch Statuierung dessen, was Fichte Urrecht nennt, durch Errichtung eines gesetzlichen Zwangsrechts sowie das Staatsrecht als geltendes Recht in einem Gemeinwesen. 1797 hat Fichte dem Staatsrecht als angewandtem Naturrecht in Fortführung und als zweiten Teil der Grundlegung eine eigene Untersuchung gewidmet (ders., Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre. Zweiter Theil oder Angewandtes Naturrecht, Jena u. Leipzig 1797, in: Akad.-Ausg. I/4, 1–165). Noch im Laufe des Jahres 1797 erschien dann bis zu Anfang 1798 in verschiedenen Lieferungen der Zeitschrift „Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten“, die Fichte gemeinsam mit Friedrich Immanuel Niethammer herausgab, ein weiterer „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“, allerdings ohne vollendet zu werden. Fichte erstrebte darin eine bessere Fasslichkeit seiner Darstellung – wie er denn überhaupt darum bemüht war, die, um mit der Vorlesungsankündigung für Wintersemester 1796/97 zu reden, „fundamenta philosophiae transcendentalis nova methodo“ zu entfalten, ohne freilich wegen der neuen Methode die ursprüngliche Einsicht seiner Wissenschaftslehre zur Disposition zu stellen. Sie bleibt erhalten und wird bestätigt, wie man anhand der zur Ostermesse 1798 erschienenen umfangreichen Monographie „Das System der Sittenlehre nach den Prinicipien der Wissenschaftslehre“ (ders., Das System der Sittenlehre nach den Prinicipien der Wissenschaftslehre, Jena u. Leipzig 1798, in: Akad.-Ausg. I/5, 19–317; zur Einführung

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dabei Dieter Henrichs Studie „Fichtes ursprüngliche Einsicht“, die 1966 in der Festschrift für Wolfgang Cramer „Subjektivität und Metaphysik“ erstmals erschien und im darauffolgenden Jahr als Separatdruck publiziert wurde.11 1ff.) exemplarisch studieren kann, die nur deshalb nicht die zu erwartende Aufmerksamkeit des gelehrten Publikums auf sich zog, weil bald danach der sog. Atheismusstreit ausbrach. Inhaltlich bleibt es bei dem Grundsatz der absoluten Identität von Subjekt und Objekt im Ich, auf den Fichte im ersten Abschnitt der Einleitung seines Systems der Sittenlehre sogleich zu sprechen kommt. Zwar könne die Richtigkeit dieses Satzes nicht unmittelbar als Tatsache des Realbewusstseins nachgewiesen werden; aber dies sei nachgerade deshalb der Fall, weil die absolute Icheinheit von Subjekt und Objekt allen wirklichen Bewusstseinsvollzügen bereits zugrunde liege und die Basis tatsächlichen Selbstbewusstseins bilde (vgl. Akad.-Ausg. I/5, 21). Fichtes ursprüngliche Einsicht ist damit noch einmal umschrieben. Wie gelangt man zu ihr? Die Antwort darauf ist in der Vorrede der 1800/1801 in zwei Auflagen erschienen Schrift über „Die Bestimmung des Menschen“ gegeben, mit der sich Fichte erstmals nicht an ein professionell geschultes, sondern an ein allgemein an Fragen der Philosophie interessiertes Publikum gewendet hat. Sie besagt, „daß der Ich, welcher im Buche redet, keinesweges der Verfasser ist, sondern daß dieser wünscht, sein Leser möge es werden; – dieser möge nicht bloß historisch fassen, was hier gesagt wird, sondern wirklich und in der That während des Lesens mit sich selbst reden, hin und her überlegen, Resultate ziehen, Entschließungen fassen, wie sein Repräsentant im Buche, und durch eigne Arbeit und Nachdenken, rein aus sich selbst, diejenige Denkart entwickeln, und sie in sich aufbauen, deren bloßes Bild ihm im Buche vorgelegt wird.“ (Ders., Die Bestimmung des Menschen, Berlin 1800, in: Akad.-Ausg. I/6, 183–309, hier: 189f.; zur Einführung 147ff.) Damit ist die hermeneutische Regel angegeben, wie der Autor selbst sein Werk verstanden haben möchte. Zu dessen weiterer Entwicklung bis hin zur religionsphilosophischen Schrift „Anweisung zum seligen Leben“ von 1806, die Fichte in Berliner Vorlesungen auf der Basis seiner Wissenschaftslehren von 1801/02 und 1804 vortrug, vgl. die Bemerkungen Pannenbergs in „Theologie und Philosophie“, 220f., auf deren Gehalt noch näher einzugehen sein wird. 11 D. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, in: Subjektivität und Metaphysik. Festschrift für Wolfgang Cramer, Frankfurt a. M. 1966, 188–232. Separatdruck Frankfurt a. M. 1967; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Die siebenteilige Studie (I. Ich ist Reflexion seiner selbst; II. Ich setzt sich schlechthin; III. Ich setzt sich als sich setzend; IV. Ich ist Kraft, der ein Auge eingesetzt ist; V. Ich ist Erscheinung; VI. Nachweise zur Entwicklungsgeschichte; VII. Ausblick) ist dem Henrich’schen Alterswerk „Dies Ich, das viel besagt“ (Frankfurt a. M. 2019) als Dokument beigegeben (1–49) und mit einer erneuten, sehr viel umfangreicheren Abhandlung zum Thema versehen (51–301), welche die erste – ein halbes Jahrhundert vorher erschienene – interpretiert, modifiziert und gedanklich fortentwickelt, um schließlich „Fichtes Modell eines Systems den Umriss einer anderen Konzeption entgegenzustellen“ (XI): „Man könnte sagen, dass diese Konzeption Immanuel Kants Denken aufnimmt und weiterführt, nachdem sie sich der Nagelprobe von Fichtes Einsicht ausgesetzt hat.“(Ebd.) Der Titel der Untersuchung lautet: „Der Einsicht nachdenken“. Ihr Inhalt ist in 26 Unterabschnitte und vier Hauptteile gegliedert (I. Horizonte der Einsicht; II. Das Problem im Zentrum; III. Alternativen im Bauplan; IV. Ein Rückblick zum Hintergrund). Im I. Teil werden erneut die Gründe und Schwierigkeiten der Fichte’schen Annahme erwogen, dem „Ich“ sei in dem Bewusstsein, das es von sich selbst hat, die Bedeutung eines philosophischen Systemprinzips zuzuerkennen. Werde das Selbstbewusstsein des Ich nicht abstrakt vom Vollzug des

Der Ichphilosoph unter Atheismusverdacht

Mögen ihre Einzelergebnisse „mittlerweile als widerlegt“12 gelten; nicht zu Sichwissens im Einzelsubjekt abgehoben, könne sein Ursprung schwerlich auf den Akt einer Selbstsetzung zurückgeführt werden, wie Fichte anfänglich meinte. Der Ichphilosoph hat sich deshalb Henrich zufolge bald schon veranlasst gesehen, seine Ausgangsformel vom sich selbst setzenden Ich zu revidieren, ohne deshalb seine ursprüngliche Einsicht preiszugeben. Eine Schlüsselbedeutung komme im Zuge besagter Revision der dritten Formel zu, die mit der Neufassung der Wissenschaftslehre von 1801/02 führend geworden sei: „Nicht das Setzen, sondern das Sehen eines Auges, das ganz auf sich selbst fokussiert ist, charakterisiert nun das, was die Ichheit ausmacht – und zwar eines Auges, das einer setzenden Aktivität eingesetzt ist.“(167) Nachdem er den Zusammenhang von Ich-Gedanken und Sprache bedacht und sprachanalytische Zugänge (Quine, Davidson, Tugendhat) zur Thematik kritisch erörtert hat, setzt sich Henrich intensiv mit der Frage auseinander, inwiefern die Selbstbeziehung des Ich einem Ursprung zugeordnet werden und selbstbewusste Subjektivität als Manifestation eines „Absoluten“ gelten könne (vgl. 167). Auf das „bedeutungsstarke Bild“ (270) von dem eingesetzten Auge, dessen auf sich selbst gerichteter Blick das Ich sehend macht und zu rationaler Einsicht bringt, kommt Henrich dann im dritten Teil und insbesondere in dem Abschnitt zurück, in welchem er seine eigene Konzeption herausarbeitet und „Grundzüge einer möglichen Alternative zur Explikation und Durchführung von Fichtes Einsicht“(277) skizziert. Es bestätigt sich: „Gerade der geschlossene Selbstbezug von Subjekten ist das Gegenteil einer Tatsache, deren Bestand sich aus ihr selbst verstehen lässt.“ (271) Henrich erinnert in diesem Zusammenhang an das Wort Kants, wonach man sich „vom Ursprung eines freien Wesens keinen Begriff machen“ (277) könne. Entsprechend schließen die Nachgedanken zu Fichtes ursprünglicher Einsicht mit Erörterungen zu Kants Aussagen über Selbstbewusstsein im 26. Abschnitt, dem einzigen ihres letzten Teils. Begründet wird dies mit dem Hinweis, dass die zuvor verdeutlichte Konzeption „Fichtes Einsicht in einem Rahmen leitend werden lässt, der die Grundzüge von Kants Perspektive auf Selbstbewusstsein als philosophisches Problem bewahrt“ (283, Anm. 145). 12 U. Barth, Metakritische Anmerkungen zu Falk Wagners Fichte-Verständnis, in: Chr. Danz/M. Murrmann-Kahl (Hg.), Spekulative Theologie und gelebte Religion. Falk Wagner und die Diskurse der Moderne, Tübingen 2015, 45–67, hier: 47 Anm. 7 unter Verweis auf W. Janke, Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft, Berlin 1970; J. Stolzenberg, Fichtes Begriff der intellektuellen Anschauung. Die Entwicklung in den Wissenschaftslehren von 1793/94 bis 1801/02, Stuttgart 1986. Von Stolzenberg wurde bestritten, dass Henrich die Verfassung des Ichbegriffs der frühen Wissenschaftslehren im Sinne Fichtes erfasst hat (vgl. 151f. Anm. 142). Er habe „weder die spezifischen darstellungslogischen Bedingungen berücksichtigt, unter denen der Begriff des Ich konstituiert wird, noch die für die neue Fassung des Ichbegriffs entscheidende Doppelung des Momentes des Begriffs berücksichtigt“ (224, Anm. 36), wonach das Ich Begriff und Anschauung zugleich sei. Was Henrich erst für die folgende Entwicklung in Anschlag bringe, nämlich die Erklärung der gleichursprünglichen Momente des Ich aus einem es transzendierenden tätigen Grund, sei bereits vor 1800 gegeben. Auch gegen Henrichs Interpretation der Entwicklung nach der Jahrhundertwende meldet Stolzenberg Bedenken an (vgl. 151f. Anm. 142 sowie 287 Anm. 14). Anders als Henrich stellt sich ihm die Entwicklung der Fichte’schen Wissenschaftslehren von 1793/94–1801/02 insgesamt als kontinuierlich dar. Im Modus differenter Darstellungen erweise sich „die Identität eines Sachzusammenhangs, dessen Grundverfassung Fichte von Anfang an vor Augen stand. Die differenten Formen seiner Darstellung sind die Stufen seiner analytischen Durchdringung.“ (12) Der Fortgang gedanklicher Explikation der Internverfassung des Prinzips der

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widerlegende Tatsache ist, dass Henrichs Deutung des frühen Fichte und die mit ihr verbundene ichtheoretische Kritik von Pannenberg (und nicht wenigen seiner Schüler) rezipiert und zu einer impliziten Prämisse eigener Theoriekonstruktionen zum Thema Subjektivität und Selbstbewusstsein erhoben worden ist; ihr argumentativer Sachanspruch bleibt jenseits spezieller Anfragen an Henrichs Fichteexegese bestehen, die für diesen, wie immer man sie ansonsten beurteilen mag, und auch für Pannenberg „als ein Ausgangsimpuls oder als eine Zwischenstation der Auffindung (einer) eigenen Position“13 fungierte. 12.2

Fichtes ursprüngliche Einsicht

Wer als Sprechersubjekt „Ich“ sagt oder Entsprechendes denkt, weiß, dass er sich selbst meint. Diese Feststellung versteht sich offenbar von selbst und ohne weitere Erklärung. Ihre Evidenz scheint unmittelbar gegeben, Ichbewusstsein als Wissen von sich eine Selbstverständlichkeit zu sein. Wer aber versucht, genau zu erläutern, was es heißt, sich seiner selbst als Ich bewusst zu sein, „wird schnell dahin geführt, sich mit einem höchst komplexen Sachverhalt und in ihm einem höchst vertrackten Problem ausgesetzt zu sehen, das ihn in sich ständig aufs Neue hintergehenden Versuchen der Verständigung über es vor sich hertreibt“14 . So hat es Henrich in seinem jüngst erschienenen, an die Studie von 1966 anschließenden Buch: „Dies Ich, das viel besagt“ konstatiert, um hinzuzufügen: „Fichte ist es mit seinem gesamten Lebenswerk so ergangen.“15 Er hat das bestehende Problem „als erster in der Tiefe erfasst … und es maßgebend für sein philosophisches Programm werden“16 lassen, ohne seine Komplexion einfachhin auflösen zu können. Diese ergibt sich für Fichte gemäß Henrich in ihrem Zentrum „daraus, dass das Selbstwissen von dem, was sich als Subjekt kennt, nicht in einer Selbstbeziehung bestehen kann, von der man wie in einer Beobachtung feststellt, dass sie unter irgendwelchen Bedingungen eintritt und vorliegt. Sie muss eine solche Selbstbeziehung sein, innerhalb derer von ihr explizit und als solcher Kenntnis genommen ist – und dies wieder so, dass das Faktum und die Kenntnis von ihm nicht aufeinander folgen, sondern in selbst einsichtiger Notwendigkeit aneinander gebunden sind.“17

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Wissenschaftslehre, um den Stolzenberg in seiner Untersuchung zu tun ist (vgl. 377ff.), sei bruchlos erfolgt. U. Barth, ebd. D. Henrich, Dies Ich, das viel besagt. Fichtes Einsicht nachdenken, Frankfurt a. M. 2019, IX. Ebd. A.a.O., VII. A.a.O., IX.

Fichtes ursprüngliche Einsicht

Reflexionsphilosophischer Zirkel Ein halbes Jahrhundert, bevor er diese Zeilen schrieb, hatte Henrich der ursprünglichen Einsicht Fichtes und den Konsequenzen, die sich aus ihr ergaben, eine eigene Studie gewidmet, die einen wesentlichen Anstoß dazu gegeben hat, die Theorie des Selbstbewusstseins neu zu durchdenken. Danach ist die Entwicklung der Fichte’schen Wissenschaftslehre „als fortschreitende Analyse eines Begriffs vom Ich“ (9) zu deuten, den Kants „Theorie vom Wesen des Ich als Reflexion“ (11) nicht zu fassen vermochte, der aber gedacht werden muss, um die kritische Philosophie konstruktiv begründen zu können. Kant hatte das Ich als jenen Akt gedacht, „in dem das Subjekt des Wissens von allen besonderen Gegenständen absieht, sich in sich selbst zurückwendet und so die stetige Einheit seiner mit sich gewahrt“ (10f.). Den „Ursprung des Selbstbewußtseins (zu) erklären“ (13) gelang ihm auf diese Weise nicht. Denn entweder setzt die Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins das Ichphänomen „unerklärt voraus“ (13) oder „sie bringt es zum Zerspringen“ (ebd.). Der Einheitsgrund von Ich und Selbst und die selbstbewusste Identität des sich wissenden Ich lassen sich reflexionstheoretisch nicht verständlich machen. Dieses von Kants Philosophie hinterlassene Defizit sollte Fichtes Begriff des Ich als Tathandlung beheben, wie er der Wissenschaftslehre von 1794 zugrunde gelegt war. Doch wird durch den Gedanken der Tathandlung, wie Pannenberg unter Berufung auf Henrich sagt, zwar der Zirkel einer reflexionsphilosophischen Ichtheorie vermieden, nicht aber „das reflexe Wissen des Ich von sich erklärt, von dem Fichte gesagt hatte, daß es vom Ich unabtrennbar ist“18 . Ursprüngliche Tathandlung Das sich selbst setzende Ich soll in der Weise ursprünglicher Tathandlung das ganze Ich ohne alle Vermittlung und damit in vermittlungsloser Unmittelbarkeit hervorbringen. In der Konsequenz von Fichtes ursprünglicher Einsicht, dass das Ich reflexionstheoretisch nicht zu begründen sei, ist diese These verständlich, ohne deshalb argumentativ plausibel zu sein: „(S)ie hintergeht das Wissen des Ich von sich, ohne zu ihm zurückzuführen.“ (21) Um diesen Mangel zu beheben und das Resultat des Setzens des Ich als ein Wissen um sich kenntlich zu machen, erweiterte Fichte seit 1797 die erste Grundformel seiner Wissenschaftslehre zu der Wendung, wonach das Ich sich schlechthin als sich setzend setzt (vgl. ebd.). Das Selbstbewusstsein, schreibt Fichte im „Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre“, in dem Subjektives und Objektives, Ich und Selbst samt allem, was das Ich nicht unmittelbar selbst ist,

18 W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 220.

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„unzertrennlich vereinigt und absolut Eins“19 sind, ist sich selbst im Modus unmittelbarer (intellektueller) Anschauung offenbar und zwar als „ein sich Setzen als setzend“20 : „Ich bin diese Anschauung und schlechthin nichts weiter, und diese Anschauung selbst ist Ich.“21 Besteht die ursprüngliche Tathandlung des setzenden Ich im Setzen seiner selbst als setzend, dann hat sich das Ich samt seinem Wissen von sich „im Nu“ (24) hervorzubringen. Doch bleibt das Vermögen hierzu nach Henrich unerfindlich: „So erhebt sich im Zusammenhang von Fichtes eigenen Überlegungen die überraschende und über vieles entscheidende Frage, ob das Ich letztgültig durch die Rede vom ‚Setzen seiner selbst‘ bestimmt ist.“ (Ebd.) Sich gegebenes Ich Auch gemäß der Formel, wonach das Ich sich schlechthin als sich setzend setzt, kann Henrich zufolge Selbstbewusstsein als sich wissende Einheit von setzendem und gesetztem Ich nicht verständlich gemacht werden. Pannenberg teilt diese Auffassung: „Es wird nicht evident, wie das Ich sich selber als sich habendes und sich wissendes hervorbringen kann.“22 Von daher sei es folgerichtig, wenn Fichte den „Gedanken der Selbstsetzung als Grund des Ichbewußtseins“23 aufgegeben und dem selbsttätigen Ich einen nicht wiederum Ich zu nennenden Grund vorausgedacht habe, von dem her es sich selbst zu verstehen und in seinem selbstbewussten Wissen um sich zu erklären vermöge. In der „Darstellung der Wissenschaftslehre“ aus den Jahren 1801/02 beschreibt Fichte die intellektuelle Anschauung, in der sich das Ich selbst auf einen Blick erfasst, metaphorisch als eine Schau, der ein Auge eingesetzt ist. Das Setzen, in dem das Ich sich als sich selbst setzend setzt, hat sich nicht dazu gemacht, sondern ist eingesetzt, Setzen zu sein, muss also als eine vermittelte und nicht als eine Selbsttätigkeit von vermittlungsloser Unmittelbarkeit verstanden werden. Nach Henrich „dementiert“ (26) die Metapher vom eingesetzten Auge als „dritte Formel“ (ebd.) der Wissenschaftslehre die beiden vorhergehenden und damit „die Interpretation, die Fichtes Grundgedanke in seiner frühen Lehre gefunden hat“ (ebd.). Um im Zuge der Behebung einer Aporie nicht selbst aporetisch zu werden, bedurfte Fichtes ursprüngliche Einsicht eines Selbstverständigungswandels hin zu einer Absolutheitstheorie, die mit dem Wissen um die Differenz von Ich und Ichgrund zugleich das Bewusstsein verbindet, dass das Absolute 19 J. G. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre. Vorerinnerung, Erste und Zweite Einleitung, Erstes Kapitel (1797/98). Hg. v. P. Baumanns, Hamburg 1975, 108. 20 Ebd. 21 A.a.O., 109. 22 W. Pannenberg, a.a.O., 220. 23 Ebd.

Fichtes ursprüngliche Einsicht

auch noch das absolute Wissen transzendiert und mithin als Unvordenkliches zu denken ist. Unvordenklicher Grund Der Weg, der in Fichtes Wissenschaftslehre von 1801/02 eingeschlagen ist, führt zum Gedanken eines Grundes von Ich, Selbst und Welt, „der im Denken nicht weggedacht werden kann und dennoch etwas ganz anderes als ein ‚notwendiger Begriff der Vernunft‘ ist“ (39 Anm. 29).24 Weil das sich wissende Ich „sich der Konstruktion durch Begriffe entzieht“ (33f.), muss, um Subjektivität und Selbstbewusstsein zu begreifen, ein unvordenklicher Ichgrund vorausgesetzt werden, in und durch den das Ich sich selbst gegeben ist gleich einem Auge, welches, um zu sehen und sich selbst zur Anschauung zu bringen, immer schon für sich erschlossen sein muss. Spricht Fichte in der „Darstellung der Wissenschaftslehre“ aus den Jahren 1801/02 von der Bestimmung des Ich, „sich und die Welt in Gott an(zu)schauen“25 und zwar mit jenem Auge, das „nicht ausser ihm, sondern in ihm“26 liegt und „eben das lebendige sich Durchdringen der Absolutheit selbst“27 ist, „so deutete er in den folgenden Jahren das Selbstbewußtsein geradezu als Manifestation Gottes“28 . Zum Beleg verweist Pannenberg auf die zweite Vorlesung von 1804, die Fichte vom 16. April bis 8. Juni des Jahres vorgetragen hat und die von den späteren Wissenschaftslehren am „berühmtesten“ 29 geworden ist. Darin wird das Selbstsein des Ich als eine Erscheinung des Absoluten erklärt, in dem das göttliche Licht erstrahlt, um erleuchtete Selbst- und Weltanschauung zu erschließen. Die „Genesis des Sich oder Ich“30 ist nicht anders denn als Selbstoffenbarung Gottes zu erfassen, mittels derer selbstbewusste Subjektivität sich gegeben und 24 W. Schulz hat den Einschnitt, der in den Jahren um 1800 zu erkennen sei, vorläufig wie folgt skizziert: „Als Prinzip des Wissens wird nach 1800 nicht mehr, wie in den ersten Wissenschaftslehren, das absolute Ich gesetzt, sondern dies Ich wird seinerseits in das eingeordnet, was Fichte zunächst die moralische Weltordnung, den unendlichen Willen oder das Göttliche, späterhin das Leben oder die Liebe und schließlich das absolute Sein oder schlechthin Gott nennt.“ (W. Schulz, Johann Gottlieb Fichte. Vernunft und Freiheit, Pfullingen 1962, 9f.) 25 J. G. Fichte, Darstellung der Wissenschaftslehre. Aus den Jahren 1801/02. Hg. v. R. Lauth, Hamburg 1977, 219. Vgl. hierzu W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 220f.; zur Geschichte der Augenmetapher 221 Anm. 19. 26 J. G. Fichte, a.a.O., 26. 27 Ebd. 28 W. Pannenberg, a.a.O., 221 unter Verweis auf D. Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht, a.a.O., 39: „Selbstsein ist Manifestation Gottes.“ 29 P. Rohs, Johann Gottlieb Fichte, München 1991, 150. 30 J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre. 2. Vortrag im Jahre 1804 vom 16. April bis 8. Juni. Hg. v. R. Lauth, Hamburg 1975, 216. Vgl. hierzu und zu anderen Belegstellen W. Pannenberg, a.a.O., 221 Anm. 22f. In der von G. Schulte eingeleiteten und kommentierten „Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umriß“ von 1810 (Frankfurt a. M. 1976) wurde dann, wie Pannenberg

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Das Ich und das Selbst

als Grundlage allen Wissenkönnens eingesetzt ist. Die „Anweisung zum seligen Leben“ von 1806 bestätigt den an den vorhergegangenen Fassungen der Wissenschaftslehre erhobenen Befund. „Selbstbewußtsein“ ist und bleibt „Prinzip von Fichtes Denken“ (7). Alles Leben setze es voraus, „und das Selbstbewußtsein allein ist es, was das Leben zu ergreifen, und es zu einem Gegenstand des Genusses zu machen, vermag“31 . Seligkeit sei mithin im Ernst keinem anderen Leben zuzuschreiben „außer demjenigen, das seiner selbst sich bewußt ist“32 . Zum seligen wird das selbstbewusste Leben, wenn es sich als den bestimmenden Einheitsgrund der Mannigfaltigkeit der Welt wahrnimmt und zugleich erkennt, dass sein Sein nicht unmittelbar in sich, sondern im Absoluten, in der Gottheit Gottes gründet, durch welchen das Ich in seiner Ichheit sich als es selbst gegeben ist.33 Fichtes letztgültige Einsicht Für die Theorie von Ich und Selbst, wie Pannenberg sie in seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ entwickelt, kommt Fichte insofern weichenstellende Bedeutung zu, als er nicht nur die Theorie des Ich als Reflexion, sondern auch den Gedanken der Selbstsetzung des Ich als aporetisch erkannt und aus der Erkenntnis seiner Undurchführbarkeit absolutheitstheoretische Schlüsse gezogen habe, die wegweisend seien. Bemerkenswerterweise wird dem späten Fichte Hegel gegenüber der Vorzug gegeben. Zwar sei der Subjektbegriff des frühen Fichte von Hegel dahingehend korrigiert worden, „daß die Subjektivität des Ich sich nur durch seine Entäußerung an das andere seiner selbst, an das Nicht-Ich realisiert“34 ; aber Hegel habe „Fichtes anfängliche These einer Selbstsetzung des Ich als solche beibehalten, während der späte Fichte damit über Hegel hinausweist, daß er diesen Gedanken als undurchführbar durchschaut hat“35 . Auf diese kritische Einsicht kommt es Pannenberg im Entscheidenden

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vermerkt, das Ich als „Schema“ (26) Gottes beschrieben, der allein „schlechthin durch sich selbst“ (25) und „nicht der todte Begriff, den wir soeben ausgesprochen“ (25f.), sondern „in sich selbst lauter Leben“ (26) sei. Auf die Wissenschaftslehren der Folgejahre (vgl. Fichtes Werke. Hg. v. I. H. Fichte, Bd. X: Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie II, Berlin 1971, 1ff.; 315ff.) hat Pannenberg nicht mehr expliziten Bezug genommen. Zur Klärung der Grundbegriffe der späteren Wissenschaftslehre (Schema; sich selbst erscheinende Erscheinung; Bild etc.) vgl. bes. 347ff. J. G. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben. Hg. v. H. Verweyen, Hamburg 1983, 19f. A.a.O., 19. Vgl. W. Pannenberg, a.a.O., 221. Ders., Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, 289. Ebd. Vgl. dazu auch die Schlussbemerkungen in Henrichs Studie „Fichtes urspüngliche Einsicht“. Gegen Hegels Denken „hätte Fichte zweierlei einzuwenden gehabt: Hegel denkt die Einheit der Gegensätze nur dialektisch, also aus ihrem Resultat, das Phänomen des Ich verlangt

Fichtes ursprüngliche Einsicht

an, woran sein Urteil nichts ändert, dass eine konstruktive Behebung der erkannten Aporie bei Fichte nur in Ansätzen erkennbar, nicht aber in der Form eines ausgearbeiteten Systems gegeben sei. Auch die Abwehrhaltung des späten Fichte Hegels Versuch gegenüber, das religiöse Bewusstsein in absolutes Wissen zu überführen und seine Vorstellungen in den Begriff aufzuheben, teilt Pannenberg. Vorstellungshaftigkeit ist Fichte zufolge ein Kennzeichen jedes Realbewusstseins, weshalb eine „Vergegenständlichung“ auch des Absoluten nicht vermeidbar sei, wenn unter realen Bewusstseinsbedingungen an dessen nicht nur weltüberlegener, sondern subjekttranszendenter „Objektivität“ festgehalten werden soll. Inwieweit die terminologischen Transformationen von Grundbegriffen der Wissenschaftslehre seit den Fassungen von 1801/02 und 1804 mit dieser Erkenntnis zusammenhängen, wäre ebenso zu prüfen wie die Auswirkungen des Begriffswandels auf die Kritik des Gedankens der Persönlichkeit Gottes.36 Auf jeden Fall verdient es bemerkt zu werden, dass, was in den alten Fassungen der Wissenschaftslehre, das Absolute etc. hieß, in den jüngeren wieder ohne Vorbehalt mit dem Namen Gottes bezeichnet wird.37 aber, sie als ursprüngliche Einheit zu fassen. Des weiteren denkt er die Einheit von Wirklichkeit und Freiheit nur als Verwirklichung der Freiheit, somit wiederum nicht als ursprüngliche Einheit der beiden.“ (50) Demgegenüber gelte es von Fichte her Freiheit „schon in sich als wirkliche Freiheit zu denken“ (ebd.). Mit Blick auf die Kritiker der Studie Henrichs sei daran erinnert, dass auch er die Entwicklung der Fichte’schen Wissenschaftslehre als einheitlichen Prozess deutet. „Alle Wandlungen, die sie erfuhr, steigerten nämlich nur die Klarheit über Eigenart und Konsequenz seiner ursprünglichen Einsicht.“ (37) 36 Zu Fichtes Kritik des Gedankens der Persönlichkeit Gottes vgl. zusammenfassend die Bemerkungen im dritten Buch seiner Schrift über „Die Bestimmung des Menschen“: „In dem Begriffe der Persönlichkeit liegen Schranken. Wie könnte ich jenen auf dich übertragen, ohne diese?“ (J. G. Fichte, Die Bestimmung des Menschen [1800], Leipzig 1944, 140) Gott, so Fichte, ist „vom Endlichen nicht dem Grade, sondern der Art nach verschieden“ (ebd.). Endliches lasse aber „auch durch unendliche Steigerung und Erhöhung sich nie ins Unendliche umwandeln“ (ebd.). Hinzuzufügen ist der erkenntnistheoretische Grundsatz, der Fichte leitet: „Was ich begreife, wird durch mein bloßes Begreifen zum Endlichen.“ (Ebd.) 37 Vgl. W. Ritzel, Fichtes Religionsphilosophie, Stuttgart 1956, 182. Deutlicher als andere Interpreten hebt G. Sans die Kontinuität der Denkentwicklung Fichtes von seiner ursprünglichen Einsicht bis zu den späten Konzeptionen der Wissenschaftslehre hervor (Ich und Nicht-Ich. Zum 250. Geburtstag von Johann Gottlieb Fichte, in: StdZ 137 [2012], 305–314). Wissen und bewusstes Wollen, das anderes sei als bloßer Trieb, ist „nur dort möglich, wo ein Wissender oder eine Wissende von sich selbst als wissend weiß, das heißt in Fichtes Worten, wo ein Ich sich selbst setzt“ (310). Das sich selbst Setzen des Ich unterliegt keinen äußeren Bedingungen und ist insofern bedingungslos, ohne deshalb unbedingt im absoluten Sinne zu sein. Vom Absoluten, das durch keinerlei Differenz bestimmt ist, unterscheidet es sich durch seinen Unterschied zum Nicht-Ich, das ihm „entgegengesetzt“ ist. An sich selbst ichförmig begegenet das Nicht-Ich in Gestalt eines Du, das als eigenständiges Subjekt anzuerkennen nach Fichte die Voraussetzung der Sittlichkeit ist. In der Anerkennung des anderen als eines vom eigenen un-

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Alles, was zur Erkenntnis zu bringen ist, steht unter der Bedingung, gewusst werden zu können. Für jeden denkbaren Gegenstand von Erkenntnis ein je eigenes Bewusstsein in Anschlag zu bringen, wäre offenkundig absurd, weil auf diese Weise eine Synthesis des Mannigfaltigen der gegenständlichen Wahrnehmung unmöglich gemacht würde. Um sie zu ermöglichen, hat das Bewusstsein im Wissen des Gewussten auf sich bezogen und seiner selbst bewusst zu sein. Ohne selbstreferentiellen Bezug des Bewusstseins auf sich wäre verständiges Begreifen der Anschauungen in ihrer Mannigfaltigkeit und damit die Einheit in der Bewusstseinswelt nicht denkbar. Das selbstbewusste cogito ist die Bedingung der Möglichkeit geordneter Gegenstandserfahrung und Erkenntnis. In diesem Sinne spricht Kant vom Ich denke, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können (vgl. KrV B 132). Transzendentale Apperzeption Das Bewusstsein seiner selbst nennt Kant in Anschluss an Leibniz Apperzeption, wobei er zwischen einer empirischen und einer transzendentalen unterscheidet. Vermöge der empirischen Apperzeption ist das Ich so auf sich selbst bezogen, dass es sich selbst im Zusammenhang der Welterfahrung als ein bestimmtes Individuum erfährt. Doch steht wie seine Welterfahrung auch die individuelle Selbsterfahrung des Ich unter der Voraussetzung transzendentaler Apperzeption, mit der Kant kein empirisch identifizierbares Ich assoziiert, sondern den bloßen Ich-Gedanken und damit nichts als das alles Vorstellen und Begreifen begleitende Bewusstsein des Ich denke, welches das Mannigfaltige des Erfahrens und Erkennens förmlich synthetisiert. Daraus folgt, dass das „Ich denke“ im Sinne Kants mit Individualsubjekten und deren kognitiven, voluntativen und emotionalen Selbstvollzügen nicht gleichgesetzt werden darf, weil Individuen, die sich empirisch identifizieren lassen und sich selbst in ihrer Individualität auf empirisch vermittelte Weise identifizieren, in ihrer Selbstwahrnehmung die einheitsstiftende Synthesisfunktion transzendentaler Apperzeption zur Bedingung ihrer Möglichkeit haben. Soll empirische Apperzeption nicht in unzusammenhängender Vielfalt vergehen, ist ihr in allen Fällen eine transzendentale vorauszusetzen, die nicht als ein bestimmtes Subjekt, sondern als bloße Einheit zu denken ist, die jedem bestimmten Bezug vorhergeht. terschiedenen Ich, aus welcher das sittliche Verhältnis zu allem Nicht-Ich hervorgeht, erkennt das sich wissende Ich zugleich, als es selbst nicht ein und alles zu sein. „Trotz der Unhintergehbarkeit der setzenden Tätigkeit ist das Ich nicht der Grund von allem, sondern im Gegenteil selbst nur eine endliche Erscheinungsform des Absoluten.“ (313) Insofern koinzidiere die Letzteinsicht Fichtes mit seiner ursprünglichen.

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Kants Transzendentalsubjekt ist reine Synthesisfunktion und als solche Bedingung der Möglichkeit jeder Gegenstandserkenntnis und empirisch vermittelter Welt- und Selbsterfahrung, ohne an sich selbst gegenständlich erfassbar zu sein. Es ist, wie in der transzendentalen Dialektik der „Kritik der reinen Vernunft“ im Zusammenhang der Kritik rationaler Seelenmetaphysik im Einzelnen ausgeführt wird38 , eine Idee, von der ein regulativer Gebrauch gemacht werden muss, aber eben auch nur ein regulativer und kein objektiver Gebrauch gemacht werden kann. Der vermeintlich vernünftige Schluss vom transzendentalen Begriff des Subjekts als des reinen „Ich denke“, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können, ohne Mannigfaltiges in sich zu enthalten, auf ein empirisch oder als Transzendenzgröße gegebenes objektives Ich läuft nach Urteil Kants auf einen Paralogismus, auf einen Trugschluss hinaus, durch welchen die Vernunft sich selbst auf unvernünftige Weise hintergeht. Zwar gilt apodiktisch, dass in allen Verstandesurteilen das Cogito bestimmendes Subjekt und nie lediglich Prädikat desjenigen Verhältnisses ist, welches das Urteil ausmacht; doch lässt sich dieser Gewissheit kein objektives Wissen vom Subjekt als einer einfachen, für sich bestehenden, in allem Wechsel sich selbst gleichen, substantiell gegebenen, objektiven Größe von empirischer oder empirietranszendenter Existenz verbinden. Für die theoretische Vernunft ist das die Einheit des Bewusstseins identifizierende „Ich denke“ nur Einheit im Denken ohne gegebene Anschauung. Kurzum: Von der transzendentalen Vernunftidee des Ich kann wie von derjenigen der Welt und schließlich auch derjenigen Gottes nur ein regulativer, kein objektiver Gebrauch gemacht werden. Kant zieht aus dem kritischen Ergebnis den Schluss, dass das konstruktive Interesse der Philosophie von der theoretischen auf die praktische Vernunft zu verlagern sei. Der kanonische Gebrauch der Vernunft ist der praktische. Einheit des Selbstbewusstseins Fichte teilte Kants Ansatz. Nichtsdestoweniger sah er sich genötigt, ihn fortzubilden, weil es nach seinem Urteil philosophisch weder bei der Teilung in Theorie und Praxis, noch bei den Unklarheiten bleiben konnte, die sich mit Kants Ichbegriff und seiner Doppelung in ein empirisches und ein transzendentales Subjekt verbanden. Pannenberg schließt sich dieser Sachauffassung in seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“39 und anderwärts an. Auch nach seiner Einschätzung ist Kants Egologie nicht hinreichend klar, wodurch 38 Vgl. G. Wenz, Theoretische Vernunftkritik in praktischer Absicht. Eine unparteiische Erinnerung an Immanuel Kants Philosophie, in: W. Thiede (Hg.), Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen 2004, 11–66, hier bes. 27ff. 39 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983 (= Anthr.), bes. 211ff. Vgl. ferner die Ausführungen in: ders., Philosophie und Theologie, 188ff.

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er selber Verwechslungen „Vorschub geleistet“ (Anthr., 213) habe, insbesondere derjenigen zwischen dem transzendentalen Ich und einer vorhandenen Größe selbigen Namens von nun doch gleichsam empirisch-metaphysischer, jedenfalls irgendwie objektiv gegebener Natur. Zwar sei, wie Pannenberg eigens vermerkt, zu beachten, dass Kants Rede vom cogito als Wirklichkeitsbedingung einheitlichen Gegenstandsbewusstseins „nicht bedeutet, dass ein einheitliches Ich allem Gegenstandsbewußtsein voraus vorhanden sein müsse. Eine derartige Vorstellung dürfte bereits einer Verwechslung einer transzendentalen mit einer metaphysischen Feststellung zum Opfer gefallen sein“ (Anthr., 212), gegen die sich Kant ausdrücklich wendet (vgl. Anthr., 212, Anm. 78). „Fraglich und irreführend“ (Anthr., 212) bleibe indes Kants „Kennzeichnung jener transzendentalen Voraussetzung als ‚Einheit des Selbstbewußtseins‘. Dadurch wird nämlich nahegelegt, daß eine solche Einheit schon explizit jedem Bewußtseinsmoment zugrunde liegen müßte – wie es die metaphysische Vorstellung eines ‚a. rchego‘ als Basis des Bewußtseinsstromes in der Tat behauptet.“ (Anthr., 212f.) Kants Egologie ist nach Pannenbergs Urteil uneindeutig und mit dem Problem der „Abstraktion des transzendentalen Subjekts von der empirischen Realität, auch von der Realität des Subjekts selber“ (Anthr., 172) behaftet. Um ihre Ambivalenz zu beheben und ein durch verschiedene Ich-Begriffe erzeugtes Durcheinander zu vermeiden, sei Fichtes Frage, was das Kant’sche Transzendentalsubjekt an sich selbst sei, alternativlos gewesen. Sein Bemühen, sie durch Denken des cogito einer konsequenten Antwort zuzuführen, begründe seinen einzigartigen philosophiegeschichtlichen Rang. Fichte gilt Pannenberg als klassischer Selbstbewusstseinstheoretiker, dessen Ich-Philosophie aus „zwei Gründen von ungeminderter Aktualität“ (Anthr., 194) sei. Zum einen habe er den Unterschied von Ich und Selbst zu vermitteln und die tatsächliche Einheit beider im Selbstbewusstsein zu begründen versucht, was durch gängige Theoriebildungen häufig vernachlässigt würde. Zum anderen sei von ihm erkannt worden, dass der Versuch einer „Zurückführung der Einheit von Ich und Selbst auf die Tätigkeit des Ich“ (ebd.) in einer Aporie ende, welche die Annahme einer Selbstsetzung des Ich als grundsätzlich obsolet erscheinen lasse. „Wo heute die Einheit von Ich und Selbst auf die Tätigkeit des Ich zurückgeführt wird, bewegt man sich der gedanklichen Form nach immer noch auf dem Boden der ersten Wissenschaftslehre. Umso bedeutsamer ist es, daß schon Fichte es nicht möglich fand, bei diesem Modell des Selbstbewußtseins stehenzubleiben.“ (Ebd.)

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Von Kant zu Fichte Das Ich, das nach Kant alle unsere Bewusstseinszustände einschließlich des Bewusstseins unseres in Erfahrung zu bringenden Selbst begleiten können muss, lässt sich Fichte zufolge nicht reflexionstheoretisch erfassen. Ebenso wenig kann die „Einheit des Ich mit sich selbst“ (Anthr., 195) als durch Selbstsetzung begründet erwiesen werden, wie in den ersten Fassungen der Wissenschaftslehre noch angenommen worden war. Selbst die These, wonach das Ich sich als sich setzend setze, vermöge die Identität des setzenden mit dem gesetzten Ich und damit die Einheit des Ich mit sich selbst nicht zu erklären, wie sie im Selbstbewusstsein gegeben sei; die Frage bleibe mithin offen, „ob nämlich das Selbstbewußtsein sich in seinem Wissen von sich zugleich immer schon als dieses Wissen setzend, produzierend weiß und ob umgekehrt auch das setzende Ich sich immer schon zugleich als gesetztes weiß“ (Anthr., 196). In Anbetracht des ungelösten Problems der Einheit des „sich als sich setzend setzende[n] Ich“ (ebd.) mit dem „als sich setzend gesetzten Ich“ (ebd.) scheint Fichte, wie Pannenberg unter Bezug auf Henrich ausführt, „die Einsicht gewonnen zu haben, daß die Einheit des Ich mit sich selbst im Selbstbewußtsein sich nicht als Ergebnis einer Handlung des Ich erklären läßt“ (ebd.). Vielmehr findet sich das Ich als sich gegeben und immer schon in die im Selbstbewusstsein erfasste Einheit seiner mit sich „eingesetzt“ (ebd.). Da als Ursprung des Sichgegebenseins des Ich und der Einsetzung seiner Selbstidentität keine endlichen Weltgegenstände infrage kommen, weil deren Objektivität ohne vorausgesetztes Ich nicht in Erfahrung zu bringen ist, sieht Fichte sich veranlasst, seine Ich-Philosophie absolutheitstheoretisch zu fundieren. Der Gedanke des Absoluten wird eingeführt, um die Voraussetzung des mit sich identischen Ich als der impliziten Bedingung möglicher Selbst- und Weltwahrnehmung als eine Voraussetzung zu denken, die nicht gesetzt, sondern die unvordenkliche Bedingung aller möglichen Setzung ist. Das Absolute hat das Ich eingesetzt, Ich und die Einheit seiner selbst mit sich und somit jene Größe zu sein, die zwar nicht ohne Welt, aber nicht aus ihr erklärt werden kann. Ich und Selbst Die Aufgabe, das Verhältnis von Ich und Selbst als eine in sich differenzierte Einheit zu denken, ist jeder Selbstbewusstseinstheorie gestellt. Zugleich ist ihre Lösung durch Rückführung selbstbewusster Identität auf die Selbsttätigkeit des Ich nicht möglich. Beides hat Fichte erkannt, worin Pannenberg die bleibende Aktualität der Wissenschaftslehren und der mit ihnen verbundenen Religionsphilosophie40 des späten Fichte gegenüber Theoriemodellen sieht, welche die 40 Im Hinblick auf sie wird allerdings kritisch vermerkt, „daß Fichtes theologische Begründung der Einheit des Selbstbewusstseins der Sachlage gewissermaßen äußerlich bleibt, deren Pro-

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Einheit von Ich und Selbst entweder vernachlässigen, als selbstverständlich voraussetzen oder, wie Fichte einige Zeit selbst, auf die Selbsttätigkeit des Ich zurückführen. Die ursprüngliche Einsicht des Ichphilosophen und die Entwicklung seines Denkens stellen für Pannenberg Lehrbeispiele par excellence dar, womit zugleich der Rechtfertigungsgrund für die Ausführlichkeit der vorangegangenen Erörterungen benannt ist. Dennoch und unbeschadet seiner hohen Wertschätzung namentlich der Spätphilosophie Fichtes (und Schellings) gegenüber sieht er sich an entscheidender Stelle in Distanz nicht nur zu Fichte, sondern zu den Ansätzen idealistischer Subjektivitätsphilosophie überhaupt. Sei man doch in der Folgezeit dazu übergegangen, „das Selbstbewußtsein nun als durch gegenständliche Erfahrung vermittelt zu verstehen und damit die Verselbständigung des Selbstbewußtseins und seine Vorschaltung vor die gesamte Welterfahrung aufzulösen“ (Anthr., 197). Wie Pannenberg zu dieser Entwicklung steht, mag zweifelhaft sein; für umkehrbar hält er sie offenkundig nicht, weshalb er ihre Motive entschieden aufgreift, wie an zwei Fallbeispielen exemplifiziert werden soll. Bevor dies geschieht, sei festgehalten, wogegen sich die in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und nicht zuletzt mit Hegel paradigmatisch profilierte Egologiekritik vorzugsweise wendet, nämlich gegen die Annahme, „dem Prozeß unseres bewußten Daseins (liege) die Einheit eines ‚stehenden und bleibenden‘ Ich zugrunde. Das Ich für sich genommen tritt“, so heißt es, „in jedem Augenblick unseres Bewußstseinslebens punktuell auf. Es hat von sich aus keine Kontinuität, sondern erlangt sie erst, indem es durch unser Selbstbewußtsein in die Kontinuität unseres Selbst integriert wird, das uns als Bewußtsein unserer Identität gegenwärtig ist.“41 Das Ich ist, was es ist, auf dem Wege zu sich selbst. Da dieser Weg noch nicht zu seinem Ende gelangt und vollendet ist, kann die Einheit von Ich und Selbst nach Pannenberg nicht als definitiv gegeben behauptet werden. Eine solche Behauptung hätte vielmehr als irrig und verkehrt zu gelten. Zwar verharren Ich und Selbst nicht in vermittlungsloser Differenz, was zu behaupten ebenfalls abwegig wäre, weil dadurch Selbstbewusstsein als ein Wissen des Ich um sich selbst für unmöglich erklärt würde. Aber ebenso abwegig muss nach Pannenberg die These einer unmittelbaren Identität von Ich und Selbst im Bewusstsein des Menschen von sich beurteilt werden. Denn recht bei sich sei dieser nur im proleptischen Bewusstsein seiner Bestimmung, also dergestalt, dass sein wahrhaftes Selbst im Ich gegenwärtig wird, um es blematik er entwickelt“ (Anthr., 197); sie leiste, wie mit U. Pothast (Über einige Fragen der Selbstbeziehung, Frankfurt a. M. 1971, 45) gesagt wird, „keinen Beitrag zu ihrer Verständlichkeit“ (ebd.). 41 W. Pannenberg, Christliche Anthropologie und Personalität, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie. Bd. 2: Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung, Göttingen 2000, 150–161, hier: 160.

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über sich hinaus – und zugleich hineinzuführen in Weltzusammenhänge, ohne welche menschliche Ichwerdung konkret nicht gedacht werden könne. Selbst und Welt Was letzteren Aspekt betrifft, so sieht Pannenberg jede Theorie von Subjektivität und Selbstbewusstsein vor die Aufgabe gestellt, deren Entstehungsprozess „im Zusammenhang der Welterfahrung zu erfragen und nachzuzeichnen“ (Anthr., 197). Dass damit allen transzendentalen Ansätzen ein genereller Abschied gegeben ist, wird man nicht sagen können. Es ist in Rechnung zu stellen, dass sich Pannenberg in seiner Bestimmung des transzendentalphilosophischen Ansatzes nicht eindeutig festlegt und seine explizite Kritik an ihm an die Voraussetzung der Vorstellung vom Ich als einer vorgegebenen Größe und axiomatischen Prämisse aller Selbst- und Weltvollzüge bindet. Diese, wie es heißt, „verbreitete Deutung der Vorstellung vom transzendentalen Subjekt“ (ebd.) sei durch diejenigen Auffassungen begründetermaßen erschüttert worden, „die das Ich oder die Person nicht als von vornherein fertig gegeben, sondern als Resultat eines Entstehungsprozesses betrachten“ (Anthr., 205). Diese These schließt nicht aus, dass Unternehmungen, die das Selbstbewusstsein als gegenständlich vermittelt und in seiner gegenständlichen Vermittlung „auf dem Boden der gegenständlichen Wirklichkeit selber zu denken“ (Anthr., 198) beanspruchen, trotz ihrer Vorzüge mit nicht unerheblichen gedanklichen Schwierigkeiten zu rechnen haben. Vorzüge und mögliche Schwächen des Versuchs einer gleichsam objektiven Genetisierung selbstbewusster Subjektivität und Identität werden im vierten und fünften Kapitel der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ anhand einer Vielzahl von Konzepten erörtert, aus denen im Folgenden in exemplarischer Absicht zwei sozialpsychologisch orientierte (G. H. Mead; E. H. Erikson) ausgewählt werden. Ohne die Bedeutung der leibhaften Welt und des eigenen Leibes für die Genese von Subjektivität und Selbstbewusstsein zu vernachlässigen, die vielmehr im Anschluss an das zur sog. Philosophischen Anthropologie Gesagte nachdrücklich hervorgehoben und mehrmals eigens betont wird, u. a. auch in Bezug auf Nietzsche (vgl. Anthr., 198f.), orientiert sich Pannenberg vorzugsweise an Konzepten, welche den Prozess der Entwicklung von Ich und selbstbewusster Subjektivität primär unter Sozialitäts- und Sozialisierungsgesichtspunkten zu rekonstruieren suchen. Dies ist nach seinem Urteil methodisch deshalb geboten, weil die konkrete Entfaltung der Bezüge, die in der exzentrischen Grundstruktur menschlichen Verhaltens impliziert und bereits biologisch angelegt sind, „im sozialen Lebenszusammenhang statt[findet]“ (Anthr., 153). Exzentrizität als Sein beim Anderen (als einem Anderen) hat Pannenberg zufolge als allgemeine Grundstruktur menschlichen Verhaltens zu gelten. Der Mensch

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ist von Natur aus exzentrisch und in seinem Wesen naturgemäß von dieser Bestimmung her zu begreifen, in der die Unterscheidung des Anderen „nicht nur von wieder anderen Gegenständen, sondern auch von mir ‚selbst‘“ (ebd.) mitgesetzt ist. Damit ist „die Frage nach dem Verhältnis meines Seins beim andern zu meinem Sein in mir selbst“ (ebd.) und mit ihr zugleich diejenige gestellt, um wen oder was es sich bei dem anderen handelt, zu dem ich mich verhalte: um ein dinghaftes anderes oder um meinesgleichen. Im Verhältnis des Menschen zu seinesgleichen nimmt sein Sein beim anderen spezifische, konkrete, soziale und damit jene Gestalt an, die für die Genese des Ich und die Ausbildung seiner selbstbewussten Identität von noch elementarerer Bedeutung ist wie ein gleichsam dinghafter Gegenstandsbezug, so wichtig dieser in seiner Sachhaltigkeit auch ist. Selbstbewusstsein und Sozialität Nach vorläufiger Klärung des Zusammenhangs von Selbstbewusstsein und Sozialität zu Beginn des 4. Kapitels (Subjektivität und Gesellschaft) am Anfang des zweiten Teils (Der Mensch als gesellschaftliches Wesen) seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ (vgl. Anthr., 151ff.) kommt Pannenberg zunächst auf die geschichtlichen Hintergründe individueller Verselbstständigung, auf den Antagonismus von Individuum und Gesellschaft und auf theoretische und praktische Versuche zu sprechen, ihn beizulegen (vgl. Anthr., 159ff.). Dann wird die Konstitution des Ich aus der Beziehung zum Du thematisiert (vgl. Anthr., 173ff.), wie sie sich dem sog. Dialogischen Personalismus darstellt, „der nach dem ersten Weltkrieg von Ferdinand Ebner und Franz Rosenzweig auf verschiedenen Wegen begründet und durch Martin Buber in weiten Teilen bekannt wurde“ (Anthr., 174). Sehr viel mehr als einen „Hinweis in eine noch weiter zu erforschende Richtung“ (Anthr., 178) vermag Pannenberg im sog. Dialogischen Personalismus indes nicht zu entdecken, zumal dieser das Verhältnis der Ich-Du-Beziehung zu Ich-Es-Beziehungen weithin im Unklaren belasse (vgl. Anthr., 175ff.)42 . Präzisere Aufschlüsse bezüglich der sozialen IchKonstitution finden sich nach Pannenberg in Georg Herbert Meads Theorie des Selbst, die im Endabschnitt des vierten Anthropologieteils ausführlich behandelt und schon im Titel eigens benannt wird (vgl. Anthr., 179ff.), um sodann im Anschlussteil verbunden mit psychoanalytischen Einsichten zum Prozess der Ichgenese und Identitätsbildung (vgl. Anthr., 185ff.) erneut zum Ansatzpunkt der Sacherörterungen zum Thema „Das Ich und das Selbst“ (vgl. Anthr., 194ff.) zu werden.43 42 Unter Verweis vor allem auf M. Theunissen, Der Andere. Studien zu Sozialontologie der Gegenwart, Berlin/New York 1965. 43 Vgl. zusammenfassend G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003, bes. 128ff.

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George Herbert Mead, jahrzehntelang als Professor für Philosophie und Sozialpsychologie an der neugegründeten University of Chicago lehrend („Philosophically, Mead was a pragmatist; scientifically, he was a social psychologist.“44 ) und wie sein Freund John Dewey mit der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte sowohl Kontinentaleuropas als auch der angelsächsischen Welt vertraut, hat zeit seines Lebens nur einige Aufsätze, aber kein einziges Buch veröffentlicht. Der 1934 posthum erschienene Band „Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist“, der allgemein als sein Hauptwerk angesehen wird, bietet lediglich eine auf der Grundlage studentischer Mitschriften erfolgte (vgl. Vff.), von einem Schüler herausgegebene Rekonstruktion eines Kollegs zur Thematik der Sozialpsychologie, das Mead wiederholt angeboten hat. Doch können aus ihr trotz editorischer Vorbehalte im Einzelnen die argumentativen Grundstrukturen der Mead’schen „Theory of Self “, auf die es Pannenberg ankam, unschwer erhoben werden.

44 Ch. W. Morris, Introduction. George H. Mead as Social Psychologist and Social Philosopher, in: G. H. Mead, Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist. Ed., with Introduction, by Ch. W. Morris, Chicago/London (1934) 13 1965, IX. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Werk. Abgesehen von ergänzenden Abhandlungen zur Funktion der Vorstellungen im Verhalten, zum sog. biologischen Individuum und zum Zusammenhang von Identität und Reflexionsprozess sowie von einigen ethischen Fragmenten ist das in „Mind, Self and Society“ gesammelte Material in vier Teile gegliedert. Der erste entwickelt Meads Begriff einer behavioristischen Sozialpsychologie, welche primär nicht auf die Wahrnehmung bestimmter Bewusstseinskonstellationen, sondern auf die Beobachtung äußeren Verhaltens sozialer Natur ausgerichtet ist, um von dort her individuelle Erfahrungsund Erlebniszusammenhänge zu erschließen; in Betracht kommen speziell Gebärden und Gesten. Der zweite Teil nimmt seinen Ausgang bei W. Wundts Konzeption der Gestik, um von der vokalen Geste her den Weg zur Ausbildung von Sprache, intersubjektiver Kommunikation und Sinnvermittlung nachzuvollziehen. Sinn nennt Mead dasjenige, was anderen durch signifikante Symbole in der gleichen Bedeutung aufgezeigt werden kann, die für denjenigen besteht, der die Symbolisierung vornimmt. Nur wenn ein Korrespondenzverhältnis zwischen Objekten und subjektivem Verhalten ihm gegenüber erkennbar wird, ist sinnvolle Verständigung möglich. In einem dritten Teil wird die Relevanz signifikativer Symbolbestimmungen für Identitätsbildung und die Frage nach dem differenzierten Zusammenhang von Ich und Selbst, also jene Thematik erörtert, an der Pannenberg zusammen mit Meads Gestentheorie besonderes Interesse nahm. Auch die mit Spiel, Wettkampf und dem sog. verallgemeinerten Anderen etc. gegebenen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft werden analysiert, um im vierten Teil schließlich breit ausgearbeitet zu werden. Konstruktions- und Erhaltungsbedingung gesellschaftlichen Lebens des Menschen ist die zu erlernende Fähigkeit, als Einzelner die Haltung der anderen Mitglieder der Gruppe einzunehmen, um sie wenn auch nicht notwendigerweise faktisch, so doch virtuell teilen zu können. Zum Primat der Gesellschaft in der Bildung des Selbstbewusstseins bei G. H. Mead vgl. E. Düsing, Intersubjektivität und Selbstbewußtsein. Behavioristische, phänomenologische und idealistische Begründungstheorien bei Mead, Schütz, Fichte und Hegel, Köln 1986, 25ff.

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Theorie des Selbst Nach Pannenberg, der Meads Theorie des Selbst einen eigenen Abschnitt seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ (Anthr., 179–184) gewidmet hat, besteht dessen bleibendes Verdienst darin, „über die allgemeine These des Personalismus von einer Konstitution des Ich durch die Beziehung zum Du hinausgehend die konkrete und differenzierte Beschreibung dieser Abhängigkeit in Angriff genommen zu haben“ (Anthr., 183). Mead teile die personalistische Annahme, dass das seiner selbst bewusste Ich und mithin das Selbstbewusstsein des Menschen nicht unmittelbar und losgelöst vom mitmenschlichen Du in sich gründe. Er belasse es aber nicht bei der Abwehr abstrakter Selbstsetzungstheorien und der Feststellung, dass die Selbstbeziehung des menschlichen Ich immer schon durch Beziehung zum Andern vermittelt sei, sondern versuche den Zusammenhang von Selbstbeziehung und Beziehung zum Andern differenziert zu beschreiben. So wenig das menschliche Ich Resultat eines Selbstschöpfungsprozesses sei, so wenig sei es vom Du erschaffen bzw. Ergebnis einer Du-Beziehung. Zu entwickelter Selbstbeziehung gelange der Mensch vielmehr dadurch, dass er sich „in die Rolle des andern ihm gegenüber versetzt“ (Anthr., 181) und zwar, wie hinzuzufügen ist, nicht nur in die Rolle des einzelnen Anderen, sondern des „generalized other“ (XXIV), wie Mead sagt, des „verallgemeinerten Anderen“. Bevor auf Meads Verständnis des „generalized other“ näher einzugehen ist, in dessen Rolle sich zu versetzen nach seinem Urteil die implizite Voraussetzung bewusster Selbsterfassung des einzelnen Menschen ist, bedarf es einer terminologischen Klarstellung bezüglich der englischen Ausdrücke „I“, „me“ und „(the) self “. Für die Unterscheidung der beiden erstgenannten Termini gibt es im Deutschen kein begriffliches Äquivalent, was vor Übersetzungsprobleme stellt. In der 1968, mehr als 30 Jahre nach der amerikanischen erschienenen deutschsprachigen Ausgabe von „Mind, Self and Society“ hat man die bestehende Schwierigkeit nicht durch mögliche Erfindung eines Ersatzwortes für das substantivisch gebrauchte „me“, sondern durch „eine rein technische Lösung“45 , nämlich dadurch zu beheben versucht, dass man für „I“ jeweils „Ich“ und für „me“ „ICH“ schrieb; „the self “ wiederum wurde nicht mit „das Selbst“ wiedergegeben, sondern mit Identität, was allerdings zur Preisgabe der „Homologie mit dem pronominalen Gebrauch von self “46 geführt hat. Was Pannenbergs Rezeption betrifft, die auf der Basis der Originalausgabe von 1934 erfolgt ist (vgl. Pannenberg-Bibliothek Nr. 03669), so erschließt sich ihm Meads Sprachgebrauch von William James her, der „zwischen dem spontanen Ich (I) und dem in der Selbstreflexion sich als Gegenstand gegebenen Ich 45 G. H. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Mit einer Einleitung hg. v. Ch. W. Morris, Frankfurt a. M. 1968, 442. 46 Ebd.

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(me)“ (Anthr., 179) unterschieden habe. Diese Differenzierung setzt Pannenberg mit der Unterscheidung von Ich und Selbst gleich, wie sie Mead von James übernommen und „im Sinne von Subjekt und Objekt des Selbstbewußtseins“ (Anthr., 194) getroffen habe. Damit scheint die begriffliche Trias von „I“, „me“ und „the self “ in die Zweiheit der Termini Ich und Selbst aufgelöst, was in sachlicher Hinsicht allerdings nur bedingt zutrifft, da auch nach Pannenbergs Meaddeutung ein Vermittlungsgedanke in Anschlag zu bringen ist, der an die Stellung des „me“ zwischen „I“ und „the self “ erinnert. Anders als auf diese Weise lässt sich die Komplexität der Mead’schen Theorie des Selbst und der sozialen Vermittlung individuellen Ichbewusstseins offenbar nicht fassen, was mögliche Differenzierungsdefizite nicht ausschließt. Dort, wo Pannenberg sie konstatiert, wird zu prüfen sein, ob bzw. inwieweit sie mit ungeklärten Begriffsproblemen zusammenhängen. Generalized other Die Leitfrage der Mead’schen Untersuchungen in „Mind, Self and Society“ lautet nach Pannenberg (Anthr., 179): „How can an individual get outside himself (experientially) in such a way as to become an object to himself?“ (138) Mead selbst hat die Frage danach, wie der Einzelne erfahrungsmäßig so aus sich heraustreten kann, dass er sich selbst zum Objekt wird, zum „essential psychological problem of selfhood or of self-conciousness“ (ebd.) erklärt. Eine Lösung ergibt sich für ihn aus der Analyse des Prozesses der Selbstbewusstseinsgenese des menschlichen Ich im Zuge seiner Sozialisierung und des individuellen Verhaltens in ihrem Vollzug. Selfhood bzw. self-conciousness stellen nach Mead keine unmittelbaren Gegebenheiten menschlicher Subjektivität dar, die sich von selbst verstehen und als selbstverständlich in Anschlag bringen ließen. Sie sind vielmehr „Resultat eines Werdens“ (Anthr., 179) im Zuge „des sozialen Umgangs mit andern Individuen“ (Anthr., ebd.). Der Einzelne erfahre sich selbst nicht direkt und unmittelbar, sondern indirekt und „from the particular standpoints of other individual members of the same social group, or from the generalized standpoint of the social group as a whole to which he belongs“ (ebd.). Selbsterfahrung ist sozial vermittelt und selbstbewusste Ichidentität nicht unmittelbar gegeben, sondern Ergebnis eines Sozialisierungsprozesses, in dessen Verlauf das Individuum lernt, aus distanzloser Bindung an seinen leiblichen Organismus herauszutreten und sich von seiner Körperverhaftung dadurch zu lösen, dass er sich in andere hineinversetzt, um von ihrer Sicht her zu einer eigenen Sicht auf sich selbst und mittels Selbstobjektivierung zu einem entwickelten Selbstbewusstsein zu gelangen. Als Kandidaten, deren Perspektive das Individuum einnimmt, um sich selbst zu identifizieren, kommen nach

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Mead einzelne Glieder von gesellschaftlichen Gruppen, dann allgemeiner die Gruppe als ganze, schließlich diejenige Größe in Betracht, die „the generalized other“ im generellsten Sinn zu nennen ist, nämlich die Menschheit. Indem der Einzelne die Sicht und Haltung des mehr oder minder verallgemeinerten Anderen einnimmt, kommt er zu sich und zur Vernunft für den Fall, dass er sich Verhaltensregeln aneignet, die prinzipiell universalisierbar sind. Vokale Gesten Um zu einem objektiven Verhältnis zu sich selbst zu finden, muss das individuelle Ich seine subjektive Stellung gewissermaßen von außen betrachten, den Standpunkt anderer einnehmen und sich in sie hineinversetzen. Um dies zu können bzw. um dieses Vermögen zu erwerben, bedarf es nach Mead vor allem der zu entwickelnden Fähigkeit, Gesten zu verstehen, also „those phases of the act which bring about the adjustment of the response of the other form“ (45). Ansätze hierzu fänden sich bereits bei Tieren. Für ihre evolutionäre Fortentwicklung sei entscheidend, dass nicht nur Gesten anderer, sondern auch eigene samt ihrer Wirkung auf andere wahrgenommen würden, weil erst dadurch die Voraussetzung dafür geschaffen sei, sich selbst in die Situation anderer hineinzuversetzen. Namentlich vokale Gesten seien in der Lage, zu entsprechenden Wahrnehmungen zu verhelfen, weil das sich vokal gebärdende Lebewesen seine Lautäußerungen selbst hören und daher die auf sie erfolgenden Reaktionen anderer als durch sie konditioniert erfahren könne. Sobald im Zuge dieser Erfahrung erlernt werde, Lautäußerungen zu dem Zweck zu erzeugen, eine bestimmte Reaktion bei anderen hervorzurufen, wandle sich die vokale Geste zum signifikanten Symbol. Mead zufolge ist das immer dann der Fall, „when it (sc. the vocal gesture) has the same effect on the individual making it that it has on the individual to whom it is adressed or who explicitly responds to it, and thus involves a reference to the self of the individual making it“ (46). Von Pannenberg wird der Übergang, den Mead an der zitierten Stelle vollzieht, als problematisch qualifiziert. Dabei betrifft die Kritik nicht die Unterscheidung zwischen signifikanten und nicht-signifikanten Gesten und auch nicht die Annahme, wonach signifikante Gesten ungleich komplexere Individuations-, Sozialisations- und Kommunikationsmöglichkeiten erschließen als nicht-signifikante. Sie richtet sich vielmehr gegen die Annahme, die Verbindung der Reaktion des Anderen mit der eigenen vokalen Geste sei dadurch vermittelt, „daß angeblich die selbstempfundene eigene Lautäußerung in dem betreffenden Wesen die gleiche Reaktion hervorruft wie in andern“ (Anthr., 180, Anm. 75). Demgegenüber gibt Pannenberg zu bedenken, die Verknüpfung der eigenen Lautgebärde mit der Reaktion des Anderen könne sich in der Erfahrung durchaus „auch unabhängig von solcher Gleichheit der

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Reaktion bilden, wenn nämlich der andre immer wieder in gleicher Weise auf eine bestimmte Lautäußerung reagiert – die Mutter etwa das schreiende Kind immer wieder tröstet. Die so aus der bloßen Regelhaftigkeit der Erfahrung erwachsende Verknüpfung von eigener Lautgebärde und Reaktion des andern könnte ihrerseits der Grund dafür werden, daß wir mit der eignen Gebärde die Erwartung eines bestimmten Verhaltens des andern verbinden.“ (Ebd.) Der Mensch ist zur Wahrnehmung seiner eigenen Lautäußerungen befähigt und zugleich in der Lage, ein Korrespondenzverhältnis zwischen der Bedeutung, die er dem von ihm Gesagten zuschreibt, und derjenigen wahrzunehmen, die seine Äußerung für andre hat; ihre Reaktionen geben ihm darüber insofern Auskunft, als sie von ihm als Reaktionen auf seine als signifikante Symbole fungierenden Vokalgesten in Erfahrung gebracht werden können. Nach Pannenberg setzt dies allerdings voraus, „daß zwischen bestimmten Lautäußerungen und bestimmten Reaktionen ein festes Wechselverhältnis entstanden ist. Dazu aber müßte schon so viel Erfahrung verarbeitet sein und außerdem auch die Möglichkeit einer Wahl zwischen unterschiedlichen Assoziationen von Erwartungen bei einer bestimmten Lautäußerung bestehen, so daß es begreiflich ist, daß Mead durch den Gesichtspunkt der Gleichheit der Reaktion bei mir selber und beim andern auf meine Lautäußerung eine einfachere Lösung zu geben versuchte.“ (Anthr., 180, Anm. 76) Genese von Exzentrizität und Selbstreflexion Nach Mead werden durch Gebärden und insbesondere durch vokale Gesten in demjenigen, der sie vollzieht, genau jene Reaktionen ausgelöst, deren Zustandekommen er auch bei andern erfährt, die seine Äußerungen wahrnehmen. Dies erlaubt dem Akteur, sich in die Empfänger seiner Botschaft hineinzuversetzen und deren Haltungen in das eigene Verhalten hineinzunehmen. „We are, especially through the use of the vocal gestures, continually arousing in ourselves those responses which we call out in other persons, so that we are taking the attitudes of the other persons in our own conduct. The critical importance of language in the development of human experience lies in this fact that the stimulus is one that can react upon the speaking individual as it reacts upon the other.” (69) Obwohl Pannenberg Meads Lösung für unterkomplex hält und ausdrücklich darauf hinweist, dass „die Sinnstruktur einer gemeinsamen und sprachlich erschlossenen Lebenswelt schon die Voraussetzung für das Sichversetzen in den andern ist“ (ebd.), wertet er den auf der Basis einer behavioristischen Analyse von Gebärden, vokalen Gesten und signifikanten Symbolisierungen unternommenen Versuch einer Rekonstruktion der Genese der Exzentrizität und der Selbstreflexion des Menschen als der Möglichkeitsbedingung seines Selbstbewusstseins dennoch als einen bemerkenswerten Forschungsbeitrag

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und das umso mehr, als Mead Einseitigkeiten eines „Watsonian behaviorism“ (8) vermeide, indem er, mit seinen eigenen Worten zu reden, „recognizes the parts of the act which do not come to external observations, and … emphasizes the act of the human individual in its natural social situation“ (ebd.). Zwar gelingt es Mead Pannenberg zufolge nicht, die Entstehung menschlicher Exzentrizität durch Ableitung ihrer Struktur aus vormenschlichen Verhaltensformen zu erklären, da „die triebentlastete Aufmerksamkeit auf den Zusammenhang zwischen eigenen Lauten und bestimmten Reaktionen anderer … schon Exzentrizität voraus(setzt)“ (Anthr., 181); doch bleibe dadurch das Recht des Ansatzes unberührt, „die in der exzentrischen Lebensform implizierte Selbstbeziehung des Individuums“ (ebd.) aus dem individuellen Sein beim andern zu erklären, das „nun nicht nur das Sein der Dinge, sondern entscheidend ein Sein beim andern Menschen“ (ebd.) ist. Das individuelle Selbstverhältnis des Menschen wird nicht allein durch Sachbezüge, sondern auch und vor allem sozial vermittelt. Zwar stellen die durch triebentlastetes Neugierverhalten induzierte Sachlichkeit und Gegenstandshingabe nach Pannenberg „die Voraussetzung der Wendung zur Selbstreflexion“ (ebd.) dar; doch habe es zu ihrer tatsächlichen Ausbildung einer erst durch den sozialen Lebenszusammenhang gegebenen Motivation bedurft. „Daß unter den Gegenständen, denen der Mensch beobachtend zugewandt ist, auch und zuerst der andere Mensch ist, und zwar so, daß ich mich in dessen wirkliche und mögliche Reaktionen auf mich hineinzuversetzen vermag, erst das begründet die Wendung zum Selbstbewußtsein, zur Betrachtung des eigenen Wesens gleichsam von außen, vom Standpunkt eines andern aus.“ (Ebd.) Ohne ein Bild von dem Bild zu haben, das die anderen sich von uns bilden, können wir zu keinem entwickelten Selbstverhältnis gelangen. „Das Selbst, dessen wir uns im Selbstbewußtsein bewußt sind, beruht“, so Pannenberg im Anschluss an Mead, „auf dem Bilde, das die andern von uns haben“ (ebd.). Nun sind indes der anderen viele, und die vielen anderen sind nicht nur untereinander verschieden, sondern haben erwartungsgemäß auch verschiedene, möglicherweise sogar konträre Bilder von mir, aus deren Gegensätzlichkeit ein einheitliches Selbstbild zu gewinnen schwierig sein dürfte. Mead leugnet die bestehende Problematik nicht. Zu lösen versucht er sie durch Generalisierung, nämlich dadurch, dass er mit dem andern, von dem her und in Bezug auf den ich mich selbst verstehe, nicht nur einzelne Individuen, sondern soziale Gruppen und zuletzt, „in umfassendster Generalisierung“ (Anthr., 182), die Menschheit insgesamt versteht. Sie ist „the generalized other“ schlechthin.

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Spontaner Identifikationsfaktor Wie es möglich sein soll, sich in die ganze Menschheit hineinzuversetzen, ist eine ebenso schwer zu beantwortende Frage wie diejenige nach der Einheit des Ich im Wandel der Bilder, die andere und mittels ihrer wir selbst von uns und demjenigen haben, was bei Mead im Unterschied zum Ich das Selbst heißt. Beide Fragen bilden, wie leicht zu ersehen ist, einen Problemzusammenhang. Wie die Menschheit als schlechthinnige Generalisierung des „generalized other“ lässt sich auch das Ich, das Einheit im Wechsel der Selbstverhältnisse gewährleisten soll, nicht direkt in Erfahrung bringen. Es betritt, wie Mead sagt, gleich einem Regisseur nicht selbst die Bühne, sondern leitet hintergründig das Rollenspiel, damit dem zur Aufführung zu bringenden Stück die nötige Einheit nicht fehle. „The ‚I’ does not get into the limelight; we talk to ourselves, but do not see ourselves. The ‚I’ reacts to the self which arises through the taking of the attitudes of others. Through taking those attitudes we have introduced the ‚me’ and we react to it as an ‚I’.“ (174) Die Problematik dieser und ähnlicher Aussagen besteht nicht lediglich in der Schwierigkeit, die Ausdrücke „I“, „me“ und „(the) Self “ im Deutschen adäquat wiederzugeben, weil deren präzises Verhältnis zueinander bei Mead selbst sachlich unklar bleibt. Fest steht, dass seiner Ansicht nach das niemals unmittelbar in Erfahrung zu bringende Ich „nicht durch den sozialen Prozeß konstituiert“ (Anthr., 182), sondern „den spontanen Ursprung meines Verhaltens einschließlich meiner Selbstreflexion“ (ebd.) bilden soll. Es ist in gewissem Sinne dasjenige, womit und mittels dessen wir uns identifizieren, wie Mead sagt: „The ‚I‘ is a certain sense that with which we do identify ourselves.“ (174f.) Ich ist, wenn man so will, der spontane Identifikationsfaktor für Einheit in der Verschiedenheit der sozial vermittelten Selbstverhältnisse, der zugleich dafür einsteht, dass die Singularität des Individuums nicht im Prozess einer Sozialisierung abhanden kommt. Offenbar liegt Mead an der Annahme einer Gleichursprünglichkeit von Individualität und Sozialität, die er in seiner Selbstbewusstseinstheorie u. a. dadurch zu gewährleisten sucht, dass er das Verhältnis von Ich und Selbst als einen Zusammenhang bestimmt, der nicht abschließend synthetisierbar ist. Mit dem Hinweis auf ein nachvollziehbares Argumentationsmotiv ist indes die grundlegende Schwierigkeit nicht behoben, wie bzw. inwieweit ich mich als „Ich“ mit meinem sozialgeprägten „Selbst“ und damit mit mir selbst soll identifizieren können. Weder die strukturelle Möglichkeit der Einheit von „I“, „me“ und „(the) Self “ noch ihre faktische Realisierung wird bei Mead hinreichend klar. „Sein Begriff des ‚Ich‘ schillert zwischen unterschiedlichen Funktionen wie: Subjekt der Selbstreflexion und Aktion, Sprecher des ‚Selbst‘ der Vergangenheit, Instanz der Reaktion auf das Selbst (me) als soziales Produkt“ (Anthr., 183). Auch Meads Begriff des Selbst

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und die Bestimmung des differenzierten Zusammenhangs von Ich und Selbst bleibt nach Pannenbergs Urteil undeutlich. Im Übrigen werde übersehen, dass „nicht nur das Selbst, sondern auch das Ich … – entgegen der Darstellung bei Mead – immer schon durch Sozialbeziehungen mit sich vermittelt“ (ebd.) ist. Trotz einer problematischen Vieldeutigkeit, ja gerade ihretwegen bietet die Mead’sche Theorie gemäß Pannenberg „den gebotenen Ausgangspunkt“ (Anthr., 184) für weitergehende Erörterungen der Thematik von Ichidentität und Selbstbewusstsein, die einerseits die von Mead beschriebenen Phänomene zu integrieren und andererseits die terminologische und sachliche Unklarheit zu beheben hätten, welche v. a. die soziale Bedingtheit nicht nur des Selbst, sondern auch des Ich sowie „die dadurch erst zugängliche Frage nach der Einheit von Ich und Selbst“ (ebd.) beträfen. Ihre Beantwortung sucht Pannenberg auf dem Weg zu erreichen, der „durch die Psychoanalyse Freuds vorbereitet und vom amerikanischen Neofreudianismus, insbesondere von Erik H. Erikson, durch Verknüpfung der Lehre Freuds mit den Anregungen G. H. Meads beschritten worden“ (Anthr., 183) sei. Als „besonders wichtig“ (ebd., Anm. 83) wird in diesem Zusammenhang Eriksons Buch „Identität und Lebenszyklus“ qualifiziert. 12.4

Identität und Lebenszyklus – E. H. Eriksons Theorie des Urvertrauens

Die Methode seiner anthropologischen Gedankenentwicklung stellt sich Pannenberg selbst, wie mehrfach betont, als Prozess fortschreitender Konkretisierung durch Abstraktion von Abstraktionen dar, die aufgrund der Notwendigkeit einer diskursiven Vorgehensweise zwar unvermeidbar, aber nichtsdestoweniger darauf angelegt sind, aufgehoben zu werden, um es mit einem bedeutungsvollen Wort Hegels auszudrücken. In den Erörterungen des ersten Teils, welche die Wesensnatur des Menschen anhand seiner Stellung in der Natur zu ergründen suchen, wurde die Tatsache ausgeblendet, „daß das Dasein des menschlichen Individuums immer schon durch Sozialbeziehungen bestimmt ist“ (Anthr., 154). Thema war die Bestimmung der Eigentümlichkeit der natürlichen Lebensform des Menschen im Unterschied zu Pflanzen und Tieren unter Absehung von mitund zwischenmenschlicher Sozialität humaner Existenz. „Diese methodische Abstraktion war erforderlich, um die strukturellen Grundzüge der zentrischexzentrischen Daseinsform des Menschen herauszuarbeiten“ (ebd.) und sie sodann in einem weiteren Schritt „in das Verständnis des sozialen Lebenszusammenhangs menschlichen Verhaltens einzubringen“ (ebd.). „Das geschieht, indem nunmehr jene methodische Abstraktion zurückgenommen“ (ebd.) und eigens auf die gesellschaftlichen Dimensionen menschlicher Identitätsbindung

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abgehoben wird. Ein solch expliziter Bezug ist dem biologischen Wesen des Menschen keineswegs äußerlich, sofern er von Natur „auf Kultur angewiesen und angelegt ist wie andere Tiere auf die Bedingungen einer artspezifischen Umwelt“ (Anthr., 155). Ausdrücklicher Darstellungsgegenstand sind die soziale Lebenswelt des Menschen und ihre konkreten Grundlagen und Institutionen erst im dritten Anthropologieteil. In ihm wird dann auch „die Beschränkung auf das individuelle Verhalten mit ihrer Abstraktion vom Kultursystem als solchen aufgehoben werden im Zuge der weiteren Thematisierung der Grundlagen individueller Identität“ (Anthr., 157), wie sie im zweiten Teil erörtert ist. Sozialbedingtheit des menschlichen Selbstverhältnisses Um Sein und Wesen des Menschen begreifen und insbesondere die Ausbildung seiner selbstbewussten Ich-Identität konkret rekonstruieren zu können, ist die soziale Dimension des menschlichen Lebensvollzugs notwendigerweise ins Auge zu fassen, von der eine biologische Betrachtung der Menschennatur tendenziell abstrahiert. Einen hervorragenden Beitrag sozialpsychologischer Erklärung des Prozesses menschlicher Identitätsbildung hat nach Pannenbergs Urteil G.H. Mead geleistet. Die von ihm beschriebenen Phänomene müsse jeder Lösungsversuch „integrieren, die Vieldeutigkeiten seiner Terminologie aber gleichzeitig auflösen“ (Anthr., 184). Die verbleibenden Begriffsprobleme, die offene Sachfragen indizierten, beträfen nicht erst das Thema der Einheit von Ich und Selbst, sondern schon dasjenige der Sozialbedingtheit des menschlichen Selbstverhältnisses, von dem her die Identitätsthematik erst zugänglich werde und ihre Dringlichkeit erlange (vgl. ebd.). Mead hatte im Zuge der nachidealistischen Wende zum Empirismus und Naturalismus den transzendentalphilosophisch-idealistischen Subjektbegriff „von der Seite des Selbst her aufgesprengt“ (Anthr., 198). Dieser Tendenz sind auch Freud und die Repräsentanten seiner psychoanalytischen Schule gefolgt. Doch während Mead den Aspekt sozialer Bedingtheit selbstbewusster Identität des Menschen im Grund nur äußerlich erfasst und zuletzt doch wieder vom Ich als „Aktionszentrum des Individuums“ (Anthr. 184) abgelöst habe, sei in der Psychoanalyse eine „neue“ (ebd.) und „höhere Reflexionsebene“ (ebd.) insofern gefunden worden, als die Sozialbedingtheit nicht auf das Selbst des Menschen beschränkt, sondern auch für sein Ich und damit für seine Identität überhaupt in Anschlag gebracht worden sei. In ihrer Kritik der Vorstellung vom Ich als einer stehenden Größe von gleichsam zeitinvarianter Gegebenheit war die psychoanalytische Schule nach Pannenbergs Urteil konsequenter als Mead. Anders als dieser habe sie soziale Bedingtheit nicht mehr als einen „dem Ich als solchem äußerliche[n] Aspekt“ (ebd.) abgetan, sondern dieses selbst und damit die Identität, auf die sich die

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Frage des Menschen nach sich selbst notwendigerweise richte, als Resultat eines psychosozialen und psychohistorischen Prozesses verstanden. Besonders deutlich trete dies in Theoriebildungen zutage, die sich nicht auf die Analyse individueller Lebensgeschichten beschränkten, sondern diese in einem umfassenden soziohistorischen Kontext einordneten, wie das beispielsweise in den Studien Erik H. Eriksons der Fall sei, die in dem Band „Identität und Lebenszyklus“ (1959; deutsch 1966) gesammelt vorliegen.47 Psychohistorische Ichgenese Die klassische Psychoanalyse richtete ihre Aufmerksamkeit besonders darauf, „wie Erlebnisse aus der eigenen Lebensgeschichte zu unbewußten Motiven des Verhaltens werden“ (Anthr., 185) und die Identität des Ich in seiner Selbstwahrnehmung prägen. Erikson teilte dieses Interesse, suchte dabei aber stets auch die sozialgeschichtlichen Faktoren der Ausprägung individueller Ich-Identität im Auge zu behalten, weil dieses Verfahren ihm erlaubte, die psychosoziale Perspektive zu integrieren, sie aber zugleich so zu konkretisieren, dass sich abstrakte Generalisierungen vermeiden ließen. Schon in Bezug auf Freud spricht Pannenberg von einer Konkretisierung des Mead’schen „Begriff[s] des Selbst als eines sozialen Faktums“ (Anthr., 187). Mead hatte die menschliche Identitätsgenese aus einem Prozess des Sichhineinversetzens in andere und der Übernahme namentlich ihrer Erwartungsperspektiven in die Selbstwahrnehmung zu erklären versucht. Freud habe diesen Ansatz insofern konkretisiert, als er die Instanz des Anderen speziell mit der Rolle in Verbindung gebracht habe, die Mutter und Vater im Prozess menschlicher Identitätsgenese spielten. Damit sei ein in Meads Analyse offenbar fehlender Differenzierungsfaktor eingeführt und ein selektives Prinzip zur Geltung gebracht worden, welches zu erklären vermöge, „welcher andere Mensch mir vorzugsweise zum Anlaß einer normativen Vorstellung meines Selbst wird“ (ebd.). Selbstidentität bildet sich nach Freud vornehmlich mittels Identifizierung mit den Eltern aus, deren Rolle dann freilich im Laufe des Prozesses der Eigenentwicklung und der mit ihr verbundenen Horizonterweiterungen relativiert und auch kritisiert wird, ohne deshalb ihre prägende Funktion einfachhin zu verlieren. Es ist nach Pannenberg ein wesentliches Verdienst E. H. Eriksons, die Stadien dieser Entwicklung in Fortbildung von Freuds Phasenmodell als Abfolge von Ichsyntheseformen bis hin zur Adoleszenz nachgezeichnet und analysiert zu haben. Dabei ordnete er den psychosexuellen Phasen neben den prägenden Beziehungspersonen in ihrem Umkreis jeweils psychosoziale Krisen und Modalitäten sowie bestimmte Elemente der Sozialordnung zu. So sei die 47 E. H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt a.M. 1966. Die nachfolgenden Seitenverweise beziehen sich hierauf.

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erste – oral-respiratorisch, sensorisch, kinästhetisch genannte, durch mehr oder minder ausschließliche Mutter-Konzentration gekennzeichnete Phase – psychosozial durch Einverleibungsmodi und kosmische Grundorientierung sowie durch Vermittlung entweder eines Urvertrauens oder eines Grundmisstrauens bestimmt. Freuds Phasenmodell Der Säugling zeichnet sich seinem Begriff gemäß wesentlich durch Saugen insbesondere an der Mutterbrust aus, die ihn stillt und oral befriedigt. In Freuds Libidotheorie stellt die orale Phase die erste Entwicklungsstufe dar, die mit Einschränkung gelegentlich auch die kannibalistische genannt wird, weil sie auf Einverleibung der Nährmutter und ihrer eventuellen Äquivalente aus ist. Der Säugling hat, was er begehrt, zum Fressen gern; noch im Schnullernuckeln oder im Daumenlutschen huldigt das Kleinkind dem Ursprungsgenuss ersten Liebeslebens. An die orale schließt nach Freud die sog. anale Phase als zweite Stufe libidinöser Entwicklung an, die in Beziehung steht zu fortschreitender Schließmuskelbeherrschung zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr des Kindes. Die Defäkation wird zum Schlüsselerlebnis für den Vorgang des Ausscheidens bzw. Zurückhaltens, der Kot zum Inbegriff von Habe und Gabe, Gut und Geld, mit dem man verkniffen geizen, das man aber, wenn es einen danach gelüstet, auch freigebig veräußern und dahingeben kann. In der dritten Stufe der Libidoentwicklung, die auf die orale und anale folgt, wendet sich die Aufmerksamkeit immer mehr den Geschlechtsteilen zu; zu unterscheiden ist zwischen einer infantilen und einer pubertären Genitalphase, die durch eine Latenzzeit voneinander getrennt sind. Die Latenzperiode, die nach Freud vom fünften oder sechsten Lebensjahr bis zum Beginn der sog. Geschlechtsreife in den Anfangsjahren des zweiten Lebensjahrzehnts reicht, ist durch einen vorübergehenden Stillstand von Sexualität bzw. Sexualentwicklung nach Behebung des sog. Ödipuskomplexes charakterisiert. Der ödipale Komplex in der genitalen Phase zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr vor der Periode sexueller Latenz hat seinen Namen vom sagenhaften König Ödipus, der dem Mythos zufolge seinen Vater Laios tötete und seiner Mutter Iokaste beiwohnte, die ihm vier Kinder gebar. Vergleichbar hiermit ist der unbewusste und unwillkürliche Wunsch des heranwachsenden Knaben, seine Mutter zur Frau und Geliebten zu machen und den Vater zu beseitigen, der diesem Begehren im Weg steht. Auch mit einem ödipalen Komplex bei Mädchen ist trotz mancher Unterschiede Freud zufolge zu rechnen. Strukturgebend ist in beiden Fällen die Dreierbeziehung, die durch libidinöse Zuwendung zum gegengeschlechtlichen und feindselige Abneigung gegenüber dem gleichgeschlechtlichen Elternteil gekennzeichnet ist. Für die

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Genitalorganisation ist der ödipale Konflikt von entscheidender Bedeutung, auch wenn die sexuelle Identität erst in der Pubertätszeit endgültig festgelegt wird. Es, Ich, Über-Ich Ihr Ende findet die infantil-genitale Phase nach Freud durch vorläufige Behebung des ödipalen Problems in Form einer Identifizierung mit den Eltern und insbesondere mit dem Elternteil gleichen Geschlechts, der eine idealisierte Vorbildfunktion gewinnt, wodurch die ursprüngliche, gelegentlich zum Hass gesteigerte Abneigung kompensiert und der infantile Narzissmus in Realitätsschranken gewiesen sowie der Kontrolle einer Instanz unterworfen wird, die Freud in seiner Schrift „Das Ich und das Es“ von 1923 Über-Ich genannt und zum Erbe des Ödipuskomplexes erklärt hat.48 Kritische Selbstreflexion und Gewissensbildung sind Funktionen des Über-Ich, dessen wesentliche Aufgabe in der Beherrschung der Triebe der sog. Es-Sphäre besteht, die freilich nach Freuds Urteil der Stärkung des Ich und seiner Bewusstseinswelt nur dann dient, wenn sie nicht zur abstrakten Triebunterdrückung und zur Verdrängung mit neurotischen Folgen führt. Nachdem die ödipale Entwicklung beendet und die anschließende Latenzperiode relativen Stillstands der Sexualgenese durchlaufen ist, setzt mit der Pubertät ein zweiter Libidoschub ein mit dem Ziel, die Zonen des Erogenen definitiv auf die Genitalien zu konzentrieren und eine stabile männliche oder weibliche Identität auszubilden. Die pubertäre Krise, die zumeist in mehreren Phasen abläuft und deren schwankender Beginn von biologisch-soziokulturellen Faktoren abhängt, geht mit zuweilen heftigen Stimmungsschwankungen und Unsicherheiten im sozialen Verhalten einher. Freud bewertet sie gleichwohl als in hohem Maße konstruktiv, sofern ohne ihr Durchleben sexuelle Reife und ein gelingender Übergang vom Jugendalter ins Erwachsenenleben nicht möglich ist. Diese Bewertung wird von Erikson mit Nachdruck unterstrichen: Die pubertäre Krise ist die Möglichkeitsbedingung dafür, Identitätsdiffusion zu überwinden und ein reifes Erwachsenen-Ich von dauerhafter Identität auszubilden, welches sich weder von den Triebmächten des Es versklaven, noch von einem tyrannischen Über-Ich knechten lässt. Zwar endet der Prozess der Identitätsbildung nicht mit der Adoleszenz; er müsse im Erwachsenenleben seine Fortsetzung finden und zwar in drei Stadien, die Erikson wie folgt charakterisiert: Intimität und Distanzierung gegen Selbstbezogenheit; Generativität gegen Stagnierung; Integrität gegen Verzweiflung und Ekel (vgl. 114ff.). Nichtsdestoweniger kristallisiere sich in allen Wandlungen dauerhafte Ich-Identität 48 Zu der vorhergehenden Entwicklung Freuds seit den 1904 erschienen „Zwei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ vgl. Anthr., 186ff.

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nachgerade in jener Entwicklungsphase heraus, welche im Medium pubertärer Krise alle bisher durchlaufenen Stufen konstruktiv zu integrieren und zu einem Ganzen zusammenzuschließen bestimmt sei, um auf diese Weise die Kindheit ins Erwachsenendasein aufzuheben. Abfolge von Ichsyntheseformen Die Stadien menschlicher Identitätsbildung sind, wie Pannenberg ausdrücklich bemerkt, in Eriksons Rekonstruktion „mit den Freudschen Entwicklungsphasen identisch“ (Anthr., 190). Diese werden aber „nicht mehr primär als Phasen der Libidoentwicklung gedeutet, sondern als eine Folge von Formen der IchSynthese, die schließlich mit der Adoleszenz in einen Prozess autonomer Identitätsbildung mündet“ (ebd.). Zum Begriff der Ich-Synthese ist zu bemerken, dass nach Erikson die Funktion dessen, was er Ich nennt, darin besteht, „die psychosexuellen und psychosozialen Aspekte einer bestimmten Entwicklungsstufe zu integrieren und zu gleicher Zeit die Verbindung der neu erworbenen Identitätselemente mit den schon bestehenden herzustellen“ (143). Das Ich fungiert synthetisierend und ist, wenn man so will, an sich selbst nichts als eine Synthesisfunktion. Konkrete Synthesen ergeben sich im Verlauf der frühen Lebensgeschichte, in der sich Ich-Identität ausbildet und die somit die Möglichkeit erschließt, mich als Ich zu identifizieren. Solche Selbstidentifikation ermöglicht nach Erikson in vorläufiger Definitivität der Prozess der Adoleszenz, der nach seinem Urteil indes dann und nur dann relativ abgeschlossen ist, wenn das Individuum seine Kindheitsidentifikationen durch bestimmte Negation und kritische Affirmation in eine sie aufhebende und integrierende Identität überführt. Ich-Identität als eine Weise der Identifikation mit sich selbst ist ohne vorhergehende Identifikationen, wie sie in den kindlichen Entwicklungsstadien stattfinden, nicht denkbar, zugleich aber eine Identifikation der besonderen Art, sofern sie nicht mehr Identifikation mit anderen, sondern eine durch diese vermittelte Identifikation mit sich selbst darstellt. Ich-Identität ist insofern mehr und anderes als „eine bloße Summierung der Kindheitsidentifikationen“ (139), auch wenn sie ohne diese nicht zustande kommt. Urvertrauen Die Kindheitsidentifikationen sind verschieden, je nachdem auf welcher Entwicklungsstufe man sich bewegt; sie bilden aber in ihrer Abfolge einen kontinuierlichen Zusammenhang jedenfalls dann, wenn keine pathologischen Regressionen stattfinden. Die rudimentärste und zugleich basalste Stufe, die allen weiteren Entwicklungsphasen zugrunde liegt, bildet die orale des Säuglingsalters, in der sich nicht nur die Ursprungsgestalt von Libido, sondern auch dasjenige auszubilden hat, was Erikson Urvertrauen nennt und von einem Ur-Misstrauen

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allem und jedermann gegenüber abhebt (vgl. 62ff.). Als „erste Komponente“ (62) und „Eckstein der gesunden Persönlichkeit“ (63) fundiert das Urvertrauen den Prozess der Identitätsbildung, muss aber selbst im Durchgang durch die weiteren Entwicklungsprozesse des Kleinkind-, Spiel- und Schulalters mit ihren je eigenen psychisch-psychosozialen Krisen und Syntheseleistungen, über welche die den Studien Eriksons beigegebenen Diagramme genauere Auskunft geben (vgl. 59f.; 150f.; 214f.; ferner: 62ff.), fortgebildet werden, damit sich das persönliche Empfinden einstellt, eine Identität zu besitzen. Besagtes Selbstgefühl, als das Erikson Ich-Identität identifiziert, beruht ihm zufolge auf zwei Beobachtungen: „der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen“ (18). Die „Ich-Qualität“ (ebd.) menschlicher Existenz ist noch nicht mit der Tatsache bloßen Existierens gegeben, sondern Resultat einer Entwicklung, die lebenslang anhält, auch wenn sie mit der Adoleszenz einen vorläufigen Abschluss gefunden hat, weil die formale Synthetisierungsfunktion des Ich von nun an in der Regel mit einem materialen Selbstgefühl einhergeht, in dem das Ich seiner synthetisierten Eigenidentität konkret inne geworden ist. Erikson umschreibt besagtes Gefühl der Ich-Identität als das „angesammelte Vertrauen darauf, daß der Einheitlichkeit und Kontinuität, die man in den Augen anderer hat, eine Fähigkeit entspricht, eine innere Einheitlichkeit und Kontinuität […] aufrechtzuerhalten“ (107). Ichidentität In der den Sammelband „Identität und Lebenszyklus“ abschließenden Studie „Das Problem der Ich-Identität“ (vgl. 123ff.) hat Erikson ausdrücklich auf die weitgehende Übereinstimmung seines Identitätsbegriffs mit dem „self-concept“ G. H. Meads (vgl. 188ff.) hingewiesen und hinzugefügt, „daß die Identitätsbildung sowohl einen Selbst-Aspekt wie einen Ich-Aspekt besitzt“ (191; bei E. kursiv). Wie sich beide Aspekte und zwar so zueinander verhalten, dass sie jene differenzierte Einheit bilden, den der Begriff des selbstbewussten Ich in Anschlag bringt, muss nach Erikson offen bleiben, solange die „Kontroverse über Ich und Selbst noch nicht ausgetragen“ (192) und behoben ist. Sie ist, wie sich unschwer erkennen lässt, seiner eigenen Identitätskonzeption nicht äußerlich: denn einerseits soll nach Erikson nicht nur das sog. Selbst, sondern das Ich als Ich aus einem psychosozialen Prozess sukzessiver Synthetisierungen kindheitlicher Entwicklungsphasen resultieren, wobei das in der Adoleszenz erreichte Ergebnis zwar abschließenden, aber in seiner Definitivität dennoch nur vorläufigen Charakter hat. Andererseits und zugleich wird der Prozess der Identitätsbildung „als eine sich entfaltende Konfiguration“ (144) beschrieben,

Identität und Lebenszyklus – E. H. Eriksons Theorie des Urvertrauens

als deren einheitsstiftende Größe ein synthetisierendes Ich fungiert. Man könnte daher, so Erikson, „behaupten, daß hinsichtlich des wahrnehmenden und regulierenden Verkehrs des Ichs mit seinem Selbst die Bezeichnung ‚Ich‘ für das Subjekt, die Bezeichnung ‚Selbst‘ für das Objekt reserviert werden sollte. Es stünde dann dem Ich als organisierter Zentralinstanz im Laufe des Lebens ein veränderliches Selbst gegenüber, das jeweils verlangt, mit allen zurückliegenden und in Aussicht stehenden Selbsten in Übereinstimmung gebracht zu werden.“ (191) Pannenberg hat auf die zitierte Passage direkt Bezug genommen (vgl. Anthr., 191) und dabei auf die Verbindung verwiesen, die Erikson im gegebenen Zusammenhang selbst zu Heinz Hartmanns „Ich-Psychologie“49 und ihrem Begriff eines primären Ich-Kerns hergestellt hat (vgl. Anthr., 189f.). Dieser Begriff sei dem Einwand ausgesetzt, durch Reduktion des Ich in seiner Funktion als Handlungssubjekt auf einen Ursprungsnukleus „das Problem der Ichgenese zu verdecken“ (Anthr., 190 Anm. 11). Vergleichbares wird in Bezug auf „Eriksons Schema der psychischen Lebensgeschichte“ (Anthr., 191) konstatiert, an deren Basis sich eine „eigentümliche Unausgeglichenheit“ (ebd.), ja eine selbstwidersprüchliche Tendenz zeige, nämlich den psychosozialen Prozess der Identitätsbildung zum einen nicht auf das sog. Selbst zu beschränken, sondern auch auf die Ichinstanz selbst zu beziehen, diese dann aber doch zu einem „angeblich hinter allen Wandlungen stehenden Subjekt dieses Bildungsprozesses“ (Anthr., 192) zu erklären. Fichtes Aporie Erikson macht sich Pannenberg zufolge einer argumentativen petitio principii schuldig. Zwar enge er „das bei Freud offene Problem der Entstehung und Entwicklung des Ich im Prozeß der Lebensgeschichte“ (Anthr., 193) nicht so deutlich wie Hartmann „auf die Vorstellung der Ausdifferenzierung eines von vornherein vorhandenen Bestandes“ (ebd.) ein. Auch wolle er den lebensgeschichtlichen Prozess der Identitätsbildung nicht auf den sozialen Außenaspekt des Individuums beschränken, wie dies tendenziell bei G. H. Mead der Fall sei. Dennoch setze er, indem er das Ich als organisierendes Prinzip seines Selbstwerdungsprozesses in Anspruch nehme, bereits voraus, was doch erst Ergebnis besagten Prozesses sein soll. Die Aporetik der Fichte’schen Selbstsetzungstheorien wiederhole sich und iteriere, woran sich zeige, „wie leicht man hinter die in der idealistischen Thematisierung des Selbstbewußtseins erreichte Stufe des Problembewußtseins zurückfällt, während man glaubt, sie durch Überholung des bewußtseinsphilosophischen Ansatzes überboten zu haben“ (Anthr., 199). 49 H. Hartmann, Ich-Psychologie. Studien zur psychoanalytischen Theorie (1965), Stuttgart 2 1997.

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Das Ich und das Selbst

Im Sommersemester 1993 veranstalteten Wolfhart Pannenberg und Dieter Henrich eines ihrer philosophisch-theologischen Oberseminare. Thematisiert wurden „Probleme der Theorie der Freiheit“. Auf Fichtes ursprüngliche Einsicht kam man in diesem Zusammenhang wiederholt zu sprechen. Hen kai Pan, wie die Studierenden sie nannten, waren sich einig, dass diese Einsicht auch unter den gewandelten Bedingungen der Gegenwart und der seit längerem vollzogenen Wende zum Empirischen ihre bleibende Aktualität behalte. Dabei maßen beide der dritten Fichte’schen Formel zur Bestimmung des Selbstbewusstseins („Ich ist Kraft, der ein Auge eingesetzt ist“) eine „Schlüsselbedeutung“50 bei, um mit Henrichs Werk zu Fichtes Subjektivitätstheorie zu sprechen. Im Unterschied zu den anfänglichen Wendungen, denen zufolge das Ich sich schlechthin setzt bzw. als sich setzend setzt, verweist die metaphorische Rede vom eingesetzten Auge auf eine immanente Grenze der Selbstaufklärung selbstbewusster Subjektivität und darauf, dass das Ich sich nicht dazu gemacht hat, es selbst zu sein, sondern sich gegeben und darauf ausgerichtet ist, die Bestimmung seiner selbst zu realisieren. Für das Wissen des Ich von sich selbst wiederum gilt, um erneut mit Henrich zu reden, dass es „in sich geschlossen und doch nicht selbstbegründend ist“ (282). Dem Selbstverhältnis des Ich ist mithin ein Bezug zu einem Ursprung eingezeichnet, in dem es gründet. Ob dieser Ursprung eine Voraussetzung des Ich darstellt, die dieses als nicht gesetzt setzt, oder eine sich selbst voraussetzende und darin absolute Voraussetzung, war Gegenstand lebhafter Diskussionen, die in München häufig geführt wurden. Pannenbergs Position war eindeutig: Fundierender Sinn- und Zielgrund von Selbst und Welt kann nur das Absolute als eine sich selbst voraussetzende Voraussetzung sein. Henrich argumentierte zurückhaltender, ohne je in Abrede zu stellen, dass das Nachdenken des Ich über sich selbst und sein Wissen von sich notwendig zu Letztbegründungsfragen führen und auf ein Unbedingtes verweisen, das alles Seiende transzendiert. Dem Thema des Absoluten kann sich seinem Urteil zufolge weder das um konsequente Selbstaufklärung bemühte Ich noch gar eine Philosophie entziehen, die in gedanklich geordneter Form der Selbstbewusstseinsproblematik nachgeht. Denn das Wissen, welches das Ich von sich selbst hat, „ist weder über eine Analyse von Komponenten zu verstehen noch über eine genetische Herleitung zu erklären“ (281). Die Selbstbewusstseinstheorie sieht sich mithin notwendig zu Gedanken eines Ersten, Unbedingten und Absoluten herausgefordert. Sie „haben für den, der über das Nächstliegende hinaus gelangt ist und der alle Facetten dieses Lebens im Sinne hat, im Verhältnis zu der Skepsis, der Beschränkung auf ‚common sense‘ und der Ernüchterung

50 D. Henrich, Dies Ich, das viel besagt, 167. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

Identität und Lebenszyklus – E. H. Eriksons Theorie des Urvertrauens

durch die Erkenntnis von physischer Natur und ihrer Evolution eine überlegene Kraft – und ein mehr als nur ebenbürtiges Vernunftrecht.“ (282)

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13.

Transzendenz des Personseins

Die Selbstwerdung des Ich nach Pannenberg

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Jemeinigkeit: Das Dasein als Selbstsein in Heideggers „Sein und Zeit“

Besuch in Todtnauberg Kaum ein Werk der jüngeren Philosophiegeschichte wurde im Kreis um Pannenberg so intensiv studiert und diskutiert wie Martin Heideggers „Sein und Zeit“. Das Jahrhundertbuch, wie man es nannte, erschien im April 1927. Die Beschäftigung mit ihm im Pannenbergkreis setzte Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein und zwar im Zusammenhang einer persönlichen Begegnung mit dem Philosophen. Am Nachmittag des 16. August 1952 waren Pannenberg und einige seiner Mitstreiter Gäste in Heideggers Todtnauberger Hütte, im südlichen Schwarzwald am Steilhang eines weiten Hochtales gelegen.1 Der Altmeister unternahm mit den Jungtheologen, die auf Motorrädern angereist waren, einen ausgiebigen Spaziergang in der umgebenden Landschaft. Erörtert wurde von den Peripatetikern, wie Heidegger die Wandergruppe nannte, insbesondere das Verhältnis von Philosophie und Theologie. Gravierende Beurteilungsdifferenzen deuteten sich an. Heidegger wollte die Theologie auf das existenzielle Glaubensgeschehen bzw. auf eine Glaubenslehre ohne ontotheologische Ansprüche beschränkt wissen.2 Pannenberg sah das schon damals anders und wehrte sich gegen das Ansinnen, die Theologie, die er von Anbeginn entschieden als Gotteslehre zu entwickeln gedachte, von Ontologie und Metaphysik zu trennen. Doch überwog zunächst die Faszination, die bei allen Vorbehalten auch später erhalten blieb und sich im Falle Pannenbergs vor allem auf Heideggers Konzeption zukunftsorientierter Zeitlichkeit der Existenz und auf die Absicht bezog, das Dasein nicht egologisch auf eine Theorie transzendentaler Subjektivität zu gründen. Diese Intention teilte Pannenberg, was Anlass gibt, auf eine erstaunliche Parallele in der Hegelauslegung und -kritik beider Denker aufmerksam zu machen. 1 Vgl. G. Wenz, Ausfahrt Todtnauberg. Begegnungen Wolfhart Pannenbergs mit Martin Heidegger, in: ders.(Hg.), Vom wahrhaft Unendlichen. Metaphysik und Theologie bei Wolfhart Pannenberg, Göttingen 2016 (Pannenberg-Studien Bd. 2), 71–87. 2 Zum Verständnis von Religionsphänomenologie als Paradigma faktischen Lebens beim frühen Heidegger vgl. im Einzelnen ders., Geschichte versus Geschichtlichkeit. Pannenberg und der frühe Heidegger, in: ders. (Hg.), Offenbarung als Geschichte. Implikationen und Konsequenzen eines theologischen Programms, Göttingen 2018 (Pannenberg-Studien Bd. 4), 269–345, bes. 289 ff. GA = Gesamtausgabe der Werke Heideggers, Frankfurt a.M. 1975ff.

