Braver Junge – gefüllt mit Gift: Schreiben, Ambivalenz, Politik und Geschlecht im Werk Joseph Roths [2. Aufl. 2019] 978-3-476-05107-3, 978-3-476-05108-0

Die 2. Auflage des Buches erfüllt mit den neu verfassten Wort-für-Wort-Lektüren ein Desiderat: Es bietet die erste, umfa

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German Pages XII, 627 [635] Year 2019

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Braver Junge – gefüllt mit Gift: Schreiben, Ambivalenz, Politik und Geschlecht im Werk Joseph Roths [2. Aufl. 2019]
 978-3-476-05107-3, 978-3-476-05108-0

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Einleitung zur überarbeiteten Neuauflage (Sebastian Kiefer)....Pages 1-120
Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess Ich und Ordnungskonzepte in den Krisenjahren seit 1925 (Sebastian Kiefer)....Pages 121-214
Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich in Roths »politischen« Positionsbestimmungen (Sebastian Kiefer)....Pages 215-340
Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung Täter-Opfer-Konstruktionen in Roths ethnischreligiösen Positionsbestimmungen (Sebastian Kiefer)....Pages 341-451
Vierter Teil: Der Schreibvorgang und seine Einbettung im erlebenden Geist (Sebastian Kiefer)....Pages 453-497
Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk (Sebastian Kiefer)....Pages 499-616
Back Matter ....Pages 617-627

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Sebastian Kiefer

Braver Junge – gefüllt mit Gift Schreiben, Ambivalenz, Politik und Geschlecht im Werk Joseph Roths 2. Auflage

Braver Junge – gefüllt mit Gift

Sebastian Kiefer

Braver Junge – gefüllt mit Gift Schreiben, Ambivalenz, Politik und Geschlecht im Werk Joseph Roths 2. Auflage

Sebastian Kiefer Berlin, Deutschland

ISBN 978-3-476-05107-3 ISBN 978-3-476-05108-0  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05108-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J.B. Metzler Erstveröffentlichung 2001 unter dem Titel: „Braver Junge – gefüllt mit Gift. Joseph Roth und die Ambivalenz“ © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2001, 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

Mit Dank an Harald, den Lebensfreund an Helmut Henseler und ungezählte Jahre unbeirrter Anteilnahme an Jens Stüben (Oldenburg) und seine großzügige Kollegialität

Der Buchttitel »Braver Junge – gefüllt mit Gift« paraphrasiert eine Selbstcharakteristik Roths in einem Essay-Brief, die er seinem Verleger Gustav Kiepenheuer anlässlich dessen 50. Geburtstags zueignete. Der Kontext findet sich zitiert auf der S. 5 des vorliegenden Buches. »Ich kenne, glaube ich, die Welt nur, wenn ich schreibe, und, wenn ich die Feder weglege, bin ich verloren.« (An Stefan Zweig, 17. Februar 1936, Briefe, S. 452)

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis Einleitung zur überarbeiteten Neuauflage 1 Literarische Pseudo-Politik und das Desiderat einer Beschreibung von Roths Sprachkunst 2 Der Vorgang des Schreibens und nicht die Fiktion oder das Produkt Text war es, worin und wofür und wodurch Roth lebte 3 Die Rolle von Klischees des Ausdrucks, des Geschlechts, des Lyrischen, des Guten in Roths Schreiben 4 »Ich«-Geburten im vielzüngigen Schreibvorgang. Kostproben aus dem feuilletonistischen Frühwerk 5 Mannigfaltigkeit in der Einheit des Erzähltons. Gegenentwurf zur vielzüngigen Modulationskunst seiner Feuilletons (»Perlefter«) 6 »Politik«, Schreiben und Leben in einer sich turbulent modernisierenden Gesellschaft Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess. Ich und Ordnungskonzepte in den Krisenjahren seit 1925 1 »Erdbeeren«. Artifizielle Simulation mündlich improvisierenden Erzählens. Oppositionskonstruktionen und Ich-Bilder I Die epistemische und ästhetische Rolle der Generalisierungen und Oppositionsfiguren II Identität, Repräsentation und Namen zwischen Ost und West (Rabbi Trop; J. S. Agnon) III Das Ideal des Doppellebens im Osten 2 »Die weißen Städte«: Ich, Welt, Erleben, Schreiben im Krisenjahr 1925 Die alltägliche Rhetorik des Pauschalisierens in der Erzählrede Scholem Alejchems und in Roths abstrahierenden Aggregationen von Satz-Posen 3 Militärische Ordnungen vs. unvorhersehbare Verwandlungen aller Dinge im Schreiben I Militär, Ambivalenz und der Ursprung des Stilisten II Verwandlungen der psychischen Ambivalenz in Stilfiguren

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Inhaltsverzeichnis

Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich in Roths »politischen« Positionsbestimmungen 1 Schreibend inszenierte Haltungen zur Politik und innere Vorbehalte 2 Neue Erklärungen für alte Beobachtungen 3 Das Ich als Bündel von Rollen. Definition AmbivalenzOrdnung-Identität 4 Roth auf der Suche nach dem ›wahren‹ Roth in den 20ern: Die Legende von ›Rothen Joseph‹ und die Ununterscheidbarkeit von Rolle und wahrem Ich als Grund der literarischen Kreativität I Roths wachsende Unruhe in den 20ern II Roths Bericht über den Rathenau-Prozess: Sozialistisches ›Engagement‹ oder Mokerie eines Politikverächters? 5 Exkurs: Lebenserschreiben und Bindungssimulationen in Briefen, Feuilletons, Reportagen. »Politik« als Material 6 Die Wahl Hindenburgs und der Antisemitismus 1925 – Anlass zur Abwendung von der Weimarer Republik? 7 Hindenburg und die Ambivalenz in der Sehnsucht nach behütenden Figuren 8 Das Flucht- und Wendejahr 1925 im Spiegel der Literatur 9 Exkurs: Ernst Krenek. Kombination von »Sozialismus«, Kulturaristokratismus und Habsburgischem Mythos – ein Parallelfall? Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung. TäterOpfer-Konstruktionen in Roths ethnisch-religiösen Positionsbestimmungen 1 Abkehr von Republik und Gegenwart – ein religiöser ›Identitätskonflikt‹? 2 Feuilleton und jüdische Identität. Gegenmodell Alfred Döblin 3 Postfeuilletonismus und flüssiges »Ich« im Schreiben: Roths virtuoses Modulieren zwischen Sprechrollen, inszenierten Haltungen und Stilen 4 Feuilletonismus und Gesinnungsdemonstrationen in frühen Albumblättern jüdischer Motivik

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Inhaltsverzeichnis

5 Die ›Idylle‹ Lemberg: Roths Konstruktion des Ostjudentums als Ideal einer ›Demokratie‹ ohne Verantwortung und moderne Verfassung. Gegenmodelle A. Londres, M. Sperber Albert Londres, der pazifistische Europäer. Joseph Roths Opferkonstruktionen und Abwehr von Eigenverantwortung 6 Exkurs: Ordnung ohne Verantwortung. Das verbindende Element von Roths Literatur, »Politik« und religiösen Identitätskonflikten 7 Schwebezustände und jüdische Identität (Gegenmodell Manés Sperber) 8 Ambivalenz und idealer Jude I Mitzwah kontra Kulturkarriere. Der Essay »Juden auf Wanderschaft« II Ideale Juden, gute Wilde und Roths Schreibkampf gegen die westliche Moderne III Armutsverklärung und Idolatrie von Erfolg und Reichtum. Schreiben und Leben in Momentblasen 9 Exkurs: Geld, Mutter, Sexualität, Opfersein. »Die Legende vom heiligen Trinker« als Konzentrat der poetisierten Ambivalenz. Stil als Verdrängung 10 Das Motiv des jüdischen Erfolgsmenschen vor und nach Roths Krise 1925 Vierter Teil: Der Schreibvorgang und seine Einbettung im erlebenden Geist 1 Die »hysterische« Konfliktstruktur in den Augen des nichtklinischen Therapeuten 2 Bemerkungen zur Terminologie I: Freud, der Begriff der »Ambivalenz« und die Kunst 3 Bemerkungen zur Terminologie II: Der Begriff »Hysterie« und Roths ambivalentes Interesse an psychologischen und psychiatrischen Denkweisen und Praktiken I Zwischen Heilserwartung und Verdammung: Roths Umgang mit psychologischen und psychiatrischen Denkweisen und die Beziehung zu Friedl Roth II Der Ursprung »hysterischer« Ambivalenz in frühkindlichen Bindungserfahrungen

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XII

Inhaltsverzeichnis

Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk

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1 Die literarische Vorgeschichte eines Epikers I Die Schwierigkeit, »Ich« zu sagen: Roths lyrische Anfänge II »O Bruder Mensch«: Ambivalenz von Fremde und (letaler) Symbiose 2 Sichere Distanz: Roths frühe Erzählungen 3 Ambivalente Verführungen der Autokratie: »Das Spinnennetz« 4 »Die Rebellion« 5 Ein sozialistischer Held, die Rolle der Kolportage und die Fußangeln der (hysterischen) Liebe 6 Das Motiv der Grenzschenke – die »Helle Mitte« zwischen den Ordnungen 7 »Radetzkymarsch«: Komische Theatralisierung der regressiven Sehnsucht nach allmächtigen, gütigen Vaterführern 8 »Alle deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig«. Ambivalente Oppositionskonstruktionen und Geschlechterstereotypen im Roman »Das falsche Gewicht« I Umschlagen gegensätzlicher Ordnungen und artifizielle Aneignung der »Oral tradition« II Romantische Klischees, Geschlechterstereotypen, Männerängste und Oppositionskonstruktionen III Der Inszenierungscharakter des extemporierenden, quasimündlichen Erzählens in der Romanexposition IV Schimmel und romantisierte Naturganzheit

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Bibliographie

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Einleitung zur überarbeiteten Neuauflage Einleitung zur überarbeiteten Neuauflage Es schien ein freundlicher Abschluss langer Studienjahre zu sein, ein kleines Adventsfest, als der altehrwürdige Metzler-Verlag die erste Fassung dieses Buches, damals eher ein Büchlein, zur Jahrtausendwende ins Programm nahm. Dass darin auch ein Anfang ruhte, war weder geplant noch abzusehen – doch es liegen bald zwei Jahrzehnte teils essayistischen, teils literatur- und musikwissenschaftlichen Schreibens zwischen heute und diesem Erstling. Die Möglichkeit, das vergriffene Buch unter dem Dach des Springer-Verlags nachdrucken zu lassen, rührte und machte neugierig wie die Zufallsbegegnung mit einer lang entschwundenen Liebe: Man versucht zu verstehen, was einen damals so bewegte und, fast im selben Moment, was die Zeit aus der Passion und ihrem Gegenstand gemacht hat. Inwiefern, so würde diese Neugierde übertragen auf den Essay zu Joseph Roth fragen, ist die Grundidee zur Erklärung des Eigenen dichterischer Sprache und Verhaltens, welche das damalige Büchlein bewegte, heute noch lebens- respektive ausbaufähig? Ohne Revision war ein Nachdruck nicht vertretbar: In der Lebenshast einer unverhofften, neuen Laufbahn ging seinerzeit, als Geduld mit den Fahnen erforderlich gewesen wäre, selbige verloren. Fritz Hackert, Doyen der neueren Roth-Philologie, beklagte das in einer diplomatischen Rezension1. Dito tat es Jens Stüben (Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa) in seiner einfühlsamen, wünschenswert sachlichen (und also mit bedenkenswerten Einwänden aufwartenden) Besprechung – höflich, doch entschieden und guten Grundes, zumal, was Flüchtigkeitsfehler betraf2. Dass Jens Stüben mir privatim seine Korrekturen überließ, war ein Akt schätzenswerter Kollegialität: Die Annotate ruhten unangerührt all die Jahre über und warteten, ohne wirklich mit ihm zu rechnen, auf den Tag, da die Sorgfalt des Kollegen gelegentlich einer 1 2

Hackert 2002. Stüben 2001.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Kiefer, Braver Junge – gefüllt mit Gift, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05108-0_1

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Einleitung zur überarbeiteten Neuauflage

Neuausgabe meine Unsorgfalt ein Stück weit kompensieren können würde. Ich fürchte, viele Passagen der Neuausgabe genügen seinen diesbezüglichen, vorbildlichen Standards, allen guten Vorsätzen entgegen, wiederum nicht. Der Grundeinfall scheint mir einer Präzisierung und Dehnung zu bedürfen, im Prinzip jedoch weiterhin fruchtbar zu sein: Roths Schreibweise als kreatives Ausbeuten und Verwandlung eines das ganze Leben prägenden Dilemmas – der irreduziblen Ambivalenz im Umgang mit Ordnung(en) und so immer auch mit der Identität von Selbst, Mitmenschen und Objekten sowie ihren Beziehungen zu- und untereinander. Entscheidend ist, dass dieses Modell in neuartiger Weise erlaubt, die besonderen Qualitäten, Implikationen, Motive, Suggestionen seiner Sprachgestaltung und ihrer Wirkungen allererst sichtbar und zugleich verstehbar zu machen – von der Kombination weniger Worte in seinen elementaren, auf Pointe, Transparenz und Bündigkeit zugeschnittenen Sätzen über die Konstruktion von Szenen, personalen Identitäten und Relationen bis hin zur Konstruktion der historischen und personalen Umbrüche. Es erlaubt zugleich im Detail zu verstehen, wie eine solche Schreibweise auf Selbst- und Weltmodelle des Dichters zurückwirkte, oder genauer gesagt: Wie und weshalb das praktische Schreiben die Ermöglichung solcher für ihn sinnerfüllend und konfliktarm ›lebbaren‹ Selbst- und Weltmodelle war. Dass hier etwas weiterhin Anregendes und Augenöffnendes liegt, spricht für die Neuauflage. Dass Ambivalenzdilemmata in Treibstoff schöpferischer Prozesse verwandelt werden, ist an sich wohl nicht ungewöhnlich, im Prinzip sogar alltäglich: Übergangsstadien, worin sich beispielsweise die emotionale Besetzung (also auch Bewertung) einer bestimmten Ordnung, eines Systems, einer Bindung, einer Denkweise auflöst oder gegenläufige Besetzungen hervortreten und so Situationen der Unentscheidbarkeit erzeugen, sind essentiell für unser aller Leben. Ohne sie wäre keine Freiheit, keine Selbstwahl, keine Selbstfindung möglich, weder individuell noch kollektiv. Und kaum eine

Einleitung zur überarbeiteten Neuauflage

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Handlungsoption des Lebens dürfte nur gut oder nur böse, nur klar oder unklar, nur gewinnbringend und nicht zugleich verlustbegleitet sein – auch wenn unser Bewusstsein und unsere Gewohnheit viele Situationen oder Optionen nur-gut oder nur-bedrohlich erscheinen lassen, und das auch müssen, damit wir handlungsfähig bleiben, eine Ordnung leben können, ohne an ihr ständig zu zweifeln oder Angst zu haben, eine konträr andere Ordnung sei ebenso gut möglich oder vielleicht sogar lebenswerter. Vielleicht könnte man gar sagen (und Modernetheoretiker mit ausgeprägten Neigungen zum literarisch freien Reflektieren haben es gesagt), Ambivalenzerfahrungen werden in der Moderne zunehmend essentiell, da wir um die Kontingenz vieler und vielleicht aller Lebens- und Denkmöglichkeiten wissen. Wäre dem so, hätte jemand wie Joseph Roth, der in seinem praktischen Leben havarierte, sobald von ihm aktive, selbstverantwortliche Verbindlichkeit einer begrenzten Form von Ein-Bindung oder Ordnung hier und jetzt verlangt wurde, nur in riesenhafter Vergrößerung erlebt und erlitten, was eine krisenanfällige Verfasstheit des modernen Lebens überhaupt ist. Dass Roth, je älter er wurde, nur umso mehr zu Szenarien des ›Ausstiegs‹ aus der konkreten, sozialen und historischen Welt und vor allem aus den Zumutungen der freien, verantwortlichen Selbstbestimmung neigte, die dann wiederum höchst ambivalent, allemal ästhetisiert und teils paradox mit regressiven oder nostalgischen Sehnsüchten und Klischees verquickt waren, wäre dann nur eine individuelle, gleichsam lebenspoetische Spielart des produktiven Durchleidens von Dilemmata, die in irgendeiner Weise zu den unvermeidlichen Schattenseiten des modernen, zumal urbanen Leben überhaupt gehören. Vielleicht verhielt es sich so. Das zu überprüfen bleibt das mühsame Geschäft von Theoretikern und Kulturhistorikern, nicht der vorliegenden Studien, die solche weiten Perspektiven allenfalls mal antippen, um Möglichkeiten der Einbettung ins größere Ganze anzu-

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Einleitung zur überarbeiteten Neuauflage

sprechen, sich im übrigen jedoch auf das Klein-Klein konkreter Materialien und zuletzt vor allem der Texte selbst beschränken. Mängel, Antiquiertes und Unklarheiten, überspitzte Formulierungen zu beseitigen, Anregungen von Rezensenten und neuerer Forschungsliteratur aufzugreifen, das war eine Selbstverständlichkeit. Ihr wurde jedoch auch jetzt im Wissen nachgekommen, dass die Konzentration auf die ästhetische Leitthese und ihre Veranschaulichung am Text angesichts einer höchst begrenzt zur Verfügung stehenden Lebenszeit Kompromisse in Sachen dokumentarischer Details erfordert, unter Umständen nonchalanten Mut zur Lücke, teils ziemlich großzügigen Lücken, etwa was neuere historische, kulturhistorische und sicher noch mehr, was Roth-spezifische Literatur angeht. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sollte das Buch als Essay verstanden werden. Diese Genre-Spezifizierung dürfte dann aber nicht als Freibrief gesehen werden zur subjektiven Spekulation, wiewohl sie eine vorauseilende Bitte um entsprechende Nachsicht beim Leser enthält. Alle Teile der Studien sind Bausteine zu einem umfassenderen Bild der Eigenart, Bedingungen und Quellen des literarischen Schöpfertums – und nebenbei auch der Illusionen eben dieses Tuns. Dokumentation ist dabei ebenso wenig das Ziel wie Verallgemeinerung. Die primäre Intention, der die verschiedenen Um- und Seitenwege dienen sollen, ist das Erschließen der individuellen kompositorischen Ideen für die Erfahrung, das Empfinden und eine mögliche theoretische Modellierung des konkreten Lesens dieser Sprachgebilde wie auch der psychischen Energien, deren Sublimierung sie sind. Alles zielt auf ein genaues Verstehen dessen ab, was an diesen Texten genuin poetisch ist – ein Vorhaben, das stets einschließt, bloße Meinung, Idiosynkrasie, Selbstinszenierung, Wunscherfüllung an ihnen zu identifizieren und damit auszuschließen aus den zuletzt entscheidenden Werten der Texte. Das gilt ganz dezidiert für neu geschriebene Kapitel wie jenes zu Roths poetologischem Grundsatz einer prinzipiellen Wandelbarkeit

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der (sinnlich wahrnehmbaren) Dinge dieser Welt, im Ersten Teil, doch auch für die Einzellektüren, deren Einlässlichkeit vor allem für das Anwachsen des Buchs verantwortlich ist. Um anzuzeigen, dass trotz aller grundlegenden Umarbeitung und Weiterung Kernideen des alten Projekts mit neuen Mitteln des poetischen Lesens fortgeführt wurden, blieb der Haupttitel erhalten. Er zitiert eine Essay-Epistel, die Roth Gustav Kiepenheuer, seinem Verleger in den Jahren 1929 bis 1932, anlässlich dessen 50. Geburtstags zueignete. Der vollständige Satz ist vielleicht wert zitiert zu werden. Roth entfaltet hier in seiner typischen Art frei und viele Tatsachen des Lebens invertierend eine Art poetisches »Ich«, das in den einzelnen Bausteinen heiter und unzweideutig zu sein scheint, im Ganzen jedoch eher ein vielfarbig bewegtes Mobile von kurzen Phrasen ergibt, die sich kaum zu einem anschaulichen Ganzen fügen. Nonchalant flicht er das für ihn zeitlebens wichtige Opfermotiv ein und spielt mit – vermeintlichen und tatsächlichen – Widersprüchen der eigenen Impulse und Charakterzüge, setzt dazu auf kleinstem Raum Oppositionsfiguren innerhalb von Ketten kurzer, eilig aufeinander folgender Kurzphrasen ein, deren Tempo der Hast entspricht, mit der hier etwas ohne Suche nach einer bleibenden Substanz in bewusster, improvisatorischer Willkür aufs Papier geworfen scheint: »Ich kam früh nach Wien, verließ es bald, kehrte zurück, fuhr wieder nach dem Westen, hatte kein Geld, lebte von Unterstützungen wohlhabender Verwandter und von Lektionen, begann zu lernen, eifrig und ehrgeizig, war ein besonders braver Junge, voll stiller Bosheit und gefüllt mit Gift, bescheiden aus Hochmut, erbittert gegen die Reichen, aber ohne Solidarität mit den Armen.«3 Ich mag mich täuschen, und bitte um Nachsicht, doch mich beschlich bei der Re-Lektüre des eigenen, frühen Buchs zwar empfindliches Unbehagen hinsichtlich der nur selektiv streunend zur Kenntnis genommenen Roth-Forschungsliteratur und ein zweites Unbehagen, weil das in der Neufassung wiederum nur stellenweise nach3

Zit. nach Bronsen 1974, S. 96

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Einleitung zur überarbeiteten Neuauflage

geholt werden konnte; ich hatte jedoch nicht den Eindruck, dass etwa das umfassendere Heranziehen neuerer historischer Publikationen zum Fall Rathenau, der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten oder der für den Laien unübersehbar gewordenen Literatur zum Zustand der Weimarer Republik oder zur Lage der Juden darin das im Kern ästhetische Erklärungsmodell und meine Analysen der Texte Joseph Roths tangieren könnten. Es blieb daher bei Retuschen, Ergänzungen und Korrekturen in Einzelfragen auf der Basis punktueller Besichtigung des Standes der Geschichtswissenschaften (darunter die neuen Akzente der Rolle der Gewalt und der Bürgerkriegsgefahr in Jones 2017) und der maßgeblichen Kompendien (Wehler, Büttner u.a.). Andererseits wurde etwa der Bezug auf die historisch verdienstvolle, aber in seiner skandalisierenden Tendenz historisch gewordene Untersuchung Heinrich Hannovers zur Rechtsprechung in der Weimarer Republik revidiert. Die Gründe für die mehrfache Bezugnahme auf den bedeutenden Zeitzeugen und Historiographen der Weimarer Republik, Arthur Rosenberg, schienen mir in der Erstfassung auf der Hand zu liegen. Um Missverständnisse vorzubeugen, sollen sie dennoch kurz erläutert werden: Rosenberg war ein jüdischer Althistoriker der Generation Roths, der sich wohl durch die Erfahrung des Krieges (und seiner Rolle darin) vom angestammten und in seiner Profession damals weit verbreiteten Nationalliberalismus radikal abgewandt hatte, 1918 in die USPD, 1920 in die KPD eingetreten war, wofür er seine akademische Karriere preisgab4. 1924–28 hatte er ein Reichstagsmandat inne, war Politbüromitglied und zeitweise Mitglied des Exekutivkomitees der Komintern. Dann trat er, abermals eine Laufbahn zugunsten persönlicher Überzeugungen ausschlagend, 1927 aus der

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Die Gründe scheinen im Einzelnen offenbar nicht mehr rekonstruierbar, zumal Rosenberg sich zu seinem Parteieintritt 1918 öffentlich nie geäußert hat, vgl. Keßler 2003, S. 42.

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KPD aus5, da er seine zunehmend liberalen Auffassungen wie auch seine Bejahung eines offenen, kritischen Diskurses dort und insbesondere in der Komintern nicht mehr vertreten sah. Rosenberg veröffentlichte auf der Basis gründlicher Kenntnisse der Verfassungsgeschichte, frei geschult an der marxistischen Sozialgeschichte, doch stets von der Frage nach einem demokratischen Sozialismus geleitet, seine bis heute maßgeblich gebliebene »Entstehung der deutschen Republik« (EV 1928), und vollendete im Londoner Exil seine Geschichte der Weimarer Republik (EV 1935). Intimere Kenntnisse der rechtlichen und politischen Vorgänge als die seinen konnte ein Historiker und literarisch begabter Zeitzeuge kaum besitzen und weniger verdächtig aller unlauteren Sympathien mit nationalistischen, undemokratischen, militaristischen oder gar rassistischen Ideologien nicht sein. Er schien mir daher ein idealer Kronzeuge gegen Joseph Roth, dem man »sozialistische« Überzeugungen nachsagte, bevor die Hindenburg-Wahl und die zunehmenden Rassismen und Militarismen in Deutschland ihn gezwungen haben sollen, Mitte der 1920er Jahre ›enttäuscht‹ zunächst Deutschland, bald darauf das ganze, moderne Zivilisationsprojekt der liberalen, sich pluralisierenden, Menschenrechts-garantierenden Demokratien6 aufzugeben. Und weil Rosenbergs berühmte Bücher zur Republik nicht im Nachhinein, sondern aus direkter Zeitzeugenschaft geschrieben wurden, begeht man, ihn zitierend, nicht die Unanständigkeit, mit dem geschenkten Wissen der Nachgeborenen einen Akteur wie Joseph Roth 5

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Auch die Motive für diesen Schritt scheinen nicht sicher rekonstruierbar. Auf einem KPD-Parteikongress im Frühjahr 1927 unterstützte Rosenberg das Parteiziel einer Mobilisierung des Proletariats (vgl. Keßler 2003, 261–63), um keine zwei Monate später die KPD zu verlassen. Bald sprach er von »innerparteiliche[r] Höllenpsychologie«, lehnte die internationale Machteroberungsstrategie des Komintern offenbar ab, ebenso den militaristischen Geist, die Unterdrückung von Andersdenkenden, die Dominanz floskelhafter Ideologien, die nicht kritisch und empirisch in Frage gestellt werden dürfen (ebd., S. 267f). »Internationaler Menschenrechtsschutz funktioniert bis auf weiteres nur durch Vermittlung nationaler Demokratien«, Möllers 2009, S. 102.

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zu tadeln, der naturgemäß als Zaungast und Laie des politischen, ökonomischen und juristischen Lebens die Lage nicht überschauen und noch weniger ihren Ausgang kennen konnte. Mir scheint die Gegenüberstellung – sie findet sich jetzt im Zweiten Teil – noch heute lehrreich: Es geht im Wesentlichen um zwei fundamental verschiedene Typen von Intellektualität, die sich mit den Zeitläuften, den Grundlagen, Legitimitäten und Perspektiven des republikanischen Projektes in Deutschland befassen. Sie werden verkörpert von zwei jüdischen Intellektuellen derselben Generation, die sich weder nach ihrem religiösen Hintergrund noch ihrem Bildungsideal noch (zum hier relevanten Zeitraum der frühen 1920er Jahre) ihren sozialistischen Herzensneigungen stark unterschieden, doch aufgrund der Denk- und Schreibweise sowie der damit verbundenen Rollenbilder als Intellektuelle zu konträren Urteilen über die aktuelle, soziale und gesellschaftliche Entwicklung kamen. Auf der einen Seite Arthur Rosenberg, ein aus involvierter Zeitgenossenschaft schreibender und teils durchaus bewusst geschichtserzählender Systemanalytiker, der seine normativen Präferenzen und sein subjektives Erleben einbringt und zugleich reflektierend distanziert begutachtet, weil er empirische, historische, rechtliche Informiertheit als Basis jeden Urteils über Geschichte und Politik versteht. Auf der anderen Seite der vagierende, spielerisch-ironische Geist, der traditionelle postromantische Mystifikationen des Literatendaseins verinnerlicht hatte und seinen subjektiven, durch das Medium des literarisierenden Stils aufbereiteten Intuitionen und Affekten eine metaphysisch privilegierte Sonderkompetenz im Verstehen und Beurteilen der Geschichte, der politischen Ereignisse, der Bestimmung des Menschen, des Wesens von Religionen – und nicht zuletzt der eigenen Identitätskonflikte zusprach. Der letztere Typus scheint mir in Deutschland besonders prominent vertreten zu sein, während der erste, zumal in der mit innerweltlichen Heilserwartungen und theatralischen Geschichtsgemäl-

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den aufgeladenen intellektuellen Atmosphäre der Weimarer Republik, ein beklagenswert seltener Fall sein dürfte. Eine Gegenüberstellung verschiedener Denk- und Schreibtypen mit der Absicht, das Individuelle des literarisierenden Umgangs Joseph Roths mit sich und seiner Vergangenheit, der Gegenwart, der Religion insgesamt plastischer erfahrbar werden zu lassen, unternehmen auch die Abschnitte über Roths Darstellung des Ostjudentums im Dritten Teil (»Behütende Ordnung ohne Verantwortung«): Joseph Roth konstruierte durch und durch ambivalent, kreiste ausweglos in Oppositionsfiguren und Ketten voller kurzatmiger Pointen und begründungslosen Verallgemeinerungen. Er verlor sich, ohne dass die Lage der Juden in den mittleren 1920er Jahren dazu Anlass gegeben hätte, in pauschalisierenden, »kulturkritisch« polemisierenden Gut-Böse- und Täter-Opfer-Szenarien betreffs der Lage der Ost- und Westjuden. Ihm gegenübergestellt werden literarisch ambitionierte Reiseberichte von Generationsgenossen aus dem Ostjudentum, die wie Roth als junge, im Westen zu Reputation gekommene Intellektuelle in den Republikjahren noch einmal in ihre (bzw. ihrer Vorfahren) Heimatregion fuhren: Albert Londres und Samuel Joseph Agnon, und eines dritten, der als Sohn assimilierter Juden in das Land des vermeintlich ursprünglichen, ›noch‹ tief und umfassend gelebten Glaubens und einer wärmenden Rückständigkeit der Lebenswelt kam: Alfred Döblin. Zumal Londres und Agnon exemplifizieren, dass Empathie kein Gegensatz zu kritisch abwägender Vernunft ist im Umgang mit Lebenswelten, die oft dazu herhalten mussten, in kulturkritischen Konstruktionen als Horte der Ursprünglichkeit (oder der »Guten Wilden«), des Glücks vormoderner Gemeinschaftlichkeit und Glaubensvertrauens und dementsprechend als Opfer von Modernisierungsprozessen zu fungieren – daher mal mehr, mal minder theatralisch, elegisch oder aggressiv modernehassend der westlichen Liberalität, Technisierung, Verwissenschaftlichung, Demokratisierung und Vermassung entgegengestellt zu werden.

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Durch einen solchen Vergleich mögen, so hoffen diese Abschnitte, die Fundamentalität und das Ausmaß anschaulich werden, in der Roths Selbst- und Weltkonstruktionen aus der unlösbaren Ambivalenz in Bezug auf (fixierte) Ordnungen und Identitäten hervorgingen – mit dem Medium des Schreibens als Verwandlungsmedium des Ambivalenten in poetischen Mehrwert, deshalb jedoch auch und wohl unvermeidlich der begründungslosen Projektion subjektiver Konflikte in pseudo-historische Szenarien. Die konkreten Inhalte dessen, was als religiöse, ethnische und politische Konflikte in seinem Schreiben auftrat, waren dem grundlegenderen Drama der Ambivalenz gegenüber epiphänomenal, so argumentieren diese Kapitel der Studie: Sie markierten lediglich Besonderungen des einen, tieferen, strukturellen Konflikts um Ambivalenz, Identität, Bindung und Ordnung. Einem Konflikt, der naturgemäß immer auch das Kernmerkmal der Moderne betrifft, die von weltanschaulicher Bevormundung idealerweise entkoppelte, freie Selbstwahl des Einzelnen: Ein Dilemma mit der eigenen Identität kann nur haben, wer frei ist, sich eine (andere) zu wählen. Wir werden (im Fünften Teil) sehen, dass man den »Radetzkymarsch« nicht zuletzt auch als ein historisch-humoristisch kostümiertes Drama um die kollektive Angst vor der modernen, autonomen Selbstwahl und ihren Kosten (Verlust von weltanschaulichen Sinnbindungen) lesen kann oder eigentlich: lesen sollte. Ebenfalls werden wir dort sehen, dass der Erzähler Joseph Roth sich schon sehr früh sich mit diesen Fragen der Ordnungs-, Identitäts- und Bindungsambivalenz befasste, weil ein der Grundauffassung nach traditionelles Erzählen wie das Rothsche gar nicht anders kann als personale Identitäten (die eine Weise der verbindlichen Ordnung von Subjekt- und Wirklichkeitsmodell darstellen) sowie Ein-Ordnungen in Gemeinschaft und Umwelt zu konstruieren. Die oft beobachtete Verschleifung von Figuren- und Erzählerperspektive, aber auch von wörtlicher Rede und Kommentar in Roths

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Erzähltexten könnte man als produktive Verwandlungen des Identitäts-Dilemmas interpretieren. Der Blick auf das Schreibkonzept selbst zeigt dann umso deutlicher die produktive Verwandlung der eigendynamischen Konfliktlage und Instabilität, die Joseph Roth von allen großen Kollegen – Döblin, Bialik, Albert Londres, Sperber etc. – unterschied, wiewohl diese ebenfalls, mehr oder minder, erst im und fürs und durch das Schreiben ganz sie selbst und real wurden und die Welt sich adaptierten. Nur Roth entwickelte eine Poetik der radikalen Diskontinuität im Kleinen, der emphatischen Besonderheit des Erlebens dieses Augenblicks, dieser momentanen Konstellation, deren Eintreten und Entwicklung auch und gerade für den Autor nicht vorhersehbar ist, sich programmatisch einer Planung sperrte – eine Inkommensurabilität des Jeweiligen, die Roth partiell als ästhetischen Schein herstellte, die andererseits seinem Schreibimpuls schon je gemäß war; weshalb er ganz natürlich oder sogar zwangsläufig im Genre Feuilleton mit seiner Kultur der momentanen, unplanbaren Wendung, des kapriziösen Abirrens im Kleinen, des inszeniert subjektiven Erlebens jenes inkommensurablen (Schreib-)Moments begann. Von hier aus mag, wer den großen Prospekt schätzt und ein gewisses Ausmaß der Spekulation über philologische Solidität hinaus nicht scheut, die Besonderheit der Rothschen Poetik, der unplanbaren Kostbarkeit der kleinen Augenblicke und sich eher einstellenden als strategisch hergestellten Momente, in der Konsequenz sehen, mit der er literarisch das realisierte, was Soziologen die »romantische Revolution des Einzigartigen« nennen: »In der Romantik ist der ausdrückliche Kampf gegen die Modernität des Allgemeinen – von der Aufklärungsphilosophie bis zur Industrialisierung – die konsequente Kehrseite der umfassenden Singularisierung der Welt.«7 Singularitäten sind im Modell des Soziologen Andreas Reckwitz (»Die Gesellschaft der Singularitäten«) transformierte Gestalten von Gegenkräften, die die industrielle Moderne mit ihren Leitwerten der 7

Reckwitz 2017, S. 99.

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Standardisierung, Effizienzsteigerung, formalen Organisation seit je begleiteten – intellektuelle und soziale Praktiken, die das Besondere, Unvergleichbare, Jeweilige, Vielfältige, Momentane starkmachten, Besonderheiten, die stets affektiv und werthaft geladen sind. Die historische Romantik habe diese Gegenkräfte in einer Art ästhetisierendem Kult des Inkommensurablen und Besonderen zu Leitideen der Verwandlung der industriellen und verwalteten Welt erhoben – und diese Ideen seien im ausgehenden 20. Jahrhundert bestimmend bei der Transformation der traditionellen industriellen Ökonomien in die für die Spätmoderne charakteristische Kulturalisierung von Gesellschaft und Ökonomien geworden: Hier könne jedes Zweckgut, jeder Ort, jede Art Handlung, jedes Ereignis potentiell zu einem Gegenstand des Kultes der Besonderheit werden, ein Sportereignis ebenso wie eine Person des Öffentlichen Lebens, ein bestimmtes Automodell ebenso wie eine spezielle Lebenswelt. Die traditionelle industrielle Moderne will Reckwitz verstanden wissen als »eine technische Kultur im starken Sinn, die nicht nur hinter der Etablierung der Massenproduktion steht, sondern der gesamten Gesellschaft ihr ingenieurhaftes, mechanistisches Modell aufprägt, demzufolge die soziale Welt als ein System optimal aufeinander abgestimmter Einzelteile erscheint. Maschinen- und Sozialtechnologie gehen dabei Hand in Hand, ihr gemeinsames Telos ist eine effiziente Ordnung und die Eliminierung des Überflüssigen«8). Die Kehrseite dieser formalisierenden, effizienzorientierten Standardisierung, behauptet Reckwitz und wird offensichtlich von traditionellen kulturkritischen Invektiven gegen die (vermeintliche) Dominanz der ingenieurshaften Vernunft, der Bürokratisierung und Homogenisierung der Zivilisation inspiriert, bestand »in einer weitgehenden gesellschaftlichen Hemmung, Verdrängung und auch Eliminierung genuiner Besonderheiten, und zwar in einer Radikalität und Systematik, die historisch beispiellos sind.«9 Der Kampf gegen aller8 9

Reckwitz 2017, S. 43. Reckwitz 2017, S. 45.

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lei abweichendes Verhalten, gegen vorgeblich anormale oder asoziale Subjekte soll ebenso zu den Folgen dieser dominanten Strukturierungsform der industriellen Moderne gehören wie »eine Desensibilisierung für die Dinge und Objekte jenseits der industriellen Massenproduktion und […] eine Vernachlässigung oder Zerstörung der lokalen und historischen Räume sowie ihrer Alltagskulturen zugunsten der funktionalen Stadt. Die industrielle Moderne forciert damit in ihren Praktiken eine Entsingularisierung des Sozialen. In den Praktiken des Beobachtens werden eine gewaltige Systematik allgemeiner Begriffe sowie Skalen der Differenzierung des AllgemeinBesonderen entwickelt, die auf Kosten einer nun marginalisierten begrifflich-perzeptiven Sensibilität für die Komplexität von Singularitäten geht.«10 Reckwitzʼ Modell einer »Ökonomie der Singularitäten« ist nicht neu. Es stammt wesentlich vom Pariser Wirtschaftssoziologen Lucien Karpik11. Reckwitz hat Karpiks Modell lediglich nach typisch deutscher Manier in eine quasi-geschichtstheoretische Totalkonstruktion eingebettet und dabei Georg Simmels Diagnose des »qualitativen Individualismus« der Moderne im Rahmen eines elaborierten Apparates opponierender Begriffe weiterentwickelt12. Gegen solche Generalisierungen, in Oppositionsfiguren denkende und empirisch schwer überprüfbare Modellierungen aus einer Haltung der Überschau lässt sich Vieles einwenden, empirisch, methodisch, begrifflich. Umgekehrt eröffnet die pauschalisierende, auf erhebliches 10 11

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Reckwitz 2017, S. 45f. Vgl. Lucien Karpik, Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen. Frankfurt a.M. 2011 (engl. Titel: »Valuing the Unique. The Economics of Singularities«). Vgl. Reckwitz 2017, S. 11, Fußnote 5. Dort als zweite wichtige Quelle die kulturanthropologische Studie genannt: Igor Kopytoff, The Cultural Biography of Things 1986. So Hartmut Rosa, in http://soziopolis.de/beobachten/kultur/artikel/reckwitzbuchforum-8–die-gesellschaft-der-singularitaeten/ (unpag.). Reckwitz hat dem zugestimmt, vgl. http://soziopolis.de/beobachten/kultur/artikel/reckwitzbuchforum-10–die-gesellschaft-der-singularitaeten/ (unpag.).

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hermeneutisches Wohlwollen des Lesers angewiesene Rhetorik mit ihren Oppositionsfiguren zumindest eine überraschend plausible Denkmöglichkeit bei der Kontextualisierung der Rothschen Poetik innerhalb der Moderne: Es ist, wie wir in den nachfolgenden Abschnitten sehen werden, eine Poetik der produktiv gewendeten Idiosynkrasie gegen alles Planhafte, gegen alle Kriterien der Konsistenz, der Stringenz, Überprüfbarkeit und Eindeutigkeit, gegen Imperative der reflektierenden Distanz, der Transparenz – und damit auch eine, in der der das einzelne Moment im Fluss des Textes nie die bloße Funktion im Entfalten einer planbaren, ihres Zieles bewussten Sache ist, sondern idealiter stets ein individualisierter, mit Reckwitz gesagt: singularisierter, also unersetzbarer, kostbarer, unwiederholbarer Erlebnismoment in einer Abfolge besonderer Augenblickskonstellationen. Das unwiederholbar eigensinnige Erleben hier und jetzt, ein artifizieller Spontaneismus und eine Kultivierung des Unplanbaren und des Sprechens in inszenierten Rollen waren für Roth Bedingungen des Poetischen – programmatisch als Erbe der Romantik verstanden und im Stile der traditionellen antimodernen »kulturkritischen« Ressentiments gegen die wissenschaftlich-technisch geprägte Zivilisation wie gegen die Bürokratisierung, gegen alles systematische und formal analysierende Erkenntniswollen gewendet. Nach Reckwitz ist das besondere Jetzt-Erleben eine generelle Bedingung dieser stets werthaften, affektgeladenen, untauschbaren »Singularitäten« als zentrale Entitäten (Ereignisse, Orte, Objekte, Handlunge, Subjekte u.a.) einer Gegenströmung der aufs Allgemeine, Systematische, Effizienzsteigernde und Tauschbare abgestellten industriellen Moderne. Reckwitz zufolge soll die historische Romantik dieses Verwandeln des eigenen Daseins und der Weltkonstruktion durch den Leitwert des Unvergleichbaren, Momentanen, Unplanbaren, Subjekt-Erlebnishaften, irreduzibel Individuellen (»Singularität«) geschichtsmächtig proklamiert haben. Folgt man dem Modell des romantischen »kulturrevolutionären Singularismus«, wird womöglich eine

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eher unbekannte Seite dieser Überlieferung und ihre Wirkung auf Roth sichtbar, denn der neue romantisch induzierte Kult der Einzigartigkeit verwandelte danach nicht nur Orte, Tätigkeiten, Zeiten, sondern zumal die (kreativen) Individuen und sogar Kollektive, Ethnien und Milieus, und alle diese spielten in ihrer ästhetisch erzeugten Singularität in Roths Schreiben eine wesentliche Rolle: »Die Bedeutung der Romantik besteht zunächst darin, dass sie das menschliche Subjekt erstmals radikal an der Besonderheit ausgerichtet hat, die unter der Semantik der ›Individualität‹ verhandelt wird. Dieser dient anschließend eine umfassende Singularisierung sämtlicher Elemente der Welt. Auch hier spielt die Kunsterfahrung eine wichtige Rolle; in diesem Zusammenhang bildet sich auch ein radikal momentanistisches, ästhetisches Zeitbewusstsein heraus.«13 Die romantische Utopie zur Poetisierung der Welt (Singularitätsrevolution) lässt sich nach Reckwitz »als eine Kulturalisierung der Welt beschreiben, in deren Folge potenziell alles von der Seite des Profanen auf jene des Sakralen überwechseln kann. Am Ende können selbst ein Paar Bauernschuhe oder das Muttermal der Geliebten von kulturellem Wert sein.«14 Das Genre Feuilleton mit seiner damaligen Kultur der kapriziösen Unberechenbarkeit, der zelebrierten, um Konsistenz und Kontinuität demonstrativ unbekümmerten Pointenkraft und Momentbedingtheit war prädestiniert, diese postromantische Auflösung der Welt in Räume faszinierender Eigenkomplexitäten schreibend zu realisieren – und Joseph Roth war seinerseits prädestiniert für das Genre Feuilleton. Es war gleichsam die natürliche Gattung zur schöpferischen Verwandlung der Ambivalenzen, Fragmentierungen, Instabilitäten und der mit ihnen verbundenen Unsicherheit über das eigene Ich in literarische Augenblickssuggestionen, Kapriolen, Ketten von Pointen, Wechsel der Tonmodalitäten, Perspektiven und Fortschreitungslogiken, wie wir gleich im Einleitungsteil bei den propädeutischen Betrachtungen prototypischer 13 14

Reckwitz 2017, S. 98. Reckwitz 2017, S. 99. Dort auch das nachfolgende Zitat im Text.

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Texte Roths sehen werden – mit dem Ziel, ein vorläufiges Gefühl zu entwickeln für Verwandtschaften und fundamentale Unterschiede feuilletonistischer (»Ich-Geburten im vielzüngigen Schreibvorgang«) und erzählender (»Gegenentwurf zur feuilletonistischen Vielzüngigkeit: Roths reifes Konzept des Erzählens«) Texte in der Realisierung des essentiellen Impulses Roths zur Poetik der Diskontinuität, der Caprice, der erlebten Besonderung (»Singularisierung«) des einzelnen Schreib- und Lese-Moments. Geschichte werde, formuliert Reckwitz, in der Folge der romantischen Singularisierungsrevolution erfahren als »Schauplatz der Narrationen und Erinnerungen« – der »Erfahrungsraum des Religiösen und die Identifikation mit den kollektiven Singularitäten der Völker und Nationen sind allesamt Bereiche, in denen die Romantik die Welt einem umfassenden Singularisierungsprozess unterwirft«15. Joseph Roths Konstruktionen der Lebenswelten des späten Habsburgerreiches wären Phänotypen dieser modernen »Singularisierung« von Völkern, Epochen, Ständen, niemals ablösbar von werthaft aufgeladenen Unterstellungen von Unwiederholbarkeit und Unvergleichbarkeit der Besonderung, welche nur im (Nach-)Erleben aktualisiert werden kann. Und gleichermaßen waren es seine mit den Habsburger-Ästhetisierungen verbundenen Beschwörungen des »Ostens« – während seine rhetorischen, mit Ressentiments der frequenten Kulturkritik geladenen Konstruktionen des »Westens« oft Züge einer »negativen Singularität« trugen. Die Manieren und Freiheiten des Genres Feuilleton meisterte Roth buchstäblich spielend nach kurzer Lehrzeit in Wien. Dann waren sie ihm zur zweiten Natur geworden: Fortan dachte, fühlte, begründete, inszenierte er in diesen Mustern auch und gerade dort, wo er sich vornahm (oder vorgab!), mit metareflexiver Distanz über sein Tun zu sprechen. Wir werden im Ersten Teil die metareflexiven Anfangspassagen der Reportageserie »Die weißen Städte« von 1925 betrachten, in denen Roth feuilletonistisch kapriziös und selbstironisch 15

Reckwitz 2017, S. 98f.

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(über-)pointierend versuchte, die sprach- und erkenntniskritischen Grundlagen seines Konzeptes von Wahrnehmen, Subjekt, Sprache und Welt zu explizieren: Die Sprache, in der er das tat, war seinerseits eine der Ambivalenz, insbesondere eine des Spiels mit Paradoxa, Oppositions- und Kippfiguren, der Synthesen von Transparenz und Ungreifbarkeit! Wie stets in solchen Versuchen, entstanden Ambivalenzen der Darstellungssprache im Zugriff auf das Ambivalente: Er ersehnte verbindliche, behütende, überprüfbare, Ich-stabilisierende (Ein-) Ordnungen fürchtete und floh sie zugleich. »Die Gemeinheit, der die Humanität zum Opfer in Europa fiel, nennen wir ›Ordnung‹. Auch vor hundert Jahren logen die Vertreter der Gemeinheit, daß sie Ordnung verträten«, polterte ein früher Text des programmatischen Titels »Humanität« im »Berliner Börsen-Courier« (7. 8. 1921, I. 630– 33, Zitat S. 632), seit 1921 sein wesentlicher Auftraggeber16. Das ist ironisch-polemisch hyperbolisch auf Effekt getrimmte Polemik, und wie bei ungezählten Rothschen Generalisierungen, apodiktischen Setzungen und aphoristischen Pointen könnte man die Negation eines zentralen Begriffs einfügen, und der Satz würde nicht weniger Sinn ergeben: »Die Gemeinheit, der die Humanität zum Opfer in Europa fiel, nennen wir ›Chaos‹.« Derlei Invertierbarkeit bei gleichbleibender Dignität der Aussage ist vielen aphoristischen oder apodiktischen Zuspitzungen eigen – und Roths Rhetorik der begründungs- und vorbereitungslosen Generalisierung sicherlich in besonderem Maße. Man fühlt unterschwellig, dass die durch Bündigkeit und vorbereitungsloser, unspezifizierter Verallgemeinerung demon16

Bronsen 1974, S. 214. Der BBC war eigentlich das führende Börsen- und Wirtschaftszeitung, legte jedoch seine »Ehre darein, die ausführlichsten Theaternachrichten zu bringen. Diese ungewöhnliche Kombination, die den ›Courier‹ zu einer Zeitung machte, die nur in der ›Vossischen Zeitung‹, des UllsteinVerlags eine Konkurrenz gleichen Ranges hatte, war das Verdienst des Chefredakteurs Dr. Emil Faktor«, einem Prager Juden (ebd.). Roth schrieb dort umgeben von illustren Autoren der Zeit, darunter Herbert Ihering, gelegentlich Oskar Loerke (ebd., S. 215).

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strierte Erkenntnisgewissheit eher eine versuchsweise Inszenierung einer Behauptung ist, durch die ein Satz gleichsam ausgestellt wird, um dessen Wirkung auf das Publikum aber auch und zumal auf den Schreibenden selbst zu erproben. Roths Formulierung ist tagespolemisch ungenau, doch dürfte er hier vor allem die Versuche im Auge haben, eine friedliche, auf Marktwirtschaft, strikter Gewaltenteilung, Säkularisierung des Staates, Menschenrechtsgarantien, Sozialstaat und technisch-wissenschaftlicher Vernunft basierende, demokratische, europäische Nachkriegsordnung auf dem Wege ausgehandelter Verträge herzustellen. Eine solche aggressive Ablehnung dieser Nachkriegsordnung hat Roth jedenfalls beiden Hauptfiguren des nicht sehr viel später erschienenen Romanerstlings »Das Spinnennetz« mitgegeben (vgl. Fünfter Teil). Als Teil dieser Nachkriegsordnung hat er sich vermutlich nie wirklich gefühlt, und ganz sicher nicht als Bürger unter Bürgern, denen das Schicksal ihres Gemeinwohls in freier, egalitärer Selbstgestaltung überantwortet wurde. Jene »Humanität«, die zu zerstören die Barbarei unserer Zeit ausmachen soll, hatte nichts mit Sozialismus, nichts mit Demokratie, nichts mit irgendeiner politischen Vorstellung zu tun: Es war ein Habitus oder Ethos, der vage mit älteren Bildungsidealen und sozialen Distinktionsbedürfnissen assoziiert war – und letztlich, unschwer zu erraten, den Rang und die Höhe des Literaten in einer Gesellschaft als Maß nahm. Verbunden mit diesen Mystifikationen waren meist theatralische Gemälde des Verlustes von Sinntiefe, Klagen über die Herrschaft des Kommerzes u.ä. Joseph Roth, der so sehr alles Deutsche hasste, war infiziert von der sehr deutschen Krankheit, Geschichte und Gesellschaft an antipolitischen Modellen zu messen: Man nannte sie »Bildungsidealismus« oder »Bildungsreligion«. In den zunehmend komplexen, sich ausdifferenzierenden Industriegesellschaften sind solche Vorstellungen vor allem ein Ausdruck von Verwechseln politischer Optionen mit Rettungs-, Heil- und Größenphantasien. Der junge Roth, nominell noch »Sozialist«, wiederholte die Aufladungen der Künstlerfigur des

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postromantischen 19. Jahrhunderts in frappierender Geschmacklosigkeit der Affektformeln und der Gut-Böse-Fronten, der kruden kulturkritischen Dämonisierungen und Oppositionsfiguren: Gut ist der (»große«) Schriftsteller als solcher, qua Amtes, übel der Fortschrittsglaube, der Mob, die Technik, das moderne Leben generell. In diese Richtung ungefähr waren Roths Ressentiments meist programmiert. Ein Opfer, der den verheerenden Zustand der von Amerika bestimmten Zivilisation bezeugen soll, war für ihn beispielsweise Maxim Gorki: Roth interessierte nicht, dass er Parteigänger der Bolschewiki war, Massenmord, Staatsterror, Führerprinzip und Enteignung toleriert oder sogar unterstützt hatte. Roth erklärt ihn zum Opfer des Amerikanismus, weil er eine selbstlose Seele im karitativen Wirken für die Armen dieser Welt gewesen sei, zumindest bei dem Ereignis, das ein Rothscher Zeitungsartikel skandalisiert mit wüsten Verschwörungstheorien und einer überraschend platten Emotionalisierungsrhetorik überfrachtet: »Dieser New Yorker Mob, Repräsentant des grobkarierten Fortschritts, der Grammophonkultur und des Wolkenkratzers, jagte Gorki auf die Straßen. Weil die amerikanische Welt keine Abweichung duldet von der Uniformität. […] Dieses typische Beispiel einer Humanität: ein großer Mensch, der, kalt gegen eigenes Schicksal, sachlich bleibt auch im Schmerz, den ihm seine Wunden verursachen; vom Verfolger zum gehetzten Tier gemacht, im hetzenden Tier dennoch den Menschen liebt [!]; der nicht nur ›Seelischen Schmerz‹ leidet um Fremde, sondern körperlichen, wirklichen um sich und andere – dieses Beispiel ist in Westeuropa [!] nicht zu finden.« (I. 631f) Das ist tiefstes, postidealistisches 19. Jahrhundert mit seinen kultisch-moralisierenden Aufladungen des Künstlerindividuums, vorgetragen mit der typisch »kulturkritischen« Scharfrichterattitüde, die von Marginalien und dem mangelnden Wohlergehen des Künstlers

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kurzerhand auf die Zerrüttung des Ganzen schließt, die Höhe ihres Richterstuhls und die Begnadung mit singulärer Urteilsraft zeigt – eine in sich strikt antidemokratische Selbstüberhöhung des eigenen Berufsstands17 –, indem sie jede Art empirische oder argumentative Begründung für ihres Standes unwürdig hält. Von hier aus bis zum vermeintlich konservativ gewordenen, »kulturpessimistischen« Joseph Roth der späteren 1920er Jahre war es kein halber Schritt. Roth brachte in dem gut zweiseitigen Artikel von 1921 eine ganze Reihe von Motiven unter, die für ihn zeitlebens wesentlich waren, etwa das Motiv der Verstellung, hier verbunden mit dem Zauberwort »Humanität«: »und selbst, wo man sie [die Humanität] vortäuschte, bewies man (gerade dadurch) Respekt vor ihr« (I. 630). Diese Formulierung ist so unlogisch wie bezeichnend für Roths von Ambivalenzen getriebene Denk- und Schreibweise: Sittlich wohl akkreditiertes Verhalten vorzutäuschen muss keineswegs heißen, dieses Verhalten zu ehren; es könnte ebenso gut bedeuten, sich dem Schein nach einer Gruppenkonvention zu beugen oder sogar, es zu parodieren oder andere zu täuschen – während einem deren ethischer Wert gleichgültig ist. Figuren des Vortäuschens oder inhaltsleeren Imitie17

Christoph Möllers, maßgebender Verfassungstheoretiker unserer Zeit, hat die Grundlagen der Demokratie bezüglich des Urteilsvermögens einmal so formuliert: »Mit der demokratischen Anerkennung unterstellen wir uns ein gleiches Urteilsvermögen. In der Demokratie sind nicht alle gleich klug, gebildet oder erfahren. Aber die Demokratie unterstellt allen das gleiche Vermögen, eigene und öffentliche Angelegenheiten zu beurteilen.« Diese ideale Unterstellung nehme die Demokratie vor, weil sie gerade »keine Fähigkeit [ist], die einfach mit Ausbildung oder Intellektualität zunehmen würde, wie nicht zuletzt die Verführbarkeit von Intellektuellen durch den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts zeigt. Politische Urteilskraft betrifft die elementare Fähigkeit, beurteilen zu können, was für das eigene Leben richtig und wichtig ist und was nicht. […] Die Sicht auf unsere Angelegenheiten ist aber ebenso intensiv wie verzerrt. Auf Argumente zugunsten von Ängsten und Vorurteilen zu verzichten ist für alle eine Versuchung unabhängig vom Bildungs- und Erfahrungsstand. Aus diesem Grund traut die Demokratie mit der gleichen Freiheit allen die gleiche Urteilskraft zu.« Möllers 2008, S. 18f.

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rens von sittlichen Werten und Konventionen unter Abspaltung eines anderen, inneren Ich, das ihnen verhaftet bleibt, begegnet man in Roths Schreiben öfter. Sie spielen eine erhebliche Rolle in seinen Konstruktionen der habsburgischen Welten. Diese Motive hängen mit einem anderen Kernmotiv seiner Erzähltexte zusammen: Durch plötzliche meist bagatelleske Ereignisse, Kränkungen, Schicksalsschläge werden Akteure aus einer straffen Sozialordnung geworfen – hängen innerlich, elegisch oder symbolisch dem System, aus dem sie fielen oder ausbrachen, weiter an. In diesen frühen Jahren bereits galt Roth »Amerika« als lebenstötend überregulierend – und er fuhr dabei oft, wie im zitierten Beispiel, in dieser Hinsicht bedenkenlos die gröbsten antiamerikanischen Klischees auf, die gerade in Deutschland der seit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg übermächtigen, transatlantischen Nation entgegengebracht wurden – sicher auch in trotziger oder gekränkter Reaktion zur übersteigerten Orientierung an den USA als Siegermacht, mit dem nicht zuletzt von Stresemanns Versöhnungspolitik verkörperten Leitbild des »guten Europäers« konkurrierend18: Fortschrittsgläubigkeit, Massenkultur, Wolkenkratzer und Highways (statt organisch gewach-

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In dem öfters im Stile der »Neuen Linken« unempirisch soziologisierenden Überblicksbuch Hermand/Trommler 1988 werden die Stresemannanhänger fälschlich als primär »großbürgerlich« etikettiert, während »Teile des fortschrittlichen Mittelstands wie auch der Intellektuellen und Gewerkschaftsführer um 1923/24 eher dazu« übergegangen seien, »die USA als das maßgebliche Vorbild der zukünftigen Entwicklung in Deutschland hinzustellen.« Die USA seien »geradezu über Nacht zum entscheidenden Leitbild der Weimarer Koalition im Hinblick auf Ankurbelung und Stabilisierung des wirtschaftlichen Getriebes« geworden. Dabei seien sie selektiv gesehen worden als »Land des Pragmatismus, des Tatsachenkults, der sachbezogenen Arbeitsverhältnisse, das heißt als eine nüchtern geplante, durchrationalisierte Industrie- und Leistungsgesellschaft, deren Lebensstandard dem aller anderen Länder in der Welt haushoch überlegen sei. Hier glaubte man eine wohlfunktionierende Demokratie mit voll ausgebildeter Massenkultur vor Augen zu haben.« Hermand/ Trommler 1988, S. 49f.

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sener Straßenzüge), Uniformitätszwang, Wissenschafts- und Tatsachenglaube. In Roths Fall dürften, wie für viele Zeitgenossen, Gefühle von Überlegenheit als Angehöriger einer alteuropäischen Kultursphäre gegenüber den Parvenus jenseits des Atlantiks entscheidend mitgespielt haben: »Amerikanisierung« war um die Jahrhundertwende zumal für Bildungseliten alten Stils und Ethosʼ zum Schmähwort geworden: Es »suggerierte Schreckbilder einer aufkommenden Massengesellschaft – die Herrschaft menschenfeindlicher Rationalisierung und alle Individualität zerstörender trivialer Massenkultur. Solche Horrorvisionen fanden gerade in Deutschland bereitwilligste Zustimmung.«19 Reisende, heimgekehrt aus den USA, warnten die Zeitgenossen vor jeglicher Übernahme amerikanischer Prinzipien: »Das würde für die Alte Welt und ganz besonders für Deutschland ein Zurücksinken bedeuten von höherer Kulturstufe auf eine niedere. Amerikanisierung der Kultur hieße Veräußerlichung, Mechanisierung, Entgeistigung.«20 Derlei Bildungsdünkel gegenüber Amerika hegten auch österreichische Intellektuelle; wirtschaftlich und militärisch waren die USA dem Gefühl nach noch keine nähere Bedrohung. Mit dem militärischen Sieg im Weltkrieg dagegen wurde dieser affektive Anti-Amerikanismus zumal in Deutschland epidemisch. Woodrow Wilsons Vernunftpolitik zur Sicherung eines dauerhaften Friedens geriet zum Objekt unzähliger Hassattacken aus unverdauter Kränkung – und in Verbindung damit auch der Plan zum »Völkerbund« als realpolitischer Vision eines friedlichen Zusammenlebens auf Vertragsbasis, später auch des Dawes-Planes21. Wir werden mehreren rüden Attacken Roths auf diese realisierten Visionen eines vertraglich gesicherten, friedlichen Zusammenlebens begegnen – während er gegen den Militarismus der Deutschen ebenso pauschal und wiederum ohne empirische Begründung theatralisch 19 20 21

Diner 1993, S. 58f. Wilhelm von Pohlenz 1903, zit. nach Diner 1993, S. 59. Diner 1993, S. 70ff.

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polemisierte. Er verfügte dabei über keinerlei Wissen und Distanz zu eigenen Ressentiments, um über diese völkerrechtliche Friedensordnung, eine Vorläufervision der UNO, zu urteilen. Vor allem aber ließ er wie so pauschale, kulturelle Affekte regieren, ohne sich die Mühe zu machen, die unbewussten normativen Annahmen zu explizieren und zur argumentativen Disposition zu stellen. Man erweist Intellektuellen dieses Typs einen Bärendienst, wenn man sie als paradigmatische Fälle des politischen Urteils oder auch nur der Reflexion auf eigene, subjektive Präjudizien behandelt. Ungezählte Bürger, die keine Romane und Zeitungsartikel schrieben, waren ohne Zweifel besser informiert, freier in ihrem Urteil und in diesem Sinne weit mehr dazu bestimmt, vorbildliche Bürger einer noch zu vollendenden, liberalen deutschen, parlamentarischen Demokratie zu werden. Roth selbst hat seine Verweigerung und/oder Unfähigkeit zur analytischen Abstraktion und Reflexion eigener Präjudizien gerechtfertigt nach Art eines veritablen Vertreters der Literatenklasse alten Stils: Dass er (im oben zitierten Brief an Reifenberg) derartige Ressentiments und hergebrachten Standesdünkel »romantisch« nannte, war euphemistisch und reduktiv, wenngleich kulturhistorisch nicht völlig abwegig. Zwar haben die Romantiker den Ekel an Mechanisierung, Industrialisierung, überhaupt an der bürgerlichen, von effizienz- und pflichtorientierter Erwerbsarbeit dominierten Welt nicht erfunden, ihn jedoch zum Teil ihres Programms der (Re-)Poetisierung des Lebens gemacht22, mit kulturkritischer Verachtung der transzendenzlosen Existenz (»Philister«) und der »überraschungslosen Identität«23 verbunden, im Gefolge der Französischen Revolution die großen, zuvor in die Zuständigkeit von Theologen und Philosophen fallenden, Sinnfragen, wie Roth, im Bereich der (imaginierten) Politik verhandelt24, dabei den starken Lenker, 22 23 24

Z.B. Safranski 2007, S. 205f. Safranski 2007, S. 200. Safranski 2007, S. 35.

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Führer, Staatsmann, Helden in Modellen der ästhetischen Schöpferexistenz interpretiert und bewertet25. Dass der virtuose Spieler, Schauspieler, Rollenspieler, Simulant, das Täuschungs- und Selbstinszenierungshandwerk zu Leitmedien wahrerer Selbst-Erfahrung erhoben wurden – bei Tieck und durchaus Novalis26 –, dass die Grenze zwischen Leben und Text dabei absichtsvoll überspielt wurde, könnte man als Role-Model Rothscher Schreibexistenz sehen; erklärt wäre damit wenig, und Roth wurde nicht abhängig vom Schreiben als Sinn- und Selbststiftungsmedium, weil er zuvor Novalis und Tieck oder Jean Paul gelesen hatte, um selbige zu imitieren. (Allerdings hegte er schon in den allerersten Anfängen des Schreibens als Gymnasiast eine deutschorientierte Bildungsreligion, und das schließt stets die kultische Aufladung der Literatenexistenz ein.) Dass die subjektiv geisterfüllt poetische Machart eines Textes eine »höhere« Art der Wirklichkeitsaneignung als jede erklärende, begriffliche, Wissen und Erfahrung systematisierende sei, war für ihn jedenfalls gewiss. Sein Reportagebuch bewege sich, schrieb er Reifenberg, »in einer viel zu hohen Sphäre, als daß es eine ›Kritik‹ an Deutschland enthalten könnte. Sagen wir: diese Kritik wäre bereits so geistig, daß sie keine mehr wäre.«27 Wie viele romantische Impulse auch immer darin stecken mögen – Eines war gänzlich unromantisch, wenn man das Urbild der historischen Romantik erinnert, und es war typisch für die populär »kulturkritische« Romantik des späten 19. Jahrhunderts, verknüpft mit semi-sakralen Künstler- und Intellektuellenkulten: Während die historische (deutsche) Romantik das philosophisch-systematische und das exakt erfahrungswissenschaftliche Wissen als wesentliche 25

26 27

So feierten sie Napoleon als Künstler, der die Weltgeschichte in ein ironisches Kunstwerk verwandeln wolle, Safranski 2007, S. 187. Diese Tradition führt bis hin zu zu Adolf Hitler, der sich selbst (auch) als Künstler im Führergewand sah. Novalis war in Texten und Leben ein »begnadeter Rollenspieler«, Safranski 2007, S. 127. Briefe, S. 63.

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Quelle ihres Ich-, Gesellschafts- und Lebensentwurfes verstand, die es in ein umgreifendes Bild der ästhetischen Existenz zu integrieren gelte, pflegten die postromantisch trivialisierten Formen allermeist tumbe, teils aggressive Ressentiments gegen die exakte Erfahrungswissenschaft, formale Verfahren des Rechtswesens und das argumentative und begriffliche Weltaneignen, vermengt mit Ressentiments gegen Ingenieurs- und Effizienzdenken, Technik, Massenkultur u.a., häufig gegen rationales Interpretieren generell. Joseph Roth war, wie immer man ihn im Einzelnen historisch situieren mag, in dieser Hinsicht kein intellektuell ambitionierter Romantiker, sondern ein typischer Vertreter dieser niedergesunkenen, postromantischen Ressentiments, kombiniert mit ererbten Überlegenheitsallüren der literarischen Existenz. Die Opfer der »amerikanischen« oder auch »westlichen« Gleichmacherei, Bürokratisierung und seelenlosen, technokratischen Vermassung konnten bei Roth verschiedene Namen tragen. Mitunter ist es jenes schillernde Etwas an »Humanität«, verknüpft mit bildungsidealistischen Motiven, oder mit bloßen Präferenzen für bohemehafte Lebensstile, Verachtung des Erwerbslebens u.a. Wiederholt werden in Roths halluzinierten Welten die Bewohner der osteuropäischen Provinz Opfer der amerikanischen oder westlichen Dominanz – übrigens ebenfalls in der Sowjetunion, deren Geist der versuchten Planung und Effizienzsteigerung er seit den mittleren 1920er Jahren als »amerikanisch« geißelte. (Womit er wiederum nur flottierende Klischees aufgriff.) Nachdem er früh die Haltung des kulinarisch verfeinerten, witzbegnadeten Feuilletondandys und Pointenakrobaten mit Elementen der Reportage kombiniert hatte28, übertrug er den feuilletonistischen Pointenstil ins Format der Reportagen und feuilletonistischer Essays: Seit Mitte der 1920er Jahre weitete er die dem Essay mögliche zivilisationsdiagnostische Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen und Zufallswahrnehmungen zum kulturkritischen Gesamtgemälde aus, diktiert von wachsendem Ingrimm, wohl 28

Vgl. Weitzman 2013, S. 116.