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Transzendenz des Personseins

Heideggers Verhältnis zu Hegel lässt sich exemplarisch an einem Kolleg studieren, das er im WS 1930/31 an der Universität Freiburg zu den ersten Kapiteln der „Phänomenologie des Geistes“ abgehalten hat. Die Ausführungen sind im 32. Band der Gesamtausgabe der Werke dokumentiert.3 A. Sell hat ihnen eine eigene Studie gewidmet.4 Ihren Ausgang nimmt Heideggers kritische Interpretation von der hermeneutischen Grundannahme, an deren Richtigkeit sich alles entscheidet, wonach Hegel immer schon und von vornherein in Anschlag bringe, was er durch den Gang seiner Untersuchung als ihr Resultat zu vermitteln suche. „Hegel setzt schon das voraus, was er am Ende gewinnt.“ (GA 32, 43) „Das Ende ist nur der andersgewordene und damit zu sich selbst gekommene Anfang.“ (GA 32, 52; bei H. kursiv.) Der zweite Satz schränkt den ersten und den Vorwurf einer petitio principii insofern nicht ein, als das Andersgewordensein des Anfänglichen im Ende nicht auf ein wirkliches Anderes zu deuten, sondern lediglich als Selbstexplikation eines ursprünglich Gegebenen zu fassen sei. Die Bewusstseinsgeschichte, welche die Hegel’sche „Philosophie des Geistes“ durchläuft, kehrt nach Heideggers Urteil an ihrem Ende in den Ursprung zurück, in dem sie anfänglich gründet und aus dem sie ihr Resultat und die Momente seines Resultierens selbstexplikativ hervorgehen lässt. Welches ist dieser Ursprung? Antwort: Der Logos, egologisch gefasst! In ihm gründet Heidegger zufolge die ganze Geistphilosophie Hegels; er fungiere als ihr Mythos. Neuzeitspezifisch sei der Hegel’sche Mythos durch seine egologische Fassung, also dadurch, dass er Subjektivität verabsolutiere und zum gründenden Ursprung des Ganzen verkläre. Im Kolleg vom WS 1930/31 tritt diese hermeneutische Grundannahme klar zutage, um beispielsweise in der Studie „Hegel und die Griechen“ von 1958 erneut zu begegnen. Hegels Philosophie sei egologische Logoslehre, näherhin „Onto-theo-ego-logie“5 , in der alles auf eine absolute 3 M. Heidegger, Hegels Phänomenologie des Geistes, WS 1930/31. Hg. v. I. Görland, Frankfurt a. M. 2 1988 = GA 32. 4 A. Sell, Martin Heideggers Gang durch Hegels „Phänomenologie des Geistes“, Bonn 1998. 5 Vgl. a.a.O., 136ff. Sells Arbeit ist nach vier Oberbegriffen gegliedert, die im Anschluss an die „Phänomenologie des Geistes“ ihren Argumentationsverlauf bestimmen: I. Der Anfang; II. Zeit; III. Leben und Selbstbewusstsein; IV. Sein und Zeit – Sein und Logos. Besonders erhellend sind die Analysen zur Endlichkeit des Daseins und zur Bestimmung des Selbstbewusstseins (vgl. 73ff.; 82ff.). Anders als bei Hegel, den er im Grunde der Transzendentalphilosophie zurechne, sei das Subjekt bei Heidegger keine transmundane, sondern eine unabdingbar welthaft verfasste Größe, ein existierendes Ego. Auch seinem Selbstbewusstsein eigne kein überweltlicher Status, da es als Bewusstsein des Bewusstseins an sich selbst immer gegenständlich verfasst sei und bleibe (vgl. bes. 89f.). Bewusstsein ist stets Bewusstsein von Gegenständlichkeit, woran sich auch unter Selbstbewusstseinsbedingungen grundsätzlich nichts ändere, da das um sich wissende Bewusstsein nicht aufhört, mit Gegenstandsbewusstsein untrennbar verbunden zu sein. Die Differenziertheit von Selbst und Welt lässt sich nicht auflösen.

Jemeinigkeit: Das Dasein als Selbstsein in Heideggers „Sein und Zeit“

Subjektivität zurückgeführt werde, die im System den traditionell Gott als dem Sein selbst vorbehaltenen Platz einnehme. Aus ihrer Selbstbewegung erschließe sich alles, was philosophisch von Bedeutung sei; in der Absolutheit ihres sich wissenden Selbstbewusstseins werde die Differenz von Sein und Denken aufgehoben und damit jedwede Differenz in den Begriff überführt. Im Begriff des Begriffs ist nach Heideggers Hegelinterpretation mit dem Seienden das Sein selbst zu dem geworden, was es immer schon war: absolut sich wissende Subjektivität. Das ins Absolute gesteigerte Selbstbewusstsein des Subjekts ist nach Heidegger das A und das O der „Phänomenologie des Geistes“ und des gesamten auf sie folgenden enzyklopädischen Systems. Onto-theo-ego-logie In Hegels „Onto-theo-ego-logie“ ist Heideggers Urteil zufolge die Seinsvergessenheit, welche die abendländische Metaphysik seit den antiken Anfängen der Philosophie bei den Griechen kennzeichne, auf die Spitze getrieben. Weil ihre Verwindung, wie es heißt, Hauptaufgabe aktueller Philosophie zu sein habe, komme der kritischen Auseinandersetzung mit Hegel paradigmatische Bedeutung zu. Denn in seinem Denken bleibe die Differenz als Differenz, will heißen: die Unvordenklichkeit des Seins allem Wissen und zu Bewusstsein gebrachtem Seienden gegenüber nicht nur unbedacht, sie werde vielmehr im Zuge einer Theorie absoluter Subjektivität programmatisch ausgeblendet und dezidiert um ihren Differenzcharakter gebracht. Die Identität der Identität und Differenz, von der Hegel spreche, bringe keineswegs Einheit und Unterschiedenheit paritätisch zur Geltung, sondern fungiere als Strukturformel eines auf Totalvermittlung abgestellten Philosophiekonzepts. Statt die Unvordenklichkeit des Seinsgrundes des Denkens und alles Gedachten zu achten und zu wahren, soll sie definitiv zum Verschwinden gebracht werden. Hegel hat nach Urteil Heideggers den Geist der Moderne auf den Begriff gebracht, ihren Epochenindex Subjektivität verabsolutiert und damit das Sein in seiner Unvordenklichkeit so konsequent dem Vergessen anheim gegeben, wie kein Philosoph vor ihm. Um die philosophische Seinsvergessenheit zu ver- und zu überwinden, sucht Heidegger die sog. ontologische Differenz, das Differente als Differentes, wie er sagt, zur Geltung zu bringen. Ein erster Schritt in diese Richtung sei mit der Wiederentdeckung der unaufhebbar endlichen Daseinsverfassung von Subjektivität und Selbstbewusstsein in „Sein und Zeit“ getan.6 Als Ziel der Unternehmung war bereits 1927 die Freilegung des Horizonts für eine

6 „Geschichte lässt sich nicht abschließen, die Zeit nicht im Begriff tilgen, Endlichkeit nicht überspringen.“ (A. Großmann, Spuren zum Heiligen. Kunst und Geschichte im Widerstreit zwischen Hegel und Heidegger [Hegel-Studien Beiheft 36], Bonn 1996, 236)

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Transzendenz des Personseins

Interpretation des Sinnes von Sein überhaupt angegeben worden. Geleistet werden sollte die Aufgabe durch eine vom ontischen und ontologischen Vorrang der Seinsfrage bestimmte Existentialanalytik, deren Programm Heidegger seit längerem verfolgte. Sodann hatte – geschickhaft – die entschlossene Hinkehr zu jener Seinsgeschichte zu erfolgen, aus deren Zuvorkommen allein sich die Bestimmung von Selbst und Welt offenbare – und zwar den Dichtern eher als den Denkern.7 Hermeneutik des faktischen Lebens Schon Heideggers früh entwickelte Hermeneutik des faktischen Lebens, als deren Grundparadigma ihm die Religionsphänomenologie galt, ist darauf ausgerichtet, die bewusstseinsphilosophische Scheidung von Subjekt und Objekt, erfahrendem Selbst und erfahrener bzw. erfahrbarer Welt aufzuheben. Ichliches und Nicht-Ichliches gehören situativ zusammen mit dem einzigen Unterschied, dass das Ichliche ist und das Nicht-Ichliche hat, wohingegen das Nicht-Ichliche bloß ist und nicht hat (vgl. GA 60, 92). Kein Ich besteht realiter ohne Bezug zu Nicht-Ich; seine Selbsterfahrung lässt sich von der Erfahrung von Weltlichem nicht absondern, welches für das Verständnis faktischer Lebenserfahrung und für einen ihr gemäßen Erfahrungsbegriff grundlegend ist. „‚Erfahren‘ heißt nicht ‚zur Kenntnis nehmen‘, sondern das Sich-Auseinander-Setzen mit, das Sich-Behaupten der Gestalten des Erfahrenen.“ (GA 60, 9) Die Faktizität von lebendiger Erfahrung hinwiederum lässt sich „nicht naturwirklich, nicht kausalbestimmt, und nicht dingwirklich“ (ebd.) fassen, sondern nur von dem her, was Heidegger „historisch“ nennt, freilich nicht in einem objektgeschichtlichen Sinne, sondern im Vollzugssinn gelebter Geschichtlichkeit. Stimmte Heidegger mit seinem Lehrer Edmund Husserl vorbehaltlos in der Überzeugung überein, der Unmittelbarkeit lebensweltlicher Erfahrung sei der eindeutige Vorrang vor aller Theorie und theoretisch vermittelter Erkenntnis zuzubilligen, so war er doch zugleich der Auffassung, das Urphänomen faktischen Lebens müsse ursprünglicher wahrgenommen werden als von diesem. Die transzendental-egologische Fassung, die Husserl der Phänomenologie zu 7 Entscheidend für den Vollzug der „Kehre“ ist und bleibt nach Heidegger die Wahrnehmung des Anfangsproblems. Im Unterschied zu Hegel sei die „Anfängnis des Anfangs“ nicht ontotheo-ego-logisch, sondern seinsgeschichtlich und damit so aufzufassen, dass der ontologischen Differenz zwischen Seiendem und Sein selbst Rechnung getragen werde, welches mehr und anderes sei als die Seiendheit des Seienden (vgl. A. Sell, Das Geheimnis des Anfangs. Die Aufnahme des Hegel’schen Anfangsbegriffs in der Philosophie Martin Heideggers, in: Th. Wyrwich [Hg.], Hegel in der neueren Philosophie, Hamburg 2011, 143–161, bes. 157ff. unter Verweis auf GA 70). „Hegel und das Problem der Aufhebung der Metaphysik“ ist unter Bezug auf Heidegger thematisiert in dem gleichnamigen Beitrag von W. Schulz, in: Martin Heidegger zum siebzigsten Geburtstag, Pfullingen 1959, 67–92.

Jemeinigkeit: Das Dasein als Selbstsein in Heideggers „Sein und Zeit“

geben trachtete, stieß auf Heideggers entschiedene Ablehnung. Um Urphilosophie des Vortheoretischen sein zu können, das sich nicht in Theorie überführen lasse, weil es deren theoretisch uneinholbare Voraussetzung bilde, müsse die Phänomenologie dem traditionellen Transzendentalismus definitiv den Abschied geben bzw. ihn in eine Hermeneutik „transzendentaler“ Lebensfaktizität überführen, welche keinerlei Separation von Ideal- und Real-Ich zulasse und die ursprüngliche Selbst-Welt-Relation zur Bedingung der Möglichkeit einer Philosophie des Lebens und des Erlebens zu erklären habe. Dem phänomenologisch zu erschließenden Prozess intentionalen Gegenstandsbewusstseins könne kein Ego zugrundegelegt werden, das seinen Verlauf beständig begleitet und so als Bedingung seiner möglichen Einheit fungiert. Denn das Sein des Ich ist immer schon und auf unhintergehbare Weise Dasein in der Welt. Die phänomenologische Schau der Bewusstseinserscheinungen ist entsprechend nie reines Zusehen im Sinne transzendentaler Reflexion, sondern selbst von wesenhaft weltbezogener Intentionalität.8 Von einem reinen Ego ohne Welt und einer Abhebung eines transzendentalen von einem empirischen Ich will Heidegger nichts wissen. Aufgabe der Philosophie sei es, das Dasein als In-der-Welt-sein in seiner Jeweiligkeit bzw. Jemeinigkeit über sich selbst zu verständigen und es auf die in ihm liegende Möglichkeit eigentlichen Selbstseins zu verweisen. Egologiekritik Eigentlich es selbst und wahrhaftig ist das Dasein Heidegger zufolge nicht in der Weise eines Subjekts: „Denn der ontologische Begriff des Subjekts charakterisiert nicht die Selbstheit des Ich qua Selbst, sondern die Selbigkeit und Beständigkeit eines immer schon Vorhandenen. Das Ich ontologisch als Subjekt bestimmen, besagt, es als immer schon Vorhandenes ansetzen. Das Sein des Ich wird verstanden als Realität der res cogitans.“ So steht es § 64 („Sorge und Selbstheit”) von „Sein und Zeit“ bündig zu lesen9 , wobei angemerkt wird, dass die Fehlbestimmung des Ich als stets selbigen Subjekts die Theorie von Selbst 8 vgl. H. Schmitz, Husserl und Heidegger, Bonn 1996 sowie Heidegger-Jahrbuch 6 (2012): Heidegger und Husserl. 9 M. Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen 12 1972; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Pannenberg versteht Heideggers Hauptwerk „als das Ergebnis einer Verbindung der neuentdeckten Dimension der Geschichtlichkeit mit der im Anschluss an Husserl phänomenologisch gefassten Seinsfrage“ (W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 327). „Am Beispiel und Leitfaden des (menschlichen) Daseins, dem das Verstehen seines Seins immer schon Thema ist, soll der Sinn von ‚Sein‘ und damit die Voraussetzung aller formalen und regionalen Ontologie geklärt werden. Das geschieht entscheidend durch die Analyse der aus der Zukunft des Daseins entspringenden Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Daseinsvollzugs, die den Seinscharakter des Daseins im Unterschied zu allem bloß ontisch Gegebenen bestimmt. Daraus

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und Selbstbewusstsein von Descartes über Kant10 bis hin zu Hegel (samt seinem Geistbegriff) präge und in ihrer „ontologische(n) Bodenlosigkeit“ (320 Anm.) erweise. Heideggers Egologiekritik hat Pannenberg von Anbeginn fasziniert und zwar aus Gründen, die auch später virulent blieben, wie die Erörterungen zum Prozess der Identitätsbildung in der Psychoanalyse und der Erforschung sozialen Verhaltens im vorausgegangenen Abschnitt bewiesen haben. Die namentlich G. H. Mead und E. H. Erikson betreffenden Fallbeispiele führten zurück zu Fichtes ursprünglicher Einsicht und zum Zentralproblem seiner Ichphilosophie, das Pannenberg in einer Kurzvorstellung der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ vor einem englischsprachigen Publikum bündig so umschrieben hat: „The constitution of selfidentity can not be a product of human action, because action already presupposes a subject that is and remains identical in the course of the action.“11 Nach Heidegger wird die Bodenlosigkeit der neuzeitlichen Egologie und Subjektivitätstheorie in der phänomenologisch erschlossenen Einsicht offenbar, dass Dasein seiner Grundverfassung nach In-der-Welt-sein sei. „Dasein ist nie ‚zunächst‘ ein gleichsam in-seins-freies Seiendes, das zuweilen die Laune hat, eine ‚Beziehung‘ zur Welt aufzunehmen. Solches Aufnehmen von Beziehungen zur Welt ist nur möglich, weil Dasein als In-der-Welt-sein ist, wie es ist.“ (57) Werde dieses Urphänomen verkannt und ein transmundanes Ichsubjekt in Ansatz gebracht, dann führe das zwangsläufig zu einer Verkennung des Daseins in seiner Jemeinigkeit. In-der-Welt-sein Das Dasein, das je das meine ist, ist unveräußerlich Sein in der Welt. Welche Bewandtnis es mit der Weltlichkeit der Welt, dem In-der-Welt-sein als Mitsein und dem, wie es heißt, In-sein als solchem näherhin auf sich hat, wird im ersten der beiden Hauptteile von „Sein und Zeit“ erörtert mit dem Ziel, jene Fundamentalstruktur des Daseins analytisch zu erheben, die Heidegger „cura“,

ergibt sich der Unterschied des Seins von allem Seienden, den Heidegger in späteren Jahren unermüdlich eingeschärft hat und dessen systematische Verdeckung nach seiner Meinung die Geschichte der Metaphysik kennzeichnet.“ (327f.) 10 „Kant vermied zwar die Abschnürung des Ich vom Denken, ohne jedoch das ‚Ich denke‘ selbst in seinem vollen Wesensbestande als ein ‚Ich denke etwas‘ anzusetzen und vor allem ohne die ontologische ‚Voraussetzung‘ für das ‚Ich denke etwas‘ als Grundbestimmtheit des Selbst zu setzen.“ (321) So wurde auch von ihm „das Ich wieder auf ein isoliertes Subjekt, das in ontologisch völlig unbestimmter Weise Vorstellungen begleitet, zurückgedrängt“(ebd.). 11 W. Pannenberg, Anthropology in a theological perspective. Handschriftliches Thesenpapier (Beilage in Pannenbergbibliothek 00654), hier: These 6.

Jemeinigkeit: Das Dasein als Selbstsein in Heideggers „Sein und Zeit“

„Sorge“ nennt. Um mit der Weltlichkeit der Daseinswelt zu beginnen, so ist diese nicht als eine objektive Gegebenheit, sondern als ein apriorisches Existenzial zu erfassen, das aller Welt-und Selbsterfahrung zugrunde liegt. Dasein existiert weltlich. Während indes das Dasein als Selbstsein eine Welt hat, ist das Seiende, welches Heidegger das innerweltliche bzw. das weltzugehörige nennt, lediglich in der Welt, ohne eine Welt zu haben. Es ist dem Dasein, wie es heißt, primär als Zuhandenes präsent, um erst sekundär und unter der Voraussetzung, dass es als Zuhandenes abhanden gekommen ist, zum Vorhandenen objektiviert zu werden. Wie immer es um das genaue Verhältnis von Sachzeug und verdinglichten Gegenständen und um die Frage bestellt sein mag, wie aus dem Zuhandenbzw. Vorhandensein von nichtdaseinsmäßigem Seienden, welches die Umwelt des Daseins bildet, jene Räumlichkeit hervorgeht, welche die Theorie des Weltraums fundiert: offenkundig ist, dass Heidegger daseinsanalytisch zwischen welthabenden und nicht welthabenden Entitäten unterscheidet. Dieser Unterscheidung entspricht diejenige von daseinsmäßigem und nichtdaseinsmäßigem Seienden, welche die implizite Voraussetzung der Lehre vom Mitsein darstellt, um in ihr expliziert und phänomenologisch entfaltet zu werden. Mitsein Dasein ist als In-der-Welt-sein stets Mitsein, weil Selbstsein nicht ohne Anderes existent ist, welches als es selbst und mithin anders da ist als das nichtdaseinsmäßige Seiende. Obwohl von Dasein signifikanterweise kein Plural gebildet werden kann, gehört das Mitdasein anderer, die anderes sind als Sachzeug und gegenständliche Dinge, konstitutiv zu ihm. Zwar will Heidegger das Mitsein des Daseins ebensowenig intersubjektivitätstheoretisch bestimmt wissen wie das Selbstsein des Daseins in seiner Jemeinigkeit egologisch; beide Bestimmungen hält er im Gegenteil für äußerlich herangetragen und phänomenologisch unpassend. Das Mitsein des Daseins ist ursprünglicher als der Bezug von Ego und alter Ego und, wie gesagt, weder intersubjektivitätstheoretisch noch gar in der Logizität von Ich und Nichtich angemessen zu erfassen. Heidegger spricht stattdessen von einer Freigabe von Seiendem durch die Welt des Daseins, „das nicht nur von Zeug und Dingen überhaupt verschieden ist, sondern gemäß seiner Seinsart als Dasein selbst in der Weise des In-der-Welt-seins ‚in‘ der Welt ist, in der es zugleich innerweltlich begegnet. Dieses Seiende ist weder vorhanden noch zuhanden, sondern ist so, wie das freigebende Dasein selbst – es ist auch und mit da.“(118) Selbstsein Was schließlich das In-sein des Daseins als solches anbelangt, so erweist es sich phänomenologischer Analyse wesentlich als Erschlossenheit. Das Dasein

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ist sich selbst erschlossen und in seinem In-der-Welt-sein für sich da, welcher Fürbezug für den Bezug zu anderem und für das Mitsein des Daseins wesentlich ist. Als für sich erschlossenes Selbstsein ist das Dasein Heidegger zufolge durch die Strukturmomente der Befindlichkeit, des Verstehens und der Rede bestimmt. In seiner jeweiligen Befindlichkeit ist das Dasein so oder so gestimmt. An Stimmung und fühlendes Empfinden als Primärweisen daseinsmäßiger Welt-und Selbsterschlossenheit schließt das Verstehen an, welches Heidegger in erster Linie als ein Sich-verstehen-auf auffasst. Nur weil das Dasein sich darauf versteht zu existieren, kann es überhaupt Verständnis entwickeln. Besteht die Urform des Daseinsverständnisses im Vertrautsein mit sich und seiner Welt als der Basis allen reflexen Verstehens, so nimmt dieses in Gestalt sich äußernder Rede explizite Form an, um das Erkannte bekannt zu machen, wobei nach Heidegger die Aussage nur einen Modus des Sprechens und zwar einen abkünftigen darstellt, was durch den Hinweis unterstrichen wird, dass auch Schweigen beredt und vielsagend sein kann. Sorgestruktur und Zeitlichkeit des Daseins Ihren Skopus findet Heideggers Analyse des fühlenden, verstehenden und zur Sprache gebrachten In-seins des sich selbst erschlossenen Daseins im Erweis seiner sog. Sorgestruktur, die er mit der kryptisch anmutenden Wendung umschreibt: „Sich-vorweg-schon-sein-in-(der Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seiendem)“(192) Diese Strukturformel wird im zweiten Hauptteil von „Sein und Zeit“ wiederholt aufgegriffen, um Zeitlichkeit als den Sinn der Sorge aufzuweisen, in der das Wesen des Daseins und die Essenz seiner Existenz begriffen sind. Damit ist der entscheidende Ansatzpunkt der Heideggerrezeption Pannenbergs markiert. War sein Interesse in kritischer Hinsicht auf Heideggers Absage an die Vorstellung eines ständigen Ichsubjekts konzentriert, so unter konstruktiven Aspekten auf den Aufweis der Zeitlichkeit des Daseins im Rahmen einer temporalen Ontologie. In der Zeitlichkeit, so Heidegger, findet die triadische Sorgestruktur ihren ursprünglichen Grund: Als um sich und seine Welt besorgt sei das Dasein durch Existenzialität gekennzeichnet und damit wesentlich über sich hinaus und sich vorweg; dieses Sich-vorweg gründe in der Zukunft. Unbeschadet dessen, dass es im Übersichhinaus seines Selbstentwurfs sich vorweg existiert, ist das Dasein faktisch immer schon da und in der Welt; dieses Schon-sein-in, das seine Faktizität ausmacht, bekundet in sich, was Heidegger die Gewesenheit nennt. Das Seinbei (innerweltlich begegnendem Seienden) wiederum werde „ermöglicht im Gegenwärtigen“ (327).

Jemeinigkeit: Das Dasein als Selbstsein in Heideggers „Sein und Zeit“

Man-selbst In Zukunft, Gewesenheit und Gegenwart als den chronologisch nur bedingt zu bemessenden Modi der Zeit, in denen sich die Zeitlichkeit des Daseins zeitigt, wie Heidegger sagt, findet die Sorgestruktur des Daseins ihren – dreieinigen – Grund, wobei der Zukunft insofern Priorität zuerkannt wird, als sie es ist, in der das Dasein sich selbst in der Weise seiner eigenen Bestimmung und dergestalt bevorsteht, daß es „in seinem eigensten Seinkönnen auf sich zukommt“(325). Am Verhältnis zu seiner Kunft, sagt Heidegger, entscheidet sich, ob Dasein eigentlich oder uneigentlich existiere, wahrhaft oder in einer dem „Man“ verfallenen Weise Selbstsein sei. Zwar existiert Dasein wesentlich als es selbst und ist damit essenziell Selbstsein, jedoch im Falle seines üblichen, alltäglichen und gewohnten Seins in Gestalt dessen, was Heidegger „Man-selbst“ (126) nennt und „von dem eigentlichen, das heißt eigens ergriffenen Selbst“(129) unterscheidet. Als „Man-selbst“ fristet die Existenz ihr Dasein auf gleichsam selbstvergessene und weltverfallene Weise, so dass es nicht eigentlich bei sich, sondern in Andersheit und in dasjenige versenkt ist, was ihm uneigentlich ist. Die Neigung zu Gerede, Neugier und Zerstreuung ist nach Heidegger kennzeichnend für ein dem „Man“ verfallenes Dasein, dessen Selbstsein kein eigentliches Selbstsein ist und dem allmählich alles als indifferent erscheinen muss, so dass am Ende nicht mehr gesagt werden kann, was richtig und falsch, recht und unrecht, wahr oder verlogen ist. Angst Das vorzüglichste Wirkmittel aus der Verfallenheit des Daseins herausgerissen zu werden und zu eigentlichem Selbstsein zu gelangen ist nach Heidegger die Angst. Sie benimmt „dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der ‚Welt‘ und der öffentlichen Angelegenheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstet, sein eigentliches In-der-Welt-sein-können.“(187) Während die Furcht in der Regel auf einen bestimmten Gegenstand bezogen ist und einen identifizierbaren Anlass hat, fehlt dies bei der Angst. Sie ängstigt sich nicht vor diesem oder jenem, sondern recht eigentlich vor nichts, vor dem Nichts, nämlich vor dem Nichtsein des Daseins bzw. vor der Nichtung, die ihm bevorsteht. Daseinsangst ist Todesangst und als Todesangst Nihilismusangst. Dies macht ihre Unheimlichkeit aus, die aus dem Gewohnten heraustreibt und das Dasein unheimisch macht in der Welt, ohne einen Ausweg aus ihr zu weisen, den sie vielmehr gänzlich verstellt. Durch die Angst ist das Dasein ganz auf sich gestellt. Sie „vereinzelt und erschließt so das Dasein als ‚solus ipse‘. Dieser existenziale ‚Solipsismus‘ versetzt aber“, wie Heidegger hinzufügt „so wenig ein isoliertes Subjektding in die harmlose Leere eines weltlosen Vorkommens, daß es das Dasein gerade in

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einem extremen Sinne vor seine Welt als Welt und damit es selbst vor sich selbst als In-der-Welt-sein bringt.“ (188) In der Angst bekommt es das Dasein mit sich selbst dergestalt zu tun, dass ihr die Alternativlosigkeit seines In-der-Welt-seins aufgeht. Nicht Sein oder Nichtsein heißt die Frage; in Frage steht vielmehr, ob das Dasein im Bewusstsein seiner endenden Endlichkeit, also angesichts seines bevorstehenden Nichtseins sich willentlich selbst wählt und in entschiedener Affirmation zu sich steht, um ein eigentliches Selbst zu sein und sonst nichts – oder ob es sich (mutlos die Angst fliehend) dem „Man“ preisgibt bzw. sich anderweitig veräußert. Sein zum Tode In der Hingabe ans „Man“ macht sich das Dasein durch Entzug seiner Eigentlichkeit unmöglich. Eigentlich es selbst sein kann es nur durch den Entschluss, sich als Sein zum Tode entschieden zu affirmieren. Woher rührt das Vermögen zu diesem Entschluss? Heideggers Antwort: Aus dem Dasein selbst, näherhin aus der Zukunft seiner Zeitlichkeit, die es zu segnen gilt in der Weise proleptischer Antizipation des bevorstehenden Todes. Allein durch entschlossenen Vorlauf zu ihm gelangt das Dasein wahrhaft zu sich selbst, um eigentlich es selbst zu sein und sein Selbstsein in unverwechselbarer und unwiederholbarer Einmaligkeit zu realisieren. Im berühmten §53 von „Sein und Zeit“ zum „Existenziale(n) Entwurf eines eigentlichen Seins zum Tode“ hat Heidegger im Einzelnen dargelegt, was er unter jenem entschiedenen Existieren zu verstehen gedenkt, das im antizipatorischen Vorgriff auf sein Ende und in proleptischer Wahrnehmung seiner Nichtexistenz in affirmativer Entschlossenheit zu sich selbst steht. Pannenberg hat besagten Paragraphen ebenso intensiv studiert wie die nachfolgenden Ausführungen zum Gewissen, in dessen Ruf sich nach Heidegger die Möglichkeit eigentlichen Seins daseinsmäßig bezeugt. Motivverwandtschaften, die Affirmationen bewirken, lassen sich einige entdecken. Wie Heidegger priorisiert Pannenberg in dem, was man seine eschatologische Ontologie genannt hat, die Zukunft unter den Modi der Zeit, wobei ebenfalls die Antizipation des Künftigen und die Prolepse des Endes mit der Thematik von Ganzheit und Eigentlichkeit erkennbar verbunden ist. Nimmt man hinzu, dass er die Kritik an der Vorstellung eines stetigen, gleichsam zeitinvarianten Ich und an der Annahme eines transzendentalen Ego als der Bedingung möglicher Welt-und Selbsterfahrung teilt, dann werden die konstruktiven Berührungspunkte seiner Konzeption mit der Heideggerschen noch deutlicher. Doch darf all dies nicht über ins Grundsätzliche gehende Differenzen hinwegtäuschen. Pannenbergs Zentraleinwand geht dahin, Heidegger habe Weltzeit auf existenzielle Zeitlichkeit und in der Folge Geschichte auf Geschichtlichkeit re-

Jemeinigkeit: Das Dasein als Selbstsein in Heideggers „Sein und Zeit“

duziert, wobei der Ewigkeitsaspekt zeitphilosophisch gänzlich ausgeblendet worden sei. Zwar setze Heidegger kein „immer schon mit sich identisches Ich als den Ort des Zeitbewußtseins voraus. Die Identität des Daseins soll vielmehr von der Zukunft her allererst konstituiert werden, und zwar derart, daß von der Zukunft des eigenen Todes her das Dasein im ganzen in seiner Endlichkeit erschlossen wird und als ‚eigenstes Gewesensein‘ übernommen werden kann. Andererseits hat die Ganzheit des Daseins ihren Ort nicht in der Ewigkeit oder als Teilhabe an der Ewigkeit …, sondern in der Endlichkeit des Daseins als solcher, und zwar nur im Vorlaufen, also im Akt der Antizipation des eigenen Todes als Siegel dieser Endlichkeit, deren Kehrseite die Geworfenheit, die Kontingenz des Da ist.“12 Zeit und Ewigkeit Mit entschiedenem Nachdruck hat Pannenberg wiederholt bestritten, dass das Verhältnis des Daseins zur Zukunft ohne weiteres als Selbstverhältnis gedacht und der Tod mit der Ganzheit menschlichen Lebens assoziiert werden könne. Diese Annahme erscheine als zweifelhaft, ja als abwegig: „Der Tod bringt das Leben nicht in seine Ganzheit, sondern bricht es ab, zerstört seine Ganzheit. Darum ist die erhoffte Auferstehung für den christlichen Glauben der Sieg über den Tod, den Paulus den ‚letzten Feind‘ nennt (1 Kor 15,26), nicht nur Offenbarung dessen, was der eigentliche Sinn schon des Todes selbst ist. Wenn der Tod das Leben nicht zur Ganzheit vollendet, sondern abbricht, dann besteht wenig Anlaß, den lebensfeindlichen Charakter des Todes zu bezweifeln, der auch in den biblischen Aussagen über den Tod ganz überwiegend zum Ausdruck kommt.“(Anthr., 136) Ganzheit erlangt das Dasein nicht in Relation zum Tod, sondern in Bezug zur Ewigkeit. Indem dieser Bezug ausgeblendet werde, laufe der zeitliche Selbstvollzug des Daseins bei Heidegger auf einen Akt der Selbstkonstitution hinaus, der außer dezidierter Entschlossenheit keinen Grund aufzuweisen habe, die Aporie wiederhole, in welche bereits vormalige Selbstsetzungstheorien geraten seien, und überdies die Zeit um ihre welthafte Verfassung bringe und tendenziell ins rein Subjektive auflöse. Analoges müsse in Bezug auf das Verhältnis von Geschichtlichkeit und Geschichte geltend gemacht werden. „Die Emanzipation der Geschichtlichkeit von der Geschichte, die Umkehrung des zwischen beiden waltenden Verhältnisses zu einer Begründung der Geschichte aus der Geschichtlichkeit des Menschen erscheint als letzte Spitze des Weges, der damit begann, daß man in der Neuzeit an Stelle Gottes den Menschen zum Träger der Geschichte machte. Daß die Geschichtlichkeit des Menschen der Kontinuität des Geschichtsverlaufs entgegengestellt wird, ist der letzte Schritt der auf diesem Weg möglich ist, bevor mit 12 W. Pannenberg, Metaphysik und Gottesgedanke, Göttingen 1988, 61.

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der Erfahrung der Geschichte auch die der Geschichtlichkeit versinken müsste.“13 Dieses Zitat stammt aus dem 1958 entstandenen und im darauffolgenden Jahr publizierten Aufsatz „Heilsgeschehen und Geschichte“; es belegt, dass der Grundgegensatz Pannenbergs zur Heidegger’schen Daseinsanalyse trotz aller Motivbezüge schon früh ausgebildet war. 13.2

Präreflexives Cogito: Das Fürsichsein des Bewusstseins nach Sartre

Zehn Jahre nach Martin Heideggers Jahrhundertbuch „Sein und Zeit“ erschien 1937 in Paris eine Schrift mit dem Titel „La Transcendance de l’Ego“14 ; es handelt sich dabei um das erste originär philosophische Werk des Dichters und Denkers Jean Paul Sartre. Darin wird dezidiert in Abrede gestellt, dass das Ego die Basis des Bewusstseins und seiner Vollzüge bilde; das, was Ich heißt, sei im Gegenteil dessen Gegenstand und Produkt bewusster Reflexion. Zwar leugnet Sartre nicht die Subjektivität des Bewusstseins, sondern bringt sie ausdrücklich in Anschlag. Aber dieser sei kein Subjekt im Sinne eines Ich zugrunde zu legen, das um sich selbst wisse. Selbstbewusstsein ergebe sich vielmehr erst im Zuge einer Reflexion, die in einem Bewusstsein fundiert sei, welches das Bewusstsein präreflexiv von sich habe. Transzendenz des Ego In dem außerordentlich gehaltvollen, dringend der Eigenlektüre empfohlenen Abschnitt über „Das Ich und das Selbst“ im Kapitel von Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ zur Identitätsproblematik wird neben Heidegger (vgl. Anthr., 203–206) Sartre (vgl. Anthr., 206–209) besonderer Aufmerksamkeit gewidmet und zwar zunächst seiner „Kritik an der Vorstellung eines dem Ganzen des Bewußtseinsprozesses zugrundeliegenden, dauernden Ich“ (Anthr., 209) und einer dieser Vorstellung entsprechenden „Verdinglichung des Selbstseins“ (ebd.). Im Zusammenhang seiner Lehre von der „Transzendenz des Personseins“ (Anthr., 232) kommt Pannenberg sodann erneut auf Heidegger (vgl. Anthr., 230–232) und Sartre (vgl. Anthr., 230–234) zu sprechen, um schließlich unter dem Gesichtspunkt der Präsenz des Daseinsganzen im Gefühl (vgl. Anthr., 237–258) ein weiteres Mal auf beider Bewusstseinsphänomenologie Bezug zu nehmen. Eine konstruktive Leitfunktion kommt dabei Heideggers Stimmungsbegriff zu, im thematischen Kontext dessen Sartres Idee 13 Ders., Heilsgeschehen und Geschichte, in ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 2 1971, 22–78, hier: 39. 14 J.P. Sartre, La Transcendance de l’Ego, Paris 1937.

Präreflexives Cogito: Das Fürsichsein des Bewusstseins nach Sartre

eines präreflexiven Cogito und eines Fürsichseins des Bewusstseins schärferes bzw. jenes Profil gewinnt, das Pannenbergs Interesse an ihr erklärt. Die enge Verbindung des Problems menschlicher Identität mit dem Selbstbewusstseinsthema in der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ (Anthr., 185–235) könnte zu der Vermutung Anlass geben, „daß die theoretische Adäquatheit im Verhältnis von Ich und Selbst das entscheidende Moment bei der Identitätsproblematik sei“ (Anthr., 236). Pannenberg widerspricht diesem Eindruck: Die Identität und Ganzheit des Daseins manifestiere sich „nicht primär in der Form eines Wissens“ (ebd.), sondern im Horizont einer ursprünglichen und unthematischen Vertrautheit des Menschen mit sich, genauer gesagt: im „Horizont des Gefühls“ (ebd.). In der Gestalt des Gefühls als einer unmittelbaren Selbstvertrautheit präreflexiver Art wird das „stets noch unvollendete Lebensganze im einzelnen Lebensmoment“ (Anthr., 237) präsent, ohne bereits „Gegenstand thematischer Selbstreflexion“ (ebd.) zu sein. Auch wenn sein fühlendes Innesein kein ausdrückliches Bewusstsein seiner selbst enthalte, sei der Mensch in ihm doch in einem Selbstbezug begriffen, der sich in seinem affektiv-emotiven Leben in der elementaren Gestalt von Lust und Unlust und in Stimmungen niederschlage, die sich am gefühlsmäßigen Grundgegensatz des Angenehmen und Unangenehmen bemessen.15 Ganzheitsgefühl Dass die der Religion zuzuordnenden Erfahrungen aufs engste mit dem menschlichen Fühlen verbunden sind, hat insbesondere Schleiermacher nachdrücklich hervorgehoben, wobei er das religiöse Gefühl nicht mit einzelnen Emotionen und affektiven Stimmungen gleichsetzte, sondern es als unmittelbare Präsenz des ungeteilten Lebensganzen und als ein Grundempfinden kennzeichnete, das den Menschen in allen Höhen und Tiefen seiner Stimmungslagen prägt. An dem Bezug zum Ganzen des Lebens, der nach Schleiermacher dem religiösen Gefühl eignet, schließt Pannenberg affirmativ an, wobei er herausstellt, dass das besagte Ganzheitsgefühl die Differenz nicht nur von Ich und Selbst, sondern auch diejenige von Selbst und Welt umgreife und daher mit Recht auf die Gottesthematik bezogen werde, die implizit in ihr angelegt sei. Eigens thematisch werde die Gottheit Gottes indes ebensowenig wie der Selbstbezug, der dem Gefühl als einem Innesein präreflexiv eigne. Erfolge eine ausdrückliche 15 Zur Geschichte der philosophischen Termini Gefühl und Stimmung, zu ihrem Verhältnis zueinander sowie zu Empfindung, Emotion und Affekt vgl. Anthr., 237 ff. „Dem uneinheitlichen Sprachgebrauch entsprechen stark differierende Zugangsweisen zu den Phänomenen selber.“ (Anthr., 238) Vgl. H. Landweer/U. Renz (Hg.), Handbuch Klassische Emotionstheorien. Von Platon bis Wittgenstein, Berlin/Boston 2012; zur Unterscheidung gehobener und gedrückter Stimmungen und ihrem Verhältnis zueinander vgl. O. F. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen (1941), Frankfurt a. M. 7 1988, 31ff.

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Thematisierung, dann könne dies nur im „Medium des Gedankens“ (Anthr., 245) geschehen, auf welches „jede Verständigung, aber auch schon jede Selbstverständigung über das Gefühl“ (ebd.) angewiesen bleibe. Für Pannenberg ergeben sich in der Konsequenz dieser Feststellung „weitreichende Korrekturen an Schleiermachers Konzeption des Verhältnisses von Denken und Religion, von Philosophie und Theologie“ (ebd.). Unbeschadet dessen soll daran festgehalten werden, „daß das Gefühl in seinem Ausgriff auf das Lebensganze dem gedanklichen Unterscheiden und Korrelieren immer schon voraus ist, wenn es auch in seiner Vagheit auf die Bestimmungen durch den Gedanken angewiesen bleibt. Der Gedanke wird dennoch nie erschöpfend einholen, was im Gefühl schon präsent ist.“ (Ebd.) Er ist hypothetischer Vorgriff auf das ungeteilte Dasein und den Sinn des Ganzen, dessen das religiöse Fühlen unmittelbar und auf unthematische Weise inne wird. Im eigentümlichen Gestimmtsein des religiösen Fühlens meldet sich in der Form eines unmittelbaren Inneseins der Bezug zum Ganzen des Lebenssinns, ohne den alles Sinnen und Trachten des Menschen seine tiefere Bedeutung verlieren müsste. Eigens thematisch wird der im religiösen Fühlen unthematisch wahrgenommene Ganzheitsbezug in einem Denken, das auf theoretische Letztbegründung und die Zielursache alles Seienden ausgerichtet ist, wie das nach Pannenbergs Urteil für eine Philosophie, die ihren Namen verdient, und nachgerade für die Theologie obligat ist: Beide kommen ohne Metaphysik nicht aus. Auch Pannenbergs Selbstbewusstseinstheorie und seine Lehre von menschlicher Identität in der differenzierten Einheit von Ich und Selbst bzw. Ich, Selbst und Welt ist metaphysisch ausgerichtet, ohne indes zu beanspruchen, das im religiösen Gefühl Gefühlte definitiv auf den Begriff bringen zu können. Nachgerade in selbstbewusstseinstheoretischer Hinsicht erweist sich alles Begreifen als vorläufige Antizipation und vorgreifende Prolepse dessen, was auf das menschliche Dasein zukommt und im religiösen Ganzheitsgefühl bereits unthematisch präsent ist. Präreflexives Innesein Die These, wonach „die Gegenwart eines den jeweiligen Moment übersteigenden Lebensganzen im Gefühl Voraussetzung für das lebendige Verhalten“ (Anthr., 253) einschließlich des Selbstverhältnisses des Menschen sei, gehört mit dem Verständnis des aufs Ganze gehenden Denkens als vorgreifend zusammen. Der Begriff realisiert sich als Vorgriff, weil das Lebensganze nur antizipatorisch und im Vorlauf zur künftigen Endzeit zu vergegenwärtigen ist. Dieses Resümee der erfolgten Zwischenüberlegung bestätigt nicht nur die bei aller Grundsatzkritik bestehende Affinität Pannenbergs zu Heideggers Denken, sondern erklärt zugleich sein elementares Interesse an der phänomenologischen

Präreflexives Cogito: Das Fürsichsein des Bewusstseins nach Sartre

Bewusstseinslehre Sartres, dessen Annahme eines präreflexiven cogito er sich in dem Sinnes eines in Erlebnisvollzügen implizit und unausdrücklich mitgesetzten Ich angeeignet hat, welches sich momentan als mit sich selbst (samt Gott und der Welt, wie man hinzufügen darf) ganz eins empfindet. Vertieft hat Sartre seinen in „La Transcendance de l’Ego“ entwickelten Ansatz bei einer nichtegologischen Erklärung des Fürsichseins des Bewusstseins, die an Schleiermachers These eines unmittelbaren Selbstbewusstseins erinnert, in seinem philosophischen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“, das seinem Untertitel gemäß den „Versuch einer phänomenologischen Ontologie“ unternimmt. Das von Pannenberg intensiv studierte Werk ist 1943 in Paris im französischen Original, 1962 erstmals in einer ungekürzten deutschen Fassung erschienen.16 Der Ausgang wird beim Phänomen leibhaften Daseins und bei den Erscheinungen genommen, die seine Existenzmodi kennzeichnen. Im ersten Teil entwickelt Sartre im Zusammenhang der Frage nach der Genese der Verneinung seine phänomenologische Auffassung des Nichts und seines Ursprungs, um sie mit einer Bestimmung dessen zu verbinden, was er Unwahrhaftigkeit nennt. Der zweite Teil ist dem Thema des Für-Sich-Seins gewidmet, ausgehend von dessen unmittelbaren Strukturen hin zu einer Lehre von Zeitlichkeit und Transzendenz. Die Erkenntnis als Typus der Beziehung des Für-sich und An-sich vermittelt zugleich das Sein für sich mit dem Für-andere-Sein, wie es in Gestalt der Leibhaftigkeit des Daseins gegeben ist. Phänomenologische Ontologie Die konkreten Verbindungen mit anderen analysiert Sartre an diversen Einstellungen und Haltungen, um den dritten Teil mit einer phänomenologischen Theorie von „Mitsein“ und „Wir“ zu beenden. Der vierte und letzte Abschnitt enthält die Kapitel Sein und Machen sowie Machen und Haben und handelt von der Freiheit als erster Bedingung der Tätigkeit, von der situativen Verfassung der Freiheit und von Freiheit und Verantwortung sowie von existenzieller Psychoanalyse etc.; Schlussfolgerungen entfalten metaphysische und ethische Perspektiven. Vorangestellt sind der Abhandlung einleitende Bemerkungen 16 J.-P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie (1943), Hamburg 1962. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. – Wie Pannenberg kritisiert auch Sartre die Heidegger’sche These, wonach das Dasein im Vorlauf zum Tode zu Eigentlichkeit und Ganzheit gelange. Zutreffend sei, „daß der Tod, weit davon entfernt, meine eigene Möglichkeit zu sein, ein kontingentes Faktum ist, das als solches sich mir grundsätzlich entzieht …“ (687). Statt dem Leben Bedeutung zu verleihen, nehme sie ihm der Tod; die durch ihn bestimmte Situation sei diejenige der „Absurdität“ (679). – „Sein“ und „Nichts“ bei Sartre und Hegel werden thematisiert bei H. Glinka, Aus Phänomenologie mach Dialektik. Jean-Paul Sartres Anverwandlung Hegels, in: M. Wyrwich (Hg.), Hegel in der neueren Philosophie, Hamburg 2011, 215–272, hier: 231ff.

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zum Begriff Phänomen, zum Seinsphänomen und zum Sein des Phänomens sowie zur Thematik des cogito und des Seins von percipere und percipi, denen Pannenbergs besonderes Interesse gilt. Das Wesen west nur in der Erscheinung. An dieser nicht nur von Hegel, sondern auch von der sog. Phänomenologie geteilten Einsicht ergibt sich, „daß der Dualismus von Sein und Scheinen in der Philosophie kein Bürgerrecht mehr hat“ (9). Das Phänomen verweist nicht auf ein hintergründig Verborgenes, sondern zeigt sich selbst an und zwar absolut und in jener Objektivität, welche die Annahme eines transphänomenalen Dinges an sich ausschließt. Gleichwohl ist die absolute Objektivität, die dem Phänomen eignet, relativ und selbsttranszendierend insofern, als die einzelne Erscheinung in eine Sequenz von Erscheinungen eingereiht ist, die ein Wesensgrund zur Voraussetzung hat, der zwar selbst nicht anders als phänomenal zu erfassen ist, ohne doch in einer Einzelerscheinung unmittelbar greifbar zu sein, weil er das Sein- und Sinnganze der Phänomenabfolge repräsentiert. „So zeigt“, mit Sartre zu reden, „die Erscheinung, die endlich ist, sich selbst in ihrer Endlichkeit an, aber sie fordert gleichzeitig, auf das Unendliche hin überschritten zu werden, damit sie als Erscheinung-dessen-was-erscheint ergriffen werden kann“ (11f.). Jede Erscheinung hat ihr eigenes Sein doch nur im Zusammenhang eines Ganzen, das in allen Phänomenen antizipiert, aber in keinem von ihnen erschöpfend zur Darstellung gebracht wird. Der Strom des Bewusstseins, in dem gelebt und Erlebnisse gemacht werden, belegt dies nach Sartre eindeutig. Strom des Bewusstseins Dem menschlichen Erleben liegt Sartre zufolge kein Ego zugrunde, dessen Selbstbewusstsein mit der Identität des Ich zugleich die Einheit aller bewusster Erlebnisse gewährleistet. Zwar sei bewussten Selbstsein der Bezug auf sich implizit; aber dieser Bezug mache nicht die Ursprungsdimension des Bewusstseins aus, sondern ergebe sich erst aus einer Reflexion, welche das präreflexive cogito schon voraussetze. Verbunden wird diese Annahme mit der These, „daß wir den Primat der Erkenntnis fallenlassen müssen, wenn wir diese Erkenntnis selbst begründen wollen“ (16). Was es mit dem präreflexiven cogito, welches die Voraussetzung des cartesianischen sei (vgl. 19), näherhin auf sich hat, illustriert Sartre am Beispiel des Zählens von Zigaretten, die sich in seinem Etui befinden: Enthülle sich ihm ihre Zahl, dann offenbare sich darin „ein nicht setzendes Bewußtsein von (s)einer Addiertätigkeit“ (18), das er durch die Beantwortung der Frage, was er tue, mit Zählen zwar reflektiert zum Ausdruck bringe, nicht aber konstituiere. Das reflexe Bewusstsein des Zählens setze ein unreflexes bzw. präflexives cogito voraus, womit bewiesen sei, dass Wissen das Wissen, dass man weiß, nicht zur notwendigen Voraussetzung habe.

Präreflexives Cogito: Das Fürsichsein des Bewusstseins nach Sartre

Man kann wissen, ohne notwendigerweise ein Wissen von diesem Wissen zu haben. Entsprechend setzt ein Bewusstsein von sich Sartre zufolge kein ego cogitans voraus, das sich als mit sich selbst identisches Ich weiß. Selbsterkenntnis als „das explizite, begriffliche und in vergegenständlichender Perspektive unternommene Thematisieren des Bezugsgegenstandes von ‚ich‘ oder der Befunde des psychischen Lebens“ ist „kein ursprüngliches Phänomen“17 , sondern setzt, wie gesagt, Selbstbewusstsein im Sinne eines präreflexiven cogito voraus. Wie alles Bewusstsein existiert auch das präreflexive Bewusstsein von sich durch sich selbst und ist mithin durch und durch dasjenige, was es ist und auf kein ihm Externes reduzierbar. Es ist die mit einem egologisch gedachten Subjekt nicht gleichzusetzende „Subjektivität selbst, die dem eigenen Selbst eigene Immanenz“ (23). Diese ist die conditio sine qua non aller Erkenntnis einschließlich der Selbsterkenntnis, ohne selbst nach Weise eines Erkenntnisphänomens begriffen werden zu können. Ursprungsbewusstsein von sich Wie jedes Bewusstsein ist auch das Selbstbewusstsein ein Bewusstsein von etwas, doch mit dem charakteristischen Unterschied, dass dem „etwas“, welches dem Selbstbewusstsein bewusst ist, nichts von dem entspricht, was ansonsten „etwas“ genannt wird. Das Subjektivität genannte Ursprungsbewusstsein von sich ist mitten in seinem phänomenal evidenten Dasein vom Nichts umgeben. Seine Existenz ist, wenn man so will, auf nichts gebaut, und in all ihren Erscheinungsmodi von Nichtigkeit bedroht, die sie ängstigt und besorgt sein lässt um sich. „Ist der Existentialismus ein Humanismus?“, hat Sartre in einem berühmten Essay gefragt und darin die Frage mit dem Hinweis bejaht, dass ein existentialistischer Humanismus dem Menschen, indem er ihn keinem abstrakten Wesensbegriff unterstelle und in dem sein Dasein prägenden Nichtigkeitsbewusstsein ernst nehme, gerechter werde als jeder Essentialismus dies vermöge. „Der Mensch ist dauernd außerhalb seiner selbst“18 ; er ist, was er ist, durch ständige Selbstüberschreitung. Nur in Beziehung auf sie erfasst er die Gegenstände und sich selbst als den „Mittelpunkt dieser Überschreitung“19 : „Es gibt kein anderes All als ein menschliches All, als das All der menschlichen Ichheit.“20 Aber diese hat keinen elementaren Bestand, besteht ursprünglich auch 17 M. Frank, Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart 1991, 7 unter Bezug auf Sartre. 18 J.-P. Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, in: ders., Drei Essays, Berlin 1963, 7–36 (Diskussion 36–51), hier: 35. 19 Ebd. 20 Ebd.

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nicht in einem Ich, das sich selbst gegenständlich ist, sondern in der Subjektivität eines in stetiger Selbsttranszendenz begriffenen Für-sich. Sartre erklärt es für grundverkehrt, unwahrhaftig und verlogen (vgl. 91ff.), die Permanenz des besagten Selbstüberschreitungsprozesses in der Ständigkeit eines Ego stillzustellen. Das reflexive Bewusstsein, welches das Ich von sich selbst hat, verkennt die conditio humana, wenn es sich in sich selbst befestigt, um alles weitere auf sich beruhen zu lassen, statt sich als Moment eines Bewusstseinsprozesses zu begreifen, an dem der Mensch, besser: an dem ich nur teilhaben kann, wenn ich mich selbst überschreite und auf ein anderes hin entwerfe. Stetige Selbsttranszendenz In seinen Ausführungen über das Für-sich und das Für-andere in „Das Sein und das Nichts“ hat Sartre die Bedeutung dieser Grundsätze seines existentialistischen Humanismus näher zu begründen und detailliert zu entfalten versucht, wobei er im Zusammenhang der Erhebung der unmittelbaren Strukturen des Für-sich noch einmal ausführlich auf das präreflexive cogito zu sprechen kommt, das er bereits in der Einleitung des Werkes zur Grundlage jedweder Reflexivität einschließlich derjenigen erklärt hat, vermittels welcher Selbsterkenntnis des Ich als Ich zustande kommt. Für-sich-Sein impliziere unmittelbar Anwesenheit bei sich. Diese hinwiederum setze „voraus, daß eine nicht fühlbare Spalte sich in das Sein eingeschlichen hat“ (130), ein Moment der Differenz und der Nichtidentität. Anwesend bei sich ist Subjektivität zugleich im Abstand zu sich und zu allem, was ist. Ihrem Sein eignet ein Nichts, das ihm unveräußerlich zugehört. Im Sinne seines existenzialistischen Humanismus zieht Sartre daraus den Schluss: „Das Für-sich ist das Sein, das sich selbst dazu bestimmt, insofern zu existieren, als es nicht mit sich selbst koinzidieren kann.“ (131) Es bestimmt sich entsprechend „fortwährend selbst dazu, das An-sich nicht zu sein“ (139). An sich selbst ist Subjektivität nichts. Insistiert sie gleichwohl darauf, an sich selbst zu sein, verfällt sie dem Nichtigen, um sich selbst in eine Größe zu verkehren, die alles, was ist, zu nichten trachtet. Humane Gestalt nimmt Subjektivität nur in Subjekten an, die sich zu andauernder Selbst- und Welttranszendierung bestimmen und so im Sinne permanenter Revolution wirksam sind.21 21 Zum Verhältnis seines existentialistischen Humanismus zum Marxismus als der „längst noch nicht erschöpfte(n) … Philosophie unserer Epoche“, wie es heißt, vgl. J.-P. Sartre, Marxismus und Existentialismus. Versuch einer Methodik, Hamburg 1964, hier: 27, sowie ders., Kritik der dialektischen Vernunft. 1. Band: Theorie der gesellschaftlichen Praxis, Hamburg 1967, hier: 23. Nach Sartre besteht die Originalität von Marx darin, „einerseits unabweisbar gegen Hegel ins Feld zu führen, daß die Geschichte in Bewegung ist, daß das Sein auf das Wissen unreduzierbar bleibt, und andererseits die dialektische Bewegung im Sein und im Wissen beibehalten zu wollen“. Diesem Programm weiß sich auch Sartre im Grundsatz verpflichtet.

Präreflexives Cogito: Das Fürsichsein des Bewusstseins nach Sartre

Für-sich-sein als Über-sich-hinaus Was dem Menschen persönliche Existenz und Personsein verleiht, ist nach Sartre nicht ein Ego, das sich erst aus einer sekundären Reflexion als die im Selbstbewusstsein manifeste Einheit von Ich und Selbst ergibt, „sondern das Faktum, für sich als Anwesenheit bei sich zu existieren“ (160) und zwar in jenem Transzendierungsmodus, der die Zeit in der Form ursprünglicher Temporalität zeitigt. Wie sich die ursprüngliche Zeitlichkeit zur psychischen und reflektierten verhält, hat Sartre im Zusammenhang seiner phänomenologischen Ontologie der Zeit und ihrer Dimensionen (vgl. 163ff.) ausführlich erörtert (vgl. 214ff.). Danach liege es im Wesen des reflexiven Bewusstseins begründet, sich als Bewusstsein von Dauer zu konstituieren. Unlauter werde dieses Unterfangen, wenn es dem Ego dauerhaften Bestand zudenke, um es auf diese Weise zu verfestigen bzw. zu verewigen. „Die unreine Reflexion ist ein mißlungener Versuch des Für-sich, der Andere zu sein und zugleich es selbst zu bleiben“ (227). Sie führe zwangsläufig in die Verkehrtheit eines Solipsismus. Zu überwinden ist dieser nur durch die Einsicht, dass Für-sich-sein nur im Über-sich-hinaus und in Bezug auf anderes und andere und von deren Andersheit her möglich ist, wobei sich die Einheit von Selbstsein und Anderssein auf keinen identischen Begriff bringen lässt.22 Der Gedanke, dass Für-sich-Sein nur im Über-sich-hinaus, nämlich auf selbsttranszendente, exzentrische, weltoffene und für das Anderssein Anderer aufgeschlossene Weise eine Möglichkeit darstellt, ist Pannenbergs eigenem Denken ebensowenig fremd wie die Annahme eines in Erlebnisvollzügen und Bewusstseinsprozessen unthematisch mitgegebenen Selbstempfinden des Ich. Unbeschadet dessen steht er Sartres Unterfangen reserviert gegenüber, Ich und Selbst als Abstraktionsprodukte des Fürsichseins des Bewusstseins zu erklären sowie die Frage selbstbewusster Ichidentität mit dem Hinweis auf die Gefahr unstatthafter Vergegenständlichung überhaupt abzuweisen, welche die Reflexionsströme still stelle, statt sie permanent fortzusetzen. Den springenden Punkt von Pannenbergs Kritik bildet der Hinweis, dass mit einem solchen Stillstand nur zu rechnen sei, wenn die Ichidentität und die Selbigkeit des Selbstseins als ein Gegebenes und an sich vorhandenes Datum in Anschlag zu bringen seien. Zur zeitgenössischen Diskussion vgl. z. B.: Existentialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen Sartre, Garaudy, Hyppolite, Vigier und Orcel. Mit einem Beitrag von A. Schmidt, Frankfurt a. M. 1966. 22 Altruismus beinhaltet Anerkennung uneinholbarer Differenz und unaufhebbarer Nichtidentität. Das Für-sich und das Für-andere stehen in einem Zusammenhang nicht synthetisierbarer Unterschiedenheit. Durch die berühmte Analyse des Blicks am Ende des Kapitels über „Die Fremdexistenz“ (vgl. 338ff.) in „Das Sein und das Nichts“ wird diese Einsicht bestätigt, bevor dann im Anschluss an eine Phänomenologie der Leiblichkeit konkrete Verbindungen mit anderen wie Liebe und Sprache oder Gleichgültigkeit, Begierde und Hass erörtert werden.

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Werde diese Annahme vermieden, die Pannenberg ebenso ablehnt wie Sartre, dann sei seiner berechtigten Kritik an einer Stillstellung reflexiver Bewusstseinsprozesse Rechnung getragen, nicht aber die konstruktive Aufgabe einer Subjektivitätstheorie erledigt, welche über Unterschied und Einheit von Ich und Selbst zu befinden habe. Diese Aufgabe bleibe bestehen und erübrige sich nicht durch Kritik an irrigen Lösungen. Das Ich tritt „im Leben des Bewußtseins erst sekundär auf “ (Anthr., 206). Dieser – von Heidegger geteilten – Auffassung Sartres stimmt Pannenberg vorbehaltlos zu, ja er unterstreicht seine Zustimmung durch eine Mahnung zur Nachdenklichkeit an die Adresse derjenigen, welche die Behauptung einer werdenden Selbstidentität und die Bemühungen um eine Rekonstruktion der Ichgenese „ allzu rasch als nur empirisch bedeutsam und philosophisch irrelevant hinstellen möchten – irrelevant vor allem für die Subjektivititätsphilosophie des transzendentalen Idealismus, der das Ich und seine Identität als letzte transzendentale Grundlage aller Bewußtseinsleistungen behauptet. Die Unterscheidung von transzendentalem und empirischem Ich kann aber keine gänzliche Verselbstständigung und Ablösung des ersteren vom letzteren vollziehen, ohne den Ausgangspunkt der transzendentalen Reflexion selber – das anschauende, vorstellende und urteilende Bewußtsein – unter den Füßen zu verlieren.“ (Anthr., 206) Intentionalität Pannenberg folgt mit dieser Feststellung einer der Grundannahmen sowohl von Heideggers „Sein und Zeit“ als auch von Sartres Versuch einer phänomenologischen Ontologie und Bewusstseinslehre, wie sie in „Das Sein und das Nichts“ entwickelt wurden. Ansonsten aber geht er in dem Bemühen, das Selbstsein des Daseins und das Fürsichsein des Bewusstseins zu erhellen, eigene Wege, die indes den gemeinsamen Ausgangspunkt nicht vergessen machen, der durch dasjenige markiert ist, was der Gründervater der phänomenologischen Philosophie, Edmund Husserl, mit dem Stichwort der Intentionalität gekennzeichnet hat. Bewusstsein ist stets Bewusstsein von etwas und mithin „auf etwas unabhängig vom Bewußtsein Seiendes, dem Bewußtsein Transzendentes“ (Anthr., 206) ausgerichtet. Gilt dies auch für das Selbstbewusstsein, dann wird man Pannenberg zufolge das Selbst, auf das sich das Selbstbewusstsein richtet, in seiner Transzendenz auch dahingehend anzuerkennen haben, dass man es als ein Ichtranszendierendes in Betracht zieht. Pannenberg sucht dem dadurch Rechnung zu tragen, dass er das Selbst, auf welches sich das Bewusstsein als Bewusstsein seiner selbst richtet, nicht mit einem gleichsam sich von selbst verstehenden und daher als unmittelbar sich selbst voraussetzend in Geltung setzenden Ich gleichsetzt, sondern auf Differenzierung und dabei zugleich auf

Die Selbstwerdung des Menschen als geschichtlicher Bildungsprozess

eine „Umkehrung der traditionellen Verhältnisbestimmung von Ich und Selbst“ (Anthr., 216) drängt. Geschichtlichkeit und Geschichte Identität und Kontinuität des Ich lassen sich Pannenberg zufolge nur vom Selbst her plausibilisieren, welchem als demjenigen, was das Ich zu sein habe, wenn es seiner Bestimmung entsprechen, identisch mit sich und wahrhaft es selbst sein wolle, selbstbewusstseinstheoretische Priorität zukomme. Stehe doch das Selbst nicht nur für die Summe gemachter Erfahrungen, sondern für das Sinnganze des Lebens, durch dessen Antizipation das Ich recht eigentlich erst zu sich und zum entwickelten Bewusstsein seiner selbst gelange. In diesem Sinne gelte, dass das Ich in der Totalität seines Seins von der Zukunft seiner selbst her konstituiert sei. Offenkundig erinnert diese Formel an Heideggers These, wonach „das Dasein im Ganzen seines Seins von seiner Zukunft her konstituiert“ (Anthr., 204) sei; doch steht sie bei Pannenberg unter dem Vorzeichen einer Geschichtstheologie, die sich von Heideggers Verständnis von Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit grundlegend unterscheidet. 13.3

Die Selbstwerdung des Menschen als geschichtlicher Bildungsprozess

In seinen Studien „Zur Geschichte des philosophischen Begriffs ‚Anthropologie‘ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts“ hat Odo Marquard die These vertreten: „Wende zur Geschichtsphilosophie ist nur als Abkehr von der Anthropologie, Wende zur Anthropologie ist nur als Abkehr von der Geschichtsphilosophie möglich.“23 Für W. Pannenbergs Systementwurf trifft dies nicht zu; im Gegenteil: bei ihm bedingen sich Anthropologie und Geschichtstheologie wechselseitig. Es gilt das Wort Diltheys: „Was der Mensch sei, sagt ihm nur seine Geschichte.“24 Pannenbergs Anthropologie ist geschichtstheologisch konzipiert, seine Geschichtstheologie anthropologisch fundiert und ausgerichtet. Der Grundsatz lautet: Der Mensch überschreitet gemäß seiner Natur alles Natürliche25 ; er 23 O. Marquard, Zur Geschichte des philosophischen Begriffs „Anthropologie“ seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, in: ders., Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am Main 1973, 122–144; 213–248, hier: 134. Vgl. ders., Art. Anthropologie, in: HWPh 1, Sp. 362–374. 24 W. Dilthey, Gesammelte Schriften. Bd. VIII: Weltanschauungslehre. Abhandlungen zur Philosophie der Philosophie. Hg. v. B. Groethuysen, Leipzig/Berlin 1931, 224. 25 Oder anders: Im Menschen transzendiert die Natur sich selbst. Vgl. R. Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen, in: K. Michalski (Hg.), Der Mensch in den modernen

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„ist seinem Wesen nach geschichtlich“26 . Die je verschiedenen Lebenswege der einzelnen Menschen seien das principium individuationis ihrer Existenz; entsprechend verhalte es sich mit der jeweiligen Geschichte von „Gemeinschaften, in denen jeder mit andern zusammen seiner Bestimmung lebt“ (98): „wie der einzelne erst durch seine Lebensgeschichte eine ausgeprägte Individualität gewinnt, so ist auch von den Völkern zu sagen, daß ihre nationalen Besonderheiten das Ergebnis ihrer Geschichte sind. Das gilt auch von den Kulturen und von den Religionen. Die ausgeprägte Eigenart dürfte nie am Anfang zu finden sein, sondern immer erst am Ende des geschichtlichen Prozesses.“ (Ebd.) Was schließlich die Geschichte der Menschheit betrifft, deren Geschichtlichkeit „(e)rst verhältnismäßig spät“ (99) und namentlich durch das Volk Israel zu menschheitlichem Bewusstsein gebracht worden sei, so gelte umso mehr, dass sie als einheitliches Sinnganzes nur von ihrem eschatologischen Ende her erfasst werden könne. Endzeitliche Zukunft Das jüdische und im Anschluss daran das christliche Geschichtsverständnis ist nach Pannenbergs Urteil vom mythischen wesentlich dadurch unterschieden, dass es nicht an einer gründenden Urzeit bzw. am Gedanken eines ursprünglichen Wesens vor aller Zeit oder an der Annahme einer zyklischen Wiederkehr des Immergleichen orientiert, sondern auf eine endzeitliche Zukunft ausgerichtet sei. Geschichte vollziehe sich nicht in Kreisläufen, sondern als zielgerichteter Prozess auf ein vollendetes Ende hin.27 Von dieser erwartungsvollen Gewissheit, die für sie in der Wahrnehmung des Geschicks Jesu eine ebenso grundlegende wie definitive Bestätigung gefunden hätte, seien der christliche Glaube und die christliche Theologie von Anfang an getragen gewesen. Ihre enge Verbindung mit dem Thema der Geschichte habe dabei zunächst keine größeren Probleme bereitet. „Unter dem Namen der göttlichen Heilsökonomie gewährleistete es (sc. das Geschichtsthema) im frühen Christentum den Zusammenhang der christlichen Gegenwart mit Israel, aber darüber hinaus auch mit der vorchristlichen

Wissenschaften, Stuttgart 1985, 100–116. Die menschliche Natur ist als menschliche „durch etwas definiert, was sie selbst nicht ist, durch eine Antizipation. Nur wenn die Struktur von Antizipation auf irgendeine Weise in der generellen Struktur der Natur vorgezeichnet ist, ist es möglich, den Menschen als für Unbedingtheit offenes und zugleich natürliches Wesen zu verstehen.“ (113) 26 W. Pannenberg, Was ist der Mensch?, Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 3 1968, 96. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. 27 Zu den Implikationen und Konsequenzen der Unterscheidung des jüdisch-christlichen vom mythischen Geschichtsverständnis für den Wahrheitsgedanken vgl. ders., a.a.O., 89ff.

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Menschheit und mit der eschatologischen Zukunft der Welt.“28 Zum Problem sei die Geschichtsthematik für das christliche Denken erst durch die allmähliche Loslösung der historia humana (und der historia naturalis) von der historia divina geworden, wie sie sich seit Jean Bodins „Methodus ad facilem historiarum cognitionem“ von 1566 im Zuge fortschreitenden Bestrebens nach einer Behebung – das zivile Zusammenleben gefährdender – konfessionalistischer Gegensätze abgezeichnet habe. Die „Ablösung der menschlichen Geschichte als Profangeschichte von der theologischen Geschichtsinterpretation“ (658) und die mit ihr verbundene „Infragestellung der Historizität vieler biblischer Tatsachenbehauptungen“ (659) in der Konsequenz historisch-kritischer Exegese der biblischen Schriften habe die Theologie nolens volens zu Stellungnahmen genötigt, welche oftmals defensiv ausgefallen seien. Pannenberg illustriert dies an zwei Exempeln: In Bezug auf die sog. heilsgeschichtliche Theologie, welche die biblische Geschichte als eine Art von Übergeschichte der Historie zu rekonstruieren (vgl. 660f.), und am Beispiel einer Reaktionsweise, welche das historisch Faktische durch eine spezifische Glaubensinterpretation zu ergänzen trachtete (vgl. 661ff.). Beiden Entgegnungen auf das moderne Geschichtsverständnis seien die apologetische Tendenz und der tendenzielle Rückzug auf ein vermeintlich sturmsicheres, vor den Attacken historischer Kritik abgeschirmtes Gelände gemeinsam. Pannenberg kündigt dieser nach seinem Urteil un-, ja kontraproduktiven Vorgehensweise die Gefolgschaft auf und plädiert für eine offensive Strategie. Sie setzt an bei dem die methodischen Prinzipien historischer Kritik in der Neuzeit weithin bestimmenden Grundsatz, „die Gleichartigkeit von Begebenheiten der Vergangenheit mit gegenwärtig zu beobachtenden Erscheinungen und ihren Regeln zu unterstellen“ (659). Der Rechtsanspruch dieses Grundsatzes auf uneingeschränkte Verallgemeinerung wird von Pannenberg bestritten. Schon in dem frühen Text „Heilsgeschehen und Geschichte“ aus dem Jahr 1959 hatte Pannenberg in Auseinandersetzung vor allem mit den Thesen, die von Ernst Troeltsch „Über historische und dogmatische Methode in der Theologie“ (1898) vorgetragen worden waren, gegen die Allmacht des Analogieprinzips als eines Instruments der Geschichtskritik nachdrücklich polemisiert. Schon dort wurde „nicht nur auf den anthropozentrischen Charakter der durch die kritische Anwendung des Analogieprinzips bestimmten historischen Methode, sondern auch auf die Spannung der von Troeltsch beschriebenen Form seiner Anwendung zur Individualität und Einmaligkeit alles historischen Geschehens hingewiesen“ (672, Anm. 27). Diese Sicht hielt Pannenberg auch 28 W. Pannenberg, Art. Geschichte/Geschichtsschreibung/Geschichtsphilosophie. VIII. Systematisch-theologisch, in: TRE 12, 658–674, hier: 658. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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fernerhin bei, um sie in geschichtstheologischer Kritik und Konstruktion in den Zusammenhang profanhistorischer Methodendiskussionen einzufügen und perspektivenreich zu entfalten. Leitend waren dabei die Fragen „nach dem Subjekt der Geschichte“ (667), „der Rolle des Handlungsbegriffs überhaupt für das Verständnis geschichtlicher Prozesse“ (ebd.), „der Eigenart von Geschichten als Prozessen der Identitätsbildung ihres Referenzsubjekts“ (668), „der Eigenart der Sinngehalte, die Inhalt des Erlebens von Geschichte und Gegenstand der Geschichtserzählung sind“ (ebd.), „nach dem Verhältnis von Religion und Kultur“ (ebd.) sowie „den Konsequenzen der religiösen Verfaßtheit des Gegenstandes historischer Forschung und Darstellung für die historische Methodik“ (ebd.), schließlich „die Frage nach dem Verständnis der Geschichte als ganzer und damit nach dem Verhältnis von Geschichte und Eschatologie“ (669). Von der Beantwortung der letzten Frage her erschließt sich das Gesamtkonzept Pannenberg’scher Geschichtstheologie, wonach Offenbarung „selber Geschichte“ (664) und zugleich „Ende der Geschichte“ (ebd.), „Jesus gerade als Prolepse des Eschaton die Selbstoffenbarung Gottes als des Herrn der Welt und ihrer Geschichte“ (666) sei. Prolepse des Eschaton In der Geschichte Jesu von Nazareth, des auferstandenen Gekreuzigten, ist das Ende der Geschichte vorweggenommen bzw. vorausereignet. Die konstruktive Zentralthese von Pannenbergs Geschichtstheologie hat die Kritik des Anspruchs des Analogieprinzips auf generelle Geltung ebenso zur impliziten Prämisse wie die Annahme, dass Geschichte schon deshalb „nicht im ganzen als Produkt menschlichen Handelns aufgefaßt werden (kann), weil das Subjekt solchen Handelns ja selber erst aus dem Prozeß solcher Geschichte hervorgeht“ (668). Wie die Identitätsbildung sich nicht auf Handeln zurückführen lasse, so könne Sinnfindung nicht auf einen Akt der Sinngebung reduziert werden. Daraus ergibt sich für Pannenberg die Notwendigkeit, ein Sinnzuvorkommen vor aller kulturellen Aktivität anzunehmen. Das Verständnis der Kulturgeschichte sei somit „in letzter Instanz abhängig von Religionsgeschichte“ (ebd.), deren zentrales Thema das Problem des Sinnes der Geschichte als ganzer sei, von welchem der Sinn alles Einzelgeschehens abhänge. Ohne Bezug zur Universalgeschichte komme keine sinnvolle geschichtliche Erinnerung zustande. Denn jedes einzelne Geschehen stehe in einem Verhältnis zum Ganzen. Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich Pannenberg zufolge „von der Zukunft nicht absehen, obwohl der zukünftige Gang der Geschichte in der Tat noch nicht erzählbar ist, wodurch die Unabgeschlossenheit der Universalgeschichte bedingt ist. Die Einsicht in die Unabgeschlossenheit der Universalgeschichte und die darin begründete Vorläufigkeit aller historischen Darstellung auch von

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Einzelgeschichten zeigt allein schon die Relevanz des Zukunftsbezuges für das Geschichtsverständnis.“ (669) Was in universalgeschichtlicher Hinsicht gilt, trifft in vergleichbarer Weise auch unter individualgeschichtlichen Aspekten zu: die Selbstwerdung des menschlichen Ich stellt einen geschichtlichen Prozess dar, den Pannenberg im Anschluss an Herders Lehre von der werdenden Gottebenbildlichkeit des Menschen als einen Bildungsprozess beschreibt. Selbstwerdung des Ich als Bildungsprozess Der Begriff der Bildung ist durch den Dominikanertheologen und Philosophen Meister Eckhart29 in die deutsche Sprache eingeführt worden. Der Terminus hat „ursprünglich theologischen Charakter und seine theologische Wurzel liegt in der Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen“30 . Als Ebenbild Gottes ist der Mensch zur Bildung und dazu bestimmt, die in seiner Kreatürlichkeit angelegte Wesensnatur als Gottesgeschöpf zu realisieren. Eigens zu erwähnen ist, dass schon in der mystischen Bildungslehre Eckharts die schöpfungsmäßige Gottebenbildlichkeit des Menschen, die nach Lehre der klassischen christlichen Dogmatik den integren Ursprungsstatus (status integritatis) des Menschen in seiner originären Gerechtigkeit (iustitia originalis) ausmacht, mit dem Gedanken einer fortschreitenden Verwandlung in das Bild Jesu Christi, der vollkommenen Ikone Gottes, verbunden wurde. Wie der Apostel sagt: „Wir alle … spiegeln mit aufgedecktem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wider, und wir werden verwandelt in sein Bild (eikon) von einer Herrlichkeit zur andern von dem Herrn, der Geist ist.“ (2. Kor 3,18) Die gottebenbildliche Bestimmung 29 Zu Leben, Werk und Nachwirkung vgl. U. Kern, Art. Eckhart, Meister, in: TRE 9, 258–264. Zur Geschichte der Bildungsworte und ihrer Herkunft aus der deutschen Mystik vgl. im Einzelnen R. Lennert, Art. Bildung I. Zur Begriffs- und Geistesgeschichte, in: TRE 6, 569–582. „Erst die deutschen Mystiker … verwenden die bis dahin nur für handwerklich-künstlerisches Gestalten gebrauchten Begriffe für geistige Wandlung …“ (570) Zur „Weiterführung des religiösen Bildungsbegriffs der spätmittelalterlichen Mystik“ bei Luther vgl. I. Asheim, Art. Bildung V. Reformationszeit, in: TRE 6, 611–623, hier: 611. Zum Verhältnis des Begriffs der Bildung zu dem der Erziehung vgl. K. E. Nipkow, Art. Erziehung, in: TRE 10, 232–254, hier: 233: „Seit dem 18. Jh. wird in der deutschen Tradition der Begriff der Erziehung weithin durch den Begriff der Bildung interpretiert.“ 30 W. Pannenberg, Gottebenbildlichkeit und Bildung des Menschen, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2, Göttingen 1980, 207–225, hier: 210. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zum Bezug des biblischen Gedankens der Gottebenbildlichkeit des Menschen zu dem modernen Gedanken menschlicher Personalität vgl. ders., Der Mensch – ein Ebenbild Gottes? (1968), in: ders., Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung. Beiträge zur Systematischen Theologie Bd. 2, Göttingen 2000, 141–149, hier: 144: „Sieht man sich nach einer Übersetzung des Gedankens der Gottebenbildlichkeit in die Sprache der modernen Anthropologie um, so dürfte die Personalität des Menschen am genauesten dem entsprechen, was im Alten Testament Gottebenbildlichkeit heißt.“

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des Menschen erschöpft sich nicht in einem anfänglichen Ursprungsgeschehen mythischer Herkunft. Sie leitet nicht zu einer Regression in vermeintlich goldene Zeitalter individueller oder menschheitsgeschichtlicher Art, sondern dazu an, sich vom pneumatischen Prozess, der von der Gottesoffenbarung in Jesus Christus ausgeht, ergreifen und sich ausbilden zu lassen hin auf das eschatologische Vollendungsziel. Dynamisierung der Imago-Lehre Auch wenn der dynamische Gebrauch des Substantivs „Bildung“ im Sinne nicht nur eines Zustandes des Gestaltetseins, sondern eines fortschreitenden, zielgerichteten Prozesses möglicherweise „erst dem 18. Jahrhundert“ (212, Anm. 8) angehört, findet er sich der Sache nach bereits bei Eckhart, dessen „Dynamisierung der Imago-Lehre durch Ineinanderblenden von Schöpfung und Erlösung“ (212) Pannenberg ausdrücklich hervorhebt. In seiner an der Gottebenbildlichkeitslehre orientierten Bildungstheorie habe er entsprechend „die Darstellungsfunktion des Bildbegriffs mit dem produktiven Sinn der Tätigkeit des Bildens als Hervorbringen“ (ebd.) vereint. An dieser Vereinigung ist auch Pannenberg gelegen und zwar nicht zuletzt aus hamartiologischen Gründen. Zwar scheint dieser Aspekt auf den ersten Blick sekundär und von dem nicht nur für seine Bildungstheorie, sondern für seine gesamte Theologie zentralen Gedanken einer werdenden Gottebenbildlichkeit in den Hintergrund gedrängt zu sein. Aber dieser Schein verflüchtigt sich bei näherem Zusehen. Stellt sich doch bei Pannenberg der Ausbildungsprozess des Menschen im Zuge seiner im Werden begriffenen Gottebenbildlichkeit keineswegs als einliniger Fortschritt dar, sondern als eine Genese, der Widerstände entgegengesetzt sind und der Gegenläufigkeiten kontravenieren bis dorthin, dass Bildung zur Einbildung, Unbildung, Verbildung degeneriert. Zwar wird nach christlicher Lehre auch der gänzlich der Bosheit der Sünde verfallene Mensch nicht zu einer imago Satanae; doch ist damit nicht geleugnet, dass der Sünder in seiner abgründigen Verkehrtheit anderen und nicht zuletzt sich selbst die Wahrnehmung seiner gottebenbildlichen Bestimmung völlig verstellt bis dorthin, dass das Ebenbild Gottes als leid- und todbringendes Scheusal erscheinen muss. Wer von Bildung im Lichte der gottebenbildlichen Bestimmung des Menschen redet, darf vom Dunkel und der Finsternis ihres widrigen Gegenteils nicht schweigen, das mit Fleiß und unter Aufwand allen Denk- und Willensvermögens auf Zerstörung und Sinndestruktion ausgerichtet ist. Pannenbergs Lehre von der werdenden Gottebenbildlichkeit des Menschen, wie er sie im Anschluss an Meister Eckhart und unter Rezeption insbesondere von Ansätzen Herders entwickelt hat, wird missverstanden, wenn man sie von hamartiologischen Kontexten ablöst. Der Mensch würde „keines Erlösers bedürfen, wenn er

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nicht immer schon seine Bestimmung verfehlt hätte. Das Schweigen Herders zu diesen Fragen ist vielsagend. Sein übermäßiger anthropologischer Optimismus erweist ihn als befangen in den Schranken seines Zeitalters.“31 Unter diesem Vorbehalt, der ihre Modifikation erfordert, wird Herders Lehre von der werdenden Gottebenbildlichkeit durch Pannenberg rezipiert. Der Mensch ist Gottes Ebenbild nicht dergestalt, dass diese Qualifikation ein von Anfang an vollendet gegebenes Datum darstellen würde. Soweit sie dieser Vorstellung verhaftet ist, hat die Annahme eines adamitischen Urstands und einer ursprünglich vorhandenen imago Dei des Menschen als überholt zu gelten.32 Anfänglich gegeben ist die menschliche Gottebenbildlichkeit in Form einer Anlage, die auf Entwicklung hin angelegt und als Bestimmung des Menschen im göttlichen Akt seiner Schöpfung zu verstehen ist. In diesem Sinne kann sie die Wesensnatur des Menschen genannt werden; liegt es doch in der Natur des Menschen, alles bloß Natürliche einschließlich seiner eigenen, unmittelbar gegebenen Natürlichkeit zu transzendieren. Dies impliziert, dass dem Menschen die Identität, die sein Wesen ausmacht, nie einfach ein empirisch Gegebenes ist. „Wenn es auch Erfahrungen gibt, die sozusagen einen Vorgeschmack der Identität oder Ganzheit des menschlichen Daseins vermitteln, so bleibt die Identität der Person doch in jedem Fall immer noch etwas, zu dem hin wir noch unterwegs sind und das nie schon definitiv unser Besitz 31 W. Pannenberg, Gottebenbildlichkeit als Bestimmung des Menschen in der neueren Theologiegeschichte, München 1979. In diesem Heft, einem Sitzungsbericht der Philosophischhistorischen Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hat Pannenberg Herders Gedanken der werdenden Gottebenbildlichkeit eingangs kurz skizziert, um ihn dann mit der traditionellen christlichen Anthropologie zu vergleichen. Erwägungen zum Begriff der Bestimmung des Menschen als möglicher „Alternative zur Vorstellung einer urständlichen Vollkommenheit Adams“ (12) schließen sich an. Dabei wird gezeigt, dass und wie Herder den Gedanken menschlicher Bestimmung mit der Thematik der Gottebenbildlichkeit und diese zugleich „mit dem evolutiven Grundzug des neuzeitlichen Verständnisses des Menschen“ (20) verbunden hat: „Die Gottebenbildlichkeit wird nun zum entelechischen Prinzip des Bildungsprozesses des Menschen zu Humanität, die von Religion, wie Herder sagt, ihre ‚unsterbliche Krone‘ empfängt.“ (Ebd.) Auch wenn Herder das Gewicht der traditionellen Lehre vom Fall der Sünde unterschätzt habe, betone er dennoch, „der einzelne Mensch könne sich nicht selbst ausbilden zu dem, was als Bestimmung in ihm angelegt ist. Man muß darin eine ganz bewußte Wendung gegen den Gedanken der Perfektibilität im Sinne einer dem Menschen von Hause aus eigenen Fähigkeit zur Selbststeigerung erkennen.“ (20f.) 32 „Der Mensch ist nicht von Anfang an fertig als Ebenbild Gottes. Er hat vielmehr eine Geschichte, die hinläuft auf die Gewinnung seiner Bestimmung, auf die Verwirklichung wahrer Humanität in Verbundenheit mit Gott. Das Ziel dieser Geschichte der Menschwerdung des Menschen ist in Jesus schon erschienen, und dadurch ist aller folgenden Geschichte das Thema gestellt: Alle Menschen sollen der hier erschienenen wahren Humanität teilhaftig werden.“ (W. Pannenberg, Der Mensch – ein Ebenbild Gottes?, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie. Bd. 2: Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung, Göttingen 2000, 146)

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war.“ (208) Der protologische Aspekt der Lehre von der Gottebenbildlichkeit ist daher mit dem eschatologischen auch bildungstheoretisch zu verbinden, wobei für einen christlich geprägten Bildungsbegriff die Ikone Jesu Christi und das Bild des um unserer Sünde willen Gestorbenen und um unserer Gerechtigkeit willen Auferstandenen das Richtmaß bildet. Das Ich und das Selbst Damit sind die Rahmenbedingungen skizziert, innerhalb derer Pannenberg seine Theorie selbstbewusster menschlicher Identität entwickelt. Beispielhaft hierfür sind die erwähnten – außerordentlich dichten – Erörterungen über „Das Ich und das Selbst“ im 5. Kapitel der „Anthropologie in theologischer Perspektive“. Sie nehmen ihren Ausgang bei der Unterscheidung der beiden Titelbegriffe. Werden diese selbstbewusstseinstheoretisch wie Subjekt und Objekt differenziert, bleibt offen, wie es um ihre Einheit und deren Begründung bestellt ist. Dass sich die Einheit von Ich und Selbst nicht als Selbstsetzung bzw. als Resultat einer Handlung des selbsttätigen Ich erklären lässt, hatte Pannenberg zufolge schon Fichte erkannt. Bleibt zu erwägen, ob bzw. inwiefern selbstbewusste Ichidentität „als durch gegenständliche Erfahrung vermittelt“ (Anthr., 197) verstanden werden könne. Eine solche Erwägung habe bereits Hegel angestellt. Doch sei er dabei im Prinzip „auf dem Boden des bewußtseinsphilosophischen Ansatzes der Transzendentalphilosophie geblieben“ (ebd.), ohne „die gegenständliche Vermittlung des Selbstbewußtseins auf dem Boden der gegenständlichen Wirklichkeit selber zu denken“ (Anthr., 198). Pannenberg lässt sich, wie gezeigt, intensiv auf entsprechende Denkversuche ein, sieht aber die Gefahr, dass sie „hinter die in der idealistischen Thematisierung des Selbstbewußtseins erreichte Stufe des Problembewußtseins“ (Anthr., 199) zurückfallen, weil sie in Form einer petitio principii unterschwellig bereits in Anspruch nehmen, was sie zu erklären suchen. Die Beantwortung der Frage des Ich nach sich selbst bleibt also nach Urteil Pannenbergs im Kern der Philosophie aufgegeben. Während ihm die sprachanalytische Philosophie in dieser Hinsicht nur bedingt hilfreich zu sein scheint, sind seine Erwartungen in Bezug auf Konzeptionen wie diejenige Heideggers oder Sartres ungleich höher. Konzentriertes Interesse zog insbesondere Heideggers These auf sich, „daß das Dasein im Ganzen seines Seins von seiner Zukunft her konstituiert“ (204) , dass mithin sein Selbstsein und seine Selbigkeit mit sich nicht als unmittelbar gegeben vorauszusetzen, sondern im Werden begriffen und als Ergebnis eines genetischen Prozesses zu betrachten sei. Diese Annahme erschien Pannenberg auch unter selbstbewusstseinstheoretischen Gesichtspunkten als in hohem Maße attraktiv. Doch blieb die Schwierigkeit, wie die Zukunft des Daseins von diesem als die seine gewusst werden soll.

Die Selbstwerdung des Menschen als geschichtlicher Bildungsprozess

Wie ist der Selbstbezug des Daseins zu begreifen, der in Anspruch genommen wird, wenn seine Identität und Ganzheit aus der Künftigkeit bevorstehenden Seinkönnens begriffen wird? „Inwiefern geht es dem Dasein im Verhältnis zu den von ihm zu ergreifenden Möglichkeiten um sein eigenes Sein schlechthin?“ (Anthr., 203) Sein in der Zeit An dieser Stelle erblickt Pannenberg eines der entscheidenden Probleme von Heideggers fundamentalontolgischer Daseinsanalyse in „Sein und Zeit“, welches dieser weder in seinem Jahrhundertbuch von 1927, noch in seiner späteren Philosophie nach erfolgter „Kehre“ einer Lösung zugeführt habe. Es sei ihm nicht gelungen, die idealistische Subjektphilosophie grundsätzlich zu überwinden, wie er dies beansprucht habe. Trotz dieses Vorbehalts bleibt für Pannenbergs eigene Subjektivitätstheorie und seine Bestimmung des Verhältnisses von Ich und Selbst der Leitgesichtspunkt Heidegger’scher Daseinsanalyse zentral, nämlich derjenige der Temporalität. Menschliches Sein ist Sein in der Zeit. Zwar sieht Pannenberg in Heideggers Rückführung der Zeit auf Zeitlichkeit und der Geschichte auf Geschichtlichkeit eine reduktionistische Tendenz am Werke, der er nicht zu folgen bereit ist. Doch teilt er die Auffassung, dass Dasein durch Vor-läufigkeit bestimmt und menschliche Identität keine ursprüngliche Gegebenheit, sondern antizipatorisch verfasst sei. Diese Annahme prägt in subjektivitäts- und identitätstheoretischer Hinsicht die Grundstruktur von Pannenbergs Argumentation. Der Vorstellung eines dem Bewusstseinsprozess zugrundeliegenden Ich von gleichsam zeitenthobener Dauer ist der Abschied zu geben. „Das Ich ist nicht das kontinuierlich bestehende und allem Wechsel des Bewußtseins immer schon identisch zugrundeliegende Subjekt meiner individuellen Entwicklung, das sich im Prozeß seiner Identitätsbildung immer neue Definitionen seines Selbst gibt, aber seinerseits dadurch nicht verändert würde. Das Ich ist vielmehr primär augenblicksgebunden und empfängt Kontinuität und Identität erst im Spiegel des sich entwickelnden Bewußtseins des Individuums von seinem Selbst als der Totalität seiner ‚Zustände, Qualitäten und Handlungen‘.“ (Anthr., 214) Selbstbewusste Ichidentität entsteht entsprechend auf proleptische Weise, nämlich in Form von Antizipation, die auf das vollendete Ganze endlichen Dasein vorgreift, um es vorlaufend-vorläufig zu realisieren. Was im Blick auf die Universalgeschichte gilt, trifft in anderer Hinsicht unter individualgeschichtlichem Gesichtspunkt zu: Das Sein des Menschen in der Zeit vollzieht sich im Vorgriff auf Künftiges, dessen Ankunft konstitutiv ist für seine Gegenwart und retroaktiv über seine Vergangenheit entscheidet. Ich sagen und Auskunft geben über die Identität seiner selbst kann der Mensch unter irdischen Bedingungen nur

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auf vorläufige Weise. Doch ist ihm Vollendung durch denjenigen versprochen, der in Selbstunterscheidung vollkommen eins ist mit seinem göttlichen Vater und in der Kraft des Geistes wahrhaft von sich sagen kann: ego eimi. 13.4

Ambivalente Ichhaftigkeit und die personale Bestimmung des Menschen

Als weltoffenes, exzentrisches Wesen ist der Mensch zugleich ichbezogen und selbstzentriert. „In der Spannung zwischen Ichbezogenheit und Weltoffenheit vollzieht sich alles menschliche Leben.“33 Zwar sei, so Pannenberg, alles organische Leben selbstzentriert und exzentrisch in einem, abgeschlossen gegen und aufgeschlossen für seine Umwelt. Doch könne es nur beim Menschen – der nicht nur eine Umwelt, in die er eingebunden, sondern eine Welt habe, für die er offen sei – zu einem „Widerstreit zwischen Weltoffenheit und Ichbezogenheit“ (43) und dazu kommen, dass die menschliche Ichhaftigkeit zu solipsistischer Egozentrizität entarte. Trete dies ein, dann sei der Fall dessen gegeben, was die christliche Tradition Sünde nenne: „Die Ichhaftigkeit, die sich in sich selbst verschließt, das ist die Sünde.“ (46) Egozentrizität Nicht als ob nach Pannenberg die menschliche Ichhaftigkeit als solche sündig und die Sünde dem Menschen wesentlich wäre; davon kann nicht die Rede sein. Wohl aber gehört nach seinem Urteil egozentrische Verkehrtheit zur „Vorfindlichkeit“ (47) des Menschen, weil dieser faktisch Egozentriker sei und zwar, ob er es bewusst wolle oder nicht. Pannenbergs Lehre vom peccatum originale hat hier ihren Ort. Eine ihrer Pointen besteht in der These, dass die Sünde ihre Verwirkursache in sich selbst trage. Sie verfalle dem Abgrund, welcher sie in dem Unwesen, das sie treibe, selbst sei. Denn das Streben des egozentrischen Ich nach unmittelbarer Selbstbestimmung scheitere zwangsläufig an der Unmöglichkeit seiner Realisierung: „Das Ich kann nie alles in sich hineinnehmen; es kann nicht den Bereich seiner Herrschaft und seines Bewußtseins mit dem Umfang der Gesamtwirklichkeit zur Deckung bringen. Zumindest das Zufällige, das Einmalige und Unvorhersehbare in Natur und Menschengeschichte bleibt außerhalb seines Zugriffes und überwältigt das Ich immer wieder mit Überraschungen. So bleibt der Konflikt zwischen Ichbezogenheit und Weltoffenheit vom Menschen her unüberbrückbar.“ (44) Seine Bestimmung zu verwirklichen vermöge das menschliche Ich nur durch Selbsttranszendierung 33 W. Pannenberg, Was ist der Mensch?, 41; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Buch.

Ambivalente Ichhaftigkeit und die personale Bestimmung des Menschen

und dadurch, dass es seine Weltoffenheit gottoffen vollziehe. Realisiert ist dieser Vollzug Pannenberg und der christlichen Lehrtradition zufolge im Menschsein Jesu Christi. Jesus Christus sei der wahre Mensch, in dem der Antagonismus von Ichbezogenheit und Weltoffenheit behoben sei, weil dieser den Grund seiner selbst und seiner Welt allein in Gott, dem allmächtigen Vater, gesucht und gefunden habe. Eine der Folgen, welche der Antagonismus von Ichbezogenheit und Weltoffenheit mit sich bringt, wie er die Verkehrtheit der Sünde kennzeichnet, hat Pannenberg im sechsten Vortrag seiner „kleinen“ Anthropologie eigens bedacht und zwar unter der Überschrift „Zeit, Ewigkeit, Gericht“ (vgl. 49–58). Unter den Bedingungen der Sünde, so die Ausgangsthese, wird der Unterschied von Zeit und Ewigkeit zum Gegensatz und Widerstreit. Besonderes Interesse verdient, welche Konsequenzen dies Pannenberg zufolge in temporaler Hinsicht zeitigt: „Infolge der Sünde des Menschen erhält die Zukunft besondere Bedeutung. Seiner ewigen Bestimmung nach sollte der Mensch ganz im Augenblick leben. Erst weil der Augenblick immer verkehrt wird in das Jetzt des Ich, und weil die Menschen ihr Jetzt von sich aus zur Ewigkeit zu erweitern trachten, darum wird nun die Zukunft zum Ort der Entscheidung über die Menschen, nämlich zur unüberschreitbaren Grenze für das Ich. Daß der Mensch einer dunklen Zukunft entgegenlebt, das bedeutet, daß die Eroberung der Wirklichkeit für das Ich eine Grenze findet an der unvorhersehbaren Weise, wie Gott handeln wird. Daran scheitert das Ich mit seiner eingebildeten Gottähnlichkeit. Sein Ende, der Tod, wird ihm nun zum bittersten Geschick.“ (55f.) Die Zukunft des bevorstehenden Endes seiner selbst und seiner Welt muss dem Sünder als tödliches Gericht erscheinen, welches ihn zugrunde richtet. Hoffnungsvoll zu erwarten vermag er die Endzeit nur im Bewusstsein gottmenschlicher Versöhnung, wie sie in Jesus Christus vollbracht ist. Nur unter dieser Voraussetzung erscheint die Zukunft als heilsam und als dasjenige Tempus, in dem alles Zeitliche gesegnet und verewigt ist in Gott. Der Lauf der Zeiten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird dann in einem Hier und Jetzt von ewiger Beständigkeit und Dauer erfüllt sein. Hier und jetzt Bemerkenswert sind die skizzierten Überlegungen Pannenbergs nicht zuletzt deshalb, weil sie Fehlurteile über den Status der Zukunft in seinem theologischen System zu vermeiden helfen. Es ist nicht so, dass der Zukunft unter den Tempora per se eine positiv zu konnotierende Vorzugsstellung zukommt. Zwar eignet demjenigen, was auf uns zukommt, eine besondere Bedeutung just deshalb, weil es bevorsteht und noch nicht hinter uns liegt. Aber die chronologische Abfolge bleibt, was ihren Sinn anbelangt, so lange uneindeutig, wie sie nicht

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eindeutig als auf ein alles erfüllendes Sinnziel ausgerichtet qualifiziert wird. Die Identifikation dieser Uneindeutigkeit ist eine implizite Voraussetzung jeder theologischen Lehre von der Zeit und den Zeiten. In derjenigen Pannenbergs kommt dabei, wie auch in seiner Lehre vom Raum, dem Gesichtspunkt der Standpunktrelativität entscheidende Relevanz zu. „Im Raum erfährt jeder ein Oben und Unten, ein Vorn und Hinten, ein Rechts und Links. Der Beziehungspunkt all dieser Richtungen ist der Ort, den jeweils das Ich einnimmt, das sie erlebt.“ (50) Das Ich fungiert, wenn man so will, als Bemessungsgrundlage und Richtwert des Raumes. „Ähnlich verhält es sich mit der Zeit. Was als gegenwärtig, vergangen und zukünftig zu gelten hat, das hängt davon ab, zu welcher Zeit man lebt. Für Cäsar war vieles noch zukünftig, was für uns längst zur Vergangenheit gehört, und was heute Gegenwart ist, wird morgen vergangen sein. Also: Auch die Richtungen in der Zeit sind relativ auf den Beobachter. Die jeweilige Gegenwart des jeweiligen Menschen ist das Zentrum, von dem aus sich ergibt, was vergangen und was zukünftig ist.“ (Ebd.) Im Jetzt ist (ähnlich wie im räumlichen Hier) die Zeit auf den Punkt gebracht. „Aber ist das Jetzt wirklich nur ein Punkt? Bei näherem Zusehen entdeckt man, daß der Jetztpunkt bleibt: Der Strom des Weltgeschehens geht sozusagen über die Schwelle des Jetzt hinweg, aber das Jetzt selbst dauert. Es wandert mit dem Menschen durch die Zeit, solange er lebt. Das, was jeweils ‚jetzt‘ sich ereignet, wechselt mit jedem Augenblick, und doch beharrt das Jetzt selbst im Wechsel seiner Inhalte. Alles Leben vollzieht sich, wie man gesagt hat, in zeitüberbrückender Gegenwart. Damit hängt auch zusammen, daß wir die Gegenwart keineswegs nur als Punkt erleben, sondern zumeist als einen mehr oder weniger weiten Umkreis.“ (51) Wie auch immer: Entscheidend für ein theologisches Zeitverständnis ist die Verfasstheit, welche dem Jetzt im Verhältnis des Ich zu sich selbst, zu seiner Welt und zu Gott als dem Grund und Ziel von Selbst und Welt zukommt. Soll das Jetzt egozentrisch auf Dauer gestellt werden, verkehrt sich seine Bestimmung, die darin besteht, ein aufgehobenes Moment der Ewigkeit zu sein. Nur wenn das Ich durch Erhebung zu Gott sein Jetzt in die göttliche Ewigkeit aufheben lässt, vermag es seine Zeitlichkeit zu segnen und zeitliche Erfüllung zu finden in ihr. Ansonsten wird ihm das Vergehen der Zeit zum Fluch der Vergänglichkeit. Mit Pannenberg und seiner Zusammenfassung des Ertrags seiner anthropologischen Vorlesung zu „Zeit, Ewigkeit, Gericht“ zu reden: „Die Zeit scheidet sich nur für einen Standpunkt im Fluß der Ereignisse selbst in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart. Von jenseits des Zeitflusses her gesehen fällt alles Geschehen in ewiger Gegenwart zusammen. Das erfahren wir ansatzweise schon in unserem eigenen Gegenwartsbewußtsein. Die Einheit unseres Lebens im ewigen Zusammenklang allen Geschehens kann jedoch erst nach dem Tode, mit der Auferstehung der Toten, in unser Leben eintreten. Die

Ambivalente Ichhaftigkeit und die personale Bestimmung des Menschen

Ewigkeit bedeutet aber das Gericht, weil im ewigen Zusammenklang unser Leben an seinen Widersprüchen und insbesondere am Grundwiderspruch des Ich gegen seine unendliche Bestimmung zugrunde gehen muß. Allein für den mit Jesus Verbundenen bedeutet die Auferstehung nicht nur Gericht, sondern ewiges Leben.“ (58) Personale Bestimmung des Menschen Es ist nötig, sich die Ambivalenz menschlicher Ichhaftigkeit vor Augen zu führen, um rechte Einsicht zu gewinnen in die personale Bestimmung des Menschen, deren Realisierung nach Pannenberg die Überwindung des Strebens des Ich nach unmittelbarer Selbstbestimmung zur impliziten Voraussetzung hat. Das menschliche Ich kann sich nicht selbst setzen und sein Wesen nicht aus sich selbst hervorbringen, da sein Selbst ihm nicht unmittelbar eignet, sondern durch Beziehung zu externem Anderen vermittelt ist. Der sog. dialogische Personalismus wollte den besagten Vermittlungszusammenhang an Ich-DuVerhältnissen verdeutlichen, vermochte dabei aber nach Urteil Pannenbergs nicht zu zeigen, inwiefern das Ich im Du zu sich selbst kommen kann, wenn es sich bei diesem um ein wirklich Anderes und nicht lediglich um das Andere des Ich selbst handelt, das dieses unmittelbar als sein eigenes erkennt. Setze das Ich das Du nicht zu einem Modus seiner selbst herab, bleibe unklar, inwiefern es in dessen Andersheit sich selbst zu finden vermöge. Die Selbstfindung des Ich im Du, wie der dialogische Personalismus sie konzipiere, gelinge nur unter der Voraussetzung, dass das Du an sich selbst schon als Ich gedacht wird, wodurch die Icheinsamkeit, welche eigentlich überwunden werden sollte, iteriere. Denn die Begegnung von Ich und Du sei in Wahrheit eine Begegnung von Ich und Ich, das Du im Grunde nichts anderes als das Ich selbst.34 Einen Schritt über den dialogischen Personalismus hinaus hat nach Pannenberg G. H. Mead getan. Er habe das Ich-Du-Verhältnis reflexiv zu fassen und die für das Ich konstitutive Bedeutung von Ich-Du-Zusammenhängen am Selbst zur Geltung zu bringen versucht, welches von ihm vom Ich unterschieden und als Inbegriff verinnerlichter Sozialbeziehungen verstanden worden sei, zu dem das Ich sich ins Verhältnis setzen müsse, um zu sein, was es ist. Den Vorzug von Meads Subjektivitätstheorie gegenüber derjenigen des dialogischen

34 „Der dialogische Personalismus führt nicht über das einsame Ich hinaus, so sehr er sich darum bemüht. Wenn er Ich und Du aufeinander bezieht, hat er immer schon beide als Subjekte gedacht, die nur wegen ihrer Gemeinsamkeit als Subjekte im andern sich selbst wiedererkennen – damit aber gar nicht wirklich den andern, sondern nur sich selbst im andern erfassen.“ (W. Pannenberg, Christliche Anthropologie und Personalität, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie. Bd. 2: Natur und Mensch, 150–161, hier: 155; die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.)