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auch von Überforderung und persönlichen Krisen, die sich in verzweifelten Anklagen, Opferkonstruktionen und sentimentalen Verlustanzeigen Luft verschafften (vgl. Dritter Teil). Roths Positionsbestimmungen politischer, religiöser, historischer und ethnischer Art waren durchzogen von affektbesetzten Opferkonstruktionen, wie wir sehen werden – und solche dienen stets, Schuldzuweisungen zu legitimieren, und sehr häufig dazu, Komplexität der Mechanismen zu reduzieren: Das Delegieren von Verantwortung spielte, je älter Roth wurde, eine umso entscheidendere Rolle, wie wir insbesondere am Fall des »Radetzkymarsch« sehen werden. Roth wäre nicht der bedeutende Autor, der er war, wenn er nicht das nachgerade automatische, gar zwanghafte Operieren in immer gleichen Oppositionsfiguren und Sprechgesten auf Gegenstands- und Sprechebene seinerseits kraft stilistischer Virtuosität immer auch im engen Raum ungemein einfallsreich variiert und sie vor allem nicht auch oft seinerseits ironisiert und spielerisch amüsiert als Inszenierung eigenen Triebs zum Brillieren, Emotionalisieren, der Sucht nach Überraschung, des Zwangs zu Manierismen und Klischees ausgegeben hätte. Allerdings praktizierte er auch das ambivalent und mobil im Wechsel der Sprechregister. Einen Augenblick in kunstgewerblich sentimentalem Lyrismus sich ergehend, dann plötzlich satirisch spitz, moralisierend echauffiert, aphoristisch wirkungssüchtig, dann plötzlich Klamauk oder Opferpathos, kindische Fabulierlust oder gespreizter Ästhetizismus. Manchmal, zumal in erzählerischen Texten, wechseln die Tonfarben und Gegenstandsbereiche nur stetig modulierend und in unzähligen kleinen Sprüngen. In manchen feuilletonistischen, auch und gerade in eher metareflexiven und diskursiven Passagen sind schroffe Brüche, teils in ostentativer Drastik und Sprunghaftigkeit, selten ohne sich und den Leser mit Komik oder Schalk von allzu großem Ernst zu befreien. So war es auch, wenn Roth direkt seine Ursprungslandschaft in Osteuropa zum Gegenstand des Schreibens machte, wie wir gleich im ersten Textbeispiel, dem »Erdbeeren«-Entwurf sehen werden.

1 Literarische Pseudo-Politik

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1 Literarische Pseudo-Politik und das Desiderat einer Beschreibung von Roths Sprachkunst Die Hypothese der Erstfassung, dass das, was man Roths »politische« Haltungen, seine ethnischen oder religiösen Konflikte nennt, nicht ausschließlich, doch den Antriebenergien und Denk- mithin: Schreibformen nach als Ausdrucksgestalten und zugleich als Bewältigungsversuche eines tieferliegenden Ambivalenzdilemmas verstanden werden kann und muss, dem gegenüber die realen Lebensumstände und sozialen Konstellationen auslösenden, nicht verursachenden und nicht strukturgebenden Charakter besitzen, scheint mir heute noch ein aufschlussreicher, den Texten und Dokumenten auf neue Weise gerechtwerdender Erklärungsvorschlag. Diese Teile der Studie konnten vielfach mit – allerdings teils erheblichen – Korrekturen und Ergänzungen im Einzelnen in das neugefasste Buch aufgenommen werden. Sie bilden jetzt den Zweiten Teil. Doch die Studie will in der Neufassung letztlich nurmehr gemessen werden am Erklärungswert der Ergebnisse hinsichtlich zweier Dinge: Erstens bezüglich der Frage, weshalb und wie genau der gewohnte Prozess des Lebens in die poetische Bearbeitung (oder Kompensation, Sublimierung, Bewältigung) der Erfahrungen übergeht. Zweitens und vor allem: am Verständnisgewinn bezüglich der Eigenart, Funktion, Suggestionskraft und Wirksamkeit poetischer Sprachfindungen selbst und ihrer Rolle in Roths gesamter geistiger Ökonomie. Dieser Teil des Vorhabens nahm damals weniger als die Hälfte des Buches ein, und manche Textanalysen scheinen mir im Rückblick zu unverbindlich metaphorisch, das Entscheidende allenfalls implizit ausgeführt: Was genau ist denn die spezifisch poetische Qualität der Rede (bzw. des poetischen Textes), ihre besondere Art der Sinnverarbeitung, der Ich- und Weltbildung – eine emphatisch eigensinnige Art der Sinnverarbeitung, die Kunst generell seit mindestens zweihundert Jahren zu stiften beansprucht und die ein Joseph Roth, der dem

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postromantischen Ideal der singulären Welterfahrungskompetenz des Literaten existentiell anhing, allemal beansprucht hat29. Schon zur Zeit der Erstfassung, das verflossene Jahrtausend lag in den letzten Zügen, fiel mir schwer zu verstehen, weshalb die Literaturwissenschaft sich so selten dem Alleinstellungsmerkmal des Dichters widmet, eben jenen von allen Beteiligten meist stillschweigend unterstellten, doch nie wirklich theoriefest nachgewiesenen besonderen, nur der Dichtung möglichen Weisen, Sprache, Fühlen, Selbst und Denken durch komponierte Sprache eigentümlich zu ordnen – und sich stattdessen so ausgiebig und bevorzugt mit dem beschäftigt, was am Dichter gerade allzumenschlich und besonders unabhängig von dichterischen Fähigkeiten ist. Dazu gehört der Drang, Meinungen über dies und jenes zu haben, Gesinnungen und überhaupt das Selbst ihrer Person zu präsentieren, die Werte, Handlungen und Einstellungen anderer zu beurteilen, zu mahnen, zu predigen, Partei zu ergreifen, eine moralische oder sittliche Position im sozialen Feld zu beziehen. Wie immer ehren- oder verdammenswert derlei Verhaltensmuster sein mögen, es gibt an sich keinen Grund, sich mit diesem Allzumenschlichen, worin der Dichter einem jeden anderen Bürger gleicht, mehr zu befassen als mit dem eben dieser anderen Bürger. Nicht Meinungen, Glaubensüberzeugungen, praktizierte Wert- oder Erfahrungsmuster, sondern allein die Art, wie diese (gegebenfalls) zur Schaffung von eigensinnig dichterischen Sprachfindungen führen, kann die Theorie der Kunst interessieren – ebenso wie umgekehrt alles, was Kunst im emphatischen Sinne an Sprachfindungen sein könnte, verfehlt würde, wenn man sie bloß als besondere Form vorab gehegter Meinungen und Überzeugungen auffasste. Joseph Roth war, wie wir sehen werden, poetisch umso stärker, je weniger sich seine literarischen Findungen auf Meinungen zur Welt und den Menschen zurückführen ließen. Sein Schaffensprozess führt prototypisch vor, dass der Akt des Schreibens die schrittweise Eman29

Das ist nach meinem Dafürhalten die Leitfrage für das Umgehen mit Literatur in der Moderne, vgl. dazu Verf., Was kann Literatur? Graz/Wien 2006.

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zipation von solchen allzumenschlichen Überzeugungen und des Bedürfnisses, sie darzustellen oder mitzuteilen, bedeutete. Letztere sind nicht die Substanz, sondern, falls man das vieldeutige Klischeewort brauchbar findet, allenfalls das ›Material‹ der poetischen Einbildungskraft. Das soll nicht heißen, dass irgendetwas schlecht daran wäre, sich mit diesen allzumenschlichen Seiten schreibender Personen zu befassen, selbst wenn Voyeurismus hineinspielt. Es ist auch nichts moralisch schlecht daran, einem Bedürfnis nachzugeben, Helden und Schurken, Vorbilder und Opfer in der Geschichte der modernen sozialen oder religiösen Ideologien und Konflikte zu finden und zu ehren. Mir leuchtet nur weniger denn je ein, weshalb Schriftsteller in dieser Hinsicht bemerkenswerter als andere Menschen sein sollen und ebenso wenig, weshalb sich eine Kunst-Wissenschaft damit so eingehend befassen soll und das noch, als wären solche Informationen über das Allzumenschliche ein Ziel, nicht bestenfalls ein (meist) ephemeres Mittel einer solchen Wissenschaft. In den Jahrzehnten seit dem frühen Entwurf zu Joseph Roth hat mich jedenfalls immer ausschließlicher der Versuch beschäftigt, in mikroskopischen Lektüren kanonischer Texte der Tradition und der Avantgarden das Eigentümliche emphatisch dichterischer Sprache und ihrer Erfahrungsweise zu bestimmen, die verschiedenen Aspekte der Sprachverarbeitung einbeziehend (in meiner Terminologie: Selbst- und Fremdmodellierung; Schlussfolgerungen und Veranschaulichungen; bewusste und unbewusste Wissensaktivierung, syntaktische, idiomatische, begriffliche Verknüpfungslogiken, Wiees-ist-Empfindungen, Hintergrundwahrnehmungen usf.)30. Je mehr 30

In Buchform sind u.a. erschienen: Was kann Literatur?. Graz/Wien 2006; Über allen Gipfeln. Magie, Material und Gefühl bei Goethe. Mainz 2011; ›Dichte ich in Worten, wenn ich denke?‹ Ferdinand Schmatz, oder: Nur der Avantgardist kann Romantiker sein. (2 Bde.) Klagenfurt/Graz 2012; Das unsichtbare Genie. Herzenseinfalt und Artistik in der Verskunst Joseph von Eichendorffs. Mainz 2015; »Der Mann der in den Wald (hinein)geht …« Ulrich Schlotmann und seine Welt-Rede-Komödie »Die Freuden der Jagd«. Bielefeld 2015; Parodie und

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mich das beanspruchte, desto weniger fruchtbar wurde die Konversation um jenes Allzumenschliche des Wortkünstlers. Die vorliegende Studie ist insofern ein neu gefasstes Buch, als meine Leitfrage der vergangenen Jahre nun auch hier federführend geworden ist. Das relative Gewicht der Abschnitte über Roths politische und religiöse Identitätskämpfe und Selbstinszenierungen, die lediglich ergänzt, sachlich und stilistisch überarbeitet werden mussten, ist entsprechend geringer geworden. Zu einem Gesamtbild der schöpferischen Persönlichkeit Joseph Roth gehören sie weiterhin – und damit auch zu einem Gesamtbild der, im doppelten Wortsinne, Gründe des schöpferischen Tuns. Der Schwerpunkt des Erkenntnisinteresses liegt jedoch jetzt auf der ausgedehnten Lektüre einiger charakteristischer Absätze Joseph Roths, minutiösen im Ersten Teil, eher kursorischen und punktuellen in den beiden folgenden, im Fünften Teil auch von ganzen Erzählungen und Romanen. Das heißt: Die Einzelbetrachtungen der Texte mit dem Erkenntnisziel, das genuin Poetische dieser Sprachfindungen zu erschließen, sind gänzlich unabhängig von allen Annahmen darüber, was Joseph Roth für persönliche Meinungen gehegt und Erfahrungen gemacht haben soll. Außerliterarische Informationen und Annahmen sind lediglich für das Verständnis notwendig, wie und weshalb diese genuin poetischen Prozesse aus einem konkreten Leben hervorgehen und auf dieses zurückwirken. Diese Einbettung der wortkompositorischen Konzepte in das konkrete, erlebende intellektuelle Dasein des Dichters rekonstruiert der Vierte Teil der Studien in Gestalt eines informellen, psychologischen Erklärungsvorschlags. Die den politischen und religiösen Identitätswirren gewidmeten Kapitel des Zweiten und Dritten Teils dienen nicht zuletzt dem Nachweis, wie abwegig und den Blick der Historiker oft verstellend jene nachwirkenden Mystifizierungen des 19. Jahrhunderts sind, denen zufolge der Sprachkünstler exemplarisch für menschliches Erleben, Handeln, Totalität. Studien zu Reinhard Priessnitz’ »vierundvierzig gedichte«. Klagenfurt/Graz 2018.

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Leiden stehen soll, und wie fruchtlos und teils gefährlich irrig die nachhängenden Standesverklärungen sind, nach denen der Dichter kraft einer vermeintlich höheren Form von intuitiver Erkenntnis oder kraft Sensibilisierung für Sprachprozesse ein besonderes Urteilsvermögen bezüglich sozialer, historischer und politischer Prozesse besitze. Eine Kostprobe entsprechender Neigung Roths haben wir bereits an seinen sich moralisierend verkleidenden Größen- und Erwähltheitsphantasien im Text »Humanität« kennengelernt: Hier reproduzierte Roth diese überhängenden Mystifikationen des Literatendaseins aus dem 19. Jahrhundert, indem er Maxim Gorki als eine selbstlos der Menschheit hingegebene Ausnahmefigur zeichnete, die eben weil sie das höhere, vollendete, da literarische Dasein verkörpere, auch paradigmatisch das Böse dieser Welt – das Amerikanische – erleide und so in seinem Opferdasein Zeugnis für den Zustand der menschlichen Zivilisation ablege. Diese Phantasien nannte er hier »Humanität«: Derlei Erwähltheit muss eine Gesellschaft im selben Maß zurückweisen, wie sie sich pluralisiert, egalisiert, demokratisiert und liberalisiert. Der Verschiebung des Interesses in der Neuauflage gemäß bilden zwei ausgedehnte, teils an mikroskopischen Details die Sensibilität für die Eigenart der kompositorischen Ideen schulende Textlektüren den Ersten Teil; zunächst anhand der Anfangsabsätze des Romanfragments »Erdbeeren«. Dieser Text ist geeignet, weil er sich demonstrativ am Verhältnis von Ich-Identität, welt- und werthaften Ordnungs- und Bindungstypen abarbeitet, und das in typisch Rothschen Weisen, die Gestik des mündlichen Erzählens und Benennens in humorgetönter Imitation einzusetzen. Hier wie auch an anderen Orten nähert sich dieses Erzählen Rollenprosa, gleicht mitunter jedoch auch eher einem kunstvoll gebrochenen Bauchreden in fremden Stimmen. Trefflich studieren lässt sich hier der textuelle Sinn und poetische Reiz des vom späteren Roth ostinat verwendeten, kindlichen, nicht-deskriptiven Benennens und diskontinuierlichen Verkettens isolierter Gegenstände und Sachverhalte, zumal Roth in

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diesem farbenreichen Romanbeginn ungemein gewitzt das Verhältnis von leiblicher Einbindung, schriftvermittelter Kommunikation und Ich-Bildung umspielt und textintern schalkhaft erzählend reflektiert. Roth besaß nicht den einen, eigenen »Stil«, den er nur jeweils den zu bedienenden Genres und Gelegenheiten und Kontexten angepasst hätte – der Reportage, dem Feuilleton, dem Erzählen. Wie erwähnt, gehört es essentiell zu seiner Kunst, auf kürzestem Raum Idiome und Strategien abzumischen, zu parodieren, aufzurufen, modulieren zu lassen. Dieses Modulieren, Posieren, Imitieren, Simulieren etc. allererst wäre, falls überhaupt etwas, ein Widerschein seines gleichsam flüssigen, posierenden, Stabilität ersehnenden und fortlaufend panisch abwehrenden und subversiv zersetzenden »Selbst«. Dieses Spektrum an Schreibweisen als Ausdruck einer vorhergehenden, vom Schreiben unabhängigen »Persönlichkeit« zu verstehen wäre fatal – schon, weil alle diese Sinnmodulationsprozesse im Akt des Schreibens erst ermöglicht und gestaltbar werden. Wenn das reife Erzählen in einem konsistenten »Ton« ruht, ist das noch viel weniger ein solcher Ausdruck von Persönlichkeit; es ist im landläufigen Sinne nicht einmal ein »Personalstil«: Roth hatte sich jahrelang am eigenen, virtuos verfügbar gemachten Modulationsspektrum in kleinen Formaten abarbeiten müssen, bis er zu diesem artifiziellen Konzept einer neuen Schein-Unmittelbarkeit von gelassenem, humorgetöntem, neo-oral parlierend ausgebreitetem Stoff gelangte. Diese Schein-Unmittelbarkeit war gegen die eigene, fast allgegenwärtige Ironie, den permanenten Bruch, die Fixierung auf Formeln und Pointen und vor allem gegen die Leichtigkeit des Modulierens zwischen verschiedenen Sprechweisen künstlich zu erobern. Um diesen Weg vom Feuilleton zum reifen Erzählstil in seinen Kontinuitäten und Gegensätzen vorläufig anschaulich werden zu lassen, betrachtet bereits der vorliegende Einleitungsteil ein exemplarisches Feuilleton und anschließend einen reifen Erzähltext (»Perlefter«) im Detail.

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Den Schwerpunkt bei der Neuausgabe zu verlagern war einesteils eine Frucht jener in den Eingangssätzen erwähnten Neugierde und Lust: nachzuforschen, was es mit dieser Jugendschwärmerei für Roths Stilkunst auf sich hatte. Die Erinnerung an sie forderte dazu heraus, mit meinen heutigen Mitteln und Erfahrungen dieses Eigentümliche der poetischen Ideen zu rekonstruieren und für die Leserempfindung neu und ungleich detaillierter am Text zu erschließen. Dass das ein so raumgreifendes Unternehmen würde, war nicht geplant und hält in der vorliegenden Form diverse Zumutungen für eben diesen Leser bereit. Entschuldbar mögen selbige sein, insofern sie die Frucht waren einer auch mich überraschenden vitalen Neugierde, noch einmal lesend zu erfahren, worin das Eigentliche der Rothschen poetischen Wortkompositionen bestanden haben und wie es verbindlich und texterschließend verbalisiert werden kann. Andernteils sind diese Zumutungen Reaktionen auf meinen Eindruck, es fehlten weiterhin wirkliche Rekonstruktionen des Sprachkünstlers Joseph Roth, wiewohl mit der von Nora Hoffmann und Natalia Shchylevska 2013 herausgegebenen Aufsatzsammlung »Joseph Roth als Stilist« ein Neuanfang in dieser Hinsicht gewagt wurde. Lange Zeit mied man im deutschsprachen Raum Fragen konkreter sprachkompositorischer Strategien, seien sie rhetorischer, seien sie stilistischer, idiomatischer, semantischer oder psychologischer Natur, zumal in ihren individuellen Konkretionen. August Obermayer war einer der wenigen, die sich daran wagten31. Die von Hoffmann/Shchylevska geladenen AutorInnen belassen es (wie Obermayer) weitgehend bei der Bestandsaufnahme. Das ist schon viel, prekär und aufwendig genug, zumal die Theorie und De31

August Obermayer, ›Sätze, labyrinthisch gebaute‹. Versuch einer stilgeschichtlichen Ortsbestimmung für Joseph Roth. In: Michael Kessler / Fritz Hackert (Hrsg.), Joseph Roth. Interpretation – Kritik – Rezeption. Akten des Internationalen, interdisziplinären Symposions 1989, Tübingen 1990, S. 233– 244; ders. Vom visuellen‹ zum ›akustischen‹ Stil. Joseph Roths »Hiob« und der neue Ton. In: Karlheinz F. Auckenthaler (Hrsg.), Ein Leben für Dichtung und Freiheit. Tübingen 1997, S. 287–300.

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skription des Stils generell ein Stiefkind der Literaturwissenschaft (geworden) und schon die Klassifikation verbaler Details nur mühsam zu objektivieren ist. Dass man sich im Einzelnen streiten kann, ob beispielsweise Figuren der Häufung oder die Licht-Dunkel-Metaphorik im »Hiob« von biblischer Rhetorik beeinflusst sind (vgl. Shchyhlevska 2013), liegt in der Natur der Sache. Dass einmal systematisch Roths enorme Lust und Könnerschaft im Entstellen und Remixen von Redewendungen und idiomatischen Strukturen (»Phraseologische Modifikation«) vorgeführt wird, schult die Wahrnehmung für einen Aspekt dieser Sprachkunst (Tymostschuk 2013). Doch es bleibt eben auch hier erst einmal bei deskriptiver Bestandsaufnahme der Techniken. Welche Rolle diesen Techniken bei der spezifisch dichterischeren Vergegenwärtigung oder Repräsentation von Geist, Welt und Sprache selbst zukommt, ist nochmals schwieriger und nicht allein mit linguistischen und stilklassifizierenden Mitteln beantwortbar. Achim Küpper ging den Schritt über jene Bestandsaufnahmen hinaus – und berührt damit Anliegen, die auch vorliegende Studien umtreiben. Rhetorische und linguistische Sachverhalte werden mit Kategorien der Objektrepräsentation, aber auch der allgemeinen ästhetischen Sinndeutung verbunden. Die zumal in Roths Feuilletons auffallend häufig erscheinenden hyperbelartigen, apodiktischen Generalisierungen (oft mit Hilfe von indefiniten Pronomina) und die ebenso auffallenden anaphorischen, Teile von Phrasen wiederholenden Figuren, deutet Küppers beispielsweise so: Sie »suspendieren letztlich jeden Gedanken einer feststehenden Individualität, die einzelne Größe geht unter in der allgemeinen Masse wie im Gesetz der Serie.«32 Gegen jede solche Deutung kann man Einwände haben. Man kann auch die verwendeten Kategorien in Frage stellen oder zumindest Präzisierung verlangen: Geht es bei diesen Stilmitteln wirklich darum, Individualität zu »suspendieren« – und wenn ja, auf welcher Ebene? Auf der grammatischen gewiss meist nicht, also auf 32

Küpper 2013, S. 61.

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der der Objektrepräsentationen? Meint man nicht vielmehr Deutlichkeit, leichte Wiedererkennbarkeit, Anschaulichkeit, Definiertheit der repräsentierten Objekte, wenn »Identität« gesagt wird? Oder umgekehrt Auflösung der fixierbaren Konturen, Grenzen, Strukturierungen der mental repräsentierten Objekte? Die ebenfalls in Roths Artikeln anzutreffenden Syntagmenketten mit mehreren Indefinitpronomen /man/, die vielen Lesern und Kommentatoren zuvor schon ins Auge gefallen waren, deutet Küpper bei ihrem Auftreten in V. 477f so: Trotz aller Komik komme darin »die Ohnmacht des handelnden Subjekts angesichts anonymer, als übermächtig empfundener Prozesse und Ereignisse zum Ausdruck«33. Das sind sehr weitreichende, ihrerseits verallgemeinernde Inhaltsausdeutungen, die ein arglos konventionelles Modell des verbalen Ausdrucks und seiner Angemessenheit unterstellen, das schon wegen Roths die Feuilletons und Essays prägenden Triebes zur Pointe, zur Ironie, wegen seines ostinaten Arbeitens mit Mehrdeutigkeiten, Kontradiktionen, Unstimmigkeiten und ausgestellten Klischees zu schlicht ist und die eigentlich literarischen Qualitäten nicht erklären kann. Dennoch muss man, so soll passim gezeigt werden, auch auf die Gefahr hin, sich Einwänden auszusetzen, in ähnliche Richtungen wie Küpper gehen und nach soliden Bestandsaufnahmen, die Ebene des linguistischen Bestands überschreiten, generelle Prozesse der textuellen Sinnbildung, des Spiels mit Zeigen und Verbergen, Konstruieren und Verwischen, das Verhältnis von Aussagen und (z.B. ironischem oder simulativem) Inszenieren des Aussagens beschreiben, um die eigentlich dichterischen Qualitäten erschließen zu können. Es dürfte kaum theoriefest erklärbar sein, doch intuitiv liegt es auf der Hand, wie diese wichtigen Dimensionen des Konzepts von poetischem Text mit dem grundlegenden Konflikt Roths, der Ambivalenz im Verhältnis zu Ordnungen, Identitäten und damit stets auch zu Bindungen, Verbindlichkeit und Fixierbarkeit des eigenen Tuns (mit und ohne Sprache) zusammenhängen. 33

Küpper 2013, S. 62f.

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Einen nützlichen Hinweis in dieser Richtung gibt die Herausgeberin Nora Hoffmann: Hauptmerkmal des Rothschen Erzählens sei eine bestimmte Form der Ironie, die verbunden ist mit dem Schweben zwischen Figuren- und Erzählerperspektive, dem Gleiten von Identifikation zu Distanzierung. Dieses »bildet eine Unterart der bei Roth in verschiedenen Varianten im Gesamtwerk auftretenden Ambivalenz.«34 In der Tat werden wir sehen, dass es ganz falsch wäre zu glauben, Roth sei ein naiver Postromantiker gewesen, der aus subjektivem Erleben oder wahrgenommenen Gefühlen geschöpft hätte; wo es überhaupt vorkommt, wird auf subjektives Erleben einfach nur wie von außen gedeutet oder es in schematischen Sätzen konstatiert, als handelte es sich um einfache gegenständliche Vorhandenheiten. In seinen Erzählungen existiert zumal keine subjektive Erlebensperspektive, die von einer objektiven Außen- und Weltwahrnehmung strikt getrennt wäre, in der auf eigene und fremde, vergangene oder aktuelle Motive, Erfahrungen, innere Vorgänge, Einsichten reflektiert würde, um sein eigenes Selbst oder sein eigenes Ich-Ideal absichtsvoll zu gestalten und neu in der Welt zu positionieren (es also neu einzubinden). Umgekehrt wäre es ebenso falsch anzunehmen, weil die manifeste Ebene des Erzählens (und eigentlich des Rothschen Schreibens generell) sich antipsychologisch gibt, sei Roths Darstellungsweise auch tatsächlich un- oder antipsychologisch. Es ist, als wäre der Versuch, eine solche wirklich ganz subjektive Binnensicht zu artikulieren, tabu – und/oder dem Autor unmöglich. Aber: Die meisten Figuren, Handlungen, Dialoge sind dennoch, wenngleich nur implizit nachdrücklich psychologisch konzipiert; zumal im Frühwerk mehrere Figuren sogar drastisch psychologisch, teils nahezu karikierend gefasst werden. Nur wird diese psychologische Bauart nicht in einer gewohnten Sprache der Psychologie oder des subjektiven Erlebens und Reflektierens dargestellt. Wir werden umgekehrt sehen, dass selbst gegenständlich scheinende Darstellungen von Außenwelt bei Roth häufig ganz bewusst 34

Hoffmann 2013, S. 47.

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dahingehend konstruiert wurden, dass man sie unterschwellig psychologisch rezipiere. In der Art der Anordnung, der marginalen Aspekte des Attributierens, der Art, wie Lücken, Abirrungen und Sprünge in der Entfaltung des Stoffs eingebaut werden, verstecken sich unausgesprochen Muster des Erlebens und Imaginierens. Anschließend soll am Beispiel der »Perlefter«-Exposition gezeigt werden, wie sich an der Oberfläche lediglich bloße Akte des Benennens elementarer, transparent und ›flach‹ erscheinender Sachverhalte oder Vorgänge ereignen, durchbrochen von scheinbar willkürlichen Generalisierungen. Implizit sind diese Sprechweisen durch die Art der Komposition häufig aber emotionalisiert, teils bloße Chiffren für Psychologisches, und oftmals drückt sich allein durch die Art der Lücken- und Kontrastbildung eine (ihrerseits fiktive) regierende, wortkomponierende Erzählersubjektivität aus. Keine, die außerhalb des Schreibprozesses existent wäre; keine, über die die Person Joseph Roth außerhalb des Schreibvorgangs verfügen oder sie auch bloß introspektiv hätte wahrnehmen können. Solche Art Subjektivität entsteht erst im Vorgang des Schreibens. Das verleiht vielen, zumal erzählenden Sätzen Roths nicht zuletzt einen schwer beschreibbaren Charakter von Inszenierung – nicht im Sinne von Bluff oder bloßer Verstellung oder Irreführung, sondern im Sinne eines ostentativen, oft humoresken oder leise parodistischen, sich implizit wie mimisch kommentierenden Inszenierens von lebendiger Sprunghaftigkeit, aber vor allem auch von kindlicher Transparenz der einzelnen Benennens- und Behauptungsakte, von Eindeutigkeit und Direktheit des Bezugs zu oder unter Sachverhalten und der Darstellungsabsichten. Es wäre im Einzelnen zu klären, wann dieser Inszenierungscharakter der Generalbass ist, über dem die persistente Ironie und die exhibitionierte Willkür der momentbedingten Einfälle und Verknüpfungen gespielt wird – und wann umgekehrt die Ironie eher ein Epiphänomen oder eine Spielart des Inszenierungscharakters ist.

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Eine terminologisch stringente Modellierung dieser Aspekte dürfte außerordentlich schwierig sein, und übersteigt die Möglichkeiten der vorliegenden Studien bei Weitem. Das Problem beginnt schon damit, Kriterien zu finden, ob ein konkreter Satz oder eine Passage Roths ironisch oder nicht ironisch ist und in welcher Weise und welchem Grade sie ironisch wären. Nicht beispielsweise ostentativ gewitzt, simulatorisch, komödiantisch vagierend oder anderes. Noch schwieriger ist, kriteriell solide zu definieren, wann etwas gesagt und wann das Sagen simuliert oder parodiert oder inszeniert wird. Ob man die Kategorie der Identität so direkt wie bei Achim Küpper mit Stileigenschaften verknüpfen kann und sollte, und das, ohne sie eigens erkenntnis- und sprachtheoretisch zu präzisieren, ohne psychische, grammatische und gegenständliche Identität voneinander zu unterscheiden, mögen manche bezweifeln. Dass die Kategorie ›Identität‹ in Roths Denken und Handeln immer besonders prekär, bedeutsam und daher inspirierend beim Gewinn von sprachkompositorischen Ideen gewesen sein muss und mit der konfliktären Grundkraft ›Ambivalenz‹ zusammenhängt, scheint mir Roths Sprachgebung nach, seinen poetologischen Anmerkungen folgend, und andererseits aus begriffslogischen Gründen sicher: Ambivalenz ist, wie auch die von Roth nahezu permanent eingesetzten syntaktischen, semantischen und rhetorischen Mehrdeutigkeiten, ohne die Spannung zu Identität und Identifizierung gar nicht zu definieren, weder auf der verbalen noch der mentalen oder psychischen Ebene noch auf der der Selbstbeziehung eines Subjektes. Wenn ich beispielsweise nicht weiß, welche Art Bindung, Identität, Ordnung ich präferiere oder nach welcher ich suchen soll oder kann oder will, weiß ich es einfach nicht. Die Frage der Identität wird nicht berührt (allenfalls hinsichtlich der Identität der Wünsche). Nicht-Wissen, Mehrdeutigkeit und Unentschiedenheit sind logisch gesehen von jeweils eigener und anderer Art als Ambivalenz, die in diesem Zusammenhang ›Unentscheidbarkeit wegen gleich starker emotionaler und

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werthafter Besetzungen von Handlungs- und Interpretationsoptionen negativer und positiver Art‹ meint. Doch Identität und Identifizierung sind für alle Begriffe dieser Art implizit notwendige Referenzkategorien. (Mehrdeutigkeit lässt sich nur definieren in Bezug auf Eindeutigkeit; um die eigene Unfähigkeit, zwischen Optionen zu entscheiden, muss man die Optionen zuvor identifiziert haben etc.) Charakteristisch für Ambivalenz ist zumal im Falle Joseph Roths, dass ein Objekt (oder ein Objekttyp), eine Situation (oder ein Typ von Situation vulgo von »Ordnung«), ein Mensch, eine Lebensweise sehr stark begehrt oder anderweitig positiv besetzt wird, und zugleich abgewehrt, vermieden, parodiert oder anderweitig abgewertet (dämonisiert etwa oder satirisch verzeichnet). Oder dass zwei heterogene, sich einander ausschließende Optionen gleich stark begehrt werden und damit keine stabile Präferenz herausgebildet werden kann. Beispiele für solche ambivalenten Besetzungen, die uns ausführlicher beschäftigen werden, waren Roths Verhältnis zur militärischen Ordnung aber auch zur k.u.k. Monarchie, zum Geld, zur mit modischen kulturkritischen Phrasen oft als »westlich« (oder »amerikanisch«) denunzierten Lebensweise der liberalen Gesellschaften mit ihren Leitwerten individueller Eigenverantwortung, Erfolgs-, Konsumstreben und egalitärer Würde des Einzelnen. Ambivalent besetzt war sein Verhältnis zum Wunsch nach Bindung, und zwar sozialer, kollektiver oder privater. Ambivalent besetzt war besonders das Verhältnis zu seiner Herkunft und ganz primär zu Führungs-, Autoritäts- und Vatergestalten in Leben und Politik: Die Sehnsucht nach solchen wie die Angst vor ihnen muss, sobald sie real in sein Leben zu treten drohten (z.B. in Gestalt des Reichspräsidenten Hindenburg), ähnlich intensiv gewesen sein. Keine konkreten »politischen« Überzeugungen davon, welche Institutionen und Normen des Zusammenlebens aus welchen Gründen zu präferieren seien, sondern diese Ambivalenzen sind es, die den »Ausstieg« Roths aus der Gegenwart der Republik erklären, wie wir sehen werden. Sie erklären auch, weshalb der Ausstieg gerade nicht

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zu einem Zeitpunkt passierte, da die Republik und mit ihr der Leitgedanke der Menschenrechte, der Gleichheit vor dem Gesetz, der plebiszitär kontrollierbaren Macht usw. tatsächlich unrettbar verloren schien, sondern just in der »Stabilisierungsphase« der Weimarer Republik, als der Wohlstand für alle (bei allen verbleibenden Klassenunterschieden) wuchs, Deutschland dabei war, in einen frei ausgehandelten Friedensbund mit den Nachbarvölkern zu treten, der Sozialstaat massiv ausgebaut wurde, das staatliche Gewaltmonopol durchgesetzt war, das Rechtssystem kaum noch politischen Missbrauch erfuhr und die Weimarer Verfassung unangefochten blieb, die nicht nur Presse-, Zensur- und Meinungsfreiheit garantierte – eine Lebensnotwendigkeit für den Journalisten Roth – sondern auch ethnischen und religiösen Minderheiten wie den Juden restlose rechtliche und soziale Gleichstellung. In dieser Hinsicht wurde für die Neufassung der Studien stichprobenweise die historische Literatur noch einmal gesichtet, um den Befund zumindest etwas besser abzusichern als in der Erstfassung des Essays. Sieht man die Erforschung Joseph Roths im Ganzen sich wegbewegen von sozialhistorischen, kulturkritischen und biographischen Fragen der älteren, deutschsprachigen Forschung und sich bewegen auf ein neues Gesamtbild Rothschen Schreibens durch Integration von Fragen der Linguistik, Rhetorik, Stilanalyse, Erzähltheorie, gegebenenfalls einiger kulturalistischer Aspekte wie der Konstruktion von Geschlecht, Identität, des Ost-West-Gegensatzes, so verstünde sich die vorliegende Neufassung als Abfolge essayistischer Erkundungen auf diesem Weg. Die Kapitel über Roths vermeintlich politische Invektiven und seine Konflikte mit ethnischer und religiöser »Identität« (Zweiter und Dritter Teil) geben dann vor allem (weitere) Argumente an die Hand, weshalb Roth ein denkbar schlechtes Objekt ist für die Beschreibung des Sprachkünstlers in Kategorien der ausgedrückten persönlichen Überzeugungen und Erfahrungen, die unabhängig vom Schreibvorgang existieren, und ein ebenso ungün-

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stiges Objekt für gewohnte sozialhistorische Zugangsweisen. Greift man auf Roths Texte in diesen tradierten Weisen zu, wird nicht nur per se alles, was ihn zum Künstler machte, verfehlt und überdies Roths eigene Poetik ignoriert (die die relative Autonomie der sprachkompositorischen Ideen gegenüber Imperativen der Lebenswelt behauptet), man erweist dem literarischen Intellektuellen einen denkbar schlechten Dienst. In dieser Hinsicht wollen die Studien nicht einfach vorführen, dass Roth als Person zufällig irrte oder allzu subjektiv urteilte, wenn er prominente Ereignisse der republikanischen Geschichte wie den Prozess gegen die Mörder Rathenaus oder die Wahl des Feldmarschalls Hindenburg zum Reichspräsidenten kommentierte. Das wäre allzu billig und allenfalls eine Bemerkung am Rande wert. Die Studien sollen zeigen, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen der mystifizierten Künstlerselbstdeutung (und das heißt nicht zuletzt der Deutung der eigenen Konfliktdynamik), dem »Ausstieg« aus der republikanischen, pluralistischen Gegenwart, der fundamentalen Rolle des Schreibvorgangs für alle sinnerfüllende Selbst- und Weltmodellierung Roths und damit der lebensbestimmenden Ambivalenz und ihrer schöpferischen Verwandlung gab. Die fast zwangsläufige Folge war, dass Roth im Augenblick, da seine persönliche Situation zunehmend von Ambivalenzen und Kämpfen und Zerrissenheit bestimmt wurde, die Republik sich jedoch in einen befriedeten, modernen Wohlfahrtsstaat in einem Friedensbund gewandelt hatte, bei Szenarien des Ausstiegs aus der Geschichte Zuflucht nahm – teils in »kulturkritischer« Aufmachung, teils elegisch, teils kryptoreligiös – und so sich seiner regressiven Sehnsucht nach heilsartig wirkenden Autoritäts- und Versöhnungsinstanzen ergab, die den Verlust an Führung, Zentrierung, Stabilität der Sozialhierarchien, Verlässlichkeit, Einbindung ins Sinn- und Sozialganze, was der Umsturz der deutschen und österreichischen Monarchien in Demokratien notwendigerweise mit sich brachte, kompensieren oder rückgängig machen könnten. »Durch die Brille der Demokratie bie-

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tet die Welt der Politik einen enttäuschenden Anblick«, so lautet der Eingangssatz einer kleinen Konfessionsschrift eines der wichtigsten Theoretiker der demokratischen Verfassung unserer Tage 35. Die Weimarer Republik hatte es schon deshalb schwer, weil heilsartige und metapolitische Lehren in Deutschland stark, der Liberalismus schwach war, jedoch gilt: »Das Fehlen demokratischer Traditionen und das Fehlen liberaler Traditionen verstärken sich gegenseitig«36. Diese weitgehend destruktiven Teile der vorliegenden Studie bezüglich Roths nur in Anführungszeichen politisch zu nennenden Verlautbarungen intendieren, das von unbewussten Prolongationen alter Mystifikationen des Literaten verzerrte (Selbst-)Bild Roths im historischen Kontext zu korrigieren, während umgekehrt die nun ins Zentrum gerückten Detaillektüren dem Wunsche nach dazu beitragen, ein Gesamtbild des Sprachkünstlers Roth mitzugestalten, das sich andeutet, wenn man zwar, wie die erwähnten Nora Hoffmann und Achim Hoffmann und Küpper zunächst sorgfältige linguistische, stilistische, rhetorische und erzähltechnische Bestandsaufnahmen konkreter Texte macht, diese dann aber hinsichtlich tieferliegender ästhetischer und epistemischer Ideen überschreitet. Nur dann wird man, sich Zeile für Zeile in einem Feuilleton Roths, einer Reportage, einer Erzählung vortastend, das eigensinnige Denken, Fühlen, Phänomenbilden, Bezaubern freilegen können, das einen jeweiligen Text oder eine jeweilige Passage trägt. Handelsübliche Modelle, die von der Form einer jeweiligen Aussage sprechen, müssen die individuelle Idee eines jeweiligen Textes oder Passusʼ notwendig verfehlen. Damit jedoch das genuin Literarische, denn es besteht Konsens darüber, dass Individualisierung die Bedingung einer emphatischen künstlerischen Ambition und Qualität ist. Die ausgedehnten Detaillektüren der vorliegenden Studien wollen stets auch diese bei aller Typik der Stilmittel, Stoffe und Denkformen nachdrück35 36

Möllers 2008, S. 9. Möllers 2008, S. 110.

2 Der Vorgang des Schreibens

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liche Individualität einer jeweiligen Passage erfahrbar machen – und damit allererst das eigentlich Poetische an ihnen. Das ist ein riskantes Unterfangen. Schon das Vokabular für die beteiligten Empfindungen, Repräsentationen und Erkenntnisideen kann kein allgemeinverbindliches sein wie etwa das der linguistischen Beschreibung grammatischer Bezüge (wiewohl auch dieses kontrovers sein kann). Seine Verwendung hängt bis zu einem gewissen Grad immer an den Prägungen, den Vorlieben, dem inneren Tastvermögen des jeweiligen Interpreten. Daher geht es bei den Einzellektüren nicht so sehr um zwingend belegbare Deutungen der jeweiligen Passagen, sondern um Vorschläge von Plausibilitätsanspruch: Sie wollen nicht bewertet sein als Illustrationen eines Theorieparadigmas, sondern durch die Weise, wie sie die Erfahrungen des Lesers mit den Besonderheiten der jeweiligen Texte und letztlich mit dem Rothschen Schreibkonzept vertiefen, intensivieren, differenzieren. Auch das ist mit gemeint, wenn nun das Wort »Essay« im Titel ausdrücklich gemacht wurde. 2 Der Vorgang des Schreibens und nicht die Fiktion oder das Produkt Text war es, worin und wofür und wodurch Roth lebte Die Veränderungen der Neuausgabe haben auch mit der jetzt ungleich prominenter und detaillierter belegten These zu tun, dass Roths Entwürfe des idealen Lebens zwar, seine Reaktionen auf politische Ereignisse, seine Varianten der »Kulturkritik«, seine Vorstellungen, was eigentlich den guten und was den schlechten Juden ausmache, seine Bilder, verbalen Repräsentationen, seine kapriziösen Umspielungen der eigenen Geschichte, seiner Rolle in der heutigen Welt von jenem das gesamte Leben und Schaffen durchdringenden Ambivalenzkonflikt getrieben wurden – doch der praktische Vollzug des Schreibens dabei tatsächlich, wie von Roth selbst behauptet, das Medium gewesen sein muss, ohne das er hilflos in der

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Welt herumirrte: »Ich kenne, glaube ich, die Welt nur, wenn ich schreibe, und, wenn ich die Feder weglege, bin ich verloren. Der Alkohol ist keine Ursache, sondern eine Folge, wahrscheinlich, die allerdings den Zustand verschlimmert.«37 Es sind diesem Brief an den geduldig fördernden Freund Stefan Zweig vom Februar 1936 zufolge keinerlei äußere Faktoren, welche das Schreiben zur existentiellen Notwendigkeit und zum einzig verbliebenen Schutzraum vor den Desorientierungen des Lebens machten. Es ist zuerst sein Verhältnis zu den Menschen – in der Terminologie des vorliegenden Buches: Das Dilemma der Bindung, aus offensichtlichen Gründen mit dem Dilemma Ordnung und Identität verbunden. Roths Begründung ist doppelt bemerkenswert, denn es hätte nur zu nahegelegen, sich Zweig gegenüber, von dem Roth wohl finanziell und sekundär auch als einem Vermittler in Sachen Verlage abhängig war, ebenfalls in der Rolle des Opfers von äußeren, politischen Umständen darzustellen. Schließlich war Stefan Zweig tatsächlich allein der äußeren Verfolgung wegen exiliert und litt darunter sehr. Das verursachende, dilemmatische Verhältnis zu Menschen charakterisiert Roth hier in der ihm eigenen, kapriziös mit Selbstwidersprüchlichem spielenden Art, kurzatmige Formeln, quasi-aphoristische Komprimierungen und Generalisierungen sprunghaft improvisierend zu verketten, halbernst und diskontinuierlich, forciert auf Pointen hin geprägt, geordnet durch wortwörtlich fortlaufende Oppositionsbildungen, die mal eher in Richtung Paradox gehen, mal nur amüsiert vieldeutig bleiben oder ostentativ selbstwidersprüchlich oder generalisierend behauptend sind. Dabei werden häufig mit einem lachenden und einem weinenden Auge die zur Schau gestellten Sach- und Sagegewissheiten relativiert: Auch in solchen, gewichtigen Briefen, lässt er sich und den Leser wissen, sei das, was er soeben an generalisierten Merksätzen und pointierten Einsichten im doppelten Wortsinne »vorstellte«, eben immer auch nur vor-gestellt, 37

Vgl. Briefe, S. 452.

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ein wenig Pose, willkürlich und den Autor selbst überraschend im Beleuchten und Hervorholen während des Schreibens. Seine Munterkeit hat etwas von tragischer Clownerie: Das partielle Posesein aller Aussageformeln war zugleich traurig und unüberwindbar, denn Roth konnte der allseitigen Ambivalenz wegen nie auf eine verbalisierbare Einsicht treffen, die so sicher, erhellend, lebensordnend war, wie es die Geste, der Habitus, die Pose, die Rhetorik der kurzen, wie kleine Peitschenhiebe aufs Papier geklopften Syntagmen den Lesern und mitunter auch ihm selbst vormachen wollten. Diese im munteren Inszenierungscharakter seiner Schreib-Rede enthaltene Trauer kann von der Ironie, mit der Roth seine pointierten Kurzsatzketten prägte, nicht getrennt werden. Es ist kein Grund zu sehen, weshalb Roths Selbstcharakteristik im Brief an Stefan Zweig fingiert oder posenhaft sein sollte, nicht einmal ein Grund, weshalb er übertreiben, dem Adressaten besonders imponieren oder schmeicheln hätte wollen. (Wenn man vielleicht einmal von der Zurschaustellung eigener Hilflosigkeit absieht, die gleichsam rituell auftrat, wo er Zweig wieder einmal um Unterstützung bat.) Roths ganzes Dasein, und zumal das der letzten Jahre, war eine einzige, zunehmend zentrumslose Flucht ins Schreiben vor dem Verlorensein in der Welt und zwischen Menschen. Ein Schulkamerad und zeitweiliger Wohnungsnachbar von Mutter und Sohn Roth in Brody, Moses Wasser, erinnerte liebevoll nüchtern Details dortiger Wohnverhältnisse, in ungleich größerer Verlässlichkeit als Joseph Roth selbst ihr alltägliches Tun, und auch dass Roth bereits als Jugendlicher gern Wein im Lokal trank, dass er auffallend adrett gekleidet ging, seine Mutter auffallend bindungslos im Ort war, und »nur für ihren Sohn, den sie Muniu nannte«, lebte. Roth selbst sagte, »sie tue alles für ihn, nur um sich in seinem Ruhm zu sonnen, mit wirklicher Liebe habe das nichts zu tun«. (Solche Instrumentalisierungen hinter vorgeschobener Überbehütung sind für heutige Psychologen erprobte Erklärungen kindheitlicher Traumata.) Und diesen Ruhm im Westen zu erlangen mit seiner Schriftstellerei, das

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war sich der junge Mann im kleinen Handelsstädtchen des habsburgischen Ostens gewiss: »Er dachte bereits daran, Dichter zu werden, und meinte, neben dem Schreiben sei alles andere für ihn von geringer Bedeutung.«38 Das Schreiben allerdings blieb ambivalent: eine Flucht vor der überbehütenden Mutter in etwas, von dem sie, die gänzlich ungebildet gewesen sein muss, nichts verstand; eine Flucht vor dem fatal instabilen Ich, das Joseph Roth schon und typischerweise im Jugendalter zwischen Bescheidenheitsposen und Ruhmesträumen, Isolation und Hochmut, Sanftheit und schäumendem Menschenhass schwanken ließ. Zugleich muss es sozusagen eine Flucht vor der symbiotischen und instrumentalisierenden Mutter in das instrumentalisierende Symbioseschema eben dieser Mutter gewesen sein. Denn ihre Liebe galt ja, nach Roths und seiner Jugendfreunde Eindruck, eben nicht ihm als Wesen mit eigenen Bedürfnissen, sondern seinem künftigen Erfolg, den die Mutter offenbar ebenso sehr wie er selbst ersehnte, wenn nicht gar forderte, um sich damit auf indirektem Wege einen Selbstwert und so eine Rolle in der Welt zu verschaffen. Der Alkohol verstärkte und zementierte, wie Roth am Ende seines rauschmittelbedingt kurzen Lebens an Stefan Zweig und vielleicht nur ihm gegenüber bekannte, lediglich epiphänomenal das Verlorensein. Verloren ist man, wenn keine Möglichkeit mehr absehbar ist, ›sich selbst‹ zu wahren oder zu leben und dennoch eingebunden zu sein in Gemeinschaften, in Systeme der Werte, der Bindungen. Mag sein, der Alkohol habe nicht nur der Abtötung dunkler Gemütsregionen gedient, sondern auch dazu, alles Sehnen nach sinnerfüllenden, Aufgehobensein schenkenden Bindungen an wirkliche Personen gleichsam umzulenken in erschriebene Bindungen. Wie immer man das interpretieren mag: Das Schreiben selbst muss für Roth eine Logik der Sinnstiftung und des In-der-Welt-Seins besessen haben, die so anders war als die des Alltags – einschließlich der Flun38

Das Interview mit Moses Wasser gibt Bronsen in seiner Biographie (Bronsen 1974) auszugsweise auf den Seiten 97–99 wieder. Zitate ebd. S. 97 und 98.

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kereien, Wirtshausscherze, Rollen- und Wortspiele, die Roth so gerne betrieb –, dass er sich in ihr und allein in ihr nicht verloren fühlte. Nicht das Ergebnis (z.B. der narzisstische Wert des fertigen Buchs und seines Erfolgs), sondern letztlich allein der Akt des Schreibens selbst schenkte ihm Unverlorensein. Roths existentiell durchlebtes Konzept des Schreibens war gerade keines, das mit der Küchenpsychologie zu erklären wäre, nach der der Mensch dort, wo er in Konflikte mit der realen Welt kommt, eben Zuflucht zu Fiktion und Phantasie nehme. Wäre dem so, hätte Roth sich keine große Mühe geben müssen, eine Kunstsprache zu entwerfen. Das mündliche, frei imaginierende Erfinden von Zuständen, Erlebensformen, Personen- und Geschichtskonstellation hätte ihm viel Mühe erspart und denselben psychologischen Kompensationseffekt gehabt. Sein Leben bestand ohnehin gleichsam aus posenhaft und nie restlos überzeugt vorgetragenen Versionen von Geschichten, zu denen es kein eigentliches Ich-Substrat, keine eine, wahre Geschichte gab, nicht einmal eine erfundene – zumindest kannte Roth selbst keine solche oder wollte sie nicht kennen. Entscheidend im Prozess des Schreibens konnte daher gerade nicht das Erproben von Rollen und Hineinversetzen in fiktive Personen selbst sein. Das lebte Roth ohnehin unentwegt und offenbar in ganz anderer Intensität und Systematik, als wir es (frei nach Erving Goffmann) ohnehin alle tun. Roth tat es vor allem auch ohne Feder in der Hand, als Rollenspieler und Geschichtenerfinder im Alltag. Ebenso wenig kann es im Schreiben um den Ausdruck subjektiven Erlebens beim Imaginieren von Handlungsszenen gegangen sein – die entscheidenden, dichterischen Aspekte der gegenständlichen Ereignisse, die ein spezifisches Aufgehobensein-Erleben im Schreiben erzeugten, entstanden allererst im Schreibprozess selbst. Wäre es um Erlebenswerte schrift- oder gar sprachunabhängig erzeugbarer Rollen und Fiktionen gegangen, hätte Roth sich zudem nicht ebenso unverloren gefühlt im Schreiben von stofflosen Feuilletons, Briefen,

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Anekdoten wie im Schreiben von (scheinbar) figurengebundenen Erzählungen. Was also war es, das Roth den Vorgang des Schreibens selbst als das einzige Tun erfahren ließ, das ihm Aufgehobensein, sinnerfüllte, stabile Orientierung im Verhältnis zu sich und der »Wirklichkeit« ermöglichte, letztlich die einzige, unbedrohliche, nicht allein schmerzliche Weise des In-der-Welt-Seins schenkte? Das ist eine der Leitfragen, auf die diese Neufassung ausgedehnte Antworten am Text formuliert – nicht am Bande einer vorab festliegenden »Interpretationsmethode«, sondern am Richtmaß des Erschließens eigensinniger Ideen und Qualitäten, Wort für Wort in den Erfahrungen des Lesens. Ohne Schreiben hätte Joseph Roth keine Möglichkeit gehabt, die im Laufe der 1920er Jahre zunehmend bestimmende Ambivalenz von Ordnung und Identität nicht bloß zu erleiden. Das tat er in den sehr bald hoffnungslosen Kämpfen um eine lebbare, erfüllende Rolle in der Gegenwart und vor allem den privaten Bindungen. Erst vermittels des Schreibens konnte er das existenzgefährdende (die damit in direktem Zusammenhang stehende Alkoholsucht trat bereits in den Jahren des jungen Mannes auf) Drama der Ambivalenz überhaupt erträglich und wahrscheinlich sogar allein dort gelassen wahrnehmbar machen. Vor allem vermochte er sie im Verhältnis zu jeder fixen Ordnung und Identität schreibend zu bearbeiten, ihr Gestalt, Ausdruck, Sinn zu geben und sie damit zur produktiven, aufbauenden und nicht bloß zersetzenden Kraft zu machen. Diese Abhängigkeit aller Bilder, Wertbehauptungen, Gefühlsprojektionen, (verbalen) Imaginationen und Metaphern »politischer«, ethnischer, biographischer Art vom poetischen Tun, das heißt dem Sinngestalten und Weltkonstruieren im manuellen Vorgang des Textverfertigens war in der alten Fassung der vorliegenden Studie eher mitgedacht als an den jeweiligen Texten Wort für Wort nachgewiesen. Daher wurden jetzt noch vor die Rekonstruktion der Konflikte politischer und ethnisch-religiöser Art Detaillektüren von literarischen Texten gestellt, die sich mit den Grundlagen des

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eigenen, schreibenden Zugriffs auf Welt, Selbst, Erfahrung, Fremdheit, Vergangenheit befassen. Dass das Schreiben für Joseph Roth gerade keine Ausdrucksform vorhergehender und schreibunabhängiger subjektiver Zustände, Erlebnisse, Phantasien, Meinungen war, sondern die Ermöglichung und das Medium von ihm sinnerfüllend und unbedrohlich lebbaren »Bindungen«, Identitäten und Ordnungen, erklärt auch, weshalb er im »Nachruf auf den lieben Leser« (I. 854–57) dezidiert behauptet, dass Stil kein Ausdruck einer Persönlichkeit sei, sondern bestimmt »durch das Verhältnis des Schaffenden zur Umwelt. Änderung des Stils bedeutet Änderung dieses Verhältnisses.« (I. 856) In diesem zuweilen kryptischen und manierierten Feuilleton aus den ersten Erfolgsjahren (1922) betrauert Roth die unmöglich gewordene oder jedenfalls außer Gebrauch geratene intime Ansprache des Lesers als »Lieber!«. Dass literarisches Schreiben etwas anderes sei als eine lyrisch, feuilletonistisch oder episch geformte Zwiesprache eines Individuums mit seinen Lesern, wollte oder konnte Roth sich nicht vorstellen. (Avantgarden existierten für ihn schlichtweg nicht.) »Der liebe Leser aber war anders. Über zehntausend Meilen hinweg korrespondierte seine treue Seele mit dem Dichter. Der saß in beneidenswerter Dachkammerabgeschiedenheit und wußte, daß sein Einfall, kaum geboren, schon bereitwilligen Empfang erwarten darf, herzliches Gehör und liebende Umarmung. Flink schrieb er ihn nieder. Und in diesem Augenblick erzitterte ahnungsvoll das Herz des lieben Lesers und bereitete sich vor auf das Wort, in Sehnsucht und Ergebenheit.« (I. 855) Wie meist, wenn er zentrale Konfliktherde der Verhältnisse von Bindung, Ein-Ordnung, Identität und Schreiben artikulierte, griff Roth auch in diesem Falle zu überraschend abgegriffenen Klischees und Floskeln des Gefühlsausdrucks – und wurde daher zu munterer Dauerironisierung der reproduzierten Klischees gezwungen, hier das trivialromantische Muster vom Dichter in der Dachkammer. Roths

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Ironie ist dennoch eine Projektion seines Bindungsdramas in die Geschichte eingeschrieben. In der Vergangenheit konnte der Dichter danach noch in räumlicher Abgeschiedenheit glücklich mit sich selbst sein, weil das Verhältnis zum Leser noch herzlich und eine Art »liebende Umarmung« war. Heute, folgt hiernach, muss der Dichter, da jene Intimität auf dem Vermittlungswege der Schrift nicht mehr hergestellt werden kann, aus der Abgeschiedenheit herausgehen, um nicht an Isolation zugrunde zu gehen. Roth selbst schrieb, je älter er wurde, immer ausschließlicher zwischen Menschen, in Hotellounges, Zügen, Gasthäusern, und seine späte Lebensgefährtin Manga Bell bezeugt, dass er am liebsten geschrieben hätte, wie ein kleines Kind spielt: Sie als Behütung immer in der Nähe wissend, wenn er seine eigenen Welten baut (s.u.). Dass Roth Feuilletonist alten Stils wurde, der typischerweise seinen Text als eine Simulation von witzsprühender Improvisation anlegte und den Leser in simulierter Echtzeit an diesem Prozess erlebend teilnehmen lassen wollte anstatt ihm ein fertiges Produkt und leicht erfassbare, dargestellte Tatsachen zu präsentieren, folgt aus seiner Konstitution ebenso leicht nachvollziehbar wie die Entwicklung seines reifen Erzählkonzepts aus einer Adaption des mündlichen Erzählens heraus – das Improvisatorische im Mündlichen zugleich steigernd, ausstellend und damit als artifizielle Sprech-Rolle kennzeichnend. Wie genau, wie ingeniös das Roth vollbrachte, werden wir im Laufe der Studien mehrfach in Wort-für-Wort-Lektüren sehen. Gleichwohl trauerte er jenen seligen Zeiten nach, da der Leser dem Schreibenden ein zweites Ich gewesen sein soll, ihm wie ein vertrauter und (natürlich) anbetender Freund bei jedem Federzug folgend, und dies Nachtrauern lässt sich als Allegorie der Tragik eines solchen Schreiblebens verstehen. Zwar kann man Roths zeitlebens produzierte Manieren, Kapricen, kommunikative Spiele, Briefe, Zeitungsartikel, Erzählungen, Erinnerungsblätter als Manöver des Werbens und Suchens eines sich als existentiellen Akt verstehen-

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den Schreibens auffassen – in dem allein lebbare, vertraute Bindungen an Welt und Menschen sowie sinnerfüllte Bilder der Erfahrung und des Hierseins entstanden –, doch ist das leibhafte Begegnen, das fleischgewordene »Du«, die empathische »liebende Umarmung«, das heißt: die erfüllende Bindung nie erreichbar, so raffiniert und lebendig sie im Schreiben auch angesteuert werden mag. Schlimmer noch, je virtuoser das Schreiben diese Leibhaftigkeit hier und jetzt herbeizaubern kann, desto weniger möglich wird der Sprung hinaus in die leibliche Welt. Je kleiner die Kluft in der erschriebenen Autosuggestion, desto größer wird sie in der Realität. Das dürfte der Grund sein, weshalb Roths Ideal der allein im Schreiben restlos erfüllte, glücklich eingebundene, liebend umarmende Dichter war. Das Reportagebuch »Die weißen Städte«, Gegenstand der zweiten Detaillektüre im Ersten Teil, erschien in den entscheidenden Jahren des Umbruchs, als Roth seinen feuilletonistischen Duktus in kulturkritische Gemälde der Entfremdung, des Zerfalls, der verlorenen Ganzheit (mit dem Modellfall des ostjüdischen Schtetls) erweiterte und die Welt öfters als große Bühne zeichnete, auf der Ordnungstypen miteinander rivalisieren, Sieger und Opfer produzierend – eine Denkweise des kontrastbildenden, affektgeladenen Pauschalisierens, die, wie am »Humanitäts«-Text gesehen, schon früh zum Register seines Schreibens gehörte, doch nur im kleinen Format, erst später breitet sie sich auch im Essay aus. Roth begründete in der frei poetisierten Reportagefolge, weshalb er sich vom »Beschreiben«, überhaupt von allen Versuchen des planmäßigen Erschließens der Welt, letztlich vom Glauben an die Möglichkeit, eine unabhängige Außenwelt verbal darzustellen, abwendet und sich also auf die subjektiven Reaktionen und Selbstbeobachtungen begrenzen wolle und müsse. Die sich in dieser essayistischen Reportagefolge äußernde Wende hat nach seiner Darstellung nichts mit politischen oder sozialen oder religiösen Faktoren zu tun – sondern alleine mit der Unmöglichkeit, der (eigenen) Erfahrungswelt gerecht zu werden, indem man sie zu fixieren sucht und ihr eine definite, geregelte, stabile

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Ordnung zuschreibt. In den Erklärungsrahmen der vorliegenden Studie übersetzt: Seine Poetik der Wandlungen, der Diskontinuität, der Beschreibungsfeindschaft begründete Roth hier mit dem Dilemma der Ambivalenz im Verhältnis zu Identität(en) und Ein-Ordnungen. 3 Die Rolle von Klischees des Ausdrucks, des Geschlechts, des Lyrischen, des Guten in Roths Schreiben Allerdings: Trotz der Akzentverlagerung auf engere Arbeit am Text setzt die Neufassung einige Gegenakzente. Ich hoffe, man versteht es nicht als biederen Opportunismus an modische Diskurse (den »Megatrend Gender Shift«39), wenn die Neufassung der Studie zwischendurch den Blick auf die Rolle der »Geschlechterstereotype« und ihre Verbindung zu Roths Oppositionskonstruktionen antagonistischer Ordnungen lenkt. Das geschieht ganz ohne theoretische und eigentlich historische Ambitionen. Das Wort »Geschlechterstereotype« wird intuitiv verwendet, ohne Anschluss an eine Interpretationsschule40. Es erklärt sich – hoffentlich – selbst, da die jeweiligen Textbeispiele anschaulich sind und langwierige Exkurse in die verschiedenen Definitionsversuche und Abgrenzungen vom Begriff »Geschlechterrolle« daher entfallen können. Die Rolle von Geschlechterklischees sollte nach meinem Dafürhalten nicht für sich betrachtet werden, sondern im Zusammenhang mit der Rolle von Klischees, Retorten und Stereotypen aller möglicher und insbesondere auch verbaler Art. Mit diesen macht jeder mittelmäßig aufmerksame Leser Roths zweideutige Erfahrungen. 39 40

Cornelia Kelber, Gender Shift. Zukunft der Geschlechter, https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/gender-shift-zukunft-der-geschlechterrollen/. Branchenübliche Begriffsbestimmungen genügen, z.B. Fleischmann, A. & Sieverding, M., Geschlechterstereotype. In: M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie (2018) https://m.portal.hogrefe.com/dorsch/geschlechterstereotype/.