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Personalismus erkennt Pannenberg in dem Bemühen, die grundlegende Bedeutung externer Beziehungen für das Ich an diesem selbst, nämlich an einem Selbst aufzuzeigen, welches das dem Ich eigene zu sein hat, ohne auf dessen Selbstsetzung zurückgeführt werden zu können. Doch bleibe „unklar, wie das Ich in der Einschätzung, die seine soziale Umgebung von ihm hat, sich selbst erkennen kann. Die Identität des Selbstbewußstseins, die Identität von Ich und Selbst im Selbstbewußtsein, bleibt ungeklärt.“ (158) Einen Klärungsfortschritt erwartete Pannenberg vom ichpsychologischen Identifikationsmodell Eriksons. Identität kommt Erikson zufolge weder durch Selbstentfaltung eines vermeintlichen Ursprungsich, noch durch soziale Fremdeinwirkungen, vermittels derer sich ein vom Ich zu unterscheidendes Selbstbild gestaltet, sondern durch Identifikationen zustande. Als die primäre und für den Prozess der Ausbildung selbstbewusster Ichidentität grundlegende habe dabei die in der frühesten Kindheitsphase vollzogene Identifikation mit der mütterlichen Bezugsperson zu gelten, welche das Urvertrauen als die Basis aller späteren Entwicklungen erweise, die das Ich im Prozess seiner Selbstwerdung zu durchlaufen habe. Dabei sei es für die Identitätsbildung entscheidend, dass der Grund des Urvertrauens von der primären Mutter- bzw. Elternbeziehung abgehoben und auf eine Instanz bezogen werde, die als Fundament nicht nur des Selbst, sondern aller Welt gelten könne. Für Pannenberg ist dieser Aspekt der entscheidende, da er theologische Horizonte erschließe und die Einsicht eröffnen könne, dass die Gottesbeziehung es sei, „die den Prozeß der Identifikation und Identitätsbildung, den Prozeß der Selbstwerdung und Ichwerdung, ermöglicht. Denn jeder spätere Akt der Identifikation und Identitätsbildung stellt eine neue Aktualisierung jenes Urvertrauens dar. Das Sichidentifizieren mit etwas erfordert immer Vertrauen. Vertrauen auf die Tragfähigkeit dessen, worauf ich mich einlasse. Jeder bestimmte Vertrauensakt aber ist schon getragen von einem umfassenden und unbegrenzten Vertrauen, in dem das Urvertrauen weiterwirkt. Dieses umfassende Vertrauen, das den Lebensvollzug des Individuums trägt, bleibt gewöhnlich unthematisch. Wo es mir aber explizit zum Thema wird, da stehe ich vor der göttlichen Wirklichkeit, auf die mein Leben bezogen ist.“ (159) Identitätsbildung und Gottesbeziehung Dem von der Gottesbeziehung ermöglichten Prozess menschlicher Identitätsbildung als dem Weg zu wahrhaftem Selbstsein und zur Sinnganzheit des Daseins liegt nach Pannenberg kein ursprüngliches Ich zugrunde; auch gelangt sein Vollzug unter irdischen Bedingungen nie zu einem definitiven Abschluss dergestalt, dass das Ich vollendet mit sich selbst eins wäre. Die Vollendung selbstbewusster Ichidentität steht noch aus. „Dennoch nehmen wir im Verständnis unserer Identität das noch unvollendete Ganze unseres Daseins und damit unser wahres

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Selbstsein gegenwärtig vorweg. Das Bewußtsein unserer Identität ist die Weise, wie das noch unabgeschlossene und unvollendete Ganze unseres individuellen Lebens, unser Selbst, uns gegenwärtig ist und unserem individuellen Leben seine Stetigkeit und Kontinuität verleiht.“ (160) Die ihrem Wesen nach religiös bestimmte Vorwegnahme wahren Selbstseins, wie sie für das Identitätsbewusstsein des Ich kennzeichnend ist, entspricht nach Pannenbergs Urteil genau dem, was das Wort „Personalität“ meine. Personsein habe es „mit der das bloße Vorhandensein eines Ich überschreitenden Bestimmung dieses Ich zu tun, ein Selbst zu werden und aus der Kraft des sein Leben tragenden Vertrauens seine Identität zu finden. Aber auch das Selbst, das wir suchen, kann nicht identisch sein mit unserer Personalität. Dann nämlich wäre der Mensch in keinem Augenblick seines Lebens schon Person. Weil wir nun im Ganzen unseres Daseins wir selbst sind, ist nie schon endgültig und abschließend darüber entschieden, wer ich selbst eigentlich bin.“ (Ebd.) Person sind wir im exzentrischen Über-uns-hinaus, durch eine selbsttranszendente Weltoffenheit, die Gottoffenheit zur Wirk- und Zielursache hat. Es gehört nach Pannenberg in diesen Zusammenhang und bestätigt ihn, dass der Begriff „Person“ trotz seiner vorchristlichen Herkunft erst durch das Christentum seine spezifische Prägung erhalten und „den charakteristischen Bezug zur Einmaligkeit menschlicher Individualität erlangt (hat), der die Voraussetzung für unser modernes Bewußtsein von der Personwürde jedes einzelnen Menschen ist“ (152). In der „Überzeugung vom unendlichen Wert jedes einzelnen Menschenlebens“ (ebd.) hat das Christentum nach Pannenberg den antiken Gedanken der Seelenunsterblichkeit auf das Individuum und die Einmaligkeit seines leiblichen Lebens bezogen. Der geschichtliche Verlauf des individuellen Lebens sei unumkehrbar und nicht wiederholbar, sondern singulär sowie in seiner Bedeutung unvergleichlich und von unteilbarer Einzigkeit. Als individuiert kann Personalität nicht mehr im Schema von Gattungsallgemeinheit und differenter Spezifizierung durch besondere Fälle gedacht werden. Der einzelne Mensch ist nach christlichem Verständnis mehr und anderes als ein bloßes Exempel seiner Art. In dem exzentrischen Wesen, welches sein Personsein ausmacht, lässt er sich prinzipiell nicht auf einen generalisierenden Begriff bringen und weder durch Theorie noch durch Praxis abschließend definieren. Seine weltoffene Selbsttranszendenz findet nur in Gott ihre Vollendung, auf den sie angelegt ist. Personsein In dem in Jesus Christus in der Kraft des göttlichen Geistes offenbaren Gott und nur in ihm gelangt das Ich als es selbst zu seiner vollendeten Bestimmung und zu einer Selbstidentität, die es ganz und integer macht. „Person ist also weder

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das Selbst in seiner Differenz zum Ich, noch das Ich in seiner Differenz zum Selbst. Person ist die Gegenwart des Selbst im Ich in der Beanspruchung unseres Ich durch unser wahrhaftes Selbst und im vorwegnehmenden Bewusstsein unserer Identität. Die Person als Einheit von Selbst und Ich hat ihre Wirklichkeit im Selbstbewußtsein, in dem ich mich mit mir selbst identisch weiß. Person ist das Ich als ‚Antlitz‘ des noch unabgeschlossenen Geheimisses seines Selbst, das sich im Ich gegenwärtig bekundet. Person ist das uns in einem anderen Ich begegnende Lebensgeheimnis eines anderen Individuums, das noch unterwegs ist zu sich selbst, zu seiner wahren Bestimmung. So fundiert die Geschichtlichkeit des Menschen seine Personalität. Weil aber die Lebensgeschichte der Individuuen ein gemeinsames Ziel hat, darum trifft mich in der Begegnung mit dem Du der Anruf meiner eigenen, noch verborgenen Bestimmung, der Aufruf zur eigenen Personalität, so daß ich als Person dem Du antworte. In dem Vertrauen, das unser Leben trägt, ist unser Selbst, auf das hin wir unterwegs sind, schon verborgen. Es kommt uns zu von dem Gott her, dem wir durch jenes Vertrauen immer schon verbunden sind und zu dem der andere in seiner Lebensgeschichte ebenso unterwegs ist wie ich.“ (160f.)35 Durch seine Personalität ist das Ich des Menschen darauf angelegt, dasjenige Selbst zu werden, das zu sein es bestimmt ist. Der Selbstwerdungsprozess des menschlichen Ich vollzieht sich in einer einmaligen und umkehrbaren Geschichte, wie denn auch der Ablauf des Weltgeschehens unumkehrbar und einmalig ist. Zur Erfüllung gelangen die fortlaufenden Antizipationen, welche das welt- und individualgeschichtliche Bewusstsein prägen und seine jeweilige Identität ausmachen, allein in Gott, der für Pannenberg Grund und Ziel allen menschlichen Personseins darstellt, ja in seiner Dreieinigkeit überhaupt erst strukturell erschließt, was es mit der Personalität menschlichen Personseins auf sich hat. Anthropologie und Trinitätslehre In den Jahren der Vorbereitung seiner großen Anthropologie von 1983 publizierte Pannenberg 1976/77 drei Studien zur Trinitätslehre, die für seine Gesamttheologie und nicht zuletzt für seine Lehre vom Menschen von konzeptionell grundlegender Bedeutung sind. Die Texte erläutern und ergänzen sich gegenseitig und sind „in der ihrer inneren Zusammengehörigkeit entsprechenden

35 Zur „Umformung der Hegel’schen Lehre vom ‚subjektiven Geist‘ zur Lehre vom ‚personalen Geist‘ und ihrer Zentrierung im Begriff der Person“ bei Pannenbergs philosophischem Lehrer Nicolai Hartmann vgl. W. Jaeschke, Der Geist und sein Sein. Nicolai Hartmann auf Hegel’schen Wegen, in: Th. Wyrwich (Hg.), Hegel in der neueren Philosophie, Hamburg 2011, 181–213, bes. 189ff., hier: 192.

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Zuordnung“36 in den zweiten Band der „Grundfragen systematischer Theologie“ aufgenommen worden. Der letzte Beitrag der Trilogie, der die beiden vorgehenden zusammenfasst, erschien erstmals in der Zeitschrift „Kerygma und Dogma“ 1977 und trägt den Titel „Der Gott der Geschichte. Der trinitarische Gott und die Wahrheit der Geschichte“37 . Er legt dar, inwiefern die Trinitätslehre der fundierende Inbegriff und Schlüssel christlicher Geschichtstheologie sei. Die dabei geltend gemachten kritischen Bezugnahmen auf den subjektivitätstheoretischen Ansatz neuzeitlicher Philosophie und Theologie wurden bereits in dem ersten der drei Texte ausführlich erörtert; er ist zuerst 1976 in der „Neuen Zeitschrift für Systematische Theologie“ erschienen, für den Sammelband von „Poetik und Hermeneutik“ zum Thema „Identität“ (1979) leicht revidiert sowie durch Anmerkungen ergänzt und in dieser Gestalt in den zweiten Band von „Grundfragen systematischer Theologie“ aufgenommen worden.38 Pannenberg setzt sich in dem Text „Person und Subjekt“ entschieden „von der durch die lateinische Scholastik eingeleiteten und in der Neuzeit akut gewordenen Auflösung des trinitarischen Gottesgedankens in eine anthropomorphe ‚Psychologie‘ des einen Gottes“39 ab. Im Unterschied zu dem modernen Begriff der die Substanz in sich aufhebenden Subjektivität hebe die Trinitätslehre hervor, dass keine der trinitarischen Hypostasen ihr personales Wesen durch sich selbst habe. Sie seien, was sie seien, durch ihre wesenseinige Beziehung zueinander und zwar dergestalt, dass das Anderssein der jeweils anderen Person der Trinität weder auf die Identität einer Hypostase noch auf eine unmittelbare Einheit göttlichen Wesens restringiert werden könne. „Person im Sinne der Trinitätslehre und Subjekt im Sinne der Entwicklung, die vom Begriff der Hypostasis zur transzendentalphilosophischen Subjektivität führt, sind nicht dasselbe.“40 Während die moderne Transzendentalphilosophie einschließlich der Philosophie des Deutschen Idealismus Subjektivität in der selbstbewusstseinstheoretischen Logizität einer monistischen Einheit von Ich und Selbst denke, sei die Identität des trinitarischen Wesens Gottes, ohne in den personalen Beziehungen aufzugehen, „für jede der Personen durch die Beziehung zu den anderen Personen vermittelt. Für jede der Personen sind die anderen beiden Personen die Gestalten, in denen das eine göttliche Wesen für sie in

36 W. Pannenberg, Vorwort, in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze Bd. 2, Göttingen 1980, 7–12, hier: 7. 37 Ders., Der Gott der Geschichte. Der trinitarische Gott und die Wahrheit der Geschichte, in: ders., a.a.O., 112–128. 38 Ders., Person und Subjekt, in: ders., a.a.O., 80–95. 39 Ders., Vorwort, in: ders., a.a.O., 8. 40 Ders., Person und Subjekt, 85.

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Erscheinung tritt.“41 Der neuzeitspezifische Subjektbegriff sei nicht in der Lage, diese trinitarische Wahrheit und mit ihr die Wahrheit der Geschichte und ihrer Einheit zu erfassen. Statt ihn der Trinitätslehre grundzulegen, was zwangsläufig zu Fehlentwicklungen führe, sei vielmehr umgekehrt vom trinitarischen Personverständnis her der Subjektbegriff neu zu bestimmen, um ihn für eine „Anthropologie in theologischer Perspektive“ brauchbar zu gestalten. Person und Subjekt Als menschliche Personwesen sind wir Pannenberg zufolge nicht durch den Hinweis auf die bloße Tatsache unseres Ich- bzw. Selbstbewusstseins zu identifizieren. Unser Personsein sei weder mit dem, was Ich, noch mit dem, was Selbst heiße, unmittelbar gleichzusetzen; auch eine Gleichsetzung mit einer vermittlungslos in Anschlag gebrachten Identität von Ich und Selbst komme nicht in Frage. Das schiere Faktum, dass der Mensch sich mit sich selbst eins wisse, mache ihn noch nicht zur Person. Person, so Pannenberg, ist das Menschenich, indem es sich selbst transzendierend unterwegs ist zu sich selbst und zu dem Selbstsein, welches seine Bestimmung ausmacht: „Person ist … weder das Ich noch das Selbst je für sich genommen. Person ist die Gegenwart des Selbst im Augenblick des Ich, in der Beanspruchung unseres Ich durch unser wahrhaftes Selbst und im vorweggenommenen Bewußtsein unserer Identität. Person ist das Ich als ‚Antlitz‘, durch das hindurch sich das Geheimnis der noch unabgeschlossenen Geschichte eines Individuums auf dem Wege zu sich selbst, zu seiner Bestimmung bekundet.“42 Von dieser trinitätstheologisch motivierten Neubestimmung des Personbegriffs ergibt sich für Pannenberg sowohl die konstitutive Bedeutung des Mitmenschen und der gemeinsamen Lebenswelt für die personale Genese des Menschen, als auch die Einsicht in seine eigentümliche Personwürde, die „im Geheimnis ihrer noch unabgeschlossenen Geschichte (begründet sei), in der sie auf dem Wege ist zu ihrer Bestimmung, zu ihrem Selbstsein“43 . Die Tatsache, dass Formulierungen wie diese in einer Reihe von Aufsätzen nahezu wortgleich wiederholt werden, beweist, wie wichtig sie Pannenberg sind. Vermag die christliche Trinitätstheologie nach Pannenberg die anthropologische Einsicht in die Transzendenz menschlichen Personseins zu eröffnen, so werde diese verschlossen und verstellt, wenn der in der Moderne üblich gewordene Subjektbegriff zur selbstverständlichen Basis der Lehre vom dreieinigen Gott erklärt werde, wie das sowohl bei Hegel als auch bei Barth der Fall

41 A.a.O., 93. 42 A.a.O., 92; s.o., 397f. (Anthr., 160f.) 43 Ebd.

Ambivalente Ichhaftigkeit und die personale Bestimmung des Menschen

sei. Diesen „problematischen gemeinsamen Nenner der Trinitätsdeutung“44 beider herauszuarbeiten, ist Ziel des zuerst 1977 in der Zeitschrift „Kerygma und Dogma“ veröffentlichten, dann im zweiten Band der „Grundfragen systematischer Theologie“ wiederabgedruckten Textes „Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre“45 . Kennzeichnend sowohl für das Hegel’sche als auch für das Barth’sche Denken ist nach Pannenberg eine „Umkehrung von der Subjektivität des Menschen zur Subjektivität Gottes“46 . Sowohl Hegels Begriff des Absoluten als des Begriffs des Begriffs als auch Barths Trinitätstheologie sei subjektivitätsförmig und nach Maßgabe des selbstbewusstseinstheoretischen Modells des mit sich selbst identischen Ich gedacht. Wesenseinheit in Personenpluralität Die von ihm konstatierten Aporien beider Konzepte führt Pannenberg gleichermaßen auf die „Herleitung der trinitarischen Bestimmungen aus dem Subjektbegriff “47 zurück. In Bezug auf Hegel und seine trinitätstheologischen Reflexionen erkennt er dabei allerdings zugleich die Möglichkeit einer trinitätstheologischen Alternative zum subjektivitätstheoretischen Ansatz, „nämlich in seiner Deutung der göttlichen Gemeinschaft der Liebe, die Vater und Sohn verbindet. Hier wird die Pluralität der Personen nicht erst abgeleitet, sondern ist ursprünglich, und nur in ihr ist die Einheit Gottes wirklich.“48 Dass die ursprüngliche Pluralität, in der allein die Einheit Gottes wirklich ist, in keinem Gegensatz zu dieser steht und ihre Realität nicht aufhebt, sondern realisiert und wirksam werden lässt, liegt gemäß Pannenberg in der für sie konstitutiven Beziehung begründet, in welcher die göttlichen Personen wechselseitig stehen, um nicht unmittelbar in sich, sondern im Geist ihrer Gemeinschaft eins und einig zu sein. Ihre je eigene Personalität haben die trinitarischen Personen einschließlich der Person des Geistes, der die beiden ersten in Liebe verbindet, nur aus dem Vollzug ihrer wechselseitigen Selbstunterscheidung und Hingabe heraus und nur in diesem. An dieser für ihn ursprünglichen Einsicht muss der Personbegriff nach Pannenberg auch in seiner anthropologischen Verwendung bleibend orientiert sein.49 44 Ders., Vorwort, in: ders., a.a.O., 8. 45 Ders., Die Subjektivität Gottes und die Trinitätslehre. Ein Beitrag zur Beziehung zwischen Karl Barth und der Philosophie Hegels, in: ders., a.a.O., 96–111. 46 A.a.O., 105. 47 A.a.O., 108. 48 Ebd. 49 Zur Begründung des Gedankens individueller Personwürde reicht nach Pannenberg das modernitätsspezifische „Verständnis der Person vom Ich als dem Subjekt der Einheit des Bewußtseins her“ (ders., Der Mensch als Person, in: ders., Beiträge zur Systematischen Theologie. Bd. 2, 162–169, hier: 168) nicht aus (vgl. ferner: Bewußtsein und Geist [1983], in: ders., a.a.O.,

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Der Anschluss der anthropologischen Personlehre an die trinitarische Lehrtradition ist durch einen Vergleich der Konstitution des Ich durch das das jeweilige Lebensganze repräsentierende Selbst mit der Begründung vermittelt, welche den göttlichen Hypostasen binnentrinitarisch dadurch zuteil wird, dass ihnen in den beiden je anderen die Gottheit Gottes in der Einheit ihres Wesens und in der Ganzheit ihres Seins vorstellig wird. Dabei ist besagter Vergleich zu unterscheiden von der konstatierten Analogie, die zwischen Pannenbergs Lehre von der menschlichen Person und seiner Geschichtstheologie herrscht. Bei dieser handelt es sich, wenn man so will, um eine direkte Entsprechung, bei ersterer um eine indirekte. Die individuelle Persongeschichte entspricht der Universalgeschichte darin auf direkte Weise, dass beide Male Identität und Ganzheit durch Antizipation hergestellt wird. Wie im Laufe der Geschichte deren Totalität auf proleptische Weise präsent wird, so ist im einzelnen Ich und seiner individuellen Lebensgeschichte Identität dadurch gegeben, dass auf das Lebensganze vorgegriffen wird, welches im Selbst bzw. als das Selbst vorstellig wird, das zu sein das Ich bestimmt ist. Von diesem Entsprechungszusammenhang unterscheidet sich der entsprechend geltend gemachte Bezug des personal verstandenen Verhältnisses von Ich und Selbst zur Beziehung, die binnentrinitarisch waltet, dadurch, dass die Dreieinigkeit der wesensgleichen göttlichen Hypostasen den fundierenden Grund der Personeinheit von Ich und Selbst und das Ziel bezeichnen, dem nicht nur die individuelle Lebensgeschichte des einzelnen Menschen, sondern die universale Weltgeschichte unter Einschluss der Natur entgegengeht. Nur unter dieser Voraussetzung ist die Anschlussrationalität des Pannenberg’schen Personkonzepts zur Trinitätslehre zu wahren und dem Vorwurf zu wehren, die Ansetzung eines Entsprechungsverhältnisses zwischen trinitätstheologischer und anthropologischer Rede von „Person“ sei nicht begründet, sondern lediglich erschlichen.50 123–140). Eine knappe Zusammenfassung seiner Verhältnisbestimmung von Personalität und Subjektivität gibt Pannenberg in dem Beitrag „Die Theologie und die neue Frage nach der Subjektivität“, in: StdZ 109 (1984), 805–816. Den Rahmen der Erörterungen bilden Grundsatzerwägungen zur Beziehung von Trinitätslehre und Anthropologie. Zum trinitarischen Personverständnis Pannenbergs vgl. Th. J. Whapham, The Term „Person“ in the Trinitarian Theology of Wolfhart Pannenberg, New York 2012. Wie Pannenberg „das konkrete Selbst und das selbstbewußte Ich (Subjekt) in dem komplexen und dynamischen Begriff der Person“ unterscheidet, untersucht A. Glässer, Verweigerte Partnerschaft? Anthropologische, konfessionelle und ökumenische Aspekte der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Regensburg 1991, hier: 11. 50 Vgl. M. Murrmann-Kahl, „Mysterium trinitatis“? Fallstudien zur Trinitätslehre in der evangelischen Dogmatik des 20. Jahrhunderts, Berlin/New York 1997, 335 ff.: „Zur Möglichkeit einer analogen Redeweise von der ‚Person‘ in der Trinitätslehre“. Zur terminologiegeschichtlichen Strittigkeit des Personbegriffs, zum Verhältnis von Person und (Selbst-) Bewusstsein sowie

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Göttliche und menschliche Personalität Pannenbergs trinitätstheologische Fundierung des anthropologischen Personbegriffs ist auf die Transzendenz menschlichen Personseins und auf den Prozess der Selbstwerdung des Ich ausgerichtet, der nach seinem Urteil ohne religiöse Bezüge nicht fassbar ist. Eine Repristination des für die Spätantike und weite Teile des Mittelalters charakteristischen Verständnisses von persona als individuierter Substanz ist nicht beabsichtigt. Der von der Trinitätslehre geprägte und in Antike und Mittelalter nur bedingt zum Zuge gekommene „relationale“ Personbegriff selbst soll im Gegenteil in der Perspektive des neuzeitspezifischen Subjektivitätsparadigmas zur Geltung gebracht werden, um die Aporien moderner Selbstbewusstseinstheorie im Gefolge Kants zu überwinden. Dieser hatte das „Ich denke“ der transzendentalen Apperzeption von den Vollzügen des empirischen Ich (einschließlich von dessen Selbstwahrnehmung) sorgsam zu unterscheiden gesucht, indem er dem Transzendentalsubjekt einen Ort vor aller Erscheinung zuwies. Gleichwohl musste die doppelte Verwendung des Ichbegriffs die – nicht erst von Heidegger gestellte – Frage notwendig nach sich ziehen, wie sich das reine Denkich zu dem, wenn man so will, Selbsterfahrungsich verhält, dessen Selbstsein ohne In-der-Welt-sein nicht zu begreifen ist. Wenn, kantisch gesprochen, die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis selbst nicht zum Bewusstseinsgegenstand erhoben und realiter erkannt werden kann, mit welchem Recht wird dann der Ichbegriff auf sie in Anwendung gebracht? Wie ist die Beziehung von Transzendentalich und empirischem Ich präzise zu bestimmen und wie über die Weisen zu urteilen, in denen Fichte in der Nachfolge Kants das transempirische Ego selbstbewusstseinstheoretisch zu konzipieren versuchte? An Fragen wie diesen arbeitete sich Pannenberg unter der Voraussetzung ab, dass eine Separation des, wenn man so will, egologischen vom empirischen Ich unter allen Umständen zu vermeiden sei, weil sonst transzendentale Reflexion und subjektivitätstheoretische Spekulation ihren Anhalt am gelebten Menschenleben einbüßen müssten. Seine Verwendung des trinitarisch geprägten Personbegriff ist auf diese Problemkonstellation bezogen, um zu verdeutlichen, dass die Schwierigkeiten der Subjektivitäts-und Selbstbewusstseinstheorie ohne Wahrnehmung des zum Menschsein des Menschen konstitutiv hinzugehörenden religiösen Verhältnisses nicht zu beheben sind. Das Selbstsein des Ich und die Identität des Menschen lassen sich nur von demjenigen her begründen, was das sich wissende Wissen zugleich fundiert zum gegenwärtigen Streit um das Personkonzept vgl. 241 ff. Vorangestellt sind Analysen zur Trinitätslehre Karl Barths (17 ff.: „Systemische Tautologie“ – Die Herrschaft des Absoluten als absolute Herrschaft) und zu ihrer Rezeption und Revision bei Jüngel, Moltmann und Pannenberg (108 ff.: „Systemische Paradoxie“ – Die Menschwerdung Gottes als Überwindung der absoluten Selbstbestimmung).

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und transzendiert. Wird diese Einsicht thematisch, dann tritt nach Pannenberg zutage, was im Gefühl ursprünglicher Selbstvertrautheit in Form des sog. Urvertrauens unthematisch mitgesetzt ist. Nicht als ob eine regressive Tendenz befördert oder die Religion auf Weisen eines gleichsam ichlosen Inneseins festgelegt werden sollte. Das religiöse Verhältnis bedarf der bewussten Wahrnehmung und der gedanklichen Durchdringung, wie allein Theorie sie zu leisten vermag. Zwar rechnet Pannenberg mit Möglichkeiten des Sichempfindens ohne Ich und ohne entwickeltes Bewusstsein seiner selbst, aber er tut dies nicht in der Absicht, das religiöse Verhältnis darauf zu fixieren. Ziel ist vielmehr ein Verständnis von Ich, Selbst und ihrer differenzierten Einheit, das der konstitutiven Bedeutung des religiösen Verhältnisses für das menschliche Wissen von sich Rechnung trägt. Von daher erschließt sich die subjektivitäts- und selbstbewusstseinstheoretische Zentralfunktion, die Pannenberg dem trinitätstheologisch geprägten Personbegriff in seinem anthropologischen Entwurf zuerkennt. Wer einen weiteren Beleg für diese Annahme sucht, der lese die Aussagen über die „ Enhypostasie Jesu im Logos“ und über „Die Sohnschaft Jesu als Erfüllung menschlicher Personalität“ in den „Grundzügen der Christologie“51 .

51 W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 2 1966, 349 ff. und 357 ff.

14.

Kultur als zweite Natur

Die Welt des Menschen und ihre Ordnungen nach Pannenberg und Hegel

14.1

Die Lehre von den Grundlagen der Kultur in Pannenbergs Anthropologie

Der Mensch ist ein Spieler, und er spielt, weil er ein weltoffenes Wesen ist. Menschliche Weltoffenheit und menschlicher Spieltrieb gehören zusammen, wobei der Trieb zu spielen ein Trieb der ganz besonderen Art insofern ist, als er auf einer eigentümlichen Triebhemmung und Instinktreduktion beruht. Spielverhalten begegnet bereits bei entwickelten Tieren und zwar vornehmlich – wie dann auch beim Menschen – in der Phase der Jugend. Vor allem Jungtiere spielen. Den Grund hierfür hat die Verhaltensforschung in einer noch nicht voll ausgebildeten Verhaltensfixierung entdeckt. Im Unterschied zu den alten sind die Unternehmungen der jungen Tiere noch nicht instinktsicher auf ein festes Ziel ausgerichtet. Ihr Interesse gilt nicht nur festgelegten Gegebenheiten, sondern allem Möglichen, was ihren Wahrnehmungshorizont einerseits über das unmittelbar Vorhandene hinaus erweitert, sie andererseits aber auch gefährdet, weil ihre Neugier sie über den sicheren Hort des Gewohnten hinausführt. Würden nicht die Elterntiere Feindesschutz und Futterlieferung nach Vermögen gewähren, wäre es um ihre Jungen rasch geschehen.1 1 In diesem Sinne gilt: „Sicherungen sind es, die den Spielraum öffnen, in dem die Freiheit ihre Stätte hat.“ (G. Bally, Vom Spielraum der Freiheit. Die Bedeutung des Spiels für Tier und Mensch, Basel / Stuttgart 1966, 7) Wie das Tierkind nur „im freien Bezirk des entspannten Feldes“ (52) spielen kann (58: „Die durch die Eltern übernommene Ernährungssicherung und der Feindesschutz bewirken eine Entlastung der Spannungen des Beute- und des Feindesfeldes, vielleicht auch anderer Felder. Diese Entlastung bedingt eine neue Art des Verhaltens. Sie stellt ein zielunabhängiges Verhalten dar, ein Hin und Her, ein Beginnen und Aufhören, ein Vor und Zurück.“), so bedarf auch das Menschenkind eines gesicherten Raumes, um spielfähig zu sein. Bleibt die Spielphase bei hochentwickelten Tieren, wenn sie nicht Haustiere wie Hunde oder Katzen sind (vgl. 59), auf eine kurze Jugendperiode beschränkt (vgl. 74), stellt sie im Falle des Menschen die Bedingung der Möglichkeit seiner spezifischen Daseinsweise dar (vgl. 60) und ist deshalb von lebenslanger Bedeutung: „freie Ferne vom Instinktziel und eine spielende Souveränität im Felde, das ist dem Menschen zur Grundhaltung geworden.“ (74) Deshalb ist die Welt des Menschen offen für Kultur. Vgl. ferner: F. J. J. Buytendijk, Wesen und Sinn des Spiels, Berlin 1933. Nach Buytendijk ist die Differenz von Mensch und Tier in allen Bereichen „in dem wesentlichen Unterschied zwischen der Bezogenheit auf eine gegenständlich wahrgenommene und erlebte Welt und der Beziehung auf eine artspezifische Umwelt fundiert“ ( F. J. J. Buytendijk, Mensch und Tier. Ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie, Hamburg 1958, 29f.). Auf ihn führt Buytendijk auch den Unterschied von tierischen Signalsystemen bis hin

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Kultur als zweite Natur

Homo ludens Das Spiel der Jungtiere kann als Präludium des Spielverhaltens des Menschenkindes gewertet werden, wobei hinzuzufügen ist, dass der Mensch in bestimmter Weise lebenslang ein Kind bleibt. Während die Offenheit, Plastizität und freie Beweglichkeit im Verhalten der Jungtiere verschwindet, sobald sie erwachsen geworden sind, bleibt der Mensch diesbezüglich auf seinem jugendlichen Entwicklungsstadium stehen, wie Pannenberg unter Bezug vor allem auf den „Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens“ von Konrad Lorenz 2 sowie auf Gustav Ballys Versuch einer Deutung des Spiels bei Mensch und Tier betont: „ Im Spielverhalten haben wir also den konkreten Bildungsprozeß der Weltoffenheit des Menschen vor uns, die wir bisher mehr als abstraktes Verhaltensmerkmal behandelt haben, das den Menschen von allen andern Tieren unterscheidet. Spielend entwickelt er die Fähigkeiten eines zweckfreien Verhaltens, das dann sekundär für beliebige Zwecke eingesetzt werden kann.“3 Der Ursprung weltoffener Freiheit des Menschen liegt im Spiel. Spielend befreit er sich von unmittelbarer Naturverhaftung und der fixen Bindung an natürliche Instinkte. Allerdings ist nach Pannenberg „die Ablösung von der Instinktbindung nur die eine Seite der Freiheit. Sie vollendet sich erst in einer mit den Sozialbeziehungen sich verflechtenden Selbstbindung des Individuums, und auch diese Seite der Freiheit wird im Spiel ausgebildet.“ (Anthr., 314) Als Belege werden beispielsweise J. Piagets Forschungen zur Entstehung des kindlichen Spiels aus der Nachahmung4 und Hinweise F. J. J. Buytendijks5 auf Selbstdisziplinierungsmomente und dementsprechende Effekte der Sozialisierung angeführt, die mit Spielen stets verbunden seien. Im Spiel wird nicht nur jedem eine bestimmte Rolle zugewiesen; es enthält zugleich die stillschweigende Aufforderung an jeden einzelnen in sich, sie möglichst gut zu spielen. So

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zur Lautproduktion anthropischer Affen und menschlicher Sprache zurück. „ Im tierischen Verhalten sind viele ‚Zeichen‘ wirksam, aber es sind immer Signale, die eine Änderung der Situation bedeuten. Es sind niemals Symbole, d. h. Zeichen, die das Bezeichnete vergegenwärtigen, und zwar nicht auf Grund eines in der Erfahrung gebildeten Verhältnisses, sondern weil seine Verbindung mit anderen Zeichen dieselbe ist wie die Verbindung der bezeichneten Dinge zu anderen Dingen.“ (112) K. Lorenz, Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens, München / Zürich 1973, bes. 195ff. W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983 (= Anthr.), 313. Vgl. u. a. das 1. Kapitel („Die Spielregeln“) in J. Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, Frankfurt a. M. 1973, 7–118 sowie Piagets Vorlesungen zur „Einführung in die genetische Erkenntnistheorie“ (Frankfurt a. M. 1973), wo nachdrücklich auf die zentrale Bedeutung von spielerischer Nachahmung für die Entwicklung der Symbolfunktion beim Kind hingewiesen wird. F. J. J. Buytendijk, Das menschliche Spielen, in: H. G. Gadamer / P. Vogler (Hg.), Neue Anthropologie. Bd. 4: Kulturanthropologie, München 1973, 88–122.

Die Lehre von den Grundlagen der Kultur in Pannenbergs Anthropologie

sind Individualität und Sozialität im Spiel gleich ursprünglich verbunden. Eine „Deutung der Kultur vom Phänomen des Spiels her“ (Anthr., 311) ist durch diesen Befund nahegelegt. Spiel als Kulturfaktor Der Mensch ist ein Spieler, so wurde gesagt. Ohne Spiel kann er sein Menschsein nicht ausbilden. Die elementare Bedeutung des Spieltriebs für die Genese und Gestaltung menschlicher Kultur hat der niederländische Historiker Johan Huizinga „in seinem für die Kulturanthropologie klassisch gewordenem Buch Homo Ludens“ (Anthr., 316) unter Bezug auf die Rolle des Spiels in Recht, Politik, Kunst und Wissenschaft sowie sonstigen Kulturbereichen eingehend untersucht. Als Hauptkennzeichen von Spielen namentlich sozialer Art gelten ihm dabei freies Handeln, die Unterbrechung des gewöhnlichen Alltagslebens sowie der uninteressierte, zweckfreie Charakter der Aktion, ihre örtliche Abgeschlossenheit und die Begrenztheit ihrer Dauer sowie geregelte Ordnung, deren Verletzung die Spielwelt zusammenbrechen lässt. Bereits durch die ihm eigene Freiheit sondere sich das Spiel „aus dem Lauf eines Naturprozesses heraus“6 und erweise sich als positiver Kulturfaktor. Seine kulturelle Bedeutung werde dadurch unterstrichen, dass die spielerische Handlung keine äußeren Zwecke verfolge, sondern ihren Sinn in sich selbst trage. Sie „läuft in sich selbst ab und wird um der Befriedigung willen verrichtet, die in der Verrichtung selbst liegt“ (14). Das Regelwerk, welches dem Spiel seinen Ort und seine Zeit zuweist und die Ordnung bestimmt, der es zu folgen hat, ist angemessen nur, wenn es den freien Verlauf dessen, was sich abspielt, nicht hindert, sondern fördert. Spielplatz und Zeitraum des Spiels, seine lokale und temporale Gestaltung, haben dieser Grundregel spielerischer Freiheit zu entsprechen und sie zu achten. Nur dann herrscht Ordnung, die dem Spiel gemäß ist. Nur dann ist das Spiel in Ordnung, mehr noch: „Es schafft Ordnung, ja es ist Ordnung. In die unvollkommene Welt und in das verworrene Leben bringt es eine zeitweilige begrenzte Vollkommenheit.“ (17) Diese Vollkommenheit ist nicht spannungslos, sondern im Gegenteil mit Spannung elementar verbunden, um gerade so Entspannung und das Glücksempfinden von Rhythmus und Harmonie zu erzeugen. Wettkampf und Darstellungsspiel Der Form des Spiels entspricht seine Funktion. Seiner Form nach kann man es „zusammenfassend eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem 6 J. Huizinga, Homo Ludens. Versuch einer Bestimmung des Spielelementes in der Kultur, Basel 1938, 12. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf dieses Werk.

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den Spieler völlig in Beschlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines eigens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß verläuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders als die gewöhnliche Welt herausheben“ (21f). Was aber die Funktion des Spiels in seinen höheren Formen betrifft, so lässt sie sich nach Huizinga „zum allergrößten Teil direkt von zwei wesentlichen Aspekten herleiten, unter denen sie sich präsentiert. Das Spiel ist ein Kampf um etwas oder eine Darstellung von etwas.“ (22) Realiter lassen sich die beiden Spielweisen, der geregelte Wettkampf und das Darstellungsspiel, unbeschadet ihrer typologischen Unterscheidbarkeit nicht trennungsscharf voneinander sondern. Huizinga selbst räumt, wie Pannenberg vermerkt, ausdrücklich ein, „daß sich die beiden Spieltypen in den Formen des kulturellen Lebens gegenseitig durchdringen. Dabei kommt dem darstellenden Spiel der Genese wie der Sache nach die Priorität zu. Aber in allem Zusammenspiel ist auch immer schon ein Moment des Wettbewerbs enthalten.“ (Anthr., 316) Das darstellende Spiel kann sich wie auch der spielerische Wettkampf unter mannigfachen Bezügen und in vielerlei Hinsichten vollziehen. Es kann im schlichtesten Fall „lediglich darin bestehen, daß man etwas natürlich Gegebenes Zuschauern vorführt“ (22). Aber auch die Vorführungen, die im Schauund Hörspiel oder in vergleichbaren Spielaktionen zur Darstellung kommen, erschöpfen sich in der Regel nicht in bloßen Abbildungen und Imitationen von Naturgegebenheiten, sondern führen über diese grundsätzlich hinaus, da „ein geistiges Element … ‚im Spiele‘ ist“ (23), das Transnaturales zur Anschauung, zu Gehör, zur Wahrnehmung zu bringen sucht. Schon im Kinderspiel, dem ein eigentümlicher Ernst nicht abzusprechen ist, deutet sich diese Ausrichtung unverkennbar an, um in den entwickelten Spielformen der Erwachsenenwelt offen zutage zu treten. Ihre dichteste Gestalt hat das darstellende Spiel Huizinga zufolge „im Kultus gefunden, der die mythische Ordnung des Kosmos zur Darstellung bringt“ (Anthr. 316). In der kultischen Handlung wird in Form eines rituellen Spiels, man kann auch sagen: in Form eines Mysterienspiels der Sinngrund zum Ausdruck gebracht und geheimnisvoll offenbart, der Selbst und Welt fundiert und Menschen zu einer kulturellen Gemeinschaft in der Einheit von Individualität und Sozialität verbindet. Im festlichen Ritus der kultischen Feier werden die Grenzen des Alltäglichen transzendiert und die Festversammlung in Form eines liturgischen Spiels ergriffen von dem, was sie unbedingt angeht. „Es ist ein heiliges Spiel, unentbehrlich für das Wohl der Gemeinschaft, trächtig von kosmischer Einsicht und sozialer Entfaltung, aber es ist immer ein Spiel“ (42), schreibt Huizinga.

Die Lehre von den Grundlagen der Kultur in Pannenbergs Anthropologie

Kult und Kultur Kult und Kultur gehören nicht nur terminologisch zusammen, sondern auch sachlich. Im Kult kommt die einheitsstiftende Basis der Kultur zur Darstellung und zwar unter Integration von Momenten antagonistischen Wettstreits. Wie gemeinsames Spielen überhaupt, hat auch das kultische Spiel „in seinen wesentlichsten Zügen antithetischen Charakter“ (77). Gleichwohl soll es nicht bei unmittelbaren Antithesen bleiben, die vielmehr in eine Synthese aufzuheben sind, damit gesellschaftliches Zusammenleben und eine gemeinsame Kultur ermöglicht wird. Dies zu leisten ist Aufgabe des Kults, ohne den es kulturelle Einheit nicht dauerhaft geben kann. Kult begründet und erhält Kultur und konstituiert sie von innen her durch alle äußeren Wandlungen hindurch in Form rituellen Spiels. Die zentrale These der in „Homo Ludens“ entwickelten Kulturanthropologie lautet, „daß Kultur in Form des Spiels entsteht“ (75) und durch fortgesetztes Spielen erhalten wird. Pannenberg hat diese Annahme rezipiert und zwar unter der von Huizinga geteilten Voraussetzung, dass die „höheren Formen des sozialen Spiels“ (76), in denen „der Zusammenhang von Kultur und Spiel namentlich … zu suchen ist“ (ebd.), ihre dichteste Gestalt im Kultus gefunden haben, der die Grundordnung der Welt und des gesellschaftlichen Lebens unter Integration von Elementen des Wettstreits zur Darstellung bringt und so kulturelle Einheit stiftet und dauerhaft gewährleistet. Unter dieser Rezeptionsprämisse machte sich Pannenberg die Deutung der Kultur vom Phänomen des Spieles her in der Absicht zu eigen, die religiösen Grundlagen der Kultur aufzuweisen und die überkommenen Aporien des Kulturbegriffs zu beheben. Ohne Religion und ohne kultisch-rituelles Spiel lassen sich das Spezifische der Kultur und insbesondere kulturelle Einheit nicht begründen. Weder eine Interpretation der Kultur von ihren Institutionen her noch die ihr entgegengesetzte, welche von der symbolschöpferischen Tätigkeit des Menschen ausgehe, seien dazu in der Lage (vgl. Anthr., 307ff.). Nach Pannenbergs Urteil beruhen beide Ansätze auf einer Abstraktion. Die Charakteristik der Kultur von der symbolschöpferischen Tätigkeit des Menschen her erfasse nicht hinreichend die „Vorgegebenheit der kulturellen Ordnung der Lebenswelt, die sich mit der Vorgegebenheit der Institutionen verbindet“ (Anthr., 308). Die an den gesellschaftlichen Institutionen orientierte Deutung des Kulturbegriffs verkenne, dass diese Kultur bereits voraussetzen müssen, um überhaupt zustande zu kommen und Bestand zu haben: „Gesellschaft ist nicht als solche schon Kultur. Menschliche Gesellschaftsbildung gewinnt erst durch ihre kulturelle Form ihr besonderes Gepräge.“ (Ebd.) Gemäß Pannenberg bedarf es deshalb „zum Verständnis der Kultur einer dritten, von Individuum und Gesellschaft verschiedenen Ebene, auf der die symbolisierende Tätigkeit des Individuums mit den Grundlagen des

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gesellschaftlichen Lebens in Beziehung tritt“ (Anthr., 309). Diese, Individualität und Sozialität, individuelle Symbolisierung und gesellschaftliche Organisation gleichursprünglich in sich vereinende und fundierende Beziehungsebene sieht Pannenberg in Anschluss an Huizinga durch das kultische Spiel repräsentiert, welches in Form religiöser Darstellung der mythischen Grundordnung die gemeinsame Lebenswelt und damit dasjenige begründet, was im eigentlichen Sinne des Begriffs Kultur heißt. Mythos und Religion Damit soll nicht gesagt sein, dass Mythos und Religion unkritisch als Offenbarungsgrößen zu betrachten seien, die vermöge supranaturaler und suprarationaler Autorität eine Kultureinheit konstituieren könnten. Der Anspruch von Mythos und Religion auf vermeintlich zeitinvariante Geltung müsse sich vielmehr unter den Bedingungen der Zeit bewähren.7 Es ist „das Spannungsfeld zwischen den Ansprüchen der mythischen und religiösen Überlieferung einerseits und der sich wandelnden Lebenserfahrung der Individuen und der Gemeinschaft andererseits der Ort, wo der kulturelle Lebensstil sich bildet und erneuert und wo auch Religion und Mythos sich wandeln, weil die Wirklichkeit selber, deren grundlegende Ordnung sie beschreiben und aktualisieren, sich der gemeinschaftlichen Erfahrung in immer wieder neuer Weise darstellt“ (Anthr. 311). Berücksichtige man diesen Aspekt, der sich in Huizingas Ansatz problemlos integrieren lasse, dann könne dessen Deutung der Kultur vom Phänomen des Spiels im Allgemeinen und des kultischen im Besonderen her als diejenige betrachtet werden, welche die Aporien üblicher Kulturbegriffe am ehesten zu beheben vermöge. Ordnung der Dinge Huizingas Kulturtheorie nimmt in Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ nicht nur im Kapitel über die Grundlagen der Kultur eine Schlüsselstellung ein, sondern ist für die Gesamtkonzeption in hohem Maße bedeutsam. Pannenberg bestätigt das selbst, wenn er schreibt: „Formen des Zusammenspiels durchziehen alle Weisen menschlichen Gemeinschaftslebens bis hin zum Kultus. Andererseits bildet das Spielen die biologische Grundlage alles freien und schöpferischen Verhaltens von Individuen. Dabei verklammert das Thema Spiel zugleich die Leitfrage des zweiten Teils (sc. der „Anthropologie in theologischer Perspektive“) nach der Identität des Individuums mit 7 Vgl. dazu ausführlich G. Wenz, Gründende Urzeit und kommendes Gottesreich. Schellings Philosophie der Mythologie und ihre geschichtstheologische Rezeption durch Pannenberg, in: ders. (Hg.), Kirche und Reich Gottes. Zur Ekklesiologie Wolfhart Pannenbergs, Göttingen 2017, 259–292.

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der aus ihr erwachsenen Frage nach der gemeinsamen Welt, in der sich dem Individuum die Chance seiner persönlichen Identität eröffnet.“ (Anthr., 311f.) Das Thema des Spiels ist geeignet, individuelle und soziale Aspekte zu vermitteln und verständlich zu machen, wie Kultur entsteht und sich fortentwickelt. Vorausgesetzt ist dabei, dass unter Spiel kein bloßer Zeitvertreib verstanden und diejenige Dimension des Spielens nicht ausgeblendet wird, die schon im kindlichen Symbolspiel präsent ist, wenngleich auf unthematische Weise: Die Ausrichtung auf die „wahre Ordnung der Dinge“ (Anthr., 322), wie sie im kultischen Spiel und in religiösen Riten eigens zum Thema erhoben und dargestellt wird. Nur wer den Ernst des Spiels ermisst, wird seiner konstitutiven Bedeutung für menschliche Kultur gewahr, deren, wenngleich matter, Abglanz sich selbst dort noch zu erkennen gibt, wo das Spiel nur mehr als Freizeitbeschäftigung zur Kompensation von Sinnlosigkeitsempfinden in Bezug auf die öffentliche Lebenswelt in Beruf, Wirtschaft und Politik fungiert. 14.2

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Ein identischer Begriff dessen, was Kultur heißt, setzt ein gemeinschaftliches Sinnbewusstsein voraus, „das die Ordnung der sozialen Welt konstituiert und durchdringt“ (Anthr., 385). Ohne ein entsprechendes Bewusstsein kann es nach Pannenberg kulturelle Einheit nicht geben. Ursprünglich zur Darstellung gebracht werde, was eine Kultur vereine, „im gemeinschaftlichen Spiel“ (ebd.), allgemein mediatisiert wiederum in der Sprache, welche „selber die Form des Spiels“ (ebd.) habe, was „nicht nur in ihrer Regelhaftigkeit, sondern vor allem auch in ihrer Darstellungsfunktion“ (ebd.) zum Ausdruck komme. Im darstellenden Sprachspiel, so Pannenberg, nimmt kulturelle Identität Gestalt an und zwar, wie es heißt, nicht lediglich zeichenhaft, sondern auf symbolische Weise. Die Sprache bildet nicht nur ab, was ohnehin der Fall ist, sondern fungiert als Symbol von Gemeinschaftssinn, den sie fundiert und kontinuierlich fortbildet.8

8 In Pannenbergs „kleiner“ Anthropologie kommt die Sprache „als erste Hauptform menschlicher Daseinsbewältigung“ (W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen³ 1968, 13f.) in Betracht. Als das Vermögen, „ganze Zusammenhänge durch Vorstellung ins Bewußtsein zu holen“ (18), stelle Sprache „sowohl das Grundelement als auch das Modell menschlicher Kulturtätigkeit“ (19) dar. Entscheidend für kulturelles Schaffen des Menschen hinwiederum sei seine Phantasie im Sinne reproduktiver und produktiver Einbildungskraft, deren passiven Zug Pannenberg eigens hervorhebt:„Echte Einfälle kann man nicht hervorrufen.“ (21) Sie werden vernommen, welches Vernehmen für alle Vernunftaktivität grundlegend sei. Pannenbergs Reflexionen über „das

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Gemeinschaftssinn In ihrer kulturellen Symbolfunktion sieht Pannenberg die Nähe der sprachlichen Darstellung zum Mythos, näherhin zum kultischen Spiel begründet, in dem sich der Kosmos sozialer Gemeinschaft und die kulturelle Ordnung, deren Einheit die Individuen intersubjektiv verbindet, ursprünglich formieren. Der Sinngehalt von Kultur und Sprache als dem kulturellen Elementarmedium ist kein menschliches Erzeugnis, das sich individuellem oder kollektivem Handeln verdankt, sondern religiös verfasst und nur auf religiöse Weise zu erfassen. Ohne Religion verlieren Kultur und Sprache die Sinnbasis, die sie fundiert. Zwar bedarf diese der Artikulationen und der Interpretationen, welche aber nur dann bedeutungsvoll sind, wenn sie einen allgemeinverbindlichen Sinn voraussetzen und nicht zu ersetzen trachten. Die Einheit der Kultur und die Ordnung sozialen Lebens haben nach Pannenberg nur Bestand, wenn sie von einem gemeinsamen Sinnbewusstsein getragen werden, das in unaufhebbarer Weise religiös bestimmt ist. Das gilt nach seinem Urteil entsprechend für soziale Institutionen, in denen der kulturelle Kosmos eines Gemeinwesens auf geregelte Dauer gestellt wird. Auch sie bedürfen der Religion, um nicht desintegrativ zu wirken, sondern in das Ganze der Kultur so integriert zu werden, dass deren Einheit erhalten und nach Möglichkeit gefördert wird. In dem Kapitel über den kulturellen Sinngehalt der gesellschaftlichen Institutionen wird dies nach vorhergehender Klärung des Begriffes der sozialen Institution in Bezug auf Eigentum, Arbeit und Wirtschaft, auf Sexualität, Ehe und Familie sowie auf Recht und die Ordnung politischer Herrschaft im Einzelnen durchgeführt. Zum Schluss kommt Pannenberg auf die Funktion der Religion im institutionell ausdifferenzierten System der Kultur zurück: Diese werde unterbestimmt, „wenn sie erst im Zusammenhang mit den Problemen der Legitimation bereits bestehender und anderweitig begründeter Institutionen erörtert wird. Um als legitimierende Instanz überhaupt wirksam in Anspruch genommen werden zu können, muß die Religion zuvor schon eine fundamentalere und ursprüngliche Funktion im Leben der Gesellschaft haben. Diese Funktion besteht darin, daß Religion die Einheit der Welt überhaupt im Hinblick auf ihren göttlichen Ursprung und auf ihre von daher mögliche Vollendung zum Gegenstand hat und in diesem Zusammenhang auch und vor allem den Sinn des menschlichen Lebensvollzugs und die sinnhafte Ordnung im Zusammenleben der Menschen thematisiert.“ (Anthr., 460f.) Ist mit dem Gesagten das Thema der Sprache als Sinnmedium und des kulturellen Sinngehalts der Institutionen in Grundzügen umrissen, so ist aus Differenzierungsgründen der Gedanke noch einmal dort aufzugreifen, wo rechte Verhältnis von Verfügen und Vertrauen“ (28) gehören in diesen Zusammenhang (vgl. im Einzelnen 22–31).

Das Medium der Sprache und der kulturelle Sinngehalt der Institutionen bei Pannenberg

er seinen Anfang genommen hat, nämlich beim Spiel. In ihm realisiert der Mensch „das Außersichsein seiner exzentrischen Bestimmung“ (Anthr., 328). Ihren Skopus findet die „Ekstatik des Spiels“ (ebd.) im religiösen Kult, der nach Pannenberg trotz der dämonischen Möglichkeiten, die in ihm liegen, auch unter jüdisch-christlichen Bedingungen zu pflegen ist. „Im kultischen Leben der Religionen äußert sich, von der Gottesoffenbarung in Jesus Christus her geurteilt, nicht einfach nur Abgötterei, sondern immer auch – in noch so verfremdeter Form – der Lobpreis der göttlichen Schöpfermacht und der göttlichen Überwindung des Bösen, die für den Christen durch das Kreuz Christi vollbracht ist.“ (Ebd.) Auch vom Christentum her geurteilt ist und bleibt „das kultische Spiel das organisierende Zentrum der gemeinsamen Welt der Menschen und ihrer Einheit“ (ebd.), wobei die Wahrnehmung des die Ordnung der Alltagswelt begründenden mythischen Sinnes immer schon vorauszusetzen sei, wenngleich in einer der weiteren Klärung und gegebenenfalls auch der Korrektur bedürftigen Weise. Kultur setzt religiöse Sinnwahrnehmung voraus, wie sie sich im kultischen Spiel vollzieht. Aber sie tut dies auf kultivierte Weise nur, wenn sie den Kult nicht mythisch verfestigt und auf die ständige Reproduktion einer vermeintlich allbegründenden Urzeit oder eines zeitinvarianten Wesens der Dinge fixiert, sondern offen hält für kritische Fortbildung und konstruktive Erneuerung. Genau an dieser Stelle bringt Pannenberg die Sprache ins Spiel, die als Kulturgut zugleich das primäre Medium darstellt, durch welches Kultur sich fortbildet und auf kritisch-konstruktive Weise regeneriert. Sprachspiel Der enge Zusammenhang zwischen der die Kultur begründenden Funktion des Spiels und der Sprache hatte bereits Huizinga hervorgehoben. Sprache werde nicht nur spielerisch erlernt, sondern auch spielerisch gebraucht. „Spielend springt der sprachschöpfende Geist immer wieder vom Stofflichen zum Gedachten hinüber. Hinter einem jeden Ausdruck für etwas Abstraktes steht eine Metapher und in jeder Metapher steckt ein Wortspiel. So schafft sich die Menschheit immer wieder ihren Ausdruck für das Dasein, eine zweite erdichtete Welt neben der Welt der Natur.“ (7) Über den allgemeinen Bezug der Sprache zum Spiel hinaus hat Huizinga auch ihre Verbindung mit dem kultischen Spiel im Besonderen nachdrücklich unterstrichen. Daran schließt Pannenberg an, um das Verhältnis der Sprache zur Religion vorzugsweise anhand ihres Hervorgangs aus den Anfängen des intelligenten Umgangs des Menschen mit der ihn umgebenden Welt zu ergründen (vgl. Anthr., 341). Er wählt dafür eine sowohl onto- als auch phylogenetische Betrachtungsweise.

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Was die ontogenetischen „Bedingungen für das Erlernen der Sprache beim Kinde“ (Anthr., 336) angeht, so rekonstruiert Pannenberg den Prozess kindlichen Spracherwerbs im Anschluss vor allem an die Forschungen J. Piaget9 von den Anfängen im kleinkindlichen Verhalten sensomotorischer Wiederholung und entsprechenden Wiedererkennens über die beginnende Objektkonstanz und die mit ihr verbundene Einordnung des eigenen Körpers in eine vergegenständlichte Welt bis hin zu bestimmten Wort- und Satzbildungen im Rahmen des sog. symbolischen Spiels. Seine tiefere Bedeutung erschließt sich nach Pannenberg nur, wenn man sie mit der „symbiotischen Ganzheitsthematik in der frühkindlichen Entwicklung“ (Anthr., 340) in Verbindung und deren religiöse Implikationen auch für die Ontogenese menschlicher Sprache zur Geltung bringt. Geschieht dies, dann wird man im kindlichen Symbolspiel einen – wenngleich noch nicht reflexiv aufgeklärten – „Ausdruck eines Sinnes für die religiöse Tiefendimension der Wirklichkeit als eines geistigen Feldes“ (Anthr., 341) erblicken dürfen, „das sich im eigenen Erleben konkretisiert. Die Sensibilität dafür“, schließt Pannenberg, „ist nicht nur Anzeichen einer Unvollkommenheit und eines Mangels der kindlichen Entwicklung, sondern Ausdruck eines Wirklichkeitssinnes, der in den späteren Entwicklungsphasen leider oft verkümmert, nicht zuletzt mangels einer geeigneten religiösen Erziehung, um einer geheimnisleeren Nüchternheit Platz zu machen.“ (Ebd.) Auch die Analyse phylogenetischer Sprachentwicklung führt Pannenberg zufolge direkt auf das Verhältnis von Sprache und Religion. Ihren Ausgang zu nehmen hat die Untersuchung bei der „Frage nach der Eigenart der sprachlichen Kommunikation des Menschen gegenüber den vorsprachlichen Formen der Kommunikation im Tierreich, besonders bei den Primaten“ (ebd.). Auch wenn Pannenberg im Anschluss an neuere Forschungstendenzen die Ausbildung menschlicher Sprache in den biologischen Kontinuitätszusammenhang vorsprachlicher Verständigungsformeln bei Tieren und insbesondere bei Primaten stellt, unterscheidet er dennoch klar zwischen sog. Signalsprachen, wie sie im animalischen Bereich begegnen, und der prädikativen Struktur menschlicher Wortsprache, die sich begrifflich artikuliert. „Signale und Symbole gehören zwei verschiedenen Bezugsbereichen an; ein Signal ist ein Ereignis, es gehört zum

9 Zur Entwicklung kindlicher Intelligenz auf sensomotorischer Basis vgl. J. Piagets bereits erwähnte „Einführung in die genetische Erkenntnistheorie“, wo wiederholt (vgl. bes. 3. Vorlesung) auf die Beziehung zwischen beherrschter Sensomotorik und der Ausbildung logischmathematischer Grundstrukturen als Fundament der Sprachentwicklung eingegangen wird. „Sprache erscheint in der Regel um die Mitte des zweiten Lebensjahres, aber schon vorher, gegen Ende des ersten oder Anfang des zweiten Lebensjahres, gibt es eine senso-motorische Intelligenz, eine praktische Intelligenz, die ihre eigene Logik hat – eine Logik der Aktion.“ (50; zum Thema der Objektkonstanz vgl. 53)

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Sein, während ein Symbol Bedeutung hat und immer nur auf den menschlichen Geist Bezug hat.“10 Vom Signal zum Symbol In der Wortsprache sind nach Pannenberg die sensomotorischen, die die Mimik und Gebärde sowie die Lautartikulation betreffenden und alle sonstigen Momente integriert, welche die Sprachbildung konstituieren. Doch bleibt die Frage, wie sich solche Integration und der Übergang von der Signal- zur Wortsprache und ihrer Kategorisierungsfunktion zu vollziehen vermochte. Wurde die für die Wortsprache charakteristische Verselbständigung des Namens von der Sache, die er benennt (um sie auch unter den Bedingungen ihrer Abwesenheit zu repräsentieren), in ontogenetischer Hinsicht in einen Zusammenhang „mit dem Symbolspiel des Kindes als Darstellung eines durch das Spielobjekt angedeuteten, durch das begleitende Wort ihm verbundenen Gegenstandes“ (Anthr., 347) gestellt, so habe man auch „den vorgeschichtlichen Übergang vom Signal zum Symbol, also die Entdeckung der symbolischen Bedeutung des Wortes als Benennung mit dem Spiel in Verbindung gebracht, und zwar mit dem festlichen Spiel, das auch Ursprung des Kultes ist“ (ebd.). Daran und an die These, dass der Übergang von Signal- zu Symbol- und Wortsprache rituell vermittelt sei, knüpft Pannenberg an, um die religiösen Implikationen phylogenetischer Sprachentwicklung zu erheben. Die Ergriffenheit beim kultisch-rituellen Spiel erkläre „am besten die Entstehung des Schemas der Repräsentation, in welchem der Laut und die (rhythmische) Lautfolge zum Medium der Anwesenheit des 10 E. Cassirer, Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, Stuttgart 1960, 47. Das Symbol ist Cassirer zufolge „(e)in Schlüssel zum Verständnis des Menschen“ (37): „Der Mensch lebt in einem symbolischen und nicht mehr in einem bloß natürlichen Universum.“ (39) Alle Gestalten menschlichen Kulturlebens sind „symbolische Formen“ (40). Dies gilt insbesondere für die Sprache als Elementarmedium des kulturellen Symbolsystems. Während sich die phonetischen Äußerungen der Tiere in Affektverlautbarungen erschöpfen, bilden Menschen eine propositionale Sprache aus. (Zum phylogenetischen Übergang vom Ruflaut zur Begriffssprache sowie zur ontogenetischen Entwicklung einer symbolischen Haltung im Kindesalter und zu der sich ausbildenden Einsicht des Menschenkinds, „daß alles einen Namen hat“ [50], vgl. 48ff., zum Verhältnis der Sprachentwicklung zu Mythos und Religion vgl. 93ff. sowie 140ff.) Nach Cassirer sind Sprache und Mythos „nahe verwandt“ (140): „Die Entwicklung der Sprache zeigt in vielem denselben Entwicklungsverlauf wie das mythische und das religiöse Denken.“ (285) Das ist deshalb der Fall, weil beide Symbolsysteme selbstbezüglich sind dergestalt, dass in ihnen auf den Symbolismus selbst reflektiert und nach dem Sinn des Sinnes gefragt wird, der in den symbolischen Formen der Kultur zum Ausdruck gebracht wird. Breit ausgeführt hat Cassirer seine „Philosophie der symbolischen Formen“ in den drei Bänden seines gleichnamigen Werkes: Bd. 1: Die Sprache (1923); Bd. 2: Das mythische Denken (1925); Bd. 3: Phänomenologie der Erkenntnis (1929). Bei der Monographie „Was ist der Mensch?“ handelt es sich um die deutsche Übertragung des 1944 erstmals bei Yale University Press, New Haven, erschienenen „Essay on Man“.

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Gegenstandes werden, die hier nun als ein Sich-darstellen des Gegenstandes von ihm selber her erscheint“ (Anthr., 348). Entstehe die Sprache mithin im Kontext kultisch-ritueller Ergriffenheit, so sei damit ihr religiöser Ursprung auch in phylogenetischer Hinsicht erwiesen. Aus dem Ergebnis, dass die Sprache sowohl ontogenetisch als auch phylogenetisch einen religiösen Ursprung hat, ergibt sich die Kritik an der verbreiteten These wie von selbst, wonach die Sprache des Menschen ein Produkt menschlichen Handelns sei. Zwar hat Pannenberg gegenüber der verbreiteten These einer konstitutiven Sprachabhängigkeit des Denkens (vgl. Anthr., 329ff.) daran festgehalten, dass die Ausbildung kognitiver Funktionen dem Spracherwerb vorhergeht11 : auch wenn menschliche Intelligenz sich nur sprachlich artikulieren und erfassen lasse, so bliebe sie doch in ihren Grundbeständen der Sprache gegenüber prioritär (vgl. Anthr., 335). Nichtsdestoweniger lehnt er es entschieden ab, Sprache auf das Handeln eines stillschweigend vorausgesetzten Subjekts zurückzuführen, das scheinbar sprachlos und in vermeintlich reinem Denken sich selbst erfasst.12 Zwar gebe es „Formen des Sprechens, die zweifellos die Struktur der Handlung erkennen lassen“ (Anthr., 356), nämlich sog. performative Äußerungen. Doch sei es unstatthaft und eine Folge der „Hypertrophie des Subjektbegriffs im neuzeitlichen Denken“ (ebd.), jeden Sprachvollzug als einen illokutionären Akt zu qualifizieren. Namentlich das sprachliche Konstatieren sei erkennbar keine Handlung. „Den Darstellungsaspekt des Spiels hat die Sprechakttheorie bei ihrer Deutung der Sprache mit den Mitteln der Spieltheorie zu ihrem Schaden nicht berücksichtigt. Mag es auch im Gespräch Momente des Wettstreits geben – im gelingenden Gespräch bleiben sie der Sache, der das 11 Versteht man unter Intelligenz late dictu „die Gesamtheit möglicher Koordinationen, die das Verhalten eines Organismus strukturieren“ (J. Piaget, a.a.O., 98f.), dann geht deren Ausbildung der menschlichen Sprachentwicklung eindeutig voran. Für die Genese von Sprache sind nach Piaget figurative Übereinstimmungen motorischer Aktivitäten mit externen Ereignissen von grundlegender Bedeutung, wobei er zwischen drei Stufen der imitativen Entsprechung unterscheidet: „(1) senso-motorische Nachahmung, mit perzeptueller Akkommodation identisch, (2) verschobene Nachahmung (Gebärde) in Abwesenheit des Vorbilds, der Beginn der Symbolbildung, (3) internalisierte Nachahmung, das innere Bild“ (98), also die „interne Repräsentation eines externen Ereignisses“ (ebd.) als „Produkt der Symbolfunktion“ (ebd.). Unter Symbolfunktion versteht Piaget „das Vermögen des Individuums, ein Symbol zu konstruieren oder zu produzieren, um das, was das Individuum erkennt und was nicht präsent ist, zu repräsentieren“ (103). Im Unterschied zum bloßen Signal steht das Symbol als ein von seinem Signifikat unterschiedenes Zeichen für die Sache als erkannt. Die nach dem Glossar von Piagets Einführung in die genetische Erkenntnistheorie zitierten Begriffsbestimmungen stammen aus: H. G. Furth, Intelligenz und Erkennen. Die Grundlagen der genetischen Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1972. 12 Zum Verhältnis von Sprache und Denken und zu der verbreiteten Kennzeichnung des Sprechens als Handeln vgl. den Abschnitt über „Sprechakt und Gespräch“ (Anthr., 350ff.; zur Definition des Handlungsbegriffs vgl. 353ff.).

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Gespräch gilt und die in ihm zur Darstellung kommt, untergeordnet.“ (Anthr., 359) Sprache und Gespräch Ihr eigentümliches Wesen erschließt die Sprache nach Pannenberg im Gespräch.13 Sein Geist und der Zustand der Ergriffenheit, der es im Falle seines Gelingens kennzeichnet, erschließen, was es mit Sprache und sprachlichem Begreifen auf sich hat. Im Gespräch weist der Begriff stets über sich hinaus, um sich als Vorgriff zu realisieren. Ist das einzelne Wort „durch ein Ineinander von Bestimmtheit und Unbestimmtheit“ (Anthr., 362) charakterisiert, so steigert sich seine Bestimmtheit „im Zusammenhang des jeweiligen Satzes“ (ebd.), der die seine „geradezu der Unterbestimmtheit der Wörter“ (Anthr., 363) verdankt, die er variierend verbindet und mit spezifischer Bedeutung versieht. Doch auch im Satz „verliert sich die Unbestimmtheit nicht gänzlich. Darum ist der Sinn des einzelnen Satzes erst durch den Zusammenhang der Rede oder der Situation, in der er gesprochen wurde, festgelegt.“ (Ebd.) Aus der Kontextabhängigkeit von Sätzen erhellt, dass der Gang des Gesprächs in jeder seiner Phasen „in einem Ganzheitshorizont“ (ebd.) steht, der auf die „Ganzheit des Lebens“ (Anthr., 365) verweist, die gesprächsweise antizipiert wird. Die Verbindung von Sprache, Gespräch und Phantasie ergibt sich aus diesem Zusammenhang. Pannenberg hat ihr und der grundlegenden Bedeutung der Einbildungskraft für Vernunft und geistiges Leben des Menschen ein eigenes Kapitel gewidmet (vgl. Anthr., 365–372), um im Anschluss daran zusammenfassend auf die religiösen Implikationen der Sprache und ihre Wahrnehmung in der Theologie zurückzukommen (vgl. Anthr., 372–384). Entscheidend bleibt der Gedanke proleptischer Antizipation des Ganzen der Wirklichkeit, auf das alles sinnvolle menschliche Sprechen in der differenzierten Einheit von Darstellung, Aussage und Mitteilung ausgerichtet ist. „Wort Gottes wird dann nur dasjenige menschliche Wort heißen dürfen, das diese für jede geschichtliche Gegenwart noch verborgene, definitive Zukunft ansagt, und zwar so, daß in solcher Mitteilung die Zukunft Gottes von ihr selbst her gegenwärtig wird.“ (Anthr., 384) Religiöser Ursprung der Sprache Die Sprache des Menschen findet im Wort Gottes ihr Sinnziel, in dem sie gründet, und im menschlichen Gespräch spricht sich ein gemeinsames Sinnbewusstsein aus, das allen gesellschaftlichen Interaktionen und ihrer Institutionalisie-

13 Vgl. dazu im Einzelnen meinen Beitrag „Sprechen und Handeln“, in: K. Stierle / R. Warning (Hg.), Das Gespräch (Poetik und Hermeneutik XI), München 1984, 77–84.

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rung vorausgesetzt ist.14 Mit Recht habe man daher, so Pannenberg, die Sprache „als ‚Urinstitution‘ bezeichnet“ (Anthr., 395). Allein der in ihr artikulierte, religiös fundierte Sinn vermöge die Habitualisierung sozialer Verhaltensweisen und die Integration von Institutionen in den Zusammenhang einer gemeinsamen Lebenswelt herbeizuführen. Ohne Inanspruchnahme solchen Sinnes lasse sich die Überordnung von Institutionen über den Einzelmenschen nicht sinnvoll begründen; diese müssten dann aufhören, „dauerhafte Sinngestalten menschlichen Zusammenlebens“ (Anthr., 394) zu sein. Gesellschaftliche Institutionen leben von ihrem religiös-kulturellen Sinngehalt, dessen primäre Ausdrucksgestalt die Sprache ist. Auch wenn der sprachliche Ausdruck variiert und die religiös-kulturellen Sinnformationen Wandlungen unterliegen, ist nach Pannenberg mit in der Natur des Menschen begründeten Konstanten zu rechnen, die trotz aller lebensweltlichen Unterschiede typische und erstaunlich gleichförmige Formen der Institutionenbildung bedingen. Näherhin handle es sich um die beiden elementaren Bestimmungsmomente, welche das korrelative Verhältnis der Individuen und die institutionalisierten Formen ihrer Wechselseitigkeit durchweg und ausnahmslos strukturierten, nämlich um Partikularität und um Gemeinsamkeit. „Einerseits sucht ein jeder, sich dem andern gegenüber zu behaupten. Das ist das Moment der Partikularität. Für sich allein vermag es keine dauerhafte Beziehung zu begründen. Das geschieht erst durch Verbindung mit dem Moment der Gemeinschaftlichkeit, das dazu motiviert, sich auf den andern einzustellen.“ (Anthr., 399f.) Partikularität und Gemeinsamkeit Pannenberg gliedert seine materiale Institutionenlehre unter dem Gesichtspunkt, welches der beiden Korrelationsmomente jeweils im Vordergrund steht, wobei als Ursprungsformen aller institutionellen Gestaltung „zwei (und nur zwei) Bereiche“ (Anthr., 400) gelten: einerseits Ehe und Familie, andererseits Eigentum und Wirtschaft als Produktion und Austausch von Eigentum: „Während in der Familie das Moment der individuellen Besonderheit dem der Gemeinschaft untergeordnet ist, ist im Bereich von Eigentum und privater Wirtschaft umgekehrt die Gemeinschaftsbildung dem partikularen Interesse der Selbstbehauptung untergeordnet. In beiden Fällen wird jedoch der Wesensbestand der Institution zerstört, wenn das jeweils untergeordnete Moment gänzlich vernachlässigt bleibt.“ (Ebd.) Alle übrigen Institutionen lassen sich Pannenberg 14 „G. H. Mead hat die Erfassung desselben Sinngehaltes durch verschiedene Individuen auf die Fähigkeit zurückgeführt, sich in den andern zu versetzen. Diese Fähigkeit dürfte jedoch ihrerseits in der spezifisch menschlichen Fähigkeit zur Sachlichkeit des Weltverhältnisses fundiert sein, die wiederum in der Exzentrizität der menschlichen Lebensform wurzelt.“ (Anthr., 395)

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zufolge „als Varianten, Weiterbildungen, Verbindungen der beiden formalen Grundtypen begreifen, die in den Institutionen des Eigentums einerseits und der Familie andererseits am reinsten und ursprünglichsten ausgeprägt sind“ (Anthr., 401). Bleibt hinzuzufügen, dass Pannenberg die „Beschreibung der Verknüpfung von Partikularität und Gemeinschaftlichkeit im Prozeß der Institutionalisierung“ (Anthr., 402f.) für geeignet hält, „die traditionelle theologische Lehre von den Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen zu ersetzen“ (Anthr., 403). Eigentum und Wirtschaft Was das Eigentum als institutionelle Größe betrifft, so hat es „sein Wesen im andere ausschließenden Verfügungsrechte über eine Sache“ (Anthr., 404). Das Exklusivitätsmoment, ohne dass sich der Begriff des Eigentums nicht fassen lasse, per se als Indiz inhumanen Unrechts zu qualifizieren, lehnt Pannenberg mit der Begründung ab, es gehöre zum Menschsein des Menschen, Lebensvorsorge zu treffen und daher Eigentum zu bilden. Als menschengemäß erworben könne dieses nachgerade dann gelten, wenn es aus Arbeit als der humanspezifischen Ursprungsform von Naturkultivierung hervorgegangen sei. Auch Arbeitsteilung sowie Tausch als Grundakt der Ökonomie seien einschließlich von „Lohnarbeit als Tausch der Arbeitskraft gegen Geld“ (Anthr., 408) nicht pauschal zu perhorreszieren und zu verurteilen. Zu betonen sei aber die Sozialpflichtigkeit von Eigentum, die sich unmittelbar aus dessen institutioneller Form ergebe. Denn zu einer Institution werde das Eigentum erst durch seine Rechtsförmigkeit. Eigentum ist rechtmäßiger Besitz. „Erst die Anerkennung durch die Gemeinschaft bestätigt den Besitzer als rechtmäßigen Eigentümer. Darin zeigt sich eine Priorität der Gemeinschaft vor dem Eigentümer bei der Konstitution des Eigentums, aber doch auch eine Bejahung der Partikularität des Eigentümers – handle es sich nun um eine Familie, einen Verband oder ein Individuum – durch die Rechtsgemeinschaft. Letzteres ist besonders bedeutsam im Hinblick auf das individuelle Eigentum: Durch die Anerkennung individuellen Eigentums bejaht und respektiert die Gesellschaft die individuelle Person, ihr selbstständiges Verfügungsrecht über einen wenn auch begrenzten Sachbereich. Das geschieht natürlich nicht nur durch Anerkennung des Eigentums, sondern auch durch die Garantie anderer Persönlichkeitsrechte. Aber die Garantie des Eigentums ist in der neuzeitlichen Rechtsgeschichte ein wesentlicher Aspekt der Garantie der individuellen Freiheit der Person gewesen.“ (Anthr., 410f.) Als Kronzeuge wird Hegel aufgerufen, der in seiner Rechtsphilosophie die Eigentumsgewähr auf die vom Christentum entdeckte individuelle Personenfreiheit zurückgeführt habe. „Von da aus gesehen erweist sich die Kritik des Privateigentums

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bei Marx als Indiz einer mangelhaften Berücksichtigung der Bedeutung des Individuums im Zusammenhang des gesellschaftlichen Lebens. Das entkräftet allerdings nicht die Wahrheitsmomente dieser Kritik, so weit sie sich gegen eine abstrakt individualistische Eigentumsauffassung und Eigentumsordnung richtet.“ (Anthr., 413) Ehe und Familie Steht das Institut des Eigentums unter der Prärogative des Partikularitätsmoments im Korrelationszusammenhang habitualisierten menschlichen Verhaltens, so sind die Einrichtungen von Ehe und Familie vorzugsweise durch das Moment der Gemeinschaftlichkeit charakterisiert, ohne dass hier wie dort die jeweils andere Polarität fehlen dürfte. Wie ausschließlich partikular bestimmtes Eigentum asoziale Folgen zeitigt, so verkehrt das Gemeinschaftsinstitut der Familie seinen Sinn, wenn es die einzelnen Glieder zu bloßen Funktionsmomenten eines übergeordneten Allgemeinen herabsetzt. Pannenberg unterstreicht diesen Hinweis u. a. dadurch, dass er die Familie von der Ehe und nicht umgekehrt die Ehe von der Familie her zu begründen sucht. Das Institut der Ehe ist mit der „Integration des sexuellen Verhaltens in die kulturelle Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens“ (Anthr., 416) eng verbunden, erschöpft sich aber keineswegs in dieser Funktion. Was die Kultivierung der nicht an fixe Brunftzeiten gebundenen, sondern dauerhaften Sexualität des Menschen betrifft, so sieht Pannenberg die „Tendenz zur Dauerbeziehung“ (Anthr., 417) bereits durch die biologische Natur des Menschen vorbereitet. Das menschliche Geschlechtsleben folge nicht bloßen Reiz-Reaktions-Mustern, sondern sei auf Erotisierung und damit auf eine individuelle Partnerschaftlichkeit angelegt, die nicht im Gattungsakt aufgehe. Ein weiterer Faktor, menschliche Sexualverhältnisse auf geregelte Dauer zu stellen, sei durch den Umstand gegeben, dass Menschenkinder, die sich als mögliche Folge von ihnen einstellen, einer extrem langen Pflege bedürften, um biologisch überlebensfähig zu sein. Ist die Etablierung fester Zweierbeziehungen schon unter Gesichtspunkten der Bioanthropologie nahegelegt, so bedurfte es zur gesellschaftlichen Ausbildung der monogamen Ehe dennoch eines langen kulturgeschichtlichen Prozesses, dessen Etappen Pannenberg in der Absicht rekonstruiert, seine religiösen Fundamente und Implikationen offenzulegen.15 „Wenn die Familie nicht ledig15 Eine ausführliche Bezugnahme auf die Auseinandersetzung A. Gehlens mit C. Lévi-Strauss hinsichtlich der „Problematik des Totemismus und seine Bedeutung für die Bildung der Institutionen von Ehe und Familie“ (Anthr., 420) gehört in diesen Zusammenhang (vgl. Anthr., 419ff.). Unter Totem versteht man eine Entität, zumeist ein Tier, welche durch den eigentümlichen Bezug, in dem Menschen zu ihr stehen, Verwandtschaftsbeziehungen unter ihnen zu generieren vermag. Totemismus ist der Name für die entsprechende Glaubenshaltung. Totemistisch verbundene Gruppen bzw. Kollektive dürfen untereinander nicht heiraten. Wie

Das Medium der Sprache und der kulturelle Sinngehalt der Institutionen bei Pannenberg

lich als soziale Gruppe, wenn auch besonderer Art, und die Ehe nicht lediglich als Vertragsverhältnis zu verstehen sind, wenn vielmehr beide als Institutionen ihren Gliedern mit dem verpflichtenden Anspruch einer ihnen übergeordneten Wirklichkeit begegnen, so beruht dieser Anspruch letztlich auf einer religiösen Fundierung.“ (Anthr., 423) Diese bleibt nach Pannenberg „durch alle geschichtlichen Wandlungen hin, die die Strukturen von Familie und Ehe, aber auch die Religion selber erfahren haben, maßgeblich“ (Anthr., 422). Auch unter säkularen Bedingungen bedürfe es einer religiösen Grundlegung und zwar insbesondere dann, wenn man, wofür Pannenberg entschieden plädiert, die Ehe nicht von der Familie, sondern umgekehrt, die Familie von der Ehe und zwar von der Einehe her zu verstehen hat. Zur Norm sei diese nicht erst im Christentum, sondern vielfach auch im Kulturbereich anderer Religionen geworden. Doch habe das Christentum ihr einen „neuen und menschlich zentralen Sinn gegeben“ (Anthr., 429), etwa indem es sie „als Darstellung der durch Jesus Christus erneuerten Gemeinschaft der Menschen überhaupt verstehen“ (ebd.) konnte. Diese „religiöse Sinnvertiefung“ (ebd.) des Eheinstituts sei unter säkularen Bedingungen weiterhin virulent, weil ohne sie an der gerade für das neuzeitliche Eheverständnis charakteristischen Selbstzwecklichkeit der ehelichen Lebensgemeinschaft nicht festgehalten werden könne. Als exemplarische „Darstellung der Bestimmung des Menschen überhaupt“ (Anthr., 427) muss die monogame Ehe nach Pannenberg nicht erst durch externe Zwecke gerechtfertigt werden; sie trägt ihren Sinn vielmehr in sich selbst. In diesem Sinn, der in der Selbstzwecklichkeit „freie(r) Gegenseitigkeit“ (ebd.) bestehe, sei indes „die Bereitschaft zur Annahme des aus der ehelichen Gemeinschaft hervorgehenden neuen Lebens (eingeschlossen), weil sonst die im Eheentschluß aufgegebene isolierte Individualität der Eheleute doch wieder zur letzten Zweckbestimmung ihrer Gemeinschaft würde. Ohne die grundsätzliche Bereitschaft zum Kinde würde die schon das Wesen der ehelichen Gemeinschaft bestimmende Einheit der Annahme des eigenen Lebens als Gabe mit der Bereitschaft, selber Leben zu geben, aufgelöst.“ (Anthr., 427) So wenig Pannenberg die Ehe zu einer Funktion familiärer Zwecke bzw. von Zwecken geregelter Fortpflanzung erklärt, so sehr hält er doch an ihrer Zusammengehörigkeit mit Elternschaft fest, die für ihren Begriff konstitutiv sei. Staat und Gesellschaft Der Sinn der Ehe ist nicht durch den Zweck der Generierung von Nachkommen begründet. Gleichwohl ist sie ihrem Wesen nach auf Nachkommenschaft und

man die „Koppelung von Totemismus und Exogamie“ (Anthr., 421) genau zu denken hat, ist strittig.

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damit auf Familienbildung angelegt. Die Familie ist nach Pannenberg „die ontogenetisch und wohl auch phylogenetisch erste Erscheinungsform des individuelle Identität ermöglichenden sozialen Lebenszusammenhangs“ (Anthr., 433), dessen weitere Entwicklungsmomente in der „Anthropologie in theologischer Perspektive“ unter den Gesichtspunkten der politischen Herrschaftsordnung sowie ihrer Legitimation entfaltet werden und zwar unter ausführlicher Bezugnahme auf die gelehrte Diskussion der Thematik in Vergangenheit und Gegenwart. Analog zu den Ausführungen über Eigentum und Wirtschaft einerseits sowie Ehe und Familie andererseits besteht das Hauptziel der Argumentationen darin, die religiösen Wurzeln und Basisgründe herauszustellen, ohne welche die Institutionen von Staat und Gesellschaft nach Pannenbergs Urteil keinen dauerhaften Bestand haben können. Eine argumentative Schlüsselstellung kommt dabei der Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Lehre von der Volkssouveränität zu (vgl. Anthr., 455ff.), die „das Volk an die Stelle Gottes gesetzt“ (Anthr., 455) habe. Ihrem Aufstieg zum politischen Fundamentalbegriff entsprach nach Pannenberg „die Verselbständigung der Gesellschaft gegenüber der politischen Ordnung bis hin zur Auffassung des Staates als Funktion der Gesellschaft“ (Anthr., 457). An dieser Stelle wird Hegel in Stellung gebracht, der die bürgerliche Gesellschaft als System der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung beschrieben habe mit dem Ziel, ihre Antagonismen durch den Rechtsstaat aufheben und versöhnen zu lassen. Pannenberg bescheinigt Hegels Idee des sittlichen Staates ein hohes Maß an Solidität und gibt dessen Verhältnisbestimmung von Staat und Gesellschaft anderen Konzepten gegenüber den eindeutigen Vorzug. Doch sei auch im Hegel’schen Staatsmodell „der Gedanke der Repräsentation einer metaphysisch begründeten Ordnung durch die politischen Herrschaftsstrukturen eher zu schwach als zu stark ausgeprägt“ (Anthr., 458). Diese Schwäche müsse beseitigt werden, um die notorische Legitimationskrise des säkularen Staates zu überwinden. Es müsse eingesehen werden, dass auch ein modernes Staatswesen auf religiöse Legitimierung seiner politischen Herrschaftsordnung nicht verzichten könne. „Rechnete man auf dem Höhepunkt des neuzeitlichen Säkularismus mit der Möglichkeit eines Absterbens der Religion, so erscheint heute – zumindest auf längere Sicht – eher der Fortbestand einer von ihren religiösen Wurzeln abgeschnittenen, rein säkular definierten gesellschaftlichen Ordnung als gefährdet.“ (Anthr., 462)16 16 Nach Pannenberg steht zu erwarten, dass der Verfallsprozess säkularer Gesellschaftsordnungen „solange anhalten wird, wie die Besinnung auf die religiösen Grundlagen der abendländischen Normvorstellungen für das politische Leben und seine Ordnung vermieden oder vertagt wird“ (Anthr., 465). Vgl. ders., Die theokratische Alternative. Die Einheit der Religion als Bedingung für die praktische Einheit der Gesellschaft, in: R. Löw u. a. (Hg.), Fortschritt ohne Maß? Eine

Das Medium der Sprache und der kulturelle Sinngehalt der Institutionen bei Pannenberg

Säkularität und Theonomie Der Säkularismus lebt von Bedingungen, die er selbst weder erzeugen noch erhalten kann. Verweist er die Religion des Hauses, kehrt sie durch die Hintertür in der pervertierten Gestalt einer Ideologie zurück. Ideologien erfüllen „faktisch eine quasireligiöse Funktion“ (Anthr., 465), die immer dann wirksam wird, wenn in einer Gesellschaft Religion nicht mehr explizit als Religion geübt wird und das Gemeinwesen einer gemeinsamen religiösen Basis entbehrt. Sie im Sinne des Christentums zu restituieren und revitalisieren ist das praktische Zentralanliegen von Pannenbergs politischer Theologie, als deren Leitbegriff derjenige des Reiches Gottes als einer Herrschaft der Gerechtigkeit und der Liebe fungiert. Alle legitime politische Macht finde am Reich-Gottes-Gedanken das Maß ihrer Ordnung, wozu die Einsicht gehöre, dass keine menschliche Herrschaftsordnung dem Gottesreich gleichzusetzen sei. Nur im Modus der Selbstunterscheidung von ihm und im Bewusstsein ihrer Vorläufigkeit können Staat und Gemeinwesen ihrer Bestimmung im Sinne einer humanen Kultur entsprechen. Was Tillich Theonomie genannt habe, dürfe mit Theokratie im Sinne einer „Verschmelzung von Staat und Kirche“ (Anthr., 470) keineswegs verwechselt werden. Im Gegenteil: allein die sorgsame Differenzierung von Staat und Religionsgemeinschaft biete eine Gewähr für die theonome Kultur eines Gemeinwesens. Sie habe sich innerhalb der Religionsgemeinschaft darin zu reflektieren, dass diese sich in ihrer institutionellen Gestalt vom Gehalt der Botschaft, deren Verkündigung ihr bestimmungsgemäß aufgetragen ist, unterschieden wisse und klar unterscheiden lasse. Dem Selbstverständnis des Christentums gemäß kann die kirchliche Gemeinschaft Zeichen des Reiches Gottes und Vorbild für ein ziviles Zusammenleben der Menschen in Gesellschaft und Staat nur dann werden, wenn sie den Unterschied zu Gott und seiner kommenden Herrschaft wahrt und jede Gleichsetzungstendenz vermeidet. Pannenbergs Plädoyer für eine Rückbesinnung auf die religiösen Quellen des säkularen Gemeinwesens hat mit theokratischen Bestrebungen nicht nur nichts gemein, sondern steht im Gegensatz zu ihnen. Eine theonome Kultur des politischen und des kirchlichen Lebens kann es nach seinem Urteil nur unter der Voraussetzung geben, dass Staat und Kirche sich sowohl untereinander als auch vom Gottesreich, auf das sie beide in ihrer Differenz bezogen sind, unterscheiden und unterscheiden lassen. Theonomie

Ortsbestimmung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, München 1981, 235–251. Der in Pannenbergs Bibliographie unmittelbar vorhergehende Titel lautet: ders., Ohne Religion sind die Probleme der Menschen nicht zu lösen. Zum 150. Todestag Georg Friedrich Hegels, in: Nachrichten der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern 36 (1981), 429–431.

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und Säkularität schließen sich sonach keineswegs aus, im Gegenteil: nach Pannenberg bedarf ein säkulares Gemeinwesen theonomer Grundlegung, um seine Säkularität zu erhalten. Dies ist der eigentliche Skopus der These, wonach Religion als „Konstante des Menschseins“ (Anthr., 469) und als anthropologisches Universale, das „für die Eigenart des Menschen kennzeichnend ist“ (ebd.), für die Legitimation einer politischen Herrschaftsordnung in Staat und Gesellschaft heute wie ehedem unverzichtbar sei.17 14.3

Recht, Moral und Sitte in Hegels Philosophie des objektiven Geistes

Der Mensch ist, was er ist, als animal sociale. Menschliche Gemeinschaft gehört wesentlich zu seinem Sein. Die Rede von dem Menschen bestätigt dies, indem sie „auf die Einheit der menschlichen Bestimmung in allen Menschen“18 verweist. In einem kurzen Text seiner „kleinen“ Anthropologie über „Person in Gesellschaft“ (vgl. 58–67) hat Pannenberg skizziert, was damit gesagt ist. Das Schlüsselwort lautet: Anerkennung. „Weil es den Menschen unverlierbar ist, Person zu sein, darum ist alle Verbindung zwischen Menschen nur auf der Grundlage gegenseitiger Anerkennung möglich.“ (61) Es sei, so Pannenberg, ein unschätzbarer Vorzug der Hegel’schen Philosophie des subjektiven und objektiven Geistes, „den Vollzug der Anerkennung als Grundakt aller menschlichen Gemeinschaft erkannt“ (110, Anm. 61) zu haben. Gegenseitige Anerkennung Recht, Moral und Sittlichkeit sind Manifestationsgestalten der Liebe (vgl. 67–76: Recht durch Liebe), die sich vermöge der unveräußerlich zu ihr gehörenden Treue auf verlässliche Dauer stellt und so „gleichsam institutionalisiert“ (70). Pannenberg exemplifiziert, was er meint, am Beispiel der monogamen Ehe, die ihm, wie Hegel, im Verein mit der Familie als Grundform konkreter Sittlichkeit gilt (vgl. hierzu im Einzelnen 64ff.). In einem nächsten Schritt wird sodann der Gesellschaftsprozess thematisiert (vgl. 77–85), worin sich ebenfalls eine Analogie zum philosophischen Vorgehen Hegels entdecken lässt19 , dessen 17 Zu den Auswirkungen, die Pannenberg von der Erneuerung einer theonomen Kultur der Säkularität für Recht, Wirtschaft und Kunst etc. erwartet, vgl. Anthr., 470f. 18 W. Pannenberg, Was ist der Mensch?, 58. Die Seitenverweise in der folgenden Anmerkung und im Text beziehen sich hierauf. 19 Unter Gesellschaftsprozess versteht Pannenberg den Vorgang, „bei dem das Verhältnis zur Natur immer mehr in die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen verflochten wird … Durch ihn vereinigen sich die Menschen nicht nur untereinander, sondern auch mit der Natur, indem sie die Natur gemeinsam unterwerfen.“ (77) Zu den Antagonismen des gesell-

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Philosophie des objektiven Geistes sich schließlich in der Staatslehre, näherhin in der Theorie vom inneren und äußeren Staatsrecht sowie der Weltgeschichte vollendet. Vorgeordnet ist dem – in der Lehre von der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und vom Staat entwickelten – Begriff der Sittlichkeit derjenige des Rechts und der Moralität mitsamt ihrer jeweiligen Realisierungsformen. Im Unterschied zu anderen Systemteilen wie etwa der Philosophie des subjektiven Geistes hat Hegel seine in Bezug auf Recht, Moralität und Sittlichkeit enzyklopädisch skizzierte Philosophie des objektiven Geistes zum Gebrauch für seine Vorlesungen in wesentlichen Grundzügen monographisch ausgearbeitet und zwar unter dem Doppeltitel „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ oder „Naturrecht und Staatswissenschaften im Grundrisse“; erschienen ist das Werk im Jahr 1821, nachdem vorher schon einige Kollegs zum Thema gehalten worden waren, denen bis hin zu der Fragment gebliebenen Vorlesung vom WS 1831/32 noch weitere folgen sollten.20 David Friedrich Strauß soll, als er im Hause Schleiermachers vom Tode Hegels erfahren hatte, zum Ärger des Hausherrn gesagt haben, um des Verstorbenen willen sei er nach Berlin gekommen. Tatsächlich hatte er Hegels rechtsphilosophische Vorlesung vom WS 1831/32 besucht. Seine Nachschrift endet mit dem lakonischen Vermerk: „Am 14[.] Abends ist Hegel an der Cholera gestorben.“ (GW 26/3, 1495) Der letzte notierte Kollegsatz lautet: „Die Freyheit ist das Innerste, und aus ihr ist es, daß der ganze Bau der geistigen Welt hervorsteigt.“ (Ebd.) Zweite Natur Mit dem entwickelten Begriff des freien Geistes, der sich als frei weiss und will, hatte sich die Philosophie des subjektiven Geistes vollendet.21 An diese Prämisse schaftlichen Prozesses und zur Auseinandersetzung mit Karl Marx und dem Marxismus, die Pannenberg intensiv beschäftigte, vgl. 78ff.; zu Hegel 112f. Anm. 3. Systematisch bedeutsam für Pannenbergs Rechtstheorie ist des Weiteren die Unterscheidung zwischen dem Wesensbegriff des Rechts und seiner positivierten Erscheinungsgestalt: „nicht das Recht überhaupt, wohl aber das positivierte Recht, die Gesetzesnorm, hat es mit der sündhaften Selbstbezogenheit der zur Gemeinschaft zusammengeschlossenen einzelnen zu tun.“ (72) 20 In GW 26 sind in drei Teilbänden Hegels Vorlesungen über die Philosophie des Rechts herausgegeben worden und zwar nach den Nachschriften zu den Kollegien der Jahre 1817/18, 1818/19 und 1819/20 (GW 26/1), 1821/22 und 1822/23 (GW 26/2) sowie 1824/25 und 1831 (GW 26/3). GW 26/4 wird einen editorischen Bericht und Anmerkungen enthalten. Die Vorlesung vom WS 1831/32 blieb durch Hegels Tod unvollendet. Das letzte vollständige Kolleg von 1824/25 ist durch eine Nachschrift Karl Gustav Julius von Griesheims dokumentiert (GW 26/3, 1047–1486); Hegel legte der Vorlesung sein „Handbuch“ (GW 26/3, 1051) von 1821 zugrunde. 21 Offenbar geworden ist der unendliche Wert des Subjekts in seiner je eigenen Individualität nach Hegel im Christentum. In diesem hat im Unterschied zur vorchristlichen Welt das Individuum nicht wegen dieser oder jener natürlichen oder sozialen Eigentümlichkeit, sondern als solches Unendlichkeitswert, „indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes, dazu bestimmt ist,

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schließt die Philosophie des objektiven Geistes an, um sie in sich aufzuheben. Ihr Inhalt ist die rechtliche, moralische und sittliche Wirklichkeit, in welcher der freie Geist sich realisiert. Der Titel des Handbuchs zeigt, dass der Rechtsbegriff nicht nur dasjenige umfasst, was Hegel in Bezug auf das erste Moment der Realisierung geistiger Freiheit das abstrakte oder formelle Recht nennt, sondern den Gesamtzusammenhang der Philosophie des objektiven Geistes bezeichnen kann. Der Inbegriff der „Freiheit die sich Dasein giebt“ (GW 26/3 1065) kann dann „Rechtssystem“ (GW 26/3, 1066) genannt werden.22 Das Thema bleibt bei wechselnder Terminologie und unterschiedlicher Titulatur identisch, nämlich „das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht, als eine zweite Natur“ (ebd.).23 Den Willen, sich in Form einer Zweiten Natur eigene Objektivität zu verschaffen, realisiert der freie Geist über die Entwicklungsstufen des abstrakten Rechts, der Moralität und der Sittlichkeit. „Recht muß gefertigt und in diesem Entstehen gerechtfertigt werden.“24 Beides unternimmt Hegel, indem er Recht zu Gott als Geist sein absolutes Verhältniß, diesen Geist in sich wohnen zu haben, d.i. daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist“ (GW 20, 477 [Enz. 3 §482]). Zu weltlicher Existenz gelangt die Idee individueller Freiheit, wie sie im freien Vernunftwillen des einzelnen Menschen manifest ist, indem sie aus der Unmittelbarkeit ihrer selbst heraustritt und sich zur Gegenständlichkeit rechtlicher, moralischer und sittlicher Wirklichkeit entwickelt, um schließlich in Kunst, Religion und Philosophie zum absoluten Geist erhoben zu werden. 22 Zum Doppeltitel des Handbuchs von 1821, zum Begriff des Naturrechts in seinem Verhältnis zum positiven Recht und zur Staatswissenschaft vgl. etwa die ausführlichen Erläuterungen in GW 26/3, 1051ff. 23 Zu Begriff und Theorie der „Zweiten Natur“ bei Hegel vgl. F. Ranchio, Dimensionen der zweiten Natur. Hegels praktische Philosophie, Hamburg 2016. Der Ausdruck „Zweite Natur“, der „von Hegel selbst erst in der Enzyklopädie und den Grundlinien der Philosophie des Rechts eigens eingeführt“ (22) wird, bezeichnet im Unterschied zur ersten in ihrer natürlichen Unmittelbarkeit jene Natur, welche mittels menschlicher Selbst- und Weltkultivierung hergestellt wird. Zur Bedeutung der Gewohnheit, durch die der Geist heimisch wird in der leibhaften Natur, vgl. bes. 189ff. Durch die Macht der Gewohnheit werden Freiheit und Autonomie zur Zweiten Natur. Ranchio zeigt, dass Hegel die Bedeutung der Gewohnheit nicht auf die Anthropologie als die Lehre vom vorbewussten Stadium subjektiven Geisteslebens beschränkt. „Hegels Theorie der Gewohnheit bildet vielmehr den wesentlichen Bestandteil einer allgemeinen Konzeption des Geistes, der zufolge alle seine Tätigkeiten auf jeder Stufe ihrer Entwicklung immer noch durch die Form der zweit-natürlichen Unmittelbarkeit begleitet werden sollen.“ (229f.) Alle Arten und Stufen der Geistestätigkeit seien, wie Hegel selbst ausdrücklich bestätige, von der Form der Gewohnheit umfasst. „Indem sie als ein fundamentaler Verleiblichungsprozess operiert, der die erste Natur des Menschen in eine zweite geistige transformiert, ist sie eine notwendige … Dimension des Lebens des endlichen Geistes.“ (230) Auch die Normativität sittlicher Institutionen ließe sich ohne Bezug auf Gewohnheitsvollzüge der Naturkultivierung nicht begründen. 24 P. Kirchhof, Die Sprache des Rechts, in: ders. (Hg.), Wissenschaft und Gesellschaft. Begegnung von Wissenschaft und Gesellschaft in Sprache, Heidelberg 2010, 77–92, hier: 89.

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aus dem Willen des freien Geistes hervorgehen lässt, in dessen Vernunftwesen sich die Philosophie des subjektiven Geistes vollendet. Abstrakte Rechtsform gibt der Vernunftwille seiner Freiheit in Gestalt des Eigentums. Durch seine Sicherung gewährleistet das formelle Recht das äußere Dasein der Freiheit. In der Moralität hinwiederum als der zweiten Entwicklungsstufe seiner Objektivität geht der Geist in sich und verinnerlicht das Recht. Aufgehoben ist die durch ihren momentanen Gegensatz bedingte Abstraktheit äußeren Rechts und innerlicher Moral in der Sittlichkeit als beider Einheit und Wahrheit. Daraus erhellt, dass Hegel Sittlichkeit und Moralität im Unterschied zum gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht gleichbedeutend, sondern „in wesentlich verschiedenem Sinne“ (GW 14/1, 49) verwendet, sofern in der Sittlichkeit die Freiheit des Geistes nicht in moralischer Innerlichkeit verharrt, sondern substantiell, nämlich in der Einheit von freier Subjektivität und Objektivität existiert.25 Die unmittelbare Existenzform substantieller Sittlichkeit ist die Familie, die reflex vermittelte, aus der identischen Unmittelbarkeit der Sitte in die Differenz herausgehobene diejenige der bürgerlichen Gesellschaft, die voll entwickelte schließlich die substantielle Sittlichkeit des Staates als „die in der freyen Selbständigkeit des besondern Willens eben so allgemeine und objektive Freyheit“ (ebd.), wie es in § 33 der „Grundlinen der Philosopie des Rechts“ heißt. Als Manifestationsgestalt des Geistes seines Volkes steht der an sich selbst souveräne Einzelstaat in einem geschichtlichen Verhältnis zu anderen Staaten und deren Volksgeistern, um in der Weltgeschichte als dem, wie Hegel sagt, Weltgerichte in den Weltgeist aufgehoben zu werden, „dessen Recht das Höchste ist“ (ebd.).26 Formelles Recht Die erste Stufe im Gang „der Entwickelung der Idee des an und für sich freien Willens“ (GW 26/3, 1106) ist durch das abstrakte oder formelle Recht bezeichnet. In ihm gibt der subjektive Geist seiner Freiheit eine äußere Sphäre objektiver Existenz. Worauf es ankommt, ist ausschließlich die rechtliche Existenzsicherung des Ichsubjekts als einer förmlichen Rechtspersönlichkeit und zwar im Bezug auf sein äußeres Dasein und das äußere Dasein anderer Rechtspersonen. Kennzeichen förmlicher Rechtspersonalität ist das Recht an Sachen, die als 25 Zur Unterscheidung von Moralität und Sittlichkeit und zu der Bemerkung Hegels, dass Kants Moralphilosophie den Standpunkt der Sittlichkeit prinzipiell unmöglich mache, ja zernichte (vgl. GW 14/1, 49), vgl. R.-P. Horstmann, Kant und der „Standpunkt der Sittlichkeit“. Zur Destruktion der Kantischen Philosophie durch Hegel, in: Th. Oehl/A. Kok (Hg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Leiden/Boston 2018, 784–797. 26 Detailliert erläutert hat Hegel die Einteilung der Philosophie des objektiven Geistes in den Vorlesungen zur Rechtsphilosophie, etwa in der durch eine Nachschrift Griesheims dokumentierten von 1824/25 (GW 26/3, 1106–1111).

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an sich selbst unfrei, unpersönlich, rechtsfrei, kurzum: sächlich den äußeren Bestand subjektiver Freiheit dadurch gewährleisten, dass sie rechtmäßig in Besitz genommen und rechtliches Eigentum werden. Abstraktes Recht ist mithin wesentlich Sachenrecht, sein bestimmender Begriff derjenige des Eigentums und zwar erstens im Sinne des unmittelbaren, zweitens des durch den freien Willen eines Anderen vermittelten und drittens des unrechtmäßig enteigneten und auf rechtliche Weise wiedererlangten Eigentums. An sich selbst und in seiner Unmittelbarkeit genommen ist der Begriff des Eigentums durch die Momente der Inbesitznahme einer Sache, durch ihren Gebrauch und durch die Möglichkeit ihrer Veräußerung bestimmt. Das Vermögen der Veräußerung von Eigentum gibt seinem Begriff eine reflexive Vermittlungsform, deren Rechtsgestalt nach Hegel der Vertrag darstellt. Der Vertrag gewährleistet rechtmäßigen Eigentumstausch, also Veräußerung und Erwerb von Eigentum durch wechselseitige Willenszustimmung der Vertragspartner. Der Tauschvertrag kann sich auf vollständigen Eigentumswechsel, auf Eigentumsvermietung im Sinne einer Veräußerung zu temporärem Gebrauch gegen Mietzins oder etwa auf Sachdienstleistungen beziehen, die durch Lohn entgolten werden. Welcher Stellenwert dabei der Lohnarbeit und dem Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zukommt, wäre ebenso einer eigenen Untersuchung wert wie der Status, den Hegel dem Schenkungsvertrag im Unterschied zum Tauschvertrag zuweist. Was schließlich das dritte Realisierungsmoment im Begriff des abstrakten Rechts anbelangt, so handelt es sich dabei um „das Wiederinbesitzbekommen eines Eigenthums, welches mir durch den Willen eines Anderen entrissen war, so daß ich durch die Negation dieses fremden Willens, wieder zu meinem Eigenthum komme, zu meinem Recht“ (GW 26/3, 1112). Auch hier bleibt mithin Thema der Erörterung das Eigentum. „Zugleich aber zeigt sich darin die innere Bestimmtheit, denn im Dritten, im Aufheben des Unrechts, ist nicht sowohl das Eigenthum, als das Recht als solches die Sache worauf es ankommt.“ (Ebd.) Der „Uebergang zur Moralität“ (ebd.) als der „Reflexion des Rechts in sich selbst“ (ebd.) ergibt sich hieraus folgerichtig. Eigentum und Besitz Auch wenn es im Zuge seiner Entwicklung notwendigerweise auf eine Grenze stößt, die es reflexiv zu verinnerlichen und moralisch zu verarbeiten gilt, stellt das abstrakte Recht innerhalb der Philosophie des objektiven Geistes einen einheitlichen Sachbereich dar, dessen identitätsstiftender Begriff derjenige des Sacheigentums ist. Das Zugriffsrecht der freien Rechtspersönlichkeit auf Sachen ist nach Hegel grundsätzlich unbegrenzt. Es gibt keine Sache, welche ein Ding an sich wäre, das sich nicht aneignen ließe. Alles, was Sache ist, steht unter der Bedingung, angeeignet und ins Meinige überführt werden zu können.

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Das abstrakte Ich, welches den Begriff der Rechtspersönlichkeit ausmacht, ist Aneignungsfähigkeit überhaupt. Im Eigentum verschafft es sich sein erstes Dasein, wobei es nach Hegel zunächst und primär sein organischer Körper ist, welchen das Ich sich aneignet, um lebendig zu sein in ihm. Persönliche Eigentumsrechte beziehen sich demnach in erster Linie auf Leib und Leben und in zweiter Linie auf all das, was zu Erhalt und Förderung menschlichen Leibes und Lebens nötig ist. Um in Bezug auf den eigenen Körper als dem Ureigentum des Ich zu keinen Fehlurteilen zu gelangen, muss wahrgenommen werden, dass dieser zwar einerseits erst durch Aneignung zum Eigentum des Ich wird, dass aber andererseits der Körper des Ich, sosehr er von diesem angeeignet werden muss, der Fremdaneignung rechtsprinzipiell entzogen ist. „Der Körper, in so fern er unmittelbares Daseyn ist, ist er dem Geiste nicht angemessen; um williges Organ und beseeltes Mittel desselben zu sein, muß er erst von ihm in Besitz genommen werden ... – Aber für andere bin ich wesentlich ein Freyes in meinem Körper, wie ich ihn unmittelbar habe.“ (GW 14/1, 59)27 Mein leibhaftes Leben ist schlechterdings das Meinige, das rechtsprinzipiell von anderen nicht angeeignet werden darf. Sklaverei und Leibeigenschaft widerstreiten sonach den elementarsten Menschenrechten. Sind in Bezug auf ihre Rechtspersönlichkeit alle Menschen gleich, welche Gleichheit in dem allen gleichen Recht auf körperliche Selbstverfügung konkrete Gestalt annimmt, so differenziert sich die grundsätzliche Rechtsgleichheit des weiteren auf kontingente Weise dergestalt aus, dass die vom jeweiligen leibhaften Ich in Beschlag genommene Sache diesem nach dem bloßen Grundsatz des Zuerstgekommenseins zugehört. Mit Hegel zu reden: „Daß die Sache dem in der Zeit zufällig Ersten, der sie in Besitz nimmt, angehört, ist, weil ein Zweyter nicht in Besitz nehmen kann, was bereits Eigenthum eines Andern ist, eine sich unmittelbar verstehende, überflüßige Bestimmung.“ (GW 14/1, 61) Dabei gilt allerdings die Einschränkung, die mit dem Gleichheitsgrundsatz uneingeschränkten Eigentumsrechts der Rechtsperson in Bezug auf ihren Leib und ihr Leben untrennbar verbunden ist, dass nämlich Elementarbestände wie Luft, Wasser oder vergleichbare Grundgegebenheiten der menschlichen Lebenswelt nicht Gegenstand persönlicher Aneignung werden dürfen. Vertragliche Veräußerung Es ist nicht nötig, die bereits erwähnten Realisierungsmomente des Eigentumsbegriffs als solchen von der unmittelbaren Inbesitznahme einer Sache durch körperliche Ergreifung bis zu ihrer möglichen Veräußerung im Detail zu entfalten. Betont sei nurmehr, dass die Veräußerbarkeit von Eigentum erneut dessen 27 Vgl. dazu die ausführliche Erläuterung in § 48 der „Grundlinien der Rechtsphilosophie“.