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Meiner (selektiven) Leseerfahrung nach treten die Geschlechterstereotype im Gegensatz zu anderen Klischees (insbesondere der Gefühlsexpression der Wahrnehmungsvergegenwärtigung) eher selten gebrochen durch Humor oder Selbstironie oder parodistische Elemente auf. Viele sind verglichen mit der Häufigkeit von Komik und Ironie auffallend gallig, devalorisierend, teils spöttisch, kalt sezierend. Die Artenvielfalt der auftretenden Frauen in Roths Romanen ist ebenso auffallend begrenzt. Wer auf dem Weg zu einem umfassenden Bild des Schreibkonzeptes Joseph Roths ist, müsste etwas erwägen, das in den Avantgarden und Neoavantgarden des 20. Jahrhunderts oft propagiert wurde, heute jedoch kaum noch zur Debatte steht: Ob nicht das konventionelle, sukzessive, durch illusionistische Darstellung einzelner Handlungssituationen vorgehende Erzählen von Geschichten, das lineare Zeichnen von Personen und Szenen, alltagsnahen Dialogen usf. selbst das größte und wirkmächtigste Klischee der poetischen Sprachverwendung ist. Das wäre eine für meine Begriffe durchaus notwendige und herausfordernde Diskussion, die die epistemischen Grundlagen dichterischer Sprachverwendung ganz grundsätzlich neu thematisiert. Doch eine solche Diskussion überschritte, wie sich versteht, den Horizont der vorliegenden Studie. Am Beispiel jedoch der wohl gewichtigsten poetologischen Äußerung Roths, den Einleitungsabsätzen in »Die weißen Städte«, werden wir sehen, dass es für ihn essentiell war angesichts einer Welt und ihres Erlebtwerdens, die er als prinzipiell nicht planbare und flüssige erfuhr, das Beschreiben als Modus der verbalen Weltvergewisserung auszuscheiden, das konventionelle Erzählen dafür gleichsam gegen jede erkenntniskritische Reflexion zu immunisieren und zur naturhaft unbezweifelbaren Methode zu erheben. Das gewohnte Erzählen war wohl eine letzte Zufluchtssphäre vor den Desorientierungen seiner Selbst- und Weltaneignungen, und dementsprechend hielt er das Erzählen von allen Anfeindungen fern. Da es ihm notwendig war, konnte er es nicht intellektuell zur Disposition stellen. Damit durchlebte Roth

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vielleicht nur in dramatisch gesteigerter, hypersensibilisierter Form, was man biographisches Selbst nennt, als im episodischen Gedächtnis ruhendes und permanent umerzähltes. Das Schreiben jedoch, das Tun an sich, es wurde von Roth nie umerzählt. Sein Sinn schwankte nicht. Er hat es weniger gewählt, als dass es ihn wählte, von Jugendtagen auf. Es war keine Distanzierung vom Schreiben, dass es in seinen Erzähltexten praktisch inexistent ist. Es gab keine stabile Welt und kein stabiles Selbst, das er wahrnehmend interpretiert und geordnet hatte, um es davon unabhängig im Schreiben neu zu deuten. Schreiben war ihm so unabdingbar und unsichtbar wie dem Kurzsichtigen die Brille auf der Nase. Erzählen wurde Rote die letzte Form einer Art Stabilität in der Zeit, Verlässlichkeit, Sinnhomogenität, während das Feuilletonschreiben zwar das Bewusstsein der eigenen Kontur- und Bindungslosigkeit für einige Stunden schöpferisch verwandeln konnte, von den Bindungsdramen erlösen und das Selbst des Schreibenden im Schreiben für einige Minuten oder Stunden neu inszenieren, aufwerten, glänzen lassen, überraschen konnte, jedoch keine sinnerfüllte, stabile Welt schöpfen, in der das Ich aufgehen kann. Dass Roth die Bühnen seiner erzählend erzeugten Illusionsspiele im Alter meist aus halluzinierten Stoffen der späten habsburgischen Welten baute, ist dagegen sekundär, eher ein biographischer Zufall. Vielleicht bloß ein Trick der schöpfenden Phantasie, der auf diese Weise Materialien zugeführt wurden, die einerseits emotional besetzt werden konnten und anderseits historisch unwiederbringlich, distanziert wie durch das eigene, weitgehend fiktive »Leben«, als wirklich bestehend verbürgt schienen. Das schließt ein: Man schrieb dem Autor einen privilegierten und intimen Zugang zu dieser den meisten Lesern der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland kaum noch vertrauten »Wirklichkeit« zu. So wenig Roth sein Modell des linearen, illusionistischen Erzählens selbst zur Disposition stellen konnte, desto subtiler musste er innerhalb dieses konventionellen Rahmens sein Spiel der Ambi-

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valenz, des kaschierten Umschlagens von Ordnungen, seine artifiziellen, ironischen Instrumentalisierungen der Rolle dezidiert mündlicher Erzählhaltungen (bzw. -stimmen) u.a. entwickeln. Und eben auch seine ironischen, teils oft (gegen den ersten Augenschein) überraschend doppeldeutigen und reflektierten, dann wieder (die Ambivalenz regierte ihn auch in dieser Hinsicht) scheinbar distanzlosen Verwendungen von Klischees einflechten. – Klischees des Gefühlsausdrucks, des antimodernen Ressentiments, des Geschlechts, des Kaiserreichs, Klischees von Persönlichkeitstypen, Ethnien und Lebenswelten usw. Wir werden einigen Passagen begegnen, in denen solche Klischees Teil einer überraschend feinsinnigen, mehrschichtigen, ironisch schwebende Rollen- oder Textsituation sind und damit bewusst und demonstrativ als Retorte des Empfindens markiert wurden. Das Primat des Nachvollzugs eines lebendig offenen (oder offen erscheinenden) Redeprozesses gegenüber dem verbalen Endprodukt konnte Roth innerhalb des Genres Feuilleton im traditionell dieser Gattung eigenen Zelebrieren des subjektiven Augenblicks schreibend realisieren. Es konnte das tun, er musste es nicht. So erhob er diesen Grundsatz nicht zum Dogma. Seine Flexibilität und sein Überraschungsvermögen waren ihm essentieller. Es existieren planmäßig strukturell und im Pointenwesen vielfach durchgearbeitete Feuilletons, berichtende, aber auch Capriccios. Die Ästhetik des Prozesshaften und Improvisierten war im Feuilleton nur eine Spielart des unberechenbar bleiben wollenden Artisten. Im Bereich des Erzählens konnte er diese Dominanz des Offen-Prozesshaften, Augenblickhaften aus einer artifiziellen Adaption des mündlichen Erzählens gewinnen. Roths Vorliebe für Scherze auf kurzer Distanz, für Seitenpfade, Diskontinuitäten, Sprünge – eine Poetik der schönen »sprachlichen Willkür«, die er Alfred Döblin unterstellte (s.u.) – brachte er keineswegs von Beginn an, sondern durch schrittweise reifende künstlerische Entscheidungen mit dem mündlichen Erzählen zumal des Ost-

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judentums zusammen. Daher huldigte Roth dem ›Batlen‹, dem jüdischen Wandererzähler erst, als er sein reifes Erzählkonzept bereits entwickelt hatte, im großen Reportageessay »Juden auf Wanderschaft« (II. 853). Dass ihm hierbei in der Sache ein Irrtum unterlaufen ist, Roth Spaßmacher und Erzähler miteinander vermengte41, ist doppelt symptomatisch – sowohl für das eigene Erzählkonzept wie für sein unerschrockenes Simulieren, diesen »Batlen« noch selbst erlebt zu haben. In Wahrheit dürfte er diese Traditionen eher vermittelt durch die Rezeption der im Westen erfolgreichen jiddischen Literatur, insbesondere Scholem Alejchems kennengelernt haben. Roths Portrait des Batlen ist denn auch ganz in seinem eigenen, pointenzentrierten Feuilletonismus gehalten. Er führt hier keinen bloßen, mündlichen Epiker vor, sondern vermischt mehrere traditionelle Typen der Lebenswelt und formt daraus munter fabulierend eine halb fiktive, neue Instanz der traditionellen Lebenswelt, die Vieles auf einmal ist: Narr, Philosoph, Geschichtenerzähler, Wandervogel und Spaßmacher. Keiner nahm diesen Batlen ernst, ginge es nach Roth, der hier natürlich im Modus der farbigen Überzeichnung eigene Wunschbilder aufs Papier tupfte. Und doch sei er insgeheim »der ernsteste aller Menschen« gewesen: »Seine Geschichten würden wahrscheinlich in Europa Aufsehen erregen, wenn sie gedruckt würden. Viele behandeln Themen, die man aus der jiddischen und aus der russischen Literatur kennt«. Sogar hier, in der bunt fabulierenden Überzeichnung einer Gestalt der ostjüdischen Lebenswelt, brachte Roth, um jede historische Wahrheit unbekümmert, seine Fixierung auf nackten Publikumserfolg in der westlichen Kultur unter: Ostjuden, die im Westen Karriere machten, bewiesen gerade nicht, dass sie der Enge des Schtetls entflohen seien, sondern die Überlegenheit der ostjüdischen Tradition selbst. Daher behauptet Roth, der »berühmte Scholem Alejchem war der Typus eines Batlen – nur bewußter, ehrgeiziger und von seiner Kulturaufgabe überzeugt« (II. 853). Schloljem-Aljechem war selbstredend 41

Vgl. Gelber 1990, S. 133f.

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kein traditioneller mündlicher Erzähler mehr, der das Handwerk der Volksepik von Mund zu Ohr erlernt hatte, sondern ein gut ausgebildeter Intellektueller, der nach westlich orientierten Jungmännertagen sich das traditionelle mündliche Erzählen als eine Art Rollenspiel für humoristische Genrestücke im Volkston zueigen gemacht und damit einen persönlichen Stil primär für das westliche Publikum gefunden hatte. Die traditionellen Wandererzähler seien, hat Roth im Wanderschafts-Essay fabuliert, »meist stille Dichter, die ihre Geschichten vorbereiten oder, während sie erzählen, erfinden und verändern« (II. 853). Roth scheint an diesen Stellen seines Wanderschafts-Essays seine eigene, artifizielle Erzähldiktion nachträglich mit einem Hauch der Ursprünglichkeit adeln zu wollen, simulierend, sie sei indirekt einer noch intakten, von westlichen Verführungen bedrohten, Geborgenheit schenkenden Lebenswelt entwachsen – jenem Reich der starken Großväter, aus dem her Roths elegisch-halluzinatorischer Erzählgeist den jüdischen Schankwirts-Ahn des Dr. Demant, aber auch noch den Helden von Solferino in die Gegenwart rücken. Was die Wahrnehmung der Frau betrifft, gab sich Roth nicht nur einmal als Connaisseur gehobener Klasse, der die junge und schöne Frau als rein ästhetisches Objekt kultiviert sehen wollte. Was für ihn bedeutete, die moderne, emanzipierte Frau der zwanziger Jahre als Entfremdung zurückzuweisen. Ganz programmatisch tat er das in einem Feuilleton für seine FZ im Dezember 1926. Wem die Natur Schönheit und Jugend verliehen habe, dürfe selbige nicht durch Sport und noch weniger durch Erwerbsarbeit entstellen. Die Aufgabe dieser Frauen bestehe vielmehr darin, ihre Reize als ästhetischerotisches Objekt des Mannes nur elegant zu verhüllen. »Es ist reaktionär, die Frau durch Gleichstellung ins Neutrum zu verwandeln […] Es ist reaktionär, sie nur frei zu machen – es wäre revolutionär, sie frei und schön zu machen.« (II. 635). Das ist natürlich pure Rhetorik; was Roth anstrebt, ist die Rückkehr zu einer traditionellen Rollenverteilung: Wer »erotische Kultur« besitze (II. 647), erhebe die

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Dame zur ästhetisch zu bewertenden Trophäe. Die Frau habe sich darauf zu konzentrieren, sich zu schmücken, um dem Mann als Objekt der Bewunderung, der Werbungsspiele und versuchten sexuellen Inbesitznahme zu dienen. Unschöne und alte (wohl auch arme, des »Luxus« [vgl. II. 647f] unfähige) Frauen dagegen dürfe man nach Roths patriarchaler Attitüde nicht nur arbeiten, sich also schmutzig machen und unelegant aussehen lassen; war die Natur ungnädig in ästhetischer Hinsicht, dann sollte man der Frau wenigstens gönnen, eine geschlechtslose »Arbeitskraft« zu werden, um ihrem Leben einen Sinn geben zu können, den sie als Frau im engere Wortsinne nicht haben könne. So rät es Roths »Brief an eine schöne Frau« aus der FZ vom 26. 4. 1931 (III. 296–99)42, eine etwas verdächtig aufgeplusterte Maskulinität mit einer süffisant die Frau im Huldigen abwertende Federkunst vereinend. Diese patriarchale Attitüde, das Dringen der modernen Frau auf Eigenrechte in Lebensführung und erotischer Erfüllung jenseits des Objektseins für den Mann als Urteilsinstanz zurückweisend, hielt sich wohl ziemlich durch in Roths Schaffen und übrigens auch in seinen Briefen. Sie gipfelt verstörend in der Mischung banaler männlicher Potenzphantasien (als Überkompensationen von Männerängsten43) mit verklärten Regressionswünschen und misogynen Elementen in der »Legende vom heiligen Trinker«. (Vgl. Dritter Teil: »Exkurs: Geld, Mutter, Sexualität, Opfersein.«) Weniger drastisch, doch unübersehbar tauchen diese Elemente auch im »Radetzkymarsch« auf. 42 43

Vgl. Dane 2012. Gemeint sind nicht jene uns heute befremdenden (bzw. wahnhaft erscheinenden), in den meisten frühen Kulturen verbreiteten Ängsten vor Verunreinigung des Mannes im sexuellen Kontakt mit Frauen (vgl. Müller 1984, S. 253–8). Gemeint sind Ängste vor Konkurrenz, sexuellem Versagen oder sexueller Übermacht der Frau. Solcher Männerängste wegen hat nach Dux 1992 (S. 230) der Mann in »allen uns bekannten Gesellschaften« vor Beginn der liberalen Moderne »für sich sexuelle Vorrechte durchgesetzt, zugleich aber der Sexualität der Frau Grenzen gezogen.«

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In der ersten Fassung dieser Studie wurden aus Achtung für den Autor diese eher schmuddeligen Seiten in eine Fußnote verpackt und somit den Augen des Lesers pietätvoll verborgen. Sie, dachte ich damals, gehören zu den Seiten, die lediglich Menschen interessieren können, welche sich für das interessieren, was an einem Dichter am wenigsten mit Dichtung zu tun habe, die banalen Zufälle des gewöhnlichen Lebens, die allzumenschlichen Ängste, Verbrämungen, Ressentiments, Charakterschwächen. Im Zuge der Neubearbeitung gewann ich jedoch den Eindruck, Roths so stark aus Oppositionsfiguren und Idiosynkrasien hervorgegangenen Erzählarchitekturen seien zumindest in einigen Fällen so unlösbar und fundamental mit Stereotypen, Ängsten und Posen der Geschlechter verwoben, dass es einfach inadäquat wäre, die Struktur der Text-Ordnungen beschreiben zu wollen, ohne diese Geschlechterretorten einzubeziehen. Das heißt mitnichten, dass der poetische Reiz von der Art, wie man derlei Stofflichkeiten in den Geschlechterdiskurs einordnet, abhinge. Es heißt vielmehr, dass die Textarchitekturen hier allermeist zu ihrem ästhetischen Nachteil von diesen kaum sublimierten Stofflichkeiten der persönlichen Erfahrungen, Denkweisen und Wunschprojektionen bestimmt werden. An anderen Stellen mag es sein, dass solche allzumenschlichen, an sich außerliterarischen Faktoren nicht ohne Reiz in Spannung treten zu der ironisch-spielerischen, augenzwinkernden, teils artifiziell verkindlichten Haltung des Erzählhabitus selbst. Selbst wenn das öfters der Fall sein sollte, müsste man diese Dinge wohl eher flüstern oder in Parenthese sagen, um die Bedeutung und Eigenart des Dichters Joseph Roth in anderer Hinsicht nicht zu beschädigen. Allerdings: Schwächen, das Allzumenschliche, den Lebensschlamm, das Unpoetische eines literarischen Textes klar zu benennen, ist eine Voraussetzung dafür, die eigentlichen, eigensinnigen poetischen Qualitäten umso schärfer sehen zu lernen. Und im Falle Roth kommt bezüglich der Klischees aller Art hinzu: Es ist ebenso evident, dass manche Klischees als Fassade, als abgegriffener Trick

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bis hin zur Parodie präsentiert werden. Und ebenso klar scheint es zumindest, dass umgekehrt an vielen Stellen Stereotype, Klischees und Banalitäten verwirrend distanzlos benutzt sind. Die meisten Stellen bewegen sich irgendwo in der Mitte zwischen ostentativer Parodie oder Quasi-Montage auf der einen, distanzloser Banalität oder Sentimentalität auf der anderen Seite. Es ist unmöglich, Roths dichterische Kunst angemessen fein zu rezipieren, ohne sich die Mühe zu machen, jede individuelle Stelle daraufhin zu überprüfen, in welchem Spektrum zwischen diesen Extremen sie gelagert ist. Die historische Geschlechterforschung dürfte Roths Klischees sicher mit spezifischen Ängsten (neudeutsch vielleicht »stereotype threat«) und diese wiederum mit dem enormen Schub weiblicher – sowohl politischer wie kultureller und damit auch sexueller – Emanzipation in der Weimarer Republik in Verbindung bringen. Es wäre plausibel, Roth jenen Männern zuzurechnen, die ohnedies geschlagen waren mit schwelenden Ängsten und daher besonders heftig irritiert wurden von dem ziemlich plötzlichen Schub der Frauenbewegung nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs, zumal in den Metropolen Berlin und Paris. Diese Aspekte schienen mir bei der Neufassung zu augenfällig und in manchen Fällen nicht nur zu dicht mit den individuellen Quellen der (Ein-)Ordnungs-Ambivalenzen, sondern auch zu eng mit der Gesamtkonstruktion von Ordnungsambivalenzen und Identitäten in Roths Texten verwoben, als dass sie aus Achtung vor dem Dichter in einer Untersuchung seiner Kreativität nicht wenigstens exemplarisch angesprochen werden müssten. Sie erschienen mir dichtungsgeschichtlich so sekundär wie mentalitätsgeschichtlich bemerkenswert zu sein. Und wie prekär die Rolle der Frau als aktives sexuelles Wesen noch immer ist, hat jüngst die #MeToo-Debatte gezeigt. Auch hier trat die Frau ganz wesentlich als vorm Mann zu schützender, passiver Akteur auf, dessen Autonomie als Begehrens- und Lustwesen primär im Recht besteht, »Nein« zu sexuellen Avancen

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des Mannes sagen zu dürfen44. Eine sich aktiv ihre Ziele suchende »Potenz« der Frau existierte lange Zeit (auch in aufgeklärten Kreisen) überhaupt nicht als Vorstellung, und wenn dann wurde sie stigmatisiert (auch von anderen Frauen), wenn nicht gar dämonisiert. Sofern die diesbezüglichen, neu hinzugekommenen Passagen anregen, auf allzumenschliche Aspekte in Roths Werk aufmerksam machen, haben sie ihre Pflicht erfüllt. Es spielt für das in dieser Hinsicht angestrebte, bescheidene Beweisziel keine Rolle, ob man die ausgemachten Denk-, Vorstellungs-, Wertungs- und Emotionsschemata beispielsweise eher implizite Geschlechtertheorien (»gender belief systems«) oder anders nennen möchte45. So vieles in Roths Erzähltexten vielleicht ein Niederschlag spontan abgerufener Muster war, gänzlich »implizit«, das heißt ohne alle explizierende Reflexion der eigenen Prägungen können seine Konstruktionen nicht gewesen sein. Dazu sind sie zu artifiziell, zu deutlich satirisch eingefärbt, teils zu offensiv ausgestellt. Das Kapitel zum »Radetzkymarsch« wurde in dieser Hinsicht leicht, das Schlusskapitel über den späten Roman »Das falsche Gewicht« im Fünften Teil (»Alle deine Gewicht sind falsch«) stark revidiert, weil hier die poetisch eingesetzten Ambivalenz- und Oppo44

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Dieses Recht, mit »nein« auf sexuelle Angebote des aktiven Parts, des Mannes, reagieren zu dürfen, ist nach Svenja Flasspöhler, Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit. Berlin 2018, ein wesentlicher Formant der bürgerlichen Sexualität der Frau seit der Aufklärung (Rousseau u.a.). Die Anbahnung sexueller Handlungen ist auch heute noch in aller Regel eine Sache des Mannes und sogar die physischen Vorgänge werden (wie Flasspöhler wohl zurecht behauptet) aus der Perspektive des Mannes geschildert. »Solche Theorien sind umfassende Systeme von Alltagsannahmen über die Geschlechter und ihre wechselseitigen Beziehungen. Neben Geschlechterstereotypen enthalten sie Einstellungen gegenüber den Geschlechtern und ihren jeweiligen Rollen, Bewertungen von Individuen mit rollenabweichendem Verhalten sowie geschlechtsbezogene Wahrnehmungen und Einschätzungen der eigenen Person. Damit lassen sich impliziten Geschlechtertheorien auch die Konzepte des Sexismus und der Geschlechtsidentität subsumieren.« Eckes 2010, S. 179.

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sitionsstrukturen sowie die Ich-Konstruktionen unlösbar mit Geschlechterrollen verbunden sind: Ingeniöse Stärken im Detail sind nicht von den allzumenschlichen (und im Besonderen: männerängstigen) Seiten Joseph Roths zu trennen. Geschlechterforscher würden vielleicht auf Spuren des Archaischen in Roths geschlechtsspezifischer Programmierung hinweisen. Wir werden unten (Kap. »Sichere Distanz«) seiner frühen Erzählung »April« begegnen, deren Protagonist die Klimax seiner verdrehten Begierden erreicht, »seitdem ich wußte, daß sie [d.i. die Geliebte] bald tot sein würde, [denn nun] fühlte ich mich sicher in meiner Macht über sie« (IV. 347). Deutlicher (und unbeholfener) kann man (hysterische) Ambivalenzen des Begehrens und der seelischen Quellen kaum artikulieren. Roths Leben holte in dieser wie auch anderer Hinsicht mit Zeitverzögerung das ein, was die literarische Phantasie zuvor entworfen hatte (ein ähnliches Phänomen wäre das Exil, das gewählt wird ohne erkennbare, direkte äußere Bedrohung). Ganz ähnliche ›Liebes‹-Phantasien hat er offenbar später gehegt, als seine Gemahlin Friedl von psychotischen Schüben eingeholt, gleichsam geistig gestorben war. Er habe, bekundete Roth privatim, als ihre Psychose weit fortgeschritten war, sie »auf Anraten der Ärzte in einer Zelle für Tobsüchtige, in der sie sich damals befand, beschlafen«46. Die Beziehung zur seit 1924 sichtbar verfallenden Friedl47 lieferte Rohstoff für literarische Phantasien. Ob Roth realiter so gehandelt hat, ist nicht entscheidend, sondern nur die Art der Phantasie. In seinen Imaginationen klingen zudem und überraschenderweise krude, doch verbreitete Vorstellungen über die besondere Beziehung psychisch erkrankter Frauen zur Sexualität und wohl auch medizinische Praktiken nach: »Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Hysterie in den USA und Großbritannien eine der am häufigsten diagnostizierten Krankheiten. Doch worin bestand die Therapie? […] Die Ärzte masturbierten ihre Patienten zum Orgasmus. Regelmäßig, 46 47

Siehe Bronsen 1974, S. 348. Siehe Bronsen 1974, S. 329.

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von den Zeiten des Hippokrates bis in die 1920er Jahre, bekamen Hysterie-Patientinnen derartige Massagen, so hat es die Historikerin Rachel Maines dokumentiert. […] Manche Ärzte delegierten die Aufgabe an Krankenschwestern […]. Bei der ›Therapie‹ ralliger, frustrierter Frauen handelt es sich keineswegs um eine vereinzelte Verirrung in der fernen Vergangenheit; sie ist nur ein Element des uralten Kreuzzuges, der die weibliche Libido pathologisieren soll – eine Libido, die gemäß Experten kaum existieren dürfte.«48 (Vielleicht könnten spezialisierte Fachhistoriker erläutern, ob solche oder die Rothschen Praktiken womöglich sogar noch mit jenen ebenso befremdlichen, sich Jahrhunderte lang haltenden Vorstellungen zusammenhängen, nach denen Hexen »Teufelsbräute« gewesen seien, sprich: Unzucht mit dem Teufel getrieben hätten und orgiastische Feiern in der Walpurgisnacht abhielten. Verbreitet wurden diese Legenden maßgeblich durch das Buch »Hexenhammer« des Inquisitors Heinrich Kramer49.) Noch um die Wende des 20. Jahrhunderts kon48 49

Ryan/Jethá 2016, S. 282f. Der »Hexenhammer« infiltrierte die Bevölkerung mit der Standardvorstellung, Erkennungszeichen von »Hexen« – Frauen, die in religiöser, sittlicher, sexueller Hinsicht als Bedrohung für die jeweilige sittliche Ordnung empfunden und gebrandmarkt wurden – sei der »Pakt mit dem Teufel, der durch eine Blutsunterschrift und/oder den Geschlechtsverkehr besiegelt wurde, die Teilnahme am Hexensabbat, der Hexenflug und die Möglichkeit, Schadenszauber zu wirken, anzuführen.« Kristina Göthling, Orgien, Teufelsanbetung, Giftmischerinnen. Über moderne Hexenvorstellungen. in: Der Standard (Wien) 20. April 2018. Verfügbar unter: derstandard.at/2000078351369/Orgien-Teufelsanbetung-Giftmischerinnen-Ueber-moderne-Hexenvorstellungen. Darstellungen, die wie die zitierte in sympathetischer Nähe zur Genderforschung verfasst wurden, sind allerdings einseitig: Nachts vom Teufel angefallen, vergewaltigt, geschändet wurden durchaus auch Männer. Der Teufel verkehrte entweder homosexuell – die meisten Praktiken, die man dem Teufel zuschrieb, waren einfach Praktiken, die moralisch als pervers galten (Duerr 2015, S. 304) – oder nahm die Gestalt von Mädchen an (ebd., S. 308f.). Eine einfache und klare Zusammenfassung z.B. bei Johanna Schmeller, Was der Sex zum Hexenwahn beitrug. In: DIE WELT 2016, verfügbar unter https://www.welt.de/geschichte/article865923/Was-der-Sex-zum-Hexenwahn-beitrug.html.

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struierten Ärzte diverse Geräte, um diese Art Kur durch Zwangssexualisierung nicht manuell durchführen zu müssen: »Manche wurden von Diesel angetrieben, andere wie kleine Lokomotiven mit Dampfkraft. Zuweilen handelte es sich um riesige Apparate, die mittels Ketten und Flaschenzügen an Dachbalken aufgehängt wurden. Manche verfügten über Kolben, die Dildos durch Löcher in Tischplatten stießen, oder aber es wurde ein Wasserstrahl mit hohem Druck auf die Genitalien der Patienten gerichtet […]. Und bei dem ganzen Treiben gaben die wackeren Ärzte niemals öffentlich zu, dass es sich dabei eher um Sex als um Medizin handelte.«50 Die Heilkundigen blieben zudem frappierenderweise bei ihrer Überzeugung, »dass es sich bei der weiblichen Sexualität um eine schwache und zögerliche Angelegenheit handle.« Allerdings: Die Lage für allfällige kulturwissenschaftliche Rekonstruktionen dieser Aspekte des Rothschen Werks ist verwickelt, denn Hysterie und Nervosität wurden um 1900 auch vermehrt bei Männern diagnostiziert51. Charcot selbst »schien der normativen Männlichkeit einen kräftigen Schlag zu versetzen, als er das den Frauen zugeschriebene Krankheitsbild der Hysterie auf die Männer übertrug.«52 Und der Jude wurde vielerorts zum Inbegriff der Unmännlichkeit, insbesondere seines Körpers wegen, der nicht athletisch gestählt, unsoldatisch, weichlich sei53. Diese Gemengelage ist so verwickelt, dass die vorliegenden Studien sich, unzuständig in Sachen eigentlicher Kulturgeschichte und Geschlechterforschung, mit Erläuterungen zu einigen manifesten Niederschlägen von Geschlechterstereotypie und Männerängsten in literarischen Texten begnügen. Dass etwa Roths obsessive Fixierung auf das Militär viel zu tun hat mit Verwicklungen seiner Konstruktion und Positionierung 50 51 52 53

Ryan/Jethá 2016, S. 284f. Ebd., S. 285 das nachfolgende Zitat im Text. Mosse 1997, S. 114. Mosse 1997, S. 115f. Mosse 1997, S. 88. Das war sogar unter Fürsprechern der Juden so! Ebd., S. 90.

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als Mann, liegt auf der Hand. Eine solide Deutung würde jedoch nicht nur Spekulationen über persönliche Motive, sondern auch Rekonstruktionen der zahlreichen ineinander wirkenden Diskurse und Deutungsschemata von Judentum und Männlichkeit erfordern, was im Rahmen dieser vorliegenden Studien unmöglich geleistet werden kann. Und diese Rekonstruktion wäre nur der Boden, auf dem dann eine Rekonstruktion der ganz und gar ambivalenten Rothschen Männlichkeitskonstruktionen auch und gerade bezüglich des Militärs erfolgen könnte. Roth invertierte in seinen Behandlungen des Militärischen nahezu alles, was das Militär eigentlich ausmacht, das eigentlich Soldatische, das Heldische, Athletische, Maskulin-Aggressive, Stoische, Opferbereite, die Unerschrockenheit im Angesicht des Todes. Dass er dennoch gebannt war von der Vorstellung des Militärs als Inbegriff einer männlichen Kollektivordnung lässt vermuten, dass hier keine intellektuelle Kritik, sondern vor allem Verdrängungen am Werk waren. Seine Behandlung des Militärs wirkt, als wolle jemand eines der mächtigsten Leitbilder von Maskulinität gleichsam weichschreiben, bis die ihn beunruhigenden Aspekte herausgetrieben sind und die ihn faszinierenden übrigbleiben. Beweisbar scheint mir das nicht (s.u., Erster Teil, »Militärische Ordnung versus unvorhersehbare Verwandlungen«). Militär war für Roth ein Anschauungsfall, an dem er sein ambivalenzgetriebenes Bindungsdrama nachspielen konnte. Er blieb wohl fixiert auf das Militär als Urmodell von Männlichkeit, gerade weil er es im Schreiben gleichsam kaltstellen und ironisch invertieren – entmännlichen – konnte. Aber das ging nur in ironisch und komisch gebrochenen, sentimental weichgezeichneten Fiktionen des k.u.k Militärs, woraus sich zumindest teilweise Roths Hass auf das Deutsche und vielleicht sogar das Nationale überhaupt erklären. Hier war das Militär und das Soldatische untrennbar voneinander, real und maskulin. Im »Radetzkymarsch« erscheinen Ehre und Satisfaktion als sinnentleerte Überhänge einer Vergangenheit. Sie laufen wie Räder eines Wagens nach einem Unfall noch fort. Der Tod im Duell ist hier

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denkbar unheroisch; keine traditionelle Unerschrockenheit beim Konfrontiertwerden mit dem Tod, keine Opferbereitschaft für eine höhere Aufgabe oder Idee, sondern ein bloßes Dreinschicken, um Erlösung aus dem in persönlichen Konflikten gefangenen Ich zu erlangen. Die sich Duellierenden sind denn auch ein in seiner erotischen Männlichkeit durch seine Gattin gekränkter (und deshalb wohl insgeheim den Tod suchenden) jüdischer Arzt und ein ordinärer, dem Trunk verfallener Offizier. Noch dazu hat Roth diesen jüdischen Arzt sich befreunden lassen mit dem im Mittelpunkt stehenden Trotta, als beide sich dem Offiziersritual des gemeinsamen Betrinkens und Gangs ins Bordell im letzten Augenblick – dem Vollzug des Geschlechtsaktes – entziehen und stattdessen ein Bild des habsburgischen Vaterkaisers vor der moralischen Besudelung dort retten. Und dennoch blieb Roth, je älter er wurde, auf das Militärische fixiert. Das hat gewiss mit der Sehnsucht zu tun, repräsentativer Teil einer hierarchischen (väterlich behüteten) Männerhierarchie zu sein (oder zu werden) – und eben doch vermutlich mit der Möglichkeit, sich dem dominanten Männlichkeitsideal zu stellen und es zugleich schreibend entmännlichen zu können. Geschlechterforscher würden womöglich darauf hinweisen, es sei ein zumindest lange Zeit virulentes Stereotyp der Geschlechterbeziehungen gewesen, »dass Männer sexuellen Genuss und emotionalen so leicht entkoppeln können«54, während selbiges Frauen typischerweise schwerfalle oder zumindest schwerfiel – und Joseph Roth daher in einigen Texten dieses Stereotyp umwertete, wiederum geleitet von Männerwunschphantasien, die er in Frauenfiguren projizierte: Mehrere Frauengestalten betrachten Sexualität als Tauschgeschäft zur Erlangung persönlicher Vorteile. Der misogyne Impuls 54

Ryan/Jethá 2016, S. 347. Die Autoren stellen dieses Stereotyp S. 356 selbst in Frage. Mosse 1997 zählt den gefühlshaften Stoizismus zu den basalen Formanten moderner Männlichkeit, hervorgegangen aus Umwertungen der christlichen, insbesondere protestantischen Tugenden der Kontrolle von Leidenschaften, ebd., S. 68.

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ist dabei so evident wie umgekehrt auch die Wunschphantasie, die Frau möge den Mann beim zweckhaften Ausführen des Geschlechtsaktes nicht mit allzu viel Persönlichem irritieren. In der »Legende vom heiligen Trinker« hat Roth die ambivalenten Impulse in dieser Hinsicht zu einer frappierenden Konsequenz getrieben. Das Leben des Helden Andreas ist ein dauernder Potenzbeweis ohne jede persönliche Beteiligung oder Begegnung – und zugleich ein einziger Schrei nach totaler Versorgung. Roths häufige Abwertung der weiblichen, insbesondere sexuellen Selbstbestimmung ist gewiss im Gesamtrahmen einer brüchigen und seinerseits posenhaft kompensatorischen Männlichkeit zu sehen, zu der – beinahe möchte man sagen: erwartungsgemäß – harsche homophobe Affekte gehört haben müssen. Sie fallen auf, lebte Roth doch in Intellektuellenmilieus innerhalb zweier europäischer Metropolen, die (neben London) damals für ihre sexuelle Liberalität berühmt oder, je nach Geschmack berüchtigt waren, Paris und das von Zeitgenossen als »deutsches Babylon« apostrophierte, »lasterhafte« Berlin55. Zumindest werden wir solchen homophoben Affekten in der Figur des Lohse im »Spinnennetz« und beiläufig in Roths zersetzender Polemik gegen Vertreter der frühen Schwulenemanzipation anlässlich des Gerichtsverfahrens gegen Gustav Wyneken im Vierten Teil begegnen. Wie auch immer eine solide Gesamtdarstellung Rothscher narrativer und feuilletonistischer Geschlechterkonstruktionen aussehen würde: Kein Verweis auf das Fortwirkungen von Geschlechterstereotypen oder gar archaischen Mustern kann die Spezifik von Roths Ambivalenzen und Idiosynkrasien und noch weniger das erklären, 55

Der 1931 erschienene Bestseller »Ein Führer durch das lasterhafte Berlin. Das deutsche Babylon 1931« des Journalisten Curt Moreck, füllte diesen Topos mit Anschauungsmaterial aus der Lesben- und Schwulenszene, Nachtbars, Parks, Spelunken, Tanzlokalen etc. (Nachdrucke 1996, 2018) Bis in die jüngste Zeit bedienen Sachbücher den Topos, z.B. Mel Gordon, »Sündiges Berlin: Die zwanziger Jahre: Sex, Rausch, Untergang« (2011).

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was seine literarische Phantasie jeweils daraus machte. Mit den Passagen zur »Legende vom heiligen Trinker«, Zwischenbemerkungen zum »Radetzkymarsch« und »Das falsche Gewicht« soll dieser allzumenschliche, in manche Erzählwerke stark hineinwirkende Zug Roths dann auch abgehandelt sein. Das Schlüsselloch bleibt ansonsten verschlossen, die Pietätlosigkeit auf Teile dieser Kapitel beschränkt. 4 »Ich«-Geburten im vielzüngigen Schreibvorgang Kostproben aus dem feuilletonistischen Frühwerk Die These von der Ambivalenz im Verhältnis zu Ordnungen und Identität(en) als Movens des Lebens und Schreibens will etwas auf eine theoretisch und praktisch nachweisbare Struktur zurückführen, das in Teilen längst gesehen, allerdings nur symptomatisch beobachtet und gesammelt wurde. In David Bronsens wunderbarer, (fast) unvermindert gültiger Biographie findet sich eine Fülle solcher auch literarisch bemerkenswerter, wenngleich metaphorisch freizügiger und manchmal etwas unverbindlicher Passagen: »Der Spieltrieb des Österreichers und die Traurigkeit des Ostjuden gingen bei ihm eine eigenartige Verbindung ein. Vieles bei ihm war ernstes Spiel und gespielter Ernst: das eintönige Leben machte er zum Theater, wobei Ironie und Drauflosphantasieren einander abwechselten, und er entwickelte eine Überzeugungskraft, die ihn selbst überzeugte. Ihn, der stets gesellig war und stets vereinsamt, bewog alles, was ihn absonderte, dazu, nach Höherem und Schönerem zu streben.«56 Helen Chambers hatte bereits in den 1990er Jahren über Bronsen hinausgehend die augenfälligen Ambivalenzen in Roths Texten und Selbstbildern bemerkt57, allerdings: Die lagen eher in den Gegenständen (etwa in Mendel Singer im »Hiob«), nicht in der Sprachgebung selbst, nicht in der Identifikationsakte, in der Ordnungsbildung 56 57

Bronsen 1974, S. 149. Darauf hat Hackert 2002 anlässlich der Erstfassung zu Recht hingewiesen.