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Sachcharakter hervortreten lässt. Eigentumsrechte regeln den Sachbesitz in seiner veräußerbaren Äußerlichkeit. Unveräußerlich sind hingegen die Rechtspersönlichkeit selbst und alles, was ihr wesentlich zugehört, wie ihr Wille, ihre Vernunft und ihr leibhaftes Leben. Auch die Selbsttätigkeit der Person als solche ist Hegel zufolge unveräußerlich, nicht hingegen das einzelne Tun im Sinne einer besonderen Arbeitsleistung. „Von meinen besondern, körperlichen und geistigen Geschicklichkeiten und Möglichkeiten der Thätigkeit kann ich einzelne Productionen und einen in der Zeit beschränkten Gebrauch an einen andern veräußern, weil sie nach dieser Beschränkung ein äußerliches Verhältniß zu meiner Totalität und Allgemeinheit erhalten.“ (GW 14/1, 72) Die Theorie der Lohnverträge gehört in diesen Zusammenhang. Lohnverträge nehmen nach Hegel wie alle anderen Vertragsklassen samt Unterabteilungen ihren Ausgang von einem willkürlichen Entschluss der Vertragspartner, einen Vertrag zu schließen. Der förmliche Vertragsbeschluss lässt sodann einen identischen Willen bezüglich einer Sachangelegenheit ins rechtliche Dasein treten und objektiv existent werden. Geltung hat er als Gemeinwille der Vertragsschließenden, nicht aber als Allgemeinwille von grundsätzlicher Generalisierbarkeit. Denn im Vertrag gibt der besondere Wille sein willkürliches Belieben lediglich in Bezug auf eine bestimmte Sachangelegenheit, nicht aber seine Willkür als solche auf. Durch diese Einsicht wird in der Lehre vom abstrakten Recht Hegel zufolge der Übergang vom zweiten zum dritten und letzten Teil vermittelt, der den Begriff des Unrechts bzw. den Antagonismus von Recht und Unrecht zum Gegenstand hat, um dann seinerseits den Übergang in die Moralität zu mediatisieren. Unrecht und rechtliche Zwangsgewalt Unmittelbar auf sich selbst in seiner vom Allgemeinwillen geschiedenen Besonderheit insistierend bestimmt sich der Wille als Willkür und damit als in sich verkehrter, ungerechter Wille. Die realen Bestimmungsmomente des ungerechten Willens und damit des Begriffs des Unrechts sind erstens dasjenige, was Hegel das unbefangene Unrecht nennt, zweitens der Betrug und schließlich drittens das Verbrechen. Im sog. unbefangenen oder, wie Hegel auch sagen kann, bürgerlichen Unrecht bleibt das Recht grundsätzlich in Geltung und tritt nur in Bezug auf einen besonderen Fall außer Kraft, der sich mit einem Schein des Rechts umgibt. Im Betrug wird das Recht selbst zum Schein herabgesetzt bzw. ein rechtlicher Schein erzeugt, der das Wesen des Rechts als unwesentlich erscheinen lässt. Scheinbar wird das Recht noch anerkannt, in Wirklichkeit aber hintergangen. Im Verbrechen schließlich verflüchtigt sich der letzte Schein des Rechts und das Unrecht tritt offen zutage. In ihm wird das Recht als Recht

Recht, Moral und Sitte in Hegels Philosophie des objektiven Geistes

verletzt, es geschieht Unrecht ohne Schein eines Rechts und dagegen vor allem hat sich das Recht zu bewähren. In seinem Unwesen tritt das Verbrechen als rechtswidrige Zwangsgewalt in Erscheinung. „Weil der Wille, nur insofern er Daseyn hat, Idee oder wirklich frey und das Daseyn, in welches er sich gelegt hat, Seyn der Freyheit ist, so zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst, als Aeußerung eines Willens, welche die Aeußerung oder Daseyn eines Willens aufhebt.“ (GW 14/1, 88) Daraus folgt der Rechtsgrundsatz, dass unrechter Zwang durch rechtlichen Zwang aufzuheben sei: „Das abstracte Recht ist Zwangsrecht, weil das Unrecht gegen dasselbe eine Gewalt gegen das Daseyn meiner Freyheit in einer äußerlichen Sache ist; die Erhaltung dieses Daseyns gegen die Gewalt hiemit selbst als eine äußerliche Handlung und eine jene erste aufhebende Gewalt ist.“ (GW 14/1, 89) Hegels Theorie der abstrakten Rechtsstrafe gehört in diesen Kontext.28 Sie fußt auf dem Grundsatz, dass durch die Verletzung des Verbrecherwillens, in dessen Besonderheit die Rechtsverletzung ihre einzige positive Existenz hat, das verletzte Recht geheilt und wiederhergestellt, das Verbrechen durch bestimmte Negation ins Recht aufgehoben wird. Die Strafe hat ihr Wesen also nicht in irgendeiner Verhütungs-, Abschreckungs-, Androhungs- oder Besserungsabsicht, sondern im Begriff des Rechts als solchem, in welchem die Notwendigkeit der Strafe von Unrecht unveräußerlich mitgesetzt ist. Es ist Recht und Pflicht des Rechts zugleich, das Unrecht zu strafen. Strafe des Unrechts kann nicht nur, sie muss sein, so sehr deren Modalität dem gerechten Richten anheimgestellt und damit variabel ist. Dabei ist die Strafe als solche nicht nur an sich, sondern auch für den Verbrecher gerecht, sofern dieser in ihr als Rechtspersönlichkeit geachtet wird. Infolgedessen kann Hegel sagen, dass der Verbrecher selbst ein Recht auf seine Strafe hat (GW 14/1, 92; § 100). Indem ihm geschieht, was er getan hat, wird der Verbrecher als existenter Vernunftwille geehrt. Weil auch der Unmensch als Mensch zu achten ist und nicht zum schädlichen Tier herabgewürdigt werden darf, kann ihm das Recht auf eine seiner Untat angemessene Strafe nicht entzogen werden. Dabei ist das allgemeine Maß, nachdem sich die Strafe bemisst, im Wesentlichen durch die Gleichheitsregel des ius talionis gegeben, wohingegen das Strafmaß im Einzelnen dem urteilenden und richtenden Verstand anheimgestellt ist, der sich um eine annähernde Äquivalenz von Unrechtstat und Rechtsstrafe zu bemühen 28 Zu Hegels Theorie von Schuld und Strafe sowie zu seiner Begründung des Begnadigungsrechts vgl. B. Caspers, „Schuld“ im Kontext der Handlungslehre Hegels, Hamburg 2012. Zur These, Strafe sei ein Recht des Verbrechers, vgl. J. Primoratz, Banquos Geist. Hegels Theorie der Strafe, Bonn 1986, bes. 83ff. Der Titel spielt auf eine Hauptfigur in Shakespears Drama „Macbeth“ an, dessen Geist bei seinem Mörder vorstellig wird, um ihn zu verklagen und der gerechten Strafe zuzuführen (vgl. a.a.O., 16).

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hat. Bleibt hinzuzufügen, dass es nachgerade ihre Rechtsnotwendigkeit ist, welche die Strafe von der Rache kategorial unterscheidet. In sich gegangenes Recht Die kategoriale Unterscheidung der strafenden von der rächenden Gerechtigkeit enthält die im Wesen des freien Geistes begründete Zumutung an den Einzelnen, sein Recht nicht unmittelbar, sondern vermittels des Allgemeinwillens zu verfolgen. Mit diesem Hinweis ist der Übergang vom abstrakten und formellen Recht zur Moralität insofern vollzogen, als es deren Begriff ist, dass ein besonderer subjektiver Wille das Allgemeine als solches wolle. Will ein individuelles Subjekt von sich aus das Allgemeine, um es aus eigenem Antrieb zu verfolgen, hat es als moralisch zu gelten. „Der moralische Standpunkt ist der Standpunkt des Willens, insofern er nicht blos an sich, sondern für sich unendlich ist.“ (GW 26/3, 1196) In der Moralität ist das Recht in sich gegangen; seine abstrakte Formalität hat es damit abgestreift bzw. reflexiv in sich aufgehoben, um der Unmittelbarkeit seines äußeren, an Sachen hingegebenen Daseins eine innere, in sich vermittelte Gestalt zu geben. In der Moralität29 hört das Recht auf, ein lediglich äußeres, auf Sachen gerichtetes Gesetz zu sein, und nimmt autonomes Format an. Das Recht des moralischen Willens ist dasjenige der Selbstgesetzgebung. Es enthält Hegel zufolge drei Seiten in sich: zum ersten den Vorsatz, dass der Inhalt meines Wollens und Handelns nicht heteronom, sondern allein durch Autonomie bestimmt sei. Als verantwortlich kann sich der autonome Wille insofern nur für diejenigen Konsequenzen seines Tuns erachten, die direkt aus seinem Vorsatz folgen. Die damit gesetzte Differenz zwischen vorsätzlich intendierter, innerlich gewollter und tatsächlicher, in die äußere Wirklichkeit getretener Tat wird manifest in der Unterscheidung von Absicht und Wohl, die nach Hegel für die zweite Seite der Moralität kennzeichnend ist. Nur wenn sich der Vorsatz mit der Absicht verbindet, dem Allgemeinwohl dienlich zu sein, ist er moralisch. Fehlt diese Absicht, so ist der vermeintlich moralische Vorsatz eitel und schlägt in das 29 Zur Entwicklungsgeschichte von Hegels Rechtsphilosophie und zur problematischen Stellung der Lehre von der Moralität in ihr vgl. Chr. Jamme, Das Verschwinden der Moralphilosophie. Zum Verhältnis von subjektivem, objektivem und absolutem Geist in Hegels Rechtsphilosophie, in: Th. Oehl/A. Kok (Hg.), a.a.O., 145–156, hier: 151: „Die Moralphilosophie verschwindet. Dahinter steht Hegels These, die Moral solle immer gebunden sein an Institutionen und die entscheidende Institution ist für ihn der Staat.“ Vermittelt ist Hegels Staatstheorie durch die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft (146: „Hegel denkt konsequent bürgerlich: nicht Adel und Herkunft, sondern einzig die Leistung definiert den Menschen.“) und der Familie. Zur Idee des Ethos und zur Bedeutung von Habitualität in Hegels Lehre von der Sittlichkeit als drittem Teil der Philosophie des objektiven Geistes vgl. G. Magri, Zweite Natur und Sittlichkeit. Über Hegels Auffassung der Inhabitanz, in: a.a.O., 213–232.

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Gegenteil einer unmoralischen – in ihrer Gesinnung nur sich selbst befriedigenden, lediglich ihre eigene Glückseligkeit erstrebenden – Innerlichkeit um. Wegen ihrer inneren Leere können durch sie nach Hegel auch die größten Verbrechen gerechtfertigt und mit subjektiv gutem Gewissen vollbracht werden, obgleich sie in Wahrheit gewissenlos sind. Autonomer Wille des Guten Um den Begriff des Gewissens nicht nur scheinbar, sondern wesentlich zu erfassen, bedarf es der Idee des Guten, in welcher als der dritten Seite des Rechts des moralischen Willens willentliche Besonderheit und Allgemeinheit ihre Gegensätzlichkeit gegeneinander hinter sich lassen und zur wechselseitigen Selbstexplikation gelangen. „Das Gute“, so Hegel, „ist die Idee, als Einheit des Begriffs des Willens und des besondern Willens, – in welcher das abstracte Recht, wie das Wohl und die Subjectivität des Wissens und die Zufälligkeit des äußerlichen Daseyns, als für sich selbstständig aufgehoben, damit aber ihrem Wesen nach darin enthalten und erhalten sind, – die realisirte Freyheit, der absolute Endzweck der Welt.“ (GW 14/1, 114) Als das Wesen des Willens in seiner Wahrheit ist das Gute nicht nur der gute Wille in seiner Besonderheit oder der Allgemeinwille in seiner vom besonderen Willen abstrahierten formellen Rechtlichkeit, sondern die im Denken zur Einsicht gebrachte manifeste Einheit von besonderem und allgemeinem Willen. In der mit Gewissensgewissheit gewussten Idee des Guten und dem entschiedenen Willen ihrer Realisierung gelangt die Moralität zum entwickelten Begriff ihrer selbst, ohne bereits wirklich sittlich zu sein. „Moralität und Sittlichkeit ist verschieden“ (GW 26/3, 1109), sagt Hegel. In der wesentlich auf Vorsatz, Absicht und subjektive Gewissenhaftigkeit des Handelns bezogenen Moralität hat das formelle Recht seine Äußerlichkeit abgelegt und ist in sich gegangen, was einen unbestreitbaren Fortschritt in der Realisierung des Begriffs des objektiven Geistes darstellt. Die Gewissheit des Guten, wie sie im Gewissen gegeben ist, ist rechter und richtiger als das abstrakte Recht, von dessen Abstraktheit aus Gründen der Gerechtigkeit selbst abstrahiert werden muss. Doch kann es bei der Differenz zwischen dem abstrakten Recht in seiner Äußerlichkeit und der Innerlichkeit der Moral nicht bleiben. Diese ist vielmehr aufzuheben, damit konkrete Sittlichkeit sich realisiere. Verweigere der moralische Wille diesen Schritt, um unmittelbar auf sich selbst zu bestehen, schlägt er nach Hegel ins Gegenteil um und wird böse. Um das Gute nicht einem bloßen Sollen zu überlassen und seinen Gehalt nicht zu einem leeren Formalismus herabzusetzen, muss die Moralität überführt werden in konkrete Sittlichkeit, in welcher das Gute Sein und Wirklichkeit gewinnt und sich nicht nur subjektiv, sondern objektiv realisiert. Würde hin-

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gegen der moralische Standpunkt festgehalten und auf sich fixiert, ohne die Gestalt objektiver Sittlichkeit anzunehmen, so wäre das nicht nur nicht gut, sondern an sich selbst böse und zwar auch und gerade dann, wenn es von objektivitätsscheuer Subjektivität für gut erachtet würde. Die meisten bösen Taten, sagt Hegel, werden mit gutem Gewissen vollbracht. Beim Gewissen allein und bei der bloßen Idee des moralisch Guten kann es deshalb nicht sein Bewenden haben.30 Was Not tut, ist konkrete Sittlichkeit. 14.4

Die Realisierung konkreter Sittlichkeit in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat gemäß Hegel

Die Idee des an und für sich freien Willens realisiert sich nach Maßgabe von Hegels Lehre vom objektiven Geist unmittelbar in der Form des abstrakten oder formellen Rechts und mittelbar in derjenigen der Moralität, in der das Recht in sich reflektierte Gestalt annimmt. Gewährleiste das abstrakte und formelle Recht die Sicherung und Förderung der äußeren Sphäre der Freiheit, so gelangt der Rechtsbegriff in der Moralität zur inneren Geltung der Gewissensgewissheit. Aufgehoben ist die Differenz zwischen der Äußerlichkeit des Sachenrechts und der Innerlichkeit der Moral in der Idee der Sittlichkeit, deren Begriff sich nach Hegel gemäß seiner natürlichen Substanz in der Familie, in der reflexen Form der Wesensentzweiung in der bürgerlichen Gesellschaft und schließlich im freiheitlichen Rechtsstaat realisiert, in dem sich der Gemeingeist eines Volkes sittlich formiert. Durch das innere Staatsrecht gewinnt er seine interne Verfassung und Souveränität gegen alles ihm Äußere, durch das äußere Staatsrecht ist das Verhältnis der staatlich verfassten Volksgeister zueinander geregelt, in der Weltgeschichte als dem, wie es heißt, Weltgerichte schließlich offenbart sich der Weltgeist, um wirklich zu werden; sein Recht, sagt Hegel, ist das höchste. Sittlichkeit ist der zur zweiten Natur von Subjektivität gewordene Begriff der Freiheit. In ihr soll das Gute nicht nur sein, in ihr ist das Gute. Die Sittlichkeit 30 In diesem Zusammenhang gehört Hegels These, dass im Gewissen, formal und unmittelbar genommen, Gutes und Böses ihre gemeinsame Wurzel haben. „Das Selbstbewußtseyn in der Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen und in der reinen Innerlichkeit des Willens, ist eben so sehr die Möglichkeit, das an und für sich allgemeine, als die Willkühr die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Principe zu machen, und sie durch Handeln zu realisiren – böse zu seyn.“ (GW 14/1,121) Die äußerste und zugleich abstruseste Form des Bösen sieht Hegel in jener ihre eigene Absolutheit behauptenden Subjektivität gegeben, wie sie den Geist seiner Zeit und ihrer Philosophie zu beherrschen beansprucht und, wenn sie überhaupt ins Verhältnis zu konkreter Sittlichkeit tritt, dies nur in der Art der Ironie tut; vgl. die Erläuterungen zu § 140 der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“.

Die Realisierung konkreter Sittlichkeit in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat gemäß Hegel

ist objektiv und doch dem Subjekt kein Fremdes, sondern das andere seiner selbst. In ihren Institutionen findet die Subjektivität des Menschen, indem sie ihr zur Gewohnheit werden, eine bleibende Heimstatt und eine zweite Natur, die in Wahrheit ihre erste und eigentliche ist. Drei Momente bestimmen, um es zu wiederholen, die Sittlichkeit in der Realisierung ihres Begriffs. Ihr unmittelbarer oder natürlicher Geist ist in der Familie gegeben, deren Einheit in die Differenziertheit der bürgerlichen Gesellschaft übergeht, in welcher die Individuen als selbständige Personen aufeinander bezogen und zu formeller Allgemeinheit verbunden sind. Das die bürgerliche Gesellschaft bestimmende System der Bedürfnisse und seine Rechtsverfassung als Mittel der Sicherung der Personen und ihres Eigentums nimmt sich über die äußerliche Ordnung der besonderen und gemeinsamen Interessen in die Staatsverfassung zurück, in der sie ihren fundierenden Grund findet. Diese ist der zu einer organischen Wirklichkeit entwickelte Geist und als selbstbewusste Substanz der Zweck und die Wirklichkeit des wahrhaft Allgemeinen und des demselben gewidmeten öffentlichen Lebens. Rechtlich geordnete Liebe Der Begriff der Familie entwickelt sich in den Momenten der Ehe als des inneren Grundes der Familie, im Familiengut als ihrer äußeren Daseinsgestalt sowie in der Erziehung der Kinder und ihrer schließlichen Entlassung in die bürgerliche Gesellschaft, durch welche sich die Familie auf sittliche Weise auflöst und ihr Wesen erfüllt.31 Die Ehe ist, obwohl durch Liebe initiiert, nach Hegel „wesentlich ein rechtlich sittliches Verhältniß“ (GW 26/3, 1277). Zwar kann der Verweis auf Recht und Sitte nicht den Sinn haben, als ob Liebe rechtlich verlangt und sittlich zu fordern sei. Ein Moment bloßen Beliebens im Sinne nicht erzwingbarer Zuneigung gehört zum Begriff der Ehe, wenn diese als Bund der Liebe aufgefasst werden soll. Aber von willkürlichem Verlangen unterscheidet sich dieser Bund nachgerade dadurch, dass in ihm Beliebigkeit institutionell aufgehoben, nämlich bewahrt, bestimmt negiert und zu rechtlichsittlicher Vollendung gebracht wird. Die eheliche Liebe wird dadurch über die bloße – für Zufälle, Launen und alle möglichen Grillen anfällige – Neigung gestellt. In ihr ist das Natürliche nur mehr die Form, das Sittliche hingegen der Inhalt. Mit der Bestimmung der Ehe als rechtlich-sittlicher Institution ist ihr monogamer Charakter naturgemäß mitgesetzt. Auf Monogamie ist bereits das 31 Zu Hegels Familienbegriff und seinen Bestimmungsmomenten vgl. auch L. de Vos, Institution Familie. Die Ermöglichung einer nicht-individualistischen Freiheit, in: Hegel-Studien 41 (2006), 91–112. Zur „familiären“ Vermittlung von Sozialität und Individualität vgl. S. Brauer, Das Substanz-Akzidens-Modell in Hegels Konzeption der Familie, in: Hegel-Studien 39/40 (2004/05), 41–59.

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Ergänzungsverhältnis angelegt, in dem Mann und Frau in ihrer Geschlechtsdifferenz zueinander stehen. Auf natürliche Weise bekräftigt wird sie durch die Nachkommen, die aus ihrer Verbindung möglicherweise hervorgehen: Im eigenen Kind wird den Partnern die Singularität und Unvergleichlichkeit ihrer Beziehung sinnenfällig vorstellig. Indes ist die Generierung von Nachkommenschaft Hegel zufolge keineswegs der Primärzweck der Ehe, deren Sinn vielmehr in ihr selbst begründet liegt, da die vorbehaltlose Akzeptanz der Einzigkeit des Gatten bzw. der Gattin der individuellen Selbstaffirmation geschuldet ist. Im ehelichen Rechtsinstitut wird dieses monogame Anerkennungsverhältnis auf Dauer gestellt, was der dem Ehebund eigenen Sittlichkeit gemäß ist. Die Ehe ist nach Hegel weder ein bloßes Gattungsverhältnis noch ein „bürgerlicher Kontrakt“ (ebd.) nach Gebrauchsregeln analog zum Sachenrecht; sie ist aber auch kein Liebesverhältnis, das allein auf erotische Zuneigung baut. Die Ehe stellt nach Hegel vielmehr die „rechtlich gemachte Liebe“ (GW 26/3, 1278) dar: Gerade dem „Moment der Rechtlichkeit des Daseins der Liebe“ (ebd.) in ihr gilt entsprechend seine besondere Aufmerksamkeit, wie sich an seinem Begriff der Trauung ebenso belegen ließe wie an dem Verständnis der Ehescheidung, deren Möglichkeit er einräumt, die er aber gesetzlich erschwert wissen will. Zwar sei die Ehe im Notfall scheidbar, aber ihrem Wesen und ihrer monogamen Bestimmung nach auf lebenslange Dauer angelegt, was durch die Stellung als bleibender Basisgrund der Familie, die Hegel ihr zuweist, unterstrichen wird. Vermögensrechtlich etwa seien die Eheleute und mit ihnen die Kinder, die aus ihrer Beziehung hervorgehen, als eine Rechtsperson anzusehen. Im zweiten Teil der Hegel’schen Familientheorie wird dies im Einzelnen zur Darstellung gebracht, bis dann der Passus über die Erziehung der Kinder und die Auflösung der Familie den Übergang in die Lehre von der bürgerlichen Gesellschaft vermittelt. Vom Kind zum Bürger Jede Familie ist als das sittlich verfasste natürliche Ganze, welches sie ist, dazu bestimmt, aufgelöst zu werden. Obwohl in ihren Kindern die Eltern der Singularität ihrer Beziehung ansichtig werden, um in ihnen ihre eigene Liebe zu lieben (vgl. GW 26/3, 1296ff.), sind die Nachkommen doch aus der elterlichen Obhut und dem Familienverband zu entlassen und zwar mit Notwendigkeit. Ihre Erziehung zu freien Persönlichkeiten ist von vorneherein auf dieses Ziel und darauf angelegt, dass sie zu gegebener Zeit eine eigene Familie zu gründen in der Lage sind. Dies ist möglich nur, wenn sie aus der familiären Unmittelbarkeit entlassen und damit zu Bürgern der Gesellschaft werden, in welcher der sittliche Geist reflexe Gestalt annimmt. Die Familie bleibt zwar Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft, aber sie muss in diese aufhebbar sein und aufgehoben

Die Realisierung konkreter Sittlichkeit in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat gemäß Hegel

werden, um ihre Basisfunktion begriffsgemäß wahrnehmen zu können. Hegel weiß, dass das Verlassen des Familienkreises nicht nur begriffliche, sondern lebensweltliche Schwierigkeiten bereitet und einem Gang aus der Heimat in die Fremde gleichen kann. Aber an der bürgerlichen Gesellschaft führt für den Erwachsenen kein Weg vorbei, wenn er seinem Begriff entsprechen und nicht in einem regressiven Kindesverhältnis verharren will. In der Pubertät, deren Negationskraft er im Prinzip positiv wertet, sieht Hegel einen Vorboten des zu leistenden Aufbruchs. In der bürgerlichen Gesellschaft ist die ursprüngliche Einheit, wie sie in der sittlichen Natur der Familie begründet liegt, entzwei gegangen. Die gewohnten Sitten und Gebräuche erscheinen reflexiv gebrochen, ihr naturgemäßes Wesen gerät ins Zwielicht einer differenzbestimmten Verstandeswelt, in der urtümliche Identitäten keinen Bestand mehr haben. An die Stelle des Hauses tritt der Marktplatz, auf dem das Gewohnte marktförmig umgestaltet wird. Ihrer Grundbestimmung nach ist die bürgerliche Gesellschaft als Welt des bourgeois – noch nicht des citoyen – Hegel zufolge ein System von Bedürfnissen. Die Wechselseitigkeit ihrer Bedürftigkeit ist das äußerliche Band, welches die Bürger gesellschaftlich verbindet; ansonsten bleiben sie unverbunden und je für sich, nur ihren eigenen Interessen verpflichtet. Diese bestehen darin, Bedürfnisse zu befriedigen. Um welche Bedürfnisse es sich im Einzelnen handelt, lässt sich nicht abschließend sagen. „Es giebt hier keine Grenze, es ist das Feld der schlechten Unendlichkeit, der Unersättlichkeit. Es ist dieß in der bürgerlichen Gesellschaft der Fall, man kann keine Grenze setzen, was Bedürfniß sein soll, es werden neue Mittel erfunden die Bedürfnisse zu befriedigen und damit entsteht das Bedürfniß nach neuen Mitteln.“ (GW 26/3, 1309) System der Bedürfnisse Das Bedürfnissystem der bürgerlichen Gesellschaft ist prinzipiell unabschließbar. Die Gesetze, die in ihm walten, detailliert zu erheben, ist Hegel zufolge Aufgabe vor allem der ökonomischen Wissenschaft. Die Philosophie hat sich darauf zu beschränken, die Art der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung nach Maßgabe der zu realisierenden Idee strukturell zu erfassen. Zentral ist dabei der Begriff der Arbeit als des für die bürgerliche Gesellschaft entscheidenden Mediums der Bedürfnisbefriedigung. Während lediglich konsumierende Kapitalisten als „Hummeln der Gesellschaft“ (GW 26/3, 1323), wie Hegel sie nennt, zwar über Mittel verfügen, aber für andere keine hervorbringen und damit bürgerlich unproduktiv bleiben wie Bettler oder Feudalherren, ist der Bürger seinem Wesen nach Arbeiter, der die Mittel zur Befriedigung seiner Bedürfnisse selbst erwirbt und zugleich zur Bedürfnisbefriedigung anderer produktiv beiträgt. Der Bürger will tätig sein; zu arbeiten ist für ihn kein äußerer

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Zwang, sondern innere Pflicht. Vorausgesetzt ist dabei, dass die Arbeit wesensgemäß, also „bürgerlich“ ist. Während Arbeitsteilung sowie fortschreitende Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Berufe der bürgerlichen Gesellschaft grundsätzlich entsprechen, droht sie nach Hegel durch fortschreitende Mechanisierung der Arbeit im Zuge der Industrialisierung an ihre Grenzen zu geraten. Diese sind spätestens dann überschritten, wenn der tätige Bürger durch Maschinen ersetzt wird, wie sich das im Falle des Industriearbeiters schon zu Hegels Zeiten abzeichnete. Was die genuin bürgerlichen Professionen anbelangt, durch welche das Vermögen der Bürgergemeinde erwirtschaftet wird, so unterscheidet Hegel zwischen unmittelbaren Arbeitsformen wie z. B. der Agrarproduktion oder des Handwerks, der Mittlergestalt des Gewerbes sowie einem Beruf, der „die allgemeinen Interessen des gesellschaftlichen Zustandes zu seinem Geschäfte“ (GW 26/3, 1336) hat: „Hierher gehören Militair, Rechtsgelehrte, Aerzte, Geistliche, Gelehrte pp [.]“ (Ebd.) Den Juristen kommt unter ihnen besondere Bedeutung insofern zu, als ohne Rechtspflege die bürgerliche Gesellschaft keinen Bestand hat. Hegel handelt diesbezüglich vom Recht als Gesetz, von der Gesetzgebung sowie vom Gericht und vom Richter, der nach seinem Urteil „kalt sein, kein Herz, kein Gemüth und nur das Interesse haben (muß) daß die Gesetze geschehen“ (GW 26/3, 1358). Legislative, Judikative, Exekutive Legislative und judikative Kompetenzen sind die Voraussetzung für das Funktionieren einer bürgerlichen Gesellschaft, deren exekutive Aufgaben durch Polizei und Korporationen zu erfüllen sind, mit deren Erörterung Hegel seine Theorie der zweiten Form verfasster Sittlichkeit zum Abschluss bringt. Die Polizei hat für die äußere Geltung von Recht und Gesetz in der bürgerlichen Gesellschaft zu sorgen, in ihren korporativen Vergemeinschaftsformen kommen sie zu verinnerlichter Geltung, wodurch der Übergang zur Staatlichkeit vermittelt wird. Hegel legt großen Wert auf die Feststellung, dass das polizeiliche Wirken auf die Exekutive zu beschränken und von legislativen und judikativen Tätigkeiten streng zu unterscheiden sei: „Rechtlich kann“, um ein Beispiel zu geben, „jemand nur verhaftet werden als Strafe, als für schuldig erkannt, aber die Polizei kann nicht davon ausgehen, kann nicht im voraus ausmitteln daß dieß Individuum ein Verbrechen begangen hat. Ihre Wirkung betrifft so die ganz äußere Seite, daß ein Verbrecher vor Gericht zu bringen ist.“ (GW 26/3, 1378f.) Was hinwiederum die Korporationen als Gemeinschafts- und Gemeindebildungen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft anbelangt, so fungieren sie Hegel zufolge als „das Mittelglied zwischen Familie und Staat, und zwar als sittliches Mittelglied“ (GW 26/3, 1398f.). Zu denken ist nicht nur an Zusam-

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menschlüsse von einzelnen Gewerben in Form von Zunftgenossenschaften, sondern an kommunale Verbände unterschiedlicher Art wie etwa städtische Kommunen, aus denen Hegel zufolge in Deutschland und anderwärts der Staat hervorgegangen ist. Ihrem unmittelbaren Begriff gemäß die Wechselbeziehung individueller Privatpersonen in der Besonderheit ihrer je eigenen Bedürfnisse und sonach ein System allseitiger Abhängigkeit, das sich nach Regeln der Arbeitsteiligkeit ordnet, gibt sich die bürgerliche Gesellschaft mittels gesetzlicher Rechtspflege eine verbindliche Gestalt, die durch Polizei und Korporation äußerlich und innerlich gesichert wird. Um dieser Sicherheit dauerhaften Bestand zu verleihen und zugleich den Antagonismus zwischen familiärer Ursprünglichkeit und einer sich immer mehr ausdifferenzierenden bürgerlichen Gesellschaft zu beheben, bedarf es nach Hegel der Staatlichkeit. Im Staat bleibt die bürgerliche Gesellschaft bewahrt, sie wird aber zugleich in bestimmter Weise negiert, um zu ihrer eigentlichen Bestimmung erhoben zu werden. Den Negationsaspekt hat Hegel im Rahmen seiner in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ entwickelten Staatswissenschaftslehre wiederholt und nachdrücklich hervorgehoben: „Wenn der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt und seine Bestimmung in die Sicherheit und den Schutz des Eigenthums und der persönlichen Freyheit gesetzt wird, so ist das Interesse der Einzelnen als solcher der letzte Zweck, zu welchem sie vereinigt sind, und es folgt hieraus eben so, daß es etwas beliebiges ist, Mitglied des Staates zu seyn. – Er hat aber ein ganz anderes Verhältniß zum Individuum; indem er objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objectivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist.“ (GW 14/1, 201) Der Bürger ist sittlich nur im Staate, dessen Prinzip nicht der allenfalls vertraglich verallgemeinerte Einzelwille ist, sondern der objektive Geist in der Vollendung seines Begriffs. Der von Rousseau und anderen betriebene Gedanke, dem Staat „bloß das vermeynte Vernünftige“ (GW 14/1, 203) zur Basis zu geben, sei in der praktischen Konsequenz zu dem „ungeheuere(n) Schauspiel“ (GW 14/1, 202) der Französischen Revolution gediehen, in deren Terror die destruktive und zuletzt selbstdestruktive Substanz der auf sich allein gestellten bürgerlichen Gesellschaft offenbar geworden sei. Der Rechtsstaat Als die dritte Manifestationsgestalt des objektiven Geistes in seiner Sittlichkeit ist der Staat die Wirklichkeit von dessen Idee, wie sie sich über das abstrakte Recht und die Moralität im Durchgang durch Familie und bürgerliche Gesellschaft realisiert hat, die an sich selbst mehr und anderes sind als lediglich transitorische Begriffsmomente. Seine unmittelbare Wirklichkeit hat der Staat als Einzelstaat; dessen Verfassung, wie sie der Idee gemäß ist, bedenkt Hegel

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unter dem Binnenaspekt des inneren Staatsrechts. Das Verhältnis der Einzelstaaten zueinander wird unter dem Gesichtspunkt des äußeren Staatsrechts thematisch. Die geistige Wirklichkeit der Staatenwelt in dem ganzen Umfang ihrer Innerlichkeit und Äußerlichkeit ist schließlich die Weltgeschichte, in welcher der Geist der Welt sein Recht ausübt, über die Staaten zu richten. Es ist das Prinzip moderner Rechtsstaatlichkeit, das Allgemeine weder ohne Berücksichtigung des vernünftigen Einzelwillens zu vollbringen, noch die Besonderheit des Individuellen solipsistischer Privation zu überlassen. Der moderne Rechtsstaat, in dem sich die Idee objektiven Geistes realisiert, ist vielmehr die verfasste Vermittlungsgestalt von Allgemeinem und Besonderem, durch welche das Individuum aus dem Extrem seiner persönlichen Besonderung, in dem sich sein Begriff vollendet, in die differenzierte Einheit der Sittlichkeit zurückgeführt wird, ohne in ihr verloren zu gehen. Was die Verfassung des Staates als der sittlichen Gestalt objektiven Geistes näherhin angeht, so ist zu unterscheiden einerseits zwischen dem Prozess seines organischen Lebens an sich, in welchem er sich intern differenziert und sein institutionelles Bestehen gibt, und seinem verfassten Verhältnis zu dem, was er nicht selbst ist, also der staatlichen Souveränität gegen außen andererseits. In Beziehung auf sich selbst, also nach Maßgabe seiner inneren Verfassung, expliziert sich der Staat als gesetzgebende, regierende und fürstliche Gewalt. Letztere nimmt gemäß Hegel in Gestalt konstitutioneller Monarchie die der Idee des Staates angemessene Form an, um als Spitze und Anfang des Ganzen die gesetzgebende und die Regierungsgewalt zu individueller Einheit zusammenzufassen. Im Monarchen wird die Souveränität des Staates individuell vorstellig: „Die Persönlichkeit des Staates ist nur als eine Person, der Monarch, wirklich.“ (GW 14/1, 233) Mit der Idee der Volkssouveränität hingegen ist nach Hegel kein Staat zu machen: „Das Volk, ohne seinen Monarchen und die eben damit nothwendig und unmittelbar zusammenhängende Gegliederung des Ganzen genommen, ist die formlose Masse, die kein Staat mehr ist und der keine der Bestimmungen, die nur in dem in sich geformten Ganzen vorhanden sind, − Souverainetät, Regierung, Gerichte, Obrigkeit, Stände und was es sey, − mehr zukommt.“ (GW 14/1, 234) Der Monarch und sein preußischer Beamter Als individuelle Inkarnation der Idee des Staates ist die Majestät des Monarchen, dessen geregelte Thronfolge hier nicht zu erörtern ist, absolute Selbstbestimmung, jedoch nicht auf unmittelbare, sondern auf eine durch die Allgemeinheit von Verfassung und Gesetz sowie durch Beratung im Sinne der Beziehung des Besonderen auf das Allgemeine vermittelte Weise. Die die monarchische Selbstbestimmung momentan mitbestimmende Beratung nimmt institutionelle

Die Realisierung konkreter Sittlichkeit in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat gemäß Hegel

Gestalt in der Regierung und in der Beamtenschaft an, deren Mitglieder nach Hegel den Hauptteil jenes sog. Mittelstandes ausmachen, „in welchen die gebildete Intelligenz und das rechtliche Bewußtseyn der Masse eines Volkes fällt“ (GW 14/1, 246). Dass er keine aristokratische Stellung einnehme, wird „durch die Institutionen der Souverainetät von Oben herab, und der CorporationsRechte von Unten herauf, bewirkt“ (ebd.). Wie aber der Staatsbedienstete als Beamter des Staates dem „Kampfplatz des individuellen Privatinteresses Aller gegen Alle“ (GW 14/1, 241), welcher die bürgerliche Gesellschaft ist, einerseits durch Privilegien entnommen ist, so fordert der Staatsdienst von ihm andererseits und billigerweise „die Aufopferung selbstständiger und beliebiger Befriedigung subjectiver Zwecke, und gibt eben damit das Recht, sie in der pflichtmäßigen Leistung aber nur in ihr zu finden“ (GW 14/1, 244). Die gesetzgebende Gewalt als die Gewalt, „das Allgemeine zu bestimmen und festzusetzen“ (GW 14/1, 226), repräsentiert den Staat in jener Unmittelbarkeit, die in der monarchischen Gewalt mittels der Regierungsgewalt aufgehoben ist, um in ihr ihren ersten und letzten Grund zu finden. Indes sind in der gesetzgebenden Gewalt nach Hegel nicht nur das monarchische und das die Regierungsgewalt betreffende, sondern auch das ständische Element wirksam, durch das hindurch sich der Staat mit der bürgerlichen Gesellschaft und ihren – ständisch organisierten – Interessen vermittelt. Während das in der bürgerlichen Gesellschaft in die besonderen Individuen und individuellen Sphären atomisierte Volk als solches nicht weiß, was es will (vgl. GW 14/1, 248ff.), gelangen in den Ständen bürgerliche Gruppeninteressen zum geklärten Bewusstsein ihrer selbst, ohne sich vom Allgemeininteresse zu separieren. Indem sie der formlosen Masse des Volkes identifizierbare Gestalt geben, kommt den Ständen nicht nur eine wichtige Repräsentationsfunktion innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, sondern zugleich die darüber hinausgehende Aufgabe zu, diese mit dem Staatsorganismus zu verbinden. Staatliche Souveränität Hat der Staat seine Souveränität nach innen in der entwickelten Gestalt seiner Verfassung, so setzt er sich zu anderen Staaten durch das Prinzip der Souveränität nach außen ins Verhältnis, um auf diese Weise sich selbst und seine selbstbestimmte Unabhängigkeit zu behaupten. Es ist entsprechende Pflicht der Staatsbürger, „durch Gefahr und Aufopferung ihres Eigenthums und Lebens, ohnehin ihres Meynens und alles dessen, was von selbst in dem Umfange des Lebens begriffen ist, diese substantielle Identität, die Unabhängigkeit und Souverainetät des Staates zu erhalten“ (GW 14/1, 265). Die Theorie des äußeren Staatsrechts ist im Vergleich zu derjenigen des inneren bei Hegel vergleichsweise wenig entwickelt, obgleich die Organisation des Verhältnisses selbstständiger

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Staaten zueinander ein konstitutives Bestimmungsmoment der Staatslehre darstellt. Dieses Defizit der Lehre vom äußeren Staatsrecht hängt sicherlich damit zusammen, dass die Lehre vom äußeren Staatsrecht nach Hegel die Form nicht des Seins, sondern lediglich des Sollens hat, „weil, daß es wirklich ist, auf unterschiedenen souverainen Willen beruht“ (GW 14/1, 269): „Das Volk als Staat ist der Geist in seiner substantiellen Vernünftigkeit und unmittelbaren Wirklichkeit, daher die absolute Macht auf Erden; ein Staat ist folglich gegen den andern und in souverainer Selbstständigkeit. Als solcher für den andern zu seyn, d. i. von ihm anerkannt zu seyn, ist seine erste absolute Berechtigung. Aber diese Berechtigung ist zugleich nur formell, und die Foderung dieser Anerkennung des Staates, bloß weil er ein solcher sey, abstract; ob er ein so an und für sich seyendes in der That sey, kommt auf seinen Inhalt, Verfassung, Zustand an, und die Anerkennung, als eine Identität beyder enthaltend, beruht eben so auf der Ansicht und dem Willen des Andern.“ (Ebd.) Nach innen gekehrt ergibt das Verhältnis souveräner Staaten zueinander das Prinzip der Nichteinmischung des einen Staates in die internen Angelegenheiten des anderen; nach außen gekehrt formiert es sich im Vertrag oder Abkommen. Was aber die Idee eines allgemeinen, „an und für sich zwischen den Staaten gelten sollenden Rechts“ (GW 14/1, 270) anbelangt, so hat sie ihre Schranke darin, dass ihr kein reales Sein zukommt. „Es giebt keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten, und auch diese nur zufälligerweise, d.i. nach besondern Willen. Die Kantische Vorstellung eines ewigen Friedens durch einen Staatenbund, welcher jeden Streit schlichtete, und als eine von jedem einzelnen Staate anerkannte Macht jede Misshelligkeit beilegte, und damit die Entscheidung durch Krieg unmöglich machte, setzt die Einstimmung der Staaten voraus, welche auf moralischen, religiösen oder welchen Gründen und Rücksichten, überhaupt immer auf besonderen souverainen Willen beruhte, und dadurch mit Zufälligkeit behaftet bliebe.“ (Ebd.) Daraus ergibt sich die Konsequenz: „Der Streit der Staaten kann deswegen, insofern die besondern Willen keine Uebereinkunft finden, nur durch Krieg entschieden werden.“ (Ebd.) Doch kann und darf der Krieg nach Hegel nichts anderes als ein Durchgangsmoment und ein transitorisches Ereignis im Staatsleben sein: „Darin, daß die Staaten sich als solche gegenseitig anerkennen, bleibt auch im Kriege, dem Zustande der Rechtlosigkeit, der Gewalt und Zufälligkeit, ein Band, in welchem sie an und für sich seyend füreinander gelten, so daß im Kriege selbst der Krieg als ein vorübergehensollendes bestimmt ist.“ (GW 14/1, 272) Völkerrecht Den Kriegszustand zu limitieren und den Antagonismus der Staaten zu befrieden, ist die Aufgabe des Völkerrechts. Es ist als zwischenstaatliches Recht

Die Realisierung konkreter Sittlichkeit in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat gemäß Hegel

konzipiert, hängt aber in seiner realen Geltung davon ab, durch Einzelstaaten, namentlich durch Großmächte, gewährleistet zu werden. Seine Wahrheit ist mithin nicht absolut, sondern relativ. Dies trifft Hegel zufolge für die als Staatengeschichte sich verwirklichende Weltgeschichte insgesamt zu. In ihr iteriert der völkerrechtlich nur bedingt zu bändigende Interessensgegensatz der Einzelstaaten, der selbst durch einen denkbaren Globalstaat nicht beseitigt werden kann, sofern auch dieser von endlichen Absichten durchwirkt und mit dem Reiche Gottes nicht gleichzusetzen ist. Wie alle Formationen des objektiven Geistes bleibt die Weltgeschichte endlichkeitsbehaftet und zwar selbst dort, wo ein erkennbarer Rechtswille in ihr tätig ist. Der Geist vermag sich unter weltgeschichtlichen Bedingungen nicht zu vollenden, erfährt diese vielmehr als Weltgericht, ja als seine Schädelstätte. Um zur Vollendung zu gelangen, muss er die Sphäre der Weltgeschichte hinter sich lassen und sie unter Aufhebung der Realisierungsgestalten von Recht, Moralität und Sittlichkeit auf Kunst, Religion und Philosophie hin transzendieren. Der in der Weltgeschichte sich realisierende Geist ist zwar der objektivste, nicht aber der absolute.32 32 In der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes „Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte“ (Leiden/Boston 2018, 1–26) konstatieren Th. Oehl und A. Kok, „dass die jüngere Hegelforschung in und trotz ihrer inneren Vielfalt die Philosophie des absoluten Geistes zunehmend – darin erstaunlich einig – zugunsten der Philosophie des objektiven Geistes vernachlässigt hat“ (1). Gegen diesen Missstand ist bereits der Beitrag H. F. Fuldas gerichtet, der den Sammelband programmatisch eröffnet. Fulda argumentiert „gegen einen ‚Finitismus‘ des Geistes, der ohne die Behauptung eines unendlichen Geistes auskommen möchte“ (H. F. Fulda, in: a.a.O., 27–53, hier: 27) und gegen den verbreiteten Trend, den absoluten Geist dem objektiven „einer gemeinsamen Lebensform“ (28) zu assimilieren. Um diesem Trend entgegenzuwirken, werden anhand der Enzyklopädieparagraphen 552–555 „Hegels Gründe für den Fortgang philosophischen Denkens vom objektiven zum absoluten Geist“ (27f. Anm. 1) dargetan und in ihrer systematischen Notwendigkeit erwiesen (vgl. dazu auch: N. Mooren, T. Rojek, M. Quante, Vom objektiven in den absoluten Geist. Eine Interpretation im Ausgang von §552 der Enzyklopädie [1830], in: a.a.O., 643–667). Thomas Oehl sekundiert, indem er eine entsprechende Notwendigkeit für die Erhebung des subjektiven zum absoluten Geist geltend macht. „Der endliche Geist, den wir als Menschen haben, der wir sogar sind und den wir in gewissen Hervorbringungen objektivieren können, ist der einzige Geist, den wir zweifelsfrei kennen“, hieß es bei Fulda (29). Warum sollte sich philosophische Epistemologie „nicht mit Begriffen begnügen, die diesen Geist betreffen, – und mit Behauptungen über ihn oder Präsuppositionen in Bezug auf ihn?“ (Ebd.) Oehl antwortet auf diese Frage mit dem Hinweis, dass das selbstbewusste Ich zwar wisse, sich nicht unmittelbar selbst gesetzt zu haben, dennoch aber nicht geneigt sei, sich in seinem Sichgegebensein anzuerkennen, sondern sich selbst als absolutes Prinzip zu bestimmten trachte. Da dieser verkehrte Wille sich „nicht aus und in sich selbst umkehren“ könne, bedürfe es der Annahme des „willentlichen Einfluss(es) eines anderen, nicht-endlichen, unendlichen, absoluten Subjekts“, um die Realisierbarkeit und Realität wahrer Freiheit denken zu können (Th. Oehl, Selbstbewusstsein und absoluter Geist, in: a.a.O., 355–388, hier: 388). Oehl schließt mit der Feststellung, dass die von ihm

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Kultur als zweite Natur

Wendet man den Grundsatz, wonach die Weltgeschichte als Staatengeschichte die zwar objektivste, aber keineswegs die absolute Geistwirklichkeit sei, auf Hegels skizzierte Lehre vom objektiven Geist und auf seinen Staatsbegriff an, um sie auf diese Weise ihren eigenen Bedingungen zu unterstellen, dann ist über die historische Relativität ihrer Geltung im Prinzip bereits das Nötige gesagt. Einwände liegen auf der Hand. Man kann beispielsweise an Hegels Idee der konstitutionellen Monarchie oder an seiner Reserve gegenüber dem Gedanken der Volkssouveränität und des Völkerrechts Kritik üben und soll dies auch tun. Doch darf bei aller Kritik die hermeneutische Regel nicht vergessen werden, die Hegel in der Vorrede zu seiner subjektiven Logik oder Lehre vom Begriff so formuliert hat: „Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn ausserhalb seiner selbst angreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht.“ (GW 12, 15) Hält man sich an diese Regel, wird man Hegels Rechtsphilosophie bei allem Wandel der historischen Verhältnisse bleibende Aktualität nicht bestreiten können; sie gibt nach wie vor zu denken.

vorgetragene Lesart „Hegel näher an seine Kritiker (heranrückt), als diese vermeinten“ (ebd.). Zu denken ist dabei insbesondere an den Schelling der Freiheitsschrift und der sog. Philosophie der Mythologie und Offenbarung. Oehls Mitherausgeber Kok stellt in seinem Beitrag heraus, inwiefern Hegels „Entwicklung des religiösen Geistes, obwohl Teil seiner Philosophie des absoluten Geistes, für die Entwicklung des objektiven Geistes, insbesondere die Bildung, eine Bedeutung haben kann“ (A. Kok, Religion in der modernen Demokratie. Ein Vergleich zwischen Hegels offenbarer Religion und Rawls‘ öffentlicher Vernunft, in: a.a.O., 331–352, hier: 331). Insgesamt ergibt sich: „Anders als für viele Hegelianer findet für Hegel selbst menschliche Existenz nicht in der sozialen Realität des objektiven Geistes ihre Erfüllung, sondern in Kunst, Religion und Philosophie.“ (F. Knappik, „Gegenwärtige prosaische Zustände“. Hegels melancholische Ästhetik und Schillers politische Eschatologie, in: a.a.O., 504–526, hier: 504)

15.

Vom Unwesen der Sünde

Zu Pannenbergs Hamartiologie

15.1

Humanspezifische Verhaltensschemata, Aggressivität und Todestrieb

In seiner dogmatischen Untersuchung „Der Mensch in der Verkündigung der Kirche“ aus dem Jahr 1936 hat Pannenbergs Heidelberger Lehrer Edmund Schlink die theologische Anthropologie in drei Sätzen zusammengefasst: „1. Jeder Mensch ist jederzeit ganz und gar Gottes Geschöpf.“1 „2. Jeder Mensch ist in seiner ganzen Natur verderbt.“ (122) „3. Der ganze Mensch ist Geschöpf und völlig verderbt zugleich.“ (126) Als „(a)bschließender Hinweis“ (131) wird ferner vermerkt: „Die sichtbare Scheidung der Geschöpflichkeit und der Verderbtheit wird geschehen in der Auferstehung.“ (Ebd.) Zwar müsse zwischen Geschöpflichkeit und Sünde des Menschen begrifflich prinzipiell und stets geschieden werden; die konkrete Scheidung hingegen sei dem eschatologischen Urteil Gottes vorbehalten. „Das heißt zugleich: wer unverderbte Schöpfung aufzeigen und lehren will, muß auf den auferstandenen Christus hinweisen und seine Wiederkunft predigen. Es ist unmöglich, zu Resten ‚ursprünglicher‘ Schöpfung und damit zum Urstand zurückzukehren. Es ist nur erlaubt, im Glauben und Hoffen vorauszueilen zur neuen Welt des wiederkommenden Herrn.“ (Ebd.) Dogmatische Lehre vom Menschen Schlinks theologische Lehre vom Menschen ist christologisch zentriert und eschatologisch ausgerichtet, ohne dass deshalb protologische Bezüge preisgegeben würden. Doch bleiben diese Schlink zufolge unter den hamartiologischen Bedingungen, welche die konkrete Situation des Menschen bestimmen, uneindeutig und in ihrer Ambivalenz dem Verkehrten zugeneigt, solange sie nicht vom Christusereignis her jener Eindeutigkeit zugeführt werden, in der sie zukünftig erscheinen sollen. Durch aktuelle Empirie sind sie nicht, jedenfalls nicht eindeutig zu erfassen. „In dieser Zeit der Sünde und des Todes kann Gott als Schöpfer jedem Menschen nur verkündigt werden, aber es kann nicht empirisch aufgezeigt werden, inwiefern und inwieweit der Mensch Gottes Geschöpf ist.“ (Ebd.) 1 E. Schlink, Der Mensch in der Verkündigung der Kirche. Eine dogmatische Untersuchung, München 1936, 119; bei Sch. gesperrt. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf; Sperrungen werden nicht wiedergegeben.

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Vom Unwesen der Sünde

Von der empirischen Unmöglichkeit, zwischen Geschöpflichkeit und sündiger Verkehrtheit des Menschen konkret zu unterscheiden, ist dessen Identität nach Schlink direkt betroffen. Sie lasse sich nicht unmittelbar wahrnehmen und zwar weder von außen noch von innen her, also auch nicht in Form von Selbstwahrnehmung. Wer ich in Wahrheit bin, wird wie die Kontinuität zwischen Sünder und erlöstem Menschengeschöpf erst in der eschatologischen Wiederkunft des Menschensohnes offenbar werden, in dessen österlicher Erscheinung Gott sich in der Kraft seines Geistes erschlossen hat. Schlink fügt hinzu, dass die Frage nach dem Verhältnis jetziger und eschatologischer Menschenexistenz die gleiche sei, welche sich bezüglich des Vergleichs des gefallenen Menschen mit dem Menschen im Urstand stelle. „Gilt diese Frage bei der Auferstehung des konkreten einzelnen Menschen, so gilt sie beim Fall auch im Hinblick auf das ganze Menschengeschlecht.“ (132) So bedeutsam die Unterscheidung zwischen Menschengeschlecht und Einzelmenschen und mit ihr diejenige von Protologie und Eschatologie sei, gemeinsam habe beiden Bezügen die Einsicht zu sein, dass sich sowohl die geschöpfliche Identität des der Sünde verfallenen Menschengeschlechts als auch die Identität des Gefallenen und zur eschatologischen Vollendung bestimmten Einzelmenschen nur von dem in Christus kraft seines Geistes für mich und alle Menschen offenbaren Gott her eindeutig identifizieren lasse. An der in der Christusoffenbarung inbegriffenen Verheißung haben der Christ und die christliche Theologie Schlink zufolge ihr Genügen zu finden. „Die Identität meiner Person jetzt und einst, d. h. die Wirklichkeit der Auferstehung als meiner Auferstehung liegt ja schon darin beschlossen, daß Christus mich jetzt und in der Auferstehung anspricht als einen und denselben, und daß derselbe Gott, der mir hier sein Wort sagt, mich auch einst wiederum ruft und erneuert. In der Identität dieser Anrede und dieses Anredenden ist die Identität des Menschen enthalten vom Urstand bis zum Fall und vom Fall bis zum ewigen Leben, wie auch Gottes Wort die Welt erschuf, versöhnte und erlösen wird.“ (133) Humanwissenschaftlicher Ansatz Vergleicht man den Ansatz der Pannenberg’schen Anthropologie mit Schlinks Untersuchung der kirchlichen Lehre „De homine“, dann lassen sich einige strukturelle Parallelen unschwer entdecken. Der auffälligste Unterschied beider Entwürfe besteht darin, dass der einstige Lehrer unmittelbar dogmatisch einsetzt, wohingegen sein Schüler intensiv und auf breiter Basis um Integration humanwissenschaftlicher Forschungsergebnisse bemüht ist und zwar nicht nur in seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“, sondern auch im Zusammenhang der Lehre vom Menschen, wie er sie in der erklärtermaßen als

Humanspezifische Verhaltensschemata, Aggressivität und Todestrieb

Dogmatik, also aus theologischer Perspektive heraus konzipierten „Systematischen Theologie“ entwickelt hat. Pannenberg begründet diese Verfahrensdifferenz mit dem Hinweis, er sei sich in der Zeit zwischen 1958 und 1961, also in den Jahren, da er als junger Dozent an der Theologischen Hochschule in Wuppertal lehrte, immer mehr dessen bewusst geworden, „daß es nicht damit getan ist, daß Theologen ihre eigene Anthropologie entwickeln, mehr oder weniger unbekümmert um das, was in anderen Disziplinen über den Menschen gesagt wird, etwa von den Texten der Bibel her, aber ohne Rücksicht auf die humanwissenschaftliche, empirische Forschung, die mit der Erforschung der menschlichen Lebensform und des menschlichen Verhaltens beschäftigt ist“2 . Schon die Schrift „Was ist der Mensch?“, die aus 1959/60 in Wuppertal und 1961 in Wuppertal und Mainz gehaltenen Vorträgen erwachsen ist, sollte diesbezüglich Abhilfe schaffen. Bereits damals sah sich Pannenberg allerdings bei seinem Bemühen um humanwissenschaftliche Plausibilisierung der beiden Hauptthemen der traditionellen theologischen Lehre vom Menschen, nämlich Gottebenbildlichkeit und Sünde, vor das Problem gestellt, dass sich für den hamartiologisch zu bedenkenden „Aspekt der menschlichen Wirklichkeit in der humanwissenschaftlichen Arbeit sehr viel weniger Vergleichspunkte bieten als für die Aussage über die Bestimmung des Menschen. Bei den letzteren kann man einen ziemlich massiven Zusammenhang mit der theologischen Tradition rekonstruieren. Im Hinblick auf die Aussage der Sünde des Menschen aber gibt es allenfalls hier und da ein paar Ansatzpunkte.“3 Zwei hamartiologische Anschlussmöglichkeiten bietende humanwissenschaftliche Konzeptionen haben Pannenbergs besondere Aufmerksamkeit auf sich gezogen: die Forschungen von Konrad Lorenz zur Naturgeschichte der Aggression und vergleichbarer menschlicher Verhaltensmuster sowie Sigmund Freuds Triebtheorie und v.a. seine Theorie des sog. Todestriebes. Beide Konzepte bieten paradigmatische Studienbeispiele für eine humanwissenschaftliche Kontextualisierung der überlieferten theologischen Sündenlehre. 2 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive. Philosophisch-theologische Grundlinien, in: ders. (Hg.), Sind wir von Natur aus religiös?, Düsseldorf 1986, 87–105, hier: 90. 3 A.a.O., 99. Methodisch muss sich nach Pannenberg eine Theologie, welche „die Wahrheitsansprüche der christlichen Überlieferung in ihren zentralen Aussagen über den Menschen ernst zu nehmen sich bemüht, … von der Vermutung leiten lassen, daß die für das Menschsein des Menschen konstitutive Gottesbeziehung in den Beschreibungen der säkularen Humanwissenschaften zwar ausgeblendet wird, nichtsdestoweniger aber in den von ihnen beschriebenen Sachverhalten im Spiel ist, und zwar als konstitutiv für das Gesamtphänomen der menschlichen Wirklichkeit.“ (W. Pannenberg, Humanbiologie – Religion – Theologie. Ontologie und wissenschaftstheologische Prämissen ihrer Verknüpfung [1988], in: ders., Natur und Mensch – und die Zukunft der Schöpfung. Beiträge zur Systematischen Theologie. Bd. 2, Göttingen 2000, 99–111, hier: 102)

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Konrad Lorenz und Sigmund Freud Im Jahr 1941 erschien in den „Blätter(n) für Deutsche Philosophie“ eine Studie von Konrad Lorenz zu „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie“4 . Darin greift der berühmte, mit dem Nobelpreis für Medizin geehrte, später von seiner unrühmlichen nationalsozialistischen Vergangenheit eingeholte Verhaltensforscher die transzendentalphilosophische „These von der Abhängigkeit aller Erfahrung von den jeder Erfahrung vorgegebenen Auffassungsformen unseres Geistes“ (Anthr., 29) auf, um sie naturwissenschaftlichbiologisch dergestalt umzuwandeln, dass die apriorischen Anschauungs- bzw. Auffassungsformen und Kategorien auf – mit dem Titel einer bald danach publizierten Studie zu reden – „Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung“5 hin gedeutet werden. Verhaltensschemata artspezifischer Natur präformieren, so die Grundannahme, alle konkreten Erfahrungen, ohne selbst aus eigener Erfahrung gewonnen zu sein: Sie fungieren so gewissermaßen als apriorische Möglichkeitsbedingungen von Aposteriorizität. Ausgearbeitet hat Lorenz sein Konzept in dem Werk „Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens“6 . Es ist von ihm, der sich als einen der beiden letzten „Nachfolger auf dem Lehrstuhl Immanuel Kants“ (19) betrachtete, signifikanterweise den Erinnerungen an Königsberg und den Königsberger Freunden gewidmet. Obwohl er in erkenntnistheoretischen Prolegomena, wie es heißt, seine bisherige Kantsicht modifiziert, den Idealismus als Forschungshindernis kritisiert und der Transzendentalphilosophie seinen hypothetischen Realismus entgegensetzt, bleibt ein tertium comperationis insofern erhalten, als Lorenz wie Kant mit Voraussetzungen rechnet, die alle Erfahrungen konditionieren, ohne selbst Gegenstand möglicher Erfahrung zu sein. „Die gegen alle Veränderungen gefeiten Organisationen, die uns aufgrund gegenwärtiger Sinnesmeldungen unmittelbare ‚Einsichten‘ in die uns umgebende Welt eröffnen, sind die Grundlagen aller Erfahrung! Ihre Funktion ist vor aller Erfahrung da und muß da sein, damit die Erfahrung überhaupt möglich werde. Sie entspreche in dieser Hinsicht vollkommen der Definition, die Immanuel Kant vom ‚Apriorischen‘ gegeben hat.“ (41f.) Naturhafte Bedingungen möglicher Erfahrung Lorenz wollte die organismus- bzw. systemspezifischen Organisationsbedingungen möglicher Erfahrung von Lebewesen in seinen späteren Jahren nicht mehr 4 K. Lorenz, Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, in: Deutsche Blätter für Philosophie 15 (1941), 94–125. 5 Ders., Die angeborenen Formen möglicher Erfahrung, in: Zeitschrift für Tierpsychologie 5 (1943), 235–409. 6 Ders., Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens, München/Zürich 1973. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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ohne weiteres einen apriorischen Weltbildapparat nennen (vgl. 19). Gleichwohl blieb er dabei, alle Erfahrungen von Lebewesen einschließlich menschlicher Erfahrungen von Grundlagen abhängig zu erklären, die durch Evolution und Vererbung dem Einzelnen prinzipiell vorgegeben und nicht durch Eigenerfahrung bedingt sind. Wie es zur Ausbildung derartiger, jede mögliche Erfahrung mitbedingender Erschließungs- und Strukturmuster kommen konnte und tatsächlich kam, wird in den Einzelkapiteln der Monographie zur Darstellung gebracht und zwar unter besonderer Berücksichtigung von Vorgängen kurz-, mittel- und langfristigen Informationsgewinns, von entsprechenden Rückkopplungseffekten und der Entstehung von Systemeigenschaften, von teleonomen Modifikationen des Verhaltens im Sinne von conditioning by reinforcement etc.. Der Übergang von der tierischen zur menschlichen Sphäre soll dabei kontinuierlich und bruchlos erfolgen. Der menschliche Geist und seine Fähigkeit zu begrifflichem Denken werden ebenso evolutionär genetisiert wie das transindividuelle System der Kultur, in der sich der menschliche Geist objektiviert und eine zweite Natur schafft, um humanes Leben zu ermöglichen. Faktoren, welche die Invarianz der Kultur bewahren, und die dem Abbau kultureller Invarianz dienenden Leistungen werden gegeneinander abgewogen, der Ungeplantheit der Kulturentwicklung besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Ein weiterer Schwerpunkt der Untersuchungen liegt auf der Thematik „Symbolbildung und Sprache“ sowie auf der Komplexität kognitiver Leistungen des Menschen. Lorenz rechnet mit Überlieferungen überindividueller Wissensbestände auch bei Tieren. Während aber alle tierischen Traditionen objektgebunden seien, sei für die menschlichen eine weitgehende Unabhängigkeit von Objekten kennzeichnend, was mit dem Vermögen zur Sachlichkeit und mit der Erschaffung von freien Symbolen und begriffssprachlichem Denken einhergehe, wodurch sich die menschliche Möglichkeit eröffne, „Tatsachen und Zusammenhänge ohne das konkrete Vorhandensein des Objektes weiter zu vermitteln“ (215). Auch Tiere verfügen Lorenz zufolge über bemerkenswerte Potenziale hinsichtlich ihres Bewegungsvermögens sowie in Bezug auf Gestaltwahrnehmung, einsichtiges Verhalten oder Lernvorgänge vermöge explikativer Neugier, Nachahmung etc. Keine dieser Leistungen sei ausschließlich dem Menschen vorbehalten. Doch sei „auch keine unter ihnen, in der er nicht alle anderen Lebewesen überträfe“ (221). Entscheidender noch ist nach Lorenz, dass die Leistungsvollzüge im Falle des Menschen in ein übergeordnetes Systemganzes integriert seien, „das sich von allen vorher existenten lebenden Systemen durch einen ‚Hiatus‘ absetzt, der kaum minder groß ist als jener andere, der das Leben von der anorganischen Materie trennt“ (ebd.).

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Fulgurativer Kurzschluss Lorenz spricht von der „Fulguration des menschlichen Geistes“ (223). In einer Rezension seines Versuchs einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens im „Merkur“ vom August 1974 ist mit Recht daran erinnert worden, dass das Wort „fulguratio“ „im Mittelalter für Neuschöpfung durch Gott“7 stand. Davon will Lorenz indes nichts wissen, wie er überhaupt theologischen Deutungen naturwissenschaftlicher Vorgänge skeptisch bis ablehnend gegenübersteht: Der Mensch ist Produkt der Naturevolution und kein Erzeugnis, das sich dem supranaturalen Eingriff eines naturjenseitigen Gottes verdankt. Doch rechnet er, um reduktionistische Konsequenzen zu vermeiden, wenn auch nicht mit kontinuitätszersetzenden Sprüngen der Natur, wohl aber mit Spalten und Öffnungen, die sich in ihrem Entwicklungsverlauf auftun. Ausdrücklich spricht er von Hiatus. Er erklärt das blitzartige Auftreten von Neuem in der Natur, das sich weder vorhersehen noch vorhersagen lasse, mit dem Bild eines zwischen bereits vorhandenen Systemen eintretenden Kurzschlusses, der Folgen bewirke, die sich aus den gegebenen Einzelsystemen nicht deduzieren ließen. Ein solcher fulgurativer Kurzschluss stehe am Anfang der Hominisation und erkläre den Hiatus, der zwischen Mensch und Tier walte und, so Lorenz, der die Sphäre organischer Lebewesen von anorganischer Materie abhebe. Ob es sich dabei um eine empirisch zu verifizierende bzw. zu falsifizierende Erklärung oder um eine semimetaphysische Interpolation handelt, wäre zu prüfen. Bezüglich der Stellung, die sie dem Menschen im Bereich des animalischen Lebens zuerkennt, erweist sich die Verhaltensforschung im Allgemeinen und diejenige von Konrad Lorenz im Besonderen als schwankend. Auf der einen Seite wird der Mensch mit extrahumanen Lebewesen analogisiert bis hin zur reduktionistischen Univokationen sozialdarwinistischer Art, die sich auch nach der Zeit des Nationalsozialismus im Lorenz’schen Oeuvre finden. Auf der anderen Seite wird der Sonderstatus des Menschen in der Natur in einer Weise hervorgehoben, die an den alten Grundsatz der Analogielehre erinnert, wonach in ihr unter bestimmten Bedingungen der in Anschlag gebrachten Ähnlichkeit eine umso größere Unähnlichkeit korrespondiere. An dieser Ambivalenz haben der Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens und die Lorenz’sche Kantrezeption Anteil. Einerseits tendiert Lorenz dazu, Apriorität aposteriorisch dadurch zu beseitigen, dass er die Voraussetzungen und Möglichkeitsbedingungen menschlicher Erkenntnis mit erblich fixierten Wahrnehmungs- und Verhaltensstrukturen gleichsetzt. Andererseits ist er

7 B. v. Wulffen, Hinter den Spiegel geblickt? Fragen zu Konrad Lorenz’ „Die Rückseite des Spiegels“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 315 (1974), 798–804, hier: 800.

Humanspezifische Verhaltensschemata, Aggressivität und Todestrieb

offenbar bemüht, gerade durch den Vergleich mit dem Tier die Unvergleichlichkeit menschlichen Erkennens herauszustellen. Wie sich beides vereinen lässt, wird nicht hinreichend klar, was dann doch wieder an Kant und sein Problem erinnert, empirische und transempirische Ansätze stimmig zu einer transempirischen Theorie des empirischen Erkennens zu vereinigen. Das unfertige Wesen In dem seinem neodarwinistischen Naturalismus und Reduktionismus gegenläufigen Bestreben, die Sonderstellung des Menschen unter den animalischen Lebewesen hervorzuheben, hat Lorenz wiederholt Anschluss gesucht an die sog. Philosophische Anthropologie. Namentlich den Begriff der Weltoffenheit hat er immer wieder aufgegriffen – etwa in der methodologischen Erörterung über „Ganzheit und Teil in der tierischen und menschlichen Gemeinschaft“ von 1950, die in dem 1965 erschienenen zweiten Band seiner gesammelten Abhandlungen „Über tierisches und menschliches Verhalten“ aufgenommen worden ist.8 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht v. a. das Kapitel über „Die konstitutive Gefährdung des Menschen“ (vgl. 176ff.). Es handelt von domestikationsbedingten Ausfällen als Voraussetzung der Menschwerdung des Menschen, der als Spezialist auf Nichtspezialisiertsein und als jenes unfertige Wesen zu gelten habe, dessen Weltoffenheit, wie Lorenz unter Berufung auf Gehlen sagt, „nicht nur graduell-quantitativ, sondern auch qualitativ von derjenigen tierischer Spezialisten auf Nichtspezialisiertsein verschieden“ (182) sei. Illustriert wird dies anhand des bis ins hohe Alter „persistierende(n) Jugendmerkmal(s) der forschenden Neugier“ (183), wie es für das Menschsein des Menschen konstitutiv und kennzeichnend sei. Zoologisch betrachtet stelle der Mensch „einen speziellen Fall von echter Neotonie“ (ebd.) dar, sofern seine aktive und schöpferische Auseinandersetzung mit der Umwelt virtuell ein Leben lang erhalten bleibe: „Ein alter Kolkrabe oder eine alte Ratte hat durchaus nichts mehr von jener Weltoffenheit“ (182), die den Menschen im Grundsatz bis zum Tode hin charakterisiert. Weil seine Jugendlichkeit bis zum Senilwerden persistiert, ist und bleibt der Mensch das prinzipiell unfertige, in beständigem Werden begriffene und zugleich das riskiert-riskante Wesen, das, weil es nicht durch Instinkte festgelegt und auf seine Umwelt fixiert ist, stets in Gefahr steht, sich und seine humane Bestimmung zu verfehlen. Der Preis des Abbaus von Strukturen angeborenen Verhaltens als der Möglichkeitsbedingung freien Denkens und Handelns ist 8 K. Lorenz, Ganzheit und Teil in der tierischen und menschlichen Gemeinschaft. Eine methodologische Erörterung (1950), in: ders., Über tierisches und menschliches Verhalten. Aus dem Werdegang der Verhaltenslehre. Gesammelte Abhandlungen Bd. II, München 1965, 114–200. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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nach Lorenz die beständige Anfälligkeit für dasjenige, was er das sog. Böse nennt, um den Titel eines seiner bekanntesten Bücher zu zitieren. Übel bewirken auch Tiere, indem sie sich gegenseitig Schmerz, Leid und Tod zufügen. Das Üble, das Menschen sich und anderen antun, ist davon trotz gegebener Vergleichsaspekte nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ insofern unterschieden, als die üble Tat eines prinzipiell weltoffenen Wesens ungleich abgründiger ist als im Falle eines umweltfixierten und instinktgebundenen, dessen Aberrationen sich in Grenzen halten, wohingegen sie beim Menschen tendenziell grenzenlos sind. Die Abgründigkeit dessen, was nicht nur übel, sondern böse zu nennen ist, ergibt sich nach Lorenz aus einer auf Lösung hin angelegten, aber von Natur aus ungelösten Spannung, die für das Menschenwesen kennzeichnend sei. „Der Mensch ist das vernünftige Wesen. Aber er ist nicht nur Vernunftwesen, sein Verhalten ist lange nicht so ausschließlich von Vernunft bestimmt, wie die meisten philosophischen Anthropologen annehmen, sondern in viel höherem Maße von angeborenen arteigenen Aktions- und Reaktionsnormen gesteuert, als wir meist glauben und gern wahrhaben möchten.“ (187) Dies gelte v. a. für das soziale Verhalten des Menschen, das, wie man hinzufügen darf, vom menschlichen Selbstverhältnis zu unterscheiden, nicht aber zu trennen ist. Einerseits, so Lorenz, sei der Mensch vermöge seiner Weltoffenheit in jeder Beziehung auf vernünftiges Verhalten angelegt, andererseits bleibe er dauerhaft animalisch bestimmt und mit tierischen Anteilen versehen, was sich beispielhaft an seinem Aggressionsverhalten und an dem krassen Missverhältnis zeige, „das zwischen seinen ungeheuren Erfolgen in der Beherrschung der Außenwelt und seiner niederschmetternden Unfähigkeit, die innerartlichen Probleme der Menschheit zu lösen, besteht“ (ebd.). Das sogenannte Böse Aggressivität findet sich offenkundig auch im Tierreich. Doch sprengt sie beim Menschen den animalischen Rahmen, wenn sie sich mit fehlgeleiteter Vernunftbestimmung und einer Denken und willentliches Handeln betreffenden Verkehrtheit paart. Beim selbstverkehrten Vernunftwesen Mensch nimmt die Aggression ungleich destruktivere und hemmungslosere Formen an als im tierischen Bereich und das umso mehr, als sein technisches Vermögen ihm Mittel bereitstellt, die alle animalischen Zerstörungspotenziale ins Maßlose hinein übertreffen. Die Macht vernunftmäßiger Moral, menschliche Aggressionspotenziale in Schach zu halten, beurteilt Lorenz als begrenzt. Nach seiner Auffassung müssen transmoralische Zusatzleistungen erbracht werden, um den durch Vernunftverkehrung ins Unermessliche gesteigerten individuellen und kollektiven Aggressionstrieb des Menschen zu bändigen. Lorenz traut solche

Humanspezifische Verhaltensschemata, Aggressivität und Todestrieb

Leistungen v. a. wissenschaftlicher Aufklärung zu gemäß seiner Forschungsmaxime: „Das einzige Mittel, die Funktionsstörung eines Systems zu beseitigen, liegt in der kausalen Analyse des Systems und der Störung.“ (200; bei L. kursiv) Der kausalen Analyse der Störungen des Systems menschlichen Verhaltens hat Lorenz sein bereits erwähntes Werk „Zur Naturgeschichte der Aggression“ „Das sogenannte Böse“ gewidmet, das in kurzer Zeit eine Vielzahl von Auflagen erlebt hat.9 Es handelt „von dem auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Tier und Mensch“ (IX). Nach Lorenz ist Aggression in der Perspektive biologischer Verhaltensforschung „ein Instinkt wie jeder andere und unter natürlichen Bedingungen auch ebenso lebens- und arterhaltend“ (X). Einzelne Funktionen des lebens- und arterhaltenden Aggressionsinstinkts wie Abwehr des Fressfeindes oder des Sexualrivalen etc. werden in dem Kapitel „Wozu das Böse gut ist“ (vgl. 35ff.) beschrieben. Genau analysiert werden ferner der Aggressionsstau und die Möglichkeiten seines Abbaus, die mit fortschreitender Kultivierung des Menschen und im Zuge seiner Instinktreduzierung mehr und mehr eingeschränkt sind mit der Folge, dass die gestaute Aggressivität bei Gelegenheit explosionsartig und in einer für die Art selbst verheerenden Weise ausbricht. Menschliche Aggressivität kann im Unterschied zur tierischen entarten, wobei die Entartungen umso schlimmer ausfallen, je mehr Vernunftpotenziale etwa mittels Technisierung in ihnen am Werke sind. Störte nach Lorenz bereits „die Erfindung der ersten Waffe das bisher vorhandene Gleichgewicht zwischen Tötungsfähigkeit und instinktmäßiger Tötungshemmung“ (339), so wird diese Störung mit fortschreitender Waffentechnik fatal. Moderne Fernwaffen anonymisieren das Töten und schirmen weitgehend „gegen alle hemmungsauslösenden, mitleiderregenden Reizsituationen“ (ebd.) ab: „Unsere tieferen, gefühlsmäßigen Schichten nehmen ganz einfach nicht zur Kenntnis, daß das Abkrümmen eines Zeigefingers, das den Schuß löst, einem anderen Menschen die Eingeweide zerreißt.“ (Ebd.) Für den Abwurf einer Bombe oder für einen ferngesteuerten Drohneneinsatz gilt dies nicht minder. Pflicht und Neigung Um das verlorengegangene Gleichgewicht zwischen instinktiver Tötungshemmung und exorbitanter Bewaffnung des Menschen infolge der aus seiner Weltoffenheit erwachsenen Theorie- und Praxisbegabung wiederherzustellen, genügt

9 Ders., Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression, Wien 1963. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zum Versuch einer kulturanthropologischen Integration diverser Aggressionstheorien vgl. W. Schmidbauer, Die sogenannte Aggression. Die kulturelle Evolution und das Böse, Hamburg 1972.

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nach Lorenz der moralische Appell nicht, so nötig er im Prinzip ist. Um menschliche Aggressivität zu zivilisieren, bedarf es kultivierter Möglichkeiten ihres Abbaus, die Stauungen verhindern. Der Mensch muss einerseits lernen, seinen natürlichen Neigungen nicht hemmungslos zu folgen; er muss aber zugleich imstande sein, ihnen einen Spielraum zu eröffnen, weil sie nur so eingehegt und vor Wildwuchs bewahrt werden können. Durch Moral allein kann der Andrang aggressiver Impulse nicht aufgehalten werden; es bedarf anderer Kompensationsmechanismen bzw. Kanalisationssysteme, um Aggressivität in geordnete Bahnen zu lenken und sintflutartige Ausbrüche zu unterbinden, die alles in den Untergang reißen. Lorenz sieht es als eine gefährliche Schwäche hochzivilisierter Kulturen der Moderne an, entsprechende Mittel und Wege nicht nur nicht zu eröffnen, sondern zu verschließen und zwar nicht zuletzt durch die ständig steigenden Anforderungen an funktionsgerechtes und systemkonformes Verhalten. Unter solchen Bedingungen kann nicht gedeihen, was er natürliche Moralität und eine Sittlichkeit nennt, die durch gewohnte Sitte bestimmt ist. Ausdrücklich wendet er sich gegen den Kant’schen Antagonismus von Pflicht und Neigung. Nur wer aus natürlicher Neigung bzw. deshalb pflichtgemäß handle, weil es seiner Natur entspreche, wird dies auch unter Bedingungen erhöhter Belastung tun. Nach Lorenz „bedarf es stets eines nicht vernunft-, sondern gefühlsmäßigen Faktors, um eine vernunftmäßige Erkenntnis in einen Imperativ zu verwandeln“ (356f.), der wirklich und verbindlich bindet. Ausbilden kann sich dieser Faktor nach seinem Urteil nur, wenn das Tierische im Menschen nicht einfachhin verdrängt, sondern in bestimmter Weise gepflegt und gehegt wird, weil es nur so von einem unmittelbaren Ausbruch abgehalten werden kann. Dies gilt auch in Bezug auf die Aggression, deren Instinktwurzeln nach Lorenz „ursprünglich durchaus arterhaltende Bedeutung haben und in ihren Wirkungen begrenzt sind“ (Anthr., 139): „Aggression ist nicht das Böse schlechthin, sondern nur das ‚sogenannte‘ Böse.“ (Ebd.) Wirklich böse werde sie erst im Falle ihrer „dysfunktionalen Entwicklung“ (Anthr., 140, Anm. 176), wie sie beim Menschen infolge seiner mit Triebverdrängung einhergehenden Kulturentwicklung gegeben sei. Könne Aggression nicht auf natürliche Weise ausgelebt werden, entarte sie und nehme totalitäre Form an, um Bosheit als das radikal, von der Wurzel her Verkehrte zu bewirken. In sich verkehrt treibt Aggressivität dem Tode zu. Aggressiver Todestrieb Lorenz hat sich für seine Annahme eines aggressiven Todestriebes ausdrücklich auf Sigmund Freud berufen, wie Pannenberg zu Beginn des Abschnitts über „Sünde und Bosheit“ in seiner „Anthropologie in theologischer Perspektive“ eigens vermerkt (vgl. Anthr., 140), um der Fallstudie zur Lehre des Verhaltens-

Humanspezifische Verhaltensschemata, Aggressivität und Todestrieb

forschers zu aggressiven Verhaltensschemata beim Menschen eine weitere zur Freudschen Theorie eines auf Tod und Zerstörung gerichteten Triebes folgen zu lassen. Sie orientiert sich vornehmlich an der berühmten Studie von 1930 über „Das Unbehagen in der Kultur“, obwohl angemerkt wird, dass Freud mit einem den Lebenstrieben entgegengesetzten Trieb bereits früher gerechnet habe (vgl. Anthr., 141, Anm. 180). Die Schrift von 1930 ist u. a. für ihre radikale Religionskritik bekannt. Freud sieht in den Religionen einen Massenwahn am Werke, dem es „durch gewaltsame Fixierung eines psychischen Infantilismus“10 zwar gelinge, „vielen Menschen die individuelle Neurose zu ersparen“ (ebd.), aber um den Preis eines Verlustes oder einer weitreichenden Einschränkung des Realitätsprinzips. Als ein Indiz für mangelnde Wirklichkeitswahrnehmung wird u. a. die Tatsache gewertet, dass den religiösen Wahn niemals erkennt, „wer ihn selbst noch teilt“ (79). Um ihn in seiner Wahnhaftigkeit zu durchschauen, bedürfe es analytischer Distanz und der Einsicht, dass Religion nicht selten eine Folge jenes kulturellen Unbehagens sei, von welchem der Titel der zitierten Schrift spricht. Unter „Kultur“ versteht Freud „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen …, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“ (85). Obwohl der Kultivierungsprozess aus humanen Gründen alternativlos ist, kann das menschliche Missvergnügen an ihm, wie es häufig begegnet, mit Freuds psychoanalytischem Verständnis insofern rechnen, als kultiviertes Verhalten mit der Zumutung wenn nicht des generellen Triebverzichts, so doch einer geforderten Sublimierung der Triebe und ihrer Ziele verbunden ist. Unabdingbarer Preis kulturellen Auflebens scheint eine weitreichende Triebunterdrückung zu sein, wie sie insbesondere die menschliche Sexualität betreffe. Die Kultur benehme sich gegen sie „wie ein Volksstamm oder eine Schicht der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln.“ (97) Die gemaßregelten und unterdrückten Triebe suchen daraufhin Ersatzbefriedigung und finden sie nicht selten auf neurotische Weise oder im Modus der Religion als eines Neurosensubstituts.

10 S. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: ders., Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur. Mit einer Rede von Th. Mann als Nachwort, Frankfurt a. M./Hamburg 1953, 63–129, hier: 82. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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Psychoanalytische Triebtheorie Freuds Triebtheorie gehört zu den Grundlagen der Psychoanalyse.11 Weil bereits ihre begriffliche Basis strittig ist12 , empfiehlt es sich, der Bestimmung ihrer einzelnen Momente einige terminologiegeschichtliche Bemerkungen vorauszuschicken. Trieb kann grundsätzlich alles genannt werden, was treibt, so etwa Uhrwerkstriebe oder Triebwerke anderer Art, die etwas zum Laufen bringen, was nicht von selbst läuft, wie beispielsweise ein Triebwagen. Fehlt der Trieb, dann geht nichts mehr. Dies gilt nicht nur in physikalischer, sondern auch in chemischer Hinsicht; der Teig ist nicht das einzige Substrat, das eines Triebmittels wie etwa der Hefe bedarf, um aufzugehen. In der vegetabilischen Welt wird Trieb der sprießende Teil der Pflanze genannt, der durch sein Sprossen Sprösslinge hervorbringt und daher pflanzlichen Selbsterhalt und Fortpflanzung in einem gewährleistet. Zu im eigentlichen Sinne zwei Trieben werden die auf Selbsterhalt und Fortpflanzung gerichteten erst in der animalischen Sphäre, an der auf seine Weise auch der Mensch partizipiert. Bei menschlichen Trieben, in denen die tierischen transformiert fortwirken, handelt es sich um endogene Motivationen, die unbewusst und unwillkürlich, jedenfalls unabhängig von einem eigens zu fassenden bewussten Willensentschluss zur Befriedigung eines elementaren Grundbedürfnisses antreiben. Trieb lässt sich sonach als ein motivierender Drang definieren, „der den Organismus auf ein Ziel hinstreben läßt. Nach Freud ist die Quelle eines Triebes ein körperlicher Reiz (Spannungszustand); sein Ziel ist die Aufhebung des an der Triebquelle herrschenden Spannungszustandes; am Objekt oder dank diesem kann der Trieb sein Ziel erreichen.“13 Entwickelt hat Freud seine Triebtheorie in einzelnen Phasen, wobei die Unterscheidung „zwischen dem auf die Erhaltung des Individuums gerichteten Selbsterhaltungstrieb und den auf die Erhaltung der Art gerichteten Sexualtrieben“14 am Anfang steht. Die psychischen Energien der sexuellen Triebe werden einheitlich als Libido, also mit dem lateinischen Begriff für Begehren bezeichnet. Stellte Freud zunächst die Sexualenergie als den Drang zu geschlechtlicher Befriedigung dem Selbsterhaltungstrieb entgegen, so erklärte er später auch diesen für libidinös besetzt und fasste beide unter dem Stichwort Lebenstriebe zusammen, um sie in der letzten Entwicklungsphase seiner Triebtheorie einem 11 Vgl. A. Grünbaum, The Foundations of Psychoanalysis. A Philosophical Critique, Berkeley/Los Angeles/London 1984; deutsch: Die Grundlagen der Psychoanalyse. Eine philosophische Kritik, Stuttgart 1988. 12 Vgl. H. Nagera (Hg.), Psychoanalytische Grundbegriffe. Eine Einführung in Sigmund Freuds Terminologie und Theoriebildung, Frankfurt/M. 1977, 19ff. 13 J. Laplanche/J.-B. Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt 10 1991, 525 (fett gedruckt). 14 H. Nagera (Hg.), a.a.O., 26.

Humanspezifische Verhaltensschemata, Aggressivität und Todestrieb

auf anorganische Reduktion organischen Lebens gerichteten Todestrieb zu kontrastieren. Seit 1920 rechnet Freud mit einer Triebalternative von Eros und Thanatos; Aggressivität wurde von nun an „nicht mehr als eine den Selbsterhaltungstrieben entstammende Strebung, sondern als die nach außen gewendete Manifestation des Todestriebes aufgefaßt“15 ; dieser bezeichne ihr „einziges und fundamentales Triebsubstrat“16 . Eros und Thanatos Der spätestens seit der Schrift „Jenseits des Lustprinzips“ von 1920 in Freuds Triebtheorie eingeführte und bis zuletzt beibehaltene Todestrieb bezeichnet im Gegensatz zu den erotischen Lebenstrieben einen auf Destruktion einschließlich Selbstzerstörung ausgerichteten Drang. Unübersehbar, so Freud in der bereits zitierten Schrift über „Das Unbehagen in der Kultur“, sei „die Ubiquität der nicht erotischen Aggression“ (108), „die angeborene Neigung des Menschen zum ‚Bösen‘“ (ebd.). Der Todestrieb tritt nach Freud auch ohne sexuelle Absichten auf. Doch ist die Wut der Zerstörung, die ihn kennzeichnet, auf ihre Weise libidinös besetzt und die Befriedigung des aggressiven, auf Destruktion gerichteten Todestriebs „mit einem außerordentlich hohen narzißtischen Genuß verknüpft“ (109). Das Triebleben des Menschen ist wie in vergleichbaren Ansätzen bereits dasjenige der Tiere nach Freud nicht ohne intrinsische Repräsentanz denkbar. Es besteht nicht lediglich in externen Reizen, auf die äußerlich reagiert wird, auch nicht lediglich in instinktivem Verhalten, jedenfalls wenn dieses auf dasjenige reduziert wird, was von außen beobachtbar ist. Blendet man die Innenseite des Instinkts nicht aus, dann ist er dem, was im Deutschen Naturtrieb heißt, durchaus vergleichbar. Bedeutet doch das Verb „instinguere“ seiner Ursprungsbedeutung nach einen Vorgang des Anstachelns und Antreibens. Physische Grundlage des Triebs ist eine somatische Spannung, die sich aber nicht auf den Körper beschränkt, sondern psychisch in Form eines Begehrens gegenwärtig ist, das Entspannung und Befriedigung erstrebt. Der Trieb drängt darauf, lustvoll gelöst zu werden. Er giert nach Nahrung, Wasser, Luft etc., damit das Einzelleben, und nach Paarung, damit die Art erhalten bleibe; Sexualität strebt nach Begattung, um in ihr Befriedigung zu finden, der Trieb der Selbsterhaltung auf Gewährleistung des psychosomatischen Bestands. So dienen beide dem Leben, wohingegen der Todestrieb mit Lust und Fleiß auf Zerstörung und darauf aus ist, „das Lebewesen in den anorganischen Zustand zurückzuführen“17 . Um 15 A.a.O., 52. 16 J. Laplanche/J.-B. Pontalis, a.a.O., 40 (fett gedruckt). Zur Triebmischung bzw. -entmischung vgl. a.a.O., 529ff. 17 A.a.O., 494 (fett gedruckt).

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ihn daran zu hindern, bedarf es des Einsatzes von Kräften, die noch stärker sein müssen als diejenigen, durch welche die libidinösen Triebe gebändigt und sublimiert werden. Die sich selbst überlassenen Triebe sind naturgemäß darauf aus, dass, mit Freud zu reden, das Es über das Ich herrsche; andernfalls drohen sie nicht diejenige Befriedigung zu finden, die ihnen gemäß zu sein scheint. In der Kultur und im kultivierten Leben des Ich hingegen sollen sie eingehegt und beschnitten werden, um ihr Überhandnehmen und Auswuchern zu verhindern. Dies geschieht nach Freud im Falle des Todestriebes am erfolgreichsten dann, wenn seine außenbezogene, gegen Objekte, gegebenenfalls gegen die eigene physische Existenz gerichtete Aggressivität reflexiv gebrochen, subjektiviert, introjeziert, verinnerlicht und gegen das Ich der Selbstwahrnehmung gewendet wird. „Dort wird sie von einem Anteil des Ichs übernommen, das sich als Über-Ich dem übrigen entgegenstellt, und nun als ‚Gewissen‘ gegen das Ich dieselbe strenge Aggressionsbereitschaft ausübt, die das Ich gerne an anderen, fremden Individuen befriedigt hätte.“ (111) Indem das „Über-Ich“ dem „Ich“ sein triebhaftes Streben, welches das „Es“ genannte Unter-Ich auf präbewusste Weise bewirkt, vorhält und zum Vorwurf macht, bereitet es ihm ein schlechtes Gewissen und ruft Schuldbewusstsein hervor. Schlechtes Gewissen Schuld gilt Freud ursprünglich als dasjenige, für das in Form internalisierter Aggression bzw. Angst vor Liebesverlust bestraft wird. Ich fühle mich schuldig und habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich etwas getan oder unterlassen habe, wofür mir nach dem Empfinden Strafe gebührt, das mein Über-Ich in mir erzeugt. Ob die Strafe gerecht und das Schuldbewusstsein objektiv und nicht von lediglich subjektiver Natur ist, bleibt dabei offen. Schuldhaft, strafwürdig und böse scheint dasjenige zu sein, was man aufgrund der durchlaufenen Sozialisation jeweils dafür hält. Zwar rechnet Freud mit Entwicklungsstufen des Schuldbewusstseins: Stehe am Anfang die infantile Angst vor Liebesverlust, so bilde sich nach erfolgter Internalisierung der Autorität des Vaters, der Eltern bzw. der Gruppe, in der man aufwächst, ein Über-Ich aus, das als Macht des Gewissens agiere und den Eindruck einer Verbindlichkeit von universaler Reichweite erzeuge. Objektive Allgemeinheit und Unbedingtheit wird man Freud zufolge gleichwohl auch dem ausgebildeten Erwachsenengewissen nicht zubilligen können, weil das menschliche Über-Ich in jeder Lebensphase nur eine Verinnerlichung von normativen Werten einer Teilmenge der Menschheit und kein humanes Universale repräsentiert.18 18 Hinzukommt nach Maßgabe Freuds, dass die Angst vor Liebesverlust als Ursprung des Schuldempfindens auf jeder Entwicklungsstufe der Gewissensbildung hintergründig erhalten bleibt

Humanspezifische Verhaltensschemata, Aggressivität und Todestrieb

Die individuelle und kollektive Genealogie der Moral nimmt nach Freud ihren Anfang mit der Angst vor Liebesverlust, die im Verlaufe der Entwicklung zum Gewissen wird, welches zunächst Triebverzicht verursacht, um sich schließlich zugleich als dessen Folge insofern darzustellen, als jede verhinderte Triebbefriedigung die autoritative Macht des Über-Ich steigert. Je weniger sich beispielsweise der Aggressionstrieb zum Zwecke seiner Befriedigung nach außen wenden darf, desto aggressiver wird er in Form der Forderungen des Über-Ich im Inneren. Wie Freud die Wendung der Aggressivität von außen nach innen im Einzelnen erklärt und welche Bedeutung im Zusammenhang dieser Erklärung dem Ödipuskomplex und der Vorstellung eines urtümlichen Vatermordes zukommt, kann dahingestellt bleiben. Abschließend festgehalten sei lediglich, dass nach Freud Moral eine kulturrelative Größe und Kultur eine Entwicklung darstellt, die auf Unterdrückung bzw. Sublimierung von Trieben bzw. Triebbefriedigungsbedürfnissen basiert. Der Preis der Kulturentwicklung und ihres Fortschritts besteht „in der Glückseinbuße durch die Erhöhung des Schuldgefühls“ (119) als einer „topische(n) Abart der Angst“ (120). Ihren unmittelbar-infantilen Ausdruck findet diese in Bezug auf die äußere Autorität, welche sich durch die Macht auszeichnet, Liebe geben, aber auch entziehen zu können. Auf vermittelte Weise ist die Angst in Form der im Über-Ich verinnerlichten Autorität wirksam, welche Schuldbewusstsein und Gewissensbisse erzeugt, die den inwendigen Menschen schmerzen. Als Psychoanalytiker und Neurosenforscher erhebt Freud gegen das Über-Ich den Vorwurf, in der Strenge seiner Gebote und Verbote weder das individuelle noch das kollektive Glücksbedürfnis angemessen zu berücksichtigen, was zwangsläufig zu Neurosen sowohl des Einzelnen als auch großer Kulturgemeinschaften führe. Eine der wirkmächtigsten und zugleich zwanghaftesten Formen von Gemeinschaftsneurotik ist nach Freuds Urteil die Religion. Mit dieser Annahme scheint er das theologiespezifische Verständnis von Sünde und Schuld noch radikaler in Frage zu stellen als Konrad Lorenz.

und fortwirkt. Dies gelte in individueller, aber auch in kollektiver Hinsicht, wofür das Volk Israel als Beispiel aufgeführt wird: Es „hatte sich für Gottes bevorzugtes Kind gehalten, und als der große Vater Unglück nach Unglück über dies sein Volk hereinbrechen ließ, wurde es nicht etwa irre an dieser Beziehung oder zweifelte an Gottes Macht und Gerechtigkeit, sondern erzeugte die Propheten, die ihm seine Sündhaftigkeit vorhielten, und schuf aus seinem Schuldbewußtsein die überstrengen Vorschriften seiner Priesterreligion.“ (113)

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Exzentrizität, Selbstzentriertheit und Egozentrik

Das Unwesen der Sünde als abgründiger Verkehrung des Gottesverhältnisses durch den Menschen kann „in voller Klarheit erst von Gottes Selbstoffenbarung her“19 erkannt werden. Dies gilt, wie Pannenberg in Übereinstimmung mit seinem Lehrer Edmund Schlink konstatiert, umso mehr, als „die Verderbtheit des Menschen, – wenn sie wirklich so radikal ist, wie die christliche Sündenlehre behauptet, – selber die Einsicht in diesen seinen Zustand blockieren muss“ (Anthr., 89). Dennoch und unbeschadet dessen könne es bei einer „Behauptung einer rein offenbarungstheologischen Vermittlung der Sündenerkenntnis“20 nicht sein Bewenden haben. Erkenntnis der Sündhaftigkeit ist nach Pannenberg nicht lediglich Sache des Offenbarungsglaubens und der menschlichen Selbsterfahrung keineswegs gänzlich verschlossen. Anthropologisch zu verifizierende Sündenerkenntnis müsse der durch die Christusoffenbarung erschlossenen vielmehr so vorausgesetzt werden wie das – als lex naturalis die kreatürliche Bestimmung des Menschen in der Schöpfung explizierende – Gesetz dem Evangelium. Methodisch folge daraus, „dass der Sachverhalt, auf den sich die theologische Qualifizierung der Sünde bezieht, als solcher auch ausgewiesen werden müsse. Das dafür maßgebliche Verständigungsparadigma ist unter den Bedingungen der Moderne die Frage nach der Subjektivität des Menschen.“ (Ebd.) Um das Problem menschlicher Verkehrtheit im Rahmen einer Theorie der Subjektivität auf eine Weise anzugehen, die nicht nur den Offenbarungsglauben, sondern allgemeiner Erfahrung zugänglich ist, zog Pannenberg für die Begründung seines hamartiologischen Ansatzes außertheologische Wissenschaften wie etwa die Verhaltensforschung oder die Psychologie zu Rate. Von ersterer erwartete er vor allem Einsicht in die Grundbestände naturaler Verfasstheit verkehrten Menschenlebens, von letzterer Aufschluss darüber, wie die Naturbedingungen menschlichen Daseins dazu führen können, dass das Ich sich in sich selbst verkehrt. Was diesbezüglich von Konrad Lorenz, Sigmund Freud und anderen zu lernen war, hat Pannenberg nicht nur äußerlich registriert, sondern konsequent in seinen hamartiologischen Ansatz integriert, der darauf zielt, Egozentrik als den Inbegriff sündiger Verkehrtheit zu erweisen. Ihr abgründiges Unwesen treibt die Sünde vorzugsweise in Gestalt des sich selbst verfallenen Ich.

19 W. Pannenberg, Anthropologie in theologischer Perspektive, Göttingen 1983 (= Anthr.), 89. 20 Chr. Axt-Piscalar, Art. Sünde VII. Reformation und Neuzeit, in: TRE 32, 400–436, hier: 425. Vgl. ferner: G. Pfleiderer, „Die eigentliche Sünde ist allen Menschen unbekannt.“ Überlegungen zum Verhältnis von Sünde und Sündenerkenntnis, in: NZSTh 43 (2001), 330–349.

Exzentrizität, Selbstzentriertheit und Egozentrik

Anthropologische Grundbegriffe Der Mensch ist ein exzentrisches und zugleich selbstzentriertes Wesen. Dass er beides in einem ist, entspricht seiner kreatürlichen Bestimmung und widerspricht ihr keineswegs per se, begründet aber eine Spannung, die zum Anlass einer Verkehrung der menschlichen Identität durch Ichsucht und selbstische Konkupiszenz werden kann. Um genauer zu verstehen, was damit gemeint ist, sind einige der Grundbegriffe der theologischen Anthropologie Pannenbergs zu rekapitulieren. Die Sonderstellung des Menschen gründet ihr zufolge wesentlich auf seiner gottebenbildlichen Bestimmung zur Gemeinschaft mit seinem Schöpfer. Für das Personsein des Menschen in seiner differenzierten Einheit von Leib und Seele, die nicht zwei trennbare Teilsubstanzen darstellen, sondern untrennbar zusammengehören, ist konstitutiv, was Pannenberg Geistbezug nennt. Unter Geist ist dabei keine Seelenkraft im Sinne etwa der aristotelisch-thomasischen anima intellectiva, sondern das das leibseelische Leben des Menschen und seine Personidentität begründende und erhaltende schöpferische pneuma Gottes zu verstehen. Durch den Gottesgeist wird der Mensch zu jener Selbsttranszendenz bewegt, auf die sein Wesen angelegt und ohne die seine Bestimmung nicht zu realisieren ist. Dies gilt auch und gerade für die menschliche Vernunft, die daher mit dem Geist nicht gleichzusetzen ist, weil sie von einer Begeisterung lebt, die nicht unmittelbar in ihrem Vermögen steht. Die Vernünftigkeit seiner Vernunft und die Humanität des Menschen sind, was sie sind, im Übersichhinaus, im exzentrischen Gründen im Geist. Der Geist ist es zugleich, der jenes Ineinander von Ekstatik und Innerlichkeit wirkt, welches alles Seiende durchwaltet, um im sich wissenden Ich eine basale Wissensform auszubilden, ohne mit menschlichem Selbstbewusstsein unmittelbar identisch zu sein. Sind doch das Selbstbewusstsein des Menschen und das Ich, als das er sich selbst weiß, an sich selbst endlich und des Unendlichen nur teilhaftig, sofern sie von diesem ergriffen und über die Schranken ihrer Endlichkeit hinausgeführt und zu jener exzentrischen Selbsttranszendenz befähigt werden, zu der der Mensch in seinem gottebenbildlichen Personsein bestimmt ist. Boethius hatte im dritten Kapitel seines gegen Eutyches und Nestorius gerichteten „Liber de persona et duabus naturis“ Person als „naturae rationalis individua substantia“ (MPL 64,1343) definiert. Auch Pannenberg bestimmt den Personbegriff aus seinem trinitätstheologisch-christologischen Ursprungskontext heraus, jedoch im Sinne einer konstitutiven Relation. Personsein ist Sein in Beziehung und grundgelegt im Bezug zu Gott und zum göttlichen Geist, der das menschliche Verhältnis zu Selbst und Welt personhaft bestimmt. „Ohne das Wirken des göttlichen Geistes im Menschen wäre ihm keine Personalität im tieferen Sinne des Wortes zuzuerkennen. Denn Personalität hat es zu tun

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mit dem Inerscheinungtreten der Wahrheit und Ganzheit des individuellen Lebens im Augenblick seines Daseins. Der Mensch ist nicht dadurch schon Person, daß er Selbstbewußtsein besitzt und das eigene Ich von allem anderen zu unterscheiden und festzuhalten vermag. Er hört auch nicht auf, Person zu sein, wo solche Identität im Selbstbewußtsein nicht mehr besteht, noch ist er ohne Personalität, wo sie noch nicht vorhanden ist. Personalität ist begründet in der Bestimmung des Menschen, die seine empirische Realität immer übersteigt.“21 Geistwidrige Verkehrtheit Der Mensch ist ein exzentrisches und selbstzentriertes Personwesen. Wo jene Begeisterung statthat, die mit dem für sein Personsein konstitutiven Gottesbezug verbunden ist, bilden Exzentrizität und Selbstzentriertheit des Menschen eine zwar spannungsvolle, aber stimmige Einheit, sofern das grundlegend auf Gott bezogene menschliche Ich in selbsttranszendenter Weise und damit so bei sich ist, wie es seinem kreatürlichen Selbst- und Weltverhältnis entspricht. Geistlos nicht nur, sondern geistwidrig gestaltet sich das menschliche Selbstverhältnis hingegen dann, wenn der Mensch den Gottesbezug durch ein solipsistisches Verhältnis unmittelbarer Selbstbestimmung zu ersetzen gedenkt. Dann nimmt der anthropologische Zusammenhang von Exzentrizität und Zentriertheit die Form manifester Verkehrung an. Pannenberg charakterisiert sie mit den Begriffen Elend und Entfremdung, um von dorther das nötige terminologische Bedeutungsprofil für den Sündenbegriff zurückzugewinnen, das dieser in der Alltagssprache weithin verloren hat. Das Elend der Sünde besteht nach Pannenberg in Sonderheit darin, dass sie den Menschen mit der Gottesgemeinschaft, zu der er als gottebenbildliches Geschöpf bestimmt ist, seiner eigenen Würde beraubt. Während die in seiner 21 W. Pannenberg, Systematische Theologie (= STh). Bd. II, Göttingen 1991, 227f. Ausdrücklich weist Pannenberg darauf hin, dass der Begriff der Person und ihrer individuellen Personalität erst im christlichen Kontext „zum Thema grundsätzlicher anthropologischer Reflexion“ (STh II, 228) geworden sei und seine charakteristische Prägung von der Christologie und der Trinitätslehre her gewonnen habe. In der Christologie bezeichnet der Personbegriff die für Jesu Menschsein schlechterdings konstitutive Gottesbeziehung, in der Trinitätslehre die wesenseinigen Hypostasen der Gottheit, die allein in wechselseitiger Selbstunterscheidung und Hingabe aneinander sind, was sie sind. Von diesem christologisch-trinitarischen Zusammenhang her erschließe sich der mit Anspruch auf Allgemeingeltung versehene Personbegriff christlicher Anthropologie. Der Mensch ist als Person ein Beziehungswesen, wobei für personale Selbst- und Weltbeziehung die Gottesbeziehung grundlegend sei. Nur vom Gottesbezug her eröffne sich dem Menschen ein seiner Gottebenbildlichkeit entsprechender Bezug zu sich selbst und zum Mitmenschen in einer gemeinsam gegebenen Welt. Entfremdet er sich von Gott, um sich unmittelbar auf sich selbst und seine Welt zu gründen, dann gerät er ins Elend und verkehrt mit der Beziehung zu Gott auch die Selbstbeziehung und die Beziehung zu Mitmenschen und Welt, um sich und andere durch Sündenschuld zugrunde zu richten.

Exzentrizität, Selbstzentriertheit und Egozentrik

Gottebenbildlichkeit begründete Würde des Menschen durch kein äußeres Übel und Unrecht aufgelöst werden kann, lässt die Sünde den Sünder würdelos und elend werden. „Elend ist ... der Mensch, der der Gemeinschaft mit Gott beraubt ist, zu der das menschliche Leben bestimmt ist. Diese Bestimmung wird durch die Entfremdung des Menschen von ihr nicht aufgehoben. Gerade ihr Fortbestehen begründet das Elend der Menschen; denn in der Gottesferne sind sie auch ihrer eigenen Identität beraubt.“ (STh II, 206f.) Es liegt in der zwangsläufigen Konsequenz der Sünde, den Sünder verelenden zu lassen. Elend und Entfremdung Das deutsche Wort „Elend“ legt etymologisch die Assoziation der heimatlosunheimlichen Ferne nahe, die auch durch den Entfremdungsbegriff angezeigt ist, der nach Pannenberg den hamartiologischen Vorzug hat, die „Zweiseitigkeit eines aktiven und eines zuständlichen Zuges“ (STh II, 207) zum Ausdruck zu bringen. „Man kann sich von jemandem entfremden, aber man findet sich auch im Zustand der Entfremdung vor.“ (Ebd.) Pannenberg zeigt, dass der Begriff der Entfremdung – anders als von Paul Tillich vermutet, der ihn innerhalb der modernen Theologie in besonderem Maße zur Interpretation des Sündenbegriffs aufgenommen hat (vgl. Anthr., 273ff.) – nicht erst von Hegel und im Anschluss an ihn von Marx in die Debatte eingeführt wurde, sondern ursprüngliches christliches Erbe darstellt. In seiner hamartiologischen Verwendung müsse er „in Korrespondenz zu dem der Identität gebraucht“ (Anthr., 271) und mit dem Begriff der Selbstentfremdung verbunden werden. Denn die menschliche Entfremdung von Gott bringe stets „die Getrenntheit von der eigenen, an die Gemeinschaft mit Gott gebundene Bestimmung des Menschen“ (Anthr., 263) mit sich. Der Gott entfremdete Mensch ist immer auch sich selbst und seiner Welt entfremdet. Wenn nämlich „der Mensch seiner eigentlichen Bestimmung nach auf Gott bezogen ist, dann ist die infolge seiner Eigenliebe eingetretene Entfremdung von Gott der Ursprung aller Entfremdung des Menschen von sich selbst“ (Anthr., 271). Dem Problem des abgründigen Ursprungs sündiger Entfremdung des Menschen von Gott, die ihn ins Elend führt, nähert sich Pannenberg durch eine Analyse der Naturbedingungen menschlichen Daseins und der leibseelischen Verfasstheit humaner Weltexistenz. Die Vorstellung eines historischen bzw. prähistorischen Übergangs von einem protologischen status integritatis in den status corruptionis und damit die Vorstellung eines in der menschlichen Erfahrungswelt als besonderes Ereignis identifizierbaren Ursprungsfalls der Sünde wird abgewiesen. Abgewiesen wird ferner ihre Rückführung auf einen ursprünglichen Akt wahlfreien Willens. Denn die Annahme einer Indifferenzfreiheit sei weder für die Zurechenbarkeit der Sünde als Schuld notwendig,

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weil sich diese aus der zuzumutenden und zumutbaren Verantwortlichkeit des Menschen für sein faktisches Leben ergebe, noch schöpfungstheologisch haltbar, da ein dem Guten gegenüber auch nur momentan indifferenter Wille kein guter Wille sei, sondern sich bereits im Widerspruch zur protologisch vorausgesetzten Güte der Schöpfung befinde. Ein Geschöpf, das sein Verhältnis zum Guten als Wahlverhältnis bestimmt, ist nach Pannenberg bereits dem status corruptionis verfallen, weil ein indifferenter Stand dem Guten gegenüber nicht etwa als ein neutraler, sondern als ein faktisch sündiger Status zu gelten habe. Entsprechendes wird übrigens auch in Bezug auf die Angst namhaft gemacht, die in expliziter Kritik Kierkegaards und Tillichs als Indiz einer Form menschlicher Selbstsorge qualifiziert wird, die nicht erst auf dem Sprung in die Sünde, sondern bereits in sich sündig sei. Abgrund der Sünde Nach Pannenberg kommen weder das Existenzial der Angst noch ein liberum arbitrium indifferenter Wahlfreiheit als Genetisierungskandidaten des Falls der Sünde in Frage, weil beide selbst bereits Indizien seines faktischen Eintritts seien. Die Faktizität der Sünde sei generell nicht durch Hinweis auf wie auch immer geartete Zwischengrößen zu erklären, die vermeintlich urständliche Güte und Sündenfall vermitteln, weil sie in nichts anderem als im sündigen Faktum selbst begründet liege, welches eine Sinnwidrigkeit darstelle, die zwar nicht mit Sinn zu versehen, wohl aber in jenem Sinnhorizont aufklärbar sei, der sich von der kreatürlichen Bestimmung des Menschen her erschließe. Pannenberg zufolge macht sich die menschliche Sünde einer geist- und sinnwidrigen Bestimmung des Verhältnisses schuldig, zu welcher der Mensch als Gottes Geschöpf bestimmt ist, nämlich eine gottbezogene und gottunterschiedene leibseelische Person im Verein mit anderen Personen in einer gemeinsam gegebenen Welt zu sein. Das Urfaktum menschlicher Sünde besteht in der Verkehrung des exzentrischen Personverhältnisses, in dem das Ich sich selbst ganz in Gott gegründet weiß, in eine ängstlich um Selbsterhalt besorgte Egozentrizität, aus der das Streben nach unmittelbarer Selbstdurchsetzung mit all seinem sündigen Denken, Wollen und Handeln gleichsam zwangsläufig hervorgeht, ohne äußerlich erzwungen zu sein. Statt sich in der differenzierten Einheit von Leib und Seele geistlich in Gott zu gründen, sucht der Mensch den Konstitutions- und Erhaltungsgrund seiner selbst unmittelbar in sich, um einem selbstischen Streben zu verfallen, bei dem in Verkehrung kreatürlicher Ordnung die Seele sich vom Leib beherrschen und dessen Triebe Herr werden lässt über ihr Sinnen und Trachten. Nicht als ob die sinnlich-körperliche Verfasstheit des Menschen als solche ungut wäre: Schuld an der Sünde sind nicht seine natürlichen Daseinsbedingungen als

Exzentrizität, Selbstzentriertheit und Egozentrik

solche, schuld ist die innere Verkehrung ihrer Ordnung, die, wenn man so will, primär der Seele und erst sekundär dem Leib zuzurechnen ist. Sie hat durch Verkehrung ihres Geistbezugs das verkehrte Verhältnis des Ich zu Gott, Selbst und Welt in erster Linie zu verantworten. In der seelischen Selbstverkehrung des Ich wurzelt der Widerspruch des Menschen gegen seine gottgewiesene exzentrische Bestimmung. Konkupiszenz Seine Analyse verkehrter Ichverfasstheit des Menschen, in der die Radikalität der Sünde gründet, sieht Pannenberg in weiten Teilen durch Augustins klassische Lehre von der Konkupiszenz vorweggenommen. Diese habe bis heute nichts von ihrer erhellenden Kraft verloren und sei durch zumindest zwei Vorzüge anderen Formen christlicher Hamartiologie nach wie vor überlegen. „Der erste dieser Vorzüge besteht in der empirischen Einstellung von Augustins psychologischer Beschreibung. Der andere ist ebenfalls durch diese psychologische Einstellung ermöglicht worden und betrifft die Relevanz der Sünde für das Verhältnis des Menschen zu sich selber.“ (Anthr., 88) Der erste Vorzug verhindere, dass der Bezug auf die Selbsterfahrung des Menschen in seiner Gebrochenheit für hamartiologisch belanglos und die Sündenerkenntnis zu einer reinen Glaubensangelegenheit werde. Zwar sei die volle Wahrnehmung der Radikalität der Sünde erst im Lichte der Gnade möglich. Doch erweise sich das Phänomen der Konkupiszenz, mittels welcher die Sünde ihr Unwesen treibe, durchaus als eine Erscheinung auch von empirisch-psychologischer Evidenz. Die empirische Ausrichtung augustinischer Hamartiologie ermögliche es fernerhin, die sündige Verkehrung in der Konstitution des menschlichen Ich nicht zu einer lediglich moralischen Verkehrtheit zu erklären, sondern auf den allgemeineren Sachverhalt einer Verkehrung menschlichen Weltverhältnisses zurückzuführen. Die Konkupiszenz, als deren Kern sich Ichsucht und Hochmut, amor sui und superbia erweisen, die ihrerseits Abwendung von Gott implizieren, tritt in der Erfahrungssituation des Menschen zuerst zutage in der Verkehrung von Mittel und Ziel im Weltverhältnis. Die Relevanz der Sünde für das Verhältnis des Menschen zu sich selber, deren psychologisch evidenter Aufweis als der zweite Vorzug augustinischer Hamartiologie zu gelten hat, steht somit in einem erkennbaren Bezug zum Sachverhalt der Verkehrung des menschlichen Verhältnisses zur Welt. In der „Systematischen Theologie“ wird die „klassische Bedeutung Augustins für die christliche Lehre von der Sünde“ (STh II, 277) erneut und in der Absicht hervorgehoben, die Gründe dieser Bedeutung „noch deutlicher“ (ebd. Anm. 224) herauszuheben als in der „Anthropologie in theologischer Perspektive“. Geht es im alttestamentlichen Reden von Sünde in allen seinen Spielarten

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um den Sachverhalt der Übertretung von Handlungsnormen, so wird die Sünde bei Paulus erstmals „als ein allen Geboten vorausgehender Sachverhalt“ (STh II, 275) erfasst. „Obwohl diese Auffassung durch die alttestamentliche Vorstellung von der Verkehrtheit des Herzens als Wurzel der Übertretungen vorbereitet war, vollzog die Ablösung des Begriffs der Sünde von dem des Gesetzes doch im Prinzip den Schritt zu einer neuartigen Auffassung der Sünde, nämlich als anthropologischer Befindlichkeit.“ (Ebd.) Hier setze die Hamartiologie Augustins an: Die überragende Bedeutung des Bischofs von Hippo für die christliche Sündenlehre besteht nach Pannenberg im Wesentlichen darin, „daß er den von Paulus angedeuteten Zusammenhang von Sünde und Begierde tiefer erfaßt und analysiert hat als es die christliche Theologie bis dahin vermocht hatte. Man darf sich den Blick für diese außerordentliche Leistung Augustins nicht durch die vielen kritikbedürftigen Aspekte seiner Sündenlehre verstellen lassen, – von der Vorstellung einer Vererbung der Sünde Adams in der Generationenfolge und der dadurch mitbedingten Neigung Augustins, die Sündhaftigkeit der Begierde einseitig durch die Geschlechtslust zu exemplifizieren, bis hin zu einer allzu undifferenzierten Begründung der für den Sündenbegriff unentbehrlichen Vorstellung der Verantwortlichkeit für die Willensentscheidung, die ihn gelegentlich um den Preis der Konsistenz seines Sprachgebrauchs davor zurückweichen ließ, die Begierde und nicht erst die aus ihr hervorgehenden Handlungen als Sünde zu bezeichnen. Die Theologie muß hinter den mit Recht der Kritik verfallenen Aspekten der augustinischen Sündenlehre ihren bleibend bedeutsamen Grundgedanken erfassen und in seiner Selbständigkeit gegenüber jenen andern Aspekten zur Geltung bringen.“ (STh II, 277) „Du sollst nicht begehren“, lautet nach Röm 7,7 der Satz, in dem alle Verbote des Gesetzes zusammengefasst sind. Das Unwesen der Sünde ist damit als falsche Begierde aufgedeckt. Dabei ist im paulinischen Sinn epithymia (cupiditas oder concupiscentia) nicht bloße Straffolge der Sünde, sondern bereits ihre Äußerung und manifeste Gestalt der Sünde. Zwar gebe der Begriff der Konkupiszenz „noch nicht für sich allein eine vollständige Bestimmung des Begriffs der Sünde her“ (ebd.). Als Erscheinungsform der Sünde aber sei „die Konkupiszenz wirklich Sünde, obwohl der Kern und die Wurzel ihres Unwesens darin noch verborgen sind“ (ebd.). In Übereinstimmung mit dem paulinischen Sprachgebrauch tendiert Augustin nach Pannenberg dazu, Konkupiszenz und Sünde zu identifizieren und Begierde als strukturelle Willensdeformation zur Grundform menschlicher Sünde zu erklären. Selbstsüchtige Gier Die Verkehrtheit des sündigen Begehrens gründet in einer Willensverkehrung, die das Oberste zu unterst et vice versa kehrt, die Rang- und Stufenordnung des Seins durcheinander bringt, Weltliches Göttlichem vorzieht, ja, Gott selbst

Exzentrizität, Selbstzentriertheit und Egozentrik

dazu herabsetzt, als bloßes Mittel zur Erreichung irdischer Daseinszwecke zu fungieren. Wegen ihres von Grund auf verkehrten Willens verliert die Sünde der Konkupiszenz jedes Maß und entartet zu einer Gier, die in ihrer Selbstsucht alles andere nur mehr als Modus des Eigenen in Betracht zieht, um es ins selbstische Ich zu überführen. Nur um des eigenen Ich willen begehrt der Sünder, was er erstrebt. Er ist in seinem Sinnen und Trachten, Sehnen und Wollen recht eigentlich nicht mehr auf etwas anderes, sondern nur noch auf sich selbst aus. Seine Exzentrizität ist ausschließlich selbstbezogen, in sich verkehrt eben; der Weltbezug steht im alleinigen Dienst egozentrischer Selbstbeziehung, in welche zuletzt auch das Gottesverhältnis überführt werden soll. Das Ich gilt sich selbst als höchstes Gut. Seiner Selbstvergottung entspricht in widriger Weise der Gotteshass als Implikat jenes sündigen Hochmuts, den als nur scheinbarer Widerpart schiere Verzweiflung umgibt. Durch seine Rückführung des sündigen Gegensatzes des Menschen zu Gott auf die allgemeine Wesensstruktur menschlicher Begierde hat Augustin nach Pannenberg im Anschluss an den paulinischen Gedankenzusammenhang von Röm 7,7ff. und über diesen hinaus der Hamartiologie eine fundamentalanthropologische Basis verschafft, die auch unter neuzeitlichen Bedingungen Bestand beanspruchen könne. Zwar sei die Verkehrtheit des Menschen von Augustin wie unter vielfacher Bezugnahme auf ihn auch von der mittelalterlichen Scholastik zuerst in einer Verkehrung der kosmischen Ordnung erblickt worden. Aber indem er die Verkehrung des Weltverhältnisses auf ein verkehrtes Selbstverhältnis zurückbezogen habe, habe Augustin die Sünde nicht lediglich kosmologisch, sondern anthropologisch, nämlich als eine Verkehrung der inneren Wesensnatur des Menschen zu bestimmen versucht, wie dies unter modernitätsspezifischen Bedingungen üblich werden sollte. Im Einzelnen exemplifiziert wird dies unter Bezug auf Kants Lehre vom radikalen Bösen, Hegels Sündenverständnis und Kierkegaards hamartiologische Analysen.22 22 Trotz der hohen Bedeutung, die Pannenberg der Kierkegaardschen Hamartiologie beimisst, lehnt er es, wie bereits erwähnt, entschieden ab, dem Phänomen der Angst den Status einer die Funktion der Indifferenzfreiheit ersetzenden Zwischenbestimmung zwischen Unschuld und Sünde zuzuerkennen. Denn die Angst und die ängstliche Sorge um sich selber seien keine an sich indifferenten Grundstrukturen des menschlichen Daseins in der Welt, sondern bereits selber Ausdruck der Sünde. Zwar sei Sorge um sich selbst und um die eigene Selbsterhaltung keineswegs als solche verkehrt, sondern durchaus gottgeboten und schöpfungsgemäß. Doch könne sie angemessen nur „im Vertrauen auf den für das eigene Dasein und Selbstsein konstitutiven, es übersteigenden Ursprung geschehen“ (Anthr., 100) und nicht in der Weise der Angst und des ängstlichen Besorgtseins, das von dem falschen Streben nach Sicherung und Verfügung über die Bedingungen menschlichen Lebens bestimmt sei. Solches verkehrte Streben kennzeichne immer schon eine selbstverkehrte Fixierung auf das eigene Ich, welche sowohl „der Sucht nach Bestätigung durch andere“ (STh II, 287) als auch den diversen Formen der Aggression (vgl. im Einzelnen Anthr., 139–150) zugrunde liege und den Extremen der Selbst-

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15.3

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Erhebliche Schwierigkeiten hat der christlichen Hamartiologie seit alters das Problem der Zurechenbarkeit der Sünde als Schuld bereitet. Pannenberg nähert sich einer Lösung vom Begriff der Verantwortung her, der auf die geschuldete Übereinstimmung des Verhaltens des Menschen mit seiner Bestimmung ausgerichtet und entsprechend nicht am Gedanken formaler Indifferenzfreiheit, sondern an einem materialen Freiheitsgedanken orientiert ist. Obwohl der Verantwortungsbegriff häufig mit demjenigen der „Wahlfreiheit als einer jenseits der Alternativen, zwischen denen gewählt wird, stehenden Entscheidungsinstanz“ (Anthr., 107) assoziiert werde, sei der Gedanke arbiträrer Freiheit denkbar ungeeignet, menschliche Verantwortung und die Zurechenbarkeit der Sünde als Schuld angemessen zu begründen. „Wenn ich verantwortlich bin nur für das, was ich kraft freier Wahl dem ebenso möglichen Gegenteil vorgezogen habe, dann allerdings könnte nicht Sünde sein, was zu den Naturbedingungen gehört, in denen ich mich immer schon vorfinde.“ (Ebd.) Anders stelle sich die Angelegenheit dar, wenn für den Verantwortungsbegriff der Gedanke materialer, auf die gottebenbildliche Bestimmung des Menschen bezogener Freiheit leitend sei. Der materiale Freiheitsgedanke ist „nicht im Sinne einer den Wahlmöglichkeiten gegenüber neutralen Indifferenz zu verstehen“ (Anthr., 112), hat es vielmehr zu tun „mit der Ganzheit des eigenen Daseins, die in den einzelnen Akten und Entscheidungen in Erscheinung tritt. Das geschieht daraufhin, daß von der Bestimmung des Menschen her die gegenwärtige Lebenssituation in Anspruch genommen wird als eigene. Darum weiß sich der Mensch entsprechend seinem Bewußtsein von seiner Bestimmung auch verantwortlich für seinen eigenen Zustand und für sein Handeln, für die Überführung seiner vergötzung und des verzweifelten Selbsthasses gleichermaßen ausgeliefert und verfallen sei. Die menschliche Ichfixierung lässt sich nach Pannenberg „nicht auf die Angst zurückführen, weil sie schon in der Angst enthalten ist“ (STh II, 288) und durch sie beständig reproduziert wird. Was der Angst ebenso wie der ihr nur vermeintlich entgegengesetzten selbstherrlichen Form hochmütig-hybrider Ichfixierung fehlt, ist das nötige Gottvertrauen. Unglaube sei daher von reformatorischer Theologie mit Recht „als Wurzel der Sünde bezeichnet“ (ebd.) worden. Durch Unglaube und fehlendes Gottvertrauen wird die Spannung zwischen Zentralität und Exzentrizität, die zu den Naturbedingungen des menschlichen Daseins gehört, in einer schöpfungswidrigen und der kreatürlichen Bestimmung des Menschen entgegengesetzten Weise, nämlich so aufgelöst, dass das Ich sich in sich selbst verkehrt und egozentrisch bestimmt. Just dadurch wird die in der menschlichen Wesensnatur begründete Anlage verfehlt, die Naturbedingungen des eigenen Daseins zu transzendieren. Indem sich der Mensch darauf fixiert, was er von Natur aus ist, statt die natürlichen Bedingungen seines weltlichen Seins auf Gott hin zu transzendieren, widersetzt er sich derjenigen Natur, die sein Wesen ausmacht. In dieser Widersetzlichkeit wurzelt die Sünde, deren Schuld nachgerade darin besteht, sich dem kreatürlichen Gesetz menschlichen Daseins in widriger Verkehrtheit entgegenzusetzen.

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eigenen Lebenssituation von ihren natürlichen und sozialen Gegebenheiten in die Verwirklichung seiner Bestimmung. Da die Bestimmung des einzelnen als Mensch ihn jedoch mit andern verbindet im Lebenszusammenhang einer Gemeinschaft, übernimmt der einzelne Verantwortung nicht nur für sein eigenes Handeln und Dasein, sondern auch für darüber hinausgehende Verantwortungsbereiche, die Lebenssituation und Verhalten anderer Menschen miteinschließen.“ (Anthr., 113) Vergleichbares gilt auch für die natürlichen Bedingungen des menschlichen Daseins mitsamt dem eigenen Körper als deren Inbegriff, den zwar kein Mensch je gewählt, für den aber jeder Mensch eine eigentümliche und unveräußerliche Verantwortung hat. Formale und materiale Freiheit Ist es sonach die materiale Freiheit, welche Verantwortung und Zurechnungsfähigkeit begründet, so ist schließlich allein sie es, die über den Status der an sich selbst indifferenten und ambivalenten, in ihrer Uneindeutigkeit zur Zweideutigkeit und Ambivalenz neigenden formalen Freiheit entscheidet. Einen relativen Sinn gewinnt die formale Wahlfreiheit nur unter der Bedingung der Annahme eigener Bestimmung im Vollzug materialer Freiheit. Auf sich allein gestellt bzw. auf sich selbst insistierend hingegen ist sie nicht nur ambivalent, sondern manifest verkehrt: Der Begriff einer Freiheit der Wahl gegenüber Gott und dem Guten zersetzt sich selbst. Er ist für sich und in seiner formalen Indifferenz genommen ein Indiz der Entfremdung von dem, was für Selbst und Welt wahrhaft gut ist. Das lässt sich nach Pannenberg sowohl an Luthers These über die Gefangenschaft des Menschen in einem servum arbitrium lernen als auch an deren subjektivitätstheoretischer Erneuerung in Kierkegaards Beschreibung der angesichts der Konstitution des Selbst von Gott her verzweifelten Lage des unendlichen Bemühens um Selbstrealisierung der eigenen Identität: „Obwohl durchaus im Besitz der formalen Fähigkeit zur Wahl, vermag der Mensch dennoch nicht, auf dem Boden seiner endlichen Subjektivität und durch sein eigenes Handeln seiner Situation vor Gott gerecht zu werden oder, mit Kierkegaard gesprochen, seine eigne Identität von sich aus zu realisieren.“ (STh II, 285) Daran lässt sich, wie Pannenberg gegenüber J. Müllers Lehre von der formalen Freiheit23 konstatiert, klarmachen, „daß ein Wille, der der Norm des Guten gegenüber auch anders kann, faktisch schon kein guter Wille mehr ist. Er ist auch nicht nur schwach, weil noch ungefestigt im Guten. Insofern er der ihm gegebenen Norm des Guten gegenüber auch anders kann, ist er immer schon sündhaft, weil von der Bindung an das Gute emanzipiert.“ (STh II, 296) 23 Vgl. G. Wenz, Vom Unwesen der Sünde. Subjektivitätstheoretische Grundprobleme neuzeitlicher Hamartiologie dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der Sündenlehre von Julius Müller, in: KuD 30 (1984), 298–330.

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Wahrgenommen wird die Entfremdung, für welche der Begriff der formalen – ihrer materialen Bestimmung ledigen – Freiheit steht, zunächst nicht in Form eines entwickelten Schuldbewusstseins, sondern in der unbestimmten Weise des Gefühls. Im Gefühl der Selbstentfremdung, für welches Unbestimmtheit kennzeichnend ist, tritt das Empfinden eigener Nichtidentität ursprünglich zutage, um mit wachsender Klarheit der Identität deutlicher zu werden und schließlich die Gestalt eines explizit thematischen Schuldbewusstseins anzunehmen. Im Unterschied zum bloßen Gefühl der Selbstentfremdung ist das entwickelte Bewusstsein der Schuld im Normalfall stets „auf einen ganz bestimmten Sachverhalt, auf eine bestimmte Normverletzung bezogen. Das impliziert ein zumindest in dieser Hinsicht deutliches Wissen sowohl von der eigenen Identität und den mit ihr verbundenen Forderungen an das eigene Verhalten als auch vom eigenen Versagen und der darin begründeten Nichtidentität. Die Beziehung auf das Ganze der eigenen Identität und Nichtidentität kennzeichnet dabei die Besonderheit des das konkrete Schuldbewußtsein begleitenden Schuldgefühls, das mit Recht als die normale Gestalt des Schuldgefühls bei psychisch gesunden Menschen gilt.“ (Anthr., 278f.) Gewissen Nach Pannenberg sind das Schuldbewusstsein und das im konkreten Schuldbewusstsein stets mitgesetzte und es begleitende Schuldgefühl „zur Geburtsstätte des Selbstbewußtseins in Gestalt des Gewissens“ (Anthr., 286) geworden. In eindringlichen terminologiegeschichtlichen Analysen wird gezeigt, inwiefern das Auftreten des Gewissensbegriffs, der für das Phänomen selber von bezeichnender Bedeutung ist, mit dem Ursprung ausdrücklichen Selbstbewusstseins innig verbunden ist. In der Weise des Gewissens steht das Subjekt im Begriff, sich selbst zu begreifen und zum Bewusstsein seiner selbst zu gelangen. „Das griechische Verb synoida bezeichnet zunächst die Mitwisserschaft.“ (Anthr., 287) Der Mensch ist sein eigener Mitwisser. Das tritt zuallererst in Bezug auf Unrecht und Schuld zutage. Weil und insofern der Mensch in sich selbst ein Mitwisser seines Verhaltens ist, entwickelt er ein internes Unrechtsbewusstsein und Bewusstsein der Schuld. Es liegt in der verständlichen und sachgemäßen Konsequenz dieser Entwicklung, „daß der Begriff des Gewissens trotz seines Ausgangs von der Schulderfahrung doch nicht auf diese eingeschränkt wurde, sondern die allgemeine Bedeutung von Bewußtsein als Bewußtsein des eigenen Verhaltens und Seins behielt und so auch zum vorbewußten Gewissen und damit zur maßgeblichen Instanz der Lebensführung werden konnte“ (Anthr., 288).24 24 Theologisch ergibt sich die Notwendigkeit, den Gewissensbegriff nicht moralistisch unterzubestimmen, sondern ihn der Ursprungsbedeutung von syneidesis und conscientia gemäß aufs

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Peccatum originale Um die Radikalität und Universalität der Sünde zu verdeutlichen, konnte sich die christliche Hamartiologie nicht auf eine Lehre von den Aktualsünden beschränken, sondern musste eine Lehre vom peccatum originale als der Erbund Ursünde ausbilden. Diese besagt, dass Menschen nicht erst durch ihre Taten zu Sündern werden. Sie sind es vielmehr schon vor allem eigenen Tun und zwar in radikaler Weise deshalb, weil die Wurzel der Sünde tiefer sitzt als jede einzelne sündige Tat. An dieser Auffassung will Pannenberg auch unter den Bedingungen vollzogener Auflösung der traditionellen Vorstellung von der Erbsünde dezidiert festhalten. Eine „Reduktion des Begriffs der Sünde auf Tatsünden“ (STh II, 269) kommt für ihn hamartiologisch nicht infrage. Denn eine solche Reduktion werde weder der Radikalität der Sünde, deren Begriff weit mehr umfasse als die Erscheinungsformen des manifest Bösen, noch der Allgemeinheit der Sünde gerecht. „Die Allgemeinheit der Sünde verbietet den Moralismus, der jede menschliche Solidarität mit jenen aufkündigt, die zu

Engste mit der Thematik von Identität und Selbstbewusstsein des Menschen zu verbinden. Entgegen der „Verselbständigung des moralischen Phänomens des Gewissens gegenüber der allgemeinen, auch theoretischen Problematik des Selbstbewußtseins“ (Anthr., 292) gelte es, die ursprüngliche Weite des mit dem Gewissensbegriffs verbundenen Horizonts wiederzugewinnen. Das Gewissen stellt Pannenberg zufolge keine auf das moralische Normbewusstsein und seine Repräsentanz zu isolierende opake Seelengröße dar; es geht in ihm vielmehr um die identitätsstiftende und -erhaltende Wahrnehmung der auf das Ganze des persönlichen Lebens und ebenso auf das Ganze der Welt gerichteten Bestimmung des Menschen. Dabei nimmt das Gewissen in der Gruppe der Selbstgefühle deshalb „eine Sonderstellung ein, weil in ihm nicht nur das Ganze des Lebens in positiver oder gedrückter Stimmung vage gegenwärtig ist, sondern das eigene Ich zugleich Gegenstand des Bewußtseins ist, nämlich als Subjekt der Taten oder Unterlassungen, derer das Urteil des Gewissens es als schuldig erkennt. In diesem negativen Urteil liegt zugleich ein Hinweis auf die positive Identität, die durch die Tat verwirkt ist, und auf die Ordnung der Gemeinschaft, die durch sie verletzt wurde. Mit der Negativität seines Inhalts bildet das Gewissen daher den Übergang vom Selbstgefühl zum Selbstbewußtsein im engeren Sinne expliziter Selbsterfassung und Selbsterkenntnis. Zugleich aber ist es als Gefühl der stets unvollendet bleibenden Einholung der das Gewissensurteil fundierenden Sinnzusammenhänge durch vernünftige Reflexion voraus. Denn für das Gefühl ist das Ganze nicht unabgeschlossen, sondern als ganzes präsent. Das macht die Unmittelbarkeit des Gefühls aus und begründet seine eigentümliche Gewißheit. Dennoch darf das Gewissen nicht der Vernunft (und dem theoretischen Selbstbewußtsein) entgegengesetzt werden, weil damit der Weltzusammenhang, der als Sinnzusammenhang seine Struktur fundiert, abgeschnitten würde, zumindest undurchsichtig würde und das Gewissen entweder in irrationalistischen Subjektivismus oder in Heteronomie zurückfiele.“ (Anthr., 299f.) Erst durch reflektierten Weltbezug und durch verstehende Aneignung seiner Sinngrundlagen, wie sie im religiösen Verhältnis und namentlich im Gottesbezug offenbar werden, wird das Gewissen eine der Alternative von Subjektivismus und Fremdbestimmung überlegene selbstständige Größe.

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Werkzeugen der zerstörerischen Gewalt des Bösen wurden. Angesichts der Allgemeinheit der Sünde wird solches moralistische Verhalten als Heuchelei bloßgestellt. Gerade die christliche Lehre von der Allgemeinheit der Sünde hat die Funktion, bei aller Notwendigkeit einer Eindämmung des manifest Bösen und seiner Folgen doch zur Wahrung der Solidarität mit den Tätern beizutragen, in deren Verhalten das in allen latent wirksame Böse offen in Erscheinung trat. Diese antimoralistische Funktion der Lehre von der Allgemeinheit der Sünde ist oft unterschätzt worden. In der Moderne fiel sie der Auflösung der Erbsündenlehre zum Opfer, wenn nicht an deren Stelle eine andere Auffassung von der Allgemeinheit der Sünde vor allem individuellen Handeln rückte. Wurden solche Auffassungen ihrerseits auf den Gedanken der Tatsünde begründet, dann konnte der Moralismus nur teilweise und um den Preis übersteigerter Selbstbeschuldigungen hintan gehalten werden. Das Verblassen der Überzeugung von einer allem individuellen Handeln vorhergehenden Allgemeinheit der Sünde hat die Bahn freigegeben für den Moralismus, der entweder das Böse nur bei den andern sucht oder, durch nach innen gewendete Aggression, selbstzerstörerische Schuldgefühle produziert.“ (STh II, 273f.) Nachdem die Vorstellung einer ursprünglichen und radikalen Versündigung aller Menschen in Adam die Funktion, um deretwillen sie ausgebildet wurde, nicht mehr erfüllen konnte, weil sowohl der Monogenismus als auch die Annahme einer physischen Vererbung der Sünde Adams an seine Nachkommen sowie die Imputationstheorie jegliche Plausibilität eingebüßt hatten, versuchte die Theologie das Anliegen der Lehre vom peccatum originale durch den Gedanken eines Reiches der Sünde zu erfüllen, welcher die Grundsünde in ihrer menschlichen Universalität nicht nur aus dem Zusammenhang des natürlichen Abstammungsverhältnisses, sondern aus der sozialen Verflechtung und Verbindung der Individuen und Generationen zu klären versuchte. „An die Stelle der naturhaften Übertragung der Sünde durch die Generationenfolge tritt dabei die Vorstellung ihrer Vermittlung durch die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Individuen.“ (STh II, 293) Pannenberg illustriert dies am Beispiel Kants, Schleiermachers und Ritschls bis hin zu Piet Schoonenberg und Karl Rahner. Indes sieht er durch die These einer in der sozialen Situiertheit des Menschen begründeten Ursündigkeit die allem Handeln zu Grunde liegende Radikalverkehrung, die das traditionelle Erbsündendogma zum Inhalt hatte, nicht hinreichend gewahrt. Denn „(d)en sozialen Lebenszusammenhang, in den er hineinwächst, kann der einzelne sehr wohl als eine fremde und ihn seinem eigentlichen Selbst entfremdende Welt von sich unterscheiden und distanzieren, auch wenn er ihm darum nicht schon zu entrinnen vermag. Nur wenn die Sündhaftigkeit als Verkehrung der Sub-

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jektivität, die allem Handeln zugrunde liegt, schon von Anfang an mit dem werdenden Ich verbunden ist, gibt es kein Recht mehr zu solcher Distanzierung. Wenn man darin eine ‚naturhafte biologische Gegebenheit’ zu erblicken hat, so gehört eine solche Gegebenheit eben wesentlich zum Begriff der Erbsünde.“ (Anthr., 125) Dagegen werde der biblische Sinn des Redens von der Sünde verfehlt, wenn diese nicht als ein jedem Einzelnen innewohnender Drang zum Bösen, sondern lediglich als struktureller Sachverhalt außerhalb des Individuums in Betracht komme. Zwar könne der Einzelne den Sachverhalt gesellschaftlicher Situiertheit und damit sozialer Sündenverstrickung nicht aufheben und zwar weder für andere noch für sich selbst. „Doch auch dann, wenn der einzelne sich dem Einfluß der Gesellschaft nicht zu entziehen vermag, kann er sie noch als eine fremde Macht betrachten, von der er sich innerlich distanziert. Er weiß sich dann als nicht in sich selber böse.“ (STh II, 293) Naturhafte Selbstinsistenz Kann die Tatsache der Situiertheit des Einzelnen im sozialen Lebenszusammenhang keinen hinreichenden Ersatz erschließen für die Belange der traditionellen Erbsündenlehre, so lässt sich deren wesentliches Anliegen und dasjenige der augustinischen Hamartiologie in ihrem Gegensatz zum Pelagianismus „nur festhalten, wenn in der Sünde ein Grundbestand naturaler Verfaßtheit verkehrten Lebens beim Individuum anerkannt wird. Erst dadurch wird das Individuum zur Identifizierung mit der Sünde als zu ihm selber gehörig genötigt, weil das eigene leibliche Dasein die Grundform des Selbst ist, als das der einzelne identifiziert wird, die Grundform, auf die alle anderen Aspekte des Selbstseins aufbauen.“ (STh II, 295) Im Verhalten des Ich zu seinem leibhaften Dasein als der Grundform seiner selbst entscheidet sich, ob der Mensch seiner selbsttranszendenten Bestimmung entspricht oder ihr durch egozentrische Selbstbestimmung widerspricht. Seiner Bestimmung gemäß und verantwortlich verhält sich der Mensch, wenn er die differenzierte Einheit von Selbstzentriertheit und Exzentrizität, die er als beseelter Leib ist, auf Gott und auf den Bezug zum göttlichen Geist gründet. Unverantwortlich und bestimmungswidrig ist sein Verhalten, wenn er sein Gottesverhältnis und sein Verhältnis zu Mitmensch und Welt zu einer bloßen Funktion seines Selbstverhältnisses herabsetzt, um unmittelbar auf seinem natürlichen Dasein zu insistieren, statt es zu transzendieren, wie es seiner Wesensnatur gemäß ist. Schuld an diesem verkehrten Verhalten ist der Mensch selbst. Durch den Hinweis auf die natürlichen Bedingungen seines Daseins lässt sich sein Fehlverhalten nicht entschuldigen, da diese den Menschen nicht dazu zwingen, von seiner Freiheit einen bestimmungswidrigen Gebrauch zu machen.

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Das Faktum der Sünde fällt in die Verantwortung des Menschen, was dieser nach Pannenberg nicht erst durch Glaubenserkenntnis zu erkennen vermag.25 Sünde und Tod Das Schöpfungshandeln Gottes zielt auf die Selbstständigkeit der Geschöpfe, um deren Realisierung willen Gott den Fall der Sünde zwar nicht billigend, aber als eine nicht auszuschließende Möglichkeit in Kauf genommen hat. Bleibt 25 „Wer die Tatsache der Sünde zu einer reinen Glaubenserkenntnis erklärt, die des Anhalts an der menschlichen Wirklichkeit, wie sie allgemeiner Erfahrung zugänglich ist, nicht bedarf, der verkennt, daß der Christusglaube die Tatsache der Sünde nicht erst schafft, sondern voraussetzt, wenngleich ihre Tiefe erst im Lichte der durch Jesus Christus vermittelten Gotteserkenntnis zu Bewußtsein kommen mag. Auch der nicht zum Glauben an Jesus Christus gelangende Mensch ist nicht etwa deswegen auch schon befreit von der Haftung für jene Verkehrung in der Struktur seines Verhaltens, auf die das Wort Sünde hinweist. Bestünde dieser Sachverhalt nicht unabhängig von der Glaubenserkenntnis, so sehr sein Wesen als Unglaube und Mißachtung Gottes erst in der Perspektive der Glaubenserkenntnis ans Licht kommt, dann würde das christliche Reden von der Sünde sich in der Tat von Nietzsche und seinen Nachfolgern die Anklage gefallen lassen müssen, daß damit das Leben verleumdet werde. Die christliche Rede vom Menschen als Sünder ist nur dann realitätsgerecht, wenn sie sich auf einen Sachverhalt bezieht, der das ganze Erscheinungsbild des menschlichen Lebens unabweisbar kennzeichnet und der als solcher auch ohne Voraussetzung der Offenbarung Gottes erkennbar ist, obwohl seine eigentliche Bedeutung erst durch sie aufgedeckt werden mag.“ (STh II, 271) Trifft dies zu, dann dürfen weder die Frage nach der Möglichkeit der Sünde noch der Versuch einer Antwort auf sie prinzipiell gescheut werden. Auch in dieser Hinsicht schließt Pannenberg an Augustin an, der zwar hervorgehoben habe, „daß der Mensch von Gott nicht zur Sünde gezwungen wird: Es wäre ja dann nicht mehr des Menschen eigene Sünde, und der Begriff der Sünde selbst würde damit aufgehoben. Aber Augustins Meinung war doch offenbar, daß Gott schon bei der Schöpfung die vorausgesehene Sünde des Menschen in Kauf nahm im Vorblick auf seine künftige Erlösung und Vollendung. In ähnliche Richtung hat im 19. Jahrhundert Schleiermacher zu denken gewagt. Sieht man an dieser Stelle von der Gefahr deterministischer Mißdeutung solcher Gedanken samt den daraus folgernden Absurditäten ab, so wird man in ihnen einen würdigeren Ausdruck des Glaubens an einen allmächtigen Schöpfergott erkennen als in einer Auffassung, die das Auftreten der Sünde und des Bösen in der Schöpfung als ein den Schöpfer überraschendes, daher auch aus dem Glauben an Gott nicht zu verstehendes, von Gott her als unmöglich qualifiziertes Ereignis betrachtet, dessen erklärte Nichtigkeit sich der Erfahrung der Geschöpfe dennoch als eine sehr reale Gegenmacht zu der des Schöpfers erweist. Statt einem solchen Dualismus zu huldigen, sollte christliche Theologie in der Zulassung der Sünde den Preis für die Selbständigkeit der Geschöpfe erkennen, auf die das Schöpfungshandeln Gottes abzielt. Der Mensch als das zu voller Selbständigkeit gelangte Geschöpf muß das, was es ist und sein soll, durch sich selber werden und ausbilden. Dabei liegt es nur allzu nahe, daß das in der Form einer Verselbständigung geschieht, in der der Mensch sich selber an die Stelle Gottes und seiner Herrschaft über die Schöpfung setzt. Aber ohne geschöpfliche Selbständigkeit kann auch das Verhältnis des Sohnes zum Vater nicht im Medium geschöpflichen Daseins zur Erscheinung kommen.“ (STh II, 302f.)

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zu fragen, wie auszuschließen ist, dass die faktische Realisierung der in Gottes Schöpfung wegen der gottgewollten Selbstständigkeit des Menschengeschöpfs nicht ausgeschlossene Möglichkeit der Sünde sich dadurch mit einem fatalen und entschuldigenden Schein umgibt, dass auf die Unvermeidbarkeit des physischen Todes verwiesen wird, der offenbar in den Naturbedingungen geschöpflichen Lebens zwangsläufig mitgesetzt ist. Es kommt nicht von ungefähr, sondern geschieht aus Gründen, die für die Gesamtkonzeption wesentlich sind, dass Pannenberg die Frage nach dem Zusammenhang von Sünde und Tod mit besonderer Eindringlichkeit verhandelt. Die innere Logik dieses von Paulus und im Anschluss an ihn in weiten Teilen der dogmatischen Tradition behaupteten Konnexes erschließe sich „von der Voraussetzung her, daß alles Leben von Gott kommt: Da die Sünde Abwendung von Gott ist, trennt sich der Sünder nicht nur von dem gebietenden Willen Gottes, sondern damit zugleich von der Quelle seines eignen Lebens. Der Tod ist also keine dem Sünder durch eine fremde Autorität äußerlich zudiktierte Strafe. Er liegt vielmehr in der Natur der Sünde selbst als Konsequenz ihres Wesens. Dabei dachte Paulus zweifellos an den leiblichen Tod des Menschen. Zwar ist der als Folge der Sünde eintretende Tod nicht nur ein Naturvorgang, sondern hat seine Schärfe in der Trennung von Gott. Das entspricht der Auffassung schon des Alten Testaments, daß der Tod von Gott scheidet (Ps 88,6; vgl. 6,6; 115,17; auch Jes 38,18). Die Deutung des Todes als Folge der Sünde gibt nur den Grund dafür an. Aber sie bezieht sich nicht auf ein anderes Ereignis als den leiblichen Tod. Sie besagt in keiner Weise, daß die ‚natürliche’ Sterblichkeit des Menschen etwa noch nichts mit dem Tode in diesem besonderen Sinne zu tun hätte. Vielmehr handelt es sich bei der Trennung von Gott im Tode um das tiefere Wesen gerade des physischen Todes, das allerdings schon im Wesen der Sünde als Trennung von Gott angelegt ist. Nur unter dieser Voraussetzung konnte Paulus Röm 5,12 die Allgemeinheit des Todesgeschicks als Beweis für die allgemeine Verbreitung der Sünde unter den Menschen anführen.“ (STh II, 304f.) Dass der leibliche Tod des Menschen Folge der Sünde ist, wurde von der christlichen Theologie in Antike und Mittelalter trotz aller Differenzierungen zwischen physischem und geistlichem Tod durchweg festgehalten. Mit dem 18. Jahrhundert kam dann allerdings innerhalb der protestantischen Theologie die Meinung auf, der Tod als solcher gehöre zur Natur des Menschen als eines endlichen Lebewesens. Nur dem Sünder müsse der Tod als verschuldet erscheinen, wohingegen er ansonsten der kreatürlichen Bestimmung des Menschengeschöpfs durchaus gemäß sei. Die bei Althaus, Brunner, Barth, Jüngel und anderen begegnende Unterscheidung zwischen natürlichem Tod und Gerichtstod entspricht dieser Auffassung. Sie wird von Pannenberg heftig kritisiert, weil sie verkenne und verkennen lasse, dass es für den Menschen im Verhältnis

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zu Gott um Tod und Leben im wahrsten Sinne des Wortes und nicht nur um Formen subjektiven Erlebens des Todes gehe. Endlichkeit und Sterblichkeit Der Verkehrung des Gottesverhältnisses, wie sie in der Sünde statthat, ist nach Pannenberg der Tod implizit. Er sei nicht lediglich äußere Sanktion der Sünde, sondern die ihr innerlich zugehörige Folge, die auf gleichsam naturgesetzliche Weise und „ohne ein spezielles Eingreifen Gottes“ (STh II, 309) eintrete. Doch sind, um erneut auf die entscheidende Frage zurückzukommen, Sterben und Tod nicht in der Endlichkeit allen kreatürlichen Lebens und auch in derjenigen des Menschengeschöpfs naturgemäß mitgesetzt, wenn anders dieses als leibhaft verfasst gedacht werden soll, wie dies die christliche Schöpfungslehre verbindlich vorsieht? Diesem Einwand begegnet Pannenberg mit einem für sein Gesamtkonzept charakteristischen Argument: „Die christliche Zukunftshoffnung erwartet ein Leben ohne Tod (1.Kor 15,52ff.). Dieses Leben in Gemeinschaft mit Gott wird kein gänzliches Aufgehen kreatürlichen Daseins in Gott bedeuten, sondern seine Erneuerung und definitive Befestigung. Die zum geschöpflichen Leben gehörige Endlichkeit wird durch die Teilhabe am ewigen Leben Gottes nicht beseitigt werden. Daraus folgt aber, daß Endlichkeit nicht immer Sterblichkeit einschließen kann. Die eschatologische Hoffnung der Christen kennt eine Endlichkeit geschöpflichen Daseins ohne Tod. Darum kann der Tod nicht notwendig zur Endlichkeit geschöpflichen Daseins gehören. Nur für das Dasein in der Zeit bleibt bestehen, daß Endlichkeit und Sterblichkeit des Lebens zusammengehören.“ (STh II, 310f.) Die faktische Koinzidenz von Endlichkeit und Sterblichkeit des Lebens bezüglich des Daseins in der Zeit ist nach Pannenberg dadurch bedingt, dass die ihre Endlichkeit vollendende Daseinsganzheit den dem Prozess der Zeit unterworfenen Geschöpfen nicht erreichbar ist. Als temporalen und durch Unterscheidung der präsenten Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft zum Bewusstsein ihrer Temporalität gelangten Geschöpfen ist es uns verwehrt, „der Ganzheit unseres endlichen Daseins definitiv inne zu sein. Wir können diese Ganzheit zwar antizipieren, – und nur so sind uns Dauer und Identität unseres Daseins im Prozeß der Zeit überhaupt erreichbar. Aber wir bleiben mit unseren Antizipationen an den Standpunkt einer jeweiligen Gegenwart gebunden, die im Prozeß der Zeit auf eine offene Zukunft hin immer wieder von neuen Augenblicken überholt wird.“ (STh II, 311) Geschöpfliches Dasein des Menschen ist Sein in der Zeit, die Realisierung seiner gottgewollten Selbstständigkeit mithin nur als Resultat eines zeitlichen Werdens denkbar, welches die Möglichkeit einer Zielverfehlung in sich birgt, wie sie in der Sünde samt ihren todbringenden Folgen Faktum geworden ist.

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Würde der Mensch in weltoffener Selbsttranszendenz ganz von jener eschatologischen Zukunft her leben, zu der er von seinem Schöpfer her bestimmt ist, wären weder die Sünde noch auch der Tod für ihn real. Beide gewinnen Macht über ihn erst, wenn er von der Zukunft, die sein Schöpfer, von dem er herkommt, ihm bereiten will, absieht, statt sein Sein in der Zeit als ein Werden zu begreifen, das dazu bestimmt ist, in der Gänze seiner zeitlichen Erstreckung zur Vollendung in Gott zu gelangen und eben dies in vollendeter Selbstständigkeit. Erst unter den Bedingungen sündiger Abkehr von seiner durch den Schöpfergott erschlossenen Bestimmung missrät das zeitliche Werden dem Geschöpf zu einem Vergehen, und der Tod stellt sich als eine vermeintlich natürliche, in Wahrheit gegen die Wesensnatur der Schöpfung gerichtete Folge der wesenswidrigen Sünde des Menschen ein, der sich gegen seine ebenso gottgegebene wie ureigene Bestimmung verfehlt. Desintegration Als Sündenfolge bleibt der Tod dem sündigen Menschen nicht äußerlich, sondern nimmt sein Innerstes in Beschlag. „Das ausstehende Ende wirft seinen Schatten voraus und bestimmt den ganzen Weg unseres Lebens als ein Sein zum Tode in der Weise, daß sein Ende gerade nicht in das Dasein integriert ist, sondern jeden Gegenwartsmoment lebendiger Selbstbejahung mit Nichtigkeit bedroht. Daher führen wir unser zeitliches Leben im Schatten des Todes (Lk 1,79; vgl. Mt 4,16). Umgekehrt ist die Selbstaffirmation des Lebens in jedem Moment seiner Gegenwart durch den Gegensatz gegen sein Ende im Tode gekennzeichnet. Der Tod ist der letzte Feind alles Lebendigen (1.Kor 15,26). Die Todesfurcht dringt tief in das Leben ein und motiviert den Menschen einerseits zu grenzenloser Selbstbehauptung und Mißachtung der eigenen Endlichkeit, beraubt ihn andererseits der Kraft, das Leben überhaupt anzunehmen. In beidem zeigt sich der Zusammenhang von Sünde und Tod. Dieser Zusammenhang ist insofern in der Sünde verwurzelt, als erst das Nichtannehmen der eigenen Endlichkeit das unentrinnbare, wenn auch ausständige Ende des endlichen Daseins zur Manifestation der dieses Dasein mit Nichtigkeit bedrohenden Todesmacht werden läßt. Umgekehrt treibt allerdings die Todesfurcht tiefer in die Sünde hinein. Daß aber das Annehmen der eigenen Endlichkeit so schwer ist für ein Wesen, das sich als lebendiges weiß und bejaht, ist verknüpft mit der Struktur der Zeitlichkeit, in der ihm sein Ende (und damit auch seine Ganzheit) ein noch ausstehendes Datum ist. Diese Ausständigkeit von Ende und Ganzheit des endlichen Daseins in der Zeit kennzeichnet die Situation, in der es faktisch zur Sünde kommt, also zu jener schrankenlosen Selbstaffirmation des Menschen, die mit der Abwendung von Gott auch den Tod als Ende seines Daseins impliziert.“ (STh II, 312)

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Das Ganze des zeitlich erstreckten menschlichen Daseins ist ausständig. Als Indiz seiner Bestimmung, sein Sein als gottunterschiedenes Geschöpf in gottverbundenem Vertrauen selbstständig zu realisieren, ist die Ausständigkeit des vollendeten Daseinsganzen des Menschen nicht per se problematisch. Zum Problem und, wenn man so will, unausstehlich wird sie erst, wo das Bevorstehende nicht von der Hoffnung auf die eschatologische Zukunft Gottes umgriffen ist, wie der Geist sie bewirkt, der vom Schöpfergott herkommt. Zwar kann Pannenberg im Anschluss an Paulus sagen, dass die Unterwerfung des Geschöpfs unter die Macht der Vergänglichkeit auf den schöpferischen Gott selbst zurückgeht (vgl. STh II, 118); gleichwohl bleibt er bei der These, dass der Tod im Unterschied zur Endlichkeit und zur temporalen Struktur geschöpflichen Daseins nur in Verbindung mit der Sünde Bestandteil der Schöpfung Gottes ist. Vorauszusetzen ist dabei stets die für den dogmatischen Gesamtansatz grundlegende Einsicht, dass die Antizipation ihrer eschatologischen Vollendung konstitutiv für den Begriff der Schöpfung ist, wie ihn der Mensch unter den im Werden begriffenen Bedingungen seines vor-läufigen Weltdaseins zu erfassen vermag. Ohne endzeitliche Hoffnung haben Schöpfungsglaube und Glaube an göttliche Ursprungsgüte keinen Bestand. Protologie und Eschatologie Nur unter der Voraussetzung eines proleptischen Hoffnungsvorgriffs auf das eschatologische Vollendungsziel der Schöpfung, auf welches die fortgesetzte schöpferische, aus Bösem immer wieder Gutes wirkende Tätigkeit Gottes im Zusammenhang seiner Weltregierung ausgerichtet sei, lässt sich nach Pannenberg schließlich auch der Gesichtspunkt schöpfungstheologisch integrieren, dass der Zusammenhang von Sünde und Tod eine Vorgeschichte in der vormenschlichen Evolution des Lebens hat. „Schon hier scheint sich die dämonische Dynamik aufgebaut zu haben, die in der Sünde des Menschen und in der Herrschaft von Sünde und Tod über die Menschheit kulminiert.“ (STh II, 313) Man kann diesen Hinweis als eine Problemiteration deuten, die in genau jener Aporie endet, die behoben werden soll. Systemintern ist er stimmig, nämlich Folge konsequenter Eschatologisierung christlicher Schöpfungstheologie, wie sie für Pannenbergs Ansatz nicht zuletzt in hamartiologischer Hinsicht charakteristisch ist. 15.4

Die Pröpperkontroverse

Ist die egozentrische Verkehrung des menschlichen Verhältnisses zu Selbst, Welt und Gott „eng verflochten mit den Naturbedingungen unseres Daseins“ (Anthr., 104), dann drängt sich die Frage auf, ob es in der Natur des Menschen

Die Pröpperkontroverse

begründet liege, sündhaft zu sein. Pannenberg stellt sich diese Frage selbst und verneint sie entschieden. Zwar sei der Mensch von Natur aus Sünder, weil die Verkehrung in sich selbst in den Naturbedingungen seines Daseins „verankert“ (ebd.) sei; dennoch könne deswegen nicht seine Natur selbst als sündig bezeichnet werden. Eine solche Bezeichnung sei im Gegenteil als irreführend abzuweisen, weil der Mensch seiner geschöpflichen Wesensnatur nach dazu bestimmt sei, dasjenige zu transzendieren, was er von Natur aus ist. Nur wenn er sich seiner Wesensbestimmung widersetzt und das Natürliche im Widerspruch zu dem, was seiner Natur entspricht, nicht übersteigt, verfällt er der Sünde, was faktisch bei allen Adamskindern der Fall ist. Pannenberg hält an der Lehre vom peccatum originale dezidiert fest und lehrt ausdrücklich die faktische Allgemeinheit der Ursünde im adamitischen Menschengeschlecht. Doch will er die Ursünde nicht fatalisieren, weil dadurch ihr Schuld- und Sündencharakter aufgehoben wäre. Wohl eigne ihrem Unwesen Zwanghaftigkeit; doch nötige diese Feststellung nicht, „die sündhafte Verkehrung menschlicher Existenz … als notwendige beschreiben zu müssen“26 . Pannenberg zieht diese Konsequenz nicht nur nicht, sondern erklärt sie für abwegig. Diese Erklärung hinderte Kritiker nicht an der Behauptung, sie sei unter Pannenberg’schen Systembedingungen unvermeidbar. Manichäismusverdacht Am wirkungsvollsten wurde der Vorwurf, Pannenberg fatalisiere die Sünde nach Art der Manichäer, von Thomas Pröpper geltend gemacht, dessen zweibändige „Theologische Anthropologie“ von 2011 mit ihrem sog. transzendentalen Freiheitsdenken innerhalb gegenwärtiger römisch-katholischer Theologie hierzulande schulbildend geworden ist.27 Nach Pröpper kann das peccatum nachgerade als peccatum originale nur dann von einem fatalen Geschick unterschieden und als Schuld zugerechnet werden, wenn sie auf einen Freiheitsvollzug bezogen ist, der ihren Ursprung bildet. Da Pannenberg mehr oder minder „umstandslos“28 darauf verzichte, den „Ursprung der Sünde mit der menschlichen Freiheit zu verbinden“ (275), führe seine Hamartiologie zwangsläufig in eine Aporie, die weder durch den Verweis auf den Doppelsinn der Rede von der Natur des Menschen noch durch Pannenbergs Verantwortungsbegriff 26 E. Dirscherl, Grundriss Theologischer Anthropologie. Die Entschiedenheit des Menschen angesichts des Anderen, Regensburg 2006, 240f. 27 Th. Pröpper, Theologische Anthropologie. Bd I u. II, Freiburg/Basel/Wien 2011. Der erste Werkteil thematisiert die Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott, der zweite die Existenz des Menschen in Sünde und Gnade. 28 Ders., Das Faktum der Sünde und die Konstitution menschlicher Identität. Ein Beitrag zur kritischen Aneignung der Anthropologie Wolfhart Pannenbergs, in: ThQ 170 (1990), 267–289, hier: 275. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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behoben werde. Denn dieser könne „nicht verdecken, daß ein Mensch am Zustandekommen des Zustands, in dem er sich findet, nicht schon deshalb schuldig sein kann, weil er ihn verantwortlich übernimmt. Aber schuldig im Sinne der Urheberschaft soll er ja auch nicht sein. Es ist die naturhaft bestimmte Ausgangslage des Menschen, aus der nach Pannenberg das Böse hervorgeht und die, obwohl selbst noch nicht ‚moralisch’ oder ‚intentional’ böse, doch wegen ihrer faktischen, wenn auch ihr selber verborgenen Verschlossenheit gegenüber Gott und der menschlichen Bestimmung ‚Sünde’ genannt wird ... Sie ist der terminus a quo, von dem die menschliche Bildungsgeschichte anhebt, die letztlich Gott zum Leiter und Urheber hat. Aber warum denn eigentlich, möchte man fragen, einen solchen (‚jeder persönlichen Stellungnahme vorausgehenden’) Anfang schon als Sünde bezeichnen?“ (275f.) Die Möglichkeit, Sünde als Sünde zu bezeichnen und als zurechenbare Schuld von fatalem Geschick unterscheiden zu können, ist nach Pröpper an die Bedingung menschlicher Freiheit gebunden. „Sünde ist – so schwer ihre naturhaften Konditionen auch wiegen und so bedrückend sich ihre eigenen Objektivationen und Folgen auswirken – doch wesentlich Freiheitsgeschehen und ihre Geschichte koextensiv mit der Geschichte der Freiheit, des einzelnen wie aller Menschen.“ (277) Die Möglichkeitsbedingungen eines hamartiologisch haltbaren Begriffs der Sünde sei die Anerkennung menschlicher Freiheit und des in ihr enthaltenen Unbedingtheitsmoments bedingungslosen Wollens. Keine noch so bestechende Kritik neutraler Indifferenzfreiheit dürfe dazu verleiten, „das eigentlich humane und – wie man wohl hinzufügen darf – von Gott selber anerkannte unbedingte Moment menschlicher Freiheit zu übergehen und zu vergessen: ihre ursprüngliche Fähigkeit nämlich, sich zu allem, auch zu Gott, zum eigenen Dasein und der eigenen Bestimmung, verhalten zu können.“ (276) Transzendentales Freiheitsdenken Das Fundament seiner hamartiologischen Argumentation in Auseinandersetzung mit Pannenberg hat Pröpper in seiner „Theologische(n) Anthropologie“ breit dargelegt. Um die geschöpfliche Bezogenheit des Menschen auf Gott und seine Hinordnung auf partnerschaftliche Gemeinschaft mit ihm, auf welche seine Bestimmung zur Gottebenbildlichkeit verweise, angemessen denken zu können, sei ein an entscheidender Stelle von Pannenberg abweichendes Konzept menschlicher Identitätskonstitution nötig.29 Statt lediglich „die faktische 29 Vgl. ders., Theologische Anthropologie Bd. I, 414ff. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich auf den I. bzw. II. Band dieses Werkes. Als ökumenisch belastend wertet Pannenbergs Kritik der Wahlfreiheit A. Glässer, Verweigerte Partnerschaft? Anthropologische, konfessionelle und ökumenische Aspekte der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Regensburg 1991, bes. 50ff.: Reale Freiheit ohne Wahlfreiheit. Ähnlich urteilt U. Pekala: „Letztendlich gibt

Die Pröpperkontroverse

Genese und die externen Konstitutionsbedingungen realer menschlicher Identität“ (I, 431) zu erhellen, was Pannenberg in überzeugender Weise leiste, müsse es zugleich um „eine Aufhellung der internen Struktur des Subjekts und vor allem (um) ein angemessenes Verständnis menschlicher Freiheit (zu tun sein), die in der Unbedingtheit ihres Sichverhaltens und Sichentschließens Pannenbergs (einseitig) genetischer Untersuchung nicht einmal in den Blick kommt“ (I, 431f.). Die Einsicht in sie werde im Gegenteil durch „weitgehende Abblendung der Ursprünglichkeit menschlicher Freiheit“ (I, 433) konzeptionell verstellt. Nach Pröpper gilt es, die Faktizität menschlicher Freiheit, obwohl weder aus der Welt noch auch aus dem vorfindlichen Ich des Menschen selbst erklärbar, auf ursprüngliche und das heißt nach Pröpper „transzendentale“ Weise zur Geltung zu bringen. Eben darauf ist seine freiheitstheoretische Erschließung der Bestimmung des Menschen im Schlusskapitel des ersten Bandes seiner theologischen Anthropologie angelegt. Die anthropologische Denkform, welche das freie Ich als Prinzip in Anschlag bringt, wird gerechtfertigt, eine transzendentale Subjektivitätstheorie zur Basis der theologischen Lehre von Sünde und Gnade erklärt (vgl. I, 494ff.). Die ursprüngliche, transzendental zu nennende Freiheit des Menschen sei wesentliches Konstitutiv und implizite Prämisse jedes Aktes menschlicher Freiheit, dem sie unbedingt vorausliege, um von ihm bedingungsweise realisiert zu werden. Mit einem „verstiegenen metaphysischen Idealismus“ (I, 512), wie Pröpper sagt, will seine Transzendentalanthropologie nichts gemein haben: „Von einer einfachhin oder gar schlechthin unbedingten Freiheit des Menschen, die als solche für sich existierte oder dieses doch könnte, habe ich (auch früher) niemals gesprochen – existiert doch stets nur der freie Mensch, die formal unbedingte Freiheit jedoch nur als konstitutive, ebenso irreduzible wie real unablösbare Komponente dieses Menschen. Sie ist bereits im Ursprung so wesentlich Eröffnetsein für Gehalt und Erfüllung durch ihn, dass es sie unverbunden mit ihm gar nicht gibt. Und wenn die Analyse der Selbstbestimmung auch zeigt, daß in ihr die Freiheit 1. selbst das durch sich Bestimmbare, 2. das vermittels der Affirmation von Gehalt selbst sich Bestimmende und 3. in ihrer formalen es für Pannenberg keine Freiheit der indifferenten Entscheidung für oder gegen Gott, also keine Glaubensentscheidung gegenüber seiner Offenbarung.“ (U. Pekala, Eine Offenbarung – viele Religionen. Die Vielfalt der Religionen aus christlicher Perspektive auf der Grundlage des Offenbarungsbegriffs Wolfhart Pannenbergs, Würzburg 2010, 225). Dass damit der „Aspekt der interpersonalen Beziehung zwischen Gott und Mensch aus dem Blick“ (ebd.) verloren ist, kann nur dann angenommen werden, wenn die menschliche Gottesbeziehung mit zwischenmenschlichen Beziehungen verwechselt wird. Vermeidet man diese Verwechslung, dann behält Pannenbergs theologische Ablehnung der Wahlfreiheit ihr Recht, da diese „einen Standpunkt der Indifferenz, des Jenseits von Gut und Böse, sowie der Neutralität gegenüber Gott voraussetz(t)“ (A. Glässer, a.a.O., 50).

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Unbedingtheit ... auch der Maßstab der wirklichen Selbstbestimmung ist, so geschieht die letztere doch nicht anders, als daß die Freiheit die Bestimmtheit, in der sie sich stets bereits findet, von sich aus weiter bestimmt. Gleichwohl heben ihre materiale Bedingtheit und reale Bestimmtheit die formale Unbedingtheit in der Freiheit nicht auf: ‚bedingt sein’ heißt nicht ‚verursacht sein’. Denn auch zu ihrer Bedingtheit und sogar wirksamen Bestimmtheit kann sich Freiheit zumindest in dem Maße, wie sie bewußt sind und aufgeklärt werden, ja noch verhalten.“ (Ebd.) Die Grundsätze der im zweiten Teilband der theologischen Anthropologie Pröppers explizierten Hamartiologie und Gnadentheologie sind damit formuliert. Zurechenbarkeit der Sünde Die protologische Ursprünglichkeit transzendentaler Freiheit des Menschengeschöpfs ist nach Pröpper die Bedingung der Möglichkeit dafür, Sünde als Schuld zuzurechnen, ohne welche Zurechenbarkeit der Begriff der Sünde verfehlt und fatalisiert werde. Sich einer solchen Fatalisierung und Verfehlung des Sündenbegriffs tendenziell schuldig gemacht zu haben, ist der zentrale Vorwurf, der gegen Pannenbergs Hamartiologie erhoben wird; der katholischerseits häufig gegen Hamartiologien evangelischer Provenienz vorgebrachte Manichäismusverdacht steht im Raum. Sünde könne nur unter der Bedingung ihrer Zurechenbarkeit als Schuld Sünde sein. Als Schuld zurechenbar sei Sünde hinwiederum nur unter der Bedingung einer ursprünglich vorauszusetzenden menschlichen Freiheit, die auch dann noch förmlich Freiheit zu nennen sei, wenn sich der Mensch, wie in der Sünde der Fall, durch sein reales Verhalten in einen Widerspruch zu seiner Bestimmung bringe, die zugleich als die Bestimmung seiner Freiheit zu gelten habe. Auch ein in sich verkehrter Vollzug der Freiheit müsse frei genannt werden, wenngleich sich in ihm die Freiheit durch Selbstverkehrtheit um sich selbst bringe und Formen der Besessenheit generiere. Dies verkannt oder doch nicht hinreichend erkannt zu haben, sei der Grundfehler der Pannenberg’schen Hamartiologie, aus dem eine tendenzielle Naturalisierung und Fatalisierung der Sünde folge. Zwar ist die Sünde nach Pröpper Verhängnis, aber selbstverhängtes und die Schuld verkehrten Freiheitsgebrauchs, der den Täter gemäß der Verkehrtheit des Bösen, die das böse Unwesen ausmacht, selbst zum Opfer seiner Untat werden lässt. Habe bereits Luther im Gefolge Augustins (vgl. II, 981ff.) „die Ursprünglichkeit der (formal unbedingten) menschlichen Freiheit, ohne die weder menschliche Schuld noch Glaube als actus humanus gedacht werden kann“ (II, 1066), nicht angemessen thematisiert, so sei dieser Mangel auch von Pannenberg nicht beseitigt worden. Seine Hamartiologie tendiere dazu, das peccatum originale in Form eines durch die Naturbedingungen

Die Pröpperkontroverse

menschlichen Daseins induzierten universalen Verhängnisses zu fatalisieren; ihre Zurechenbarkeit als Schuld könne er nicht begründen, weil er die Sünde nicht als Freiheitsbestimmung zu denken vermöge. Pelagianismusverdacht Dem Verdikt eines mehr oder minder latenten Sündenfatalismus nach manichäischer Art begegnete Pannenberg mit dem Hinweis auf Pröppers faktische und ja auch offen zugestandene Preisgabe der traditionellen Lehre vom peccatum originale, die mit pelagianisch-semipelagianischen Tendenzen offenkundig verbunden sei. Es sei nicht einzusehen, wie der Kernbestand des Erbsündendogmas, wonach der Mensch von Geburt an, also vor allen eigenen Taten Sünder sei, „in den Aussagen Pröppers gewahrt sein soll. Peccatum originale ist eben nicht nur Disposition zur Sünde, sondern schon Faktum der Sünde, und zwar als Zustand vor allem individuellen Handeln. Dieser Zustand ist auch nicht schon angemessen beschrieben als Situiertsein jedes neuen Individuums in einem durch sündhaftes Handeln anderer qualifizierten Lebenszusammenhang: Der einzelne könnte sich von allen äußerlichen Zwängen seiner Mitwelt zumindest innerlich dispensieren. Entscheidend ist, daß jeder einzelne von Geburt an selber schon Sünder ist. Ohne Anerkennung eines Grundbestandes naturaler Verfaßtheit verkehrten Lebens in jedem Individuum wird der Kern des Erbsündendogmas nicht festgehalten werden können.“30 Gehört ein Grundbestand naturaler Verfasstheit verkehrten Lebens zum Kern des Erbsündendogmas, dann stellt sich erneut das freiheitstheoretische Problem der Schuldzurechenbarkeit des peccatum originale, sofern dieses die Sünde aller Adamskinder sein soll. Pröpper versucht es durch eine, wie er sagt, qualitative Differenzierung „zwischen Disposition zur Sünde und Faktum der Sünde“31 zu lösen. Der Disposition zur Sünde rechnet er „die Naturbedingungen des menschlichen Daseins und sein evolutionsgeschichtliches Erbe ..., aber auch die ambivalente Verfassung der endlichen Freiheit selber und nicht zuletzt die Schuldbestimmtheit der historischen Situation (zu), die jede Freiheit in der realen Möglichkeit zur Selbstbestimmung negativ konditioniert, sie bis ins Innere affiziert, durch ihre Einstimmung ihrerseits befestigt und fortgesetzt wird und so alle, als Opfer und Täter, in die Schuldgefangenschaft verstrickt“32 . Trotz dieser massiven Disponierung und Konditionierung des Menschen zur Sünde habe deren Faktum ihren Ursprung in einem Entschluss freien menschlichen Sichverhaltens. Solle die Hamartiologie nicht in Fatalismus und Naturalismus 30 W. Pannenberg, Sünde, Freiheit und Identität. Eine Antwort an Thomas Pröpper, in: ThQ 170 (1990), 289–298, hier: 292. 31 Th. Pröpper, Das Faktum der Sünde, 278. 32 Ebd.

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enden, müsse man stehen lassen, „(d)aß die Sünde ihre Macht über mich doch von mir hat“33 . Die Annahme transzendentaler Freiheit des Menschen sei die Bedingung der Möglichkeit dafür, das peccatum originale als persönliche Schuld zu begreifen, wenngleich zugestanden werden müsse, dass jedes sich annähernde Verstehen an der Unableitbarkeit freier Faktizität der Sünde seine Grenze finde. Trotz Pröppers Zugeständnis einer freiheitstheoretischen Nichtgenetisierbarkeit der Sündenfaktizität widerspricht nach Pannenbergs Urteil die Annahme eines in welch hintergründiger Form auch immer in Anschlag gebrachten Ursprungsvermögens neutraler Indifferenzfreiheit dem Gedanken der Erbsünde. Durch ihn sei nicht nur die vermeintliche Neutralität der Freiheit der Alternative von Gut und Böse gegenüber bestritten, sondern zugleich die Indifferenzfreiheit als in sich verkehrt bestimmt. Sei doch Unentschiedenheit gegenüber dem Guten bereits sündhaft in sich. Pröpper stellt dies nicht einfachhin in Abrede: besteht doch auch nach ihm der primäre Entschluss zur Sünde in der Verweigerung des unbedingten Entschlusses zum Guten. Nicht darin liegt die eigentliche Differenz zu Pannenbergs Argumentation, sondern in Pröppers Behauptung, dass ein unbedingter Entschluss zum Guten für den Menschen in seinem tatsächlichen Sichverhalten faktisch möglich sei. Dagegen macht Pannenberg geltend, dass sich der Mensch immer schon und vor jedem Entschluss in der Sünde befinde. Diese gewinne ihre Macht daher nicht erst von ihm, freilich auch nicht ohne ihn und ohne seine tätige Zustimmung. Diese tätige Zustimmung sei nicht auf einen Freiheitsakt zurückzuführen, welcher die virtuelle Möglichkeit zum Guten bleibend in sich enthalte; sie sei auch nicht lediglich als negative Verweigerung des Entschlusses zum Guten, sondern als ein Erliegen durch Einlassen zu bestimmen. Verderbnis menschlicher Natur Folgt man Pannenberg, dann setzt der Sünder die Sünde, indem er dem Schein des Guten aufsitzt, den das Böse für ihn und so auch in ihm erzeugt. Sünde ist Blendwerk, der Sünder Geblendeter und Blender in einem. Seine Schuld besteht darin, der Verführung zu folgen, indem er das Böse als ein Gut erstrebt, das ihm vermeintlich förderlich ist. Sünde geschieht aus Unwahrhaftigkeit und aus einer Verblendung heraus, die durch ihren blendenden Schein blind macht gegenüber dem wahrhaft Guten und das Dunkel des Bösen förmlich heraufbeschwört. Sünde geschieht durch Affirmation eines falschen Scheins, durch den das Gute zum Bösen gekehrt wird. Abwegig und irrig hingegen ist es nach Pannenberg, die Sünde auf ein ursprüngliches Freiheitsgeschehen zurückzuführen, um auf diese Weise die Schuld des Sünders zu begründen. Zwar sei das 33 Ebd.

Die Pröpperkontroverse

Menschengeschöpf von seinem Schöpfer zur Freiheit und dazu bestimmt, sich in freier Selbständigkeit zu realisieren. Aber der freie Selbststand des Menschen sei ebensowenig ein Ursprungsdatum wie seine Verwirklichung eine Aufgabe, die der Mensch aus eigenem Vermögen und von sich aus bewerkstelligen könnte. „Der geschöpflichen Bestimmung entspricht also zwar ein Angelegtsein im Dasein des Menschen, aber nicht notwendig auch die Fähigkeit, diese Anlage von sich aus zu verwirklichen.“34 Man wird im Sinne Pannenbergs sagen müssen, dass die Beanspruchung des Vermögens, seine geschöpfliche Bestimmung von sich aus realisieren zu können, bereits Indiz des Falles der Sünde ist. Der Mensch ist dazu bestimmt, als er selbst, nicht aber von sich aus zu sein, was er ist. Will er von sich aus sein, was er ist, verfehlt er mit dem Verhältnis von Schöpfer und Geschöpf zugleich sich selbst, sein individuelles Personsein und seine humane Bestimmung als Menschenwesen. Der Mensch ist Geschöpf der Freiheit. Aber er kann wirklich freies Geschöpf nur als Geschöpf, also von seinem Schöpfer her und auf seinen Schöpfer hin sein. Die Geschöpflichkeit menschlicher Freiheit verbietet es per se, sie als indifferentes Vermögen oder als eine transzendentale Größe jenseits von Gut und Böse zu bestimmen. Nur in seinem exzentrischen Aussein auf das Gute, von dem er herkommt, gewinnt die Freiheit des Menschen Realität, wohingegen das förmliche Insistieren auf einem formalen Wahlvermögen dem Schöpfer und seiner Schöpfung gegenüber bereits der der kreatürlichen Anlage des Menschen kontravenierenden Verführung zu einer verkehrten Egozentrizität erlegen ist, welche von den natürlichen und sozialen Daseinsbedingungen, in denen sich der Mensch vorfindet, zwar ausgeht, ohne stricte dictu zwingend zu sein. Die Frontlinien in der Kontroverse zwischen Pröpper und Pannenberg treten an ihrer gegensätzlichen Interpretation der Angst exemplarisch zutage35 und verlaufen in Bahnen, die von hamartiologischen Streitigkeiten der Vergangenheit her ebenso bekannt sind wie die Grundmuster der jeweiligen Argumentation. In ihrer konträrer Ausrichtung reflektiert sich eine Spannung, die der christlichen Lehre vom peccatum originale von Anbeginn innewohnt 34 W. Pannenberg, a.a.O., 291 Anm. 2. 35 Anders als bei Pröpper (und Kierkegaard) ist Angst nach Pannenberg nicht lediglich Motiv der Sünde, sondern schon an sich selbst sündig, indem sie „übersteigerte Selbstliebe bereits impliziert“ (B. Konhöffer, Reflexionen über „das Böse“. Sprachliche Differenzierungen in Auseinandersetzung mit der Theologie Wolfhart Pannenbergs, Münster/Hamburg/London 2002, 112). Pannenberg vertritt die Auffassung, „daß die Angst um sich selbst schon die Sünde voraussetzt; insofern, daß der Mensch sich selbst zum Zentrum und Maßstab seines Lebens setzt“ (a.a.O., 110; vgl. ferner E. Kaufner-Marx, Freiheit zwischen Autonomie und Ohnmacht. Eine Untersuchung der theologischen Anthropologie Wolfhart Pannenbergs und Thomas Pröppers, Würzburg 2007).

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und sie ständig begleitet. Offenbar gehört es zur „Dialektik der Erbsünde“ (Ruhe), zwei widerstrebende Bestimmungsmomente in sich zu enthalten, ein gleichsam naturhaftes und ein auf Realisierung von Freiheit bezogenes, wobei Gattungsaspekt und individuelle Perspektive zu einem Horizont verschmolzen werden sollen. Das entscheidende Problem besteht darin, „wie der wirkliche Schuldcharakter der Erbsünde mit dem Charakter ihrer vorpersonalen universalen Vorgegebenheit gegenüber der sittlichen Entscheidung des einzelnen zusammenzudenken ist“36 . An diesem Problem arbeitet sich die christliche Hamartiologie seit alters ab in dem Bestreben, manichäische Irrwege ebenso zu vermeiden wie pelagianische bzw. den Gegensatz von Manichäismus und Pelagianismus sündentheologisch zu beheben.

36 B. Ruhe, Dialektik der Erbsünde. Das Problem von Freiheit und Natur in der neueren Diskussion um die katholische Erbsündenlehre, Freiburg/Schweiz 1997, 265.

16.

Vom Geist der Versöhnung

Zu Hegels Philosophie der Religion

16.1

Absolutheitstheoretischer Begriff der Religion

Unter gegenwärtigen Religionswissenschaftlern herrscht weitgehende Übereinstimmung, dass „eine konsensfähige Definition des Religionsbegriffs nicht erreichbar ist“1 . Man konsentiert in der Feststellung eines nicht behebbaren Dissenses. Damit kann sich eine Religionsphilosophie2 , die ihren Namen verdient, nicht abfinden. Für Hegel jedenfalls steht dies außer Zweifel. Als Wissenschaft der Wissenschaften, die sie nach seinem Urteil ist, müsse Philosophie wissen wollen, was eigentlich wissenschaftlicher Gegenstand, im gegebenen Fall 1 G. Ahn, Art. Religion I. Religionsgeschichtlich, in: TRE 28, 513–522, hier: 519. Wer die im Folgenden skizzierte Religionsphilosophie Hegels mit dem Theologiekonzept Pannenbergs vergleichen will, muss die Gesamtanlage der dreibändigen „Systematischen Theologie“ studieren. Eine Anleitung hierzu ist gegeben in: G. Wenz, Wolfhart Pannenbergs Systematische Theologie. Ein einführender Bericht, Göttingen 2003 (engl. Göttingen/Bristol 2013). Pannenbergs System, wie es im opus magnum entfaltet ist, stellt das Resultat einer langen theologischen Entwicklung dar. Namentlich der Systeminbegriff, die Gotteslehre, blieb lange Zeit ein offenes Problem, wie Pannenberg bekennt: „In my experience, the most difficult subject to deal with was the doctrine of God. I soon became persuaded that one first has to aquire a systematic account of every other field, not only theology, but also philosophy and the dialogue with the natural and social sciences before with sufficient confidence one can dare to develop the doctrine of God.“ (W. Pannenberg, An Autobiographical Sketch, in: C. E. Braaten/Ph. Clayton [Ed.], The Theology of Wolfhart Pannenberg. Twelve American Critiques, with an Autobiographical Essay and Response, Minneapolis 1988, 11–18, hier: 16) Erst in den frühen 80er Jahren, so Pannenberg, habe er begonnen „to feel solid ground under my feet in this area“ (ebd.). Zwar seien von ihm schon früher Reflexionen zur Gottesidee publiziert worden; aber erst in den Studien über „Metaphysik und Gottesgedanke“ und im ersten Band der „Systematischen Theologie“ (ebd: „both forthcoming in the spring of 1988“) habe sich ihm ein argumentativer Begründungszusammenhang erschlossen „which deals with the idea of God in its own right“ (ebd.). Im Verein mit der fortschreitenden Klarheit, die er seit den frühen 80er Jahren in den Fragen der Gotteslehre gewann, erklärten sich für Pannenberg nach eigenem Bekunden auch „the metaphysical implications of my theological approach“ (17). Klar geworden sei ihm insbesondere, dass das Prinzip selbstbewusster Subjektivität nicht als der Letztgrund der Metaphysik akzeptiert werden könne, wie das in der ganzen Tradition des Deutschen Idealismus der Fall gewesen sei; die wachsende Einsicht in die Grenzen der Kant’schen Metaphysik- und Erkenntniskritik gehören nach seinem Urteil in diesen Zusammenhang. 2 Zur Bezeichnung „Religionsphilosophie“ und zur Etablierung des solchermaßen Bezeichneten zu einer speziellen philosophischen Disziplin, durch die nicht selten die traditionelle „theologia naturalis“ ersetzt wurde, vgl. W. Jaeschke, Art. Religionsphilosophie, in: HWPh 8 (1992), Sp. 748–763.

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Vom Geist der Versöhnung

Gegenstand der Religionswissenschaft ist; dazu hinwiederum bedarf es eines Begriffs ihres Themas, ohne die sie keinen Bestand haben könne: „Aber was ist nun dieser Begriff?“3 Die Antwort, die Hegel auf die von ihm selbst gestellte Frage in seinem – von David Friedrich Strauß in Auszügen überlieferten – letzten religionsphilosophischen Kolleg im Jahr 1831 gibt, lautet: „Dies ist der Begriff der Religion, daß Gott sich weiß im Geiste und der Geist sich in Gott.“ (V 3, 354) Hinzugefügt wird, dass der Religionsbegriff im Verein mit dem Begriff Gottes, den er zur impliziten Voraussetzung hat, „erst in der offenbaren Religion erreicht ist“ (ebd.). Er lässt sich also nicht auf den Unmittelbarkeitsstatus einer axiomatischen Prämisse fixieren, den er anfänglich zu haben scheint, sondern bedarf der Entwicklung, um sich im Durchgang durch bestimmte religionsgeschichtliche Erscheinungsgestalten in der offenbaren Religion zu vollenden, in welcher Religion sich selbst gegenständlich wird und zum manifesten Bewusstsein ihrer selbst gelangt. Erst dann ist der Begriff der Religion realisiert und ihre Idee wirklich geworden.4 3 G. W. F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 3: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 1: Einleitung. Der Begriff der Religion. Hg. v. W. Jaeschke, Hamburg 1983 (= V3), 354. 4 Einen Überblick über die Rezeptionsgeschichte der Hegel’schen Religionsphilosophie gibt F. W. Graf in dem zusammen mit F. Wagner verfassten Einleitungstext des Sammelbandes: F. W. Graf/F. Wagner (Hg.), Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, Stuttgart 1982, 9–63, hier: 24–60. In den bis heute andauernden Auseinandersetzungen um Hegels Religionsphilosophie werden Graf und Wagner zufolge „fortlaufend und weitgehend stereotyp“ Argumente reproduziert, „die schon in dem Streit dominierten, den die Schüler und Gegner Hegels in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen (sc. 19.) Jahrhunderts geführt haben“ (11). Neben drei zeitgenössischen Rezensionen zur Religionsphilosophie der Freundesvereinsausgabe (vgl. 64–140: Chr. H. Weiße, A. Staudenmaier, E. Zeller) enthält der Band zwei Analysen zur Textüberlieferung: Bemerkungen zum Vorlesungsmanuskript von 1821 und zu seiner Edition durch K.-H. Ilting trägt H. Huber (159–162) vor, Erläuterungen zur Redaktion und zu den Redaktionsprinzipien der Vorlesungen über die Religion in der nicht mehr von Ph. K. Marheineke, sondern von Bruno Bauer verantworteten Zweitausgabe der Freundesvereinsedition G. Lämmermann (140–158; zu Differenzen in den Ausgaben des Freundeskreises vgl. 149ff.). Zum Verhältnis von Logik und Religionsphilosophie, die Hegel beide als Inbegriff des Systems bezeichnen kann, vgl. u. a. R. Heede, Die göttliche Idee und ihre Erscheinung in der Religion. Untersuchungen zum Verhältnis von Logik und Religionsphilosophie bei Hegel, Diss. Münster 1972. Einerseits hat die Religionsphilosophie die Logik „zu ihrem vorausgesetzten Ansich“ (74), andererseits ist die logische Prämisse nicht, was sie ist, wenn sie sich nicht realphilosophisch expliziert, um sich mittels Ästhetik und Religionsphilosophie der Absolutheit ihrer Wirklichkeit zu versichern. Zur Gesamtkonzeption der Religionsphilosophie nach logischen Triaden, die in den Unterabschnitten auf die eine oder andere Weise wiederkehren, vgl. 110ff. Heede benennt operative Kategorien der Seinslogik sowie begriffslogische Momente wie Allgemeinheit, Besonderheit, Einzelheit oder Begriff, Urteil, Schluss bzw. subjektiver Begriff, objektiver Begriff und subjektiv-objektive Idee. Er registriert ferner Interferenzen

Absolutheitstheoretischer Begriff der Religion

Triadische Struktur Der Begriff der Religion in seiner Unmittelbarkeit hat einen reflexen Vermittlungsprozess und die religionsgeschichtliche Bestimmung seiner Entwicklungsmomente nötig, damit er ist, was zu sein er beansprucht. Die triadische Form der Hegel’schen Philosophie der Religion ergibt sich folgerichtig aus diesem Zusammenhang. Ihr gemäß ist bereits das Manuskript strukturiert, das der ersten Berliner Vorlesung zum Thema aus dem Jahr 1821 zugrundeliegt.5 Ein erster Teil (GW 17, 33–82) handelt vom Begriff der Religion, der zunächst erfahrungsmäßig umschrieben und sodann wissenschaftlich erfasst wird dergestalt, dass seine absolutheitstheoretische Notwendigkeit einsichtig wird. Zur Präzision dieser Einsicht muss fernerhin das Verhältnis geklärt werden, in welchem der Begriff der Religion im Zusammenhang der Philosophie des Absoluten zu demjenigen der Kunst auf der einen und zu demjenigen der Philosophie auf der anderen Seite steht: Bringt sich das Absolute in der Kunst unmittelbar zur Anschauung, so wird es in der Religion auf vermittelte und reflexive Weise vorstellig, bis es sich in der Philosophie spekulativem Denken in Form absoluten Wissens zu begreifen gibt. Ohne auf diesen Zusammenhang näher einzugehen, sei bezüglich der triadischen Struktur des Hegel’schen Manuskripts zwischen den Triaden, die Hegels flexiblen Umgang mit ihnen belegen. Sehr aufschlussreich ist auch der philologische Exkurs zu Quellen und Editionen von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion (vgl. 88ff.). 5 „Unter allen Berliner Vorlesungen Hegels nimmt die religionsphilosophische Vorlesung von 1821 einen besonderen Rang ein; denn sie ist die einzige, von der uns ein vollständiges Manuskript Hegels erhalten ist.“ (G. W. F. Hegel, Religionsphilosophie. Bd. I: Die Vorlesung von 1821. Hg. v. K.-H. Ilting, Neapel 1978, XIV) K.-H. Ilting hat das Manuskript in synoptischem Verbund mit einschlägigem Material aus der Zweitauflage der sog. Freundesvereinsausgabe ediert mit dem Ziel „ein vollständiges Bild von Hegels Konzeption der Religionsphilosophie am Anfang seiner Berliner Lehrtätigkeit“ (XV) zu erlangen. In W. Jaeschkes bereits zitierter Ausgabe der Hegel’schen Vorlesungen über die Philosophie der Religion bildet das Manuskript von 1821 ebenfalls den Basistext. Jaeschke war es auch, der dessen Edition in Bd. 17 der von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft besorgten historisch-kritischen Ausgabe der gesammelten Werke Hegels verantwortete (vgl. GW 17, 1–300). Beigegeben sind diverse Blätter zur Religionsphilosophie (GW 17, 303–334) und Nachrichten über Verschollenes, nämlich ein religionsphilosophisches Konvolut (vgl. GW 17, 337), das seit der Benutzung durch Bruno Bauer, Herausgeber der Zweitauflage der Religionsphilosophie in der Freundesvereinsedition, nicht mehr auffindbar ist; es wird Aufzeichnungen enthalten haben, die das Manuskript ergänzen und in Teilen wahrscheinlich auch ersetzen sollten (vgl. GW 17, 366). Zur Entstehungsgeschichte des Manuskripts selbst vgl. GW 17, 352–368. Da sich die Konzeption der religionsphilosophischen Kollegien im Laufe der Zeit in weiten Teilen erheblich gewandelt hat, kann das Manuskript, obwohl sich bis zur letzten Vorlesung von 1831 Randnotizen in ihm finden, nur bedingt als Grundlage des religionsphilosophischen Kollegs Hegels gelten. Unverändert geblieben ist die Dreiteilung der Religionsphilosophie.

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zum Kolleg von 1821 nur mehr vermerkt, dass ihr zweiter Teil „Bestimmte Religion. (Endliche Religion)“ (vgl. GW 17, 83–204), der dritte „Die vollendete oder offenbare Religion“ (vgl. GW 17, 205–300) überschrieben ist. Die Näherbestimmung der sog. endlichen Religion erfolgt nach Maßgabe der Logizität von Sein, Wesen und Begriff unter konkretem Bezug auf religiöse Erscheinungen des Orients, die Religionen der Erhabenheit und Schönheit, nämlich des Judentums und des Griechentums sowie auf die römische Religion als diejenige äußerer Zweckhaftigkeit, in welcher Religion begrifflich zu werden beginne, wenngleich nur auf verstandesmäßige Weise. Erst in der vollendeten oder geoffenbarten Religion komme diese zum entwickelten Bewusstsein ihrer selbst und zur endgültigen Realisierung ihres Begriffs.6 Damit ist die Religionsphilosophie zu ihrem Abschluss gelangt, der aber gemäß ihrer Stellung in der Philosophie des Absoluten vorläufig zu sein und auf die Philosophie zu verweisen hat, in der als dem letzten Systemteil das Resultat des Ganzen erschlossen und die Vorstellungsform der Religion, die zu ihrem Begriff gehört,

6 Die von H. Glockner herausgegebene Jubiläumsausgabe (Bde. 15 u. 16) der Vorlesungen über die Philosophie der Religion ist entsprechend der Zweitauflage der Freundesvereinsedition, die ihr zugrunde liegt, in den Begriff der Religion, die bestimmte und die, wie es nun heißt, absolute Religion unterteilt. Der Begriff der Religion wird in Bezug auf Gott, das religiöse Verhältnis und den Kultus entwickelt. Der erste Abschnitt ist nicht weiter unterteilt. Hinsichtlich des religiösen Verhältnisses wird von der Notwendigkeit des religiösen Standpunkts, vom religiösen Bewusstsein in Form von Gefühl, Anschauung und Vorstellung und von seiner, des religiösen Verhältnisses, Notwendigkeit und Vermittlung in der Form des Denkens gehandelt. Der Abschnitt vom Kultus thematisiert den Glauben, seine kultische Bestimmtheit durch besondere Formen und das Verhältnis der Religion zum Staat. Der Teil über die bestimmte Religion ist zweifach untergliedert, in die sog. Naturreligionen und in die Religionen der geistigen Individualität als der jüdischen Religion der Erhabenheit, der griechischen der Schönheit und der römischen der Zweckmäßigkeit oder des Verstandes, die zur absoluten Religion überleitet, der ein eigener religionsphilosophischer Teil gewidmet ist, nämlich der dritte. Als seine Themen werden benannt: 1. Gott in seiner ewigen Idee an und für sich; das Reich des Vaters. 2. Die ewige Idee Gottes im Element des Bewusstseins und Vorstellens, oder die Differenz, das Reich des Sohnes. 3. Die Idee im Elemente der Gemeinde oder das Reich des Geistes. Vorangestellt sind Äußerungen über das, wie es heißt, Allgemeine dieser Religion, über den metaphysischen Begriff der Idee Gottes und über die Einteilung des Ganzen. Als Anhang beigegeben sind Vorlesungen über die Beweise vom Dasein Gottes, wobei der ontologische Beweis als der dem Christentum und seinem Begriff gemäße gilt. Seine und der sonstigen Gottesbeweise Systemstellung variiert in den religionsphilosophischen Kollegien; der trinitarische Aufbau der Lehre von der offenbaren, vollendeten, absoluten Religion ist seit dem zweiten Kolleg von 1824 gegeben (vgl. im Einzelnen W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart/Weimar 2 2010, 467ff., hier: 471. Zu den Gottesbeweisen und zu Hegels Manuskript der einschlägigen Vorlesung vom Sommer 1829 vgl. 497ff. Die Gottesbeweise sind Hegel zufolge Ausdrucksformen denkender Erhebung des subjektiven Geistes von seiner Endlichkeit zur Unendlichkeit des Absoluten.)

Absolutheitstheoretischer Begriff der Religion

in einen Begriff überführt wird, der die Form absoluten Wissens und des reinen Begreifens seiner selbst hat. Zwischen Kunst und Philosophie Der Begriff der Religion ist wegen der mit ihr verbundenen Vorstellungsform ein anderer als derjenige der Philosophie und ihrer Absolutheitstheorie, die nach Hegel in Form spekulativen Denkens zu absolutem Wissen zu gelangen vermag. Dass der Religionsbegriff auch mit demjenigen der Kunst nicht gleichzusetzen ist, wurde spätestens seit der Berliner Zeit immer deutlicher herausgestellt. In der „Phänomenologie des Geistes“ von 18077 fungierte die sog. Kunstreligion nach der sog. natürlichen und offenbaren als Mittelstück des Religionskapitels (vgl. GW 9, 376ff.). Ein eigenes Kapitel zur Ästhetik war darüber hinaus nicht vorgesehen. Noch in der zehn Jahre später erscheinenden Erstauflage der Enzyklopädie wird der erste Teil der Philosophie des Absoluten mit der Überschrift „Die Religion der Kunst“ versehen, woraufhin von der geoffenbarten Religion und schließlich von der Philosophie gehandelt wird (vgl. GW 13, 240ff.). Anders stellt es sich in der zweiten Enzyklopädieauflage von 1827 und in der dritten von 1830 dar: nun ist der erste Teil der Absolutheitstheorie ausschließlich der Kunst vorbehalten; für den zweiten Teil bleibt es bei der Beschränkung auf die geoffenbarte Religion, deren Theorie in diejenige des absoluten Wissens überführt wird.8 Die Auflösung einer direkten Verbindung von Kunst und Religion und das verstärkte Bemühen, beide als eigenständige Formen der Realisierung der Idee des Absoluten zur Geltung zu bringen, zeichnete sich bereits in der ersten

7 Vgl. J. Schmidt, „Geist“, „Religion“ und „absolutes Wissen“. Ein Kommentar zu den drei gleichnamigen Kapiteln aus Hegels „Phänomenologie des Geistes“, Stuttgart/Berlin/Köln 1997; nach Schmidt ist für Hegels genuinen Geistbegriff nicht die Vorstellung einer „in sich geschlossenen Subjektivität“ (474), sondern „Intersubjektivität“ (ebd.) bestimmend. 8 Hegels Theorie des absoluten Geistes ist einschließlich der Lehre von der geoffenbarten Religion auch in der erweiterten Zweit- und Drittauflage der Enzyklopädie äußerst knapp gefasst. Ihre „Lakonik… wurde für die Rezeption verhängnisvoll und ist es bis heute geblieben“ (H. F. Fulda, G. W. F. Hegel, München 2003, 242). Ist die spekulative Schlusslogik, die Hegel im Zusammenhang der trinitarischen Bestimmungsmomente von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit 1827 und 1830 im enzyklopädischen Schlussparagraphen zur geoffenbarten Religion (§ 571) entwickelt, um sie in der Drittauflage der Enzyklopädie mit einem philosophischen Dreifachschluss (§§ 575–577) zu verbinden, „das Kernstück seiner Philosophie der absoluten Religion? – Wohl schwerlich...“ (R. Heede, a.a.O., 270) Denn sie ist wegen der lakonischen Kürze der Darstellung erschließend nur dann, wenn man sie mit den religionsphilosophischen Ausführungen in Verbindung bringt, die Hegel in seinen Kollegien dargelegt hat. Auf sie hat sich deshalb die Interpretation vorzugsweise zu stützen.

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Berliner Ästhetik-Vorlesung vom Wintersemester 1820/21 ab9 , um vom religionsphilosophischen Kolleg des Sommersemester 1821 bestätigt zu werden. Weder in den Jenaer Jahren noch in seiner Heidelberger Zeit hat Hegel die Philosophie der Religion als eigenständige Disziplin thematisiert. Dies geschah erstmals in der besagten Berliner Vorlesung aufgrund eines eigens angefertigten Manuskripts, das etwa zeitgleich mit dem Erscheinen des ersten Bandes der christlichen Glaubenslehre des universitär-akademischen Dauerantipoden F. D. E. Schleiermacher zustande kam. In den Sommersemestern 1824, 1827 und 1831 hat Hegel schließlich erneut über Religionsphilosophie gelesen und dabei nicht unerhebliche Modifikationen konzeptioneller und inhaltlicher Art vorgenommen.10 Editionsgeschichtliches Zu einer Publikation der religionsphilosophischen Vorlesungen kam es zu Lebzeiten des Philosophen nicht. Sie besorgte erstmals kurz nach seinem Tod der ihm kollegial und freundschaftlich verbundene Theologe Philipp Konrad Marheineke, der Zeitgenossen bald als Oberhaupt des rechten und orthodoxen 9 Vgl. im Einzelnen G. Wenz, De spiritu et littera. Von der Kunst, Hegels Ästhetik zu verstehen, in: Th. Oehl/A.Kok (Hg.), Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Leiden/Boston 2018, 430–452. 10 Marheineke hat im Vorwort (Berlin, 6.5.1832) zur ersten Ausgabe von Hegels religionsphilosophischen Vorlesungen das Kollegmanuskript von 1821 folgendermaßen charakterisiert: „zwar äußerlich vollständig, d. h. über das Ganze sich hinerstreckend, aber nur in einzelnen großen Zügen, meist nur mit einzelnen Worten hingeworfen, rein allein zu dem Zweck, daß der mündliche Vortrag sich daran hin entwickeln sollte.“ (G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Hg. v. H. Glockner. Bd. 15 [Dritte Aufl.]: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Erster Band. Mit einem Vorwort von Ph. Marheineke, Stuttgart3 1959, 1) Im Folgenden äußert sich Marheineke zu den Quellen seiner Edition und ihren Prinzipien sowie zu den Wandlungen, die Hegels religionsphilosophische Vorlesungen im Laufe der Jahre 1821, 1824, 1827 und 1831 erfahren haben. Über die Unterschiede der zweiten zur ersten Auflage gibt Marheinekes Vorwort zur Zweitauflage vom Januar 1840 Rechenschaft (a.a.O., 7–12; zur Mitwirkung Bruno Bauers und zur verbesserten Quellenlage vgl. 8f.). Darin findet sich u. a. die Bemerkung, dass Hegel „in den zehn Jahren, da er mit diesem Gegenstande sich wiederholt beschäftigte, in Bezug auf die systematische Gliederung des Ganzen und auf die Stellung der einzelnen Religionen zu einander mit seinem zum Theil spröden Stoff gerungen und ihn selbst in die mannigfaltigste Stellung gebracht hat, um so immer klarer und gewisser den Wiederschein des Begriffs darin zu erkennen“ (11). Marheinekes Entscheidung, sich editorisch „auf die letzten Vorträge Hegels über diese Wissenschaft“ (8) zu konzentrieren, gewinnt u. a. von daher ihre Plausibilität. – Zum Gegensatz von Hegel und Schleiermacher sowie zu Bemühungen, beider Ansätze zu synthetisieren, vgl. H. Glockner, Hegel und Schleiermacher im Kampf um Religionsphilosophie und Glaubenslehre, in: ders., Beiträge zum Verständnis und zur Kritik Hegels sowie zur Umgestaltung seiner Geisteswelt, Bonn 2 1969, 247–271.

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Flügels der Hegelschule galt. Die Marheinekeedition der Hegel’schen Religionsphilosophie, die 1832 im Rahmen der sog. Freundesvereinsausgabe erschien (Bde. 11 u. 12) und die einzelnen Vorlesungsjahrgänge zu einer homogenen Einheit zu verschmelzen suchte, gelangte zu großer wirkungsgeschichtlicher Bedeutung, da sie und ihre Inhalte es waren, an der sich die Spaltung zwischen sog. Rechts- und Links-, Alt- und Neuhegelianern entzündete, die zur Auflösung der Schule führen sollte.11 An den Entwicklungen Bruno Bauers, der u. a. Karl Marx Anlass zu scharfen Invektiven gab, ließe sich diese Entwicklung exemplarisch darstellen. Im gegebenen Zusammenhang sei lediglich noch einmal vermerkt, dass Bauer in Fortführung von Marheinekes Edition 1840 eine neubearbeitete Zweitauflage der Hegel’schen Vorlesungen über die Philosophie der Religion bewerkstelligt hat. Auch er kompilierte dabei Materialien der verschiedenen Kollegien. Die von H. Glockner herausgegebene sog. Jubiläumsausgabe bietet einen Nachdruck der Baueredition. Ihr gegenüber stellt die in den Jahren 1925 bis 1929 entstandene Ausgabe des Berliner Pfarrers Georg Lasson insofern einen Fortschritt dar, als sie Hegels eigenhändiges Kollegheft zur Religionsphilosophie von 1821 edierte. Indem er sie zur Grundlage der Gesamtkonzeption erklärte, um ihr alle Nachschriften in vereinheitlichter Form zuzuordnen, verstellte Lasson aber mehr noch als es bisher der Fall war die Einsicht in den Gestaltwandel, den Hegels religionsphilosophische Vorlesungen im Laufe der Jahre durchlaufen hat. Einen editionsgeschichtlichen Quantensprung stellt gegenüber allen vormaligen Editionen die in der Reihe ausgewählter Nachschriften und Manuskripte 11 Zum Schulstreit um die Hegel’sche Religionsphilosophie vgl. W. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 505ff. sowie ders., Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983, 5ff. Jaeschke macht deutlich, dass eine „Beschränkung der Perspektive auf den schulinternen Streit … die epochale Bedeutung seiner Thematik allenfalls unzureichend verständlich machen kann“ (7); zugleich weist er mit Recht auf „die Tendenz zur totalen Aufsplitterung“ (ebd.) der Schule Hegels hin, die durch die Aufteilung in Rechts- und Links- bzw. Alt- und Neuhegelianer nicht verdeckt werden dürfe: „Es gab kaum zwei unter den Schülern, die zu mehreren Problemen die gleiche Stellung bezogen hätten.“ (Ebd.) Obwohl sie nach seinem eigenen Urteil streng genommen nicht bzw. allenfalls insofern zur Entwicklungsgeschichte der Hegel’schen Religionsphilosophie gehören, „als das Scheitern ihrer Religionskonzeption die Ausbildung des späteren Ansatzes begünstigt hat“ (2), handelt Jaeschke in seiner Einführung in Hegels Religionsphilosophie nach einem Forschungsüberblick ausführlich von den unter dem Namen „Theologische Jugendschriften“ bekannten Fragmenten der Tübinger, der Berner und der Frankfurter Zeit (vgl. 33–58), um von den unter dem Titel „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“ zusammengefassten Entwürfen zur „Phänomenologie des Geistes“ überzuleiten, mit der gemäß „dem Selbstverständnis des späten Hegel“ (36) seine genuine Religionsphilosophie ihren Anfang nehme (vgl. 59–68). Eine breite Darstellung der Religionsphilosophie des Systems schließt sich an (vgl. 69–147). Zur unterschiedlichen Stellung der Gottesbeweise in den Berliner religionsphilosophischen Vorlesungen und zu dem einzigen Kolleg, das Hegel ausschließlich ihrer Behandlung widmete, vgl. 120ff.

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Hegel’scher Vorlesungen (Bd. 3–5) erschienene, bereits mehrfach erwähnte Ausgabe von Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion dar, die Walter Jaeschke, langjähriger Direktor des Bochumer Hegel-Archivs, 1983/84 herausgegeben hat. Sie nimmt von den Versuchen einer Totalintegration der Quellen in eine Einheitskonzeption dezidiert Abstand und bietet die Texte der verschiedenen Vorlesungsjahrgänge gesondert, um auf diese Weise offenen Einblick in konzeptionelle Veränderungsprozesse und Wandlungen formaler und inhaltlicher Art zu geben. Die historisch-kritische Ausgabe diverser Nachschriften religionsphilosophischer Kollegien Hegels in GW 29 wird die Perspektive zusätzlich erweitern. Der bisher vorliegende Teilband enthält zum einen die Nachschrift von Philipp Ganzoni zum Kolleg vom Sommersemester 1821, zum andern diejenige von Karl Gustav Julius von Griesheim (mit Varianten aus Nachschriften u. a. Heinrich Gustav Hothos und Friedrich Carl Hermann Victor von Kehlers) zur religionsphilosophischen Vorlesung vom Sommersemester 1824. Die Griesheimnachschrift bildete bereits in Jaeschkes Ausgabe von 1983/84 den Leittext der Edition der Vorlesung von 1824. Hegel selbst hatte sich im Kolleg von 1827 zum Teil auf sie gestützt. Wenn auch diese Vorlesung, die Jaeschke im Wesentlichen auf der Basis der Lassonausgabe edierte, und diejenige des Jahres 1831, von der David Friedrich Strauß Exzerpte überlieferte, in der von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste in Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft herausgegebenen Edition der Gesammelten Werke Hegels verbunden mit sonstigen Materialien erschienen sein wird, wird sich voraussichtlich noch deutlicher die Bewegung erkennen lassen, die Hegels Religionsphilosophie in den Berliner Jahren durchlaufen hat. Die Dreigliederung, wie gesagt, steht seit dem ersten Entwurf fest. Aber innerhalb der triadischen Architektonik bewegt sich viel und zwar insbesondere im ersten und mehr noch im zweiten Teil der Darstellung. Die Bestimmungsmomente des Religionsbegriffs Was den ersten Teil der Religionsphilosophie anbelangt, so hatte Hegel schon im Manuskript von 1821 seine wesentliche Aufgabe dahingehend bestimmt, den Begriff der Religion gemäß der Verfasstheit des in ihr zum Bewusstsein seiner selbst gelangenden absoluten Geistes und seiner Totalität durch drei Momente zu bestimmen: durch dasjenige der absoluten Einheit, der Verschiedenheit und jener Identität von Identität und Differenz, wie sie für das Bewusstsein des Absoluten von sich selbst kennzeichnend ist (vgl. GW 17, 38ff.). „Diß ist die Religion im Allgemeinen, und diß die nähern Bestimmungen dieses Begriffs, die dann unmittelbar ihren Inhalt ausmachen. Der concrete Geist der Religion treibt sie, da sie in seinem Begriff liegen, hiemit überall hervor, wo er existirt

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– auf jeder Stuffe erscheinen sie daher“ (GW 17, 40), um auf der Stufe der offenbaren Religion vollendete Gestalt anzunehmen. In ihr erst ist der Begriff der Religion vollkommen realisiert und seine abstrakte Allgemeinheit behoben, die ihn und die Geiststruktur charakterisiert, an der er sein förmliches Maß findet. Letzterer Sachverhalt tritt in den späteren Kollegien noch deutlicher hervor als im ersten von 1824. In der Übersicht über den Gang der Abhandlung, welche die Einleitung zum Kolleg von 1824 gibt, werden programmatisch drei Momente benannt, die „zur Idee der Religion überhaupt, zur Religion, insofern sie Idee ist“ (V 3, 56), gehören: erstens substantielle Einheit ihres Seins als Vorstellungsgestalt des Absoluten, zweitens reflexives Bewusstsein ihres manifesten Wesens und drittens „das Aufheben dieses endlichen Standpunkts des Bewußtseins, die Vereinigung beider Seiten“ (V 3, 55), wie sie in demjenigen statthat, was Hegel Kultus nennt. Wenn auch nicht schon im Kolleg von 1824, so ist ab demjenigen von 1827 dieses Programm in Bezug auf die Exposition des Begriffs der Religion zu konsequenter Durchführung gelangt, womit der erste Teil der Hegel’schen Religionsphilosophie „die ihm angemessene Systemform“12 erhalten hat: „Abschnitt ‚A. Der Begriff Gottes‘ expliziert das erste Moment, das der absoluten Einheit; Abschnitt ‚B. Das Wissen von Gott‘ das zweite, das Moment der Getrenntheit des Ich und seines Gegenstandes, in dem für das Selbstverständnis der Religion die Signatur des religiösen Verhältnisses liegt, und Abschnitt ‚C. Der Kultus‘ entwickelt das dritte Moment – das Selbstbewußtsein des Geistigen, das diese der Vorstellung unaufhebbare Getrenntheit durch sein Handeln überwindet und zum Sichwissen des Geistes führt, zum Selbstbewußtsein des absoluten Geistes, soweit dieses auf der Stufe der Religion verwirklicht werden kann.“13 Substantielle Einheit religiösen Seins Der anfängliche, unmittelbare Begriff Gottes und der Religion ist abstraktallgemein: „Gott im Anfang ist für uns, indem er das Allgemeine ist, in Beziehung auf die Entwicklung das in sich Verschlossene, in absoluter Einheit mit sich selbst.“ (V 3, 268) Kurzum: „Gott ist die absolute Substanz. Hält man dies abstrakt so fest, dann ist es allerdings Spinozismus, Pantheismus. Aber das Gott Substanz ist, schließt die Subjektivität nicht aus; die Substanz als solche ist von der Subjektivität noch gar nicht unterschieden. Es gehört zu der gemachten Voraussetzung: Gott ist der Geist, der absolute Geist, der ewig einfache, wesentlich bei sich seiende Geist. Diese Idealität, Subjektivität nun des Geistes, die Durchsichtigkeit, Idealität von allem Besonderen ist, ist ebenso 12 W. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 458. 13 Ebd.