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als solcher, auf die Chambers aufmerksam machte. Umgekehrt wird dort, wo, wie bei Küpper und Hoffmann, die Ambivalenzen und Identitätsauflösungen als Aspekte der poetischen Sprache selbst ins Auge gefasst werden, für meine Begriffe die Kontinuität und zugleich Andersartigkeit der Ambivalenzen im und außerhalb des Textes nicht beschrieben noch erklärt. Eben das versuchen die vorliegenden Studien: die Kontinuitäten gewisser Konfliktenergien und Lösungsschemata in Leben und Schreiben beobachten, um dann die eigensinnige, teilautonome Logik von Figurationen der literarisch transformierten Ambivalenz im Abgleich mit den ambivalenten Verhaltens- und Selbstdeutungsmustern im Leben umso plastischer wahrnehmen und würdigen zu können. Die Textanalysen führen vor, wie bewusst und beharrlich die schöpferische Verwandlung der zunehmend heilloser werdenden Ambivalenzen, Ambiguitäten, Ungreifbarkeiten im Verhältnis zu sich, den anderen, der sozialen und historischen Welt vor sich gegangen sein muss. Damit soll gezeigt werden, dass und weshalb es das praktische Schreiben selbst war – also gerade nicht die freischwebende Imagination, das Rollenspiel, Geschichtenerzählen und Selbst-neu-Erfinden –, das für Roth den wesentlichen Bereich des Lebens ausmachte, der somit durchgehend, bedingungslos und ambivalenzfrei besetzt blieb. (Dass das Schreiben insofern ambivalent besetzt gewesen sein mag, als für Roth, je ausschließlicher er das Schreiben als Zuflucht nutzte, die sonstigen Aufgaben immer weniger lösbarer wurden, ist ein andere Sache.) Vielleicht sogar könnte man Roths Texte klassifizieren, indem man beschriebe, wie sehr oder wie wenig zugrundeliegende Ambivalenzen darin sublimiert und in emergente textuelle Ordnungen verwandelt wurden. Es ließe sich etwa erklären, weshalb Roth das Genre Feuilleton als die ihm gemäße Gattung erkannt hat. Das klassische Feuilleton konzentrierte (und beschränkte) sich auf den isolierten Moment, das Marginale, auf die augenblickliche Formel. Es hob das Warum-Fragen in die Pointe auf, kultivierte das An- und

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Abreißen anstelle des Arguments, zelebrierte Diskontinuitäten, Launen, Einfälle und Widersprüche, und löste so bereits Verbindlichkeit von Identitäten, Systemen von Werten, Erkenntnissen auf. Es zeigte mit den Akten des Nennens das eigene Erleben im Benennen oder Darstellen von etwas mit. Daher scheint folgerichtig, dass Roth in Wien, seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleichsam die Hauptstadt des Feuilletons58, früh und gründlich dies Genre studierte. Zunächst im Kreis um eine Zeitschrift des sich im Zeitalter des Weltkriegs gleichsam aufdrängenden Namens »Der Friede« in kollegialer Nähe zu Anton Kuh, Rudolf Olden und anderen, dazu selbstredend die genii loci Polgar und Altenberg. Altenbergs lyrisch rhapsodische Art sprach gewiss eine Hauptader Roths an, die er zeitlebens im Repertoire behielt, Polgars ironische sublimierte Ironie eine andere; die sozialsatirische Ader mag er wie woanders geschult haben, sei es an Karl Kraus oder wem auch immer, vielleiht Heinrich Heine bisweilen. Untersuchte man Text für Text seine frühe journalistische Produktion, ließe sich Roths Entwicklung vermutlich als eine prototypische Transformation rekonstruieren vom rein subjektivischen, erlebnis- und aperçuhaften Feuilleton zum mit teils erheblichem, teils hybridem, zeitdiagnostischem und sozialkritischem Anspruch ausgestatteten (bzw. überfrachteten), oftmals zum Essay neigenden Feuilleton des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, wie es heute in den wohlfeilen Werkausgaben Georg Simmels, Ernst Blochs, 58

»In der Regel wird die ›Kleine Form‹ auf Ludwig Börne, Heinrich Heine und Moritz Saphir zu Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgeführt. Zunehmend entwickelten sich Spezialisten und Virtuosen dieser kleinen Form des Feuilletons, zunächst seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in Wien, so etwa Ferdinand Kürnberger, Ludwig Speidel und Daniel Spitzer. Später kamen in Berlin Julius Rodenberg oder Paul Lindau hinzu.« So zu lesen im entsprechenden Artikel auf http://www.einladung-zur-literaturwissenschaft.de. Einen ersten, guten Eindruck des Umfeldes, in dem Roth nach seiner Heimkehr aus dem Kriegsdienst nach Wien seine Lehrzeit als Feuilletonist absolvierte, gibt Bronsen 1974, S. 186–191.

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Siegfried Kracauers (der bald Roths Kollege in der »Frankfurter Zeitung« wurde) oder Walter Benjamins zu musealen Ehren gelangt. Offenkundig aber bliebe, dass Roth diesen Prozess nie so weit mitvollzog, dass er das Kapriziöse, momentan Erlebnishafte, selbstironisch Überpointierte, das neckisch Inkonsistente und zelebriert Launenhafte gänzlich abgestreift hätte. Das Feuilleton als erfahrungsnahen Feldforschungsmodus am Jeweiligen und Besonderen zu verstehen, um daraus in spekulativer Erhöhung zwar literarisch ambitioniert, jedoch diskursiv und mit sozialdiagnostischem Anspruch auftretende Gesamterklärungsmodelle zu gewinnen, das wäre ihm fremd gewesen. Das wiederum hatte mit der erwähnten Fundamentalität des Schreibens zu tun: Erst im Schreiben bildete er »eigene« Wertüberzeugungen, »lebbare« Bindungsoptionen, umfassende Sinn- und Weltmodelle heraus. Außerhalb, könnte man zugespitzt sagen, besaß Roth gar nicht sich »selbst« im Sinne eines Wissens um einen stabilen, vom Schreibprozess unabhängigen, lebbaren Wesenskerns, fixer Ansichten, Lebenserzählungen, Botschaften. Veranschaulichen wir uns dieses Entstehen eines Selbst und des Anderen im Schreibvorgang an einem raffinierten, frühen Feuilleton. Im »Blättchen« für den »Berliner Börsen-Courier« vom 24. Mai 1921 mit dem bezeichnenden (und womöglich an Robert Walser erinnern sollenden) Titel »Der Spaziergang« (I. S. 564–67) schlüpfte Roth in einer Zeit, da er »sozialistische« Sympathien bekundete, in die Schreib-Rolle des großstädtischen Flaneurs, der die Außenwelt nur in Gestalt von atomisierten, kulinarisch abgeschmeckten Fragmenten von Szenerien und bunt durcheinander wehenden Sinnesreizen genießt, ohne etwas darüber hinaus, zumal etwas Begriffliches oder gar Welterklärendes hervorbringen zu wollen. Roth erfüllte zugleich mit ganz eigener Brillanz und Bissigkeit die zum klassischen Feuilleton gehörige Übung, das kapriziös, untragischironisch den eigenen, augenblicksschnellen Esprit zur Schau stellende, feuilletonistische Flaneurstum selbst in Gestalt eines Feuilletons vorzuführen – auch in anderen »Blättchen« der Zeit, so in einem des

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programmatischen Titels »Feuilleton« (I. 616–619), absolvierte er diese Standardübung. Die Natur, traditionell der Raum, in dem sich das urban gestresste Individuum Trost, Ganzheit, kompensatorische Harmonie und Ordnung zu verschaffen sucht, verachtet Roth hier wie jeder Dandy und verachtet ebenso den braven »Bürger«, der tagsüber seiner Erwerbsarbeit nachgeht, um in der »Freizeit« seine »Erholung« in der Natur zu finden: »Am Ende der Stadt aber, wo, wie ich gehört habe, die Natur beginnen soll, ist sie nicht da, sondern die Lesebuch-Natur. Ich glaube, auch über die Natur ist zu viel schon gedruckt worden, als daß sie hätte bleiben können, was sie gewesen ist. An ihrer Stelle steht, breitet sich in der Umgebung der Städte die Begriff-Natur, der Naturbegriff, aus. […] Aber was ich sehe, kam nicht in den Baedeker. Was ich sehe, ist das unerwartet plötzliche, ganz grundlose Aufund Abschwingen einer Mückenschar um einen Baumstamm. Der Schattenriß eines holzbeladenen Menschen auf dem Wiesenpfad. Die dünne Physiognomie eines Jasminzweiges, über den Gartenmauerrand gelehnt. Das Verzittern einer fremden Kinderstimme in der Luft. Die unhörbare schlafende Melodie eines fernen, vielleicht sogar unwirklichen Lebens. Menschen, die ich zum Naturgenuß wandern sehe, begreife ich nicht. Der Wald ist keine Diele. ›Erholung‹ ist keine Notwendigkeit, wenn sie das bewußte Ziel des Wanderers ist. Die ›Natur‹ ist keine Einrichtung« (I. 566). Es ist wohl von eigener, snobistischer, wenn nicht gar zynischer Ironie, im Berlin des Jahres 1921, als die Republik nach ganz neuen zivilisatorischen Grundsätzen und einer stabilen Friedensordnung mit ihren Nachbarn suchte und dabei mehrfach ums Überleben kämpfte, die Attitüde der Jahrhundertwende des kapriziös hedonistischen, vom Erwerbsleben freien Flaneurs so direkt wiederzubeleben, ob nun zusätzlich eine Spur des Spaziergängers Robert Walser darin stecken mag oder nicht. Andererseits ist Roths gepflegter Sarkasmus in solchen Fällen ungemein griffsicher und wirkungsvoll bissig: Wo ein konkretes Anschauungsmodell vorhanden war und

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seine Verachtung für selbiges groß genug, konnte er aus dem Zusammentreffen beider viel Kapital für elegante Entlarvungen und verbale Arabesken gewinnen. Und Verachtung war in diesem Falle im Spiel und allemal groß genug. Roth konnte mit Natursentimentalitäten nichts anfangen, seine Welt war das Kaffeehaus, die HotelLounge, die Eisenbahn, das Kino, die Stadtpromenade, überhaupt der Trubel der Großstadt, der schnelle Reizwechsel. Allerdings wie so oft in Roths Leben und Schreiben scheint er gerade das besonders giftig verachtet zu werden, was er zum Teil begehrte oder zumindest begehrt hatte: »Roth liebte die Natur«, erinnerte ein Jugendfreund und Wohnungsnachbar aus Brody, »und erzählte, er fühle sich mehr von ihr und unseren Ausflügen inspiriert als von der Stadt. Heute habe ich den Eindruck, alle Naturschilderungen in seinen Romanen stammen aus den Eindrücken, die er damals bei den Ausflügen sammelte.«59 Die Polemik gegen die begriffliche Natur als entfremdeten oder zumindest minderwertigen Erfahrungsmodus nimmt deutlich die kulturkritischen Gesamtgemälde aus den programmatischen Passagen des Reisebuchs »Die weißen Städte« von 1925 vorweg, dem wir uns im nächsten Teil zuwenden werden. Im 4 Jahre älteren Text »Der Spaziergang« dient die gallige Demontage des Naturfreunds, der abends vor der Stadt schlendert, um sich rühren zu lassen, nur als Übergangsfigur, um anschließend im Geist des geschmackssublimierten, exquisite ästhetische Partikel erhaschenden Flaneurs eine Rettung von Naturreizen im Modus des Lyrisierens anzubringen und somit eine Weise des Ästhetisierens und Subjektivierens gegen eine andere, als kleinbürgerlich verachtete, auszuspielen: »Eine Frau, die am Waldrand einen zur Vorsicht für alle Fälle mitgenommenen Regenschirm vor die Augen hält, weitebetrachtend auf einen Fleck stößt, der ihr aus einem Wandgemälde bekannt vorkommt, ruft aus: ›Wie gemalt!‹ Das ist die Unterstellung eines feststehenden [sic] eng umgrenzten, wohl beschriebenen Be59

Moses Wasser im Gespräch mit David Bronsen, zit. in Bronsen 1974, S. 98.

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griffs von der Natur als Malermodell. Die Unterstellung ist nicht so selten. Denn auch unser Verhältnis zur Natur ist ein unwahres geworden. Sie hat nämlich einen Zweck bekommen. Ihre Lebensaufgabe ist unser Amüsement. […] Sie hat im Sommer Wälder, in denen man schlummern kann, Seen zum Rudern, Wiesen zum Abgebranntwerden, Sonnenuntergänge zum Entzücken, Berge für die Touristik und Schönheiten für den Fremdenverkehr. Sie kam in den Baedecker. // Aber was ich sehe, kam nicht in den Baedeker. Was ich sehe, ist das unerwartet plötzliche, ganz grundlose Auf- und Abschwingen einer Mückenschar um einen Baumstamm. Der Schattenriß eines holzbeladenen Menschen auf dem Wiesenpfad.« Dies Letztere ist beinahe dasselbe wie jenes sentimentale »Wie gemalt!« der Durchschnittsbürgerin, nämlich eine Apotheose konventionell lyrischer Epitheta, Reize und Metaphern, also das, was man mitunter poetische ›Wortmalerei‹ nannte, und soll doch etwas radikal Verschiedenes darstellen. Und das kann es, wie sich versteht, niemals im realen Erleben vor den Toren der Stadt sein, sondern nur durch das Schreiben werden. Insofern geht selbst ein solcher, prima facie lediglich glänzend satirisch mit allzumenschlichen Kompensationsbedürfnissen abrechnender Text des jungen Roth aus einer Sublimation von Ambivalenz hervor! Der spitz befederte Autor-Flaneur neigt auf seine Weise im Bereich des Verbalen zu gefährlich ähnlichen Gefühlsretorten, wie er sie dem satirisch gezeichneten Banausen im Bereich des Visuellen (und vielleicht noch Olfaktorischen) zuschreibt. Aus dieser inneren, gefühlshaften Nähe zum Satirisierten resultiert sicherlich das Bedürfnis nach umso entschiedeneren, sozialen (und ästhetischen) Distinktionen, herzustellen im Akt des Schreibens. Wo solche konkreten, affektbesetzten, mit dem Thema der eigenen »Identität« verbundenen Anschauungsmodelle fehlten und Roth gezwungen war, abstraktere Themen zu bearbeiten, geriet er mit seiner eminenten Begabung zur mokant, ironisch oder sarkastisch pointierten Überzeichnung bzw. impressionistischen Auflösung des

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Konkreten in unlösbare Dilemmata. Behielt er seine primäre Schreibhaltung bei, musste er das Problem verfehlen – sagen wir, den Sinn verschiedener Rechtssysteme und -prinzipien, die Funktion und Legitimität von Machtdelegationsprinzipien oder auch ökonomischer Verfasstheiten. Derlei geht niemals in der bloßen Anschauung und Erlebnisverarbeitung auf. Subjektive Ressentiments, Intuitionen, stilistische Pointen reichen nicht an diese Art Gegenstand heran. Wenn Roth umgekehrt seine Schreibhaltung aufgegeben hätte, um abstrakteren Stoffen gerecht zu werden und sich ein qualifiziertes Urteil über historische Prozesse oder politische Systeme zu bilden, hätte er sich selbst aufgegeben. Er hätte schreibend ein stabiles Ich unterstellen (oder fingieren!) müssen, das »begründet« einen bestimmten Standpunkt vertritt. Seine Subjektivität hätte nicht mehr durch brillante Sprünge und Volten, ironische Inkonsistenzen und Mehrdeutigkeiten als momentan glänzend reagierendes und schreibend verfeinert erlebendes inszeniert werden können. Er hätte sich kriteriell vergleichen lassen müssen – ein Argument lebt prinzipiell durch den kriteriell objektivierbaren Vergleich mit anderen Argumenten. Das wäre schlichtweg nicht mehr Joseph Roth gewesen. Ihm war sehr früh klar, dass er sich selbst verlieren würde, wo er auch bloß den Versuch wagt, sich statt einer ästhetisch wirkungsvollen, momentbedingten, ›flüssigen‹ Haltung eine begründete, stabile Meinung über einen Gegenstand anzueignen und zur argumentativen Disposition zu stellen. Wenige Tage nach der ebenso bösen wie glänzenden Abrechnung mit dem Naturfreund wurde Roth vom »Berliner Börsen-Courier« abgestellt, über den Konflikt um Oberschlesien mit Polen zu berichten (I. 567–70). Zögerliche Versuche, sich dem Konflikt, der ohne Geschichtswissen und Kenntnisse des Völkerrechtes nicht zu verstehen war, in begründetem Urteil zu nähern, brach er rasch ab, wiewohl er (oder die Redaktion) hier, in Oppeln weilend, titelte »Das Recht auf Oberschlesien«, und damit einen Rechtsanspruch zu verhandeln annoncierte. Am Ende beantwortet

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Roth die Frage, ob es ein »Recht« Deutschlands auf Oberschlesien gebe, überraschend rüde ökonomisierend und nationalistisch: Weil ohne Oberschlesien Deutschland »zu einem Industrieland zweiten Ranges herabsinken und aus einem Kohlenausfuhr- ein Kohleneinfuhrland würde«, muss es deutsch bleiben60. Das ist doppelt bemerkenswert: Der »Sozialist« Roth hatte offenbar nicht nur nichts gegen Deutschland und gegen den Nationalstaat, er hält sogar, geradezu machiavellistisch, für »Recht«, was die Nation stärkt. Zudem hat er in jener frühen Zeit, da er noch reportageartige Zeitungstexte verfassen musste, für nötig befunden, sich in Grenzen empirisch und systemisch zu informieren, wenngleich eher aus Pflichtgefühl oder äußerer Nötigung. Am Tag darauf verfasst er für den BBC (der ihn angeblich gezwungen hat, seinen Sozialismus zu verleugnen) ein Blatt »Oberschlesien« im angestammten Feuilletonismus, mithin einen bunten Reigen von Splittern, Impressionen, Miniaturerzählungen. Der Text ist so radikal in seiner diskontinuierlichen Aggregation und ostentativ assoziativen Dezentralisierung, dass man ihn eigentlich nur als programmatischen Kontrast zur Nötigung einer argumentativen Antwort auf die konkrete, politische Frage vom Vortag auffassen kann. Es klingt beinahe wie Trotz oder Abwehr dieser Zumutungen, wenn Roth seinen Artikel am 29. 5. 1921 beginnt lässt: »Jedes Ereignis von Weltgeschichtsqualität muß ich auf das Persönliche reduzieren, um seine Größe zu fühlen und seine Wirkung abzuschätzen. Gewissermaßen durch den Filtrierapparat ›Ego‹ rinnen zu lassen und von den Schlacken der Monumentalität befreien. Ich will sie aus dem Politischen ins Menschliche übersetzen.« (I. 570) Die letzte Volte ist ebenso offenbarend wie im ästhetisierenden Hochmut selbstzerstörerisch. Es meinte nicht weniger, als dass ein argumentativer Diskurs aus dem Bereich des eigentlich »Menschlichen« 60

I. 567–70, Zitat I. 570. Der Artikel beginnt mit halbherzigen Versuchen zu einem Kurzreferat der ethnischen, rechtlichen und politischen Lage: »Die Provinz Oberschlesien (13. 230 Quadratkilometer groß) ist der geographischen Lage nach schon zu Deutschland gehörig. […]«.

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falle. Woraus folgt, dass ein demokratischer Abgleich von Argumenten bloß »politisch« sein könne und das Humane exkludiere – letzteres also nur in Inszenierungen, Ansprüchen und kultischen Aufladungen der ästhetisierenden – in Roths Fall: schreibenden – Existenz besteht. Eben das unterstellte in kastenspezifischen Größenphantasien des 19. Jahrhunderts auch der oben zitierte Text »Humanität« mit seinen skizzierten Verschwörungsszenarien. Sein Schreibkonzept war im Kern ein nur schreibend herstellbarer Habitus im Umgang mit Welt und Ich. Roth würde es nie fundamental ändern, zumal nicht als Journalist, wenngleich ungemein vielfältig abwandeln in der Tongebung, den Sprechweisen, den schreibend hergestellten Begriffen von Wahrnehmung, Welt, Haltung, Erleben. Was sich in den folgenden Jahren jedoch wandelte, war, dass er zunehmend Parteinahmen inszenierte und sich, die angestammte Haltung des sozialkritisch ironischen, mokanten Satirikers modifizierend, in die Position des Anklägers konkreter sozialer Konstellationen und politischer Ereignisse, zuletzt der Moderne überhaupt begab. Er wollte teilhaben an der politischen Neufindung, nicht mehr bloß ein jeweiliges, marginales Phänomen bespötteln. Vom späteren Hauptarbeitgeber, der »Frankfurter Zeitung«, wollte er sich gar als politischer Beiträger behandelt sehen – und in den mittleren 1920er Jahren begann er, die geschichtliche Welt in theatralischen Gemälden der Entfremdung, des dekadenten »Westens«, der Endkämpfe böser und guter zivilisatorischer Mächte und Ordnungsprinzipien zu sehen, die Welt in Täter und Opfer einzuteilen. Keine der dabei verwendeten rhetorischen Figuren, Topoi oder Affektmuster war originär. Alle waren sie auf die eine oder andere Weise bereits in Roths früherem Schreiben aufgetaucht. Dem soeben andeutungsweise Zitierten, noch ganz in die Wiener Jahrhundertwende-Mokerie gefasste Flaneurstum von 1921 werden wir ebenso wiederbegegnen wie der kastentypisch gleichsam kollektivnarzisstischen Überhöhung literarischer Existenz bei gleichzeitiger Abwertung des angeblich bloß Begrifflichen (was irrtümlich vor-

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aussetzt, literarische Sprachverwendung basiere nicht, wenn auch implizit, auf Begriffsbildung) – insbesondere im wohl ambitioniertesten metareflexiven Text der mittleren 1920er Jahre, der Reportagefolge »Die weißen Städte«. Der Habitus begann hier zur affektgeladenen Anschauung von Geschichte überhaupt zu werden. Das, was der Flaneur verachtet, das Planmäßige, Begründete, Begriffliche, aller Anspruch auf systematisches und sachliches Wissen, wird nun als Fluch der modernen, ›verwalteten Welt‹ schlechthin verstanden, und insbesondere, wie könnte es anders sein, dem »Westen«, hier mehr noch Deutschland zugeordnet, wodurch die eigenen Entfremdungs- und Ausgesetztheitsgefühle einen Anschein von Begründung erhalten. »Westen« war zwar mit einer geographischen Richtung und mit den liberalen Verfassungsstaaten assoziiert, jedoch nicht mit diesen identisch, wie J. P. Strelka bereits in den 1970er Jahren erkannte. Ebenso wenig wie der Gegenbegriff Osten: In Roths Verwendung ist der Gegensatz West-Ost eher »Ausdruck eines grundlegenderen Konflikts zwischen einer rechnenden Ordnung der Moderne und einer vom Chaos affizierten Welt des Lebens und der Wunder.«61 Allerdings unterschätzt Strelka hier, wie nicht wenige Kommentatoren, die Ambivalenz aller solcher Oppositionsfiguren und Kategorien bei Roth. Der Osten ist in seinen schreibenden Weltentwürfen nicht nur ohne sichtbare Rechtsordnung und opponiert gegen modernes Effizienz- und Optimierungsdenken, er war insgeheim auch strikter hierarchisch geordnet – das werden wir im Detail beim Roman »Das falsche Gewicht« sehen (s.u. Fünfter Teil) –, während der Westen chaotisch und unübersichtlich ist oder sein kann. Die scheinbar abstrakten Strukturbegriffe blieben bei Roth stets mit Sehnsüchten nach Bindung, Aufgehobensein, konterkariert mit »Fixierungs«-Ängsten unterlegt, wenngleich er sie so fluide hielt, dass übliche Ressentiments der wertbedachten Verächter urbaner Massenkultur, der Tech61

Zit. nach Chertenko 2012, S. 56.

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nisierung und des Konsums darin (wie Eike Rautenstrauch unlängst zu Recht bemerkte) jeder Zeit Platz finden konnten62. Das entstehende, affektgeladene Ungefähr war keine private Grille Roths. Er partizipierte mit solchen Rhetoriken am Geist der Zeit, der sich, was die Kulturintelligenz betraf, zu erheblichen Teilen noch in der erhabenen Weltrichterposition des 19. Jahrhunderts wähnte. Die intern antipolitische, antiempirische, antianalytische Natur solcher Diskurse über Gesellschaft und Geschichte war ein Syndrom der philosophierenden Kulturklasse der Zeit. Den Begriff »Westen« selbst darf man dabei nicht unhistorisch von unserer heutigen Verwendung her verstehen: Die Kategorie »Westen« in unserem Sinne einer politischen, durch »gemeinsame liberale Werte« verbundenen, transatlantischen Gemeinschaft entstand erst im Gefolge des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs. Sie wurde »im August 1941 durch die Rhetorik der Atlantikcharta vorbereitet – im Grunde erst Anfang 1942 mit der fortschreitenden Globalisierung des Krieges

62

Rautenstrauch 2016 (S. 94f.) betont die Bedeutung der Metapher des »Symptoms« in Roths kulturkritischen Invektiven als Zeichen des Niedergangs, des Elends. Er charakterisiert zu Recht, wenngleich ohne Sinn für die Ambivalenz fast aller Wertungen und Deutungen Roths, die Bedeutung der Abkanzelung des großstädtischen (insbesondere Berlinischen) Massenkonsums, des blinden Technikglaubens. Mir scheint auch folgende Beschreibung der generellen Textanlage zutreffend: »Roth verknüpfte seinen essayistischen Perspektivismus mit einer eigentümlichen, feuilletontauglichen Rhetorizität, die seine kulturkritischen Thesen bei aller Subjektivität glaubwürdig als ›Wahrheiten‹ und zwar ›gültige‹, in Szene setzte. Sprache, Stil und Ästhetik fungieren bei Roth aber nicht bloß als Mittel der Kommunikation mit dem beeinflussbaren Leser, sondern gleichzeitig als Vehikel intellektueller Selbstvergewisserung.« Allerdings ist die Charakterisierung des kulturkritischen Inszenierens subjektiver Präferenzen als historisch objektive Sachverhalte redundant, insofern sie zumindest seit J.J. Rousseau zum Wesen der »Kulturkritik« gehört. Vgl. die sehr gute Kurzcharakteristik der kulturkritischen Denk- und Äußerungsform bei Bollenbeck 2007, S. 19.

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realiter geschaffen«63. Das Westliche am Westen beschäftigte denn auch die längste Zeit den »westlichen Westen« gar nicht – zumindest nicht in Gestalt eines besonderen abendländischen Erbes64. Vor dieser Entstehung des politischen »Westens« gab es allerdings ein gemeinsames Leitbild des Liberalismus, der mitunter mit dem »Westen« assoziiert wurde, und seine Gegenwelt war lange davor das russische Zarenreich65. Und es findet sich eine dritte Geschichte des Bildes vom »Westen«, dernach er als »Nicht-Orient« rangierte (vor allem im Einwanderungsland USA nach dem Bürgerkrieg)66. So oder so war die Abgrenzung eines »Westens« lange Zeit eine primär kulturelle, keine politische, und noch im Zweiten Weltkrieg verlangte der Begriff seine Opposition, »weil in den Begriffskern die Vorstellung der eigenen Überlegenheit eingebaut ist.«67 Das provozierte die verschiedenen Bewegungen, den Nicht-Westen, sei es Asien, sei es Osteuropa, sei es Russland in kämpferischen Haltung aufzuwerten. Martin Bubers Aufwertung der östlichen jüdischen Spiritualität war nur eine von vielen heilsartigen Bewegungen, die das um 1900 versuchten, eine, die für Roth naturgemäß von besonderer Brisanz und Ambivalenz war. Denn was Buber als östliche Ursprünglichkeit des Glaubens beschwor, eine alles ergreifende, vitalisierende Durchseelung mit Spiritualität und Ritus, war denkbar fern den Erfahrungen, die der recht aufgeklärt und in der Tradition des deutschen Bildungsidealismus erzogene Joseph Roth mit dem Judentum gemacht hatte. Er hegte schon sehr früh Ressentiments gegen die mit der pauschal polemischen Chiffre »Westen« diffamierend belegte Zivilisation – anfangs stark vom Überlegenheitshabitus gegenüber Massenbewegungen, Wissenschaft, Technik, Kommerz gespeist. Diese Attitüde, in der Frühzeit ein Register oder eine 63 64 65 66 67

Osterhammel 2017, S. 106. Osterhammel 2017, S. 109. Osterhammel 2017, S. 107. Osterhammel 2017, S. 107. Osterhammel 2017, S. 104.

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Sprech-Rolle unter vielen anderen, drängte sich jedoch bis zur Mitte der 1920er vor und wurde zumal in den Reportagfolgen zur dominanten, »kulturkritischen«, das eigentlich Politische entpolitisierenden Anklagehaltung, die die gesamte soziale Welt theatralisch in antagonistische Sphären des Guten und Bösen, der Täter und Opfer einteilte. Voll ausgeprägt war diese melodramatische Theatralisierung der Gegenwart, als Roth zu den bestverdienenden Feuilletonisten Deutschlands gehörte und die Weimarer Republik soeben in ihre »Stabilisierungsphase« eingetreten war – er selbst jedoch zunehmende, insbesondere private Krisen durchlebte und Fremdheitsgefühle diverser Art sich dramatisch bemerkbar machten. Er schien gesteuert von einer inneren Konfliktdynamik – und benötigte offenbar diese schrillen, populistisch pauschalisierenden, vehemente Schuldprojektionen vollziehenden Rhetoriken in immer dickerer Instrumentierung, um den eigenen Affekthaushalt noch halbwegs zu stabilisieren. In anderer Hinsicht blieb er sich treu: Er konnte stets auch wieder Artikel schreiben, die von seinem inneren Drama, das er so gerne als Drama der Welt sehen wollte, nichts zu wissen schienen und ganz in der Konzentration auf den Tanz der Worte und Gedankensplitter im Zirkusgenre Feuilleton aufgingen. Oder sich zu Recht berauschten an der eigenen Fähigkeit, Sentimentalität raffiniert und selbstironisch zu inszenieren, noch im selben Augenblick eine Sekundenposse einzulegen, um dann für einen Augenblick moralisierend zu werden. Zumal in den Reportagefolgen der späteren 1920er Jahre wurde der zelebrierte Subjektivismus des feuilletonistischen Flaneurs gleichsam von innen her gesprengt und inszenierte die miteinander ringenden Kräfte als Akteure auf einer großen Welt-TheaterBühne – die allerdings paradoxerweise nur real wurden im Prozess des ironisch sprunghaften, das subjektive Erleben und die große Geschichtsmacht vermittlungslos assoziierenden Schreibens. Die im Schreiben ihren Schreibvorgang erlebende und dabei ihre eigene

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Flüssigkeit und Identitäts-Ambivalenz kompensierende Subjektivität steigert sich in Halluzinationen riesenhaften Formats. Als Folge dieser Zersetzung von innen mit versuchter Hyperkompensation wandte sich Roth in der Not dann dem späten Habsburgerreich zu. Mit einem Wandel etwaiger Auffassungen bezüglich normativer, praktischer Ansprüche, ökonomischer oder rechtlicher Systeme hatte das nicht das Geringste zu tun. Roth dachte zwar stark von Gattungsbedingungen und deren jeweiligen, prototypischen Exemplifizierungen in Klassikern her, experimentierte jedoch im Einzelnen mit erstaunlich vielen Tönen, sprachhabituellen Mustern, literarischen Epochen. Seine Feuilletons pflegen mitunter einen eher an Polgar erinnernden Stil beweglichen, kleinteiligen Reihens von elementaren, wie kostbare, kleine Funde am Wegesrand oder wie Bonmots oder dezente Farbakzente in einem durchgestalteten Wohnraum präsentierten Kurzsätzen, die meist diätetisch im metaphorischen Schmuck, asketisch im Sektor der Kompositabildung und der satzlogischen Möglichkeiten sind. Stellenweise konnte Roths Kunst der quicklebendigen Modulation beispielsweise die Diktion einem atemlosen Reportagestil aus reinen Informationssätzen angleichen, wie er ähnlich in der literarischen Verarbeitung der urbanen Wahrnehmungsfragmentierung und -beschleunigung oft praktiziert wurde. Andernorts brach er unvermittelt in expressionistische Affektation aus, gerne mit den literaturhistorisch zugehörigen Einschlägen von Groteske und Fratze. Für konventionelle lyrische Gefühlsretorten hatte er ebenso früh eine Schwäche wie für Kapriziöses und Satirisches – und konnte gelegentlich auch diese Register spielerisch mixen. Manche Feuilletons modulieren auf kleinem Raum durch mehrere Register, etwa in einem hochambitionierten, riskant und beinahe experimentell feuilletonistischen Report vom Berliner Sechstagerennen von 1925. Naheliegenderweise imitiert Roth hier passagenweise durch Staccatissimo und Aufzählungsfiguren die Geschwindigkeit der Bewegungen, die Flüchtigkeit und Punktualisierung der verbal nachgestellten

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Eindrücke in der Halle: »Unten, auf der spiegelglatten Bahn, kreisen die Fahrer, den Rücken parallel zum Boden, kreisen, kreisen, kreisen. Stunden, Stunden, Kilometer, Kilometer. Pedale drehn, rechts und links, Vorstöße machen, zurückbleiben, vor sich den Vordermann, Stahl und Gummi, ein Trikot, tropfender Schweiß, um sich die Menge, am Ende der sechs Tage ein Preis, ein Bad, langer Schlaf, ein Photograph, Blitzlicht, ein Sportbericht, eine Frau, ein Sekt, eine Reise. Jenseits der sechs Tage ist das Leben, […]«68. Diese Schreibweise drängte sich, wenn man mimetisch orientiert war, förmlich auf, nicht nur des Anlasses wegen, sondern auch, weil sie dem Zeitgeist folgte, der sich an turbulenter Beschleunigung, Massenkultur, Sporteuphorie, Kunstlicht, urbaner Wahrnehmungsfragmentierung oft geradezu berauschte. Insonderheit Berlin empfand in den 1920er Jahre häufig so. Ob darin noch die futuristische Punktualisierung und Simultaneität oder bereits der Geist der »Live«-Reportage in Zeitungen oder doch auch literarische Muster des Großstadtromans stärker hineinwirken, ist kaum entscheidbar und muss nicht entschieden werden. Die ästhetische Idee ist evident. Roth scheint unverkennbar von der Dynamik der Rennbahn angesteckt – ausgerechnet in diesem Jahr, da er seinen Ausstieg aus Deutschland und bald aus der Moderne vorbereitet, und längst die Massenkultur, die Sportvergötzung als Ausfluss des Beelzebubs »Amerika« brandmarkte. Tatsächlich bricht der Ton des »Blättchens« mitten im Textfluss um. Das Stadion eben verlassen habend, schickt Roth den Leser plötzlich durch eine Serie expressionistisch kolorierter Szenen des Nachtlebens auf der Großstadtstraße – über eine expressionistisch aufgeladene Vergleichsmetapher (»Glatzen leuchten wie runde Spiegel aus den Logen«) in eine abschließende, bizarre Frage an der Grenze zum lautspielerischen Dada: »In welchem Zusammenhang steht das Kapital mit dem Haarausfall?« Dann bricht die Szenerie 68

Das XIII. Berliner Sechstagerennen, FZ , 20. 1. 1925, II. S. 331–35, Zitat S. 334.