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diese Allgemeinheit, diese reine Beziehung auf sich selbst, das absolute bei sich selbst Sein und Bleiben, die absolute Substanz.“ (V 3, 269) Das erste im Begriff Gottes und der Religion ist die Einheit der absoluten Wirklichkeit mit sich selbst, zu deren Reinheit sich der Geist über alles Sinnliche erhebt. Sie ist Prinzip, aber als Prinzip nur Moment in der Entwicklung des Gottes- und Religionsbegriffs, das aufgehoben werden muss. „Erst wenn man weiter geht, kommt die Bestimmung, das Konkrete, die Einheit unterschiedener Bestimmungen. Dies setzt eins und ein anderes voraus; beim Anfang aber hat man noch nicht unterschiedene Bestimmungen, eins und ein anderes; beim Anfang ist man nur beim einen, nicht beim anderen. Wenn wir beim anderen sind, sind wir schon weiter gegangen.“ (Ebd.) Reflexives Bewusstsein religiösen Wesens Das eine und das andere bzw. der Unterschied, der zwischen ihnen waltet und sie zu dem macht, was sie sind, konstituieren das zweite Moment des Begriffs Gottes und der Religion, durch welches beider Indifferenz allererst behoben und der Begriff der Religion als Gottesbeziehung differenziert in Erscheinung tritt, so dass Hegel sagen kann: „erst mit dem Unterschied fängt Religion als solche an.“ (V 3, 277) Der die Indifferenz des Begriffs Gottes und der Religion behebende Unterschied ist ein geistiger Unterschied, näherhin der das Bewusstsein kennzeichnende Unterschied zwischen Wissen und Gewusstem. „Hier erst haben wir zwei, Gott und das Bewußtsein, für das er ist. Indem wir so diese zwei haben, kann in der Vorstellung so gut vom einen wie vom anderen ausgegangen werden.“ (V 3, 278) Theologisch ist der Unterschied als zweites Moment der religionsphilosophischen Entwicklung des Begriffs der Religion als Sichoffenbaren Gottes zu bestimmen. „Der Geist ist absolutes Manifestieren; sein Manifestieren ist Setzen der Bestimmung und Sein für Anderes. Manifestieren heißt Schaffen eines anderen, und zwar des subjektiven Geistes, für den das Absolute ist.“ (Ebd.) Anthropologisch betrachtet hinwiederum ist der das zweite Moment des religionsphilosophischen Begriffs der Religion kennzeichnende Unterschied als bewusste Erhebung des endlichen Subjekts zum absoluten Geist zu bestimmen. Der Prozess besagter Erhebung nimmt seinen Anfang als unmittelbares Wissen in der Weise präreflexiver Glaubensgewissheit, die in der Unterscheidung subjektiven Gefühls und objektiver Vorstellung reflexive Gestalt annimmt, bis schließlich die Form der Vorstellung in diejenige des Denkens überführt wird, in dem Subjekt und Objekt auf differenzierte und vermittelte Weise eins sind. Bei einer bloß gefühlten Glaubensgewissheit stehen zu bleiben, gilt Hegel als der Grundschaden von Theologie und Religionsphilosophie seiner Zeit: „Der Inhalt muß an und für sich wahr sein, wenn das Gefühl wahr sein soll. Darum

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sagt man auch, das Gefühl, das Herz müsse gereinigt, gebildet werden; nicht die natürlichen Gefühle seien die rechten Handlungstriebe. Das besagt eben, daß der Inhalt des Herzens als solcher das Wahrhafte nicht sei, sondern das, was dem Herzen Zweck, Interesse sein soll – dieser Inhalt, diese Bestimmungen sollen das Wahrhafte werden und sein. Was aber das Wahrhafte sei, lernt man erst durch Vorstellung und Denken.“ (V 3, 291) Was die Vorstellung anbelangt, in deren Form Gott für den Menschen zunächst ist, so ist sie „ein Bewußtsein von etwas, das man als Gegenständliches vor sich hat“ (V 3, 292). Zu den spezifischen Bestimmtheitsweisen der Vorstellung gehören sowohl sinnliche Gestaltungen in Form etwa von Bildern, wie sie der unmittelbaren Anschauung entnommen sind, oder von Erinnerungsgestalten geschichtlicher oder quasigeschichtlicher Natur. Es gehören der Vorstellung aber auch nichtsinnliche Gestaltungen an, z. B. wenn geistige Inhalte analog zu empirischen aufgefasst und gleichsam wie diese genommen werden. Die Vorstellung der göttlichen Erschaffung der Welt, ja schon die Weltvorstellung als solche führt Hegel dafür als Beispiel an. Aufgabe der Philosophie ist es, die dem göttlichen Inhalt der Religion formal unangemessene Vorstellung ins Denken aufzuheben. „Die Philosophie tut nichts anderes, sie verwandelt nur unsere Vorstellung in Begriffe; der Inhalt bleibt immer derselbe.“ (Ebd.) Der Unterschied von Denken und religiöser Vorstellung betrifft die Form und den Inhalt nur insofern, als dieser geformt ist. Näherhin wird die Differenz so gefasst, dass im Denken das in der Vorstellung mit dem Schein des Zufälligen Versehene als notwendig gewusst wird: „Der Gegenstand wird im Denken nicht als seiend, nicht nur in einfacher Bestimmtheit, in dieser reinen Beziehung auf sich genommen, sondern wesentlich in Beziehung auf anderes, daß er wesentlich Beziehung Unterschiedener sei. Wir nennen notwendig, daß, wenn das eine ist, damit das andere gesetzt ist. Die Bestimmtheit des ersten ist nur, insofern das zweite ist, und umgekehrt. Für die Vorstellung ist das Endliche das ‚Ist’. Für das Denken aber ist das Endliche sogleich nur ein solches, das nicht für sich ist, sondern zu seinem Sein ein anderes erfordert, durch ein anderes ist. Für das Denken überhaupt, näher für das Begreifen, gibt es kein Unmittelbares. Die Unmittelbarkeit ist die Hauptkategorie der Vorstellung, wo der Inhalt in seiner einfachen Beziehung auf sich gewußt wird. Für das Denken gibt es nichts Unmittelbares, sondern nur solches, in dem wesentlich die Vermittlung ist.“ (V 3, 301) Wie der vorgestellte religiöse Inhalt in der Form des Denkens nicht untergeht, sondern aufgehoben, will heißen: bestimmt negiert, bewahrt und erhoben wird, so hat Entsprechendes auch in Bezug auf das Verhältnis von religiösem Wissen und Gefühl zu gelten. Im Wissen erlangt das Gefühl seine Wahrheit, wohingegen es seiner vermittlungslosen Unmittelbarkeit überlassen zwangsläufig verkommen müsste. Insofern ist das religiöse Wissen Vermittlung des

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religiösen Begriffs mit sich selbst, wie sie sich im Prozess der Erhebung zu Gott vollzieht, die zugleich ein Sich-Erheben und ein Erhobenwerden ist. Mit Hegel zu reden: „Betrachten wir also das religiöse Wissen näher, so zeigt es sich nicht nur als diese einfache Beziehung von mir auf meinen Gegenstand, sondern es ist ein viel Konkreteres in sich; diese ganze Einfachheit, dies Wissen von Gott, ist eine Bewegung in sich, näher eine Erhebung zu Gott. Die Religion sprechen wir wesentlich aus als eine Erhebung, ein Übergehen von einem Inhalt zu anderen, und der Inhalt, von dem wir übergehen zu Gott, ist der endliche Inhalt, von dem wir uns zu dem absoluten, unendlichen Inhalt verhalten und übergehen.“ (V 3, 308) Kult der Erhebung Die Erhebung vom Endlichen zum Unendlichen ist es, die sich im religiösen Wissen von Gott vollzieht. „Das Wissen von Gott ist eben diese Erhebung.“ (V 3, 317) Gegen die verbreitete Annahme, es gebe keinen Übergang vom Endlichen zum Unendlichen, weil das endliche Bewusstsein das Unendliche nicht zu fassen vermöge, macht Hegel geltend, dass das Endliche nur eine Schranke, keine einen unübersteigbaren Gegensatz zum Unendlichen begründende Grenze sei: „Indem wir aber etwas als Schranke wissen, sind wir schon darüber hinaus.“ (Ebd.) Hinzuzufügen ist, dass die Erhebung vom Endlichen zum Unendlichen nicht zu verwechseln ist mit dem indefiniten Fortgang von einem Endlichen zum anderen, wodurch das Endliche gar nicht verändert, sondern als Endliches in schlichter Weise verunendlicht wird. „Denn das Endliche ist zwar ein solches, das sich verändert, in Anderes übergeht; aber dies Andere ist wieder Endliches ... Das Übergehen in Anderes, diese schlechte Affirmation, ist der schlechte Progreß des Endlichen, ist bloß die langweilige Wiederholung einer Bestimmung; darin aber ist die wahre Affirmation bereits enthalten ... Der wahrhafte Übergang besteht nicht in dem Wechsel, in der perennierenden Veränderung, sondern das wahrhaft Andere des Endlichen ist das Unendliche, und dies ist nicht bloß Negation des Endlichen, sondern affirmativ, das Sein. Das ist diese ganz einfache Betrachtung. Dieser affirmative Gang ist der Gang unseres Geistes; dies macht sich bewußtlos in unserem Geist; die Philosophie aber ist, das Bewußtsein davon zu haben.“ (V 3, 315f) 16.2

Von der bestimmten zur offenbaren Religion

Dem Vorbegriff zufolge, den Hegel von ihr hat, ist Religion „als subjektives Verhältnis des Bewußtseins zu seinem absoluten Grund und somit als Got-

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tesbewußtsein“14 zu fassen. Mit dieser Bestimmung schließt der Philosoph des Absoluten an das modernitätsspezifische Religionsverständnis an, wie es einerseits von Kant und andererseits von Schleiermacher paradigmatisch repräsentiert wird.15 „Aber Hegel will dem Verdacht, der im Medium des Gottesbewusstseins ausgelegte göttliche Grund verdanke sich der Setzung des religiösen Bewußtseins, dadurch entgegenwirken, daß er das Gottesbewußtsein auf den selbständigen, sich selbst explizierenden Gottesgedanken zurückführt, so daß sich dieser an der Stelle des sich wissenden Selbstbewusstseins der Religion als ‚absoluter Geist‘ manifestiert.“16 Hegels Religionsphilosophie ist mithin zugleich spekulative Theologie und umgekehrt. Als die Erhebung des Endlichen zum wahrhaft Unendlichen, welche sie vollzieht, ist Religion simultan ein Sich-Erheben des Subjekts und ein Erhoben-Werden desselben durch das Absolute mit dem Ziel einer differenzierten Einheit, in welcher der Gegensatz von Gott und Mensch aufgehoben und jeder Widerstreit auf gottmenschliche Weise versöhnt ist. In der christlichen Religion ist nach Hegels Urteil dieses Ziel erreicht, wohingegen die außerchristlichen Religionen den Weg zu ihm markieren. Kompositionsschema Während die Darstellungsform der christlichen Religion bereits 1821 weitgehend ausgereift ist, hat Hegel die Präsentation der außerchristlichen Religionen kontinuierlich umgearbeitet, nämlich zum einen durch innere Differenzierung ihrer jeweiligen geschichtlichen Erscheinung, durch Veränderungen bezüglich ihrer Stellung in der Religionsgeschichte sowie durch Wandel in den Darstellungsprinzipien, der u. a. das Verhältnis von Systematik und Historie betrifft.17 Durchgängig erhalten bleibt das triadische Kompositionsschema: „Jede einzelne bestimmte Religion wird genau so dreigegliedert wie der Begriff der Religion überhaupt“18 , nämlich nach ihrem identischen Wesen, dem differenten Gehalt ihrer besonderen Erscheinungen und den Formen des Kultus, durch dessen 14 F. Wagner, Art. Religion II. Theologiegeschichtlich und systematisch-theologisch, in: TRE 28, 522–545, hier: 532. 15 Zur typologischen Unterscheidung eines voluntativ, emotiv und kognitiv orientierten Religionsverständnisses vgl. a.a.O., 529ff. 16 A.a.O., 532f. 17 G. W. F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 4: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 2: Die bestimmte Religion. Hg. v. W. Jaeschke, Hamburg 1985 (= V 4). Hierzu auch: W. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 459ff. 18 R. Heede, a.a.O., 156. Zur Komposition des ersten Teils der Religionsphilosophie vgl. 122ff. Während das Manuskript des Kollegs von 1821 nach Heedes Urteil „nicht stringent durchkomponiert“ (122) und „im banalen Sinne unfertig“ (124) ist, sodass es das Niveau der anderen Quellen nicht erreichen kann, sind die Vorlesungen seit 1824 klar strukturiert und zwar nach dem Muster des substantiellen Standpunkts, des Standpunkts reflexiven Bewusstseins und

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Vollzug sich das jeweilige religiöse Bewusstsein mit seinem bestimmenden Grund vereint. Was hinwiederum das Verhältnis der bestimmten Religionen zueinander und die Reihenfolge ihrer Behandlung anbelangt, so lässt sich ebenfalls eine triadische Sequenz unschwer erkennen, die gemäß der Logizität von Sein, Wesen und Begriff als realisierter Idee von den Naturreligionen über die Religionen der geistigen Individualität zur absoluten Religion führt. Weil der Geist nicht auf lediglich naturhafte Weise, sondern als Geist zu existieren bestimmt ist, kann es bei einer seinshaften Verfassung der Religion, die den religiösen Grund auf mehr oder minder sinnliche Weise vorstellig macht, nicht sein Bewenden haben. Es muss zum Übergang zu jener Klasse von Religionen kommen, die Hegel seit dem Kolleg von 1824 explizit mit dem Titel der geistigen Individualität versieht, um sie als – aus der Vielheit mannigfaltigen Seins zurückgezogene – einheitliche, in sich gegangene und selbstreflexive Wesensgrößen zu kennzeichnen. Ihre Abfolge, die, was das Verhältnis von Judentum und griechischer Religion betrifft, variieren kann, ist in bestimmter Weise gegenläufig zur naturreligiösen Bewegung mit der Folge, dass sich die Reihung der Realisierungsmomente beider Prozesse im Umkehrmodus entspricht. Beschreibt der Prozessverlauf der Naturreligionen eine fortschreitende Abkehr von seinshafter Vielheit hin zu wesenhafter Einheit, so ist es in der Bewegung der Religionen geistiger Individualität wesentlich darum zu tun, die erlangte reflexe Einheit zu konkretisieren und mit Alterität zu vermitteln. Vollendet wird diese Entwicklung in der Religion des Christentums, die in dem Moment offenbar wird, da die religionsgeschichtliche Entwicklung an einem Nullpunkt angelangt und zunichte geworden zu sein scheint: in der römischen Weltreligion äußerer Zweckmäßigkeit, welche nach Hegels Urteil darauf hinausläuft, den Tod als den alleinigen Herrn des Lebens nihilistisch zu verherrlichen.19 Naturreligionen Um in Fortsetzung der Ausführungen zum Begriff der Religion die Gesamtentwicklung der religionsgeschichtlichen Teils der Hegel’schen Religionsphilosophie anhand des Kollegs von 1827 zumindest in Grundzügen zu skizzieren20 : der Aufhebung beider – in ihrer Unterschiedenheit endlichen – Standpunkte im kultischen Vollzug. Diese Dreiteilung des Ganzen kehrt in Bezug auf die einzelnen Religionen wieder. 19 Vgl. im Einzelnen G. Wenz, Geistlose Macht und machtloser Geist. Das Imperium Romanum im philosophischen Urteil Hegels, in: KuD 65 (2019), 272–293. 20 Über „Die außerchristlichen Religionen bei Hegel“ informiert materialreich das gleichnamige Buch von R. Leuze, Göttingen 1975. Es erhebt die historischen Quellen, von denen her die Darstellung der einzelnen Religionen konzipiert ist, nämlich der chinesischen, der indischen, der persischen, der ägyptischen sowie der jüdischen, der griechischen und der römischen. Leuzes systematische Bedenken richten sich abgesehen von Defiziten bezüglich der Rekon-

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Die besonderen Religionen, wie sie im Laufe der Geschichte hervortreten, sind nach Hegel bestimmte Stufen des Bewusstseins und des Wissens vom Geist, in denen sich der Begriff der Religion realisiert, um in der absoluten Religion sich zu vollenden. Die erste Form der Religion ist die – Naturreligion zu nennende – unmittelbare Religion, in welcher sich der Geist von der Natur noch nicht emanzipiert hat, sondern in ursprünglicher Einheit mit ihr befindet. Mit natürlicher Religion kann die Naturreligion nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden, sofern ersterer Ausdruck auch die verständige Religion als Resultat der Aufklärung, namentlich den Deismus bezeichnen kann. Während in den – dem Morgenland zugeordneten – Naturreligionen der Geist sich noch nicht von der Natur emanzipiert hat, erhebt er sich in der zweiten Stufe der Religion über das Natürliche, um sich in der dritten, derjenigen des Christentums zu vollenden. Bevor Hegel auf die Formen der Naturreligion eingeht, grenzt er sich zunächst gegen die nach seinem Urteil höchst irrige Annahme ab, die erste Religion sei zugleich die wahrhafte und vortreffliche gewesen, der gegenüber alles Weitere als Verfall eingeschätzt werden müsse. Richtig sei vielmehr das Gegenteil, wie insgesamt gelte, dass der erste und ursprüngliche Zustand stets der noch unentwickelte bzw. der Entwicklung harrende sei. Irrig sei es demnach auch, die Bestimmung des Menschen als einen protologischen Urstand vorstellig zu machen. „Paradies ... ist eigentlich erst ein Tiergarten; es ist der Zustand der Zurechnungsunfähigkeit.“ (V 4, 424) „Daß der Mensch in jenem ersten Zustand die höchste Kenntnis des Guten und der Natur gehabt habe, ist wohl schon angenommen worden, aber ganz absurd.“ (V 4, 427) Die Unschuld eines vermeintlich ersten Zustands kann allenfalls darin bestehen, dass der Mensch in ihm – einem Kinde gleich – gegenüber dem Unterschied von Gut und Böse noch indifferent ist. Damit erledigt sich für Hegel die Vorstellung eines Falles der Sünde aus dem integren Urstand der iustitia originalis. Denn der Mensch ist dazu bestimmt, aus dem Status der Naturunmittelbarkeit herauszutreten, in welchem zu verharren die gründlichste Verfehlung menschlicher Bestimmung wäre. Die Entzweiung des Bewusstseins, wie sie in der reflexen Erkenntnis des Guten und des Bösen statthat, ist daher durchaus der Bestimmung des Menschen gemäß, wenngleich nur als aufzuhebendes Durchgangsmoment, sofern die arbiträre Freiheit, gut und böse zu unterscheiden und in formaler Entscheidung zwischen beiden zu struktion der inneren Entwicklungsgeschichte der einzelnen Religionen insbesondere gegen die apriori gegebenen begrifflichen Bestimmungen, mit denen Hegel die Religionen untereinander verbinde, um den Fortschritt von der einen zur anderen zu erfassen (vgl. 237ff.). Vgl. dazu: W. Jaeschke, Zur Logik der Bestimmten Religion, in: D. Henrich/R.-P. Horstmann (Hg.), Hegels Logik der Philosophie. Religion und Philosophie in der Theorie des absoluten Geistes. Stuttgart 1984, 172–188.

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wählen, lediglich ein Abstraktum der Freiheit darstellt. „Dieser Standpunkt der formalen Freiheit, wo der Mensch Gutes und Böses sich gegenüber hat und über beiden steht, der Herr beider ist, das ist ein Standpunkt, der nicht sein soll, und zwar nicht so, daß er gar nicht sein, nicht hervortreten sollte – es ist vielmehr wegen der Freiheit notwendig, sonst ist er nicht frei, nicht Geist –, aber es ist ein Standpunkt, der aufgehoben werden, der mit der Versöhnung, in der Vereinigung mit dem Guten sich endigen muß.“ (V 4, 426) Zauberei Was die Formen der Naturreligion anbelangt, in denen das Geistige als Natur bzw. auf natürliche Weise vorstellig wird, so unterscheidet Hegel deren vier: Die erste Religion, wenn sie denn überhaupt so genannt werden soll, ist diejenige der Zauberei, in der das Bewusstsein des Menschen auf die Vorstellung des Geistigen als natürlicher Gewalt, Macht und Herrschaft über die Natur fixiert ist. Weil aber das Prinzip, gemäß dem das Geistige bzw. Gott für den Menschen bestimmt ist, zugleich das Prinzip dessen ist, wie der Mensch in sich bestimmt ist (V 4, 413: „Ein schlechter Gott, ein Naturgott, hat schlechte, natürliche, unfreie Menschen zu seinen Korrelaten; der reine Begriff von Gott, der geistige Gott, hat den freien, geistigen, wirklich von Gott wissenden Geist zu seinem Korrelat. In der bestimmten Religion ist der Geist bestimmt, sowohl der absolute, der Gegenstand ist, als der subjektive, der sein Wesen, seine Absolutheit zum Gegenstand hat. Beide Seiten erhalten hier erst ihre Bestimmtheit.“), kann Hegel auch sagen, dass der Mensch auf dem unmittelbaren Standpunkt der Religion der Zauberei sich im Zustand natürlicher Begierde befindet, in der die Macht des Geistigen noch nicht eigentlich als Geist vorhanden ist, sondern der Natur und der Kontingenz natürlichen Seins verhaftet bleibt. Namentlich Eskimos und Afrikaner müssen als Beispiele für besagte erste Form der Naturreligion herhalten, der im Übrigen auch die Staatsreligion des chinesischen Reiches zugeordnet wird, die Hegel als ausgebildete Zauberreligion beurteilt (V 4, 458: „Die Chinesen sind das abergläubischste Volk der Welt, in ewiger Furcht und in Angst vor allem, weil alles Äußerliche eine Bedeutung für sie hat, eine Macht über sie ist, etwas, das Gewalt gegen sie brauchen, das sie affizieren kann.“) Buddhistisches Insichsein Die zweite Form der Naturreligion bezeichnet Hegel als Religion des Insichseins, in welcher der Mensch nicht mehr dem Äußerlichen seiner unmittelbaren Natürlichkeit aufsitzt, sondern sich in sich sammelt, „so daß diese Innerlichkeit das Wesentliche, Höhere, Mächtige, das Herrschende ist“ (V 4, 430f). Die Religion des Insichseins transzendiert die empirische Zufälligkeit des bloß Natürlichen

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und fasst sich in dem Bewusstsein einer die Welt regierenden Macht zusammen, die alles nach Maßgabe eines vernünftigen Zusammenhangs entstehen lässt. Religiös bestimmend ist die Annahme oder besser: das Innesein einer alles durchdringenden unendlichen Substanz, gegenüber der alles wie nichts zu gelten hat, weil außerhalb derselben allenfalls Akzidentelles, Gleichgültiges, Unselbständiges, aber nicht wahrhaft Wirkliches auftritt. Der Buddhismus ist hierfür nach Hegels Urteil paradigmatisch. Wie sich hierzu der Spinozismus und dessen angeblicher Pantheismus verhalten, ist Gegenstand eines eigenen Exkurses, von dem im gegebenen Zusammenhang nur folgendes Zitat angeführt werden solll, weil es den weiteren Entwicklungsgang markiert: „Gott ist in allen höheren Religionen, besonders aber in der christlichen, die absolute eine Substanz; zugleich aber ist er auch Subjekt, und das ist das weitere.“ (V 4, 471) Hinduistisches Außersichsein Für die dritte Form der Naturreligion ist die indische charakteristisch, in der das Bewusstsein zwar ebenso wie im Buddhismus und anders als in der Religion der Zauberei aus der naturunmittelbaren Äußerlichkeit in sich gegangen, aber zugleich aus der Abstraktion des Insichseins herausgegangen ist mit der Folge, „daß das Konkrete nicht in das Insichsein als solches verlegt, sondern daß es ein Zerfallen in unendlich viele Mächte, Gestaltungen, allgemeine Momente ist, die in Beziehung stehen mit der in sich seienden Wesenheit, mehr oder weniger Einbildungen dieser Wesenheit sind“ (V 4, 432). An der Einfachheit des Brahma und der Unzahl einzelner hinduistischer Göttergestalten wird dies verdeutlicht. Die vierte Form der Naturreligion stellt bereits eine Übergangsform zur Religion der Schönheit und der Erhabenheit dar, weil sich in ihr der Geist über das Natürliche zu erheben und zu entzweien beginnt, um reflex zu werden. Es kommt zur „Objektivierung dessen, was als das Höchste gewußt wird. Diese hat zwei Gestalten. Die erste ist, daß in dieser Objektivierung dem Konkreten das Einfache gegenübergesetzt wird, aber dies Einfache noch abstrakt in natürlicher Weise, das aber ebenso geistige Bestimmung in sich enthält. Die zweite Gestalt der Objektivierung des Substantiellen besteht ... darin, daß der Begriff der Subjektivität, des Konkreten, die Entwicklung des Konkreten und diese Entwicklung als Totalität so für sich dem Subjekt zum Bewußtsein kommt.“ (Ebd.) Licht und Finsternis Die erste Gestalt nennt Hegel die Religion des Lichts. „Es ist die Form, in der Gott als das wahrhaft an und für sich Seiende gewußt wird und wahrhaft als

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dieses, so daß er in Wahrheit das Selbständige, das in sich Bestimmte ist, und so ist er das Gute. Aber so ist er das Gute, das selbst noch das Dasein auf natürliche Weise hat.“ (V 4, 504) Infolgedessen bleibt die Religion des Lichts von einem Gegensatz zur Finsternis des Bösen bestimmt. „Wir haben so zwei Prinzipien, das Reich des Guten und des Bösen, diesen orientalischen Dualismus. Es ist dieser große Gegensatz, der hier zu seiner allgemeinen Abstraktion gekommen ist. Das Gute ist wohl das Wahrhafte, das Mächtige, aber es ist im Kampfe mit dem Bösen, so daß das Böse als absolutes Prinzip gegenübersteht und stehenbleibt.“ (V 4, 507) Aufgehobener Dualismus In der zweiten Gestalt des religiösen Übergangs von Naturreligion zur Religion der Schönheit und Erhabenheit hebt sich der Dualismus des Lichts und der Finsternis auf und fängt an, „sich zu vereinigen, so daß in die Subjektivität selbst dies Finstere, Negative fällt, das in seiner Steigerung auch zum Bösen wird. Die Subjektivität ist dies, die entgegengesetzten Prinzipien in sich zu vereinen, die Gewalt zu sein, diesen Widerspruch in sich zu ertragen und aufzulösen.“ (V 4, 515) Im wiederholten Kreislauf von Leben, Sterben und Auferstehen der Gottheit, wie er in der ägyptischen Religion zu beobachten ist, wird dies vorstellig. Doch bleibt das Prinzip der ihre Negation in sich begreifenden Subjektivität in der Religion der Ägypter noch rätselhaft, um erst in der griechischen Religion der Schönheit und der jüdischen Religion der Erhabenheit zur Klarheit zu gelangen. „Dort ist das Rätsel gelöst; die Sphinx ist nach einem bedeutungs- und bewunderungsvollen Mythos von einem Griechen getötet und das Rätsel so gelöst worden: der Inhalt sei der Mensch, der freie, sich wissende Geist.“ (V 4, 532) Religionen der geistigen Individualität Den Religionen der zweiten Stufe bestimmter Religion, die Hegel in der Vorlesung von 1824 in umgekehrter Reihenfolge behandelt und mit der „Übergangsreligion“ (V 4, 282) der Zweckmäßigkeit unter der Überschrift „Religionen der geistigen Individualität“ (ebd.) zusammenfasst, ist die Aufhebung des Natürlichen in das Geistige gemeinsam. Gott, der Geist, wird als Geist gewusst. Seine Erscheinung ist nach Maßgabe der Vorlesung von 1827 zunächst diejenige der Schönheit, in welcher das Natürliche verklärt ist im Geiste und seiner Freiheit. „Seine Verklärung besteht darin, daß es Zeichen des Geistigen ist, wobei das Natürliche selbst als Endliches die andere Seite zu jenem Substantiellen ausmacht oder in dieser Verklärung des physisch oder geistig Natürlichen jener Wesentlichkeit, jenem Substantiellen, dem Gott gegenübersteht. Der Gott ist die freie Subjektivität, an der das Endliche nur als Zeichen gesetzt ist, in dem er, der

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Geist, erscheint. Das ist die Weise der präsenten Individualität, der Schönheit – griechische Religion.“ (V 4, 533f) Griechische Religion der Schönheit Allerdings bleibt in der griechischen Religion der Schönheit, die Hegel unter inhaltlichen und kultischen Aspekten ausführlich thematisiert, das Geistige noch mit der Äußerlichkeit sinnlicher Natur behaftet, in der es sich manifestiert. Das Göttliche ist noch nicht im reinen Denken als reiner Geist erfasst. Darin liegt die Notwendigkeit der Erhebung von der Religion der Schönheit zu derjenigen der Erhabenheit begründet. In ihr „erst ist das Endliche beherrscht vom Geiste, der Geist sich erhebend, erhoben über die Natürlichkeit, Endlichkeit, nicht mehr behaftet und getrübt von dem Äußerlichen, was bei der Form der Schönheit noch der Fall ist“ (V 4, 534). Erst in der jüdischen Religion ist Gott als Geist, als geistige subjektive Einheit und damit recht eigentlich als Gott, der diesen Namen verdient, offenbar. „Diese subjektive Einheit ist nicht Substanz – denn sie ist subjektiv –, wohl aber ist sie absolute Macht; das Natürliche ist nur ein durch sie Gesetztes, Ideelles, nicht Selbständiges. Erscheinend, offenbarend ist sie nicht im natürlichen Material, sondern wesentlich im Gedanken: Der Gedanke ist die Weise ihres Daseins, Erscheinens.“ (V 4, 561) In der Allmacht des einen Gottes ist im Unterschied zur Religion der Schönheit alle sinnliche Gestalt aufgehoben. Während sich die Griechen ein bestimmtes menschliches Bild ihrer Gottheiten machten, herrscht in der jüdischen Religion Bilderverbot. Gott ist „hier gestaltlos – nicht für die sinnliche Vorstellung, sondern nur für den Gedanken. Die in sich unendliche reine Subjektivität ist die Subjektivität, die wesentlich denkend ist.“ (V 4, 563) Jüdische Religion der Erhabenheit Die Subjektivität Gottes, wie sie in der jüdischen Religion sich manifestiert, ist nach Hegel indes noch nicht konkreter Geist. Statt im anderen als einem anderen sich selbst zu explizieren, entspricht sie in ihrem Selbstvollzug der Logizität unmittelbarer Selbstbestimmung. Um es zunächst unter dem Gesichtspunkt göttlicher Weltbeziehung zu verdeutlichen: Gott ist in seiner Gottheit über alles, was er nicht unmittelbar selbst ist, in absoluter Transzendenz schlechterdings erhaben. Erhabenheit ist in der jüdischen Religion entsprechend das entscheidende Charakteristikum der Beziehung Gottes zur Welt. „Die Welt wird als Manifestation dieses Subjekts gefaßt, aber als Manifestation, die nicht affirmativ ist oder die, indem sie zwar affirmativ ist, doch den Hauptcharakter hat, daß das Natürliche, Weltliche negiert wird als ein Unangemessenes für das Subjektive, so daß das Erscheinen Gottes sogleich als Erhabenheit über die Erscheinung an der Realität gefaßt ist.“ (V 4, 569) Während in der griechischen Religion das

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Geistige sich sinnlich offenbart, vertilgt in der jüdischen Religion die göttliche Erhabenheit „den Stoff, das Material, an dem das Erhabene erscheint. Das Material wird ausdrücklich zugleich als unangemessen gewußt … Denn zur Erhabenheit ist es nicht genug, daß das Substantielle an und für sich ein Höheres ist als seine Gestalt, sondern erst dies, daß in dieser die Unangemessenheit zugleich gesetzt ist.“ (V 4, 570) Die Schranke der jüdischen Religion ist nach Hegel mit der Abstraktheit der Idee unmittelbarer Selbstbestimmung göttlicher Subjektivität gegeben, die sich lediglich auf anfängliche Weise, als reines Beginnen manifestiert, ohne aus dem Begonnenen zu resultieren. „Wäre die göttliche Subjektivität als Resultat, als sich selbst erschaffend bestimmt, so wäre sie als konkreter Geist gefaßt. Wäre das vom absoluten Subjekt Geschaffene dieses selbst, so wäre in diesem Unterschied der Unterschied ebenso aufgehoben, das letzte Subjekt das aus sich resultierende. Diese Bestimmung haben wir hier noch nicht, nur die, daß das absolute Subjekt das schlechthin Anfangende, das Erste ist.“ (V 4, 565) Eine analoge Aporie zeigt sich hinsichtlich der Zweckbestimmungen Gottes, bei denen es sich um unmittelbar gesetzte Gesetze handelt, denen unterwürfig zu gehorchen ist. „Diese Unterwürfigkeit ist das letzte.“ (V 4, 573) Hegel exemplifiziert das namentlich an den kultischen, aber entsprechend auch an den übrigen Geboten, die als etwas abstrakt Vorgeschriebenes in Geltung stehen und der äußeren Beobachtung aufgegeben sind. Wie auch immer: Die Grundaporie jüdischer Religiosität liegt nach Hegels Urteil in derjenigen der Logizität unmittelbarer Selbstbestimmung begründet, welcher sie folgt. Gott ist abstrakte, nicht trinitarisch konkrete Einheit. Uneindeutige Reihung Im Vergleich zur Abstraktheit des über alles erhabenen, schlechterdings jenseitigen Gottes des Judentums muten die griechischen Götter in ihrer bunten und heiteren Vielfalt konkreter und insofern trinitätsnaher an, auch wenn der jüdische Monotheismus dem christlichen Gottesverständnis geschichtlich und theologisch ungleich enger verbunden ist als jeder pagane Polytheismus. Dies dürfte ein Grund dafür gewesen sein, warum Hegel in den religionsphilosophischen Kollegien vor 1827 die griechische der jüdischen nachgeordnet hat, sodass die Reihenfolge der Religionen geistiger Individualität lautete: Religion der Erhabenheit, Religion der Schönheit, Religion der Zweckmäßigkeit. Mit dieser Sequenz scheint Hegel seinem Anspruch, die bestimmten Religionen „systematisch auseinander entwickeln zu können“21 gerechter zu werden als mit der Variation in der Vorlesung von 1827: „In der jüdischen Religion ist der

21 R. Heede, a.a.O., 154.

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Eine Gott noch ausschließlich negativ gegen das von ihm ‚beherrschte‘ Natürliche gerichtet, das nur als Unwesentliches gilt. In der griechischen Religion hat das Geistige das Natürliche als seinen leiblichen ‚Ausdruck‘ an ihm. Einerseits scheint damit das Geistige das Natürliche in einem schlechten Sinne ‚wieder‘ zu seiner Realität zu haben, andererseits ist aber der Beginn einer Überwindung sowohl des abstrakten Wesens wie der unmittelbaren Natürlichkeit gemacht.“22 Römische Religion der Zweckmäßigkeit Mit der Wendung „einerseits – andererseits“ ist die nach Hegels Urteil bleibende Ambivalenz der griechischen Religion angedeutet, die zugleich ihr Verhältnis zu der ihrerseits ambivalenten jüdischen Religion bestimmt und den systematischen Erklärgrund für die Uneindeutigkeit der Reihung beider abgibt. Höchst ambivalent bleibt im Übrigen auch die religiöse Erscheinung, die auf die Religionen der Erhabenheit und Schönheit folgt, ihre wechselseitige Differenz behebt und in sich zur Einheit bringt: die römische Religion der Zweckmäßigkeit oder des Verstandes. Sie bildet zwar „die Vereinigung der Religionen der Schönheit und Erhabenheit“ (V 4, 579), verdirbt aber, indem sie deren jeweilige Einseitigkeit beseitigt, „jedes der Prinzipien zugleich durch die Aufnahme in sein Gegenteil“ (V 4, 580): „Die Religion der Schönheit verliert die konkrete Individualität ihrer Götter und damit auch deren sittlichen, selbständigen Inhalt; die Götter werden zu Mitteln herabgesetzt. Die Religion der Erhabenheit verliert die Richtung auf das Eine, Ewige, Überirdische.“ (Ebd.) Verbunden werden beide Religionen, die jüdische und die griechische, in der römischen lediglich äußerlich und mittels der Herabsetzung ihrer Gehalte zu Funktionen der Erfüllung äußerer Zwecke sei es besonderer oder allgemeiner Art. Bei äußeren Zwecken ist an die Vielzahl empirisch gegebener Bedürfnisse Einzelner und ihres Umkreises zu denken, deren Erfüllung Ziel der religiösen Übung der Römer und ihres Gottesdienstes ist. Mögen die Götter der römischen Religion weithin die gleichen sein wie in der griechischen: „es ist ein wesentlich ganz anderer Geist in der einen als in der anderen.“ (V 4, 582) Dies zeigt sich auch im Blick auf den höchsten Gott Jupiter alias Zeus, der bei den Römern nicht mehr für die Integrität eines von einem Gemeingeist beseelten Ganzen, sondern für den gänzlich äußerlichen Allgemeinzweck steht, den das römische Staatswesen repräsentiert. Sein Sinnziel besteht in einer durch äußere Machtanwendung in Form schierer Gewalt gewirkten Herrschaft, die möglichst die ganze Welt umfassen und dem herrschenden Willkürwillen unterwerfen soll. 22 A.a.O., 172. Breit entfaltet werden diese Zusammenhänge in: G. Wenz, Erhebung zum Erhabenen. Die israelitisch-jüdische Religion bei Hegel, Vatke und im Pannenbergkreis (PannenbergStudien Bd. 8 [2021]).

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Geistlose Macht und machtloser Geist Der römische Staatskult mitsamt dem Opfer, das dem vergotteten Kaiser darzubringen war, entspricht diesem Sachverhalt, in dem er jeden einzelnen in der Räson des Staates aufgehen lässt, der bar jeden sonstigen Gehalts nichts als schiere Herrschaft eines abstrakt im Willkürwillen des Herrschers konzentrierten Allgemeinen ist. Zur Anschauung gebracht haben sich die Römer den „Untergang des Individuums im Allgemeinen“ (V 4, 589) in den für ihre Religion charakteristischen Spielen, welche die Nivellierung des Einzelnen kultisch verherrlichen. „Die religiösen Schauspiele der Römer bestanden in einer Vergießung von Strömen Blutes.“ (Ebd.) Aufgeführt und zur Darstellung gebracht wird in ihnen die, wie Hegel sagt, „trockne, kalte Konversion des Todes. Hunderte und Tausende mußten sich gegenseitig morden. Dies kalte Morden diente ihnen zur Augenweide, worin sie die Nichtigkeit der menschlichen Individualität, und weil diese keine Sittlichkeit in sich hat, die Wertlosigkeit des Individuums angeschaut haben – das Anschauen des hohlen, leeren Schicksals, das als ein Zufälliges, als blinde Willkür sich zum Menschen verhält.“ (Ebd.) Zu solcher Verkommenheit kam es, zu solcher Verkommenheit einer Religion abstrakter Macht und willkürlicher Herrschaft musste es um des Unglücks und der Schmerzen willen kommen, „welche die Geburtswehen für die Religion der Wahrheit wurden. Die Resignation auf Befriedigung in dieser Welt war die Bereitung des Bodens für die wahrhafte Religion. Als die Zeit erfüllet war, d. h. als in dem Geiste der Welt diese Verzweiflung hervorgebracht war, da sandte Gott seinen Sohn.“ (V 4, 641f.) Mit diesen Worten und dem Verweis auf Mk 1,15 (vgl. Gal 4,4; Eph 1,10) endet Hegels letzte religionsphilosophische Vorlesung von 1831, wie sie in Auszügen durch eine Nachschrift von D. F. Strauß dokumentiert ist.23 16.3

Vollendung durch Überwindung des Bösen

Religion erhebt vom Endlichen zum Unendlichen und zwar in der Weise eines Sich-Erhebens des religiösen Bewusstseins und eines Erhoben-Werdens durch das Absolute, in welchem als dem wahrhaft Unendlichen Endlichkeit und Unendlichkeit nicht länger durch einen Gegensatz bestimmt, sondern differenziert vereint sind. Vom förmlichen Begriff der Erhebung hat Hegels 23 Vgl. insgesamt B. Nonnenmacher, Hegels Begriff des Absoluten und die Religionen, in: F. Hermanni u. a. (Hg.), Religion und Religionen im Deutschen Idealismus. Schleiermacher – Hegel – Schelling, Tübingen 2015, 131–153; F. Hermanni, Kritischer Inklusivismus. Hegels Begriff der Religion und seine Theorie der Religionen, in: NZSyTh 55 (2013), 136–160. „Zur Logik der Formen bestimmter Religion in Hegels Manuskript zur Religionsphilosophie von 1821“ vgl. den gleichnamigen Beitrag von F. Schick in: NZSyTh 55 (2013), 407–436.

Vollendung durch Überwindung des Bösen

Religionsphilosophie ihren Ausgang genommen, um ihn im Durchgang durch die nichtchristlichen Religionen des Alten Orients und insbesondere des Judentums sowie des Griechentums und der Römer seiner christlichen Bestimmung zuzuführen. Im Christentum als der offenbaren bzw. vollendeten Religion sind Gott, Mensch und Welt versöhnt, wenn auch noch nicht in begrifflich erfasster, sondern in vorstellungshafter Form. Um die Wahrheit von Gedankenbildern wie etwa derjenigen einer Menschwerdung Gottes vernünftig zu begreifen und zu verifizieren, bedürfe es daher einer spekulativen Theorie des Absoluten. Innerhalb dieser nimmt das Christentum eine absolute Stellung ein, wenngleich im religiösen, noch nicht im begrifflichen Sinne dessen, was Hegel absolutes Wissen nennt. Als die vollendete ist die christliche Religion daher nicht mit der Vollendung des Systems gleichzusetzen; sie stellt vielmehr dessen letztes transitorisches Moment dar, um mittels der Philosophie der Religion aus der Sphäre religiöser Vorstellung in den Begriff des Begriffs aufgehoben zu werden, der das Absolute an sich selbst erfasst. Das wahrhaft Unendliche Religion erhebt und zwar vom Endlichen zum Unendlichen. Ihrem allgemeinen Begriff nach, dessen Unmittelbarkeit in den besonderen Religionen bestimmte Gestalt annimmt, hat sie als Erhebung des endlichen zum unendlichen Geist zu gelten. Der endliche Geist ist der Geist des Unterschieds und durch die Differenz zwischen demjenigen, was er ist, und demjenigen bestimmt, was er nicht ist. Anders als dieser transzendiert der Geist des wahrhaft Unendlichen alles Differente und zwar so, dass auch sein Anderssein dem Endlichen gegenüber in ihm selbst aufgehoben ist. Im wahrhaft Unendlichen sind Endlichkeit und Unendlichkeit im Geiste eins. Diese Einsicht ist im Christentum religiös erschlossen, wie in Fortführung des Argumentationsganges der religionsphilosophischen Vorlesung von 1827 skizzenhaft gezeigt werden soll.24

24 Während in Hegels Manuskript von 1821 die Konzeption der Bestimmungsmomente der absoluten Religion analog zur Strukturierung von denen der einzelnen außerchristlichen Religionen ausfällt, rückt das Kolleg von 1824 nach Urteil R. Heedes vom Gliederungsschema „abstrakter Begriff “, „konkrete Vorstellung“, „kultische Vermittlung“ ab. 1824 erkläre Hegel, „daß die absolute Religion sich nicht in der gleichen Weise wie die bestimmten Religionen trichotomieren könne, weil in der christlichen Religion Gott als sich dem Menschen manifestierender Geist gewußt wird, und das habe zu bedeuten, daß die Erhebung des endlichen Geistes zu Gott, deren Vollzug in den bestimmten Religionen erst im Kultus thematisch wurde, jetzt von Anfang an mit einzubeziehen ist“ (R. Heede, a.a. O., 182). Welche Folge diese Annahme für die Struktur des Kollegs von 1824 zeitigt und wie Hegel unter Rückgriff auf die Konzeption der offenbaren Religion in der „Phänomenologie des Geistes“ zum endgültigen Aufbau der Lehre von der absoluten Religion in Gestalt der Abfolge dreier Reiche gelangt, nämlich desjenigen des Vaters, des Sohnes und des Hl. Geistes, vgl. a.a.O., 182ff.

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Um die Natur des Endlichen und des Unendlichen recht zu erkennen, muss das Endliche und mit ihm der Unterschied bzw. das Unterscheiden, wie es in allen Bewusstseinsvollzügen statthat, als das vom Unendlichen Umgriffene, in Gott selbst Gesetzte und Aufgehobene begriffen werden. Dieses Begreifen und damit der Begriff des Begriffs der Religion, wie er sich in den bestimmten Gestalten der Religion konkret entwickelt, ist im Christentum als der absoluten Religion auf religiöse Weise vollendet realisiert. Das Christentum ist „der Begriff der Religion, der für sich selbst ist, d.i. die offenbare Religion“25 . Zwar ist das Unendliche bereits in der jüdischen Religion als das alles Endliche in seiner endlichen Bestimmtheit Umgreifende, als das den Unterschied, welcher das Bewusstsein ist, Wissende gewusst. Während der Geist bis hin zur griechischen Religion der Schönheit dem Natürlichen verhaftet bleibt, ist er in der Religion der Erhabenheit in seiner Freiheit als Subjektivität in sich manifest: „Dieser Geist erst verdient für uns den Namen Gott, der vorige nicht. Er ist nicht mehr Substanz, sondern Subjekt. Der Geist hat so einen Zweck in sich; er ist in sich bestimmt. Aber der Inhalt seiner Subjektivität, seine unendliche Bestimmung, der Inhalt als in ihm, das, was Zweck heißt, ist noch abstrakt.“ (V 5, 193) Von der römischen zur christlichen Religion Der Zweck, den der Geist in sich hat, erhält in der römischen Religion einen umfassenden Inhalt und damit Realität, doch nur auf äußerliche Weise, nämlich so, dass die Subjektivität Gottes zwar das Umfassende, aber nur der Endlichkeit ist. Deshalb ist die Religion der Römer lediglich ein Übergangsphänomen. „Der Übergang ist nun der in sich gegangene Geist, der Begriff, der nur sich zum Zwecke hat, diese in sich seiende Weise mit einem Zwecke, der nur er selbst ist, der Gott selbst ist. Die Idee hat nur sich selbst zum Zweck, und jetzt ist dieser Begriff dazu gereinigt, einen Zweck zu haben, der umfassender, aber auch in die Subjektivität zurückgenommener Zweck ist. Es ist der Geist, der seinen Begriff, sein konkretes Wesen selbst zu seinem Endzweck hat und diesen Zweck ewig realisiert, objektiviert und darin frei bei sich, die Freiheit ist, weil dieser Zweck seine Natur selbst ist. Damit ist die Endlichkeit aufgehoben. Dieser Fortgang hat die nähere Bestimmung, das sich in sich Bestimmen, die Bestimmtheit des Geistes zu enthalten. Er enthält, daß der Geist in dieser Sphäre als in sich gesetzt sich zeigt. Der Geist ist eben dies, als das sich selbst unendlich Bestimmende zu sein.“ (Ebd.) Der Geist ist so als absolute Subjektivität bestimmt, der alle 25 G. W. F. Hegel, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte. Bd. 5: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Teil 3: Die vollendete Religion. Hg. v. W. Jaeschke, Hamburg 1984 (= V 5), 177. Vgl. G. Wenz, Geschichte der Versöhnungslehre in der evangelischen Theologie der Neuzeit. 2 Bde., München 1984/86; zu Hegel und zur spekulativen Theologie Bd. 1, 277–341.

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endlichen Formen des Seins, Bewusstseins und Selbstbewusstseins und damit den gesamten Prozess der Erhebung des Endlichen zum Unendlichen, dessen Resultat er ist, in sich enthält. „Das Resultat ist der Begriff, der sich gesetzt, sich zu seinem Inhalt hat. Das ist dann die absolute Idee. Idee ist Einheit des Begriffs und der Realität, Begriff und Objektivität, Gegenständlichkeit. Die Wahrheit ist, daß die Objektivität dem Begriff adäquat ist; aber dem Begriff ist nur der Begriff selbst adäquat, der sich selbst zu seinem Gegenstand, Objekt hat. Der Inhalt als Idee ist die Wahrheit.“ (V 5, 195) Entwicklungsmomente der vollendeten Religion Hegels Philosophie der vollendeten Religion stellt „(d)en radikalsten Versuch (dar), wirklich den gesamten Inhalt der christlichen Orthodoxie philosophisch auf den Begriff zu bringen“26 . Statt paraphrasierend nachzuvollziehen, wie er die Wahrheit der Idee in ihren drei Entwicklungsmomenten bedenkt, soll Hegel in einer Sequenz von Zitaten selbst ausführlich das Wort haben und die Struktur seiner Argumentation in Grundzügen namhaft machen: „Zuerst ist die Idee Gottes zu betrachten, wie sie für das Denken oder an sich ist. Es ist dies die ewige Idee Gottes für sich selbst, das, was Gott für sich selbst ist, d. h. die ewige Idee auf dem Boden des Denkens überhaupt. [–] Das zweite ist, daß Gott die Idee ist nicht für uns als denkend, sondern daß die ewige Idee ist für den endlichen, äußerlichen, empirischen Geist, für die sinnliche Anschauung, für 26 R. Spaemann, Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne, Stuttgart 2007, 84. Zu Spaemanns eigener Stellung zu Hegel vgl. etwa die Bemerkung in: ders., Über Gott und die Welt. Eine Autobiographie in Gesprächen, Stuttgart 2012, 226: „Die Identität von Denken und Sein zu denken war Hegels Ziel. Aber der späte Schelling und Kierkegaard haben gezeigt, dass das Denken über Hegel hinaus in Gang gehalten wird, indem das Sein sich immer wieder als das Unvordenkliche geltend macht.“ Zu Hegel und Aristoteles vgl. a.a.O., 87f., 163, hier: 88. „Kein Hegel ohne Aristoteles, dann schon eher ein Aristoteles ohne Hegel.“ Vgl. dazu ders./R. Löw, Die Frage wozu. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, München 1981 sowie H. Schöndorf, Der Philosoph Robert Spaemann. Die Selbstverständigung des Menschen im Licht einer teleologisch verstandenen Natur, in: StdZ 137 (2012), 315–322. – Ob Hegels System teleologisch zu nennen ist, hängt davon ab, was man unter Teleologie versteht. In der Neuzeit wurde der Begriff der Zielgerichtetheit in der Regel an ein zielesetzendes Ichsubjekt gebunden und entsprechend von der extrahumanen Natur ferngehalten. Die moderne Naturauffassung ist zumeist antiteleologisch verfasst und allein an Wirkursachen und am Prinzip der Selbsterhaltung orientiert. Für Hegels Naturphilosophie trifft dies nicht zu. Zwar kehrt er nicht zu einem teleologischen Verständnis der Natur zurück, wie Aristoteles es vertreten hatte. Die Möglichkeit zielgerichteter Entwicklung eignet der Natur nicht in der Weise einer begrifflosen Potenz; sie gehört gleichwohl zu ihrem Begriff, der sie über sich selbst hinausführt und es ihr unmöglich macht, in der Unmittelbarkeit ihrer selbst zu verharren. Demgemäß verfährt die Wissenschaft der Natur nur dann sachgemäß, wenn sie den Prozess der Natur nicht auf seine Anfangsbedingungen reduziert, sondern des Irreduziblen gewahr wird, das prozessuale Komplexitätssteigerungen mit sich bringen.

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die Vorstellung. Das Dasein, das es sich für die Vorstellung gibt, ist zunächst die Natur, und darum ist nun die eine Weise, wie Gott für die Vorstellung ist, die, daß der endliche, empirische Geist Gott aus der Natur erkennt. Die andere Weise aber ist, daß er für den endlichen Geist als endlichen Geist ist. So wird der endliche, konkrete Geist notwendig selbst darein verwickelt, wie Gott für ihn ist, für ihn offenbar ist. Nämlich für den Geist als endlichen kann Gott als solcher eigentlich nicht sein, sondern darin, dass er für den endlichen Geist ist, liegt bereits, daß dieser seine Endlichkeit nicht festhält, sie nicht als Seiendes, Festes hält, sondern eben dies ist, sich mit Gott zu versöhnen. Als endlicher Geist ist er gestellt in Trennung, Abfall von Gott, außer Gott Sein; indem er als solcher in diesem außer Gott Sein sich doch zu Gott verhält, ist dieser Widerspruch da des Entzweitseins gegen, des Getrenntseins von Gott. Der konkrete Geist also, der endliche als endlicher bestimmt, ist im Widerspruch gegen dies sein Objekt, seinen Inhalt, und da ist zunächst das Bedürfnis vorhanden, diesen Widerspruch, diese Getrenntheit aufzuheben, die im endlichen Geist als solchen erscheint, das Bedürfnis der Versöhnung. Das Bedürfnis ist der Anfang; das zweite dazu ist dann, daß Gott für den endlichen Geist werde, daß dieser zum Wissen und zur Gewißheit des göttlichen Inhalts komme, daß sich der göttliche Inhalt ihm vorstelle, ihm, der doch zugleich der vorstellende Geist, der Geist in endlicher, empirischer Weise ist. Das kann nur so geschehen, daß ihm zwar der Geist, aber auf äußerlicher Weise erscheine, daß er auf äußerliche Weise sich zum Bewußtsein bringe, was Gott ist. [–] Das dritte ist, daß er, kann man sagen, für die Empfindung werde, für die Subjektivität und in der Subjektivität des Geistes, im Innersten des subjektiven Geistes, daß die Versöhnung, das Aufheben jener Trennung wirklich gemacht werde, daß Gott als Geist in seiner Gemeinde sei, die Gemeinde von jenem Gegensatz frei werde und das Bewußtsein, die Gewißheit habe ihrer Freiheit in Gott.“ (V 5, 197f.) Schöpfung, Versöhnung, Vollendung Hegel fährt fort: „Das sind die dreierlei Verhältnisweisen des Subjekts zu Gott, drei Weisen des Daseins Gottes für den subjektiven Geist. Indem wir diesen Unterschied, diese Scheidung machten, haben wir es mehr empirisch getan, den Unterschied empirisch aufgenommen von uns her. Wir wissen von unserem Geiste, daß wir erstens denkend sind ohne diesen Gegensatz, die Entzweiung in uns, daß wir zweitens der endliche Geist sind, der Geist in seiner Entzweiung, Trennung, und drittens, daß wir der Geist in der Empfindung, Subjektivität sind, in der Rückkehr zu sich, die Versöhnung, das innerste Gefühl. Von diesen dreien ist das erste der Boden der Allgemeinheit, das zweite der Boden der Besonderheit, das dritte der der Einzelheit. Diese drei verschiedenen Böden

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sind eine Voraussetzung, die wir so als unsere Bestimmung aufgenommen haben; wir haben sie aber nicht als auf äußerliche Weise verschieden vorhandene Böden zu betrachten, oder als gegen Gott äußerlich seiende Weisen, sondern es ist die Idee selbst, die diese Unterscheidung macht. Die absolute Idee ist aber [–] erstens an und für sich selbst, Gott in seiner Ewigkeit vor der Erschaffung der Welt, außerhalb der Welt; [–] zweitens, daß Gott die Welt erschafft, daß er die Trennung setzt. Da erschafft er teils die Natur, teils den endlichen Geist. Die so Geschaffene ist zunächst so ein Anderes, gesetzt außer Gott: Gott ist aber wesentlich dies, das Fremde, das Besondere, das von ihm getrennt Gesetzte sich zu versöhnen; er muß dieses Fremde, diesen Abfall, wie die Idee sich dirimiert hat, abgefallen ist von sich selbst, zur Freiheit und zu seiner Wahrheit zurückbringen. Das ist der Weg, der Prozess der Versöhnung. [–] Das dritte ist, daß durch diesen Prozeß der Versöhnung der Geist das, was er von sich in seiner Diremption, in seinem Urteil unterschieden hat, mit sich versöhnt hat und so der heilige Geist, der Geist in seiner Gemeinde ist. – Das aber sind nicht Unterschiede nach äußerlicher Weise, die wir bloß nach dem, was wir sind, gemacht haben, sondern sie sind das Tun, die entwickelte Lebendigkeit des absoluten Geistes selbst; es ist selbst sein ewiges Leben, das eine Entwicklung und eine Zurückführung dieser Entwicklung in sich selbst ist, und diese Lebendigkeit in der Entwicklung, die Verwirklichung des Begriffs haben wir nun zu betrachten.“ (V 5, 198f.) Gott in seiner ewigen Idee Nach Maßgabe der zitierten Einteilung ist es die erste Aufgabe der Philosophie der vollendeten Religion, „daß wir Gott betrachten in seiner ewigen Idee, wie er an und für sich, aber noch sozusagen vor oder außer Erschaffung der Welt ist. Insofern er so in sich ist, ist dies die ewige Idee, die noch nicht in ihrer Realität gesetzt ist, selbst noch nur die abstrakte Idee. Gott ist Schöpfer der Welt; es gehört zu seinem Sein, zu seinem Wesen, Schöpfer zu sein – insofern er nicht Schöpfer ist, wird er mangelhaft aufgefaßt. Daß er Schöpfer ist, ist nicht ein actus, der einmal vorgekommen wäre; was in der Idee ist, ist ewiges Moment, ewiges Bestimmen derselben. [–] Gott in seiner ewigen Idee ist so nur im abstrakten Element des Denkens überhaupt, abstrakte Idee des Denkens, nicht des Begreifens. Diese reine Idee ist das, was wir schon kennen und wobei wir uns darum nur kurz aufzuhalten brauchen.“ (V 5, 199–201) Es folgt Hegels Lehre von der immanenten, ontologischen oder Wesenstrinität einschließlich einiger Bemerkungen zu vorchristlichen vestigia trinitatis. Strukturell verdient neben der trinitätsanalogen Logizität der Begriffe Liebe, Leben und Geist der trinitarische Personbegriff besondere Aufmerksamkeit. „Das Wahre der Per-

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sönlichkeit“, sagt Hegel (V 5, 211), „ist eben dies, sie durch das Versenken, Versenktsein in das Andere zu gewinnen.“ Gott im Modus der Differenz Im zweiten Teil der Philosophie der vollendeten Religion wird die Idee im Modus des Unterschieds und damit in der Form des Bewusstseins bzw. so thematisiert, dass sie aus ihrer abstrakten Unendlichkeit heraustritt in die Bestimmung der Endlichkeit. Ist das Unterscheiden im immanenten trinitarischen Verhältnis Gottes zu sich selbst, wie es in der Wesenstrinität statthat, „nur eine Bewegung, ein Spiel der Liebe mit sich selbst, wo es nicht zur Ernsthaftigkeit des Andersseins, der Trennung und Entzweiung kommt“ (V 5, 216), so tritt der Unterschied nun in seiner Eigentümlichkeit, das Andere Gottes als Anderes und zwar als in sich verschiedenes Anderes, kurzum: als Welt in der differenzierten Einheit von Natur und endlichem Geiste zutage. „Daß der Unterschied sei, dazu ist erforderlich das Anderssein, daß das Unterschiedene das Anderssein sei als Seiendes. Es ist nur die absolute Idee, die sich selbst bestimmt und die, indem sie sich bestimmt, als in sich absolut frei in ihr selbst sicher ist. So ist sie dies, indem sie sich bestimmt, dies Bestimmte als Freies zu entlassen, so daß es als Selbständiges ist, als selbständiges Objekt. Das Freie ist nur für das Freie vorhanden; nur für den freien Menschen ist ein anderer auch als frei. Es ist die absolute Freiheit der Idee, daß sie in ihrem Bestimmen, Urteilen, das Andere als ein Freies, Selbständiges entläßt. Dies andere, als ein Freies, Selbständiges entlassen, ist die Welt überhaupt.“ (V 5, 217) Damit ist der traditionelle Schöpfungsgedanke umschrieben: wie er sich zu demjenigen des Falls der Sünde (und des Übels) verhält ist eine der heikelsten Fragen der theologischen Hegelinterpretation. Das zeigt bereits der nachfolgende Satz, wenn es heißt: „Die Wahrheit der Welt ist nur ihre Idealität, nicht daß sie wahrhafte Wirklichkeit hätte. Sie ist dies, zu sein, aber nur ein Ideelles, nicht ein Ewiges an ihm selbst, sondern ein Erschaffenes, dessen Sein nur ein gesetztes ist. Das Sein der Welt ist dies, sozusagen nur einen Augenblick das Sein zu haben, aber diese ihre Trennung, Entzweiung von Gott aufzuheben, nur dies zu sein: zurückzukehren in ihren Ursprung…“ (Ebd.) Die Rückkehr der Welt zu Gott aus dem Status der Entfremdung von ihm ist motiviert durch das Bewusstsein der Entzweiung des endlichen Geistes mit sich und seiner Wahrheit und durch das Bedürfnis, dass diese Entzweiung behoben werde. Realisiert ist die Aufhebung und damit die Rückkehr zu Gott im Erscheinen des Gottmenschen und seiner Verherrlichung im Geiste der Gemeinde.

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Natur und Wesen Was den ersten Aspekt betrifft, so wird er in Hegels Lehre vom ambivalenten Status des Menschengeschöpfs entfaltet. Aufgewiesen wird diese Ambivalenz anhand der Zweideutigkeit des Satzes, dass der Mensch an sich und von Natur aus gut sei. „Es ist richtig, der Mensch ist von Natur gut; aber damit hat man nur ein Einseitiges gesagt. Jenes Hinausgehen über seine Natürlichkeit, über sein Ansichsein ist das, was zunächst die Entzweiung im Menschen begründet, das, womit die Entzweiung gesetzt ist. Diese Entzweiung ist also ein Heraustreten aus jener Natürlichkeit, Unmittelbarkeit; aber das ist nicht so zu nehmen, als ob nur erst das Heraustreten das Böse sei, sondern in der Natürlichkeit selbst ist dies Heraustreten schon enthalten. Das Ansich ist das Unmittelbare; weil aber das Ansich des Menschen der Geist ist, so ist der Mensch in seiner Unmittelbarkeit schon das Heraustreten aus diesem, der Abfall von ihr, von seinem Ansichsein. Darin liegt der zweite Satz begründet: Der Mensch ist von Natur böse; sein Ansichsein, sein Natürlichsein ist das Böse. In seinem Natürlichsein ist zugleich der Mangel vorhanden; weil er Geist ist, so ist er von seinem Ansichsein unterschieden, ist er die Entzweiung. Wenn der Mensch nur nach der Natur ist, so ist er böse. Wie der Mensch an sich, seinem Begriff nach ist, das nennen wir wohl abstrakt den Menschen nach seiner Natur; aber im konkreten Sinne ist der Mensch, der seinen Leidenschaften und Trieben folgt, der in der Begierde steht, dem seine natürliche Unmittelbarkeit das Gesetz ist, der natürliche Mensch. Der Mensch ist in seinem Natürlichsein zugleich ein Wollender, und indem der Inhalt des Wollens nur der Trieb, die Neigung ist, so ist er böse. Der Form nach, daß er Wille, Wollen ist, ist er nicht mehr Tier; aber der Inhalt, die Zwecke seines Wollens sind noch das Natürliche. Das ist dieser, und zwar der höhere Standpunkt, daß der Mensch von Natur böse ist, und zwar darum, weil er ein Natürliches ist.“ (V 5, 222f) Entzweiung Hegels Kritik an den traditionellen Vorstellungen vom status integritatis, wonach „der erste Zustand des Menschen der Stand der Unschuld gewesen sei“ (V 5, 223), und vom status corruptionis ergibt sich unmittelbar hieraus. Statt den durch die beiden Status beschriebenen Gegensatz aufzulösen und ihn auf zwei chronologisch oder anderweitig zu separierende Zustände zu verteilen, gilt die Forderung, der Mensch solle ihn in sich erfassen. Zwei Formen hat dieser Gegensatz: „Einerseits ist es der Gegensatz von dem Bösen als solchen, daß er selbst es ist, der böse ist; das ist der Gegensatz gegen Gott. Andererseits ist der Gegensatz gegen die Welt, daß er in Entzweiung mit der Welt ist; das ist das Unglück, die Entzweiung nach der anderen Seite.“ (V 5, 229) In Anbetracht des Verhältnisses der Entzweiung zu Gott ist das Resultat ihrer anthropolo-

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gischen Erfassung reuige Zerknirschung: „(E)s ist Schmerz über mich, daß ich als Natürliches überhaupt unangemessen bin demjenigen, was ich zugleich selbst als mein Wesen weiß, was in meinem Wissen und Wollen ist, daß ich es sei.“ (V 5, 230) Was hinwiederum das Verhältnis der Entzweiung zur Welt betrifft, so resultiert aus ihrer Wahrnehmung nach Urteil Hegels das unglückliche Bewusstsein unerfüllter Erwartung der Vernünftigkeit der äußeren Welt, wie es namentlich für das jüdische Volk der Römerzeit charakteristisch sein soll, aus welchem mit dem Bedürfnis des Übergangs auch die Erscheinung des Gottmenschen hervorging: „Der Begriff der vorhergehenden Religionen hat sich zu diesem Gegensatz gereinigt, und indem sich dieser Gegensatz als existierendes Bedürfnis gezeigt und dargestellt hat, ist dies so ausgedrückt worden: ‚Da aber die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn.’ Das heißt: Der Geist, das Bedürfnis des Geistes ist vorhanden, der die Versöhnung zeigt.“ (V 5, 233) Erscheinung des Gottmenschen Die im Erscheinen des Gottmenschen manifeste Aufhebung der ins Extrem gesteigerten Entzweiung hat zwei Seiten: „Erstens, es muß dem Subjekt das Bewußtsein werden, daß jene Gegensätze nicht an sich sind, sondern die Wahrheit, das Innere das Aufgehobensein des Gegensatzes ist. Zweitens, weil er an sich, der Wahrheit nach aufgehoben ist, kann das Subjekt als solches in seinem Fürsichsein durch das Aufheben des Gegensatzes den Frieden, die Versöhnung erreichen, erlangen.“ (V 5, 233f) Den ersten Aspekt bedenkt die Christologie, den zweiten die Pneumatologie, deren Thema der Geist der Gemeinde ist. Hegels Christologie ist Theanthropologie, Lehre von der „ansichseiende(n) Einheit göttlicher und menschlicher Natur“ (V 5, 235f). Dass die Einheit Gottes und des Menschen dem unendlichen Schmerz der Entzweiung substantiell, also als an sich seiende und entsprechend in der Form unmittelbar sinnlicher Anschauung, äußerlichen Daseins zu Bewusstsein kommen muß, ist nach Hegel eine Notwendigkeit wie der eingangs thematisierte positive Charakter der absoluten Religion des Christentums, bei dem man zwar nicht stehen bleiben dürfe, ohne welchen aber das pneumatologisch zu erfassende Zeugnis des Geistes ebenso wenig vernommen werden könne. Fraglich bleibt, welche Art von Notwendigkeit damit gemeint ist. Denn dass das Positive, substantiell Gegebene, sinnlich Vorhandene etc. nicht als solches notwendig ist, ist klar und von Hegel auch klar ausgesprochen worden, etwa wenn er sagt, das Positive erbringe nur eine anfängliche, „sinnliche, sozusagen ungeistige Beglaubigung, durch die gerade das Geistige nicht beglaubigt werden kann“ (V 5, 182), und hinzufügt: „Das Zeugnis des Geistes in seiner höchsten Weise ist die Weise der Philosophie, daß der Begriff rein als solcher aus sich ohne Voraussetzungen die Wahrheit entwickelt und entwickelnd erkennt und

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in und durch diese Entwicklung die Notwendigkeit der Wahrheit einsieht.“ (V 5, 183) Begriff und Denken sind sonach dazu bestimmt und in der Lage, sich, wie Hegel ausdrücklich sagt, „wahrhaft durch und durch vom Positiven“ (V 5, 187) zu befreien. Brisant ist diese Annahme vor allem in Bezug auf das Problem des Zusammenhangs zwischen dem Begriff der Einzelheit und der Faktizität des Gottmenschen. Wenn es, wie Hegel sagt, notwendig ist, „daß die Einheit der göttlichen und menschlichen Natur in einem Menschen erscheinen mußte“ (V 5, 238) und als einzelner, ausschließender Mensch für die anderen, „daß nicht sie, nicht alle Einzelnen es sind, sondern einer, von dem sie ausgeschlossen sind“ (ebd.), ist dann nicht auch die kontingente Geschichtlichkeit des Gottmenschen eine Notwendigkeit? Irreligiöse Betrachtung Jesu Christi Die Erscheinung Gottes als Mensch (V 5, 239: „Gott in sinnlicher Gegenwart kann keine andere Gestalt haben als die Gestalt des Menschen. Im Sinnlichen, Weltlichen ist der Mensch allein das Geistige; soll also das Geistige in sinnlicher Gestalt sein, so muß es in menschlicher Gestalt sein.“) ist nach Hegel „auf zweierlei Weise zu betrachten, erstens nämlich als Mensch nach seinem äußerlichen Zustand, nach der irreligiösen Betrachtung, wie er als gewöhnlicher Mensch erscheint. Das zweite aber ist die Betrachtung im Geiste, die Betrachtung mit dem Geiste, der zu seiner Wahrheit dringt darum, weil er diese unendliche Entzweiung, diesen Schmerz in sich hat, die Wahrheit will, das Bedürfnis der Wahrheit und der Gewißheit der Wahrheit haben will und soll. Dieses zweite erst ist das Religiöse.“ (Ebd.) Was die erste Seite der Betrachtung Jesu Christi angeht, die menschliche Betrachtung seiner Erscheinung als lebendiger Mensch, so ist das erste Moment, „daß er ein unmittelbarer Mensch ist in aller äußerlichen Zufälligkeit, in allen zeitlichen Bedürfnissen und Bedingungen; er wird geboren wie ein anderer Mensch, hat als Mensch die Bedürfnisse der anderen Menschen, nur daß er nicht in das Verderben, die Leidenschaften und bösen Neigungen der anderen eingeht, auch nicht in die besonderen Interessen der Weltlichen, bei denen auch Rechtschaffenheit und Lehre stattfinden kann. Sondern er lebt nur der Wahrheit, nur ihrer Verkündigung; seine Wirksamkeit ist nur, das höhere Bewußtsein des Menschen auszufüllen.“ (V 5, 240) Das zweite Moment menschlicher Betrachtung der Erscheinung Jesu Christi ist sein Lehramt und seine Predigt namentlich vom Reiche Gottes und der Liebe. Dabei kommt Jesus Christus sodann auch als ein Prophet in Betracht, der unmittelbar aus Gott und aus dem Gott unmittelbar spricht, weil Gottes Geist in ihm gegenwärtig und „die göttliche Gegenwart wesentlich mit diesem Menschen identisch ist. [–] Hinzuzufügen ist noch das Schicksal, das dieses Individuum gehabt hat, daß es, menschlich ausgedrückt, Märtyrer der Wahrheit geworden ist in nahem

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Zusammenhang mit solchem seinen Auftreten, indem nämlich die Stiftung des Reiches Gottes mit dem vorhandenen Staate, der auf eine andere Weise, Bestimmtheit der Religion gegründet ist, durchaus in geradem Widerspruch steht. Das sind die Hauptmomente in der Erscheinung des Menschen, in der menschlichen Betrachtung. Aber es ist nur eine Seite und keine religiöse Betrachtung.“ (V 5, 243f) Religiöse Betrachtung Jesu Christi Die religiöse, Jesus Christus als Erscheinungsgestalt der Selbstoffenbarung Gottes wahrnehmende Betrachtung hebt erst nach Vergehen des menschlichen Verhältnisses zu ihm durch sein erfolgtes Leiden und Sterben an: „(E)ben an diesem Tode ist es, daß sich der Übergang in das Religiöse macht.“ (V 5, 245) Ostern und Pfingsten sind die Urdaten religiöser Betrachtung Jesu Christi: „Das Verhältnis zum bloßen Menschen verwandelt sich in ein Verhältnis, das vom Geiste durchaus verändert, umgewandelt wird, so daß die Natur Gottes sich darin aufschließt, so daß diese Wahrheit unmittelbare Gewißheit nach der Weise der Erscheinung erhält. [–] Darin erhält dann Christus, der zuerst als Lehrer, Freund, Märtyrer der Wahrheit betrachtet worden, eine ganz andere Stellung. Der Tod Christi ist einerseits noch der Tod eines Menschen, eines Freundes, der durch Gewalt getötet worden ist; aber geistig aufgefaßt ist dieser Tod es, der selbst zum Heile, zum Mittelpunkt der Versöhnung wird.“ (V 5, 247–249) In der Auferstehung des Gekreuzigten und seiner Erhebung zur Rechten des Vaters ist im Geiste offenbar, dass Gott bis ins Äußerste des Menschseins als Mensch erschienen ist und damit auch die höchste Abhängigkeit, die letzte Schwäche, die tiefste Stufe der Gebrechlichkeit, den Tod, auf sich genommen hat: „‚Gott selbst ist tot’ heißt es in einem lutherischen Liede; damit ist das Bewußtsein ausgedrückt, daß das Menschliche, Endliche, Gebrechliche, die Schwäche, das Negative göttliches Moment selbst sind, daß es in Gott selbst ist, daß die Endlichkeit, das Negative, das Anderssein nicht außer Gott ist und als Anderssein die Einheit mit Gott nicht behindert. Es ist das Anderssein, das Negative gewußt als Moment der göttlichen Natur selbst.“ (V 5, 249f) Mit der österlich-pfingstlichen Einsicht in diese Wahrheit nimmt die christliche Gemeinde ihren Anfang. Gott als Geist und die christliche Gemeinde Im dritten Teil seiner Philosophie der vollendeten Religion erörtert Hegel das Entstehen und Bestehen der Gemeinde und die Realisierung des Geistigen in ihr. Die Entstehung der Gemeinde koinzidiert mit derjenigen des Glaubens, dass im gekreuzigten Jesus Gott selbst als Mensch erschienen ist. Dieser Glaube ist geistgewirkt und seine Beglaubigung „kann nicht auf unmittelbare

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sinnliche Weise vollbracht werden“ (V 5, 253): „Was die empirische Weise der Erscheinung betrifft und die Untersuchungen, welche Bewandtnis es mit dem Erscheinen Christi nach seinem Tode habe, so tut die Kirche insofern Recht daran, wenn sie solche Untersuchungen nicht anerkennen kann; denn sie gehen von dem Gesichtspunkt aus, als ob es auf das Sinnliche der Erscheinung ankomme, auf dies Historische, als ob in solchen Erzählungen von einem als historisch Vorgestellten nach geschichtlicher Weise die Beglaubigung des Geistes liege. Man sagt, man müsse die heiligen Schriften behandeln wie profane Autoren. Das kann man tun, was das bloß Geschichtliche, Endliche, Äußerliche betrifft. Das andere aber ist das Auffassen mit dem Geiste; jenes Profane ist nicht die Beglaubigung des Geistes.“ (V 5, 253f) Im geistgewirkten Glauben verharrt die Gemeinde nicht länger in der Distanz zu ihrem Grund und Gegenstand, sondern wird selbst in die Versöhnungswirklichkeit Gottes, wie sie im auferstandenen Gekreuzigten offenbar ist, hineingenommen: „So ist die Gemeinde selbst der existierende Geist, der Geist in seiner Existenz, Gott als Gemeinde existierend.“ (V 5, 254) Nach dem Entstehen zieht Hegel das Bestehen der Gemeinde in Betracht. „Die reale Gemeinde ist das, was wir allgemein die Kirche nennen. Das ist nicht mehr die entstehende Gemeinde, sondern die bestehende, die sich erhält.“ (V 5, 256) Für den Bestandserhalt der Kirche wesentlich ist nach Hegel vor allem die Glaubenslehre, die inhaltlich als Lehre von der Versöhnung bestimmt wird. In ihr entwickelt sich der Geist des Christentums. „Zuerst ist sie als Anschauen, Glauben, Gefühl, als Gefühltes, blitzähnliches Zeugnis des Geistes; aber sie soll vorhanden, vorausgesetzt sein, und so muß sie aus der Konzentration, Innerlichkeit des Gefühls erst entwickelt sein in die Vorstellung als unmittelbar vorhandene. Daher ist die Glaubenslehre wesentlich erst in der Kirche gemacht worden, und es ist dann das Denken, das gebildete Bewußtsein, das auch darin seine Rechte und das behauptet, was es sonst an Bildung der Gedanken, an Philosophie noch gewonnen hat.“ (V 5, 257) Nach erfolgter Ausbildung der zur Kirche gewordenen Gemeinde ist deren Bestand und derjenige ihrer Lehre dem einzelnen als gegeben vorausgesetzt, was Hegel mit der sakramentalen Praxis kirchlicher Kindertaufe assoziiert und mit einem Plädoyer für die Notwendigkeit katechetischer Glaubensunterweisung verbindet. Neben Taufe und Katechumenat wird das Bußinstitut als weiterer Bestandteil der bestehenden Gemeinde aufgeführt und schließlich gesagt: „Das Bestehen der Gemeinde vollendet sich im Genuß der Aneignung der Gegenwärtigkeit Gottes. Es handelt sich eben um die bewußte Gegenwart Gottes, die Einheit mit Gott, die unio mystica, das Selbstgefühl Gottes, das Gefühl seiner unmittelbaren Gegenwart im Subjekt.“ (V 5, 260) Abendmahlstheologische Grundsatzüberlegungen schließen sich an.

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Kirche und Welt Die Realisierung des Geistigen der Gemeinde zur allgemeinen Wirklichkeit vollzieht sich schließlich dadurch, dass die Gemeinde nicht in einem abstrakten Gegensatz zur Welt verharrt, um sich dauerhaft von ihr zu trennen, sondern auf diese eingeht, um sie zu bestimmen, freilich nicht in der Weise klerikaler Beherrschung, sondern nach Art der Sittlichkeit: „Die Institutionen der Sittlichkeit sind göttliche Institutionen“ (V 5, 264), weil sie die konkret gewordene Freiheit sind. „Die Versöhnung hat also drei reale Stufen: die unmittelbare, die mehr Abstraktion als Versöhnung ist, die Herrschaft der Kirche, einer Kirche, die außer sich ist, und die Sittlichkeit.“ (V 5, 265) Zum Schluss wird die Philosophie als wahre Theologie gerühmt, weil sie der Verflüchtigung christlicher Inhalte in Verstandesaufklärung und Gefühlspietismus Einhalt gebiete. Der philosophische Begriff, in den sich der religiöse Inhalt flüchte, um durch das Denken seine Rechtfertigung zu erhalten, „produziert zwar die Wahrheit – das ist die subjektive Freiheit –, aber er erkennt diese Wahrheit als ein zugleich nicht Produziertes, als an und für sich seiendes Wahres an. Dieser objektive Standpunkt ist allein fähig, das Zeugnis des Geistes auf gebildete, denkende Weise abzulegen und so das Zeugnis des Geistes auszusprechen.“ (V 5, 268) Orthodoxiebedenken Soweit die Skizze von Grundzügen Hegel’scher Religionsphilosophie im Anschluss an das Berliner Kolleg von 1827! Um unter den gegen ihr Christentumskonzept geltend gemachten Einwänden nur einen näher ins Auge zu fassen, den hamartiologischen: Man hat Hegel nicht nur Pantheismus und die Leugnung der Persönlichkeit Gottes nachgesagt, sondern auch vorgeworfen, dass bei ihm „das Böse, die Sünde keinen Platz habe“27 . W. Pannenberg hat diesen Vorwurf 27 K. Löwith, Aktualität und Inaktualität Hegels, in: R. Heede/J. Ritter (Hg.), Hegel-Bilanz. Zur Aktualität und Inaktualität der Philosophie Hegels, Frankfurt a. M. 1973, 1–24. Diskussion: 25–40, hier: 32. Der Sammelband enthält einen aufschlussreichen Methodentraktat R. Heedes, der Hintergrundinformationen zu seiner Dissertation über Hegels Logik und Religionsphilosophie in ihrem Verhältnis zueinander bietet. Heede macht mit Recht geltend, dass die Berliner Vorlesungen über die Philosophie der Religion das „maßgebliche Dokument für Hegels Religionskonzeption und speziell für seine Theorie der christlichen Religion sind“ (R. Heede, Hegel-Bilanz: Hegels Religionsphilosophie als Aufgabe und Problem der Forschung, in: a.a.O., 41–89. Diskussion: 90–99). Er handelt dann von Quellenmaterial, von der Authentizität der bis 1971 vorliegenden Editionen und von künftigen philologisch-philosophischen Forschungsprojekten, die „das ‚Nonfinito‘ Hegels, sein Ringen mit den Problemen, vor die ihn das begreifende Erfassen der Religion stellt“ (81), aufzuweisen hätten, was „wesentlich aussagehaltiger… denn der Eindruck der aporiefreien Stimmigkeit“ (ebd.) sei, den vormalige Editionen und Interpretationen zu vermitteln suchten. „Immunisierungstopoi gegenüber der Hegel-Philologie“ (79) begegneten auch bei den Diskutanten, namentlich bei Gadamer und bei Löwith, der zu Protokoll gab: „Also ich meine, man überschätzt heutzutage unglaublich,

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im Rahmen der Diskussion eines Vortrags seines Heidelberger philosophischen Lehrers Karl Löwith über „Aktualität und Inaktualität Hegels“ bei einer Frankfurter Tagung der Thyssen-Stiftung im Juli 1971 für ebenso haltlos erklärt wie die beiden anderen. Wie in Bezug auf das Verhältnis zum Christentum im Allgemeinen habe man auch in hamartiologischer Hinsicht „Statur und Reflexionsniveau dieses (sc. des Hegel’schen) Denkens nicht hinreichend in den Blick“28 bekommen. Auch in anderen Zusammenhängen wies Pannenberg naheliegende Orthodoxiebedenken zurück: So habe das „für Hegel spezifische Entwicklungsdenken… doch wohl nichts – wie Herr Henrich meint – mit einer häretischen Theologie zu tun“29 . Dieter Henrich hatte anlässlich der Diskussion eines weiteren Tagungsbeitrags Hegels „Distanz zur Teleologie ohne Preisgabe des Begriffes von Prozeß und Endzustand“30 nicht nur zum spezifisch Modernen, sondern auch zum Häretischen der Hegel’schen Spekulation erklärt. Die Feststellung einer „Spannung zum traditionellen Begriff des Teleologischen“31 erkannte Pannenberg an, das eher nebenbei geäußerte Häresieverdikt nicht. Wie auch immer: Der Leiter des prominent besetzten Gremiums – neben Henrich und Pannenberg waren Koryphäen wie H. F. Fulda, H.-G. Gadamer, H. Lübbe, J. Ritter, R. Spaemann und M. Theunissen zugegen; K. Löwith wurde bereits benannt – beschloss die Veranstaltung mit einem Satz aus einer Antrittsvorlesung Odo Marquards, den ihm ein Teilnehmer auf einen Zettel geschrieben und auf den Tisch gelegt hatte: „Die Schwierigkeiten beim Versuch, ein Hegelianer zu sein, werden nur noch übertroffen durch die Schwierigkeiten beim Versuch, kein Hegelianer zu sein.“32

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was diese Art von mühsamer und unter Umständen auch im einzelnen sachlich produktiver Arbeit zum Gesamtverständnis eines Philosophen, der mehrere bedeutende Werke immerhin selbst veröffentlicht hat – die man in der Weise nicht editorisch herumdrehen kann –, beiträgt. Das ist ein bösartiges Verdikt, wenn Sie so wollen, aber ich komme nicht darum herum, mir das immer wieder klar zu machen.“ (92) R. Heede/J. Ritter (Hg.), a.a.O., 32. R. Maurer, Die Aktualität der Hegel’schen Geschichtsphilosophie, a.a.O., 155–174. Diskussion: 175–191, hier: 189. A.a.O., 180. Zur Bedeutung der Kant’schen „Kritik der Urteilskraft“ und ihrer Ästhetik und Teleologie als „eines Mediums philosophischer Selbstfindung“ für die sog. Deutschen Idealisten einschließlich Hegels vgl. H.-F. Fulda/R.-P. Horstmann, Hegel und die „Kritik der Urteilskraft“, Stuttgart 1990, hier: 7. In ihr (sc. der „Kritik der Urteilskraft“) finden sich „die Wurzeln des idealistischen Geistbegriffs…, den Hegel dann als das umfassende Thema philosophischer Besinnung erkannte“ (ebd.). R. Heede/J. Ritter, a.a.O., 189. Schlusswort J. Ritters in: a.a.O., 282. Zit. n. O. Marquard, Hegel und das Sollen, in: PhJ 72 (1964), 119.

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Vom Geist der Versöhnung

Theorie der Sünde Odo Marquards Sentenz hat auch unter hamartiologischen Gesichtspunkten ihre Richtigkeit. Ausführliche Belege hierfür finden sich in J. Ringlebens Monographie „Hegels Theorie der Sünde“, auf die sich Pannenberg im gegebenen Zusammenhang wiederholt berufen hat. Hegels Hamartiologie ist Ringleben zufolge subjektivitätstheoretisch grundgelegt. Zwar trete In-sich-Verkehrtes im Gesamtzusammenhang dessen auf, was Theorie zu bedenken hat, weil das Faktum unmittelbarer Selbstinsistenz bei allen Entitäten begegne. Doch stelle die Faktizität des Bösen im Falle extrahumaner Wesen und Seinsgestalten keinen Tatbestand dar, der als Schuld zurechenbar wäre. Schuldig werden können nur Subjekte, die bewusstseinsfähig und in der Lage sind, um sich zu wissen. Darum ist die Sündenlehre Thema nicht der Naturphilosophie, sondern der Geistphilosophie und dabei primär der Philosophie des subjektiven Geistes. Der subjektive Geist, der zu Bewusstsein und zum Wissen um sich selbst gelangt ist, hat sich seiner Wesensbestimmung nach durch vernünftiges Denken und entsprechendes willentliches Tun eine objektive Gestalt in Form von Recht, Moral und Sittlichkeit in Familie, bürgerlicher Gesellschaft und Staat zu geben, um sich mittels Kunst und Religion zum Absoluten zu erheben. Bleibt er diesen Erhebungsprozess schuldig, dann sündigt er. Sünde ist ihrem bösen Unwesen nach unmittelbare Selbstbestimmung und Selbstbehauptung endlicher Subjektivität. Keineswegs ist das verkehrte Insistieren auf sich ausschließlich menschlicher Sinnlichkeit zuzurechnen; es ist vielmehr darauf aus, den ganzen Menschen, sein gesamtes Bewusstsein mitsamt all seinem Denk- und Willensvermögen in Beschlag zu nehmen. Sünde ist primär kein Es-, sondern ein Ich-Phänomen. Ich in meiner Selbstverkehrtheit bin sündig und schuld am Bösen, in dem die Freiheit in vermittlungsloser Unmittelbarkeit sich selbst zu behaupten und durchzusetzen versucht und damit ihre Bestimmung verkehrt. Mögen sinnliche Reize den äußeren Anlass der Sünde bieten; ihren inneren Abgrund stellt die sich selbst verfallene Freiheit dar. Unmittelbare Selbstinsistenz Freiheit ist Negationsfähigkeit überhaupt. Besteht das Ich-Subjekt unmittelbar auf ihr, um alles was es nicht ist – und gegebenenfalls auch sich selbst in seinem empirischen Dasein – zu negieren, dann ist der Fall des Bösen gegeben. „Als positiv böse erscheint… solche in sich seiende Negativität.“33 Hegels Sündenbegriff steht Ringlebens Urteil zufolge der traditionellen Lehre vom peccatum 33 J. Ringleben, Hegels Theorie der Sünde. Die subjektivitäts-logische Konstruktion eines theologischen Begriffs, Berlin/New York 1977,77. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Weil Hegel sich zur Explikation seiner philosophischen Sündentheorie häufig auf Gen 3 bezieht, beginnt Ringleben seine Abhandlung mit Erörterungen hierzu (vgl. 22ff.) und zur These, dass der status integritatis nicht als ursprünglicher Zustand natürlicher

Vollendung durch Überwindung des Bösen

originale nicht nach. Er sei „wesentlich singularisch“ (79), also nicht primär an Aktualsünden orientiert, sondern an dem, was die Dogmatik Ursünde nenne. Er fasse das peccatum originale als eine Verderbnis der menschlichen Natur auf, insofern diese als Wesensbestimmung zu einer Freiheit zu gelten habe, die nicht unmittelbar auf sich insistiere, sondern sich mit der Freiheit aller anderen vermittle. Mit der Singularität des Sündenbegriffs hinwiederum verbinde sich seine Universalität, sodass in sich verkehrte Selbstinsistenz allen Adamskindern zwar nicht von ihrem Begriff als Menschen her notwendig, wohl aber faktisch eigen sei. Unwesen des Bösen In ihrer Abgründigkeit zu erfassen und zu Bewusstsein zu bringen sei die in sich verkehrte Sünde weder auf psychologische, noch auf rechtlich-moralische Weise, sondern nur im Medium des absoluten Geistes und mittels der Religion, die sich zu ihm erhebt. Erst im religiösen Bewusstsein, in welchem sich das Absolute manifestiert, und im Wissen spekulativer Philosophie werde nach Hegel wahrhaft erkannt, was es mit dem Unwesen des Bösen und der in sich widrigen Widrigkeit der Sünde auf sich habe. Nun „wird die Sünde als dem Ich ganz zugehörig und zurechenbar begriffen“ (96) und mit dem Innersten des Menschen, mit meinem Innersten „identisch gesetzt“ (ebd.). Ringleben schließt mit der Feststellung, dass Hegels Sündentheorie von den wiederholt gegen ihn vorgebrachten Einwänden nicht wirklich getroffen werde. Diese ließen sich in vier Grundsätzen zusammenfassen, nämlich „dass erstens Sünde nicht deduzierbar sei, zweitens die Schuld des einzelnen nicht aufgehoben werden dürfe, drittens Sünde vernünftig nicht begreifbar sei, viertens der Sündenbegriff etwas schlechthin Atheoretisches meine“ (97). Weder versehe Hegel die Sünde mit dem Status logischer Notwendigkeit, noch wolle er ihre Schuld begrifflich beseitigen. Was er zu begreifen suche, sei die zwar nicht notwendige, aber faktische Tatsache, dass die zur Freiheit bestimmte Subjektivität auf ihrer Willkür bestehe, statt diese und mit ihr die Unmittelbarkeit ihrer Selbstzentrierung zum transitorischen Moment der Realisierung freier Geistigkeit herabzusetzen. Arbiträre Willkür Das Willkürmoment, das der Freiheit naturgemäß eignet, muss aufgehoben werden, damit ihr Begriff wirklich werde und sich nicht grundlos verwirke und Unmittelbarkeit bestimmt werden kann (vgl. 38ff.). Nicht dazu, in ihm zu verharren, ist das menschliche Subjekt bestimmt, sondern ihn aufzuheben, damit an die Stelle einer Naturalisierung des Geistes, die böse in sich sei, die Vergeistigung der Natur trete. Erwägungen zu den biblischen Geschichten vom Sündenfall und zu ihrer Rezeption bei Hegel schließen sich an (vgl. 50ff.).

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dem Abgrund verfalle, welchen eine in sich verkehrte Freiheit sich selbst bereite. „Indem als Wesen des Bösen die sich in sich verkrümmende Freiheit begriffen wird, ist sein Ursprung die Freiheit selber.“ (132) Der Grund der Sünde, der einen Abgrund darstellt, ist nicht außer ihr zu suchen, sondern in ihr bzw. in ihrem Insistieren auf der ihr eigenen Unmittelbarkeit, was Willkür ist.34 Behoben werden können die Faktizität der Sünde und die widrigen Folgen, die sie schuldhaft zeitigt, nur durch den Geist der Versöhnung, zu dem sich zu erheben bzw. von dem erhoben zu werden Bestimmung sowohl der Religion als auch der Philosophie als der begriffenen Vollendung religiöser Vorstellung ist. Dass der Geist der Versöhnung mithin nicht unmittelbar mit dem subjektiven und endlichen Geist gleichgesetzt werden darf, steht für Hegel fest. Anderes zu behaupten wäre nach seinem Urteil im Gegenteil selbst Sünde. Auch unter Hegel’schen Denkbedingungen hat es seine Richtigkeit, ja seine Notwendigkeit zu sagen, dass nur Gott als absoluter Geist Sünde zu vergeben und eine Versöhnung zu leisten vermag, in der faktische Schuld tatsächlich behoben ist. Als „existierende Widerspruch“ (194) und „Selbstaffirmation des Negativen“ (195) ist die Sünde zwar an sich selbst „kein Durchgangsmoment“ (199) und nicht in der Lage, je von sich aus zu einem solchen zu werden. Doch Gott, der absolute Geist, vermag die Sünde zu einem Vergehenden zu bestimmen, und Religion und Philosophie können Gewissheit und ein Wissen davon haben, die ihrerseits absolut zu nennen sind. In diesem und nur in diesem Sinne ist die Sünde in der Positivität ihrer Negativität nichtig zu nennen.35

34 Im Absoluten ist das Böse prinzipiell vergangen. Seinen Ursprung in diesem zu suchen, hält Hegel daher für abwegig und für irrigen Schein. Dem Unwesen der Sünde einen absoluten Grund zuzudenken, heiße nichts anderes, als ihrem Abgrund zu verfallen. Metaphysisch zu genetisieren ist die Faktizität des Bösen nach Hegel nicht, was nicht bedeutet, dass er den Fall der Sünde für einfachhin unbegreiflich hält. Was immer an Bösem geschieht, geht auf zwar nicht notwendige, aber erklärbare Weise aus einer Spannung zwischen Gut und Böse hervor, die strukturell zum endlichen Geist gehört, dessen Wesensnatur es ausmacht, im Werden begriffen und auf dem Weg zur Realisierung seiner Bestimmung zu sein: er „erfaßt mit seiner Bestimmung auch sich selbst als einen (sc. in seiner Unmittelbarkeit) zu überwindenden und muß, wenn er sich ernst nimmt, auch seinen inneren Widerstand gegen das Ziel ernst nehmen“ (J. Schmidt, „Geist“, „Religion“ und „Absolutes Wissen“, 416. Zum Versöhnungsgeschehen und seiner Aufnahme in den Selbstvollzug des Einzelnen und der Gemeinde vgl. 425ff. sowie 476ff., hier: 476f. : „Der Tod des Gottmenschen ist… höchster Selbstausdruck Gottes, der Ernst seiner Liebe, denn er zeigt sich hier als Geist versöhnender Allgemeinheit. Indem sich die Individuen diesem Geist öffnen, leben sie aus der göttlichen Kraft der Überwindung des Bösen und werden zur Gemeinde.“) 35 Trifft dies zu, dann ist nach Ringleben sowohl die hamartiologische Hegel-Kritik Sören Kierkegaards (vgl. J. Ringleben, a.a.O., 106ff. sowie 245ff.) als auch diejenige Julius Müllers (vgl. 261ff.), der als der Sünden-Müller in die Religionsgeschichte eingegangen ist, im Kontext von Hegels eigener Theorie der Sünde konstruktiv behebbar.

Religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff

16.4

Religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff

Während seiner Zeit als Professor der philosophischen Vorbereitungswissenschaften und Rektor am Gymnasium (bei St. Egidien) in Nürnberg von 1808 bis 1816 (vgl. GW 10/2, 857–878) hat Hegel eine Vielzahl von Kursen für Schüler der Unter-, Mittel- und Oberklasse zur Logik und zu den Themen der philosophischen Enzyklopädie einschließlich der Religionslehre abgehalten (vgl. GW 10/2, 878–884), die in weiten Teilen durch Manuskripte, Diktataufzeichnungen oder Schülermitschriften belegt sind (vgl. GW 10/1 u. 2; zu vormaligen Editionen der Nürnberger Texte zur philosophischen Propädeutik vgl. GW 10/2, 892–914). Sie geben wichtige Aufschlüsse zu Genese, Strukturierung und Ausarbeitung sowohl der noch in der Nürnberger Periode publizierten „Wissenschaft der Logik“, dem nach der „Phänomenologie des Geistes“ zweiten philosophischen Großwerk Hegels, als auch der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“, deren Erstauflage 1817 erschienen ist. Im Jahr zuvor war Hegel als Philosophieprofessor nach Heidelberg, Ende 1817 dann als FichteNachfolger nach Berlin berufen worden, wo er bis zu seinem Tod 1831 wirkte. Hegel als Religionslehrer Nach Urteil seines Biographen Karl Rosenkranz hat sich Hegel seinem Nürnberger Schulamt „mit vollster Hingebung, mit unermüdlichem Eifer“36 gewidmet. Dies trifft – trotz anfänglichen Zögerns, sie zu übernehmen – auch für seine Tätigkeit als Religionslehrer zu. Für den Unterricht in der Ober- und Mittelklasse legte Hegel für das Schuljahr 1811/12 eigens ein Manuskript an (GW 10/1, 197–218; vgl. GW 10/2, 952–958), das mit knappen Skizzen zur Einleitung in die Thematik, insbesondere zu den sog. Beweisen vom Dasein Gottes und ihrer Kritik durch Kant beginnt. Darauf folgen elf Paragraphen „Über den Begriff Gottes“, der ausgehend vom Gedanken des „Seyn(s) in allem Seyn“ (GW 10/1, 203) im Durchgang durch denjenigen des Wesens als der „sich selbst bestimmende(n) Reflexion“ (ebd.) zur Idee absoluter Subjektivität entwickelt wird: „Gott ist Subject; es ist das allgegenwärtige allgemeine Wesen oder die Substanz von allem, aber hat eben so sehr eine von ihrer Accidentalität freye und eigenthümliche Existenz, in der er an und für sich und Geist ist.“ (GW 10/1,

36 K. Rosenkranz, Georg Friedrich Wilhelm Hegels Leben (1844), Darmstadt 1977, 249. Zur Bedeutung F. I. Niethammers und seines „Allgemeinen Normativs für Bayern“ von 1808 für den Pädagogen Hegel vgl. a.a.O., 254ff. sowie G. Wenz, Hegels Freund und Schillers Beistand. Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848), Göttingen 2008 und H. E. Tenorth, Allgemeines Normativ von 1808. Niethammer als Schulreformer, in: G. Wenz (Hg.), Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848). Beiträge zu Biographie und Werkgeschichte, München 2009, 65–81.

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204) Als solcher realisiert er sich in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung als ewige Liebe. Was Hegels Verständnis der Religion angeht, so ist sie nach der Bestimmung des grundlegenden Paragraphen „die Art und Weise, wie der Mensch sich des göttlichen Wesens bewußt wird, und sich das Daseyn desselben bestimmt, und die Einigkeit mit demselben sucht und hervorbringt. Sie“, so heißt es weiter, „ist das höchste Bewußtseyn des Geistes und alles andere Bewußtseyn davon abhängig.“ (GW 10/1, 206) In einem Oberklassenkurs zur philosophischen Propädeutik, näherhin zum System der besonderen Wissenschaften, dessen Diktatabschrift aus dem Schuljahr 1810/11 in den Folgejahren immer wieder bearbeitet wurde (GW 10/1, 311–365; vgl. GW 10/2, 971–982), hat Hegel in diesem Zusammenhang ausdrücklich betont, dass die Religion die Darstellung des absoluten Geistes „nicht bloß für Anschauung und Vorstellung (gebe), sondern auch für den Gedanken und die Erkenntniß“ (GW 10/1, 365). Zwar wird „die begreifende Erkenntniß des absoluten Geistes“ (ebd.) der Philosophie als der Wissenschaft des absoluten Wissens zugesprochen. Insofern in ihr das Absolute „in Begriffsform aufgefaßt“ (ebd.) und „alles Fremdseyn im Wissen aufgehoben“ (ebd.) werde, stelle sie das höchste Bewusstsein des Geistes dar. Doch ist damit der Religion die Stellung, die ihr das Manuskript von 1811/12 zuerkennt, nicht notwendigerweise streitig gemacht. Denn soll „die vollkommene Gleichheit mit sich selbst“ (ebd.), die das Wissen in der Philosophie des Absoluten erreicht, nicht lediglich abstrakt, sondern konkret und unter Bewahrung von Individualität erreicht werden, dann bedarf es der Religion, deren Hauptbestimmung es ist, das Individuum zum Absoluten zu erheben. Der Begriff des Absoluten, „der sich selbst zum Inhalte hat und sich begreift“ (ebd.), ist absoluter Begriff nicht ohne Anschauung und Vorstellung, sondern im Verein mit diesen. Meinels Schulheft Nähere Einblicke in Hegels Religionslehre der Nürnberger Zeit gibt zusammen mit dem für das Schuljahr 1811/12 angefertigten dreiteiligen Manuskript beispielsweise ein Schülerheft aus demselben und dem nachfolgenden Schuljahr (vgl. GW 10/2, 1009f.), das Christian Samuel Meinel angefertigt hat, Sohn eines Sulzbacher Dekans und nachmaliger Pfarrer in Illenschwang, Pegnitz, Weiden und Feuchtwangen, wo er selbst das Dekansamt bekleidete (vgl. GW 10/2, 1003f.). Meinel hatte nach seiner Schulzeit in Sulzbach insgesamt nur zwei Jahre lang das Nürnberger Gymnasium besucht, wo er 1813 seine Schulausbildung abschloss, um in Erlangen das Studium der Theologie zu beginnen. Was Hegels Manuskript betrifft, so wird in ihm der allgemeine Begriff der Religion rasch zu demjenigen der sog. geistigen im Besonderen entwickelt, in

Religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff

der er sich vollendet. Die geistige Religion enthält vermöge des Gedankens der Menschwerdung Gottes und der gottmenschlichen Versöhnung „das Bewußtseyn daß Gott dem Menschen nicht ein fremdes ist, sondern in ihm sich die Anschauung seiner selbst gibt“ (GW 10/1, 208f.; vgl. GW 10/2, 610). Nicht als ob die Religion „bloß eine subjektive Erhebung“ (GW 10/1, 210) und ein einseitiges Tun des Menschen sei; sie lebe vielmehr von der göttlichen Gnade und vom menschlichen Vertrauen auf diese: „Diß Geistige WechselVerhältniß und Wechselthun macht das Princip lebendiger Religion aus“ (GW 10/1, 211), schreibt Hegel. In Meinels Schulheft finden sich ausführliche Anmerkungen zu diesem Grundsatz, die insgesamt auf die Erschließung der Einsicht hingeordnet sind, dass im religiösen Bewusstsein sich Gott in seiner Gottheit dergestalt offenbare, dass in, mit und unter dieser Offenbarung die Wesensbestimmung des Menschen mitsamt derjenigen seiner Welt manifest werde (vgl. GW 10/2, 615–639). Für den individuellen Geist und seine Vernunft sei diese Einsicht zwar nur im Modus zeitlichen Werdens zu erlangen. Aber die Wahrheit, die sich in ihr erschließe, gelte ewig. Entsprechend heißt es gegen Ende der Aufzeichnungen Meinels: „Die individuelle Vernunft ist allerdings in der Zeitlichkeit, sie ist ein Werden. Darin liegt die Wirklichkeit des individuellen Geistes. Die Vernunft in so fern sie in der Zeit ist, ist ein Endliches … In so fern die Ewigkeit des Geistes auf die Zeit sich bezieht, überwindet er die Zeit.“ (GW 10/2, 639) Bleibt zu fragen, ob und unter welchen Bedingungen diese Überwindung für die Zeit ein Segen und die Voraussetzung für das Individuum sein kann, das Zeitliche am Ende getrost zu segnen. Damit ist erneut der Kern des Problems rechter Verhältnisbestimmung von religiöser Bewusstseinsform und philosophischem Begriff des Absoluten berührt.37 Es stellt das religionsphilosophische Grundproblem der Hegel’schen Philosophie dar. Anschauung, Vorstellung, Begriff Unmittelbar nach seinen Nürnberger Jahren als Gymnasialrektor, in denen er die zu seinen Unterrichtsgegenständen gehörende Religionslehre mehrfach vortrug, hat Hegel diese 1817 in der ersten Auflage seiner „Enzyklopädie“ erstmals „im Rahmen des Systems der wissenschaftlichen Öffentlichkeit“38 37 Vgl. dazu auch die Anmerkungen zu den Religionsparagraphen im Schülerheft J. F. Abeggs von 1812/13 in GW 10/2, 797–818; darin: GW 10/2, 1017f. Abegg wurde nach Schuljahren in Königsberg, Erlangen und Nürnberg Jurist und lehrte seit 1826 als Professor der Rechte in Breslau. In Heidelberg und Berlin besuchte er Vorlesungen Hegels (vgl. GW 10/2, 1004). 38 W. Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983, 3. Jaeschke skizziert die Entwicklung der Hegel’schen Religionsphilosophie von der Studienzeit bis in die Berliner Jahre, ihre Stellung im System sowie ihre interne Verfassung und gibt zugleich einen knappen Überblick zur Forschungsgeschichte. „Zum systematischen Ort von Hegels Vorlesungen über die

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vorgestellt und zwar im Rahmen der Lehre vom absoluten Geist. Sie beginnt mit der Feststellung, dass der Begriff des Geistes seine Realität im Geiste habe (vgl. GW 13, 240). Seine Idee verwirkliche sich entsprechend im absoluten Wissen von ihm. Die unmittelbare Gestalt dieses Wissens sei diejenige der ästhetischen Anschauung, von der Hegel unter der Überschrift „Die Religion der Kunst“ handelt (vgl. GW 13, 241–243). Vermittelte und reflexe Gestalt nimmt das Wissen vom Absoluten sodann in der geoffenbarten Religion an (vgl. GW 13, 243–245), die Hegel nach Maßgabe der logischen Begriffsmomente von Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit strukturiert mit dem Ziel, die in ihr vorstellig werdende Wahrheit zu begreifen und in das selbstbewusste Denken der Philosophie aufzuheben, mit dessen realisierten Begriff sich das enzyklopädische System vollendet.39

Philosophie der Religion“ vgl. ferner F. Wagners Beitrag „Religion zwischen Rechtfertigung und Aufhebung“, in: ders., Was ist Theologie? Studien zu ihrem Begriff und Thema in der Neuzeit, Gütersloh 1989, 233–255. Wagner hebt die religionsphilosophischen Vorlesungen scharf von der Explikation ab, welche die Religion in Hegels „Enzyklopädie“ auf der Basis der „Wissenschaft der Logik“ gefunden habe. Im Unterschied zu den Kollegien sei dort der Boden des vorstellungshaft erfassten religiösen Bewusstseins grundsätzlich verlassen. Habe das „Oszillieren zwischen Vorstellung und Begriff “ (249) der Hegel’schen Religionsphilosophie den Vorwurf der Zweideutigkeit eingetragen, so erledige sich dieser angesichts des enzyklopädischen Gesamtsystems, welches eindeutig auf die Erhebung zum spekulativen Begriff der Religion (vgl. 250f.) und auf ihre Rechtfertigung durch Flucht in den Begriff (vgl. 252ff.) angelegt sei. Diese Anlage nötige, mit der Sphäre der Religion auch diejenige der Religionsphilosophie zu überschreiten, welche – analog zur Theologie – die religiösen Vorstellungsbestände zwar logisch-kategorial strukturiere, ihnen aber gleichwohl verbunden bleibe, ohne sie prinzipiell hinter sich zu lassen. Genau das aber sei, wie Wagner meint, durch die Gesamtanlage des Systems gefordert. Zum Verhältnis der epistemischen Formen zu ihrem Inhalt und zum differenzierten Zusammenhang von Religionsphilosophie und Theologie bei Hegel vgl. jetzt auch N. Mooren, Hegel und die Religion. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Religion, Philosophie und Theologie in Hegels System, Hamburg 2018, bes. 63ff. und 139ff. 39 Wie die Kunst durch ihre Aufhebung in die Religion, so kommt, liest man im Hegel-Handbuch, die Religion in dem Begriff an ihr Ende, den die spekulative Philosophie in Form nicht mehr der Vorstellung, sondern des reinen Denkens von ihr hat (vgl. W. Jaeschke, HegelHandbuch, 474ff.: Das Ende der Religion). Um ihren Gehalt zu bewahren, muss sie sich in die Philosophie flüchten. „Eine Religion hingegen, die vor dieser ‚Flucht in den Begriff ‘ zurückschreckt und sich weiterhin historisch oder offenbarungspositivistisch legitimiert, bleibt in einem Mißverständnis ihrer selbst befangen.“ (475) Zu den Konsequenzen der empfohlenen Flucht und zur Frage, wie man sich den, soll man sagen, Verbleib im philosophischen Begriff, der als absolutes Wissen alles einschließlich seiner selbst in sich begreift, zu denken hat, vgl. 476. Was die inhaltliche Ausgestaltung des mit dem entwickelten Begriff des Begriffs erreichten Systemschlusses anbelangt, so hat Hegel anders als in der Philosophie der Kunst und der Religion keine eigene „Philosophie der Philosophie“ dargestellt, sondern sich auf die Darstellung einer Philosophie der Philosophiegeschichte beschränkt, ohne am Ende „seine

Religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff

Im philosophischen Denken sind Hegel zufolge ästhetisches Anschauen und religiöses Vorstellen eins; ihre Differenz ist im absoluten Wissen als dem realisierten Begriff des sich selbst erfassenden Absoluten behoben. Im Wissen des Absoluten um sich selbst, welches das System vollendet, ist die enzyklopädische Wissenschaft der Philosophie zur Vollendung gelangt dergestalt, dass das Logische sich in concreto als Wahrheit bewährt hat. „Die Wissenschaft ist auf diese Weise in ihren Anfang zurückgegangen, und das Logische ihr Resultat; die Voraussetzung ihres Begriffs oder die Unmittelbarkeit ihres Anfangs, und die Seite der Erscheinung, die sie darin an ihr hatte, ist aufgehoben.“ (GW 13, 246, 8–12) Der letzte Schritt zur Aufhebung der Erscheinung ist mit der Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff getan.40 Form und Inhalt Um Sinn und Bedeutung dieses für sein Philosophieverständnis charakteristischen Vollzugs zu erklären, wurde nicht selten auf die bei Hegel häufig begegeigene Philosophie als die glückliche Auflösung aller Rätsel der Philosophiegeschichte zu präsentieren“ (496). 40 Vgl. F. Wagner, Die Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff. Zur Rekonstruktion des religionsphilosophischen Grundproblems der Hegel’schen Philosophie, in: ders., Was ist Theologie?, 204–232. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zur „Korrespondenz von religiösen Inhalten und logisch-kategorialen Bestimmtheitsweisen“ in Hegels Religionsphilosophie vgl. ferner ders., Religiöser Inhalt und logische Form. Zum Verhältnis von Religionsphilosophie und „Wissenschaft der Logik“ am Beispiel der Trinitätslehre, in: ders., a.a.O., 256–285, hier: 256. Wagner vertritt die These, „daß der nach Begriff, Urteil und Schluß voll strukturierte Begriff der Subjektivität die logische Bestimmtheitsweise darstellt, um den in sich komplexen, weil nach Einheit und Dreiheit differenzierten Gedanken der Trinität konstituieren zu können“ (277). Entsprechend rekonstruiert er die „Christologie als exemplarische Theorie des Selbstbewusstseins“ (vgl. a.a.O., 309–342). Die theologischen Lehrbestände und die in ihnen theoretisch bearbeiteten religiösen Vorstellungen hätten nach dieser Auffassung als paradigmatische Anwendungsfelder der in der Wissenschaft der Logik entwickelten Denkbestimmungen zu gelten. Anhand ihrer wäre zu entschlüsseln, was im religionstheologischen Kontext verschlüsselt dargeboten wird. Ob damit das Verhältnis von Logik und Realphilosophie im Sinne Hegels aufgefasst ist, bleibt diskussionsbedürftig. – Vgl. in diesem Zusammenhang auch: J. Rohls, Christentum und Philosophie beim späten Hegel, in: K. Drilo/A. Hutter (Hg.), Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System, Tübingen 2015, 231–255. Rohls vergleicht das Verhältnis von religiöser Vorstellung und philosophischem Begriff in der Drittauflage der Enzyklopädie von 1830 mit den religionsphilosophischen Vorlesungen von 1827 und 1831 sowie ergänzend mit einigen Aspekten der Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Er problematisiert dabei die Annahme, dass die vollendete Religion des Christentums und die Philosophie des Absoluten sich lediglich der Form nach unterscheiden, aber inhaltlich identisch seien. Auch soll gezeigt werden, dass die Selbstvollendung des Systems in reiner Theorie in den religionsphilosophischen Vorlesungen durch Praxisbezüge relativiert wird, die der Kategorie der Intersubjektivität einen dem Prinzip der Subjektivität gegenüber überlegenen Status einräumen.

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nende Aussage verwiesen, wonach er lediglich die Form, nicht aber den Inhalt betreffe, der materialiter identisch bleibe. Die Philosophie transformiere zwar die religiöse Vorstellung in den Begriff, ändere aber nichts an ihrem Gehalt, den sie vielmehr affirmiere. Man wird nicht leugnen können, dass diese Erklärung, obwohl sie häufig in Hegel’schen Texten begegnet, „als fragwürdig zu bezeichnen ist“ (204). Denn sie „setzt voraus, daß ein identischer Inhalt auch dann derselbe Inhalt bleiben soll, wenn er in verschiedenen Formen expliziert wird; ein Inhalt soll sich durch die Differenz von Explikationsformen hindurch kontinuieren können, ohne auf diese Weise seiner Identität verlustig zu gehen. Die so formulierte Auffassung legt es nahe, dem Inhalt den kategorialen Status der Substanz zu verleihen, dem der Wechsel der Formen bloß akzidentiell ist. Daß eine derartige Verhältnisbestimmung von Form und Inhalt der Denkbewegung der Hegel’schen Philosophie widerstreitet, scheint offensichtlich zu sein.“ (204f.) Auf einen offensichtlichen Widerstreit scheint allerdings auch die gegenteilige Behauptung hinauszulaufen, derzufolge die Formdifferenz von Religion und Philosophie einen inhaltlichen Gegensatz zur zwangsläufigen Folge habe. Rechts- und Linkshegelianer In den beiden antithetischen Deutungen des Hegel’schen Programms einer Aufhebung religiöser Vorstellung in den Begriff kündigt sich die Spaltung seiner Schule in zwei Lager ab, nämlich in dasjenige der sog. Rechts- und dasjenige der sog. Linkshegelianer: „Einerseits wird die Differenz der Formen gegenüber dem Inhalt so vergleichgültigt, dass Religion und Philosophie ohne Bruch und d. h. ohne Negation auf dieselbe Ebene gerückt werden können; mit der Anerkennung des Inhalts der Religion legitimiert die Philosophie insofern auch die Formen der Darstellung des religiösen Inhalts, als dieser der Differenz von religiöser und philosophischer Form zum Trotz ‚ewig ein und dasselbe‘ bleiben soll. Andererseits wird die Identität von Inhalt und Form so zur Geltung gebracht, dass differente Formen, in denen ein Inhalt expliziert wird, die Differenz der Inhalte nach sich ziehen. Religion und Philosophie entfalten somit aufgrund der gegensätzlichen Formen auch einen gegensätzlichen Inhalt.“ (206) Beide Auffassungen widerstreiten offenkundig Hegels Programm und dem Verständnis, das er vom Begriff der Aufhebung und des von ihm bezeichneten Vorgangs hat. Denn dieser enthält die Momente sowohl der bestimmten Negation als auch der Bewahrung und der erhebenden Vollendung und zwar in der Weise einer Sequenz mit klarem Richtungssinn. Der durch die Momente bestimmter Negation, Bewahrung und Erfüllung gekennzeichnete Aufhebungsprozess vollzieht sich als eindeutig gerichtete Sequenz, stellt aber nichtsdestoweniger einen einheitlichen Vollzug dar, bei dem

Religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff

keines der drei ihn charakterisierenden Momente isoliert oder ausgeblendet werden darf. Für die Religion bedeutet dies, dass die Negation ihrer Vorstellungsform zwar negierend wirkt und mit der Form auch ihren Gehalt betrifft, jedoch nicht abstrakt, sondern im Modus bestimmter Negation mit bewahrender und vollendender Zielrichtung. Indem die Philosophie sie begrifflich über sich hinausführt, führt sie die Religion also recht verstanden nicht von sich weg, sondern hin zur Realisierung ihrer selbsttranszendenten Bestimmung. Entspricht die Religion ihrem ureigenen Begriff doch offenbar nur dann, wenn sie sich selbst überschreitet. In der Selbstüberschreitung verwirklicht die Religion ihr Wesen und zwar in der differenzierten Einheit ihrer Form und ihres Inhalts. Selbstüberschreitung der Religion Die Selbstüberschreitung der Religion geht gemäß Hegels Verständnis des sie betreffenden Aufhebungsprozesses vor allem ihren vorstellungshaften Charakter an. Nun darf man sich, um salopp zu reden, von dem, was Hegel Vorstellung nennt, keine zu vordergründigen Vorstellungen machen. Man vergegenwärtige sich nur, welche Stellung ihr in der Lehre vom theoretischen Geist innerhalb der Philosophie des subjektiven Geistes zuerkannt ist. Anders als die äußere Anschauung in ihrer sinnlichkeitsgebundenen Unmittelbarkeit lebt die Vorstellung ein in sich gekehrtes, besonnenes Leben, das durch Erinnerung, Einbildungskraft und Gedächtnis geprägt ist, um die einschlägigen Hegel’schen Termini zu nennen. Erfüllt sich die Erinnerung im Vorstelligmachen verinnerlichter Anschauungsbilder, die bei der Reproduktion von Anschauungsbildern einsetzende Einbildungskraft in produktiver Zeichensetzung durch Sprache und Schrift, so das Gedächtnis in einem Gedenken, das zwanglos und gleichsam von sich aus zu denkender Gedankenbildung und zu demjenigen führt, was bei Hegel die Freiheit des Geistes in der differenzierten Einheit von Denken und Gedanken heißt. Der Übergang von der Vorstellung in den Begriff ist sonach fließend und nur unter Vorbehalt mit einer hierarchischen Stufenordnung zu vergleichen, worauf der Aufhebungsbegriff bereits terminologisch verweist. Die Warnung scheint angebracht, sich keinen leichtfertigen Begriff von religiöser Vorstellung zu machen und vom Vollzug ihrer philosophischen Aufhebung nicht oberflächlich und etwa so zu denken, als sei die Aufgabe des philosophischen Begriffs bezüglich der religiösen Vorstellung mit der Entschlüsselung von Hieroglyphen oder rationaler Aufklärung allegorischer Sinnbilder zu vergleichen. Auch dürfte es abwegig sein, das Geschäft, welches Hegel dem Philosophen gegenüber der Religion zuweist, mit demjenigen eines Gnostikers gleichzusetzen, der schlichte Psychiker und noch schlichtere Hyliker von der Überlegenheit seines Standpunkts zu überzeugen sucht. Trotz und unbeschadet

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solcher Warnungen darf gleichwohl das Negationsmoment nicht unterschlagen werden, welches Hegel geltend macht, wenn er sich für die zu leistende Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff ausspricht. Worin liegt dieses Negativmoment begründet? Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet: In der inhaltlichen Inadäquanz der religiösen Vorstellungsform. Die Form der Religion, in welcher ihr Gehalt vorstellig gemacht werde, sei diesem nicht adäquat. „Die Aufhebung des religiösen Inhalts in den philosophischen Begriff befreit diesen also von der unwahren Form, die ihn, bliebe er ihr verhaftet, der Unwahrheit preisgeben würde.“ (218) Indem die Philosophie seine Vorstellungsform begrifflich in absolutes Wissen aufhebe, verändere sie zwar den Inhalt der Religion, aber in der Weise einer Veränderung, die seiner Realisierung diene. Lässt sich diese These anhand der in der „Wissenschaft der Logik“ entfalteten Form-Inhalt-Beziehung bewähren? Nach Hegels Urteil ist diese Beziehung nicht analog zum Verhältnis von Substanz und Akzidenz, sondern gemäß der dialektischen Logizität einer Selbstexplikation im anderen verfasst. „Der Inhalt, der sich in der Form, im anderen seiner selbst als sich selbst expliziert, findet seine ihm als wahren Inhalt zukommende Erfüllung.“ (227) Weil aber die Religion ihren Inhalt in der ihr eigenen Form, nämlich derjenigen der religiösen Vorstellung, nicht adäquat explizieren kann, findet sie ihre Erfüllung nicht in sich selbst, sondern in der Philosophie, um im anderen des Begriffs zu sich selbst und zur Vollendung ihrer Bestimmung zu gelangen. Mit Hegels „Einleitung in die Geschichte der Philosophie“ nach den Vorlesungen von 1823–1827/28 zu reden: „Die Philosophie hat als begreifendes Denken dieses Inhalts gegenüber dem Vorstellen der Religion den Vorteil, daß sie beides versteht; denn sie versteht die Religion und kann ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen; sie versteht auch den Rationalismus und Supranaturalismus; und sie versteht auch sich selbst. Aber nicht umgekehrt; die Religion als solche, in dem sie in den Standpunkt der Vorstellung fällt, erkennt sich nur in der Vorstellung, nicht in der Philosophie, d. h. in Begriffen, in allgemeinen Denkbestimmungen.“41 41 G. W. F. Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie. Hg. v. J. Hoffmeister, Hamburg3 1959, 192; vgl. F. Wagner, a.a.O., 227. V. Hösle zufolge ist „nicht einzusehen, warum sich wahrhafte Religiosität gegen diese Übersetzung in die Sprache der Philosophie und die Legitimation aus dem Begriff sträuben sollte – die Modifikation des Inhalts betrifft nur Kontingentes, und daß der Glaube durch rationale Einsicht ersetzt wird, dürfte, gerade zum Zwecke der intersubjektiven Verbreitung der Inhalte der Religion, nur zu begrüßen sein“ (V. Hösle, Hegels System. Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Bd. 2: Philosophie der Natur und des Geistes, Hamburg 1987, 642 Anm. 110). Dies gelte umso mehr, als das im Geist der Gemeinde sich vollendende Christentum als Religion der Intersubjektivität (vgl. 651ff.) zu gelten habe. Ob bzw. inwieweit dieses Verständnis bei Hegel gegeben ist, bleibe dahingestellt. Hösle meint feststellen zu können, dass der spekulative Philosoph der Subjektivität „gerade in

Religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff

Rückbezügliches Denken Was meint Hegel genau, wenn er von allgemeinen Denkbestimmungen spricht? Kehrt die spekulative Philosophie am Ende ihrer Systementwicklung wieder dorthin zurück, wo sie ihren Ausgang genommen hat, nämlich in die Logik als der Wissenschaft reiner Denkbestimmungen? Welchen Fortschritt hat dann der Gang der Realphilosophie von der Philosophie der Natur über diejenige des endlichen und absoluten Geistes ihr gegenüber gemacht? Streift der absolute Begriff, um die Frage zu konkretisieren, die religiöse Vorstellung und mit ihr die Anschauung der Kunst und alle raum-zeitlichen Sinnlichkeitsbezüge dergestalt ab, dass er sich, wie beispielsweise der späte Schelling mutmaßte42 , in jener reinen Theorie vollendet, wie sie durch die Wissenschaft der Logik vorgezeichnet ist, oder muss er, um als realphilosophische Vollendung gelten zu können, in einem bleibenden Rückbezug zur Sphäre empirischer Raum-Zeitlichkeit stehen, an welche ihn namentlich die religiöse Vorstellung zur erinnern hat und zwar dauerhaft? Am Schluss des Systems entscheidet sich, ob es offen ist für das eigenständige Sein dessen, was es in sich begreift, oder die Stufen seiner Entwicklung zu bloß transitorischen Funktionselementen einer Theorie herabsetzt, der Religionsphilosophie dem Begriff der Intersubjektivität am nächsten gekommen“ (648) sei. Wie immer es sich damit verhalten mag: Die Frage nach dem Status individueller Subjektivität bleibt, dessen von Kontigenzmomenten nicht einfachhin zu trennende Einmaligkeit nachgerade die christliche Religion ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellt: „Gott wird in einem Individuum Mensch.“ (659) Nach Hösle soll es Zweck eines begrifflichen Verständnisses christlicher Religion sein, „diese Einmaligkeit aufzuheben, theologisch gesprochen: durch Christus alle Menschen zur Gotteskindschaft zu führen.“ (Ebd.) Dass das Christusereignis menschheitsgeschichtliche Bedeutung und theologisch als ein Geschehen zu würdigen ist, dass ein für allemal gilt, ist unbestritten. Theologisch zu bestreiten ist hingegen die These: „Im Tod Christi wird … die Partikularität, die der Menschwerdung in dem einen Christus anhaftet, abgestreift. Gott ist nicht mehr in dem einen sinnlichen Individuum – dieses ist ja gestorben –, sondern nur in den Betrachtern, die in dem Christusereignis die Wahrheit über das Verhältnis Gottes zum Menschen erleben. Diese muß nun einerseits internalisiert, andererseits intersubjektiv institutionalisiert werden: Pfingsten ist die Vollendung Osterns, der wahre Sinn der Auferstehung.“ (660) 42 Zur Kritik des späten Schelling an Hegels Verhältnisbestimmung von religiöser Vorstellung und philosophischem Begriff vgl. Chr. Danz, Von der Vernunftreligion zur spekulativen Religionsgeschichte. Anmerkungen zu Schellings später Religionsphilosophie im Kontext der Hegelschule, in: ders. (Hg.), Schelling und die historische Theologie des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2013, 233–256, bes. 239ff. Zu „Schellings Hegel-Kritik“ insgesamt vgl. den gleichnamigen Aufsatz von K. Brinkmann in: K. Hartmann, Die ontologische Option. Studien zu Hegels Propädeutik, Schellings Hegel-Kritik und Hegels Phänomenologie des Geistes, Berlin/New York 1976, 117–210. Die Einwände beziehen sich auf die Anfänge der Logik, ihre Methodik, ihren Übergang zur Naturphilosophie und damit auf ihr Verhältnis zur Realphilosophie überhaupt, deren Realität über einen bloßen Logismus nicht hinausgelange. Zu Brinkmanns Versuch, Schellings Hegel-Kritik als unsachgemäß zurückzuweisen, vgl. bes. 188ff. sowie 204ff.

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Vom Geist der Versöhnung

die im Grund von Anfang an weiß, was der Fall ist.43 Nicht nur Theologen, aber vor allem sie, haben in Bezug auf Hegel so gefragt und argumentiert. Individuelles Freiheitsinteresse Auf vier Kritikpunkte, die ihrerseits „nur Moment ein und derselben Sache“44 seien, lassen sich nach M. Theunissen die von der Theologie traditionell gegen Hegel geltend gemachte Einwände reduzieren: Man „vermißt eine wirklich umfassende Anerkennung der Endlichkeit, der Kontingenz, der Differenz und der sich jeder Vermittlung entziehenden Unmittelbarkeit“45 . F. W. Graf hat dieses Resümee aufgegriffen und durch den Hinweis ergänzt, dass der theologischen Hegel-Kritik zugrundeliegende konstruktive Interesse sei zumindest im 19. Jahrhundert dasjenige, individueller Freiheit Geltung zu verschaffen. Ob Hegel als Pantheist oder als Panlogist gescholten werde, stets richte sich die Kritik gegen eine tatsächliche oder vermeintliche Depotenzierung der Freiheit endlicher Subjektivität: Als idealistisch verkappter Spinozist habe Hegel alles Endliche einschließlich der endlichen Freiheit des Menschen zum bloßen Medium des Absoluten herabgesetzt und damit tendenziell vernichtet. Wenn demgegenüber in der nachhegelschen Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts der Begriff der Persönlichkeit Gottes ins Zentrum der Debatte rückte, dann geschah dies nach Graf, um dem „Interesse an individueller Freiheit Genüge zu 43 Dass der absolute Geist seine Vollendung nicht in der Weise des Selbstabschlusses, sondern dadurch erlangt, dass er auf den objektiven und subjektiven Geist und mittels dessen auf die Natur zurückkommt, um seine Absolutheit durch Selbstexplikation im Endlichen und seinen Erscheinungsgestalten zu realisieren, sucht A. Arndt zu zeigen, Die Vollendung des absoluten Geistes im objektiven Geist. Weltgeschichte, Religion und Staat, in: Th. Oehl/A. Kok, Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, Leiden/Boston 2018, 709–719. 44 M. Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, 27. 45 Ebd. Nach L. B. Puntel lassen sich alle traditionell gegen Hegel geltend gemachten Einwände in einem einzigen zusammenfassen: „Indem die Hegel’sche Philosophie den Anspruch auf vollständige systematische Abgeschlossenheit erhebt, räumt sie der menschlichen Erfahrung, der geschichtlichen Praxis und der Zukunftsoffenheit keinen Platz mehr ein.“ (L. B. Puntel, Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels, Bonn 1973, 16) Über das Recht dieses Einwands sucht Puntel unter Konzentration auf das problematische Verhältnis von Logik und Realphilosophie in Hegels System zu befinden. Hegel habe einerseits die Koextensität von Logik und Systemganzen behauptet, zugleich aber zwischen beiden differenziert und Logik und Realsystematik unterschieden. Die Simultaneität beider Vorgänge vermag Puntel durch Analyse von Entsprechungszusammenhängen zwischen Logik und Realphilosophie sowie dadurch zu erhellen, dass er den Einfluss der Realsystematik für den Aufbau der Logik und umgekehrt verdeutlicht. Zu konstatieren sei eine differenzierte Einheit von Noologie und Phänomenologie, die Begreifen als identischen Vollzug von Denken und Erfahrung verstehen kann.

Religiöse Vorstellung und philosophischer Begriff

tun“46 . Erst mit dem Siegeszug der Dialektischen Theologie im 20. Jahrhundert sei ein Wandel eingetreten: „Das konstruktive Interesse am Individuum wird in das an der unbedingten Souveränität Gottes aufgehoben.“ (293) Diese Tendenz sieht Graf nicht nur bei Barth, sondern auch bei Pannenberg wirksam, dessen Hegel-Kritik ebenfalls primär am Problem der absoluten Freiheit Gottes orientiert sei. Endlichkeit, Kontingenz, Differenz, Unmittelbarkeit Bereits in seinem Stuttgarter Vortrag über „Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels“ hat Pannenberg Graf zufolge seine Auseinandersetzung wesentlich auf die zu wahrende Freiheit Gottes konzentriert, was auch für die Folgebeiträge zum Thema bestimmend geblieben sei. Auch in ihnen richte sich das Interesse primär auf die absolute Freiheit Gottes und weniger auf die endliche Freiheit individueller Subjekte. Zu fragen ist, ob sich beide Interessensgesichtspunkte, zumindest was Pannenberg angeht, auseinanderdividieren lassen. Es ist ja immerhin denkbar, dass das Insistieren auf der Absolutheit der Freiheit Gottes mit dem Streben nach einem „positiven Begriff der Freiheit des Menschen“ (294) konform geht. Gedanklich nicht auszuschließen ist ferner, dass Pannenbergs Vorbehalt gegenüber Hegels Versuch, die Absolutheit Gottes und seiner Freiheit nach Maßgabe der Logizität autogenetischer Begriffsentwicklung zu bestimmen (vgl. 297), wesentlich durch das Streben nach besagter Konformität veranlasst ist. Wie auch immer: Das von Graf am Ende seines Beitrags zur historisch-systematischen Rekonstruktion der theologischen Hegel-Kritik zitierte Votum Theunissens hat auch in Bezug auf Pannenberg seine Richtigkeit: auch er vermisst bei Hegel eine umfassende Würdigung von Endlichkeit, Kontingenz, Differenz und einer Unmittelbarkeit, die sich nicht in Vermittlungsprozesse aufheben bzw. zu deren transitorischem Moment herabsetzen lässt.

46 F. W. Graf, Der Untergang des Individuums. Ein Vorschlag zur historisch-systematischen Rekonstruktion der theologischen Hegel-Kritik, in: ders./F. Wagner (Hg.), Die Flucht in den Begriff, 274–307, hier: 291. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

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17.

Epilog

Das Feuerbachsyndrom

17.1

Die Posaune des Jüngsten Gerichts

Anno Domini 1841 ließ ein Anonymus die Posaune des Jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen erschallen und stellte den Anhängern des Absolutheitsphilosophen ein Ultimatum, schleunigst umzukehren und von den Irrlehren ihres Meisters, zutreffender gesagt: ihres Verführers abzurücken. Als Autor der Schrift, die Hegel der Verachtung der Heiligen Schrift und des Hasses gegen das Bestehende, die christliche Kirche, ja des Gotteshasses bezichtigte, wurde der 1809 in Eisenberg bei Jena geborene Bruno Bauer erkannt.1 Ernst war es ihm mit seiner Gerichtsansage nicht; diese ist unschwer als „Parodie“2 zu erkennen. 1 B. Bauer, Die Posaune des Jüngsten Gerichts über Hegel den Atheisten und Antichristen. Ein Ultimatum, Leipzig 1841. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Die unmittelbare Wirkungsgeschichte der Hegel’schen Philosophie, in deren Zusammenhang Bauer und Feuerbach gehören, „beginnt kurz nach der französischen Juli-Revolution von 1830 und dauert bis zur gescheiterten deutschen Revolution von 1848“ (W. Jaeschke, Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule, Stuttgart/Weimar 2 2010, 502). Ihre Textbasis bildet die Freundesvereinsausgabe der Werke Hegels, mit der die zu seinen Lebzeiten nur ansatzweise gegebene Breitenwirkung beginnt (vgl. 502–504). Die Edition bietet das System einer großen Öffentlichkeit dar und fixiert es, ohne die Entwicklung, die es durchlaufen hat, historisch-kritisch zu erheben. Einen Systemausbau suchten die Schüler teilweise durch eigene Beiträge zu leisten, ohne dass dabei ein strategischer Plan verfolgt worden wäre (vgl. 504f.). Diadochenkämpfe blieben zunächst aus, bis die Auseinandersetzungen um die Religionsphilosophie begannen, auf die sich der Streit um Hegels Erbe „ein Jahrzehnt lang fast ausschließlich“ (505) bezog. Jaeschke hat dem „Streit um die Religion“ (505–525) innerhalb (und außerhalb) der Hegelschule unter den Gesichtspunkten „Christliche Philosophie vs. Vernunftphilosophie“ (505ff.), „Persönlichkeit Gottes und Unsterblichkeit der Seele“ (510ff.) sowie „Primat der Idee oder der Geschichte“ (515ff.) zur Darstellung gebracht. Unter letzterem Aspekt kommt Jaeschke auf die Kontroverse um D. F. Strauß‘ „Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ von 1835/36 zu sprechen, das zur Spaltung und zum Zerfall der Hegelschule führen sollte (517ff.). Zu den politischen Implikationen des Konflikts und zur Kontroverse um Recht und Staat vgl. 519ff. sowie 525ff. 2 G. Lämmermann, Kritische Theologie und Theologiekritik. Die Genese der Religionsund Selbstbewußtseinstheorie Bruno Bauers, München 1979, 162. Gegenüber den kritischpolemischen Schriften und Ereignissen der Jahre 1840–1843 „ist Bruno Bauers Wirksamkeit nach 1848 als konservativer Publizist und Mitarbeiter der ‚Kreuzzeitung‘ weithin unbekannt geblieben, und seine frühe spekulativ-theologisch begründete ‚Orthodoxie‘ findet in der Literatur zumeist nur als der rätselhafte Hintergrund der späteren Religionskritik beiläufige Erwähnung“ (J. Mehlhausen, Die religionsphilosophische Begründung der spekulativen Theologie Bruno Bauers, in: ZKG 78 [1967], 102–129, hier: 103). Zu letzterem Aspekt vgl. den zitierten Aufsatz

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Epilog

Bruno Bauer Parodistisch war auch die nachfolgende Schrift über „Hegels Lehre von Religion und Kunst vom Standpunkt des Glaubens aus beurteilt“ (Leipzig 1842) angelegt. Beide Texte Bauers, die unmittelbar nach der von ihm besorgten Zweitauflage der Hegel’schen Religionsphilosophie konzipiert worden sind, stellen entgegen dem Anschein, den sie sich geben, keine pietistisch-erweckungstheologisch motivierte Polemik, sondern „die Transformation der Bauerschen Hegelrezeption in seine Selbstbewusstseinstheorie dar“3 , die als spekulative Egologie zu bezeichnen ist. Recht und Notwendigkeit dieser Umwandlung aufzuzeigen und den Beweis zu erbringen, dass bereits Hegel selbst „die Bestimmungen des religiösen Bewußtseyns als die innere Bestimmtheit des Selbstbewußtseyns“ (163) verstehen und „die himmlischen Welt des religiösen Geistes in die innere des Selbstbewußtseyns“ (ebd.) auflösen wollte, ist das Ziel der spöttischen, gleichermaßen gegen Rechts- bzw. Althegelianer (vgl. 11ff.), spekulative Theisten wie I. H. Fichte oder Chr. H. Weisse (vgl. 15ff.) und „Schleiermacherianer“ (29) gerichteten Untersuchung. Die Pointe schon des Hegel’schen Systems sei die Überführung von Substanz- in Subjektivitätsverhältnisse und die Annahme gewesen, dass „das religiöse Verhältniß Nichts als ein inneres Verhältniß des Selbstbewußtseyns zu sich selber“ (48) sei.4

sowie ders., Dialektik, Selbstbewusstsein und Offenbarung. Die Grundlagen der spekulativen Orthodoxie Bruno Bauers in ihrem Zusammenhang mit der Geschichte der theologischen Hegelschule dargestellt, Bonn (Universitäts-Druck) 1965. 3 G. Lämmermann, ebd.; zu Bauer als Editor der Zweitauflage der Hegel’schen Religionsphilosophie und zu der durch seine Herausgebertätigkeit veranlassten selbstbewusstseinstheoretischen Neuorientierung nach 1842 vgl. a.a.O., 121ff. (281ff.) sowie 164ff. Zur Religionsphilosophie und Theologie Bauers vor der selbstbewusstseinstheoretisch-egologischen Wende und zu Modellen der Interpretation seines Werkes, dessen Programm er in den 30er und beginnenden 40er Jahren des 19. Jahrhunderts wiederholt revidierte, vgl. a.a.O., 79ff. sowie 11ff.; zur Kritik von Karl Marx und zur marxistischen Bauerauslegung vgl. 38ff. Lämmermann selbst kommt im Anschluss an Falk Wagner zur Auffassung, dass die Selbstbewusstseinstheorie Bauers, die Hegels Philosophie des Absoluten zu substituieren trachtete, „unter dem Mangel leidet, keine logisch-strukturelle Theorie der Selbstbegründung von Subjektivität zu haben, die an die Stelle der ursprünglich geforderten spekulativen Gotteslehre treten könnte“ (279). Aus diesem Defizit resultiere „der Eindruck der zeitgenössischen Kritiker Bauers, daß dieser das allgemeine Selbstbewußtsein auf eine unmittelbare Einzelheit und den individuellen Kritiker reduziert habe“ (ebd.). 4 Vgl. bes. B. Bauer, Posaune, 137ff.: „Die Religion als Product des Selbstbewußtseyns“ sowie 150ff.: „Auflösung des Christenthums“. „In der Trinität schaut sich das Selbstbewußtseyn im Element seiner reinen Allgemeinheit an“ (151), im Gottmenschen wird es sich in seiner Besonderheit vorstellig, um schließlich im Geist seiner Einzelheit als manifester Einheit von Allgemeinheit und Besonderheit gewahr zu werden.

Die Posaune des Jüngsten Gerichts

Marx und Engels Wer zum Spott zur apokalyptischen Posaune greift (vgl. Apk 1,10; 8,2) und zum Jüngsten Gericht bläst, wie Bruno Bauer das – unterstützt u. a. von seinem elf Jahre jüngeren Bruder Edgar – getan hat, braucht sich nicht zu wundern, wenn der Tag des Zorns beizeiten über ihn hereinbricht und er einem allgemeinen Hohngelächter preisgegeben wird. „Dies irae, dies illa / Solvet saeclum in favilla. / Iudex ergo cum sedebit, / Quidquid latet adparebit, / Nil inultum remanebit, / Quid sum miser tunc dicturus?“5 Mit diesem eschatologischen Donnerwort überzog Karl Marx in seiner sog. Kritik der kritischen Kritik Bruno Bauer und Konsorten, um mit der „Historische(n) Nachrede“ zu schließen: „Wie wir nachträglich erfahren haben, ist nicht die Welt, sondern die kritische ‚LiteraturZeitung‘ untergegangen.“ (MEW 2, 223) Bei dieser handelte es sich um das – lediglich vom Dezember 18436 bis Oktober 1844 am Leben erhaltene – Organ, um das sich die Gebrüder Bauer und ihre Anhänger gruppiert hatten. Mit dieser und den von ihnen in der „Allgemeinen Literaturzeitung“ publizierten Arbeiten rechnet Marx im Verein mit Engels unter dem scherzhaften Titel „Die heilige Familie“ ab. Die Schrift ist im Herbst 1844 geschrieben und Ende 1845 erstmals publiziert worden; „(i)m Inhaltsverzeichnis wurde angegeben, welche Kapitel von Marx und welche von Engels stammten“ (MEW 2, 654). Durchgängiger Gegenstand der Kritik ist die angeblich kritische, in Wahrheit aber nach Marxens Meinung höchst unkritische Kritik junghegelianischer Kreise und namentlich des Kreises um die beiden Bauerbrüder. Zwar sage das Sprichwort, dass die Feldarbeit besser vorangehe, wenn die Ochsen paar-

5 F. Engels/K. Marx, Die Heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Consorten, in: dies., Werke (= MEW). Bd. 2, 3–223, hier: 222. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Zur Publikationsgeschichte von MEW und derjenigen der Marx-Engelschen Gesamtausgabe (MEGA) vgl. M. Quante/D. Schweikard (Hg.), MarxHandbuch, Stuttgart 2016, 21–24; zu persönlichen Kontakten von Marx zu den sog. Jungbzw. Linkshegelianern und zu seiner Lebensgeschichte im Allgemeinen vgl. a.a.O., 1–20. Zum Thema Bauer und Marx vgl. Z. Rosen, Bruno Bauer and Karl Marx. The influence of Bruno Bauer on Marx’s Thought, The Hague 1977; ferner: L. Koch, Humanistischer Atheismus und gesellschaftliches Engagement. Bruno Bauers „Kritische Kritik“, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1971, bes. 63ff. Die Marxsche These, „Bauer sei nur ‚negativer‘ Kritiker“ (a.a.O., 19) gewesen, hat E. Barnikol, einer der Hauptinitiatoren der neueren Bauerforschung, auf seine Weise bestätigt (vgl. E. Barnikol, Das entdeckte Christentum im Vormärz. Bruno Bauers Kampf gegen Religion und Christentum und Erstausgabe seiner Kampfschrift, Jena 1927; ders., Bruno Bauer. Studien und Materialien. Aus dem Nachlass ausgewählt und zusammengestellt von P. Reimer u. H.-M. Sass, Assen 1972). 6 Vgl. MEW 2, 113: „Zählen wir nach der absoluten Zeitrechnung, nach der Geburt des kritischen Weltheilands, der Bauerschen ‚Literatur-Zeitung‘! Der kritische Welterlöser wurde geboren Anno 1843.“

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Epilog

weise gehen, doch im bäuerlichen Falle von Bruno und Edgar verhalte sich die Angelegenheit gegenteilig. In ihrer Kritik habe „der Unsinn der deutschen Spekulation überhaupt den Gipfelpunkt erreicht“ (MEW 2, 7). Was St. Bruno absolutes Selbstbewusstsein nenne, um selbst als dessen Inkarnationsgestalt aufzutreten (vgl. MEW 2, 82), stehe im Gegensatz zum wirklichen individuellen Menschen und sei als Widerspruch zu einem realen Humanismus zu werten, der „in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus“ (MEW 2,7) habe. Die Formulierung zeigt, dass die Kritik nicht nur gegen Bauer und Anhang, sondern gegen Hegel selbst gerichtet ist, dessen System und Geschichtsauffassung nach Urteil von Marx und Engels durch „Herrn Bruno“ (MEW 2, 89) zu „kritisch karikierte(r) Vollendung“ (ebd.) geführt worden sei.7 Reduktion des unendlichen auf das endliche Subjekt Für Pannenberg stellt sich das Verhältnis von Bauer zu Hegel in bestimmter Weise ähnlich dar wie für die Kritiker der kritischen Kritik. In seiner „Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland“ hat er St. Bruno einen eigenen Abschnitt gewidmet. Er ist mit dem Titel „Reduktion des unendlichen auf das endliche Subjekt“ 8 versehen. Bauer, so die Zentralthese, habe gemeint, „das individuelle Selbstbewusstsein als den Kern von Hegels Philosophie des Subjekts festhalten zu sollen“ (293). Schon in seiner „Kritik der Geschichte der Offenbarung“, die in ihrem 1838 in zwei Bänden erschienenen ersten Teil die, wie es im Untertitel hieß, „Religion des Alten Testaments in der geschichtlichen Entwicklung ihrer Prinzipien“ darzustellen suchte, habe er das Ziel des Weges göttlicher Selbsterschließung „in einer Verschmelzung

7 An dem „Verhältnis von ‚Geist und Masse‘“ (MEW 2, 89; vgl. auch MEW 2, 152ff.) wird die Kritik exemplifiziert: „Hegels Geschichtsauffassung setzt einen abstrakten und absoluten Geist voraus, der sich so entwickelt, daß die Menschheit nur eine Masse ist, die ihn unbewußter oder bewußter trägt. Innerhalb der empirischen, exoterischen Geschichte lässt er daher eine spekulative, esoterische Geschichte vorgehn. Die Geschichte der Menschheit verwandelt sich in die Geschichte des abstrakten, daher dem wirklichen Menschen jenseitigen Geistes der Menschheit.“ (MEW 2, 89f.; zum Feldzug der absoluten Kritik „Herrn Brunos & Comp.“ [MEW 2, 91] gegen die Masse vgl. MEW 2, 82ff.) Zu Phasen marxistischer Hegelrezeption im 20. Jahrhundert vgl. A. Arndt, Lenin liest Hegel, in: Th. Wyrwich (Hg.), Hegel in der neueren Philosophie, Hamburg 2011, 275–290, hier: 290. Mit Stalins Artikel „Über dialektischen und historischen Materialismus“ „war die Allianz der Marxschen Theorie mit Hegel aufgekündigt, welche die II. Internationale verdrängt, Lenin wiedergewonnen und die für einen historischen Augenblick Rußland und Westeuropa intellektuell einander näher gebracht hatte“. 8 W. Pannenberg, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland. Von Schleiermacher bis zu Barth und Tillich, Göttingen 1997, 293. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf.

Die Posaune des Jüngsten Gerichts

des göttlichen mit dem menschlichen Subjekt erblick(t)“ (294). Offenbarung sei der Zusammenschluss des Selbstbewusstseins Gottes mit dem subjektiven Geist des Menschen. In der Konsequenz dieser Grundannahme habe Bauer schließlich zur „Auflösung des göttlichen Subjekts in das menschliche Subjekt“ (ebd.) gelangen können: „Die Differenz von Gott und Mensch, die Vorstellung von Gott als verschieden gegenüber dem Menschen, erschien ihm als Ausdruck des noch nicht erfolgten Zusammenschlusses des göttlichen und des menschlichen Selbstbewußtseins. Insofern ist der vom Menschen verschiedene Gott ein ‚Produkt der religiösen Vorstellung‘, die auf der Verschiedenheit des Vorgestellten vom vorstellenden Subjekt beharrt.“ (294f.) Behoben ist die Verschiedenheit von Vorgestelltem und Vorstellung und mit ihr die Differenz von göttlichem und menschlichem Selbstbewusstsein nach Bauers Urteil im Neuen Testament bzw. in der durch dieses und ihr christologisches Zentrum vermittelten Erkenntnis vollzogener Aufhebung göttlicher in menschliche Subjektivität. In der 1841 in drei Bänden publizierten Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker wird diese Einsicht exemplifiziert. Die synoptischen Evangelien, aus deren Vergleich sich das markinische als ursprüngliche Quelle erweisen lasse, seien nicht von menschlichen Worten geschiedenes Gotteswort, sondern offenbares Zeugnis des zu sich gekommenen und mit sich einigen Selbstbewusstseins des Menschen. Als „der letzte Ursprung der evangelischen Geschichte“ (295) habe daher „das einzelne Selbstbewußtsein in Gestalt des Urevangelisten Markus“ (ebd.) zu gelten. Gott ist als Reflex des Ich erkannt und in dieses überführt. Gott als Ichreflex Bauers fortschreitende „Auflösung des absoluten Subjekts in das endliche Subjekt“ (296) ergab sich für ihn aus dem, was er für das rechte Verständnis Hegels hielt. Er war überzeugt, „daß das absolute Subjekt der Hegel’schen philosophischen Theologie nur Projektion, nur Spiegelbild des menschlichen Ich sei“ (ebd.). Dabei unterschlug er nach Pannenbergs Urteil, dass sich Hegel zufolge das endliche Ich negieren müsse, um sich zum unendlichen Selbstbewusstsein zu erheben und eins zu werden mit ihm. „Das Verhältnis des endlichen Subjekts zum unendlichen Subjekt ist“, so Pannenbergs Bauerkritik, „nicht wie bei Hegel durch die Negation seiner Endlichkeit und damit des endlichen Subjekts als solchen geprägt“ (294). Trotz und unbeschadet dieses kritischen Einwands ist Bauers Deutung der Hegel’schen Philosophie Pannenberg zufolge nicht einfach von außen herangetragen, sondern hat einen inneren Anhalt an ihr. Zwar sei Hegel weder ein Pantheist gewesen, wie manche Theologen ihm vorwarfen, noch ein Akosmist, der Gott und Welt im Sinne eines abstrakten Spinozismus gleichzusetzen gedachte; ausdrücklich habe er „das innertrinitarische Leben Gottes … von der Schöpfung der Welt und ihrer Versöhnung mit

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Epilog

Gott unterschieden“ (279). Dass er „die Wirklichkeit Gottes nicht einfach der geschöpflichen Welt“ (ebd.) entgegensetzen wollte, widerspreche dem nicht. Werde doch Gott „solange nicht als wahrhaft unendlich gedacht, wie er lediglich im Gegensatz zur Welt und nicht auch als diesen Gegensatz übergreifend gedacht wird. Ein solcher Gott wäre selber endlich; denn alles, was nur etwas ist im Unterschied von anderem, ist endlich, und es ist in seiner Unterschiedenheit zugleich abhängig von dem andern außer ihm, indem dieser Unterschied Bestimmungsgrund seiner eigenen Besonderheit ist.“ (Ebd.) Endliche Gedankenbestimmungen Zielen die gegen Hegels System erhobenen Pantheismus- bzw. Akosmismusvorwürfe nach Pannenbergs Urteil entschieden zu kurz, so sei die „Kritik daran, daß Hegel die Wirklichkeit Gottes als Prozeß einer Selbstentfaltung im Sinne der logischen Notwendigkeit menschlicher Denkvollzüge gedacht habe“ (282), sehr viel ernster zu nehmen. Zwar sollte nicht beanstandet werden, „daß Hegel überhaupt die Wirklichkeit Gottes im Medium des Gedankens zu erfassen suchte“ (ebd.). Ernsthaft zu beanstanden sei allerdings die Art, in der dies geschehen sei. „Es scheint nämlich, daß Hegel die Endlichkeit menschlicher Denkbestimmungen in die absolute Wirklichkeit Gottes hineingetragen hat, und in diesem Sinne wäre dann allerdings der Vorwurf berechtigt, daß Hegel Gott der menschlichen Erkenntnis, nämlich der endlichen Form des menschlichen Denkens unterworfen hat. Aus diesem Grunde vermag Hegels These einer notwendigen Selbstentfaltung des Absoluten der Kritik nicht standzuhalten.“ (283) Als Hauptbeleg für die Annahme, Hegel habe endliche Gedankenbestimmungen konstitutiv für das Verständnis göttlicher Wirklichkeit werden lassen, führt Pannenberg die nach seinem Urteil von Hegel vorgenommene und im Vollzug göttlicher Selbstentfaltung vorausgesetzte Bestimmung des Begriffs Gottes als absoluten Subjekts an. „Der Begriff des Subjekts ist bei Hegel identisch mit dem Begriff des Begriffs, dem höchsten Gedanken der Logik Hegels.“ (284) Nachgerade bei dieser Gleichsetzung handle es sich um einen zurecht zu kritisierenden Eintrag endlicher Gedankenbestimmungen in den Begriff des Unendlichen, des Absoluten, Gottes. In der unproblematischen Verbindung des Gottesbegriffs mit dem Begriff des Subjekts sei die Problematik von Hegels Gottesidee im Wesentlichen begründet.9 Diese Problematik sei im Zusammen9 Vgl. insgesamt a.a.O., 276ff., hier: 286: „Von dieser These der Strukturgleichheit von Begriff und Subjekt her, die Hegels Auffassung des Ich als des daseienden Begriffs begründete, wird zweierlei deutlich: Erstens ergibt sich nun als selbstverständlich, daß die Tätigkeit Gottes als Subjekt zu beschreiben ist als Selbstentfaltung des Begriffs des Absoluten. Daraus folgt zweitens, daß man Hegels Anschauung von der logisch notwendigen Selbstentfaltung Gottes aus seinem

Religionskritisches Purgatorium

hang der Bauerschen Hegelrezeption offen zutage getreten, wenngleich in Form einer Konzeption, die dem Hegel’schen System an konstruktiver Potenz auch nicht annähernd gleichkomme. 17.2

Religionskritisches Purgatorium

In ihrem „Gegen Bruno Bauer & Consorten“ gerichteten Pamphlet von 1845 „Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik“ haben Karl Marx und Friedrich Engels die Bauersche Rezeption von Hegels System als dessen Rückführung auf eine Egologie im Stile des frühen Fichte gekennzeichnet und sie derjenigen von David Friedrich Strauß kontrastiert, der Hegel auf den spinozistischen Standpunkt einer transsubjektiven Gattungssubstanz reduziert habe. „Der Kampf zwischen Strauß und Bauer über die Substanz und das Selbstbewußtsein ist ein Kampf innerhalb der Hegel’schen Spekulationen. In Hegel sind drei Elemente, die spinozistische Substanz, das Fichte’sche Selbstbewußtsein, die Hegel’sche notwendig-widerspruchsvolle Einheit von beiden, der absolute Geist. Das erste Element ist die metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Menschen, das zweite ist der metaphysisch travestierte Geist in der Trennung von der Natur, das dritte ist die metaphysisch travestierte Einheit von beiden, der wirkliche Mensch und die wirkliche Menschengattung.“ (MEW 2, 147; bei E. u. M. teilweise kursiv) Nachhegelscher Streit zwischen Spinoza und Fichte Was in Hegels System notdürftig verbunden gewesen sei, ist, so Marx im Verein mit Engels, bei seinen vermeintlich kritischen Schülern wieder auseinandergebrochen. „Strauß führt den Hegel auf spinozistischem Standpunkt, Bauer den Hegel auf Fichte’schem Standpunkt innerhalb des theologischen Gebietes konsequent durch. Beide kritisierten Hegel, insofern bei ihm jedes der beiden Elemente durch das andere verfälscht wird, während sie jedes derselben zu seiner einseitigen, also konsequenten Ausführung entwickelten. – Beide gehn daher in ihrer Kritik über Hegel hinaus, aber beide bleiben auch innerhalb seiner Spekulation stehen und repräsentieren jeder nur eine Seite seines Systems. Erst Feuerbach, der den Hegel auf Hegel’schem Standpunkt vollendete und kritisierte, indem er den metaphysischen absoluten Geist in den ‚wirklichen Menschen auf der Grundlage der Natur‘ auflöste, vollendete die Kritik der Religion, indem er zugleich zur Kritik der Hegel’schen Spekulation und daher

Begriff heraus nur dann sinnvoll kritisieren kann, wenn man zugleich seine Bestimmung Gottes als des absoluten Subjekts der Kritik unterzieht.“

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aller Metaphysik die großen und meisterhaften Grundzüge entwarf.“ (Ebd.; bei E. u. M. teilweise kursiv) Während Bauer und Strauß nach Urteil von Marx und Engels der Hegel’schen Spekulation verhaftet blieben und die Grundbestandteile des Systems abstrakt und je für sich in Geltung zu setzen suchten, was nur sehr bedingt einen Fortschritt über ihn hinaus darstelle, habe Feuerbach den Hegelianismus, aus welchem er herkam, im Grundsatz hinter sich gelassen und überwunden: „(W)er hat denn das Geheimnis des ‚Systems‘ aufgedeckt? Feuerbach. Wer hat die Dialektik der Begriffe, den Götterkrieg, den die Philosophen allein kannten, vernichtet? Feuerbach. Wer hat, zwar nicht ‚die Bedeutung des Menschen‘ – als ob der Mensch noch eine andere Bedeutung habe, als die, daß er Mensch ist! – aber doch ‚den Menschen‘ an die Stelle des alten Plunders, auch des ‚unendlichen Selbstbewußtseins‘, gesetzt? Feuerbach und nur Feuerbach.“ (MEW 2, 98; bei E. u. M. teilweise kursiv) Dass Pannenberg den Standpunkt, den Bruno Bauer in Bezug auf Hegels System einnimmt, vergleichbar beurteilt wie Marx und Engels wurde bereits vermerkt. Signifikante Unterschiede dürfen allerdings nicht übersehen werden. Sie betreffen zum geringeren Teil die Tatsache, dass Pannenberg den Standpunkt des frühen Fichte, auf den der Bauersche Hegelianismus sich gemäß Marx und Engels zurückzog, bei Hegel selbst unüberwunden virulent sieht. Dieser habe „Fichtes Subjektbegriff zwar dahin korrigiert, daß die Subjektivität des Ich sich nur durch seine Entäußerung an das andere seiner selbst, an das Nicht-Ich, realisiert, aber er hat Fichtes anfängliche These einer Selbstsetzung des Ich als solche beibehalten, während der späte Fichte damit über Hegel hinausweist, daß er diesen Gedanken als undurchführbar durchschaut hat“10 . Entscheidender als der von Pannenberg nicht nur im Hinblick auf Bauer, sondern auf Hegel selbst konstatierte Frühfichteanismus ist seine Abwehr des Versuchs von Marx und Engels, Feuerbach zum Überwinder nicht nur des Bauer-StraußschenKonflikts, sondern des Hegelianismus überhaupt zu verklären, um ihn so zum Vorläufer bzw. zum transitorischen Moment ihrer eigenen Auffassung zu stilisieren: Feuerbach habe die abstrakte Idee von Menschheit und Menschen in diejenige konkreter menschlicher Existenz verwandelt und an die Stelle der

10 A.a.O., 289. „Hegels Festhalten am Gedanken der Selbstsetzung des Subjekts muß somit als Schranke der Philosophie Hegels und insbesondere seines Gottesgedankens beurteilt werden. Die These der Selbstentfaltung des Subjekts versucht, die einzelnen Momente des Selbstbewußtseins – das Ich, das Selbst, in welchem das Ich sich gegenständlich ist, und die Einheit beider – auseinander verständlich zu machen oder vielmehr aus dem Ich durch dessen Selbstsetzung herzuleiten. Dieses Verfahren ist schon für das Verständnis des menschlichen Selbstbewußtseins nicht erfolgreich gewesen. Wie sollte es dann zur Klärung des Gottesgedankens, nämlich für das Verständnis des trinitarischen Lebens Gottes hilfreich sein?“ (Ebd.)

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metaphysisch-theologischen Projektion eines unendlichen Selbstbewusstseins von individueller Art oder gattungsallgemeiner Substanz den natürlichen Menschen gesetzt. Auch wenn er damit nur einen Schritt in die richtige Richtung getan habe, weil Ideen „nie über einen alten Weltzustand, sondern immer nur über die Ideen des alten Weltzustandes hinausführen“ (MEW 2, 126) können, so sei dieser doch Bauer und Strauß gegenüber als echter Fortschritt zu würdigen und das umso mehr, als Feuerbach seine Denkungsart im Unterschied zu den beiden Vorgenannten von allen religiösen Restbeständen befreit habe. Pannenberg, wie gesagt, teilt dieses Urteil nicht, sondern widerspricht ihm entschieden. Weder habe Feuerbach die Religion durch seine radikal-genetische Erklärung theoretisch aufgelöst und zum Verschwinden gebracht, noch über die von Strauß eingenommene Position prinzipiell hinausgeführt, die vielmehr von ihm auf seine Weise reproduziert worden sei. David Friedrich Strauß D. F. Strauß ist bereits in verhältnismäßig jungen Jahren zu Berühmtheit gelangt, nämlich durch sein „Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ von 1835/36. Das Erscheinen des Buches, das die Entlassung des Autors aus dem Kirchendienst bewirkte, bestimmte „für viele Jahre die theologische Diskussion … und (avancierte) zu einem der am meisten gelesenen theologischen Bücher“11 . Ausgehend von dem für seine Hegelrezeption zentralen Problem der Verhältnisbestimmung des Prozesses der Selbstexplikation des Absoluten zur historischen Realgeschichte und demjenigen des Bezugs des philosophischen Begriffs zur religiösen Vorstellung gelangte Strauß zu der Auffassung, dass die von Hegel in Aufnahme der theologischen Lehrtradition philosophisch in Anschlag gebrachte gottmenschliche Einheit nicht im historischen Individuum Jesus von Nazareth,

11 Th. K. Kuhn, Art. Strauß, David Friedrich (1808–1874), in: TRE 32, 241–246, hier: 242. Die biographischen Arbeiten über Hutten, Schubart, Märklin, Klopstock und Voltaire finden sich in den Schlussbänden VII–IX der Gesammelten Schriften von David Friedrich Strauß. Nach des Verfassers letztwilligen Bestimmungen zusammengestellt, eingeleitet und mit erklärenden Nachweisungen versehen von E. Zeller, Bonn 1876f. Im Jahr 1839 erhielt Strauß einen Ruf nach Zürich. Er konnte die Stelle aber wegen einer blutigen Revolte, dem sog. Züri-Putsch, nicht antreten. Zu den genaueren Umständen vgl. etwa E. Zopfi, Zürichs „Heiliger Krieg“ von 1839. Eine historische Reportage, in: W. Zager (Hg.), Führt Wahrhaftigkeit zum Unglauben? David Friedrich Strauß als Theologe und Philosoph, Neukirchen 2008, 211–220. Das Erscheinen von Feuerbachs „Wesen des Christentums“ war ein entscheidender Grund dafür, warum im Unterschied zu seinem „Leben Jesu“ das öffentliche Echo auf die beiden Bände seiner Glaubenslehre gering blieb. Zur Frage, warum sich Strauß trotz vergleichbarer Auffassungen etwa in gattungschristologischer Hinsicht „nicht der radikalen Religionskritik Feuerbachs angeschlossen“ hat, vgl. B. Hildebrandt, David Friedrich Strauß als systematischer Theologe. Zum Anliegen seiner „Glaubenslehre“, in: W. Zager (Hg.), a.a.O., 13–36, hier: 32.

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dem lediglich die Funktion einer Erkenntnisinitiierung zukomme, sondern in der Menschheitsgattung realisiert bzw. zu verwirklichen sei. Entsprechend wird in der knappen, aber systematisch höchst bedeutsamen „Schlußabhandlung“ resümiert, es sei gar nicht die Art, wie die Idee sich realisiere, in ein Exemplar ihre ganze Fülle auszuschütten, da sich ihre Verwirklichung vielmehr im Modus wechselnder und sich ergänzender individueller Mannigfaltigkeit der Gattung Mensch vollziehe. An dieses Ergebnis schließt die 1840/41 in zwei Bänden erschienene „Christliche Glaubenslehre“ an, als deren Vorarbeit sich Straußens „Leben Jesu“ zu verstehen gibt.12 Gattungschristologie Die christologische Idee der Einheit Gottes und des Menschen, wie sie für die traditionelle christliche Theologie und die Hegel’sche Religionsphilosophie bei allen Unterschieden gleichermaßen bestimmend sei, offenbart sich nach Strauß realiter in keinem Einzelmenschen, dessen individuelle Begrenztheit eine vollkommene Selbsterschließung des Absoluten in ihm unmöglich mache, sondern in der menschlichen Gattung. Entsprechend seien „die Sätze der Christologie auf die Menschheit im ganzen zu beziehen“13 . Im Zuge dieser Auffassung, die bei ihm bereits in den frühen 30er Jahren zu konstatieren sei, hat Strauß Pannenberg zufolge – anders als der ihm nahestehende Ferdinand Christian Baur und im Widerspruch auch zu Aussagen Hegels – die Idee gottmenschlicher Einheit und ihrer Realisierung vom Individuum Jesus abgehoben, dessen Geschichte ein kollektiver Mythos sei, und das christologische Subjekt

12 Vgl. im Einzelnen F. W. Graf, Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich Strauß als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982. Graf erörtert die Selbstkonstitution der Strauß’schen Position durch den Aufbau des Begriffs der kritisch-spekulativen Dogmatik und deren thematische Explikation, wie sie in dem Werk „Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft“ von 1840/41 vorgenommen werde. Konzipiert sei Straußens Dogmatik, auf die als ihren Skopus das publikumswirksame „Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ von 1835 hingeordnet sei (vgl. 211ff.), als Phänomenologie des dogmatischen Bewusstseins (vgl. 367ff.); zu den programmatischen Debatten um Stellung und Sinn der Hegel’schen Phänomenologie des Geistes in diesem Kontext vgl. 73ff.: „Mit der These von der phänomenologischen Gestaltung der Dogmatik bleibt Strauß seinem propädeutischen Verständnis der Hegel’schen ‚Phänomenologie‘ verpflichtet.“ (405) Zu Grafs Kritik an diesem Konzept vgl. bes. 414ff.: „Indem er zur Beschreibung der kritischen Vermittlung der Dogmatik auf das in der philosophischen Phänomenologie erzeugte ‚absolute Wissen‘ gegenständlich Bezug nimmt, unterläuft er sein eigenes Programm einer Konstitution der Spekulation durch Kritik und Kritikkritik.“ (421; zu Äquivokationen im Spekulationsbegriff von Strauß vgl. 492ff.) 13 W. Pannenberg, Problemgeschichte, 299. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf; zur Genese der Strauß’schen Auffassung und zu ihrem Verhältnis zu derjenigen Ferdinand Christian Baurs und Hegel selbst vgl. im Einzelnen a.a.O., 296ff.

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mit der Menschheit als Gattung gleichgesetzt. „Und sowenig das menschliche Individuum dieser gottmenschlichen Menschheit gegenüber eigene Bedeutung behalten konnte, ebensowenig konnte Strauß am Gedanken Gottes als von der Menschheit unterschiedenem Subjekt festhalten: Er bekannte sich daher 1840 in seiner Glaubenslehre zu der These, daß Gott erst in der Menschheit zum Bewußtsein seiner selbst gelange, und meinte den Gedanken eines persönlichen Gottes mit dem frühen Fichte als Projektion der beschränkten individuellen Daseinsweise des einzelnen Menschen in die Unendlichkeit Gottes entlarven zu müssen.“ (303) Im Ergebnis sei er so mit der Auffassung übereingekommen, die Ludwig Feuerbach in seinem fast zeitgleich mit Straußens „Christlicher Glaubenslehre“ erschienenen Werk über „Das Wesen des Christentums“ von 1841 entwickelt habe. Pannenberg bestreitet, wie schon erwähnt, die von Marx und Engels vertretene Annahme, wonach Feuerbach die durch Bruno Bauer und David Friedrich Strauß repräsentierte Antithese in der Hegelrezeption synthetisiert, behoben und damit über die Hegel’sche Religionsphilosophie grundsätzlich hinausgeführt habe. Er sieht die Feuerbach’sche Konzeption prinzipiell auf einer Linie mit der Strauß’schen und beurteilt diese wie jene Hegel gegenüber weniger als Fortschritt denn als Rückschritt. Zuerkannt wird Feuerbach allerdings der – ambivalente – Vorzug, die Entwicklung hin „zur Auflösung der Hegel’schen These vom Subjektsein Gottes und zu ihrer Ersetzung durch die Idee der Menschheit“ (302) „am geradlinigsten“ (ebd.) und „in klassischer Weise“ (303) vollzogen zu haben. Im Wesentlichen aus diesem Grund wird Feuerbach ein Sonderstatus in den Reihen der sog. linkshegelianischen Religionskritiker eingeräumt. In Pannenbergs „Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland“ führt er die Front des „Junghegelianismus“ (290) an, und in der Monographie „Theologie und Philosophie“ wird er unter den philosophischen Neuansätzen in der Ablösung von Hegel als erster behandelt und zwar im Unterschied zu Bauer und Strauß in einem eigenen Abschnitt14 , der mit knappen Bemerkungen zur Rezeption und Modifikation von Feuerbachs Gedanken einer der menschlichen Gattung eigenen Unendlichkeit in den Frühschriften von Karl Marx endet. Unendlichkeit des Kollektivs Schon in seiner Erlanger Dissertation von 1828 „De ratione una, universali, infinita“ habe Feuerbach, so Pannenberg, „die Überordnung der Gattung über die Individuen verfochten, wenn auch noch unter idealistischem Vorzeichen.

14 Vgl. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte, Göttingen 1996, 302ff.

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Dieses Vorzeichen änderte sich seit den ‚Gedanken über Tod und Unsterblichkeit‘ von 1830. Die naturalistisch gewendete Vorstellung von der Unendlichkeit der menschlichen Gattung wurde zur Grundlage der Religionskritik von 1841, deutlicher noch im ‚Wesen der Religion‘ von 1849. Inzwischen hatte Feuerbach sich in seinen ‚Grundsätzen zur Philosophie der Zukunft‘ von 1843 zu einem Naturpantheismus weiterentwickelt, dessen Basis aber immer die Anthropologie des Menschen als eines durch seine Leiblichkeit bestimmten Wesens blieb.“15 Feuerbach ist nach Pannenbergs Urteil der klassische Protagonist eines dezidiert religionskritischen Vollzugs der Wendung zur Anthropologie, die zur Signatur der nachhegelschen Philosophie geworden sei. Durch ihn werde „die Ersetzung Gottes durch den Menschen zum Programm“16 , wobei ihm als das wahrhaft Unendliche und Absolute die kollektive Menschheitsgattung galt, in die (und vermittels derer in eine allumfassende Natur) der individuelle Einzelmensch aufzuheben sei. Im Bewusstsein des Unendlichen, welches die Religion ihrem allgemeinen Begriff nach sei, werde dem Menschen die Unendlichkeit seiner selbst vorstellig, zwar nicht qua Individuum, wohl aber als Gattung. Sie, die Menschheitsgattung, komme im religiösen Bewusstsein, welches im Unterschied zu dem auf äußere Weltgegenstände bezogenen sinnlichen Bewusstsein sich selbst Gegenstand werde, zum Bewusstsein ihrer selbst. Werde dies erkannt, verflüchtige sich die religiöse Form von selbst und als wahrer Inhalt der Religion trete zutage, was Feuerbach naturgemäße Humanität nenne.17 Prototypischer Atheist Gemäß Pannenbergs Urteil, zu dem er schon früh gelangt ist, repräsentiert Feuerbachs „genetische Theorie der Religion“18 die prototypische Gestalt eines „vollendeten Atheismus“19 modernitätsspezifischer Prägung. Eine Theologie, die unter neuzeitlichen Bedingungen Bestand haben wolle, müsse deshalb vorzugsweise die Auseinandersetzung mit Feuerbach suchen und das religionskritische Purgatorium durchschreiten, welches sein Werk bereite. Wiederholt 15 A.a.O., 303. 16 A.a.O., 295. Kritisch gegenüber Pannenbergs Unterscheidung der Hegel’schen Rede von Gott als Wesen des Menschen von der gleichlautenden Formulierung Feuerbachs äußert sich J. C. Janowski, Der Mensch als Maß. Untersuchungen zum Grundgedanken und zur Struktur von Ludwig Feuerbachs Werk, Gütersloh 1980, 336 Anm. 153. 17 Vgl. G. Wenz, Graf Feuerbach und der Tod. Zur Kritik der dogmatischen Religionskritik Barths, in: ZDTh 11 (1995), 157–189. 18 W. Pannenberg, Typen des Atheismus und ihre theologische Bedeutung (1963), in: ders., Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 2 1971, 347–360, hier: 348. 19 Ebd.

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schärft Pannenberg die sachliche Notwendigkeit dieser Unternehmung ein, die für die Anlage seines eigenen Werkes kennzeichnend ist. So wird beispielsweise in den „Grundzügen der Christologie“, der ersten Monographie nach der Programmschrift „Offenbarung als Geschichte“, die Problematik des verbreiteten soteriologischen Ansatzes der Christologie mit dem Hinweis unterstrichen, er sei schlecht gegen religionskritische Einwände gewappnet. Wenn die Christologie zu einer Funktion der Soteriologie erklärt werde, dann sei man „nicht sehr weit von der These Feuerbachs entfernt, daß alle religiösen Vorstellungen nur Projektionen menschlicher Nöte und Wünsche in eine imaginäre Überwelt seien“20 . Eine Vielzahl vergleichbarer kritischer Vorbehalte Pannenbergs lässt sich bis hin zum opus magnum geltend machen, für dessen konstruktive Gestaltung sie entscheidend sind, wie noch am Begründungsproblem eschatologischer Aussagen am Ende des dritten Bandes der Systematischen Theologie zu erkennen ist. Dort wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen der nach Pannenbergs Urteil den futurischen Charakter der Eschatologie unterbestimmenden „Hegel’schen These der Gegenwart des Absoluten“21 und der Feuerbach’schen Charakterisierung von „Unsterblichkeitsvorstellung und Auferstehungsglauben als Ausdruck des exzessiven Egoismus der Individuen“22 , die ein wesentliches Motiv seiner gattungstheoretischen Religionskritik darstelle. Kurzum: Die Auseinandersetzung mit Feuerbach ist prägend für Pannenbergs Gesamtwerk und in Kritik und Konstruktion weichenstellend nicht zuletzt für seine Hegelrezeption. Es liegt daher nahe, die Studie zu Pannenberg und Hegel mit einem Feuerbach’schen Epilog zu beenden. 17.3

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Die Voraussetzung aller Kritik sei die Kritik der Religion, schrieb Karl Marx zu Beginn seiner um die Jahreswende 1843/44 entstandenen Einleitung zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie (vgl. MEW 1, 378–391, hier: 378); die Religionskritik aber könne für Deutschland im Wesentlichen als beendet erachtet werden. Zu danken habe man dies neben anderen sog. Jung- bzw. Linkshegelianern, wie etwa David Friedrich Strauß, vor allem Ludwig Feuerbach.23 Die Devise lautet: „ (E)s gibt keinen anderen Weg für euch zur Wahrheit 20 21 22 23

W. Pannenberg, Grundzüge der Christologie, Gütersloh 2 1966, 41f. Ders., Systematische Theologie. Bd. III, Göttingen 1993, 575. Ebd. Die Spaltung der Hegelschule in sog. Alt- bzw. Rechts- und sog. Jung- bzw. Linkshegelianer hat von einem Schulstreit um die Verhältnisbestimmung von Religion und Philosophie ihren

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und Freiheit, als durch den Feuer-bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium der Gegenwart.“ (MEW 1, 27)24 Zwar dürfe man im Feuerbach’schen Purgatorium nicht verweilen, sondern müsse durch es hindurch zu paradiesischen Gefilden fortschreiten und zwar auf religions- und gesellschaftskritischen Wegen, wie Marx sie in seinen „Thesen über Feuerbach“25 weise. Als ein aufzuhebendes

Ausgang genommen, sich dann aber auf die Felder von Politik, Gesellschaft und Ökonomie ausgeweitet. Zur Soziologie der Gruppe der Linkshegelianer als einer philosophischen Schule, politischen Partei, journalistischen Boheme und atheistischen Sekte im Kontext des Vormärz vgl. W. Eßbach, Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuellengruppe, München 1988. Eßbachs Untersuchung ist auf die Gruppe der preußischen Junghegelianer konzentriert, während vergleichbare Kreise im Schwäbischen oder in der Schweiz nur am Rande in Betracht kommen. Die fast ausschließlich schriftlichen Kontakte Feuerbachs zu den Berliner Junghegelianer-Kreisen wurden im Wesentlichen durch A. Ruge vermittelt; hierzu und zur kontroversen Beurteilung der Bedeutung Feuerbachs für die junghegelianische Bewegung vgl. 40ff. sowie 52ff. Einig war die Schule in der Forderung nach praktischer Ausrichtung und aktueller Realisierung philosophischer Einsicht (zur Philosophie des Lebens bei Feuerbach vgl. a.a.O., 169ff.). Ihre tendenzielle Politisierung war von daher nur folgerichtig, wobei sich die Gruppierung soziologisch geurteilt in einem Zwischenraum bewegte: „Die Junghegelianer sind nicht mehr eine philosophische Schule, aber noch nicht eine politische Organisation oder Partei.“ (165) Als die Parolen von der Philosophie, die Partei macht, schärferes Profil gewannen, kam es zur Spaltung: „Gingen die philosophischen Fraktionen des Schulzusammenhangs vom akademischen Raum aus und operierten nach Maßgabe einer Dialektik der Extreme, so beziehen sich die neuen Spaltungen auf differierende pragmatisch-politische Erfahrungshorizonte. Sicher hat die staatliche Repressionspolitik, die im Verbot der Zeitungen gipfelte, die den Junghegelianern als Plattform dienten, die Spaltung der Gruppe beschleunigt. Tiefergehend war jedoch die Frage, inwieweit sich die Partei der Junghegelianer im praktischen Bündnis mit der liberalen Opposition kompromißbereit zeigen konnte und ein taktisch-politisches Verhalten hinzuzugewinnen vermochte.“ (214). Intern umstritten war im Kreis nicht nur das Problem der politischen Positionierung und Strategie, sondern mehr noch die Selbstdefinition einiger als journalistische Boheme und als akademische Sekte (vgl. dazu im Einzelnen a.a.O., 249ff. sowie 339ff.). 24 Der Titel der zitierten Schrift lautet: „Luther als Schiedsrichter zwischen Strauß und Feuerbach“ (MEW 1, 26f.). Hierzu und zu den „Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publicistik“ vgl. M. Quante / D. Schweikard (Hg.), Marx-Handbuch, 8. 25 Sie sind in MEW 3 dem „zwischen Ende 1845 und Mitte 1846 von Marx und Engels verfasst(en)“ (M. Quante/D. Schweikard [Hg.], a.a.O., 51), aber nicht publizierten Textkonvolut der „Deutschen Ideologie“ vorangestellt (MEW 3, 5–7), zu dem sie ursprünglich nicht gehörten. Bei der „Deutschen Ideologie“ handelt es sich „um eine Sammlung von Texten, mit denen Marx und Engels sich ihrer eigenen intellektuellen Standpunkte im Rahmen der Diskussionen des Vormärz – insbesondere ihres Verhältnisses zu den Linkshegelianern – versicherten (vgl. MEW 13,10 und MEW 3, 547f.).“ (Ebd. Zu den Inhalten, Kontexten und Deutungen des Konvoluts vgl. H. Blum (Hg.), Die deutsche Ideologie, Berlin 2010; Zum Ort der Feuerbachthesen a.a.O., 9–12 sowie 25–40. Zu Marx‘ „Thesen über Feuerbach“ und ihrer Vorgeschichte vgl. im Einzelnen W. Schuffenhauer, Feuerbach und der junge Marx. Zur Entstehungsgeschichte der marxistischen Weltanschauung, Berlin 1972.

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Moment der weiteren Entwicklung aber bleibe die Religionskritik Feuerbachs gleichwohl in hohem Maße bedeutsam und als Voraussetzung aller Kritik schlechterdings unhintergehbar.26 Voraussetzung aller Kritik Voraussetzung aller Kritik ist die Feuerbach’sche Religionskritik: Auch wer weder ihre Ergebnisse noch die Folgerungen, die Marx aus ihr gezogen hat, zu teilen gewillt ist, sondern die Kritik der Religion, wie Feuerbach sie übte, ablehnt, wird der Annahme, dass sie die Prämisse aller weiteren Kritik darstellt, ein Wahrheitsmoment jedenfalls insofern zuzuerkennen haben, als sich jeder Versuch einer Kritik der Religionskritik vorzugsweise mit der Feuerbach’schen auseinanderzusetzen hat. Dies gilt umso mehr, als die Religionskritik Feuerbachs den paradigmatischen Fall einer sog. radikal-genetischen darstellt, die mit der Rekonstruktion der Genese des religiösen Bewusstseins den unmittelbaren Anspruch seiner Überwindung verbindet. Religiöse Kritik der Religion gehört zu deren Wesen und ist so alt, wie diese selbst; als neuzeitspezifisch hingegen hat der Versuch zu gelten, durch Religionskritik den Gegenstand der Kritik konstruktiv aufzuheben und in Nichtreligion zu verwandeln. Implizit vorausgesetzt ist für diese Unternehmung ein Funktionswandel des Begriffs der Religion, wie er sich in der Moderne analog auch bezüglich des Begriffs des Christentums oder etwa des Protestantismusbegriffs vollzogen hat. Der Begriff des Protestantismus hat zwar einen Anhalt am 16. Jahrhundert, nämlich an der Speyerer Protestation; er ist aber erst im postkonfessionalistischen Zeitalter zu einem Terminus geworden, der die Bekenntnisdifferenzen der 26 Nach Urteil von Marx, von dem der Inhalt, wenn auch nicht der Titel der „Thesen über Feuerbach“ stammt, habe sich dieser mit dem „abstrakten Denken“ (These 5), dem nicht zuletzt die Hegel’sche Spekulation zuzurechnen sei, zurecht nicht zufrieden gegeben und vom Standpunkt eines, wie es heißt (These 9), „anschauende(n) Materialismus“ die Religion als Projektion kritisiert. Allerdings beruhe Feuerbachs Materialismus selbst auf einer Abstraktion, sofern er die Sinnlichkeit „nicht als praktische Tätigkeit“ (These 9; vgl. These 5) begreife und das Menschenwesen, in das er das religiöse Wesen aufzulösen gedenke, in Form abstrakter, die Individuen lediglich „natürlich“ (These 6) umgreifender Gattungsallgemeinheit und nicht als „das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (ebd.) verstehe, das es in Wirklichkeit sei. „Feuerbach geht von dem Faktum der religiösen Selbstentfremdung, der Verdoppelung der Welt in eine religiöse und ein weltliche aus. Seine Arbeit besteht darin, die religiöse Welt in ihre weltliche Grundlage aufzulösen. Aber daß die weltliche Grundlage sich von sich selbst abhebt und sich ein selbständiges Reich in den Wolken fixiert, ist nur aus der Selbstzerrissenheit und Sichselbstwidersprechen dieser weltlichen Grundlage zu erklären. Diese selbst muß also in sich selbst sowohl in ihrem Widerspruch verstanden als praktisch revolutioniert werden.“ (These 4) Die Reihe der Thesen schließt mit der berühmten elften: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.“ Die Kritik des Himmels habe sich entsprechend in eine Kritik der irdischen Verhältnisse zu verwandeln.

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aus der Reformation hervorgegangenen Kirchentümer umgreift. Entsprechend erstreckt sich der moderne Christentumsbegriff auf ein die Denominationen übergreifendes christliches Wesen, welches zu thematisieren u. a. Aufgabe einer eigens dafür ausgebildeten Literaturgattung wird, zu der auch Feuerbachs „Wesen des Christentums“ gehört. Der Begriff mit der umfangreichsten Reichweite wird schließlich derjenige der Religion, für dessen neuzeitspezifische Verwendung zugesteigerte Generalisierung charakteristisch ist. Die Beantwortung der Frage, was Religion in ihrer alle sog. religiösen Phänomene umgreifenden Allgemeinheit sei, wird einer entsprechenden Wesensliteratur aufgetragen, welche nun nicht mehr nur das Wesen des Protestantismus, des Christentums, des Judentums oder des Islams, sondern das Wesen der Religion überhaupt zu thematisieren hat. Dass Feuerbach neben seiner Schrift über „Das Wesen des Christentums“ auch eine solche über „Das Wesen der Religion“ vorgelegt hat, liegt in der Konsequenz dieser Entwicklungen und ist eine notwendige Folge seiner radikal-genetischen Religionskritik. Ob und inwiefern sein Begriff vom Wesen des Menschen den anderen Wesensbegriffen korrespondiert und an ihrer Generalisierungstendenz Anteil hat, wird zu prüfen sein. Hauptsächlich muss es dabei um die Frage gehen, wie das Verhältnis menschlicher Gattungsallgemeinheit zum Einzelmenschen, die Wesensnatur der Menschheit zum Individuum in seiner Besonderheit und schließlich die Natur generell zum eigentümlichen Menschenwesen zu bestimmen ist.27 Generalisierungstrend Wolfhart Pannenberg meinte, eine problematische Tendenz zur Prädominanz des Allgemeinen dem Besonderen gegenüber bereits in Feuerbachs lateinisch verfasster akademischer Qualifikationsschrift „De ratione, una, universali, infinita“28 von 1828 erkennen zu können. In ihr werde „die Göttlichkeit der 27 Zur philosophischen Religionskritik vor und nach Feuerbach vgl. meinen Artikel Religionskritik I. Philosophisch, in: TRE 28, 687–693. Ferner: G. Wenz, Religionskritik II. Theologisch, in: a.a.O., 693–699. Dort finden sich auch weiterführende Literaturhinweise. 28 Vgl. L. Feuerbach, Gesammelte Werke. Hg. v. W. Schuffenhauer (= GW). Bd. 1: Frühe Schriften, Kritiken und Reflexionen (1828–1834), Berlin 1981, 1–173. „Die Bedeutung dieser Schrift (sc. Gedanken über Tod und Unsterblichkeit) für Feuerbachs Entwicklung kann kaum überschätzt werden. In ihr findet sich in nuce bereits die ganze spätere Religionskritik und Anthropologie …“ (P. Cornehl, Feuerbach und die Naturphilosophie. Zur Genese der Anthropologie und Religionskritik des jungen Feuerbach, in: NZSTh 11 [1969], 37–93, hier: 50f.) Zur Entstehungsgeschichte der Schrift und ihrer in Paralleldruck beigegebenen deutschen Übersetzung vgl. GW 1, LIV–LXI. Näheres zur Erlanger Promotion und Habilitation Feuerbachs findet sich im Vorwort W. Schuffenhauers zum ersten Band der von ihm herausgegebenen Gesammelten Werke (GW1, VII–LI). Geboten wird ein Überblick über Biografie und Werkgeschichte Feuerbachs aus der Perspektive des damals (1981) noch real existierenden DDR-Sozialismus. Entsprechend ausführlich wird auf die Feuerbachrezeption und -kritik von Marx, Engels und

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einen und allgemeinen Vernunft im Gegensatz zu den Individuen behauptet“29 . Dieser Generalisierungstrend vollende sich in „Feuerbachs Aufhebung des Individuums in die Natur“30 , wie sie in späteren Schriften vollzogen werde. Mit der Selbsteinschätzung des Philosophen und Religionskritikers stimmt diese Auffassung insofern überein, als auch dieser „Ansatzpunkte seiner späteren Entwicklung“31 als von Anfang an gegeben ansah. Ein zwanzig Jahre nach dem Erstlingswerk erfolgter Rückblick auf seine seitherige Entwicklung bestätigte ihm die Richtigkeit dieser Annahme. Vorgenommen hat er ihn in dem berühmten Heidelberger Kolleg am Ende des Revolutionsjahres 1848, dem u. a. der Schweizer Dichter Gottfried Keller beiwohnte. Ab dem 1. Dezember 1848 hielt der inzwischen zu Berühmtheit gelangte Feuerbach im Rathaus von Heidelberg „auf Veranlassung dortiger Studenten, jedoch vor einem gemischten Publikum“ (GW 6,3), an drei Abenden jeder Woche dreißig Vorlesungen über „Das Wesen der Religion“ und zwar auf der Basis seiner 1845 entstandenen, 1846 veröffentlichten (GW 10, 3–79) und noch im selben Jahr mit Ergänzungen und Erläuterungen versehenen (GW 10, 80–121) Abhandlung zum selben Thema. Die Heidelberger Kollegreihe endete am 2. März 1849 und wurde bald darauf nebst Zusätzen und Anmerkungen (GW 6, 321–403) in den Druck gegeben (GW 6, 7–320). In einem auf den 1. Januar 1851 datierten Vorwort vermerkte Feuerbach, „daß diese Vorlesungen meine einzigen öffentlichen Tätigkeitsäußerungen in der sogenannten Revolutionszeit gewesen sind“ (GW 6,4). Im Übrigen verwahrt er sich dagegen, dass sein „Wesen“ „mit dem Wesen der Märzrevolution in Verbindung“ (GW 6,5) gebracht werde, da diese „überhaupt noch ein, wenn auch illegitimes, Kind des christlichen Glaubens“ (ebd.) gewesen sei. Gedanken über Tod und Unsterblichkeit Feuerbach begann sein Heidelberger Kolleg mit einer „kurze(n) Übersicht über (s)eine sämtlichen literarischen Arbeiten“ (GW 6, 11), die er in den beiden ersten Vorlesungen darbot.32 In einem Paul Johann Anselm von Feuerbach und

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Lenin Bezug genommen. Zu den Vorläuferausgaben der GW vgl. GW 1, XXXff. Über „Die Jugendentwicklung Ludwig Feuerbachs bis zum Fakultätswechsel 1825“ informiert U. Schotts gleichnamiger „Beitrag zur Genese der Feuerbachschen Religionskritik“, Göttingen 1973. W. Pannenberg, Theologie und Philosophie, 302. Ders., Problemgeschichte, 290 (bei P. als Abschnittsüberschrift kursiv). Ebd. Vgl. dazu auch die „Fragmente zur Charakteristik meines philosophischen curriculum vitae“ von 1846 in GW 10, 151–180, die mit der Bemerkung schließen: „Einst war das Denken Zweck des Lebens, aber jetzt ist mir das Leben Zweck des Denkens.“ (GW 10, 180) Zum Zusammenhang seiner Schriften, wie er sich ihm selbst darstellt, vgl. ferner das 1845 abgefasste Vorwort zum ersten, 1846 veröffentlichten Band der Erstedition seiner Werke. (GW 10,

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seinen fünf Söhnen (Anselm, Karl, Eduard, Ludwig, Friedrich) gewidmeten Lexikonartikel33 , der einige Monate vorher verfasst und 1847 anonym veröffentlicht wurde, hatte der Religionsphilosoph sein Wirken in drei, sich zum Teil überlagernde Perioden eingeteilt, nämlich in eine historische, in eine kritische und in eine „positive oder produktive“ (GW 10, 331). Begonnen habe er seine selbständige Schriftstellerlaufbahn 1830 mit seinen, wie es heißt, „namen- und formlosen, aber durch ihre titanische Genialität und übersprudelnde Bilderfülle ausgezeichneten ‚Gedanken über Tod und Unsterblichkeit‘“ (GW 10, 330)34 . „Nachdem er“, so heißt es weiter, „in dem Lavastrom dieser Schrift sein Jugendfeuer ausgetobt hatte und in den Xenien seiner eigenen spätern philosophischen Entwicklung in kühnen Sätzen poetisch vorausgeeilt war, ging er, statt vorwärts, zurück auf die Geschichte der Philosophie“ (ebd.), um im Durchgang durch

181–190, hier: 189: „Wer von mir nichts weiter sagt und weiß als: Ich bin Atheist, der sagt und weiß so viel von mir als wie nichts.“) 33 Vgl. dazu auch: Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken veröffentlicht von seinem Sohne Ludwig Feuerbach (GW 12). Es handelt sich bei dem Werk im wesentlichen um die Edition von Briefen und Nachlassschriften Feuerbachs d. Ä. Zu Ludwig Feuerbachs eigenem handschriftlichen Nachlass, zu dessen Beständen sowie zur Geschichte seiner Wiederauffindung in der Münchener Universitätsbibliothek vgl. GW 13, VII ff. und die entsprechenden Nachlassbände in GW. Die Korrespondenz Feuerbachs ist dokumentiert in GW 17 ff.: aufschlussreich für seine Wendung zu Hegel, der ihm „Berlin zum Bethlehem einer neuen Welt“ (GW 17, 53) werden ließ, sowie zu seinem „Abschied von der Theologie“ (GW 17,61) sind u. a. die Briefe an Carl Daub, erhellend für das Verständnis des philosophischen Hauptwerks „Das Wesen des Christentums“ die in GW 18 dokumentierten Briefwechsel der Jahre 1840–1844. Zum Kontext der übrigen Briefwechsel vgl. die jeweiligen Einführungstexte der Bearbeiter. 34 „Weise ist der allein, der alles schon findet im Leben, / Aber dafür auch im Tod weiter nichts findet als ihn.“ (GW 1, 442) oder: „Sei nur vornehm nicht, laß selbst bis zum Steine herab dich, / Fühl‘ auch selber mit dem, was des Gefühls ist beraubt, / Teile dein Leben mit dem, was ewig lebet den Tod nur; / O, dann ist dir gewiss sanft wie die Liebe der Tod!“ (GW1, 483). Mit Xenien wie diesen rief Feuerbach schon früh dazu auf, dem Unsterblichkeitsglauben und dem Wunsch, sein irdisches Leben jenseitig zu verewigen, den Abschied zu geben und sich stattdessen ausschließlich auf die Diesseitsgestaltung zu konzentrieren. Die Sinnsprüche und Spottgedichte sind den Ende der Zwanzigerjahre entstandenen, 1830 anonym veröffentlichten „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ als Anhang beigegeben (vgl. GW 1, 175–515; zur Entstehungsgeschichte der Schrift und der Xenien vgl. GW 1, LXI–LXXII, wo sich auch Hinweise auf Feuerbachs Kontroverse mit G. Chr. A. Harleß finden. Zu Beginn der Schrift äußert Feuerbach die „Demütige Bitte an das hochweise und hochverehrliche Gelehrtenpublikum, den Tod in die Akademie der Wissenschaften zu rezipieren“ (GW 1, 179): „Er ist der beste Arzt auf Erden, / Dem nie noch fehlschlug eine Kur; / Und mögt Ihr noch so krank auch werden: / Es heilt vom Grund aus die Natur.“ (Ebd.; zu weiteren „Reimversen auf den Tod“ vgl. GW 1, 360 ff., zur humoristisch-philosophischen Aphorismenreihe von 1832/33 „Abälard und Heloise oder Der Schriftsteller und der Mensch“, die in diesen Zusammenhang gehört, vgl. GW 1, 535–638.)

Heidelberger Kolleg im Revolutionsjahr 1848

sie die eigene Denkungsart nicht im Subjektiven zu belassen, sondern objektiv auszubilden. Zu der der philosophischen Gedächtnispflege gewidmeten Periode gehören die „Geschichte der neuern Philosophie von Bacon von Verulam bis Benedikt Spinoza“ (GW 2)35 , deren Fortsetzung mit einer „Darstellung, Entwicklung und Kritik der Leibnizschen Philosophie“ (GW 3)36 und die Schrift „Pierre Bayle. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Menschheit“ (GW 4)37 . Mit dem Werk zum französischen Skeptiker Bayle, „Antipode Leibnizens, namentlich in theologischer Beziehung“ (GW 6, 16), schließen, wie Feuerbach in der zweiten Heidelberger Vorlesung konstatiert, „meine historischen Arbeiten. Die späteren, die neuesten Philosophen habe ich nur als Kritiker, nicht als Historiker zum Gegenstand meiner Schriften gemacht.“ (GW 6, 18) Sein mit dem Namen Pierre Bayles versehener Beitrag zur Geschichte der Philosophie und Menschheit bezeichnet nach Feuerbach den Übergang von der primär durch historische Arbeiten charakterisierten „Periode der Resignation, der Zurückhaltung des eignen Wesens“ (GW 10, 331), aus der u. a. das langlebige Vorurteil eines schulmäßigen Hegelianismus stamme, zur kritischen Periode,

35 „Der Zweck, den sich der Verfasser vorsetzte, war, die nach seiner Meinung noch nicht genug entwickelten und erörterten Grundideen der wichtigsten philosophischen Systeme der neuern Zeit zu klarer Anschauung und Erkenntnis zu bringen.“ (GW 2,3) Im Anschluss an Bacon kommen Thomas Hobbes, Peter Gassendi, Jakob Böhme (vgl. auch GW 1, 517–531), René Descartes, Arnold Geulincx, Nikolaus Malebranche und der wie Bacon im Titel eigens benannte Spinoza in Betracht. Erst ab der dritten Ausgabe des Werkes von 1847 hat Feuerbach den Wandel seines Denkens seit der Erstausgabe von 1833 in Fortlassungen, Einschüben und Anmerkungen berücksichtigt, ohne sich zu einer vollkommenen Vollbearbeitung zu entschließen. Zu Feuerbachs Philosophiegeschichtsschreibung vgl. die Beiträge in W. Jaeschke/F. Tomasoni (Hg.), Ludwig Feuerbach und die Geschichte der Philosophie, Berlin 1998. 36 Die in den Jahren von 1834–1836 entstandene, 1837 erschienen Leibnizmonographie ist als Fortsetzung der „Geschichte der neuern Philosophie“ von 1833 konzipiert. „Die gehaltvollste Erscheinung auf dem Gebiete der neuern Philosophie nach Cartesius und Spinoza ist – ungeachtet der allerdings höchst empfindlichen Lücken und Mängel seiner Philosophie – Leibniz. Ihm allein hat daher der Verfasser den zweiten Teil seiner Geschichte bestimmt.“ (GW 3,3) Im Zentrum der Untersuchung stehen die Monadologie, die Lehre von der prästabilierten Harmonie und die Theodizeethematik. 37 Die Arbeit zu Bayle, dem „Friedensstörer der prästabilierten Harmonie“ (GW 4, 3), „von dem man gesagt hat, es wäre besser gewesen, wenn er gar nichts geschrieben hätte“ (ebd.), erschien, obwohl unter der Jahreszahl 1838 publiziert, erst im März 1839. Feuerbach zeigt darin große Sympathie für den „ungebundnen, losen Skeptiker, den dialektischen Guerillashäuptling aller antidogmatischen Polemiker, den hyperbolisch spitzigen Kritiker“ (ebd.) und ist besonders an dem „Widerspruch zwischen Glauben und Vernunft“ (GW 4, 4) interessiert, durch den er Bayles Werk wesentlich geprägt sieht (vgl. dazu bes. 140 ff.). Obwohl er besagten Widerspruch nicht aufzulösen vermochte, sondern selbst in ihm verharrt habe, sei Bayle mit seiner antitheologischen Polemik zum Herold einer neuen Zeit geworden.

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die sich mit dem Buch zum „Wesen des Christentums“ vollende, welches ihn am meisten ins „Geschrei“ (GW 10, 191) gebracht habe. Wesentliches und Unwesentliches Mit der Wesensschrift hat Feuerbach nach eigenem Urteil zugleich jenes Thema breit expliziert, auf welches im Grunde sein gesamtes Denken konzentriert gewesen und konzentriert geblieben sei. „Dieses Thema ist eben die Religion und die Theologie und was damit zusammenhängt.“ (GW 6, 12) Seine kritische Wahrnehmung hob nach Feuerbachs eigenem Bekunden bei der Kritik der These einer materialen Identität von Philosophie und Religion bei gegebener Formdifferenz an, wie Hegel sie, jedenfalls nach Auffassung der Altbzw. Rechtshegelianer, mit seinem Postulat zu leistender Aufhebung religiöser Vorstellungen in den absoluten Begriff vertreten habe. „Diese Identität war es…, gegen welche ich antrat.“ (GW 6, 18) Schon im Erscheinungsjahr seiner „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ habe er „einem Dogmatiker aus der Hegel’schen Schule, welcher behauptete, daß nur ein formeller Unterschied zwischen Religion und Philosophie sei, daß die Philosophie nur in den Begriff erhebe, was die Religion in der Form der Vorstellung habe, die Verse zu(gerufen): ‚Wesen ist selber Form‘; drum tilgst du den Inhalt des Glaubens, / Wenn du die Vorstellung tilgst, seine geeignete Form.“ (Ebd.)38 Daraus habe sich der Vorwurf an die Adresse der Hegel’schen Philosophie ergeben, „daß sie das Wesentliche der Religion zum Unwesentlichen und umgekehrt das Unwesentliche zum Wesentlichen mache. Das Wesen der Religion sei gerade eben das, was die Philosophie zur bloßen Form mache.“ (GW 6, 19) Die kritische Unterscheidung zwischen dem anthropologischen Wesen der christlichen Religion, deren Wahrheit in Humanität begründet liege, und ihrem theologischen Unwesen, welches den Menschen von seiner menschlichen Bestimmung entfremde, resultiere aus dieser Kritik. Die in seiner Schrift über „Das Wesen des Christentums“ in Bezug auf mannigfache Themenbestände der christlichen Tradition entfaltete Forderung, derzufolge Theologie in Anthropologie zu überführen sei, hat Feuerbach in seiner Heidelberger Vorlesung unter einer Vielzahl von Aspekten wiederholt. Seine „Lehre, Religion, Philosophie oder wie Sie es sonst nennen wollen“ (GW 6, 24) sei „kürzlich die: Die Theologie ist Anthropologie, d. h. in dem Gegenstande der Religion, den wir griechisch „theos“, deutsch „Gott“ nennen, spricht sich nichts andres aus als das Wesen des Menschen, oder: Der Gott des Menschen ist nichts andres als das vergötterte Wesen des Menschen, folglich die Religions- oder,

38 Vgl. GW 1, 461: „Kannst du den Stoß parieren, Sophiste? / Wesen ist selber die Form, drum tilgst du den Inhalt des Glaubens, / Wenn du die Vorstellung tilgst, seine ihm eigene Form.“

Entzauberung der Wunder und marianische Transformation

was eins ist, Gottesgeschichte – denn so verschieden die Religionen, so verschieden sind die Götter, und die Religionen so verschieden, als die Menschen verschieden sind – nichts andres als die Geschichte des Menschen.“ (Ebd.) Theologie als Anthropologie Gottesgeschichte ist Menschengeschichte, Gott das Wesen des Menschen, dieses hinwiederum nicht ohne Natur zu denken. Mit dem, was Feuerbach die natürliche Wesensnatur des Menschen nennt, ist seinem Urteil zufolge der entscheidende Schritt seiner Entwicklung bezeichnet. Das allumfassende Prinzip, auf das er alles zurückführt und aus dem er alles ableitet und genetisch produziert, lautet: „‚(D)er Mensch auf dem Grund und Boden der Natur‘. Die Darstellung und Entwicklung dieses Prinzips, welches F(euerbach) auf die Wahrheit der sinnlichen Anschauung gründet und an die Stelle der bisherigen partikulären und abstrakten philosophischen und religiösen Prinzipien setzt, bezeichnet die dritte Periode in F(euerbach)s Leben, die wir, im Unterschiede von seiner früheren historischen und kritischen, die positive oder produktive Periode nennen können.“ (GW 10, 331) Sie und die für sie zentrale These, wonach der Mensch auf dem Grund und Boden der Natur die nachgerade in Bezug auf Religion und Theologie alles entscheidende Größe sei, bilden den Skopus, auf den alle Schriften Feuerbachs in Kritik und Konstruktion ausgerichtet sind. 17.4

Entzauberung der Wunder und marianische Transformation

Im Mai des Jahres 1839 erschien im „Athenäum für Wissenschaft, Kunst und Leben“, einer, wie es im Untertitel hieß, „Monatsschrift für das gebildete Deutschland“, Ludwig Feuerbachs Abhandlung „Über das Wunder“39 . Erklärtes Ziel ist 39 Sie ist nach Maßgabe der Erstfassung mit den Textabweichungen der zweiten und endgültigen Fassung von 1846 als Schlusstext der im 8. Band der „Gesammelten Werke“ Feuerbachs dargebotenen kleineren Schriften der Jahre 1835–1839 abgedruckt (GW 8, 293–340). Nach Urteil ihres Herausgebers, Wolfgang Harich, spiegeln die kleineren Schriften Feuerbachs von 1835–1839 „den Werdegang des Philosophen vom Standpunkt eines radikalisierten Hegelianismus über den Mitstreiter der Junghegelianer bis an die Schwelle des Materialismus und Atheismus, zu dem er sich von 1839/40 an bekannt hat, wider“ (GW 8, VII). In diesem Zeitraum sind auch die Erstfassungen der historiographischen Monographien entstanden. Leitstern war damals durchaus noch Hegel, und er blieb es bis auf weiteres, auch wenn Feuerbach seit seiner Bayle-Arbeit immer mehr eigene Wege zu gehen sich anschickte. Dennoch war Mitte der Dreißigerjahre des 19. Jahrhunderts die Begeisterung nachgerade über die Philosophiegeschichtsschreibung Hegels nach wie vor ungebrochen. „Als die Kantische Schranke der Vernunft fiel und dadurch die Philosophie den Charakter der Beschränktheit verlor, den sie notwendig in dieser willkürlichen Grenze annahm, erst da konnte sich … eine universelle, freie Ansicht in das Gebiet der Philosophie eröffnen.“ (GW 8, 45) Bei Hegel sei sie in voll

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es, den Wunderglauben durch Rekonstruktion seiner Genese zum Verschwinden zu bringen bzw. das Wunder als ein Pseudophänomen zu erweisen, das gemäß innerer Dialektik sich selbst zu Fall bringt und in seiner Grundlosigkeit erweist. Wunder und Wunderglaube berufen sich auf Erfahrungen. Zugleich unterminieren sie Feuerbach zufolge den Boden aller Erfahrung; so graben sie sich selbst die Grube, in welche sie fallen werden. Es bewähre sich die Wahrheit des Sprichworts: „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein.“ (GW 8, 295) Wer sich auf Wunder berufe, berufe sich auf Empirie, deren Basis er zugleich untergrabe. Er säge damit, um die Bildebene der vergleichenden Spruchweisheit zu wechseln, just den Ast ab, auf welchem er selbst sitze. Wunder als empirische Tatsachen behaupten zu wollen, ist Feuerbach zufolge ein bodenloses Unterfangen. Denn wäre auch nur ein Wunder als eine Erfahrungstatsache erwiesen, würde damit der Empirie ihre verlässliche Basis generell entzogen, und keine Wahrnehmung könnte mehr den Anspruch der Untrüglichkeit erheben. Mit der in Anschlag gebrachten Ausnahme stürzt die Regel. Gesetzt, die Gesetze der Natur gelten nicht immer, dann folgt daraus nach Feuerbach zwangsläufig der Verlust ihrer Gesetzlichkeit. Die Differenz zwischen Wesen und bloßem Schein kollabiere; mit dem Teil steht und fällt das Ganze. „Wer überhaupt ein Gesetz der Natur aufhebt, hebt alle Gesetze derselben auf – vorausgesetzt natürlich, daß diese Aufhebung selbst nicht eine gesetzmäßige, naturbestimmte, organisch vermittelte, sondern wunderbare ist.“ (GW 8, 298)

entwickelter Weise gegeben. Erst ihm sei es daher, wie Feuerbach in einer Rezension (1835) der – von C. L. Michelet herausgegebenen – Vorlesungen des Meisters über die Geschichte der Philosophie konstatiert, möglich gewesen, „die Geschichte der Philosophie in einer Weise zu behandeln, die ebensowenig die Einheit der Idee in den unterschiedenen Systemen als die Differenz und Besonderheit derselben aus dem Gesichte verliert“ (GW 8, 46). Bedingung für die Möglichkeit dieser Leistung sei die dialektische Einsicht gewesen, wonach der Begriff der Identität denjenigen des Unterschieds nicht nur nicht ausschließt, sondern in sich begreift (vgl. GW 8,7). Weil er diese Einsicht philosophiehistoriographisch ins Werk gesetzt habe, seien die Philosophen der Vergangenheit von Hegel mit einer Innigkeit (vgl. GW 8,47) behandelt worden wie von noch keinem Geschichtsschreiber vor ihm. Habe er doch in den vergangenen Systemen des Denkens ein Realisierungsmoment der Idee der Vernunft von nicht lediglich transitorischer, sondern gerade im Vorübergehen je und je eigenständiger Relevanz gesehen. Um 1835 war Feuerbach mitnichten ein Antihegelianer, sondern im Gegenteil ein entschiedener Kritiker des Antihegelianismus, wie seine scharfe „Kritik des ‚Anti-Hegels‘“ von C. F. Bachmann belegt, die um diese Zeit verfasst wurde (vgl. GW 8, 62–127). Dass er eilfertigen Neuerungen generell abgeneigt war, wird u. a. durch seine philosophiegeschichtlichen Neigungen unterstrichen. Der Historiker gilt ihm als „der Landmann in dem Gemeinwesen der Literatur. Ferne steht er dem eitlen Getümmel der ephemeren Zeiterscheinungen, und doch bebaut er den Grund der Gegenwart.“ (GW 8, 128)

Entzauberung der Wunder und marianische Transformation

Wasser und Wein Wird dem Wunderglauben auch nur einmal stattgegeben, dann wird alles wunderlich und Verstand und Vernunft haben prinzipiell ausgedient. Um dies zu verhindern, haben Apologeten versucht, das Wunder zu einer Ausnahme zu erklären, welche die Regel nicht aufhebe, sondern bestätige. Die Verteidigungsstrategie zielte im Wesentlichen darauf, den Schein der Glaubwürdigkeit durch möglichst weitgehende Beschränkung der Auswirkungen des Wunders für das Verständnis der Wirklichkeit überhaupt aufrechtzuerhalten. Wunder geschehen demnach nur zur Erfüllung außerordentlicher Zwecke, sonst nicht. Die allgemeine Ordnung soll so gewahrt bleiben. Doch diese Grenzziehung ist Feuerbach zufolge willkürlich. Wer Wasser in Wein zu verwandeln vermöge, der könne prinzipiell auch Transsubstantiationen anderer Art vornehmen und etwa aus Menschen Steine oder aus Steinen Menschen entstehen lassen. „Die Wunderkraft ist an und für sich eine schlechthin unbeschränkte Kraft – eine Kraft, die sich an kein Gesetz, keine Notwendigkeit, keinen Zweck bindet. Der Zweck eines Dings ist eins mit seiner Bestimmtheit. Wenn Wasser in Wein verwandelt werden kann, so ist der Wein umsonst, zwecklos; er kann durch das Wasser, wo er fehlt, ersetzt werden, die Wunderkraft braucht ihn nur aus dem Wasser zu entbinden.“ (GW 8, 301) Wird der Unterschied von Wasser und Wein im Zuge wunderhafter Verwandlung aufgehoben, dann schwindet mit der Differenz die Bestimmtheit, die den Dingen wesentlich eignet, und mit ihr der eigentümliche Sinn und Zweck ihres Daseins. Ein Wasser, das zu Wein zu werden vermag, hört auf, auf verlässliche Weise Wasser zu sein. Unter Wunderbedingungen kann alles jederzeit auch ganz anders werden. Verständiger und vernünftiger Weltumgang ist unter diesen Bedingungen nach Feuerbachs Urteil prinzipiell nicht mehr möglich. Fauler Zauber Wunderglaube ist nach Feuerbach mit Vertrauen auf Verstand und Vernunft nicht kompatibel, sondern per se unvernünftig, vernunftwidrig. „Das Wunder widerspricht an und für sich der Vernunft; es läßt sich daher auch keine Grenze zwischen einem vernünftigen und unvernünftigen Wunder setzen. Im Gegenteil: Je mehr ein Wunder der Vernunft widerspricht, je toller es ist, desto mehr entspricht es dem Begriffe des Wunders.“ (GW 8, 305) Vernünftigerweise und bei Lichte besehen müsse das Wunder deshalb als geistlose Magie und fauler Zauber beurteilt werden. Der Wunderglaube kann in kein sinnvolles Verhältnis zur Vernunft gesetzt werden und umgekehrt. Beide schließen sich wechselseitig aus und stehen in einem kontradiktorischen Widerspruchsverhältnis zueinander. Dies gelte stets und auch für den Fall, dass der Glaube an Wunder sich auf Erfahrung berufe und empirisch-historische Faktizität für seinen Gegenstand beanspruche. Denn was ihm eine Tatsache heißt, ist „ein absolut isoliertes,

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singuläres, analogieloses Faktum“ (GW 8, 314), mithin das gerade Gegenteil dessen, worauf die Vernunft ihr Vertrauen auf Faktizität gründe. Es bleibt dabei: Das Verhältnis von Vernunft und Wunderglaube ist dasjenige eines manifesten Widerspruchs. Gleichwohl wäre es nach Feuerbach grundfalsch und für die Vernünftigkeit der Vernunft ruinös, ließe sich diese auf einen unvermittelten Gegensatz zum Wunderglauben fixieren. Dann würde der Widerspruch iterieren und von einer vernünftigen Überwindung des Wunderglaubens könnte nicht die Rede sein. Um diese zu leisten, könne es nicht bei äußerer Kritik sein Bewenden haben; vielmehr müsse der Glaube an Wunder in seinem Zustandekommen und seinem Bestand vernünftig erklärt und somit auf konstruktive Weise behoben werden. Herr des Wunderglaubens wird die Vernunft erst dann, wenn sie ihn nicht nur von außen bekämpft, sondern den Grund anzugeben vermag, warum es ihn gibt, um ihn so gleichsam von innen heraus zu überwinden. Wird der Wunderglaube auf diese Weise durchschaut, so verflüchtigt er sich nach Feuerbach von selbst und erweist sein gespenstiges Wesen als unwesentlichen Schein, der im Nichts vergeht. Radikal-genetische Kritik Wunder sind des Glaubens liebstes Kind. Dass es sich so verhält, ist gemäß Feuerbach kein Wunder, sondern Folge einer bestimmten Konstellation im Verhältnis des Menschen zu sich selbst, die es aufzuklären gilt, um den Wunderglauben zu durchschauen. Wunder finden statt bzw. werden als geschehene Ereignisse geglaubt, „wo der Mensch sich, und zwar sich nicht in der allgemeinen und unendlichen Idee der Menschheit, sondern in der Beschränktheit seiner Einzelheit und Besonderheit… als den Endzweck der Natur erfaßt, wo daher die Natur an seinen Interessen und Schicksalen teilnimmt, mit ihm lebt und fühlt, wo, was subjektiv, für den Menschen, eine Bedeutung hat, auch objektiv, für die Natur, von Bedeutung und Wichtigkeit ist“ (GW 8, 318f.). Weit davon entfernt, ein übernatürlicher und übermenschlicher Sachverhalt zu sein, ist, was Wunder heißt, Feuerbach zufolge eine durchaus natürliche und menschliche – allzu menschliche – Angelegenheit. „Die Wunder sind psycho- oder vielmehr anthropologische Erscheinungen; sie haben ihren Grund im Menschen.“ (GW 8, 320) Als Phantasieprodukte sind sie von der menschlichen Einbildungskraft hervorgebracht, ohne ein subjektexternes, objektives fundamentum in re zu haben. Wunder sind Produkte der Einbildung. Obwohl scheinbar in einem unvermittelten Gegensatz zum Natürlichen stehend, haben sie durchaus und durchweg eine natürliche Ursache, nämlich die Tätigkeit menschlicher Phantasie, welche durch sinnliches Mangelempfinden verursacht ist. Phantasie ist nach Feuerbachs Begriffsbestimmung „die erste und darum selbst noch sinnliche Erhebung

Entzauberung der Wunder und marianische Transformation

des Geistes über die Sinnlichkeit“ (GW 8, 325). Die mit ihr, der Sinnlichkeit, verbundenen Defiziterfahrungen transzendiert der Geist durch Statuierung von Wundern, aber nicht eigentlich auf geistige, sondern auf phantastische und in ihrer phantastischen Art sinnengebundene Weise. Zur Sinnengebundenheit wundersamer Phantasieproduktionen gehört, dass diese in der Regel kein Bewusstsein ihrer selbst haben und nicht wissen, dass sie bloße Einbildungen darstellen. Wunder aller Wunder Die Phantasie verstellt sich die Einsicht in sich selbst und hält ihre Produkte für wirklich und wahr. Sie wundert sich daher nur bedingt über die Wunder, die ihr als mindestens so real gelten, wie die übrige Realität. Als „die von den Herzensbedürfnissen und Wünschen des Menschen bestimmte Intelligenz“ (GW 8, 327) bildet sich die Phantasie die Erfüllung herzlichen Sehnens ein, um unter unbefriedigenden Bedingungen Befriedigung zu finden. Diese Befriedigung ist jedoch nach Feuerbachs Urteil wegen ihrer sinnlichen Art nicht intelligent bzw. intelligenzgemäß und kann daher gedanklich nicht überzeugen. Dies zeige sich u. a. daran, dass der Wunsch nach Wundern nie zu einem definitiven Ende gelangt, weil ein Wunderwunsch den nächsten zeugt und hervorbringen muss. Vollendung lässt sich auf diese Weise nicht erlangen. Die Phantasie ist eine Reflexionsform der Sinnlichkeit, die aber an diese gebunden bleibt; als „der Spiegel der Welt, wie sie den Wünschen des Menschen entspricht“ (GW 8, 329), tut sie Wunder. Wunder stehen nach Feuerbach für den auf sinnliche Realisierung angelegten „Wunsch des Menschen, von den Gesetzen der Vernunft und Wirklichkeit, die seinem Herzen als Beschränkungen erscheinen, frei zu sein“ (ebd.). Als äußerstes Erfüllungsziel alles phantastischen Wunderstrebens des Menschen werde schließlich eine Größe vorstellig gemacht, mit welcher absolute Freiheit und Transzendenz jeder tatsächlichen und möglichen Beschränkung gegenüber zu assoziieren ist: Gott. Bei Gott handelt es sich Feuerbach zufolge um das phantastischste aller Phantasieprodukte und um das Wunder aller Wunder, weil das Wunder Gottes als Grundvoraussetzung und Möglichkeitsbedingung jedes weiteren fungiert. In der Gottesvorstellung erfüllt sich der Mensch alle Wünsche, die er in seinem Herzen hegt, und zwar im Modus der Einbildung: „Der Wunsch zerbricht die Schranken der Subjektivität – er will, daß das sei, was er wünscht –, die Allmacht ist der realisierte Wille des Wunsches, daß das ist, was er will, daß sein möchte; denn dem Wunsch ist nichts unmöglich; er mag und vermag alles. Aber die willkürliche Phantasie ist es, welche verwirklicht, was das Herz will; in ihr ist als Objekt, was im Herzen nur als subjektiver Wille existiert.“ (GW 8, 328) Solche Setzung hat in jeder Wundervorstellung statt, um in der Vorstellung Got-