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mit dem grauenden Morgen abermals um – in eine weit ausschwingende Periode voller Adjektiv- und Verbmetaphern hinein, in der die verdichtete Konsonantenfolge zur expressiv-gestischen Dimension wird. Das assonantische Kolorit wird grell herausgetrieben, als wäre dieser Text nicht in Zeiten der neuen Sachlichkeit, sondern denen eines Jakob van Hoddis entstanden: »Im Hintergrund wankt ein Betrunkener, und seine Zunge kämpft gegen die Sprache, erbittert, zäh, eine Stunde lang. Man mahnt ihn zur Ruhe. Er kann nicht. Es muß heraus, was ihn bewegt. Einige schlafen und schnarchen. Laut und gleichmäßig rasseln ihre Nasen, wie kleine Karren mit Alteisenbeständen auf schmalspurigen Bahnen. Glatzen leuchten wie runde Spiegel aus den Logen. In welchem Zusammenhang steht das Kapital mit dem Haarausfall? Bald graut der Morgen. Hierher wird keine Ahnung des jungen Tages kommen. Hier werden die eisigen Sonnen der Unterwelt leuchten, die Räder werden kreisen, die Betrunkenen nüchtern werden, die Schlafenden erwachen – indem draußen die Welt die Nacht abschüttelt und die Nebel von den Feldern stelzen und die winterliche Sonne rot und zögernd ihren Weg beginnt. […]« 69. Man erkennt hier ein Grundmotiv des Erzählers Roth in nuce: Das jähe Umbrechen der Ordnungen von einem Augenblick auf den anderen. Die Welt scheint ausgetauscht, der grelle Rausch im Kollektiv und die totale Isolation der nächtlichen, vereinzelten Elendsgestalten zwei unvermittelte Seiten derselben Sache. Man glaubt auch hier, es mit dem Hervorgehen der poetischen Idee(n) aus produktiven Verwandlungen innerer Ambivalenzen und zugehöriger Ich-GrenzFlexibilitäten zu tun zu haben. Schreibend lässt sich Roth mimetisch von der Stadion-Euphorie anstecken – etwas, das er sich von einem anderen seiner Ichs, dem kulturkritisch aufgeplusterten, eigentlich hätte verbieten lassen müssen. Er geht imaginär in der Masse unter – und bricht in Ton und fiktionalem Raum jäh heraus. 69

Ebd. S. 334.

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Man wird, so schwer das im Einzelnen objektivier- und abgrenzbar sein mag, Dutzende an Sprechregistern und -vorbildern ausmachen können, die der Feuilletonist Joseph Roth leichthändig und – was zum Genre des Feuilletons durchaus traditionsgemäß gehörte – experimentierend auf diese Weise je nach Anlass und textdramaturgischem Kontext aktivieren und durchmischen konnte. Das muss man stets im Hinterkopf behalten, wenn man ein Gefühl dafür erlangen will, wie hochartifiziell und fast alle Sprechweisen, über die er im Feuilleton verfügte, systematisch ausschließend Roth verfuhr, als er in seinem reifen Erzählstil das simplizianisch mündliche, volksnahe Erzählen simulierte mit dessen Detail- und Metaphernarmut, mit dem typisierenden Nennen isolierter Konkreta anstelle des Beschreibens und Ausmalens. 5 Mannigfaltigkeit in der Einheit des Erzähltons Gegenentwurf zur vielzüngigen Modulationskunst seiner Feuilletons (»Perlefter«) Ein besonders konsequentes Beispiel dieser Kunstsprache, die oft darin besteht, das Künstliche zu verbergen, wäre etwa der Beginn des Kurzromans »Perlefter« (II. 931–1007): »Ich heiße Naphtali Kroj. Die Stadt, in der ich geboren wurde, war nach westeuropäischen Begriffen keine Stadt. Fünfzehnhundert Menschen bewohnten sie. Darunter waren tausend jüdische Händler. Eine lange Straße verband den Bahnhof mit dem Friedhof. Der Zug hielt einmal im Tage. Die Reisenden waren Hopfenhändler. Denn unsere Stadt lag in einer Hopfengegend. Es gab ein großes Hotel und ein kleines. Das große hatte Wolf Bardach erbaut. […]« (IV. 933)

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»Naphtali Kroj« markiert den Erzähler als einen jüdischen, der, als er in den Westen ging, seinen osteuropäischen Namen ablegte. In Roths »Erdbeeren«-Projekt wird er stimmführend wirken – allerdings handelt es sich im »Perlefter« wohl um den ›wirklichen‹ Namen der als Erzähler auftretenden Person, in den »Erdbeeren« ist es dagegen sein »falscher« Name. Dieser »Erdbeeren«-Entwurf wird uns im nachfolgenden Ersten Teil der Studie beschäftigen, und wir werden nicht zuletzt sehen, wie Joseph Roth aus vermeintlich ähnlichen Stofflichkeiten eine in den individuellen Feinstrukturen, den Modi der Präsenz und den Bindungsqualitäten gänzlich andere »Welt« erfinden konnte, gerade weil er keine vorab bereitliegende Welt oder Erinnerung oder Erfahrung nur neu darzustellen suchte, sondern der Stoff tatsächlich, wie in seinen poetologischen Äußerungen behauptet, nur Auslöser, Epiphänomen und Spielmaterial des Schreibvorgangs war. Die Maske des volksnah mündlichen Erzählens zelebrierte geradezu dieses Neuerfinden dessen, was an »Welt« illusorisch auftaucht, im aktuellen Erzählvorgang und das lebendig instantane Reagieren des Erzählens auf die soeben erscheinende neuerliche Wendung des Textes. Dieses Erzählen verfährt dem ästhetischen Schein nach ostentativ willkürlich und munter assoziativ sprunghaft in der fortschreitenden Verkettung einfach benennender, elementarer Sachverhalte. Der erste Sprung folgt bereits nach dem eröffnenden Satz, der ununterbietbar einfach scheint: »Ich heiße x«. Das ist nicht nur eine Präsentation, wie man sie in außergewöhnlichen Situationen vornimmt – wenn man Rapport stehen muss beispielsweise oder wenn man etwas bezeugt. Diese Anfangsgeste insinuiert auch, dass das, was im Folgenden verkündet wird, mag es noch so objektiv gegeben wirken, in seinem Sinn oder seiner Gegebenheitsweise mit dieser Individualität zusammenhängen und diese wiederum an den einen Namen gebunden sein muss. Dass die gedruckte Rede eine körperlose ist, wird mit dieser Eröffnung buchstäblich überspielt.

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Nach einer solchen Eröffnung mit einer bloßen Namensnennung, die keine eigentlich erzählende, sondern pointiert selbst-präsentierend ist, dass nun auch der Zeitpunkt oder eine Weltgegend oder der Name selbiger genannt werde, etwa folgendermaßen: »Mein Name ist Naphtali. Brody, die Stadt, in der ich […]«. In Roths Exposition wird jedoch gerade dieses Benennen der Stadt oder der Gegend oder der erzählten Zeit dezidiert vermieden. Das schafft eine eigenartige Kontrastwirkung oder Asymmetrie zwischen dem herausgestellten Namen des Individuums und der namenlosen Stadt, von der die Rede sein wird. Und die nächste, ebenso versteckte wie charakteristische Oppositions- oder Selbstnegationsfigur hat Roth eingebaut, indem er nun wissen lässt, die Stadt sei eigentlich gar keine (nach unseren Maßstäben). Die Stadt hat im Gegensatz zum Erzähler scheinbar keinen Namen, und unter einem bestimmten Gesichtspunkt ist sie keine Stadt. Sie ist namenlos und ein bloßer Typus, der Erzähler dagegen gleichsam (noch) körperlos, dafür jedoch individualisiert durch den Eigennamen – während der ›Körper‹ der Stadt gleich anschließend vergegenwärtigt wird. All das sind Komplementärkonstruktionen auf engstem Raum und überaus typisch für Roths Konzept des oralitäts-simulierenden Erzählens. Während die Exposition des »Erdbeeren«-Entwurfs das NamenGeben zu einem zentralen Motiv des narrativen Weltbauens macht, setzt »Perlefter« umgekehrt dieses Thema so nackt und vorbereitungslos an den Anfang – irrt dann jedoch sofort mit dem ersten Erzählsprung ab und kehrt nicht mehr zu diesem Themenstrang zurück. Roth springt, als wolle er das Zentralthema der »Erdbeeren« vermeiden, mit dem zweiten Satz gleichsam aus dieser potentiellen Erzählschiene des Namen-Gebens, Namen-Habens, Rolle-Spielens und damit aus der Identität heraus und in etwas anderes hinein. Er demonstriert so die souveräne Unabhängigkeit vom Stoff, während das bloße, naiv scheinende Benennen umgekehrt eine selbstverständliche Gegebenheit des Stoffes insinuiert, als würde der Erzähler nur auf eine vorab bereitliegende (historische) Welt deuten.

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Der geographische Ort der Stadt ist – eine weitere Variante von Oppositions- und Negationsfigur – lediglich per Negation, nämlich als nicht zu Westeuropa gehörig angegeben, und sogar das ist unsicher, denn im Zweifel könnte das Städtchen auch zu Westeuropa gehören. Daraus folgt, dass der Erzähler den ersten Ausdruck des Satzes, »Die Stadt«, nicht als Bürger (oder zumindest nicht nach den Kriterien) der westeuropäischen Zivilisation verwendet hat, wiewohl er zu Lesern von auswärts des Städtchens, also zu mutmaßlich westlichen Lesern, spricht. Der Erzähler wechselt also innerhalb dieses ersten, unschuldigen Berichtsatzes die Hemisphären oder eigentlich: die Ordnungssysteme! Da »Naphtali Kroj« typischerweise ein Name war, den sich Ostjuden gaben, die in den Westen (einschließlich Palästina) überwechselten, wurde also bereits zum zweiten Mal (implizit) das Ordnungssystem gewechselt. Im Erzählen gleitet der Erzähler offenbar mühelos zwischen den Sphären hin und her, und zwar, ohne dass es dem Hörer/Leser recht bewusst werden dürfte. Zum Produktionsprinzip des gereiften Erzählers Roth gehört, dass in unregelmäßigen Intervallen, allermeist unvorbereitet und daher überraschend ganz konkrete Details in die Abfolge von elementaren, typisierenden Nenn-Sätzen gestreut werden. Diese Konkreta erzeugen die Illusion, hier berichte jemand, dem die Gegenstände gleichsam direkt vor Augen stehen und der nur noch mit Worten darauf deuten, nicht diese mühsam erinnernd rekonstruieren muss. In welcher Reihenfolge er auf die anwesenden Dinge zeigt, scheint daher wiederum abhängig von kleinen Momententscheidungen. Diese Illusion von Präsenz, Transparenz und Evidenz der elementaren Gegenstände für das in diesem Augenblick naiv benennende Erzählbewusstsein und also mittelbar auch für den Leser, ist ein wesentlicher Teil der Wirkungsweise dieser artifiziellen Simplifizierung der manifesten Mittel. Das naive Benennen insinuiert, wie buchstäblich selbst-verständlich dieses Benennen und die Gegebenheitsweise des Gegenstandes und der Gegenstand selbst sein sollen.

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Dass stets nur einzelne, (scheinbar) beliebig herausgepickte Daten, Eigenschaften, Teilaspekte genannt werden und nichts ausmalend beschrieben wird, sodass die Gegenstände (fast) nie detailliert illusionistisch dem Leser ›vor Augen stehen‹, verstärkt diese Insinuation. Roth imitiert dabei das Präsentieren solcher aufgezählten, höchst konkreten Details durch einen mündlichen Erzähler, der seine physisch anwesenden Hörer wissen lässt, dass sie argwöhnen, er (der Erzähler) erfinde lediglich; doch er, der Erzähler, zählt nun so konkrete Dinge auf, die nur jemand wissen kann, der in der erzählten Welt-Zeit dabei war, als Augenzeuge der berichteten Dinge. Das aber präsentiert er, der Erzähler, mit Augenzwinkern, denn auch diese Strategie ist bloß eine der fabulierenden Wirkungssteigerung, und niemand kann und will derlei Angaben überprüfen. Auf das zweite Mittel des mündlichen Erzählers zur Steigerung der Illusionswirkung, das weidliche, an die anschauliche Vorstellungskraft oder die Empathie des Hörers appellierende Ausmalen sinnlicher Details, szenischer Zusammengehörigkeiten und individueller Charakteristiken verzichtete Roth weitestgehend. Um die Luftigkeit, den spielerischen, heiter legendarischen Charakter nicht zu stören, beließ er es fast immer beim bloßen Reihen von Benennungen isolierter Details. Es bleibt dem Hörer überlassen, das materiell und psychologisch Konkrete und sinnlich Präsente detailliert auszumalen. Dazu verführt, das automatisch zu tun oder zumindest für möglich zu halten, wird er von der Präsenzinsinuation des nur punktuell auf Gegenstände ›deutenden‹ Erzählers. Schon die erste Benennung konkreter Details, die Anzahl von exakt 1500 Bewohnern, verstärkt die Vertrautheitsillusion, denn nur jemand, der den Gegenstand einigermaßen kennt, würde sie auf diese Weise benennen – und diese Insinuation wird mit der hinterhergeschobenen Zahl von jüdischen Händlern bekräftigt. Spätestens hier entsteht der Verdacht, dass ganz konträr zur unterstellten Vertrautheit und direkten Gegebenheit das Benennen stets ein bloßes, instantanes Erfinden oder Vorgaukeln sein kann. Diese Zweideu-

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tigkeit gehört wesentlich zum ironisch ambivalenten Spielcharakter Rothscher Prosawelten. An dieser Stelle besonders, denn eine »Stadt« anzukündigen, um sogleich eine so geringe Einwohnerzahl zu nennen, die eher einem Dorf anstehen würde, ist bereits ein Scherz – aber einer, in der abermals West-Ost-Perspektiven verborgen sind: Im »Osten«, verstanden als osteuropäische, wesentlich agrarisch geprägte Gegend, sind 1500 Personen ungewöhnlich viel und machen einen Ort, der vom Dorf aus gesehen eine Stadt sein könnte. Das heiter doppelbödige Spiel um inszenierte Genauigkeit ist immer auch ein listiges mit dem Wortlaut und seiner Spannung zur Bedeutung. Exakt tausend Händler? Wirklich? Und warum nur Händler, es müssen doch auch Familien und andere Berufe existiert haben? Bevor dieses neu benannte (bzw. aufgelistete) Teilelement wirklich eingebettet wird in einen landschaftlichen Kontext, springt der Erzähler schon weiter: Überraschenderweise wird nun eine Straße benannt, ohne dass ersichtlich ist, weshalb jetzt, noch ehe was über die Stadt, ihre Bewohner, ihre Geographie, die Sprachen, die Ökonomie, die Herrschaftsverhältnisse gesagt wurde. Dass die wiederum namenlose Straße nun mit dem lokalen Detail »verband den Bahnhof mit dem Friedhof« charakterisiert wird, verstärkt die Ambivalenzen: Hier mag niemand mehr glauben, eine reale Geographie liege dem Erzähler vor wie ein realistisches Modell oder eine Fotografie oder ein mentaler Film. Das Lautspiel Bahnhof-Friedhof ist zu albern, als dass es nicht spontan ins Bewusstsein des Erzählers getreten sein könnte wie eine Laune, die er ausprobiert, ohne groß an die Folgen über den lustigen Momenteffekt hinaus zu denken. Die Gesamtrepräsentation des Ortes wird denn auch eigentlich willkürlich zusammengestoppelt. Es scheint, als werde mutwillig jedes detaillierte, illusionistische, schrittweise ausmalende Beschreiben angestrengt vermieden. – Der Abschnitt über »Die weißen Städte« wird zeigen, dass Roths Poetologie das Beschreiben als eine dem wandelbaren und somit prinzipiell unvorhersehbaren Wesen der Dinge inadäquate Sprachverwendung verstanden hat. Das artifiziell

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mündlichkeitsimitierende Erzählen, das Roth an die Stelle des Beschreibens setzt, kann (oder muss) man als produktive Verwandlungen der Ambivalenzdilemmata mit Identitäten und Ordnungen verstehen. Häufig scheint Roth dabei auf einen double-bind-Effekt spekuliert zu haben. Er präsentiert Reihen willkürlich springender Benennungen und lässt den Hörer wissen, dass er, der Hörer, kraft unseres mächtigen Instinktes der Empathie an das, was unverkennbar bloßes, launig improvisierendes Benennungsspiel ist, im nächsten Augenblick doch glauben und es als erzählte Welt angenommen haben werde. Die Zweideutigkeiten im Verhältnis von Sprache, Erzähler und Welt werden, so scheint es, mit jedem weiteren Nenn-Satz variiert, verstärkt, kaschiert und amüsiert ausgekostet. Der Lautassoziation Bahnhof-Friedhof folgend wird abermals beliebig ein Detail herausgegriffen und benannt: »Der Zug hielt einmal im [sic!] Tage.« Wir wissen weiterhin praktisch nichts von der Stadt, doch das soll erwähnenswert sein? Spätestens hier gerät die Insinuation, mit schlichten Nenn-Sätzen auf zweifelsfrei gegebene Gegenstände (der Erinnerung) zu deuten, zu etwas anderem. Der denkbar schlichte Sachverhalt ist von einem Symbol nicht zu trennen. Das Städtchen scheint nicht vollständig abgeschnitten, keine bloße abgehängte Ost-Provinz, gleichsam durch einen dünnen Faden mit der größeren Welt verbunden. Es ist gerade die isolierte Nennung eines solchen Details, was ihm die eigentümliche Qualität verleiht. Würde das Ambiente – die Verkehrswege, die Architektur, die Ökonomie des Ortes – weitläufig beschrieben, verlöre das Detail des Einmal-am-Tag-Verbundenwerdens seinen Charakter eines »sprechenden« Details. Es wäre eine bloße Funktion innerhalb einer beschriebenen Welt. So aber ist es gleichermaßen willkürlich, lebendig weil instantan erfunden und damit (selbst) »sprechend«. Denn es steht für eine ganze Existenzform – vor allem, da es indirekt den Eindruck erzeugt, das, was scheinbar willkürlich improvisierend assoziativ erfunden ist, das Produkt sei eines nahezu allwissenden Erzählers, der nur des-

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halb so wenige Details herausgreifen muss, weil er souverän über das Stoffganze verfügt und daher reduktiv vorgehen kann. Ein solches Detail wird »sprechend« auch, weil es insinuiert, dass hier Willkür simuliert wurde, insgeheim aber vielleicht höchste Ökonomie des Nennens herrscht, die Kunst also in der Art des Nicht-Nennens der allermeisten Dinge besteht. Der nächste Satz, wiewohl in immer derselben, kindlich-naiven Nenngeste exponiert (bzw. inszeniert), bringt innerhalb dieses gleichförmigen Habitus‹, eine abermalige Überraschung: Wer einen Satz wie »Die Reisenden waren Hopfenhändler« ausspricht, muss über eine Art telepathischen Blick oder zumindest gute Ortskenntnis verfügen und unterstellen, der Leser wüsste bereits wie der Sprecher um den Zeitpunkt des Geschehens. Wirklich wörtlich gemeint sein kann der Satz nicht: Selbst wenn Hopfen ein wichtiges Handelsgut der Gegend gewesen sein sollte (was in Roths Heimatstadt Brody der Fall war), wäre es absurd anzunehmen, alle Reisenden zu jeder Zeit seien immer Hopfenhändler gewesen. Daher negiert sich eine solche gleichermaßen spontan gewählt wie selbstverständlich erscheinende Aussage gleichsam selbst – und/oder ist eine ironische Übertreibung. (Wir werden diesem Stilmittel der begründungslosen Generalisierung ebenso wie dem Übertreiben als Methode noch oft begegnen.) In jedem Fall ist der Satz im Widerspruch zu seiner gestischen und grammatischen Erscheinungsform ein sich selbst nicht recht ernstnehmen könnender. Vielleicht liegt dieser Generalisierung auch ein lustiges Spiel Roths mit der eigenen Familie zugrunde, es sollen nicht weniger als fünf Onkel Hopfenhändler gewesen sein. Doch Roth schrieb natürlich für (potentielle) Leser, die von all dem nichts wissen, und wusste daher, dass ein solcher Satz als purer, willkürlicher Spaß erscheint, wie wenn man in einem Alltagsdialog ironisch betont: »Doch, alle Bayern haben immer Gamsbärte am Hut, wenn sie nach Wien kommen.« Nur fallen innerhalb des artifiziell reduktiven satzgestischen Repertoires bei Roth die gewohnten Markierungen von Ironie fort. Daher ist dieser Satz plötzlich so beliebig

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und weltlos, bloß um der Überraschung und des kindischen Spaßes an der Willkür willen gesagt – was andererseits die Anmutung von Spontaneität und der Flunkerei eines mündlichen improvisierenden Erzählers verstärkt. Seine äußere Gestalt mag noch immer die des bloßen, direkten Deutens oder Nennens offensichtlicher oder selbstverständlicher, dem Erzähler ›vor Augen stehender‹ Sachverhalte sein – die Semantik macht den Satz zum Selbstnegierer, was die historische Stoffhaltigkeit angeht, zum bloßen, munteren Spielmaterial jenseits des gewohnten Beschreibens. Aber: In dieser Willkür ist der Satz eine fast zwingende Fortführung einer untergründig betriebenen Entfaltungslogik der Sache – und eine gänzlich andere als in dem Quasi-Real-Symbol der täglichen Zugverbindung, nämlich eine rein textuelle Entwicklungslogik der Formen: Im ersten Satz (nach der Namensnennung des Erzählers) wurde der Ort im großen Zusammenhang genannt; im zweiten wird die Einwohnerzahl erwähnt, eine bloße Mengenangabe, doch eine erste Stufe der Konkretion. Der dritte erreicht eine weitere Stufe, und ein Teil der vorher unspezifiziert als »Menschen« und Bewohner charakterisierten Einwohner wird spezifiziert – die jüdischen Händler unter ihnen. Danach macht der Erzähler noch einen Schritt, indem er wie ein aus der Stratosphäre herabschwebender Beobachter das erste städtebauliche Detail benennt – und in der nächsten, der fünften Stufe, einen noch kleineren, konkreteren Gegenstand, ein Fahrzeug, doch keines, das auf der Straße vom Bahnhof weg, sondern benachbart auf Schienen fährt. Die sechste Stufe bringt gleich zwei weitere Schritte bei der Näherung ans Konkrete, einerseits in den Innenraum des Zuges, andererseits setzt sich die Reihe Menschen (Bewohner) – jüdische Händler – Hopfenhändler fort. Erst danach fällt ein Wort zum landschaftlichen Umfeld – eine Hopfengegend, eine bloße, spontan nachgetragene Benennung. Im nächsten, unvorhersagbaren Sprung der Aufmerksamkeit werden wiederum scheinbar beliebige Gegenstände herausgegriffen, zwei Hotels, ein großes und ein kleines. Diese Gegenstände haben

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jedoch mit den Zügen zuvor mehrere Gemeinsamkeiten: die ungefähre Größe, die Funktion, Menschen vorübergehend zu beherbergen, und die, Verknüpfungen zu anderen Orten herzustellen. Intuitiv oder unbewusst mag Roth die Anzahl 1 benutzt haben, um die recht willkürlich gelisteten Dinge innerlich zu verbinden und doch Vielfalt zu erzeugen: Es verkehrt genau ein einziger Zug pro Tag, und es gibt genau ein Hotel von einiger, ein anderes von geringer Größe im Ort. Womit wiederum die 1 einmal rein, einmal variiert und dann mit sich selbst addiert als 2 auftritt. Solche Mikrovariationen folgen einer klassischen Maxime der kunstvollen Rede und des Schönen überhaupt: dem varietas-Gebot (bzw. »dem paradigmatischen Feld von variatio mit alteratio, differentia und diversitas«70). Diese Maxime war fundamental für Roths Schreiben. Sie zu befolgen trieb ihn zu Höchstleistungen, was die Variabilität, die Überraschungen, die Farbenvielfalt im Kleinstmaßstab innerhalb eines sonst sehr engen Tonspektrums des Erzählens anging – mithin: Ein Höchstmaß an Mannigfaltigkeit in der artifiziellen Einheit! Man sieht, wie raffiniert die verschiedenen Suggestionen des Verhältnisses von Rede und Gegenstand, Erfindung und Abbildung, Zeigen und als Erfindungsspiel inszeniertem Fingieren integriert wurden, eingehüllt in den Anschein einer willkürlichen, subjektiv launenhaften Auswahl und Reihung von Einzelsachverhalten, während insgeheim (wenngleich nur vorübergehende und versteckte) Logiken der Entwicklung und Stoffselektion unterlegt sind. Die Entfaltungslogik wird kaschiert und zugleich augenfällig markiert, insofern im letzten wie auch im allerersten Satz des ersten Absatzes ein Eigenname steht. Der Absatz ist somit umfangen von den beiden einzigen, individualisiert benannten Dingen. Zudem bestehen vielfältige Beziehungen und Gegensätze zwischen beiden Namensvertretern. Der erste (Naphtali) führt den Leser imaginär von außen und 70

Vgl. Horst Weber, Art. Varietas, variatio. In: HmT, 14. Lieferung (1986), S. 1, https://www.sim.spk-berlin.de/static/hmt/HMT_SIM_Varietas-variatioVariation-Variante.pdf.

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oben hinein in die Konkretion der Stadt, als wäre sie ein Spielmodell. Er ist Jude und mutmaßlich in den Westen gegangen, hat sich dort einen neuen Namen gegeben. Jedenfalls ist er gleichsam der Architekt des nachfolgenden Kurzromans und lässt als erste, namenbesitzende Figur in der erzählten Welt den Baumeister Wolf Bardach auftauchen. Dieser scheint dem Namen nach ein Deutscher und kommt nicht selbst ins Bild, sondern gleichsam indirekt, körper- und stimmlos, nämlich vermittels seiner steinernen, wortlosen Schöpfung. Danach bricht der Text, als würde der Erzähler hoffnungslos zerstreut sein Ziel aus den Augen verloren haben, abermals überraschend, in ostentativ frei und farbig improvisiert fabulierte Detailepisoden aus dem Leben der Mutter des Architekten aus. Das, was zunächst eine Abirrung scheint, entpuppt sich jedoch als Seitenpfad, die Umstände des Hotelbaues zu erläutern. Dieses nachträgliche Motivieren und Einbinden eines eingestreuten Elements ist ein typisches Merkmal instantaner Erzählweisen. Das skizzierte Bild der Hotelentstehung greift, wie zu erwarten, die anfängliche Opposition Westen / Nicht-Westen wieder auf: »Das Hotel sollte ganz westeuropäisch, ja amerikanisch aussehen.« Der Name »Hotel Esplanade« ist komisch abwegig und überdimensioniert (es dürfte wohl kaum eine Promenade in einem so verschlafenen Städtchen geben), das Hotel selbst eine wie von außen in das Provinzstädtchen verpflanzte große Welt. Der Bauherr musste dafür den traditionellen Kleinbetrieb der Mutter, ein Schwitzbad, verkaufen. In dieser Episode offenbart sich die Konvergenz von willkürlicher Benennung und gleichnishaftem Gehalt, dasselbe gilt für das Disproportionierte des Hotels generell: Es steht als humorgetöntes Gleichnis für ein durch und durch ambivalentes Verhältnis zum urbanen Westen der modernen Industrienationen. Der Gleichnischarakter wird dann wohl tatsächlich naiv und humorlos ausgemalt, insofern der Architekt mit dem Projekt des Hotels, das die ortsübliche Haushöhe überschreitet, an seine Grenzen stößt: »Als das dritte Stockwerk fertig war, bemerkte er, daß er kein Geld mehr hatte. Er verkaufte das

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Grundstück und seine Pläne dem reichen Herrn Ritz, dem es auf ein paar Tausender nicht ankam, und reiste, tief beschämt und heimlich, nach Wien, um Notar zu werden.« Das klingt sehr nach Bestrafung für eine Sünde oder Hybris eines Städtchenbewohners, der zu rasch, ohne Zwischenstufen, den Komfort des modernen Westens in die Provinz holen und seine Mitbewohner ›verführen‹ will. Zur Strafe muss wird er in den Westen verbannt und muss dort einen der Herrschaft des formalen Rechts angemessenen, also entkörperlichten, bürokratischen Job als Notar annehmen. Im Gegenzug springt ausgerechnet Herr Ritz auf den Plan, womit der Jahre seines Lebens in Hotels, mondänen und weniger mondänen, zugebracht habende Joseph Roth nur César Ritz meinen kann, einen 1850 geborenen Bauernbuben aus dem Wallis71, der durch Fleiß, Instinkt und Geschick im sich hitzig globalisierenden Kapitalismus des späten 19. Jahrhunderts einen märchenhaften Aufstieg schaffte und zum Besitzer vieler luxuriöser Hotels wurde. Er baute überall dort, wo königliche und fürstliche Häupter oder der neue Geldadel die Tage verbringen wollten, in Cannes und Monte-Carlo, Rom und Biarritz, aber auch in London, Frankfurt a.M. (»Frankfurter Hof«) und Paris. Der Kontrast dieses Namens zur dürren Realität vor Ort und der Unwahrscheinlichkeit der Investition ist ein argloser Scherz, und doch folgt er Roths automatisiertem Denken in Ambivalenzen. Roth bewunderte wohl zeitlebens Gestalten wie den Hotelmagnaten, mag er sie andererseits ironisiert, verdammt oder in kulturaristokratischem Habitus bestöppelt haben. Ritz verkörperte für Roth gewiss die märchenhaften Seiten des modernen Kapitalismus, zumal im persönlichen Aufstieg zu einem Reichtum, der dem seiner umschmeichelten Kundschaft teils gleichkam, im unaufhörlichen Umherreisen auf der Suche nach Optimierungen und Innovationen des Geschäftsmodells, im Bedienen eines jeden Zerstreuungs71

Ein farbiges Portrait: Alex Capus, Cäsar Ritz – König der Hoteliers. In: Merian 6/2010, auch unter http://www.merian.de/schweiz/europa/artikel/caesar-ritzder-koenig-der-hoteliers.