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tes auf die äußerste Spitze getrieben zu werden. Gott ist ein Phantasieprodukt, über welches hinaus ein höheres nicht eingebildet werden kann. Kein Wunder: Fungiert er doch als der Inbegriff aller Projektionen menschlicher Einbildungskraft, nämlich als diejenige, in welcher dem Menschen seine Menschheit als sie selbst vorstellig wird. Wunsch als Mutter der Einbildung Der Wunsch ist Feuerbach zufolge weniger der Vater des Gedankens, als vielmehr die Mutter (Frauen sind nach patriarchalem Urteil des Religionskritikers phantasiereicher und gedankenärmer) der Einbildung, welche im Wesentlichen dazu da ist, reale Mängel der Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse zu kompensieren. „(W)as das Wesen der Phantasie ausmacht, das macht auch das Wesen des Wunders, seines Lieblingskindes aus. Das Wunder bringt uns nichts andres zur Anschauung als die Willkür, die mit dem sinnlichen Stoff nach Belieben schaltet und waltet.“ (GW 8, 326) Beispielhaft ersehen lasse sich dies beim Wunder anlässlich der Hochzeit zu Kana (Joh 2, 1ff.), das Feuerbach mit Vorliebe heranzieht, wenn es gilt, das Wesen bzw. Unwesen von Wundern zu erweisen. Die Wandlung von Wasser in Wein, wie sie Jesus dem biblischen Bericht gemäß vollzog, steht nach Feuerbachs Exegese für den menschlichen Wunsch, statt Wasser Wein, anstelle von Dürftigkeit sinnliche Fülle angeboten zu bekommen. Nüchtern betrachtet handle es sich bei der wundersamen Transsubstantiation um eine Einbildung. Die Phantasie aber nimmt sie als real und lässt sie sich als Wirklichkeit gefallen. Sie will weder bloßes Wasser, noch auch reinen Wein dergestalt eingeschenkt bekommen, dass das Wunder aufhört, ein Wunder zu sein und als Schein durchschaut wird. So verharrt sie im Stadium des Träumens und weigert sich zu erwachen, weil im Wachzustand der Nüchternheit das Weinwunder allenfalls einen Augenblick Bestand haben und dann für immer vergangen sein würde. Die Transsubstantiation wäre zum flüchtigen Moment herabgesetzt, der Wein – und sei er noch so schmackhaft – nichts als irdischer Wein bar jeden Himmels, allenfalls dazu geeignet, sich einen Rausch anzutrinken, um auf diese Weise der Dürftigkeit des Daseins zu entfliehen. Mit Feuerbach zu reden: Phantasielos und nüchtern betrachtet wird das Hochzeitswunder schal, und der rein eingeschenkte Wein tendiert dazu, sich in Wasser zurückzuverwandeln. Mag ein Wunder vorangegangen sein oder nicht: „sowie der Wein auf die Zunge kam und von ihr als natürlicher Wein erkannt wurde, so war auch schon der Wundereffekt vorüber und das während der Verwandlung aus den Schranken seiner Ufer gewaltsam emporgehobne Wasser der Natur durch den Kanal der Kehle in sein altes Becken wieder zurückgelaufen, auf seinen primitiven Zustand reduziert.“ (GW 8, 336)

Entzauberung der Wunder und marianische Transformation

Wunderbare Madonna Die Entzauberung der Wunder bringt Einbußen mit sich. Feuerbach wusste darum, nahm sie aber billigend in Kauf, weil er den Gewinn höher erachtete als die Verluste. Dies soll auch in Bezug auf die Transformation der Gestalt jener Frau gelten, die sich anlässlich der Hochzeit zu Kana wenig Erfreuliches aus dem Munde ihres Sohnes hatte anhören müssen (Joh 2,4: „Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?“), der Mutter Jesu, Maria. Der kirchlichen Lehre gilt sie als Immaculata Mater Dei, Feuerbach hingegen rückverwandelt sie in den kraft irdischer Liebe verhimmelten Inbegriff weiblichen Wesens. Man lese dazu seine Rezension „Über den Marienkultus“, die erstmals in Fortsetzungen im Jahrgang 1842 der „Deutschen Jahrbücher“ erschien. Die letzte Fortsetzung ist mit der Unterschrift „Anti-Pemble“ versehen, womit auf „Pater J. Pemble, weiland Präses der Lateinischen Kongregation zu München“ (GW 9, 159), angespielt ist, der in seiner anno 1760 herausgegebenen „Pietas quotidiana“ Maria die Kellnerin der ganzen heiligen Dreifaltigkeit („Maria est cellaria totius Trinitatis“ [ebd.]) genannt habe. „Warum eine Kellnerin? Offenbar, wenigstens nach meiner Vermutung, nur wegen ihrer körperlichen Schönheit, denn bekanntlich zeichnen sich die bayerischen, besonders Münchner Kellnerinnen durch ihre Schönheit aus. Mache man deswegen dem Pater Pemble nicht den Vorwurf der Gemeinheit und Frivolität. Wenn ein Raphael seine Geliebte zum Vorbild seiner Madonna wählte, so kann man es gewiß einem bayerischen Jesuiten nicht verargen, wenn er in einer Münchner Kellnerin das Modell der Jungfrau Maria erblickt und verehrt.“ (Ebd.) Maria, nach seinem Urteil „die einzig poetische Gestalt des Christentums“ (GW 9, 156), ist Feuerbach zufolge „,mit einem Wort, das Bild der Weiblichkeit – der Kultus der Jungfrau Maria der Kultus des Weibes, der Kultus der Frauenliebe“ (GW 9, 164): „Oh, Pemble! Oh, Pemble! Wie hat dich die Maria um dein bißchen Verstand gebracht!“ (GW 9, 160) Im Marienkult verehrt die christliche Menschheit ihre bessere Hälfte, um in den Himmel zu erheben, was auf Erden in unvergleichlicher Weise beglückt: „Maria ist die Göttin der Schönheit, die Göttin der Liebe, die Göttin der Menschlichkeit, die Göttin der Natur, die Göttin der Freiheit von Dogmen.“ (GW 9, 156) Das Wesen der Mariologie ist damit nach Feuerbach benannt; ihr Unwesen bestehe darin, sich die Einsicht in ihre wahre Bedeutung zu verstellen. Sinnliches und Übersinnliches Nach Maßgabe des Dogmas ist Maria Feuerbach zufolge „wesentlich eine negative, naturwidrige Gestalt“ (GW 9, 164), in deren Namen irdische Schönheit, Liebe, Menschlichkeit, Natur und Freiheit – statt verhimmelt – verteufelt werden. Der dem Dogma entsprechende Kultus werde folgerichtig von dem Prinzip

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der Abstinenz beherrscht, das Feuerbach für ebenso natur- wie geschmackswidrig hält (vgl. GW 9, 167), weil es auf zölibatäre „Selbstentmannung“ (GW 9, 165) und auf eine strikte Absage gegenüber menschlicher Geschlechtlichkeit hinauslaufe. Doch so einfach lasse sich die Sinnlichkeit nicht erledigen; sie kehre vielmehr unter dem Schein transnaturaler Übersinnlichkeit zurück: „Maria ist das religiöse Opfer des Fleisches, das feierliche Gelübde der Keuschheit, die aufgegebene irdische Liebe, aber dafür ist sie selbst wieder der Gegenstand irdischer Liebe. Was sie dem Menschen mit der einen Hand nimmt, das gibt sie ihm mit der andern wieder zurück. Der Verlust der menschlichen Schönheit hat zur Folge den Gewinn der himmlischen oder göttlichen Schönheit, die aber selbst gar nichts andres ist als die verlorne menschliche, durch die Phantasie wiederhergestellte Schönheit.“ (GW 9, 169) Erneut wird „der unvergeßliche, nicht oft genug zu nennende Pater Jos. Pemble“ (ebd.) bemüht, um das Gesagte exemplarisch zu belegen: „Ach, lieber Pater Pemble, wo die tatti mammillari anfangen, da hört der Unterschied zwischen Himmel und Erde auf.“ (GW 9, 170) Feuerbach schließt mit dem Rat, den besagten Unterschied bewusst aufzuheben, um des Himmlischen unter irdischen Bedingungen gewahr zu werden und die Liebe dort zu suchen, wo sie wirklich zu finden ist: in der geschlechtlichen Beziehung von Mann und Frau. Bleibt hinzuzufügen, dass die Mariologie auf christologische Ergänzung angelegt ist und umgekehrt. „Der Mann hat seinen Himmel in einem weiblichen, aber das Weib in einem männlichen Prinzipe. Wie daher Maria, und zwar hauptsächlich für die Männer, so war Christus, und zwar hauptsächlich für die Weiber – gleichgiltig, ob als Mann oder Kindlein –, der Gegenstand einer förmlichen, sinnlichen Liebe.“ (GW 9, 172f.) Als Beleg wird eine Strophe aus einem „alten würtembergischen“ (GW 9, 173) Gesangbuchlied zitiert, welches mit den Worten beginnt: „Ich suchte dich in meinem Bette, Holdseligster Immanuel...“ (Ebd.) Feuerbachs schlichter Rat lautet analog zum Fall Pemble, den eingebildeten himmlischen durch einen irdischen Bettgenossen und Bräutigam zu ersetzen, um auf die Weise wahrer Liebe frönen zu können. 17.5

Hegelkritik und Grundsätze künftiger Philosophie

Getreu seiner Maxime, wonach methodisch nicht vom Allgemeinen zum Besonderen, sondern vom Besonderen zum Allgemeinen fortzuschreiten sei, wurden unter Bezug auf den Versuch einer Entzauberung der Wunder sowie entsprechender Transformationen des Kultes Mariens und der dogmatischen Mariologie konkrete Beispiele der Religionskritik Feuerbachs benannt. Präzise Einsicht in ihre impliziten Prämissen erschließt sich indes nur, wenn man auf Feuerbachs Hegelkritik und die konstitutiven Grundsätze reflektiert, die er für

Hegelkritik und Grundsätze künftiger Philosophie

eine künftige Philosophie entworfen hat. Denn diese bilden faktisch die Voraussetzung eines Verständnisses der christlichen Religion sowie der Religion überhaupt.40 Landluft macht frei Ein frühes Zeugnis seiner erfolgten Abwendung von Hegel und der Zuwendung zu dem, was er die Philosophie der Zukunft nennt, stellt Feuerbachs offener Brief an einen Publizisten namens Carl Riedel dar, der im März 1839 „in unmittelbarem Anschluß an die Fertigstellung der Abhandlung ‚Über das Wunder‘“ (GW 9, VI) niedergeschrieben wurde. Er beginnt mit einer – mit hoher philosophiegeschichtlicher Bedeutsamkeit versehenen – Begründung, warum er, Feuerbach, nicht in einer Großstadt wohne und an keiner universitären Fakultät lehre, sondern sich in die fränkische Provinz zurückgezogen habe, um ein Leben auf dem Lande zu führen. Zwar sei, so räumt Feuerbach ein, sein Aufenthaltsort als Lokalität „ein bloßer Lokalwitz“ (GW 9, 4), die dortige Lebensqualität hingegen „ganz vortrefflich. Reine, gesunde Luft weht hier, aber wie wichtig ist für das wichtigste Organ des Menschen, das Denkorgan, die reine, frische Luft! Die spekulative Philosophie Deutschlands, wie sie sich bisher entwickelt hat, ist ein Beispiel von den schädlichen Einflüssen der verpesteten Stadtluft. Wer kann leugnen, daß ihr Denkorgan, namentlich in Hegel, vortrefflich organisiert war, aber wer auch übersehen, daß die Funktion des Zentralorgans von den Sinnenfunktionen zu sehr abgesondert, daß namentlich der Kanal bei ihr verstopft war, durch welchen die Natur ihren heilbringenden Odem uns zuströmt?“ (GW 9,4f.)41 40 Nach W. Jaeschke steht in der Hegel-Feuerbach-Debatte „das Grundproblem der Religionsphilosophie auch weiterhin zur Verhandlung an“ (W. Jaeschke, Feuerbach und die aktuelle religionsphilosophische Diskussion, in: H.-J. Braun u. a. [Hg.], Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft, Berlin 1990, 113–134, hier: 134 mit Verweis auf F. Wagner, Was ist Religion? Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart, Gütersloh 1986, 555–589): Nur wenn eine philosophische Theologie im Sinne der Hegel’schen Theorie des Absoluten gelinge, sei Feuerbachs Religionskritik überwindbar; ein Ansatz hingegen, der das religiöse Bewusstsein als letzten Bezugspunkt wähle, verfalle ihr mit Notwendigkeit. 41 Zu Feuerbachs Transformation der spekulativen in die sinnliche Vernunft vgl. W. Wahl, Feuerbach und Nietzsche: Die Rehabilitierung der Sinnlichkeit und des Leibes in der deutschen Philosophie des 19. Jahrhunderts, Würzburg 1998, 98ff. Vgl. ferner: A. Schmidt, Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus, München 1973. Zu den Schwierigkeiten Feuerbachs, sich den Fängen der Hegel’schen Dialektik zu entwinden, und zu den Problemen, endliches Menschsein als ein Sein im Widerspruch festzuhalten und zu affirmieren, vgl. A. Arndt, „Nicht-Selbst und Selbst“. Bestimmtes Sein, Widerspruch und das Problem der Dialektik bei Ludwig Feuerbach, in: H.-J. Braun (Hg.), Solidarität oder Egoismus. Studien zu einer Ethik bei und nach Ludwig Feuerbach, Berlin 1994, 58–80, hier: 77. Vgl. ders., „Unmittelbarkeit“. Zur Karriere eines Begriffs in Feuerbachs und Marx‘ Bruch mit der Speku-

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Die rhetorische Frage enthält im Wesentlichen alles über die Gründe von Feuerbachs Abwendung von Hegel und seine Hinwendung zu dem, was Philosophie der Zukunft, der Praxis, des Lebens heißt. Nicht dass er die spekulative Philosophie abstrakt negieren und dem Hegel’schen Denken, in dem sie ihre Vollendung gefunden habe, einfachhin den Abschied geben wolle. Seine Methode bestehe vielmehr darin, „daß sie das Hohe stets mit dem scheinbar Gemeinen, das Fernste mit dem Nächsten, das Abstrakte mit dem Konkreten, das Spekulative mit dem Empirischen“ (GW 9, 10) usf. verbinde, damit das Denken mit dem Fühlen, die Intelligenz mit der Sinnlichkeit, die Geistseele mit dem Leib versöhnt werden und umgekehrt. Zwar leugnet Feuerbach nicht, dass auch Hegel danach gestrebt habe, spekulative und empirische Tätigkeit systematisch zu verbinden (vgl. GW 9,12); doch gelungen sei ihm dies nicht: man müsse im Gegenteil von einem Misslingen sprechen. Absoluter Begriff und geschichtliche Relativität Ausführlich geäußert hat sich Feuerbach „Zur Kritik der Hegel’schen Philosophie“ in der gleichnamigen Schrift, die 1839 in den „Hallischen Jahrbüchern“ erschienen ist. Sie setzt ein mit einer Variation der von David Friedrich Strauß in christologischer Hinsicht formulierten Devise, wonach es nicht die Art der Idee sei, ihre ganze Fülle in einem Exemplar zu realisieren: „die Vernunft“, so wird gesagt, „weiß nichts von einer wirklichen, absoluten Inkarnation der Gattung in einer bestimmten Individualität… Eine Inkarnation der Gattung in ihrer ganzen Fülle in einer Individualität wäre ein absolutes Wunder, eine gewaltsame Aufhebung aller Gesetze und Prinzipien der Wirklichkeit – wäre in der Tat der Untergang der Welt.“ (GW 9, 20) Und weiter: „Inkarnation und Historie sind absolut unverträglich miteinander; wo die Gottheit selbst in die Geschichte eintritt, hört die Geschichte auf. Geht aber gleichwohl nach wie vor die Geschichte ihren Gang fort, so ist faktisch durch die Geschichte selbst die Inkarnationstheorie widerlegt.“ (GW 9,21) Indem er diese These ins Philosophiegeschichtliche wendet, wird sie ihm zu einem Zentraleinwand seiner Hegelkritik: „Wenn die Hegel’sche Philosophie die absolute Wirklichkeit der Idee der Philosophie wäre, so müsste der Stillstand der Vernunft in der Hegel’schen Philosophie den Stillstand der Zeit notwendig zur Folge haben, denn wenn die Zeit nach wie vor ihren traurigen Gang fortginge, so würde

lation, in: H.-J. Braun u. a. (Hg.), Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft, Berlin 1990, 503–527. Der Sammelband enthält aufschlussreiche Artikel zu den Problemkreisen Natur, Tod und Unsterblichkeit, Humanität und Sinnlichkeit sowie zum Thema „Feuerbach und die Philosophie seiner Zeit“. In Arndts Beitrag soll gezeigt werden, „daß der Begriff der Unmittelbarkeit das Dilemma reflektiert, mit den begrifflichen Mitteln der Spekulation den Auszug aus der Spekulation bewerkstelligen zu wollen“ (503f.).

Hegelkritik und Grundsätze künftiger Philosophie

die Hegel’sche Philosophie unausbleiblich um das Prädikat der Absolutheit kommen.“ (GW 9,22) Nach Feuerbach ist Hegels Philosophie und mit ihr die spekulative Philosophie des Absoluten überhaupt, deren „Kulminationspunkt“ (GW 9,33) das Hegel’sche System darstelle, durch den schieren historischen Fortgang der Geschichte widerlegt und einer Unterbestimmung bzw. Fehlbestimmung des Verhältnisses von Metaphysik und Empirie, Logik und Sinnlichkeit, Denken und Sein überführt. Nein, sagt Feuerbach, Hegels Philosophie beginnt nicht, wie sie denkt, mit dem reinen Sein in seiner Voraussetzungslosigkeit, sondern setzt immer schon ein bestimmtes Sein voraus, das sich nicht beheben lässt und in dem sich der Endlichkeitscharakter allen Daseins, des philosophischen inklusive, manifestiert. Nein, auch ihr Ende ist nicht vollendet, nicht, wie sie beansprucht, die realisierte Idee des Absoluten. Der am Anfang der „Wissenschaft der Logik“ und vergleichbar zu Beginn der „Phänomenologie des Geistes“ begegnende Zwiespalt zwischen dem als rein gedachten und dem sinnlich gefühlten und durch sinnliche Vermittlung zu Bewusstsein gebrachten Sein ist auch am Schluss von Hegels „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften“, in der Lehre vom absoluten Geist, nicht beseitigt, sondern er iteriert, um das System am Ende in den Anfang zurückzuzwingen und damit sein gesamtes Beginnen als endlich zu erweisen. Denken und Sein Sein ist. Davon hat alles Denken nach Feuerbach auszugehen. Ein unvordenkliches Faktum ist ihm vorausgesetzt, ohne das es, das Denken, nicht ist und zu sein vermag, was es ist. Die damit bezeichnete Grenze sei der Vernunft nicht äußerlich; ihre Grenze liege in ihr selbst, und zwar dergestalt, dass durch sie die Vernünftigkeit der Vernunft nicht beschränkt, sondern allererst freigesetzt und zu ihrem ureigenen Sein ermächtigt werde, das indes unvordenklich bleibe und nicht auf einen absoluten Begriff zu bringen sei. Wer es dennoch versuche, wie Hegel, endet Feuerbach zufolge zwangsläufig in einem Panlogismus, welchem die Realität entgehen muss. „Wie, hochmütig benennt ihr die hegelianische Weisheit? / Wie die Hyäne begnügt sie sich mit Knochen allein.“ (GW 1, 464) Als Feuerbach den zitierten Sinnspruch schrieb, war er noch ein unbekannter Anonymus. Zur Berühmtheit wurde er erst durch sein Erfolgsbuch über „Das Wesen des Christentums“. Den dort bezogenen Standpunkt wollte er weder mit demjenigen Hegels, noch auch mit der Position eines Junghegelianers vom Schlage Bruno Bauers verwechselt wissen.42 Das hat er u. a. in einer Stel42 Vgl. dazu auch die Vorrede zur Zweitauflage der Schrift vom Wesen des Christentums GW 5,23: „Was aber mein Verhältnis betrifft zu Strauß und Bruno Bauer, in Gemeinschaft mit welchen ich stets genannt werde, so mache ich hier nur darauf aufmerksam, daß schon in dem Un-

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lungnahme zu einer Rezension des Werkes in der „Augsburger Allgemeinen“ unmissverständlich klargestellt (vgl. GW 9, 229–242). Seine Religionsphilosophie sei „so wenig eine Explikation der Hegel’schen, wie der – übrigen sehr geist- und kraftvolle – Verfasser der ‚Posaune‘ will glauben machen, daß sie vielmehr nur aus der Opposition gegen die Hegel’sche entstanden ist, nur aus dieser Opposition gefaßt und beurteilt werden kann“ (GW 9, 229f.): „Hegel identifiziert die Religion mit der Philosophie, ich hebe ihre spezifische Differenz hervor; Hegel betrachtet die Religion nur im Gedanken, ich in ihrem wirklichen Wesen; … Hegel unterscheidet, ja, trennt den Inhalt, den Gegenstand der Religion von der Form, von dem Organ, ich identifiziere Form und Inhalt, Organ und Gegenstand; Hegel geht vom Unendlichen, ich vom Endlichen aus; Hegel setzt das Endliche in das Unendliche…; ich setze das Unendliche in das Endliche...“ (GW 9, 231) usw. usf. Philosophie der Zukunft Die Liste der von Feuerbach gegen Hegel geltend gemachten Gegensätze ist lang. Sie wird durch den Vermerk ergänzt, dass die Religionsphilosophie des Berliner Denkers zweideutig sei, „so daß sich ebenso gut die Orthodoxie als die Heterodoxie auf ihn stützen kann und sich wirklich gestützt hat“ (GW 9,237). Ja, der Meister habe Neues gebracht und die Philosophie auf bisher unerreichte Höhen erhoben! Aber er habe die neue Philosophie in alte Schläuche gegossen, das abgelebte Alte „im Alten“ (ebd.) aufgehoben. Hegel gehöre deshalb „in das Alte Testament der neuen Philosophie“ (GW 9, 242). Ihr Neues Testament beansprucht Feuerbach in Grundzügen geschrieben zu haben. In seiner Philosophie, einer „Philosophie des Lebens, der Zukunft“ (GW 9, 238), sieht er erfüllt, was durch die Hegel’sche verheißen war. Den Anspruch, der gewöhnlich Marx zugeschrieben wird, hat schon Feuerbach erhoben, nämlich Hegels Philosophie, zumal seine Philosophie der Religion, vom Kopf auf die Füße und auf jenen irdischen Grund gestellt zu

terschiede des Gegenstandes, wie ihn auch nur der Titel angibt, der Unterschied unsrer Werke angedeutet ist. B. hat zum Gegenstand seiner Kritik die evangelische Geschichte, d.i. das biblische Christentum oder vielmehr biblische Theologie, Str. die christliche Glaubenslehre und das Leben Jesu, das man aber auch unter dem Titel der christl. Glaubenslehre subsumieren kann, also das dogmatische Christentum oder vielmehr die dogmatische Theologie, ich das Christentum überhaupt, d. h. die christliche Religion, und als Konsequenz nur die christliche Philosophie oder Theologie.“ Zum Beginn von Feuerbachs Beschäftigung mit D. F. Strauß und zu seiner Grundsatzentscheidung, den Gottmensch Jesus Christus durch die Menschheitsgattung zu substituieren, vgl. M. Petzoldt, Gottmensch und Gattung Mensch. Studien zur Christologie und Christologiekritik Ludwig Feuerbachs, Berlin 1989, bes. 64ff.

Hegelkritik und Grundsätze künftiger Philosophie

haben, auf welchem der Mensch stehe, wenn man ihn real und nicht in abstrakter Idealität betrachte. „Die Hegel’sche Religionsphilosophie schwebt in der Luft, meine steht mit zwei Beinen auf dem heimatlichen Boden der Erde fest.“ (GW 9, 240) Hegel habe als großstädtischer Philosophieprofessor gedacht und geschrieben, er, Feuerbach, als einfacher Mann vom Land, „als purer blanker Mensch“ (ebd.). Mittlerweile sei es tatsächlich soweit gekommen, „daß Philosophie und Professur der Philosophie absolute Widersprüche sind, daß es ein spezifisches Kennzeichen eines Philosophen ist, kein Professor der Philosophie zu sein, umgekehrt ein spezifisches Kennzeichen eines Professors der Philosophie, kein Philosoph zu sein“ (GW 9, 241). Feuerbachs „Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie“ (GW 9, 243–263) und seine „Grundsätze der Philosophie der Zukunft“ (GW 9, 264–340) schließen unmittelbar an dieses kritische Urteil an, um es ins Konstruktive zu wenden. Anfang der Philosophie Es ist, wie man seit neueren Zeiten und spätestens seit Beginn der Hegel’schen Seinslogik weiß, eine Schwierigkeit, einen Anfang in der Philosophie zu finden. Womit will nach erfolgter Reform Feuerbachs Zukunftsphilosophie ihren Anfang machen? Antwort: Mit dem Sein, näherhin mit dem unmittelbaren Innesein desselben im Gefühl. „Dem Denken geht das Leiden voran.“ (GW 9, 250) „Ein Wesen ohne Leiden ist ein Wesen ohne Wesen. Ein Wesen ohne Leiden ist aber nichts anderes als ein Wesen ohne Sinnlichkeit, ohne Materie.“ (GW 9, 253) Wolle man nicht, wie in Hegels Logik geschehen, „ohne Wesen, ohne Natur, ohne Mensch“ (ebd.) philosophieren, dann habe man mit der Materie den Anfang zu machen, wie sie die Sinnlichkeit mere passive empfinde. „Die Philosophie hat daher nicht mit sich, sondern mit ihrer Antithese, mit der Nichtphilosophie, zu beginnen. Dieses vom Denken unterschiedene, unphilosophische, absolut antischolastische Wesen in uns ist das Prinzip des Sensualismus.“ (GW 9, 254) Nicht, dass nicht mehr gedacht werden sollte; aber wenn das Denken sich nicht in bloßen Gedanken ergehen, sondern sinnhaltig sein wolle, dann müsse es bedenken, dass ihm das Sein unvordenklich vorausgesetzt sei. „Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein nicht aus dem Denken. Sein ist an sich und durch sich – Sein wird nur durch Sein gegeben – Sein hat seinen Grund in sich, weil nur Sein Sinn, Vernunft, Notwendigkeit, Wahrheit, kurz alles in allem ist. – Sein ist, weil Nichtsein Nichtsein, d. h. nichts, Unsinn, ist.“ (GW 9, 258) Sein Wesen hat das Sein als Sein Feuerbach zufolge in demjenigen der Natur. Sie naturiert alles, was ist, ohne selbst als Seiendes gedacht werden zu können. Als Sein selbst ist die Natur keine bestimmte Entität, sondern dasjenige, was allem Seienden sein Sein gibt und erhält. In der extrahumanen Seinsphäre, in der Sphäre der Natur als Natur, ist diese, wie Feuerbach sagt, das

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„von der Existenz ununterschiedene“ (GW 9, 259), wohingegen „der Mensch das von der Existenz sich unterscheidende Wesen“ (ebd.) ist. Es liegt, wenn man so will, in der Wesensnatur des Menschen, sich von bloßer Existenz und damit von der Unmittelbarkeit seines und des Seins der Natur zu unterscheiden. Doch dürfe diese Unterscheidung nicht als Trennung missverstanden werden, da sie sich selbst auf natürliche Weise vollziehe. Sie ist gemäß Feuerbach durch anorganische, vegetabilische und animalische Vorstufen graduell vermittelt und hört auch nach erfolgter natürlicher Vermittlung nicht auf, natürlich zu sein, sowenig der zum Bewusstsein und zum Wissen um sich selbst gelangte Mensch aufhört, leiblich verfasst und konstitutiv naturabhängig zu sein. Auch der Denker ist und bleibt, solange er denkt, ein sinnliches Wesen, wovon er nur auf die Gefahr leibloser Abstraktheit absehen kann. Leibhaftes Denken Kein Denken ist nach Feuerbach in der Lage, sich im absoluten Begriff zu vollenden. Die Philosophie, die er diejenige des Lebens und der Zukunft nennt, müsse deshalb aufhören, ein „abgeschlossnes System zu sein“ (GW 9, 238) und sich offen halten für immer neues Seinsbeginnen. Nur durch eine prinzipiell systemoffene Philosophie, deren Anfang und Ende durch seinsaufgeschlossenes Denken charakterisiert sei, könne die Hegel’sche Philosophie, in der sich die neuere Philosophie spekulativ vollende, über sich hinausgeführt und aufgehoben werden im Dreifachsinn des Begriffs, nämlich im Sinne der bestimmten Negation, der Bewahrung und der Elevation. Die Dialektik des Denkens behält ihre bleibende Bedeutung; aber der Unvordenklichkeit des Seins eingedenk wird sie sich künftig in diejenige eines dialektischen Materialismus, Naturalismus, Sensualismus umgestalten, deren Regel und Richtschnur der leibliche Mensch in seiner welthaften Realexistenz zu sein hat. Der Grundsatz der neuen Philosophie, die Feuerbach vertreten will, lautet: „Ich bin ein wirkliches, ein sinnliches Wesen, der Leib gehört zu meinem Wesen; ja, der Leib in seiner Totalität ist mein Ich, mein Wesen selber.“ (GW 9, 320; bei F. teilweise kursiv) Nur dem Ich in der leibhaften Ganzheit seines Daseins ist nach Feuerbach die Welt, wie sie ist, gegeben. Nur ihm erschließen sich die Dinge in der ihnen eigenen Gegenständlichkeit. „Die Aufgabe der Philosophie, der Wissenschaft überhaupt besteht daher nicht darin, von den sinnlichen, d.i. wirklichen, den Dingen weg, sondern zu ihnen hin zu kommen – nicht darin, die Gegenstände in Gedanken und Vorstellungen zu verwandeln, sondern darin, das den gemeinen Augen Unsichtbare sichtbar, d.i. gegenständlich, zu machen.“ (GW 9, 325f.) Nur wenn ihm dies gelingt, ist Denken wirklich Denken, menschliches Denken, Denken, dessen Maß der reale Mensch auf dem Grund und Boden der Natur ist.

Verwandlung der Theologie in Anthropologie

Religion der Humanität Bleibt hinzuzufügen, dass der reale Mensch nicht allein, nicht als solipsistisches Subjekt auf der Welt ist, sondern als Mensch unter Dingen, Pflanzen, Tieren und insbesondere als Mensch unter Menschen, als Mitmensch. Mitmenschlichkeit gehört zu seiner Wesensnatur und zu seinem Menschsein. „Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit den Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.“ (GW 9, 339) Auch der Denker, der Philosoph, ist was er ist, nur als „Mensch mit Menschen“ (ebd.). Wahre Dialektik ist daher „kein Monolog des einsamen Denkers mit sich selbst, sie ist ein Dialog zwischen Ich und Du“ (ebd.; bei F. teilweise kursiv). Der dialogische Mensch, der Mensch des herrschaftsfreien Diskurses ist der Mensch, der seinem Menschsein entspricht, der humane Mensch. Er stellt für Feuerbach nicht nur Gottes Ebenbild, sondern Gott selbst dar: „der Mensch mit Mensch – die Einheit von Ich und Du – ist Gott.“ (GW 9, 339) Wir sind Gott! Eine humane Wir-Philosophie des Ich und Du tritt bei Feuerbach folgerichtig „an die Stelle der Religion, sie hat das Wesen der Religion in sich, sie ist in Wahrheit selbst Religion“ (GW 9,340). Die neue Philosophie erfüllt sich in Gestalt einer Religion der Humanität. 17.6

Verwandlung der Theologie in Anthropologie

Was es mit dem Wesen und Unwesen des Christentums auf sich hat, trifft für alle Religionen zu: Die christliche Religion „ist das Verhalten des Menschen zu seinem eignen Wesen – darin liegt ihre Wahrheit –, aber zu seinem Wesen nicht als dem seinigen, sondern als einem andern, aparten, von ihm unterschiedenen, ja entgegengesetzten Wesen – darin liegt die Unwahrheit, darin die Schranke, darin das böse Wesen der Religion“ (GW 5, 316). Dieser Satz, der Feuerbachs konstruktives und kritisches Verständnis der Religion in nuce enthält, findet sich in der Mitte jenes Werkes, das seinen Ruhm als Philosoph begründete: des zwischen März 1839 und Januar 1841 entstandenen, in der Juni-Hälfte selbigen Jahres publizierten „Wesen des Christentums“; eine Zweitauflage erschien 1843, eine Drittauflage 1849.43 Entsprechend seinem zentralen Grundsatz ist 43 Das Ziel der Feuerbach’schen Religionskritik besteht darin, die Anthropologie an die Stelle der Theologie zu setzen und zwar durch eine Apotheose der Menschennatur (vgl. G. Nüdling, Ludwigs Feuerbachs Religionsphilosophie. „Die Auflösung der Theologie in Anthropologie“, Paderborn 2 1961). Zu theologischen Reaktionen, u. a. zu Julius Müllers Rezension von Feuerbachs „Wesen des Christentums“, und zu dessen Entgegnungen vgl. E. Schneider, Die Theologie und Feuerbachs Religionskritik, Göttingen 1972, 27ff. Zu Feuerbachs Begriff der Menschengattung und seiner Entwicklung vgl. im Einzelnen K. E. Bockmühl, Leiblichkeit und Gesellschaft. Studien zur Religionskritik und Anthropologie im Frühwerk von Ludwig Feuerbach und Karl

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das Werk in zwei Teile gegliedert, deren erster die Religion in ihrer Übereinstimmung und deren zweiter sie in ihrem Widerspruch mit dem Wesen des Menschen thematisiert. Beide Teile ergänzen sich wechselseitig; der konstruktive hat nicht ohne den kritischen, der kritische nicht ohne den konstruktiven Bestand. Einleitend vorangestellt sind einige vorläufige Überlegungen zum Wesen des Menschen und zu demjenigen der Religion im Allgemeinen. Sie dürfen aber, wie der Autor u. a. gegenüber dem Erweckungstheologen Julius Müller, einem der zahlreichen Rezensenten seines opus magnum, klargestellt hat, nicht überbewertet werden. Die Einleitung, so heißt es, „ist nur entsprungen aus der Analyse der Religion und erst gemacht worden, nachdem die Schrift schon im Wesentlichen fertig war, und nur gemacht, um der wissenschaftlichen Formalität, die das Allgemeine dem Besonderen vorausschickt, G[e]nüge zu leisten“ (GW 9, 179). Materialiter und der Sache nach gehe auch hier das Besondere dem Allgemeinen voraus, sodass dieses von jenem her und nicht umgekehrt zu beurteilen sei. Wesen und Unwesen der Religion Was das religiöse Verhältnis an sich selbst und sowohl in seiner Übereinstimmung als auch in seinem Widerspruch zum Wesen des Menschen betrifft, so ist es Feuerbach zufolge einerseits ein unbewusstes, andererseits ein bewusstes, reflexionsvermitteltes Verhalten. In Bezug auf die unmittelbare Form ist von Religion im eigentlichen Sinne, in Bezug auf die vermittelte Form von Theanthropologie zu sprechen, wobei der Begriff der Anthropologie für die Erkenntnis der mit dem Wesen des Menschen übereinstimmenden Religion, derjenige der Theologie für das ihm widersprechende religiöse Bewusstsein steht. In der Anthropologie gelangt die Religion zu einem Bewusstsein ihrer selbst, das sich als selbstbewusstes Menschsein erfasst und damit die Religion als eine vom Menschsein des Menschen abgehobene Größe zum Verschwinden bringt. Die Theologie hingegen fixiert die Religion bewusst auf ihre vom Wesen des Menschen entfremdete Form, um sie im Widerspruch zu diesem festzuhalten. Primär manifest wird die festgehaltene und nach theologischem Urteil notwendigerweise festzuhaltende theanthropologische Differenz nach Feuerbach

Marx, Göttingen 1961, bes. 32ff. Zu seiner Individualismus- und Subjektivitätskritik und zur Konstruktion einer Anthropologie der Endlichkeit vgl. H. Röhr, Endlichkeit und Dezentrierung. Zur Anthropologie Ludwig Feuerbachs, Würzburg 2000. Zum Titel „Anthropologischer Materialismus“, unter den Feuerbach selbst sein Denken wiederholt und am häufigsten gestellt hat, vgl. A. Schmidts Einleitung in die beiden von ihm herausgegebenen Auswahlbände zu Schriften Feuerbachs: Anthropologischer Materialismus, Wien 1967, hier: I, 5–64.

Verwandlung der Theologie in Anthropologie

im Begriff der Existenz Gottes (vgl. GW 5, 334ff.). Durch ihn und durch die förmlichen Beweise göttlichen Daseins setzt die Theologie als eine Reflexionsgestalt der Religion den Grund des Menschen prinzipiell außerhalb desselben und enteignet ihn so seines ursprünglichen Wesens, das auf einen weltenthobenen Gott übertragen wird. Die Attribute, die auf diesen angewendet werden (vgl. GW 5, 359ff.), sind in Wahrheit Wesenseigenschaften der Menschheit, da das göttliche Wesen „gar nichts andres als das menschliche Wesen selbst“ (GW 5, 380) ist. Was aber die drei Hypostasen betrifft, die nach Maßgabe christlicher Trinitätslehre in Gottes Gottheit wesenseinig verbunden sind, so repräsentieren sie die „wesentlichen Grundunterschiede, welche der Mensch im Wesen des Menschen wahrnimmt“ (GW 5, 387). Menschen sind Personen und als Personen voneinander unterschieden. Dennoch sind sie unbeschadet ihrer persönlichen Unterschiedenheit allesamt Menschen und damit ihrem Wesen nach eins. In der Lehre von der Dreieinigkeit Gottes wird Feuerbach zufolge diese Wahrheit namhaft gemacht, jedoch auf unwahre und verkehrte Weise. Um sie wahrhaft und richtig zur Geltung zu bringen, muss die Religion religionsphilosophisch in Anthropologie überführt werden. Religiöse Humanität und Inhumanität Nach demselben Strukturmuster wie in der Kritik der theologischen Lehre von Existenz, Wesen und Eigenschaften Gottes, dessen Offenbarung (vgl. GW 5, 346ff.) in Wahrheit nicht ihn selbst erschließt, sondern die Menschheit bzw. dasjenige, was es mit dem Menschen auf sich hat, verfährt Feuerbach in seiner Auseinandersetzung mit den Sakramenten Taufe und Abendmahl (vgl. GW 5, 393ff.) sowie mit den ihnen zugeordneten subjektiven Bestimmungsmomenten christlicher Religion, nämlich Glaube und Liebe (vgl. GW 5, 409ff.). Es bestätigt sich ihm erneut sein Grundsatz, „daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie, des absoluten Geistes der sogenannte endliche subjektive Geist ist“ (GW 5, 443). Der Inhalt der Religion ist menschlich, ihr Gegenstand durchaus human. Doch werden Inhalt und Gegenstand der Religion in ihr in inhumaner Form vorstellig, weil sie kein Bewusstsein ihrer anthropologischen Verfassung hat, sondern sich, wenn sie auf sich reflektiert, ein theologisches Ansehen gibt: „die Religion hat nicht das Bewußtsein von der Menschlichkeit ihres Inhalts; sie setzt sich vielmehr dem Menschlichen entgegen, oder wenigstens sie gesteht nicht ein, daß ihr Inhalt menschlicher ist.“ (Ebd.) Hier setzt Feuerbach in seiner Aufklärungsarbeit an, die hauptsächlich darin besteht, Christentum und Religion über ihr eigentliches Wesen kundig zu machen und zum wahren Bewusstsein ihrer selbst zu bringen: Man stehe an einem „notwendige(n) Wendepunkt der Geschichte“ (ebd.); es gelte bei allem Widerstreit ein offenes Bekenntnis, „daß das Bewußtsein Gottes nichts andres ist als das Bewußtsein der Gattung, daß der Mensch sich nur über die Schranken

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seiner Individualität erheben kann und soll, aber nicht über die Gesetze, die positiven Wesensbestimmungen seiner Gattung, daß der Mensch kein andres Wesen als absolutes Wesen denken, ahnden, vorstellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und verehren kann als das Wesen der menschlichen Natur“ (GW 5, 443f.). Die Devise am „Wendepunkt der Weltgeschichte“ (GW 5,444) muss lauten: „Homo homini deus est.“ (Ebd.) Feuerbach legt Wert auf die Feststellung, dass sein Verhältnis zur Religion „kein nur negatives“ (ebd.), sondern ein kritisches sei, welches „das Wahre vom Falschen“ (ebd.) scheide und durch Negation dessen, was negativ und daher zu negieren sei, die rechte religiöse Gestalt freilege. Wie das konstruktive Werk der Befreiung der Religion von und zu sich im Einzelnen zu geschehen hat, soll der erste Teil seiner Untersuchung über „Das Wesen des Christentums“ zeigen, der von der Religion in ihrer Übereinstimmung mit dem Wesen des Menschen handelt. Den Schlüssel zu ihrem rechten Verständnis bietet in gewisser Weise die christliche Religion selbst dar, nämlich in ihrer christologischen Theanthropologie, will heißen: in ihrer Lehre von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, ja vom göttlichen Leiden und Sterben in Jesu Christi Person. Das offenbare Geheimnis der Inkarnation besteht Feuerbach zufolge in der Anschauung und im Bewusstsein „Gottes als eines selbst menschlichen Wesens“ (GW 5, 101). Manifestiere sich im göttlichen Gesetz das Wesen des menschlichen Verstandes (vgl. GW 5, 75ff.), so sei dieser im Evangelium von der Menschwerdung Gottes zur Vernunft und zu der Einsicht gebracht, dass „der Mensch sich selbst in Gott Gegenstand“ (GW 5, 116) sei und Gottesliebe in Menschenliebe ihre Erfüllung finde. Vollendet ist diese, wenn sie das Leid bis hin zum Tod zu umschließen und in sich zu tragen vermag. „Die Liebe bewährt sich durch Leiden.“ (GW 5, 118) Diese Wahrheit wird in der Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu Christi anschaulich, wenngleich in der verkehrten Form einer theologia crucis mit ihren Vorstellungen von Opfer, Satisfaktion oder Sühneleiden etc. Beseitigt man die uneigentliche bzw. falsche Form, um des eigentlichen Gehalts gewahr zu werden, dann gibt sich die Passionsgeschichte als Ausdruck der Gewissheit zu erkennen, dass menschliche Liebe auch den Tod zu umfangen vermag, um durch ihn hindurch zu österlichem Leben vorzudringen. Das österliche Leben der Liebe währt zwar nach Feuerbach nicht ewig in einem überzeitlichen Sinn; doch selbst wenn es nur einen Augenblick andauern sollte, so hat es doch die Kraft und das Vermögen, das endliche und endende Leben nicht nur als sinnvoll, sondern als in sich vollendet zu erweisen. Christologie als Theanthropologie In der Gewissheit, dass das endliche und endende Leben des Menschen trotz allen Leids, ja in ihm sich in sich und aus sich heraus zu vollenden vermöge,

Verwandlung der Theologie in Anthropologie

sind Feuerbach zufolge alle Geheimnisse der christlichen Religion begründet. Die weltgeschichtliche Mission seiner Zeit, die auf den Begriff zu bringen er sich berufen weiß, besteht nach seinem Urteil darin, den humanen Sinngehalt der Religion im Allgemeinen und des Christentums im Besonderen aus der verkehrten Form zu lösen, in der er bisher gefangen war. Den Schlüssel für die Befreiung aus der Gefangenschaft bietet für denjenigen, der ihn zu ergreifen und zu gebrauchen vermag, die christliche Religion in der Weise ihrer christologischen Theanthropologie selbst an. Alle anderen christlichen Lehren ergeben sich Feuerbach zufolge aus ihr als aus ihrem Zentrum. Die Christologie fungiert als regulative Idee und Kriterium des dogmatischen Gesamtzusammenhangs. Dies gilt für die Trinitätslehre und die Mariologie (GW 5,130ff.) sowie für die Lehre vom Logos und der Gottebenbildlichkeit des Menschen (GW 5, 149ff.) Die Lehre vom Menschen als imago Dei bildet den Skopus, auf den sowohl die Aussagen von Schöpfung und Vorsehung (GW 5, 190ff.) als auch die Spekulationen über das kosmogonische Prinzip in Gott (GW 5, 162ff.) und die göttliche Natur (GW 5, 170ff.) hingeordenet sind. Erwägungen über „Die Bedeutung der Kreation im Judentum“ (GW 5, 205ff.) und über den christlichen Glauben an die Macht des Gebets und der Wunder (GW 5, 217ff.; 226ff.) bestätigen Feuerbach die Richtigkeit der gewonnenen Einsicht ebenso wie diejenigen über „Das Geheimnis der Auferstehung und der übernatürlichen Geburt“ (GW 5, 240ff.). Anfang und Ende des menschlichen Daseins sind von einem Mysterium umgeben. Das Geheimnis wird offenbar, sobald sich die Einsicht erschließt, dass der Sinn des Menschenlebens weder in einem Zuvor noch in einem Danach, sondern in ihm und in seinem beginnenden und endenden Verlauf zu suchen und zu finden ist. Das Menschenleben währt nicht immer; es ist nicht zeitlos, sondern Sein in der Zeit. Doch eignet dem menschlichen Dasein in der Zeit Ewigkeitswert dann, wenn der einzelne Mensch sich als Glied seiner Gattung und als Mitmensch erweist, um durch Mitmenschlichkeit das humane Wesen zu realisieren, in dem die Wahrheit der christlichen und aller Religion begründet liegt. Es ist nicht nötig, Feuerbachs Variationen seiner ursprünglichen Einsicht und die vielfältigen Ansätze seiner Entschlüsselung überkommener religiöser Traditionsbestände bis hin zu Zölibat und Mönchtum (GW 5, 279ff.) oder zur Himmelsvorstellung und Unsterblichkeitserwartung (GW 5, 293ff.) weiter zu verfolgen. Vermerkt sei nur noch, worin nach seinem Urteil der wesentliche Unterschied zwischen christlicher Religion und nichtchristlichen Religionen, zwischen Christentum und Heidentum, wie er sagt, begründet liegt. Die Antwort fällt kurz und bündig aus: in Christus, dem Gottmenschen in Person, der nicht nur den Namen des Christentums geprägt hat, sondern dessen Grund und Inbegriff darstellt.

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Christentum als Religion der Religionen Es ist Feuerbach zufolge Christus und er allein, in, mit und durch den das Christentum zur Religion der Religionen geworden ist, da in ihm vorstellig wird, worauf alle Religion ausgerichtet ist: die durch kein Leid aufzuhebende, sondern sich bis in den Tod hinein bewährende gottmenschliche Einigkeit. Die innere Mitte christlicher Theologie ist durch die Theologie als eine Theanthropologie markiert, die das Endliche mit dem Unendlichen zu vermitteln und zu versöhnen beansprucht. Das theanthropologische Zentrum bildet für Feuerbach den gedanklichen Ansatzpunkt, das Wesen des Christentums von innen heraus sowohl zu erschließen als auch zu transsubstantiieren und in dasjenige zu verwandeln, was er für seine Wahrheit hält: in eine a- bzw. transreligiöse Religion der Humanität und Mitmenschlichkeit. Um dies zu erreichen, bildet Feuerbach die christologische Lehrbildung in seinem Sinne fort, wobei seine Aufmerksamkeit vor allem der Lehre von der sog. communicatio idiomatum gilt. In der Person Jesu Christi, so befindet das altkirchliche Dogma, sind göttliche und menschliche Natur unvermischt und ungetrennt vereint. Diese unio soll vera et realis, personalis et perichoristica und perpetuo durans, von beständiger Dauer sein. Weil dies so ist, findet zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur in Christus eine wahre und wirkliche communio und communicatio, Gemeinschaft und Mitteilung statt. Daraus folgt nach traditioneller dogmatischer Lehre zum ersten die Möglichkeit, dass die von den beiden Naturen herrührenden Personenbezeichnungen gegenseitig voneinander prädiziert werden können. Als zweites ergibt sich, dass eine Mitteilung der beiden Naturen an die Person sowie aneinander stattfindet. Auf diese Konsequenz der Lehre von der unio personalis göttlicher und menschlicher Natur in Jesus Christus ist die Lehre von der communication idiomatum bezogen. Sie unterscheidet drei Genera, das genus idiomaticum, das genus apotelesmaticum und das genus maiestaticum. Nach dem ersten Genus sind alle Idiomata, die der einen oder anderen Natur angehören, ebenso sehr der Person Jesu Christi zugehörig. Indem er als Gott Mensch und als Mensch Gott ist, kann von Jesus Christus als Mensch, dass er allmächtig, und von Jesus Christus als Gott gesagt werden, dass er tatsächlich gelitten hat und gestorben ist. communicatio idiomatum Der Satz „Gott ist tot“ ist im Sinne traditioneller Theologie zwar differenzierungsbedürftig, aber nicht heterodox, sondern von christologischer Richtigkeit und Orthodoxie. Orthodox und richtig ist es auch, alle Wirkungen, welche von der Person Jesu Christi ausgehen, auf das Zusammenwirken beider Naturen zurückzuführen, statt sie einseitig auf eine zu reduzieren. Von einem Mitleiden der göttlichen am Leid der menschlichen Natur kann und muss also gemäß dem

Verwandlung der Theologie in Anthropologie

genus apotelesmaticum der Idiomenkommunikation bezüglich der Passion Jesu Christi die Rede sein, auch wenn der Gottmensch secundum humanitatem und nicht secundum divinitatem stirbt. Schließlich tritt vermöge der Personeinheit Jesu Christi nach Maßgabe jedenfalls der lutherisch geprägten Lehre von der communicatio idiomatum die göttliche Natur dergestalt in Gemeinschaft mit der menschlichen, dass dieser deren Hoheitseigenschaften zuteil werden bis dahin, dass dem Menschen Jesus Christus kraft unio personalis als Menschen das Vermögen wenn nicht der Ubiquität, so doch der Multivolipräsenz, also die Fähigkeit eignet, zu sein, wo immer er will. Die auf Zwingli und Calvin zurückgehende reformierte Tradition folgte an dieser Stelle der lutherischen nicht. Sie distanzierte sich vielmehr von der Zentralthese Wittenberger Christologie, wonach in Jesus Christus das Endliche als Endliches das Unendliche zu fassen vermöge: finitum non capax infiniti. Feuerbach hingegen fand an dem lutherischen „finitum capax infiniti“ nicht nur Gefallen, sondern suchte die Wendung wie Luthers Theologie überhaupt in den Dienst seines Verständnisses vom Wesen des Christentums und der Religion zu stellen. Dass er zu diesem Zweck grundlegende bzw. grundstürzende Veränderungen vornahm, ist ebenso evident wie sein Wunsch, die Religion und die christliche zumal nicht abstrakt zu negieren, sondern aus sich heraus zu bestimmen und konstruktiv fortzubilden. Was die grundlegenden bzw. grundstürzenden Veränderungen der christologischen Lehrüberlieferungen betrifft, die Feuerbach im Zuge seines Strebens vornahm, Theologie durch Anthropologie zu substituieren, so ist daran zu erinnern, dass auch die lutherische Tradition weder patripassianisch bzw. theopaschitisch gelehrt hat, noch der Auffassung war, das genus maiestaticum der communicatio idiomatum erlaube es, von einer Wechselseitigkeit der Eigenschaftsmitteilung zwischen den beiden Naturen zu sprechen. Wohl könne die menschliche Natur der idiomata der göttlichen teilhaftig werden, nicht aber die göttliche einen Zuwachs durch menschliche Eigenschaften erlangen, da sie in sich vollkommen sei. Hier setzt Feuerbach seinen Hebel an, um die Weichen in gegenläufige Richtung zu stellen: Die Theologie soll mittels der Christologie in Anthropologie überführt und so einem, wenn man so will, pneumatischen Ziel zugeführt werden, das zwar im Widerspruch steht zur traditionellen Verfassung des Christentums, aber seinem Geist entsprechen soll. Lutherrezeption Feuerbachs Werk über „Das Wesen des Christentums“ ist seit der Zweitauflage von 1843 nicht nur um einige Kapitel erweitert, sondern auch „durch neue Belegstellen, insbesondere aus Luther“ (GW 5, V), bedeutend vermehrt worden. Der intendierte Sinn der Lutherrezeption und insbesondere der Rezeption der von der Wittenberger Reformation geprägten Christologie besteht einzig und

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allein darin, die Funktion einer Zusatzbeglaubigung der bereits entwickelten Argumentationen zu erfüllen. Die Ergänzungen dienen als Mittel zum Zweck und der Bestätigung einer bereits feststehenden Auffassung.44 Innovativer ist im Vergleich dazu, was Feuerbach in der 1846 entstandenen, im Folgejahr publizierten Abhandlung über „Das Wesen der Religion“ (GW 10, 3–79) ausführte, die dem Heidelberger Kolleg von 1848 als Grundlage dienen sollte. Ihr Thema oder, wie Feuerbach in einer Anmerkung zum Titel einschränkend hinzufügt, „wenigstens ihr Ausgangspunkt ist die Religion, inwiefern ihr Gegenstand die Natur ist“ (GW 10, 3). Da der Kern des Christentums „nicht der Gott in der Natur, sondern im Menschen“ (ebd.) sei, habe er sich in seinen Schriften über „Das Wesen des Christentums“ religionskritisch darauf konzentriert, die Anthropologie als die Wahrheit der Theologie zu erweisen. Nun gelte es die Perspektive zu erweitern und explizit nach der religiösen Bedeutung der Natur zu fragen. Den Anlass hierzu bieten ihm die sog. Naturreligionen, die vom Christentum als nichtchristlich, heidnisch, ja als widerchristlich beurteilt werden. Sie stehen, wie Feuerbach ausführt, am Anfang der Religionsgeschichte und belegen, dass die Natur „der erste ursprüngliche Gegenstand der Religion“ (GW 10,4) ist.

44 Von der Richtigkeit dieser Annahme kann man sich anhand der einschlägigen Zusätze zur Zweitauflage des „Wesens des Christentums“ oder anhand der Abhandlung „Das Wesen des Glaubens im Sinne Luthers“ (vgl. GW 9, 353–412; ferner: 420–426) unschwer überzeugen. Als Feuerbach die erste Auflage seines „Wesen des Christentums“ schrieb, hat er „Luthers Werke nicht gekannt“ (J. Wallmann, Ludwig Feuerbach und die theologische Tradition, in: ZThK 67 [1970], 56–86, hier: 84). Seine „These von der Verwandlung der Theologie in die Anthropologie samt der darin implizierten Vergöttlichung des Menschen“ (85) hat er daher ohne Beeinflussung durch den Reformator entwickelt. (Vgl. dazu O. Bayer, Gegen Gott für den Menschen. Feuerbachs Lutherrezeption [1972] in: ders., Leibliches Wort. Reformation und Neuzeit im Konflikt, Tübingen 1992, 205–241. Wiederabgedruckt und mit einem Nachtrag versehen in: E. Thies [Hg.], Ludwig Feuerbach, Darmstadt 1976, 260–309. Von der bei Bayer detailliert aufgeführten weiteren Sekundärliteratur zum Thema vgl. besonders den Beitrag von J. Glasse, Feuerbach und die Theologen: Sechs Thesen über den Fall Luther, in: H. Lübbe/H.-M. Saß [Hg.], Atheismus in der Diskussion. Kontroversen um Ludwig Feuerbach, München 1975, 28–35 sowie die auf ihn bezogene Diskussion, a.a.O., 57ff. Beachtenswert ist die Bemerkung W. Schuffenhauers, a.a.O., 257, „daß sich die verschiedenen Auflagen des ‚Wesen des Christentums‘ inhaltlich nicht wesentlich voneinander unterscheiden. Feuerbach hat an seinem Buch nicht viel geändert … In der zweiten Auflage hat Feuerbach lediglich aus Luther und Augustin umfangreiches Belegmaterial beigebracht, aber eben nicht eingearbeitet.“) Zum Beginn der Lutherrezeption Feuerbachs vgl. H.-H. Brandhorst, Lutherrezeption und bürgerliche Emanzipation. Studien zum Luther- und Reformationsverständnis im deutschen Vormärz (1815–1848) unter besonderer Berücksichtigung Ludwig Feuerbachs, Göttingen 1981, hier: 147; zur Bedeutung Luthers für die Überarbeitung der Erstauflage des „Wesens des Christentums“ vgl. 149ff. Ferner: A. Brunvoll, „Gott ist Mensch“. Die Luther-Rezeption Ludwig Feuerbachs und die Entwicklung seiner Religionskritik, Frankfurt a. M. 1996.

Verwandlung der Theologie in Anthropologie

Aufgrund eines elementaren Abhängigkeitsgefühls (vgl. ebd.), welches sie gegenüber der Natur empfanden, neigten nach Feuerbach gerade die sog. primitiven Menschen dazu, diese zu vergöttern und sie bzw. einzelne ihrer Erscheinungsweisen mit einem transzendenten Schein auszustatten. Es sei Aufgabe der Religionskritik, diese Projektion zu durchschauen und deutlich zu machen, dass das vermeintlich supranaturale Wesen, das sich in der Natur offenbare, „nichts andres als die Natur selbst“ (GW 10,9) sei. Sowohl das ursprüngliche Sein als auch ihre fortwirkende Wirklichkeit seien auf die Natur selbst zurückzuführen und nicht auf den Gedanken einer göttlichen Schöpfung und Erhaltung. Renaturalisierung Die theologische Lehre von Gott als Schöpfer und Erhalter der Natur weist Feuerbach ebenso zurück wie andere Formen vermeintlicher Aufhebung ihrer, der Natur, objektiven Naturhaftigkeit in Subjektivität. Dennoch scheint er dem religiösen Betreiben, „das unpopuläre und unheimliche Wesen der Natur in ein bekanntes, heimliches Wesen zu verwandeln, die für sich selbst unbeugsame, eisenharte Natur in der Glut des Herzens zum Behufe menschlicher Zwecke zu erweichen“ (GW 10, 40), ein Wahrheitsmoment nicht zu bestreiten, als sich in ihm der Wille zu einer Humanisierung der Natur anzeigt. Doch sei dieser Wille sinnvoll nicht auf religiöse, sondern nur auf die vernünftige Weise der Kultivierung der Natur durch Arbeit etc. zu leisten. Dabei gehöre es zum vernünftigen Umgang mit der Natur, deren Vorgegebenheit allem menschlichen Tun und Lassen gegenüber anzuerkennen. Zwar sei der Mensch von seiner Wesensnatur her ein besonderes Wesen und dazu bestimmt, sich nicht nur leidend, sondern tätig gegenüber der Natur zu verhalten. Aber dabei werde er die Natur im Allgemeinen und seine eigene im Besonderen nie los; auf dem Grund und Boden der Natur fundiert könne er ohne deren Basis nicht sein, was er ist. Der Anthropologisierung der Natur entspreche deshalb eine Renaturalisierung des Menschen. Konkret ist damit gesagt, dass der Tod zum Leben gehört und der Unsterblichkeitsglaube, von dessen Kritik Feuerbachs Religionsphilosophie ihren Ausgang nahm, im Widerspruch steht sowohl zum Wesen des Menschen als auch zu demjenigen der Natur. Der natürliche, seiner und der ihn umgebenden Natur entsprechende Mensch bedarf nach Feuerbach des hoffnungsvollen Vertrauens auf eigene Unsterblichkeit nicht, um des Sinns seines Daseins gewahr zu werden. Zur Dahingabe des Unsterblichkeitsglaubens, wie religionskritische Philosophie sie fordere, gehöre daher „nichts weniger als eine unmenschliche stoische Resignation; es gehört nichts weiter dazu, als sich zu überzeugen, daß die christlichen Glaubensartikel nur auf supranaturalistische phantastische Wünsche gegründet sind, und zur einfachen, wirklichen Natur des Menschen zurückzukehren.“ (GW 10, 76 Anm.) Als ein Vorbild solch natürlicher Menschlichkeit hat sich Feuerbach in

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seinem auf der Schrift zum „Wesen der Religion“ basierenden Heidelberger Kolleg selbst präsentiert: „Ich mache Sie, meine Herren, hierauf aufmerksam, hierauf, daß ich den schönsten Teil meines Lebens nicht auf dem Katheder, sondern auf dem Lande, nicht in der Universitätsaula, sondern im Tempel der Natur, nicht in Salons und Audienzzimmern, sondern in der Einsamkeit meiner Studierstube zugebracht habe, damit Sie nicht mit Erwartungen an meine Vorlesungen kommen, in denen Sie sich getäuscht finden, nicht einen beredten glänzenden Vortrag von mir erwarten.“ (GW 6,11) 17.7

Der Mensch auf dem Grund und Boden der Natur

Unter den ca. hundert eingeschriebenen Hörern des zu Beginn des letzten Monats des Revolutionsjahrs 1848 begonnenen Heidelberger Kollegs über „Das Wesen der Religion“45 befand sich der Schweizer Dichter Gottfried Keller. Er war von Feuerbach fasziniert. Selbst die Tatsache, dass er seine Geliebte an ihn verlor, tat Kellers Begeisterung für den religionskritischen Philosophen keinen Abbruch. Schon von dessen äußerer Erscheinung war er – wie offenbar auch seine einstige Freundin – höchst angetan: „Feuerbach tritt ein und besteigt den Katheder. Eine männlich starke, gedrungene Gestalt mit scharf ausgeprägten Formen; den Rock bis oben an den Hals dicht geknöpft; die Stirne hoch gewölbt, gedankenschwer durchfurcht; das Auge voll Feuer, kühn und offen vordringend; das schöne bräunliche Barthaar voll und naturwüchsig. In seinem ganzen Wesen liegt kriegerische Entschlossenheit, ungebeugte Naturfrische; nichts, was irgend an die Erscheinung unseres stubenverhockten, lichtscheuen Zopfgelehrtentums erinnern könnte. Diesem Manne sieht man es an, er ist ein Charakter, ein Mann der Tat, ein Mensch aus einem Gusse.“46

45 Wie der gleichnamige Text, der ihr zugrundelag, behandelten die Heidelberger Vorlesungen „nicht nur das Wesen der christlichen Religion für sich allein, sondern das Wesen der Religion überhaupt, folglich auch der vorchristlichen, heidnischen Naturreligionen“ (GW 6, 27). Der Satz, wonach Theologie Anthropologie sei, wurde entsprechend durch den Zusatz ergänzt: „und Physiologie. Meine Lehre und Anschauung fasst sich daher in die zwei Worte Natur und Mensch zusammen.“ (GW 6, 28f.) Was damit genau gesagt ist und wie der Zusammenhang beider Worte und des durch sie Bezeichneten präzise zu bestimmen ist, hat als das entscheidende Problem jeder Feuerbachdeutung zu gelten. Vgl. F. Tomasoni, Ludwig Feuerbach und die nicht-menschliche Natur. Das Wesen der Religion: Die Entwicklungsgeschichte des Werks, rekonstruiert auf der Grundlage unveröffentlichter Manuskripte, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990. 46 Der Briefwechsel zwischen Gottfried Keller und Hermann Hettner, hg. v. J. Jahn, Berlin/Weimar 1964, 198.

Der Mensch auf dem Grund und Boden der Natur

Der Grüne Heinrich und sein Graf In Kellers Entwicklungsroman „Der Grüne Heinrich“ begegnet der naturwüchsig virile Philosoph in der Gestalt des Grafen wieder, der ganz nach dem Bilde Feuerbachs gestaltet ist und der dessen religionskritische Ansichten teilt, wenngleich auf völlig unideologische Weise. „Was nun Ihren lieben Gott betrifft, lieber Heinrich, so ist es mir ganz gleichgültig, ob Sie an denselben glauben oder nicht! Denn ich halte Sie für einen so wohlbestellten Kauz, dass es nicht darauf ankommt, ob Sie das Grundvermögen Ihres Bewusstseins oder Daseins außer sich oder in sich verlegen, und wenn dem nicht so wäre, wenn ich denken müsste, Sie wären ein anderer mit Gott und ein anderer ohne Gott, so würden Sie mir nicht so lieb sein, so würde ich nicht das Vertrauen zu Ihnen haben, das ich wirklich empfinde.“47 Heinrich hörte diese Worte und bewegte sie in seinem Herzen, während er in der gräflichen Bibliothek „Die Geschichte des theologischen und philosophischen Gedankenganges der neueren Zeit“48 studierte, um theoretisch nicht allzuweit hinter den Einsichten seines noblen Gönners zurückzubleiben. Kellers künstlerisches Credo „Idealität im streng Realen“49 , den Himmel auf Erden und Seligkeit in Gottesgeschenken von der Art von Heinrichs Dorothea zu suchen, ist ganz vom Geiste Feuerbachs geprägt, in dessen religionskritischer Philosophie der Dichter „den rechten Schlüssel für vieles bisher nur dunkel Begriffenes gefunden“50 hatte. Die in Heidelberg ausgegebene Devise

47 G. Keller, Sämtliche Werke. Bd. 2: Der Grüne Heinrich. Erste Fassung. Hg. v. Th. Böning u. G. Kaiser, Frankfurt am Main 1985, 847. Zum Verhältnis der 1849 und 1855 in Heidelberg und Berlin geschriebenen Erstfassung zur Zweitfassung, die zwischen 1878 und 1880 in Zürich entstanden ist, wo Keller mehr als sechs seiner sieben Lebensjahrzehnte verlebte, vgl. etwa K.-D. Metz, Gottfried Keller, Stuttgart 1995, 20ff. Es ist zu erwägen, ob man in den unterschiedlichen Schlüssen der beiden Fassungen zwei mögliche Wahrnehmungsgestalten der Feuerbach’schen Verhältnisbestimmung von Individuum und Menschheitsgattung sehen kann, sofern im ersten Fall der Gattungsbegriff generativ, im zweiten politisch aufzufassen ist. (Vgl. dazu den Beitrag von G. Rohrmoser, Warum sollen wir uns für Feuerbach interessieren?, in: H. Lübbe/H.M. Saß [Hg.], Atheismus in der Diskussion, 9–19; in erweiterter Form wiederabgedruckt in: E. Thies [Hg.], Ludwig Feuerbach, 483–514, und die dort entwickelte These, dass „(a)us Feuerbachs Religionskritik… die Bestimmung von Sexualität und Politik als den beiden neuen Grundformen der Verwirklichung von Religion“ [16; 491] folgt.) 48 G. Keller, a.a.O., 848; vgl. im Einzelnen: G. Wenz, Der Himmel auf Erden. Gottfried Keller als literarischer Adept Feuerbachscher Religionskritik, in: J. Rohls/ders. (Hg.), Protestantismus und deutsche Literatur, Göttingen 2004, 197–214. Zu „Ludwig Feuerbach und Gottfried Keller“ vgl. auch den gleichnamigen Beitrag von H.-J. Braun und H. Mettler, in: H.-J. Braun (Hg.), Ludwig Feuerbach und die Fortsetzung der Aufklärung, Zürich 2004, 45–73. 49 H. Laufhütte, Wirklichkeit und Kunst in Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“, Bonn 1969, 368; bei L. gesperrt. 50 H. Dünnebier, Gottfried Keller und Ludwig Feuerbach, Zürich 1913, 58.

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des Philosophen, seine Zuhörer sollten aus Scheinkandidaten des Himmels echte Studierende des irdischen Daseins werden, gab dem Dichter die künftige Richtung seines literarischen Schaffens vor, hin zu einem Humanismus, der für ihn in einem Vollendung und Ende der Religion darstellte. Die Wahrheit der Theologie ist die Anthropologie, diejenige der gelebten Religion die Mitmenschlichkeit. Auf sie und damit auf die Transformation bzw. Transsubstantiation von Religion in Humanität ist die Unterscheidung zwischen dem, was ihr wesentlich, und dem, was ihr unwesentlich ist, zwischen ihrem Wesen und ihrem Unwesen ausgerichtet. So lehrte es der Meister, dessen Intentionen der philosophische Schüler zu meisterhafter Dichtung gestaltete. Theologie, Anthropologie, Physiologie Das Höchste der Religion, der Religionsphilosophie überhaupt ist nach Feuerbach das menschliche Wesen, die Natur des Menschen und die Natur insgemein, zu welcher als zur Quelle allen Heils zurückzukehren sei. Was die Natur im Allgemeinen anbelangt, so scheint sie dem Wesen des Menschen einerseits vorgegeben zu sein, ohne doch andererseits unter Absehung von der menschlichen Natur erfasst und verstanden werden zu können. Entsprechend verhält es sich offenbar mit der allgemeinen Wesensnatur des Menschen in Bezug zum Einzelmenschen in seiner individuellen Besonderheit: Die Menschheit ist dem Menschen übergeordnet, obwohl dieser nicht darin aufgeht, bloßes Gattungsexemplar zu sein. Wie hat man dieses Verhältnis, das recht besehen ein komplexes Verhältnis von Verhältnissen darstellt, präzise zu fassen? Kellers Schweizer Landsmann Karl Barth, Schulhaupt der theologischen Bewegung, die seit Ende des Ersten Weltkriegs über Jahrzehnte im deutschen Protestantismus und darüber hinaus bestimmend war51 , hat diese Frage ins Zentrum seiner Feuerbachanalyse gestellt mit dem Ergebnis, dass es dem Religionskritiker nicht gelungen sei, eine angemessene Antwort auf besagte Frage zu finden. Die Antworten, die er faktisch gegeben habe, seien falsch und liefen auf eine Apotheose wenn auch nicht des einzelnen Menschen, so doch der Menschheit und mittels dieser der Natur hinaus. Feuerbach war nach Barth religiöser, als er es sich selbst eingestehen wollte. Weit davon entfernt, sie zum

51 Barth rezipierte Feuerbach in dem Interesse, dessen anthropologisch orientierte Religionskritik in eine dezidiert theologische Religionskritik zu verwandeln und diese gegen den theologiegeschichtlichen Trend zur Anthropologie zu wenden, der nach seinem Urteil die gesamte Geschichte der evangelischen Theologie des 19. Jahrhunderts seit Schleiermacher bestimmt habe. Von Feuerbach, so Barth, sei lediglich die Konsequenz aus dem tatsächlichen Verlauf der Geschichte des Neuprotestantismus gezogen worden, der auf den Abschied vom Christentum in seiner traditionellen Gestalt hinauslief, der Gott nicht lediglich als Prädikat des Humanen gegolten habe.

Der Mensch auf dem Grund und Boden der Natur

Verschwinden gebracht zu haben, kehrt die Religion unter dem Deckmantel der Religionskritik wieder, um die Gestalt einer angeblich humanistischen, in Wahrheit inhumanen Ideologie der Vergöttlichung der Natur bzw. der menschlichen Gattungsallgemeinheit anzunehmen.52 Der Anthropologisierung der Theologie korrespondiere eine Theologisierung der Anthropologie in Form einer Überhöhung der Menschheit ins Göttliche, die für den irdischen Einzelmenschen zwangsläufig zum Problem werden müsse. Denn dieser werde in seiner individuellen Besonderheit tendenziell zum bloßen Funktionsmoment menschlicher Gattungsallgemeinheit herabgesetzt. Die Anthropologisierung der Theologie ende so in einer Naturalisierung der Anthropologie. Natur und Gattung Das mit Gott in Wahrheit Gemeinte ist nach Feuerbach Barth zufolge die Natur, die in einem als Ende und Vollendung des Endlichen fungiere und der in anthropologischer Hinsicht das menschliche Gattungswesen entspreche, dessen natürlicher Entstehungs- und Vergehensordnung sich das Einzelsubjekt im Leben und im Tod zu fügen habe. In den Ergänzungen und Erläuterungen, die er seiner Schrift zum „Wesen der Religion“ beigefügt hat (GW 10, 80–121), bestätigt Feuerbach wiederholt, was in dieser selbst bereits ausdrücklich geltend gemacht wurde, dass nämlich das menschliche Individuum das Ende seiner Endlichkeit hinzunehmen habe, weil es seiner Wesensbestimmung entspreche, in die Allgemeinheit der Menschengattung und damit zur Natur zurückzukehren, aus der es gekommen sei (vgl. z. B. GW 10, 85). Zum selben Ergebnis gelangen drei Arbeiten zur Unsterblichkeitsfrage, die im Vorfeld des Heidelberger Kollegs entstanden sind (vgl. GW 10, 192–323). Nein, sagt Feuerbach, es gibt kein Leben nach dem Tod. Der Glaube an ein „anderes“ (GW 10, 203), jenseitiges Leben „ist nichts andres als der Glaube an dieses Leben“ (ebd.). Das Jenseits in seiner räumlichen Form ist das „Jenseits dieses Orts“ (GW 10, 221), die Ewigkeit in ihrer angeblichen Sempiternität der erfüllte Augenblick, in welchem der Lauf eines Lebens sich sammle. Seine wahre Realisation finde das in ein ewiges Jenseits projizierte Leben im diesseitigen Sein in der Zeit, näherhin in der Kultur einer entwickelten Liebe zu sich selbst, zum Guten und zur menschlichen Gattung.

52 Vgl. dazu beispielsweise K. Barth, Ludwig Feuerbach. Fragment aus einer im Sommersemester 1926 zu Münster i.W. gehaltenen Vorlesung über „Die Geschichte der protestantischen Theologie seit Schleiermacher“. Mit einem polemischen Nachwort, in: ZZ 5 (1927), 11–40; wiederabgedruckt in: E. Thies [Hg.], a.a.o., 1–32. Anmerkungsweise nimmt Barth darin häufig auf Keller und sein Verhältnis zu Feuerbach Bezug, wobei der „Grüne Heinrich“ im Zentrum des Interesses steht.

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Vollendete Endlichkeit Die Kultur der Mitmenschlichkeit transzendiert die Schranken des Raumes und die Grenzen der Zeit, ohne sie abstrakt zu negieren. Endlichkeit, sagt Feuerbach, ist nicht notwendigerweise defizitär, ihr Bewusstsein nicht zwangsläufig Wahrnehmung eines Mangels, eines Übels oder einer Sinnwidrigkeit. Sie kann und zwar auch angesichts ihres Endens und ihres Endes als erfüllt und vollendet in sich wahrgenommen werden, wenn die gebotene Selbstliebe des Menschen nicht zu einem in sich verkehrten Egoismus verkommt, der wider die Mitmenschlichkeit als die Natur des Menschen und gegen das Wesen der Natur überhaupt gerichtet ist. Ein von seiner Selbstverkehrtheit bekehrtes endliches Menschenwesen wird im Bewusstsein, als Endliches in sich vollendet zu sein, sein Ende und damit den Tod nicht scheuen. Feuerbach erneuert ausdrücklich sein ironisches Gesuch, diesen, den Tod, als besten Arzt auf Erden in die Akademie der Wissenschaften aufzunehmen. Einem an sein Ende gelangten endlichen Leben müsse der Tod keineswegs als schrecklich, er könne ihm im Gegenteil als erlösend erscheinen. Doch wie immer es sich mit dem Sterbevorgang im Einzelnen verhalten mag: die Bedeutung eines sinnvoll gelebten Lebens vermag kein Tod zu zerstören; sie bleibt, weil sie in diesem selbst gründet, bis ans Ende des Lebens erhalten, um sich im Tod zu vollenden. Man habe, schreibt Feuerbach, seinen „Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ den Vorwurf gemacht, auf den sich alle anderen reduzieren ließen, „daß sie absolut negativ wären, die Persönlichkeit, die Individualität vernichteten“ (GW 10,284)53 . Doch könne in Wahrheit keine Rede davon sein, dass mit Unsterblichkeitsglauben die Gewissheit des unendlichen Werts jedes Einzelmenschen dahinfalle. Wahr sei vielmehr, dass dieser Unendlichkeitswert in der Endlichkeit jedes individuellen Menschenlebens selbst begründet und darauf angelegt sei, vom Einzelnen im Bewusstsein seiner Wesensnatur entschieden und entschlossen ergriffen zu werden. Nicht extern, sondern intern, nicht außerhalb, sondern innerhalb des endlichen Menschenlebens sei dessen Sinn zu suchen und zu finden. Es sei Selbsttäuschung, die zur Entfremdung führe, wenn der Mensch seine Erfüllung in einem überirdischen Himmel suche statt im irdischen Leben, welches himmlisch sei für jeden, der es zu leben verstehe.

53 Dass er kein geistloser Naturalist sei bzw. keine Theorie vertreten wolle, die auf eine Naturalisierung des Geistes hinauslaufe, hat Feuerbach in einer Replik auf Rudolf Haym (GW 10, 333–346) darzutun versucht. Seine Christentumskritik bezwecke keine Repristination heidnischer Naturreligionen, denen gegenüber die christliche Religion einen Fortschritt an Humanität bedeute. Eine Religion der Humanität bekenne auch er, so wie er als Philosoph entschieden auf einem humanen Standpunkt stehe und einen Humanismus vertrete, in welchem Mensch und Natur innig verbunden seien. Zum Thema „Die Naturwissenschaft und die Revolution“ vgl. GW 10, 347–368.

Der Mensch auf dem Grund und Boden der Natur

Selbst das eigene Leben zu opfern, sei aus der Gewissheit seiner Lebendigkeit und des in ihm selbst gründenden Sinnes heraus möglich (vgl. GW 10, 285 ff.). Leben und Tod Ja, „der Tod ist ein Übel, wogegen kein Kraut gewachsen ist – am wenigstens auf dem Mist der Theologie“ (GW 10, 294); doch ist er Feuerbach zufolge deshalb nicht zu fürchten, sondern als zum guten Leben gehörend billigend in Kauf zu nehmen, durch welche Billigung er seinen Stachel verliere. Im Übrigen gelte, dass das Leben mit dem Tod im Grunde nichts zu schaffen habe, weil dieser nicht in seine Zeit falle und keinen Raum in ihm habe. Zwar ist der natürliche Mensch nicht wie die Mutter Natur, der er entstammt, ohne Anfang und Ende (vgl. GW 10, 296); aber seine End- und Anfänglichkeit ist für ihn recht betrachtet alles andere als widernatürlich, sondern Implikat seiner Wesensnatur, in der er seine Erfüllung zu finden bestimmt ist. Bedenkt der Mensch recht, dass es sich so mit ihm verhält, wird er Feuerbach zufolge bereit und in der Lage sein, getrost das Zeitliche zu segnen, wenn es an der Zeit ist, und seinen Raum gerne denen überlassen, die nach ihm kommen. Indem er in das Notwendige einwillige, hebe er dessen Zwangscharakter auf. Den Vorwurf, seine Lehre laufe auf die schlechte Unendlichkeit eines infiniten Fortgangs ohne Sinn und Ziel hinaus, lässt sich Feuerbach nicht gefallen (vgl. GW 10, 301). Fasse das menschliche Leben sein Ende in sich, habe es als vollendet und als ein integres Ganzes zu gelten, das seiner Wesensnatur und damit der Natur überhaupt entspricht. Gottfried Keller war nicht der Einzige, der sich von Feuerbachs Endlichkeitsglauben und seiner Philosophie einer naturkonformen Humanität begeistern ließ. Ja, man wird sagen dürfen, dass er als Poet Feuerbachs Grundanliegen in Teilen besser zur Darstellung zu bringen vermochte als dieser. Der Philosoph hätte das möglicherweise neidlos anerkannt. Bekannte er doch von sich selbst, in den Aphorismen, Distichen und Xenien seiner Frühzeit als Poet längst ausgesprochen zu haben, was er „als Philosoph, als Denker, d. h. als philiströser Prosaiker“ (GW 10, 308) erst mühsam und in einem langwierigen Prozess in Begriffe zu fassen in der Lage gewesen sei: „Der Poet sitzt zu Pferde, aber der Prosaiker geht zu Fuße; der Poet ist daher mit einem Satze über den Graben, über den der Prosaiker erst eine Eselsbrücke schlagen muß; der Prosaiker kommt unterwegs mit allerlei Gesindel ins Handgemenge, während der Poet von seinem Pferde herab mit epigrammatischen Peitschenhieben seine Gegner abfertigt und daher schon längst der verfolgenden Menge aus den Augen geschwunden ist, wenn der Prosaiker sich noch ein langes und breites mit ihr herumstreiten und zum Lohne für die Wahrheiten, die er ihr sagt, sich mit allerlei Kot, absonderlich aber christlichen Kot, bewerfen lassen muß.“ (Ebd.)

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Epilog

17.8

Heilsames Fegefeuer

Karl Löwith, dessen Andenken zusammen mit demjenigen von Nicolai Hartmann und Karl Jaspers Pannenbergs Monographie „Theologie und Philosophie. Ihr Verhältnis im Lichte ihrer gemeinsamen Geschichte“ gewidmet ist, hat in seinem Werk „Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts“ Feuerbach unter jene „vorläufige(n)“54 Philosophen gerechnet, die aktuell vorgreifen auf das, was nach ihnen kommen und zum künftigen Geist einer Zeit werden wird: Seine „Versinnlichung und Verendlichung von Hegels philosophischer Theologie ist schlechthin zum Standpunkt der Zeit geworden, auf dem wir nun alle – bewußt oder unbewußt – stehen“ (108). Indem er die christliche Religion auf das natürliche Wesen des Menschen reduziert habe (vgl. 418), habe er zugleich die leibhafte Existenz „als das höchste Wesen des Menschen“ (391) bezeichnet, wie das bis zum heutigen Tage philosophisch üblich sei. Vergleiche man ihn mit Bruno Bauer und David Friedrich Strauß, dann stehe Feuerbach letzterem näher als ersterem. Denn während dieser, Bauer, „auch als Kritiker Hegelianer geblieben ist“ (419) haben Feuerbach und Strauß „die Philosophie im bisherigen Verstande aufgegeben. Ihre Kritik führt zurück auf eine mehr oder weniger begrifflose Anthropologie.“ (Ebd.) Wenn man diese als materialistischen Humanismus bzw. humanistischen Naturalismus charakterisiere, sei damit noch nicht viel gesagt. Es verbleibe als entscheidendes Problem, wie man Natur und Mensch, Materialismus und Humanismus ins Verhältnis zu setzen habe. Materialistischer Humanismus Mit besagtem Problem55 aufs Engste verbunden ist dasjenige einer rechten Bestimmung des Verhältnisses von Natur- und Gattungsallgemeinheit zur Besonderheit des Individuellen und nachgerade zur Einzelheit des leibhaften Menschen in seiner konkreten Lebensgeschichte. Hat „das Allgemeine eine 54 K. Löwith, Sämtliche Schriften. Bd. 4: Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 1988, 1- 490, hier: 99. Die nachfolgenden Seitenverweise im Text beziehen sich hierauf. Nach K. Löwith ist Hegels Verhältnis zur christlichen Religion und Theologie „von Anfang an wesentlich zweideutig. Es besteht in einer philosophischen Rechtfertigung der Religion durch die Kritik ihrer religiösen Vorstellungsform, oder mit dem doppeldeutigen Grundbegriff der Hegel’schen Philosophie gesagt: in der ‚Aufhebung‘ der Religion in die Philosophie.“ (K. Löwith, Hegels Aufhebung der christlichen Religion, in: H.-G. Gadamer [Hg.], Heidelberger Hegel-Tage 1962. Vorträge und Dokumente, Bonn 1964, 193–236, hier: 194f.; auf diese tatsächliche oder vermeintliche Zweideutigkeit führt Löwith die konträre Rezeption der Hegel’schen Religionsphilosophie im Lager der Rechts- und Linkshegelianer zurück. 55 In ihm reflektiert sich die Schwierigkeit traditioneller Theologie, physische und moralische Eigenschaften Gottes (um in der Terminologie Feuerbachs zu reden), also etwa göttliche Allmacht und göttliche Gerechtigkeit in eine rechte Beziehung zu setzen.

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Existenz für sich“ (GW 6, 137)? Diese Frage, die Feuerbach selbst nicht nur zu einer „der schwierigsten, sondern auch wichtigsten“ (ebd.) seiner Philosophie erklärt hat, ist durch die Abwehr ihrer theologischen Beantwortung längst nicht erledigt, da die Gefahr einer Hypostasierung des Allgemeinen in Form der Natur als solcher bzw. der menschlichen Wesensnatur nach wie vor virulent bleibt. Sie bringt eine weitere mit sich, nämlich die Gefahr einer Naturalisierung des Geistes und der Herabsetzung des Menschen zu einem Epiphänomen einer naturhaft gefassten Menschheitsgattung. Feuerbach will dieser Gefahr durch Kritik einer – naturloser Geistvorstellung korrespondierenden – Vorstellung geistloser Natur wehren. Damit aber ergibt sich erneut die alte Frage, wie sich Mensch und Natur präzise zueinander verhalten und was unter beiden Termini in ihrem wechselseitigen Verhältnis genau zu verstehen ist. Was wollte Feuerbach erweisen – und was hat er erwiesen? Um die erste Frage ihn selbst beantworten zu lassen: „Ich wollte beweisen, daß der Gott der Naturreligion die Natur, der Gott der Geistesreligion, des Christentums, der Geist, überhaupt das Wesen des Menschen sei, und zwar zu dem Zwecke, daß der Mensch fürderhin in sich selbst, nicht mehr außer sich, wie der Heide, nur über sich, wie der Christ, den Bestimmungsgrund seines Handelns, das Ziel seines Denkens, den Heilquell seiner Übel und Leiden suche und finde.“ (GW 6, 309)56 Ist dieser Beweis gelungen? Das hängt von der Antwort auf die Frage ab, ob der Mensch den Sinngrund seiner selbst und seiner Welt in sich zu finden und von sich aus zu integrer Ganzheit zu gelangen vermag. Feuerbach hat die Religion auf menschliches Wünschen zurückgeführt, welches auf die Behebung von Mängeln und Verkehrtheiten mannigfacher Art ausgerichtet sei.57 Beruht nicht, so ließe sich zurückfragen, seine eigene Theorie auf einem in 56 Ziel des Heidelberger Kollegs war es demgemäß, wie Feuerbach abschließend formuliert, die Hörer „aus Gottesfreunden zu Menschenfreunden, aus Gläubigen zu Denkern, aus Betern zu Arbeitern, aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits, aus Christen, welche ihrem eigenen Bekenntnis und Geständnis zufolge ‚halb Tier, halb Engel‘ sind, zu Menschen, zu ganzen Menschen zu machen“ (GW 6, 320). 57 Dass der Wunsch der Vater bzw. die Mutter der Religion und ihrer praktischen Vollzüge sowie ihrer theoretischen Gedanken sei, ist die Grundthese auch von Feuerbachs drittem religionskritischen Werk nach den Schriften zum Wesen des Christentums und der Religion, der „Theogonie nach den Quellen des klassischen, hebräischen und christlichen Altertums“ (vgl. GW 7). Es erschien erstmals im Frühjahr 1857; in der Zweitauflage von 1866 ist „Theogonie“ im Titel durch „Der Ursprung der Götter“ ersetzt. „Die Erscheinung der Götter ist nur da eine notwendige und ursprüngliche, eine ebendeswegen nicht nur poetische, sondern auch religiöse Erscheinung, wo sich mit Notwendigkeit ein Wunsch in der menschlichen Brust erhebt.“ (GW 7, 37). Das sei bereits in der klassischen Antike eines Homers so gewesen, dessen Ilias und Odyssee Feuerbach eingehend behandelt, und es habe sich im hebräischen und christlichen Altertum nicht geändert: „Der wesentliche, charakteristische Gegenstand des Glaubens in der Bibel sind daher Verheißungen; aber Verheißungen sind nur versprochene Erfüllungen von

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seiner Art frommen Wunsch, wenn er die Erfüllung menschlicher Sehnsüchte dem Menschen bzw. der Menschheit selbst zutraut? Feuerbach hat unter Berufung auf Hegels Forderung zu leistender Aufhebung der religiösen Vorstellung in den philosophischen Begriff des Absoluten Religion, die auf ihrer religiösen Form insistiert, als Entfremdungsprodukt und den Gottesgedanken als Indiz der Entzweiung charakterisiert, da das Menschengeschlecht durch ihn die Unendlichkeitsbestimmung seines Wesens in ein supranaturales Jenseits projiziere, statt sie hier und heute approximativ zu realisieren.58 Um der Menschheit ihr humanes Wesen zurückzugeben und der Wünschen.“ (GW 7,43) Feuerbach führt zahlreiche sog. theogonische Wünsche (vgl. GW 7, 47 ff.) an, Wünsche der Not und der Liebe (vgl. GW 7, 66 ff.), der Glückseligkeit (vgl. GW 7, 77 ff.), der Furcht und der Hoffnung ( vgl. GW 7, 84 ff.) etc. Viele von ihnen kreisen um das elementare Problem von Tod und Unsterblichkeit (vgl. GW 7, 161 ff.), dessen Analyse am Anfang von Feuerbachs Entwicklung zum Religionskritiker stand. Auch auf die zeitig behandelte Wunderthematik kommt er in der „Theogonie“ zurück (vgl. GW 7, 206 ff.). Der Wunderwunsch gilt ihm wie alles sonstige Wünschen als Folge eines egoistischer Selbstliebe erwachsenden Strebens, sich selbst zu verewigen und der eigenen Endlichkeit unendlichen Bestand zu verleihen. Summa summarum: Religion ist Projektion, ihr Zentralthema Gott und die Götter, eine durch menschliches Wünschen hervorgerufene Illusion ohne Realitätsgehalt. Flankiert und begleitet wurde die „Theogonie“ von einer Reihe kleinerer Schriften aus den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, die neben Texten zu separaten Themen in GW 11 gesammelt sind. Der Titel des vorletzten Beitrags fasst Feuerbachs Grundthese abschließend zusammen: „Zur Theogonie oder Beweise, daß der Götter Ursprung, Wesen und Schicksal der Menschen Wünsche und Bedürfnisse sind“ (GW 11, 219 ff.). Als Beleg werden zur Abwechslung lateinische Schriftsteller angeführt. Was die naturalistische Basis seiner Philosophie anbelangt, so hat sie Feuerbach in der Torso gebliebenen großen Abhandlung „Über Spiritualismus und Materialismus, besonders in Beziehung auf die Willensfreiheit“, die er „vermutlich unmittelbar nach Erscheinen der ‚Theogonie‘ … in Angriff nahm“ (GW 11, VIII), noch einmal in epischer Breite darzulegen versucht (GW 11, 53–186); zum berühmt-berüchtigten Satz „Der Mensch ist, was er ißt“ vgl. GW 11, 26–52. 58 Die sog. Projektionstheorie ist Pannenberg zufolge nicht erst von Feuerbach entwickelt worden. In strukturell vergleichbarer Form finde sich die ihr zugrunde liegende Argumentationsfigur „schon in Johann Gottlieb Fichtes Schriften zum Atheismusstreit, nämlich in dem Versuch, die Vorstellungen von Gott als Substanz und als Person als widerspruchsvoll, weil dem Gedanken des Unendlichen unangemessen, zu erweisen“ (STh I, 104). Zuvor hatte bereits „Kant unter dem Eindruck der Argumente Humes von einem symbolischen Anthropomorphismus bei den Gott zugeschriebenen Eigenschaften gesprochen“ (STh I, 393). Feuerbach ist also Pannenberg zufolge nicht eigentlich der Urheber einer genetischen Kritik der Religion, welche diese durch Rückführung auf menschliche Bedürfnisse und anthropomorphe Vorstellungen zu erklären suche. Er habe die Erklärung der Ausbildung religiöser Vorstellungen aus nichtreligiösen innerweltlichen Motiven „nur systematisch ausgebaut“ (ebd.). (Dass sich Feuerbach selbst in die Nachfolge Kants [und Fichtes] gestellt sah, zeigt H.-J. Braun, Die Religionsphilosophie L. Feuerbachs. Kritik und Annahme des Religiösen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972. Grundzüge der Feuerbach’schen Anthropologie und ihrer Genese sind skizziert in: ders., Ludwig Feuerbachs Lehre vom Menschen, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971.)

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Natur gerecht zu werden, die ihre Basis bilde, müsse Gott entthront, die Theologie ihrer Grundlage beraubt und die Religion durch Erkenntnis des Motivs ihres Zustandekommens zum Verschwinden gebracht werden. Es sei, so Feuerbach, das selbstsüchtige Streben des einzelnen Menschen nach individueller Unsterblichkeit, welches zur Religion und zur Produktion ihrer projektiven Vorstellungen führe. Werde der verkehrte Wille des Individuums nach unmittelbarer Selbstverewigung behoben, erübrige sich das religiöse Verhältnis und verflüchtige sich ohne viel Aufhebens. Prävalenz des Allgemeinen Während Bruno Bauer, nach Karl Marx der Fichteaner unter den Hegeladepten, das einzelne Selbstbewusstsein zum Subjekt der Religion und Gott zu einem Ichreflex erklärt hatte, haben Feuerbach und David Friedrich Strauß als, wenn man so will, hegelianisierende Spinozisten die religiösen und theologischen Gehalte auf die Substanz des menschlichen Gattungswesens reduziert, um dieser eine entsprechende Apotheose zuteil werden zu lassen. An die Stelle Gottes soll das Allgemeinmenschliche, im Falle Feuerbachs schließlich die Natur als Basisgrund des Menschenwesens treten, dessen Prävalenz und Prädominanz über alles Einzelne naturgemäß anzuerkennen sei. Individualität wird so zum transitorischen Moment der Realisierung des Allgemeinen herabgesetzt, was Hegels Bestimmung des Verhältnisses von Besonderem und Allgemeinem und seinem Begriff von Einzelheit kaum entspricht. Darf, so ist zu fragen, das individuelle Bedürfnis nach Unendlichkeitsbedeutung und das Widerstreben, im Kollektiv der Gattungsnatur aufzugehen, zum Inbegriff des Verkehrten erklärt werden? Und hat der Mahnruf zur Selbsthingabe des Besonderen ans Allgemeine nicht selbst einen quasireligiösen Charakter, sodass mit Recht von einer Religion der Religionskritik zu reden wäre? Man hätte es dann mit einer Religion zu tun, die explizit beansprucht, keine zu sein und sich damit die Einsicht in ihr eigenes Wesen bewusst oder unbewusst verstellt. Dies wiederum wäre ein Fall von Ideologie als einer Ersatzreligion, die keinen Begriff von sich selbst als Religion und am allerwenigsten denjenigen hat, der dieser von Hegel zugedacht worden ist. Mit Assoziationen wie diesen ist noch einmal der Problemhorizont umrissen, in dem Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ und seine Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie des subjektiven Geistes ihren Sitz im Leben haben. Die Lehre vom Menschen bot in der nachhegelschen Ära die Plattform, auf der die Religionskritik „ihre Allgemeingültigkeit zu erweisen suchte“ (Anthr., 15), und sie bildet Pannenberg zufolge nach wie vor den Rahmen, innerhalb dessen über die Bedeutung der Religion zu befinden ist. Die entscheidende Frage lautet damals wie heute, „ob Religion unerläßlich zum Menschsein des Menschen gehört oder im Gegenteil dazu beiträgt, den

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Menschen sich selbst zu entfremden“ (ebd.). Pannenberg plädiert entschieden für die erste Option und will gegen Feuerbach, in dem er den prototypischen Repräsentanten eines modernitätsspezifischen Atheismus erkannte, erweisen, dass Religion konstitutiv zum Menschsein des Menschen gehört. Der Mensch, so Pannenberg, ist seiner Natur nach religiös. Werde dies geleugnet und die Religion aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt, nehme sie ideologisch pervertierte Gestalt an, wie Feuerbachs Vergottung der Menschheitsgattung und seine Verhimmlung der Natur beweise. Diese führten die Herabsetzung des Individuums zu einem bloßen Funktionsmoment des Allgemeinen zwangsläufig mit sich, werde dieses nun naturalistisch oder, wie in der marxistischen Theorie, als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt (vgl. Anthr., 169).59 Die radikale Religionskritik von Feuerbach und Marx, aber auch von Nietzsche, Freud und anderen steht und fällt Pannenberg zufolge „mit der Behauptung, daß Religion nicht konstitutiv zum Menschsein des Menschen gehört, daß sie vielmehr trotz ihres langdauernden Einflusses auf die Menschheit und ihre Geschichte als eine Verirrung zu beurteilen ist oder bestenfalls als eine unreife Gestalt menschlicher Wirklichkeitsauffassung, die durch die säkulare Kultur der abendländischen Neuzeit oder auch durch eine erst noch zu schaffende neue Gesellschaft im Prinzip überwunden ist und endgültig verschwinden wird“ (STh I, 171). Gegen diese These ist Pannenbergs „Anthropologie in theologischer Perspektive“ einschließlich einer Reihe anderer Werke bis hin zur Systematischen Theologie in Kritik und Konstruktion gerichtet. Als Indiz, dass Religion zur Wesensnatur des Menschen gehört60 , wird neben ihrer allgemeinen Verbreitung 59 Schon Feuerbach sagte von sich, er sei ein „Kommunist“ (GW 9, 441), worunter er einen „Gemeinmensch(en)“ (ebd.) verstand, der weiß, dass er ein Ich nur mit einem Du sein kann: „Kein Du – kein Ich.“ (GW 9, 436) 60 Vgl. zusammenfassend W. Pannenberg, Religion und menschliche Natur, in: ders. (Hg.), Sind wir von Natur aus religiös?, Düsseldorf 1986, 9–24, hier: 23. „Religion – in welcher Form auch immer – ist eine notwendige Dimension seines Lebens, und wo sie verkümmert, muß man mit folgereichen Verformungen der dem Menschen möglichen Entfaltung seines Lebens rechnen.“ Diese Aussage hat Pannenberg a.a.O., 73–86 vehement gegen die Bestreitung von Günter Dux verteidigt. Dux hatte in seinem Beitrag „Zum historischen Stand der Religion“ (43–72) das Ende der Religion (vgl. 70ff.) insofern proklamiert, als die für sie konstitutive Bindung an das sog. subjektivistische Weltverständnis wissenschaftlich obsolet geworden und überholt sei. Entwicklungslogisch, wenn auch nicht faktisch, sei die Zeit der Religion definitiv vergangen. So sehr diese zu ihrer Zeit keineswegs nur wissens- bzw. wissenschaftshemmend, sondern durchaus erkenntnisförderlich gewirkt habe, so wenig bedürften Wissen und Wissenschaften fernerhin der Religion, die sie vielmehr durch genetisierende Erklärung prinzipiell hinter sich zu lassen in der Lage seien. Breit ausgeführt hat Dux seine Konzeption in seinem Hauptwerk: Historisch-genetische Theorie der Kultur. Instabile Welten. Zur prozessualen Logik im kulturellen Wandel, Weilerswist 2000.

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seit den frühesten Anfängen der Menschheitsgeschichte, ihrer grundlegenden Relevanz für die Genese der Kulturen und wohl auch für den Ursprung der Sprache, ihrer institutionellen Legitimationsfunktion etc. in Sonderheit die durch Weltoffenheit, Exzentrizität bzw. Selbsttranszendenz charakterisierte Verhaltensstruktur des Menschen geltend gemacht, deren Wahrnehmung auch für Hegels Lehre vom subjektiven Geist bestimmend geworden sei. Auch nach dieser gehöre Religion konstitutiv zum Menschsein des Menschen, der sich selbst transzendieren müsse, um zu sich zu kommen und seine Bestimmung zu realisieren. Werde dies verkannt, dann drohe ideologische Verkehrung der menschlichen Verhältnisse, womit sich erneut bestätige, dass Religion nur durch Religion substituiert werden könne.61 Religion der Religionskritik Ideologie ist die Religion der Religionskritik. Vermeiden lasse sich die Ideologisierung des Bewusstseins nur, wenn Religion als unveräußerlich zum Menschsein des Menschen gehörig anerkannt und explizit als Religion ausgeübt werde. Insofern komme der Religion eine durchaus aufklärerische Funktion zu, was auch Hegels Philosophie anerkenne, wenn er von der Vernunft der Religion spreche. Seiner Forderung hingegen, die religiöse Vorstellung in den philosophischen Begriff aufzuheben, widersetzt sich Pannenberg energisch. In diesem Zusammenhang wird ein Vorwurf gegen Hegel geltend gemacht, der auch ansonsten häufig begegnet und dessen Stichhaltigkeit entscheidend ist für die Beurteilung der Pannenberg’schen Hegelkritik. Er besagt, dass Hegels Begriff des Begriffs als des absoluten Subjekts „Ergebnis einer Übertragung der endlichen Subjektivität des Menschen auf das Absolute“62 sei: „Es ist der Subjektbegriff der Ichphilosophie des frühen Fichte, nur erweitert durch die Einbeziehung der Objektivität in die Bewegung der Selbstrealisierung des Ich. Dieses Ich ist schon als absolutes Ich im Sinne Fichtes die entschränkte Form der menschlichen Subjektivität, des endlichen Ich. Die Entschränkung der Vorstellung von der Subjektivität des Ich führte aber schon in Fichtes Gedanken einer Selbstsetzung des Ich durch seine Tathandlung in Aporien, die sich in 61 Aus seiner Annahme, dass der Mensch von Natur aus religiös sei, folgert Pannenberg keinen Existenzbeweis Gottes. Zwar steht jeder Mensch in einem mehr oder minder manifesten Gottesbezug, da er auf etwas ausgerichtet ist, auf das er sein Selbst und seine Welt gründe. Aber dieser Bezug bleibe uneindeutig und dem Verdacht des Illusionären und des Verkehrten ausgesetzt. Ausgeräumt werden könne dieser Verdacht nicht vom religiösen Bewusstsein, sondern nur von der göttlichen Selbstoffenbarung her, mittels derer Gott aus sich selbst heraus das Dasein seiner Wirklichkeit für den Menschen und die Menschenwelt unter Beweis stelle und so die Uneindeutigkeit und Ambivalenz menschlicher Religiosität identifiziere und behebe. 62 W. Pannenberg, Problemgeschichte, 304.

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Hegels Lehre von der Selbstentfaltung des absoluten Subjekts im Prozeß seiner Offenbarung wiederholten. Durch diese Unzulänglichkeit seines Begriffs von Gott als Subjekt forderte Hegel eine Kritik heraus, die diesen Begriff in der einen oder anderen Form als bloßes Spiegelbild der endlichen Subjektivität des Menschen bloßstellte.“63 Um zum Schluss noch einmal auf den eingangs erwähnten Göttinger Magister und Heinefreund Heinrich Kitzler zurückzukommen, der bei Vandenhoeck und Ruprecht nicht nur für teures Geld Bücher kaufen, sondern den altehrwürdigen Verlag auch mit Eigenproduktionen bedienen wollte, welches Vorhaben indes trotz redlichen Bemühens stets misslang, weil der fleißige Autor am Ende seines literarischen Schaffens jeweils und regelmäßig sich selbst vom antithetischen Gegenteil dessen überzeugte, was er am Anfang für richtig gehalten und thetisch vertreten hatte – und so fort.64 Man schimpfte ihn deshalb, wie in Heinrich Heines Stück „Elementargeister“ zu lesen, „allgemein für einen Esel“ (DHA 9, 42, 22). Doch sollte jeder Bibelkenner wissen, dass Esel – wie etwa das Beispiel desjenigen Bileams beweist (vgl. Num 4,22–24) – gerade in theologischen Angelegenheiten kundiger sind als viele Menschengeschöpfe. Dies gilt in anderer Weise auch für Bären, wobei im gegebenen Zusammenhang weniger an die beiden Exemplare zu denken ist, die des Propheten Elisas Verfluchung der spottenden Knaben (2. Kön 2, 23b: „Glatzkopf, komm herauf! Glatzkopf, komm herauf!“) exekutieren, als vielmehr an ein Brauntier namens „Atta Troll“, dem Heine ein eigenes Poem mit dem schönen Untertitel „Ein Sommernachtstraum“ gewidmet hat. Problembär In dem lyrischen Stück warnt der Bärenvater seine Jungen vor glaubens- und gottlosen Philosophen, die neuerdings gar den Atheismus predigten: „Kind, mein Kind, nimm dich in Acht / Vor dem Feuerbach und Bauer! / Werde nur kein Atheist, / So ein Unbär ohne Ehrfurcht …“ (DHA 30, 31–34) Es folgt Trolls Glaubensbekenntnis: „Droben in dem Sternenzelte, / Auf dem goldnen Herrscherstuhle, / Weltregierend, majestätisch, / Sitzt“ (DHA 30, 49–52), man ahnt es: ein fleckenloser und schneeweiß glänzender Eisbär. Diese Pointe als eine Affirmation Feuerbach’scher Religionskritik zu deuten, wie es nahezuliegen scheint, wäre falsch und nicht im Sinne Heines. Als nicht minder abwegig und heillos müsste es indes gelten, Gottes Gottheit von allem Kreatürlichen freiund fernzuhalten. Heine hatte ein Bewusstsein davon (und zwar nicht erst, als 63 A.a.O., 304f. 64 Wäre es sein Produkt, hätte Kitzler wohl auch das vorliegende Buch dem Feuer übergeben. Den Hinweis, der Autor wäre gut beraten gewesen, dem Vorbild des Göttinger Kommilitonen Heines zu folgen, überlasse ich den Rezensenten.

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er in der Matratzengruft lag), und die Tiere, welche die Krippe ihres Herrn kennen (vgl. Jes 1,3), wissen es auch. „Ach Herr, du Schöpfer aller Ding, / wie bist du worden so gering, / daß du da liegst auf dürrem Gras, / davon ein Rind und Esel aß!“ (Evang. Gesangbuch 24,9) Religion ist ein anthropologisches Universale, Gott durch den Menschen ersetzen zu wollen, abwegig und verkehrt. Das ist wahr! Theologisch aber kommt alles auf die Einsicht an, dass dem Schöpfer Himmels und der Erden nichts Menschliches und nichts Kreatürliches fremd ist. Der Allmächtige kennt die Ohnmacht und weiß, was es heißt, nicht nur nicht allwissend, sondern in Bezug auf Grundbestände der eigenen Existenz im Ungewissen zu sein. Der auferstandene Gekreuzigte bietet in der Kraft des Geistes die Gewähr dafür und den Grund der Gewissheit, dass Gott aus dem Tode, ja sogar aus dem Abgrund selbstverschuldeter Sünde zu erretten vermag.

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Preisstand 1.1.2020