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und Prasser-Wunsches, wie einfältig, geschmacklos oder zynisch er auch immer sein mochte. Vielleicht war Roth nicht nur vom romanhaften Aufstieg, sondern auch vom ebenso romanhaften Ende des Bauernbuben berührt: 1902 erlebte Ritz nach einer Absage des sehnlich erwarteten englischen Königs einen Nervenzusammenbruch und dämmerte die letzten 16 Jahre seines nicht sehr langen Lebens dahin, anfangs noch infantile Tierplastiken modellierend, dann in ein Sanatorium abgeschoben. Tatsächlich dürfte Roth zu keiner anderen Klasse ein weniger eindeutiges Verhältnis gepflegt haben als zu diesem Geld- und Blutsadel, den Grundherren, den Patriarchen, den Stars, die bei Ritz Stammgäste waren. Er konnte die Rentiersklasse, wie wir später en passant sehen werden, geradezu adorieren wie ein armer Junge, der sehnsüchtig von Ferne die happy few im Strandhotel erspäht, Dienstpersonal kommandierend, fleischgewordene Märchengestalten eines ewigen Sonntags. Der Erzähler vermochte verspielt gewitzt, seine ganze Ambivalenz in eine solche, improvisiert zwischengeschobene Episode vom Herrn Bradach zu legen, der beinahe an seiner Hybris zerbricht, vorbereitungslos das Luxusleben westlicher Aristokraten, Ruhrbarone, Kohlenkaiser ins verschlafene Städtchen verpflanzen zu wollen, während Herr Ritz dieses Verpflanzen dann mühelos vollzieht – absurderweise jedoch in ein Provinzstädtchen, das nach seinen westeuropäischen Maßstäben nicht einmal eine Stadt ist – und wo der große Adel ganz gewiss nicht seine müßigen Tage verbringen möchte. Andererseits spielten ebenso wie Eisenbahnanschlüsse auswärtige Investoren eine große Rolle in einem nicht sehr reichen Provinzstädtchen, in der Handelsstadt Brody allemal. Joseph Roths eigener Weg wäre ohne Wohltaten eines märchenhaft reichen Mannes nicht denkbar gewesen: Er hätte wie die allermeisten jüdischen Kinder Galiziens die einfache »Cheder«-Schule besucht – wenn nicht Baron Moritz von Hirsch gewesen wäre, eine legendäre Berühmtheit im retardierenden Galizien. 1831 in München geboren war dieser durch

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den Bau von Eisenbahnlinien (sic!) in der Türkei, Österreich und Russland zu märchenhaftem Reichtum gelangt und hatte 1891 mit sagenhaften 25 Millionen Francs eine Stiftung gegründet, die in Galizien und der Bukowina fünfunddreißig Baron-Hirsch-Volksschulen baute (und fünf weitere subventionierte). Darunter eine in Brody, und diese besuchte Joseph von 1901 bis 190572. Während man in der Cheder meist auf jiddisch und vor allem religiöse Inhalte lehrte, war die Unterrichtssprache der Baron-Hirsch-Schulen Deutsch, über die durchaus gründliche religiöse Unterweisung hinaus lernte man Polnisch und wurde mit allerlei praktischen Fächern auf eine internationale Berufslaufbahn vorbereitet. Es mag sein, dass das frühe, unvorbereitete Auftauchen des Bahnhofs und der Bahnlinie in den »Erdbeeren« eines der vielen Spiele Roths mit Elementen seiner Biographie sind: Einen Juden wie Baron Hirsch auftreten zu lassen, würde dagegen Roths antagonistische Konstruktionsabsicht durchbrochen haben, und hätte den Osten in seiner Rückständigkeit und Abhängigkeit vom Westen gerade in der Hinsicht gezeigt, die für das traditionelle Judentum so essentiell war, und die Roth mit dem deutschen Bildungsidealismus in den Rang einer metapolitischen Gesellschaftsmacht erheben wollte: der Bildung. Den Osten und seine Juden als bloßes Opfer des Westens zu zeigen, wäre nicht mehr möglich gewesen. Wenn dagegen Ritz, ein ebenfalls märchenhaft reich gewordener, aber nichtjüdischer Bauernbub des Westens als bloßer, kühl kalkulierender Investor im Hotelgewerbe auftritt, der das traditionelle, jüdische Kleingewerbe verdrängt durch Bedienen der Sehnsucht nach materiellem Komfort, sozialer Distinktion und Bedientwerden, die typisch allein für den Westen sein sollen, wird die Oppositionskonstruktion umgekehrt plastisch veranschaulicht. Die Ambivalenz, das Umspringen von Extrempolen und opponierenden Ordnungs- und Wertsystemen ohne Zwischenstufen, kann so konstruktionsbestimmend bleiben: Ost und West sind unvermittelbar, auch, wenn sie sich überlagern, bleiben sie zwei vollkommen 72

Vgl. Bronsen 1974, S. 63f.

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getrennte Ordnungen. Prallen sie aufeinander, entsteht keine neue Synthese durch wechselseitiges Bereichern oder lernendes Verstehen, sondern nur eine Macht-Ohnmacht- bzw. Sieger-Opfer-Konstellation. Die Spärlichkeit der Kommunikations- und Verkehrsfäden schützt den Osten, lässt jedoch noch eben so viel Westen hinein, dass man von diesem träumen und Angst vor der eigenen Anfälligkeit und Ohnmacht bekommen kann. Im Allgemeinen gibt es, wie wir sehen werden, in Roths Welt letztlich nur zwei Möglichkeiten des Austauschs zwischen Ost (-Juden) und Westen: Den Untergang in Selbstentfremdung derer, die sich von den falschen Versprechen des Westens auf individuellen Erfolg, materiellen Komfort und Freiheit in der liberalen Gesellschaft »verführen« ließen – andererseits jedoch den Triumph der großen Erfolgsmenschen mit ostjüdischen Wurzeln. Das Verführungs-modell individuellen, materiellen oder massenmedialen Ruhms des Westens schlägt, wenn es in den Osten kommt, wie ein Meteor aus fremden Galaxien ein – ganz ähnlich dem »Hotel Esplanade«, das auf den Ruinen der Träume bescheidenen Wohlergehens des Ostens im traditionellen Familienverbund errichtet wurde. Falls ein Ostjude im Westen zu grandiosem Erfolg kam, war er für Roth auch ein solcher – allerdings invertierter – Meteor: Der rauschende Glanz des Erfolges beweist die Überlegenheit des im Inneren antimodernen Ostjudentums gegenüber dem bösen Westen, wie wir im Dritten Teil sehen werden. 6 »Politik«, Schreiben und Leben in einer sich turbulent modernisierenden Gesellschaft Man würde Rothschen Äußerungen, die man gemeinhin »politisch« nennt, und vor allem dem Intellektuellen Roth selbst Unrecht tun, wenn man sich vor der Lektüre vergegenwärtigt, dass Joseph Roths Selbstverständnis den Habitus des Kulturintelligenzlers alten Stils reproduzierte: Er unterstellte, seine subjektiven Gefühlsreaktionen

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und intuitiven Urteile seien als solche, kraft Berufsstandes und unabhängig von argumentativer Qualität und Informationsgrad, bemerkenswerter oder sogar triftiger als die der Zeitgenossen in Ämtern, Arztpraxen, Ingenieurbüros, Unternehmen, Universitätsfakultäten, Polizeistationen, Schulen. Sachlich ist das ganz abwegig: Roth selbst ist ein lebendiger Beweis dafür, dass sein Berufsstand eher weniger als viele anderen Bürger über die Fähigkeit verfügt, Voraussetzungen von Argumentationen und (eigener wie fremder) Geltungsansprüche zu beurteilen. Vor allem: Um eine intellektuell gerechtfertigte, säkulare Rolle im öffentlichen Diskurs über Fragen und Deutungen der institutionellen, rechtlichen, politischen Organisation unseres Zusammenlebens spielen zu können, muss man sich gerade bewusst und entschieden von eben der Fähigkeit trennen, die den Dichter, wenn überhaupt etwas, auszeichnen könnte vor anderen Bürgern, dem spezifisch poetischen Umgang mit Sprache, ihren Wirkungen und Suggestionen. Etwas Vergleichbares müsste weder der Arzt noch der Ingenieur noch der Jurist noch der Finanzbeamte tun, wenn er in einen öffentlichen Diskurs um Normen- und Entscheidungsfragen intervenieren wollte. Das heißt nicht, dass Schriftsteller nicht in einzelnen Fällen besonders sensibilisiert sein können für rhetorische oder generell suggestiv und emotionale Möglichkeiten der Rede und, sofern dem so wäre, diese Sensibilität nicht nutzen sollten oder dürften: Ob allerdings der Schriftstellerberuf als solcher in der Moderne auch nur besondere rhetorische Fähigkeiten bei der Verbalisierung eines Geltungsanspruchs im Vergleich zu rhetorisch geschulten Mitbürgern impliziert, kann man sicher bezweifeln. Es dürften sich mehr widerlegende als bestätigende Fälle dafür finden. Und wenn ein Schriftsteller über rhetorische Fähigkeiten verfügen sollte, wäre er damit immer noch nichts anderes als ein rhetorisch fähiger Bürger unter anderen – allerdings einer, dem dabei noch argumentative Distanzierungsfähigkeit zu eigenen, bloß zufälligen, subjektiven Präferenzen abginge, vor allem auch das Wissen über Zusammenhänge des

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Rechts, der Ökonomie und Finanzen, der Kontrolle von Entscheidungseliten usw., welches in modernen, komplexen Gesellschaften unvergleichbar anspruchsvoller ist als zu Zeiten eines, sagen wir, Voltaire oder Zola. Würde ein Schriftsteller hierin seine Stärken haben, dürfte er normalerweise nicht Schriftsteller geworden sein. Und wenn er sie hat, braucht man seine Berufsbezeichnung nicht anzugeben, wenn man seine Meinung bewertet. Dass Schriftsteller trotz der skizzierten, berufsbedingten Nachteile bis weit ins 20. Jahrhundert innerhalb der kulturellen Eliten als Instanzen behandelt wurden, die kraft Standes mehr oder zumindest ein besonderes Interesse und Autorität bezüglich ihrer Meinungen über die Welt, ihrer Schicksale, Leiden, Urteile, Menschenbilder usf. beanspruchen dürfen, ist rätselhaft und kann vermutlich nur mit überhängenden kultischen und charismatischen Aufladungen der Tradition erklärt werden – wenn man einmal von der menschlichen Schwäche der Eitelkeit, dem Wunsch nach Erhöhung und Aufmerksamkeit absieht, die dabei stets mit im Spiel sind. Zu diesen Mystifikationen kommen hergebrachte Aufladungen der Bildung im alten, sprachzentrierten, oft fälschlich »humanistisch« genannten Sinne. (Für die Renaissancehumanisten gehörte technisches, naturwissenschaftliches, religiöses Wissen selbstverständlich zur Universalbildung, eine Bildung, die der prototypische, moderne »Intellektuelle« umgekehrt geradezu verpönt.) Ein solches, ebenso selektives wie hochfahrendes Privileg an »Bildung« ordnet man wohl auch in der Moderne noch dem Schriftsteller zu, obwohl der fern davon ist, über das aktuelle Wissen in Fragen der Sprache, des Bewusstseins, der Geschichte, der Natur, des Rechts, der Ökonomie, der Gesellschaft zu verfügen wie die allermeisten seiner Mitbürger. Und sehr viel ferner als das Gros damaliger Wissenschaftler, von denen man zu Roths Lebzeiten umfassende Ausrichtung des Interesses, philosophische Bildung und empirische Informiertheit verlangte, und die in prominenten Fällen universalistisch ausgerichtet waren – nicht nur ein Werner Sombart oder Max Weber, ein

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Sigmund Freud, Magnus Hirschfeld oder Gustav Radbruch, sondern auch der Typus Hermann von Helmholtz bis Max Planck. Und in der deutschen Politik war dieser Typus ebenfalls prominent vertreten, zuoberst in Gustav Stresemann, dem promovierten Ökonomen und begabten Journalisten. Will man im Ernst die Urteilsfähigkeit eines Verfassers preziöser Feuilletons und traditionell gelagerter Romane, der keinerlei Ausbildung im Verstehen systemischer Zusammenhänge, Wertsysteme, der Anthropologie, der Rechtfertigung normativer Ansprüche besaß, mit der Urteils- und Erfahrensfähigkeit solcher Bürger vergleichen? Das scheint mir so abwegig, dass es nur mit der überhängenden, gänzlich irrationalen Aufladung des Literatenstandes aus dem postromantischen 19. Jahrhundert erklärbar ist. Damals sprach man dem Künstlerindividuum zu, Inbegriff des entwickelten Menschseins, der wahren »seelischen Empfindung«73 oder ein Repräsentant kreativer Individualität zu sein. Auch den Bürger in seiner vollen und höchsten Entwicklung zu verkörpern74 und gar den »Wahrsager der idealen Organisationen der Menschheit«75. In den 1920er Jahren, als Roth zum prominenten Autor aufstieg, waren diese Mystifikationen noch sehr lebendig, in Gestalt von Künderposen und besonders in »kulturkritischen«, intuitiv pauschalisierenden Gesamtkonstruktionen der Geschichte. Unabhängig von Fragen der mentalitätsgeschichtlichen Verortung scheint mir Joseph Roths Agieren und Selbstdarstellen ein treffendes Lehrstück abzugeben, was geschieht, wenn Dichter sich in ihrer öffentlichen (mithin stets inszenierten) Selbst- und Weltdeutung, ihrem Anmelden normativer Ansprüche in Urteil und Rhetorik nicht bewusst und entschieden von den Methoden der Sinnsuggestion, Selbstinszenierung und Emotionalisierung trennen, die sie sich auf dem Papier, Worte mit Worten rekombinierend, als literarische 73 74 75

Ruppert 2000, S. 233. Ruppert 2000, S. 36. Lu Märten 1914, zit. nach Ruppert 2000, S. 249.

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Praxis erarbeitet haben. In der Tat hätte er mit dem literarischen Schöpfen von Sinn, Ordnung, Urteilen, Werten, Selbst- und Weltbildern ja das einzige Medium preisgegeben, in dem er sich nicht »verloren« fühlte und durch das er in kontrollierbaren, dauerhaften, verlässlichen Kontakt mit der »Welt« treten konnte. Ohne diesen Kompass des Stils hätte er vermutlich auch in jedwedem Urteilen über Geschichte, Werte, Mensch alle Orientierung verloren. In Zeiten großer Umbrüche wie den Jahren nach 1918 dürfte ein Bürger, der sich auf zufällige Intuitionen und schöngeistige Sprachverwendungen verlässt und höchsten Wert auf die Überlegenheit seiner subjektiven Empfindungen gegenüber der Masse legt, besonders schnell überfordert, verängstigt und vor allem biographischen Zufällen und Vorprägungen stärker ausgesetzt sein als viele seiner nüchterneren (weil in die produktiven Zweige der Volkswirtschaft, Verwaltung oder öffentlichen Versorgung integrierten) Zeitgenossen. In der Weimarer (und Österreichischen) Republik mussten so viele gesellschaftliche Fundamente geradezu neu erfunden werden, dass ohne weitläufige, abstrahierende und bewertende Informationsbeschaffung kein begründetes Urteil zu fällen war: Eine gänzlich neue Verfassung war hervorzubringen, die Reparationen lasteten schwer auf der Ökonomie, aus einer Großnation mit Reichsanspruch war eine gedemütigte Verlierernation geworden, die noch jahrelang fürchten musste, weiter aufgespalten zu werden. Ohnmächtig nahm sie die Bedingungen der Siegermächte hin. Andererseits: Die Gleichstellung vor dem Gesetz war plötzlich erreicht, der moderne (deutsche) Sozialstaat geboren. Frauen emanzipierten sich, gingen millionenfach ins Erwerbsleben, erlangten 1918 das Wahlrecht und durften Hochschullehrer werden; seit 1919 waren sie staatsbürgerlich und in der Ehe gleichgestellt, seit 1922 zum Richteramt zugelassen76. Werbefachleute propagierten vor allem mit Blick auf die weiblichen Angestellten und den stetig steigenden 76

Diese und die folgenden Angaben leicht nachzuschlagen bei Sturm 2011, S. 44.

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Anteil von Studentinnen (7% 1919, 16% 1932), das Bild der »Neuen Frau« – »Berufstätig, unabhängig, selbstbewusst, attraktiv, modisch gekleidet«77. (In Roths Texten ist vielfach spürbar, wie sehr diese Emanzipation unsichere Männer ängstigen konnte – wiewohl die Emanzipation unvollständig blieb78.) »Der Fordismus beruht auf der Massenproduktion wie dem Massenkonsum. Die Welt des Konsums entwickelt sich damit seit den 1920er Jahren zur neuen Kultursphäre, es findet eine Konsumrevolution statt«79. Der Einfluss traditioneller religiöser Bindungen sowohl auf das Handeln der Funktionseliten wie der Verbände, Parteien und der einfachen Bürger ging schlagartig zurück. Die Gesellschaft erlebte nach dem Zusammenbruch der Monarchie(n) einen kulturellen, religiösen und sozialen Pluralisierungsschub ohnegleichen, zumal die unzähligen lebensreformerischen Ideen von der Jugendbewegung über die Pädagogik bis zur Freikörperkultur nun in den Alltag hineinwirkten. Der »Fordismus« wurde durchgesetzt und umgekehrt der Acht-Stunden-Tag des Arbeiters sowie eine moderne Sozialversicherung (seit 1919 in die Verfassung aufgenommen). Die Arbeiterschaft partizipierte mehr und mehr am Massenkonsum, teilte die sich durchsetzende Orientierung am individuellen Freizeit- und Konsumstreben. Die traditionelle Bindung an Führer, Autoritätsfiguren, Konfessionen, Stände musste überwunden werden zugunsten der Entscheidungsfindung in demokratischen Prozessen und einer Pluralisierung, die Glaubens- und Lebensform dem Ermessen des Einzelnen überließ: »Den Menschen hatte es den Boden unter den Füßen weggezogen, noch war unklar, wann und wo sich wieder fester Boden finden würde.«80 77 78

79 80

Sturm 2011, S. 42. So durften verheiratete Frauen noch immer nur dann einen Beruf ausüben, wenn der Ehemann die Erlaubnis erteilte (Sturm 2011, S. 42). Mit der Heirat gaben noch immer die meisten Frauen ihren Beruf wieder auf (ebd.). Reckwitz 2017, S. 100. Vgl. Eva-Maria Schnurr. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 21.

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Umgekehrt jedoch hatten Juden, was die Hoffnung bezüglich Republik und liberaler Verfassungsstaat betraf, eigentlich keine Wahl: »Mit der Ausrufung der Weimarer Republik wurden auch die letzten Hindernisse beseitigt, denen sie sich im Hinblick auf eine vollständige Gleichberechtigung noch im Kaiserreich ausgesetzt sahen. In den Artikeln 109 und 128 der Weimarer Verfassung war festgeschrieben, dass alle Staatsbürger dieselben Rechte genießen und nach ihrer Befähigung und ihren Leistungen zu allen öffentlichen Ämtern zugelassen werden mussten. Als Religionsgemeinschaft waren Juden nun erstmals in ihrer Geschichte den christlichen Kirchen gleichgestellt, die jüdischen Gemeinden erhielten die mit dem Status einer öffentlichen Körperschaft verbundenen staatlichen Unterstützungen.«81 Das war der Hauptgrund, weshalb die große Mehrheit der deutschen Juden liberale Parteien der Mitte (mal mehr, mal weniger nationalistisch) wählten. Insofern hätte ein junger (säkularisierte) Jude wie Joseph Roth eigentlich den Untergang der Monarchie bedingungslos begrüßen müssen, sollte man denken, bloß: Diese Emanzipation hatte wie jede andere auch ihren Preis. Beispielsweise hegt eine Minderheit, die auch rechtlich diskriminiert wird, für gewöhnlich stärkere Gemeinschaftsgefühle, als es eine pluralistische und individualistische Gesellschaft bieten kann. Wer die Rolle des zivilisatorischen Anklägers und Schuldzuweisers liebt, hat in einer Rechtsverfassung ein undankbares Objekt: Täter-Opfer-Szenarien lassen sich damit schlecht bauen und ebenso wenig zivilisatorische Verfallsszenen. Volle Emanzipation in einer liberalen Demokratie bedeutet immer auch: volle individuelle Verantwortlichkeit als Staatsbürger, gesteigerte Wahlfreiheit, was das eigene Leben, die eigenen weltanschaulichen Überzeugungen betrifft. Es geht von der modernen, pluralistischen Demokratie ein Zwang zur freien Selbstbestimmung und Mitgestaltung aus, während bis dahin für selbstverständlich gehaltenen Orientierungen und Ordnungen wegbrachen. Das war, wie wir insbesondere am Beispiel des »Radetzkymarsch« 81

Reinke 2007, S. 188.

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sehen werden, eine an Roths ›Ausstieg‹ aus der Gegenwart maßgeblich beteiligte Nötigung. Der Wegfall der rechtlichen und bürgerlichen Diskriminierung setzte den Einzelnen oft einer gesteigerten Ungewissheit aus, denn er konfrontierte ihn mit den religiösen, ethischen, praktischen Fundamenten seiner Existenz – dem, was man die moderne, »abstrakte« Ich-Identität nannte. Es war kein Zufall, dass viele jüdische Intellektuelle nun nach den sogenannten »Wurzeln« suchten und gleichsam neue Ursprungs- und Identitätserzählungen schöpften. Diese jungen Intellektuellen durchlebten, könnte man vielleicht sagen, typisch moderne Konflikte um Selbstwahl und Bindung in mehrfach gesteigerter Form – als Freisetzung des Einzelnen von traditionellen Bindungen zugunsten einer Selbstbestimmung im Feld der sozialen Distinktionen, Klassen, Gruppen, was im Gegenzug Sehnsüchte nach neuer Transzendenz, Verwurzelung, Identität und Gemeinschaftlichkeit aktualisierte. Umgekehrt stiftete der rechtlich beseitigte, im Alltag jedoch noch virulente Antisemitismus paradoxerweise ein unfreiwilliges, von außen kommendes Gefühl von »Identität«, im Modus der Diskriminierung, des kollektiven Verdachts oder sogar Stigmatisierung. Das galt gerade für Intellektuelle aus Osteuropa, die mehrheitlich schon in Russland und Österreich nicht mehr religiös gebunden lebten82. Es ist schwerlich zu leugnen, dass Joseph Roth all diese Konflikte in existentieller Dramatik und Konfliktuosität durchlebte. Aber auch in dieser Hinsicht gilt: Die Konflikte, in die man hineinwächst, sucht man sich nur bedingt aus; die Lösungen jedoch schon. Dass Roth in Ambivalenzen, Bindungs- und Orientierungsverlusten steckenblieb, war keine zwangsläufige Folge der Konfliktlagen. Noch weniger, dass er im Laufe der 1920er Jahre, als die Republik und damit die einzige Staatsform, die volle Emanzipation garantierte, ihre stabilste Phase durchlebte, sich in zunehmend verzweifelten Gemälden zivilisatorischer Verfehlung von der Gegenwart abwandte. Eine Au82

Golczewski 2007, S. 161.

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torität in Sachen deutsch-jüdischer Geschichte wie Trude Mauer glaubt, dass die Zukunft der Juden in Deutschland »bis kurz vor der Aufhebung der Gleichberechtigung 1933–1935 […] offen« war83 – somit abhängig davon, ob die demokratischen Institutionen den anschwellenden Gelüsten nach starken Führerfiguren, Ausstieg aus der Geschichte, Revanche oder auch nach Rückkehr zu vermeintlich stabilen Wertsystemen und Staatsformen standhalten würden. Von der Tiefe und Breite all dieser Umbrüche in der Zeit des Weltkriegs und hernach mögen, für den jungen, ›entwurzelten‹ jüdischen Intellektuellen im Besonderen, Kräfte ausgegangen sein, die auf ganz andere als gemeinhin angenommene Weise bestätigen, was man den überkommenen Künstlerklischees folgend oft behauptet: dass es Veränderungen der politischen und sozialen Welt gewesen seien, die Joseph Roth sozusagen gezwungen haben, (spätestens) Mitte der 1920er Jahre auf Irrfahrt und zuletzt ins Exil zu gehen und damit zum Opfer zu werden. Roths Rückzug in schreibend inszenierte Tagträume verlorener Ganzheiten und übersichtlich geordneter, Geborgenheit schaffender Lebenswelten, seine »Flucht ohne Ende«, wurde keinesfalls durch die turbulenten Umbrüche im Weltkrieg oder die Wandlungen und Neuschöpfungen des gesamten Lebens nach 1918 ausgelöst, womöglich aber beschleunigt. Es mag sein, dass Erinnerungen an Gewalt von Rechts- und Linksradikalen seit den revolutionären Unruhen 1918 eine gewisse Rolle spielten. Die Angst vor dem Bürgerkrieg saß gewiss so tief, dass jüngst der irische Historiker Mark Jones sie als »Geburtstrauma«84 der Republik beschrieb. Auch in der Stabilisierung seit 1924 wurden viele Deutsche das Gefühl nicht los, in der Zivilgesellschaft könne jederzeit wieder Mordsgewalt ausbrechen. Anfangs waren die Ausbrüche marginal, erst im März 1919 durch den verhängnisvollen Schießbefehl Gustav Noskes mehrten sie sich: Der Sozialdemokrat führte das Standrecht in der Nachkriegszeit ein, befahl, jede Person, die mit 83 84

Zit. bei Reinke 2007, S. 188. Jones 2017, S. 290.

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Waffe in der Hand gegen Regierungstruppen angetroffen würden, notfalls sofort zu erschießen und erteilte marodierenden Freikorps Legitimation85. Das Aussetzen der Grund- und Menschenrechte wurde begleitet von lancierten Übertreibungen der Umsturzgefahr in Regierungserklärungen und Presse. Die dabei benutzte Metaphorik und die kollektive Panik glich bereits derjenigen, die nach 1930 von rechten Schlägertrupps verwendet wurde86. Noch nach der »Machtergreifung« beschwor Hitler die Gefahr einer erneuten Novemberrevolution, um exzessive, militärische Staatsgewalt gegen Bürger zu legitimieren und entsprechende kollektive Affekte zu mobilisieren87. Was es im Einzelnen gewesen sein mag: Das Gefühl, keinen Halt mehr in der äußeren Welt oder der eigenen Sozialisation finden zu können, dürfte einen von früh an instabilen, schwankenden Menschen wie Joseph Roth stärker als andere durchgerüttelt und entsprechend seine Phantasien der Errettung durch väterliche, überparteilichen Autoritäten forciert haben. Doch wäre Roth ein bloßer Elegiker oder weltflüchtiger Tagträumer gewesen, würde er kein Künstler geworden sein, jedenfalls keiner von Format und Originalität. Den Impuls gab, dass er nichts so sehr fürchtete wie eben jene Geschlossenheit einer fixen Rollenzuschreibung, und sei es die des weltflüchtigen, solipsistischen Träumers. Er existierte, weil er schrieb, und er schrieb, je älter er wurde, desto gefühlsgeladener über traditionelle Lebenswelten der Provinz, worin man einen festen Ort im Sozialgefüge hatte, ohne die Zumutungen der modernen, »abstrakten« Ich-Wahl. Nur schrieb er nicht in einer Klause auf dem Lande, sondern in luxuriösen Hotels, die 85

86

87

Jones 2017, S. 254. Der Befehl war eine fatale Überreaktion auf den sogenannten »Märzaufstand« der Spartakisten, der zwar tatsächlich ein Aufruf zum gewaltsamen Umsturz war, jedoch dilettantisch und mit schwachen Kräften, sodass man ihn problemlos mit polizeilichen Mitteln eindämmen hätte können. Jones 2017, S. 340. Der Name »Sturmabteilung« (SA) leitete sich ab von den Trupps, die 1918/19 gegen linke Revolutionäre eingesetzt wurden (vgl. ebd., S. 341). Jones 2017, S. 342.

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ihm gar nicht westlich genug hätten sein können. Er schrieb im großstädtischen Treiben, in Zügen, unter Menschenmengen, zwischen Abreise und Ankunft, im Kaffee- oder Wirtshaus, dem Inbegriff städtisch-privater, jedoch nicht intimer, verbindender und doch unverbindlicher Kommunikation. Er pendelte, wie Hermann Kesten bezeugt88, mühelos zwischen Plausch mit zufälligen Bekanntschaften, Kollegen und Schreiben. Man staunte, wie charmant er mit jedem ins Gespräch kam. Sofort schien er da, bei diesem Menschen, hier und jetzt, zauberisch einen Kontakt herstellend, und doch war er nie ganz da. Er muss geschickt darin gewesen sein, sich und anderen eminente Anteilnahme, also Bindung vorzuspielen und deshalb als beinahe wirkliche zu erleben. Auf die Art schützte er sich vor ernsthaft verlässlicher Bindung und zugleich vor gänzlicher Bindungslosigkeit. Verlässliche Bindung hätte bedeutet, andere in ihren Vor- und Nachteilen kennenzulernen, sich schrittweise zu öffnen, Grenzen zu setzen und zwischen Simulation und Sein zu unterscheiden. Davor bewahrte ihn der Wechsel von Schreiben und improvisierter Bindung mit zufälligen Bekanntschaften. Aufgrund der Beziehung von Ambivalenz, Ordnung und Bindung lässt sich der Zusammenhang zwischen den gewählten dichterischen Strategien und den generellen Prinzipien der Inszenierung von Selbst und Welt erklären, ohne den Einfluss verbaler Mittel auf Erkenntnisvorgänge und Selbstmodelle zu überschätzen. Die Beziehung ausführlichen Analysen der literarischen Textstrategien zu unterlegen heißt nicht, ein Selbst- und Weltbild würde geschaffen durch eine bestimmte Art, mit einer solchen Ambivalenz-Dynamik umzugehen. Es geht eher um das schreibende Modellieren des Denkens und Wahrnehmens, um poetisches Spielenkönnen mit dem, was im sonstigen Leben unlösbar oder destruktiv ist. Es geht um die feinen Mischungen verbaler Gesten, die Objektivität und Distanz suggerieren mit wortgelenktem Einfühlen in Roths Texten. Die menschliche 88

Vgl. Hermann Kesten, Joseph Roth schreibt Briefe. In: Briefe S. 9–19, hier S. 9f.

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Gabe der Empathie macht möglich, dass solche fiktiven Spiele auf dem Papier keine dürren Abstraktionen bleiben müssen, sondern emotional beinahe so mitreißend wie das gelebte Leben wirken können. Beinahe. Die nachfolgenden, ausgedehnten Betrachtungen von Textdetails beanspruchen dabei nicht weniger als diese Eigentümlichkeiten und Qualitäten des individuellen Schreibkonzeptes Joseph Roths sichtund erfahrbar machen zu können: Satz für Satz, Wort für Wort wird versucht werden, die leitenden Ideen bei der Lenkung der Suggestionen von Präsenz, Abwesenheit, Ordnung von Empfinden, Wertungen, Welt und Individuum nachvollziehbar zu machen, und das ist – so lautet eine weitere, ästhetische These der Neufassung des Buches – essentiell bei einem Dichter, der ebenso kunstvoll wie (selbst-)ironisch simuliert, wie ein mündlicher Berichterstatter oder Erzähler quasi-improvisatorisch, in subjektiver Willkür der Abirrungen und instantanen Rekombination von Sprechelementen den Text schafft. Wir werden dabei erkennen: Roths Adaption mündlichen Erzählens unterschied sich grundlegend vom Standardtyp eines essentiell an Schriftlichkeit gebundenen Textes, insofern (typischerweise) das erlebende Nachvollziehen der hier und jetzt soeben erfundenen nächsten Volte, nächsten Überraschung, nächsten subjektiven Willkür und List im Erfinden Teil des ästhetischen Gesamterlebens werden. Erfahrbar zu machen, wie Roth dieses erlebende Nachvollziehen in dieser artifiziellen Simulation von Mündlichkeit gestaltete, ist ein wesentliches Anliegen gleich der ersten ausführlichen Textbetrachtung, des »Erdbeeren«-Fragments. Roth wäre kein bedeutender Dichter, wenn er lediglich als Trick oder Gefühlseffekt, als »Stil« oder zur Erzeugung des Eindrucks von Lebendigkeit den Habitus des mündlichen Erzählens angenommen hätte. Wir werden sehen, dass ein Faktor der ästhetischen Qualität darin besteht, diese Mündlichkeit artifiziell zu simulieren, ja, sie in ihrer Willkür, ihren Tonbrüchen, ihrem Reduktionismus teils noch zu radikalisieren, dabei jedoch unterschwellige dramaturgische und weltkonstruktive Motive

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einzubauen, die nur dem schriftlichen Kalkül entstammen können. Dieser Schein ist keineswegs eine pure, kalkulierte Täuschung oder Illusion, über die der Erzähler verfügen könnte wie über einen technischen Apparat: Dass immer wieder ein Fluss entsteht, in dem er selbst ganz in der erzählten Welt zu leben scheint (oder schien), ist ebenfalls wesentlich für die Kraft zur Suggestion von lebendiger Wirklichkeit. Die Einzellektüren werden auch den Nachweis suchen, dass nur von dort her die eigentlichen Qualitäten des Schreibkonzepts erschlossen werden können – und damit auch nur, mutatis mutandis, Roths eigentümliche Weise, sich »politisch« zu äußern, zivilisatorische Entwicklungen zu deuten, vormoderne Lebensweltideale und personale Identitäten zu konstruieren etc. Je besser das gelingt, desto entschiedener wird diese Studie die naive Auffassung widerlegen, die Rede des Dichters sei wie eine alltägliche Verständigungsrede aufzufassen, das heißt als eine Darstellungsform, die vorab bereitliegende Meinungen bloß in Sprache übersetzt. Wäre dem so, hätte Roth zu Unrecht behauptet, dass das Schreiben die Basis aller seiner verlässlichen Formen bildete, sich in der Welt zu situieren. Schreiben wäre keine Konstitutions- sondern nur eine Übermittlungsform gewesen; doch genau das, der konstitutive Grund seiner lebbaren Selbst- und Weltmodelle nicht nur für andere, sondern auch und gerade für ihn selbst war der Schreibprozess für Roth. Die unplanbare Wandelbarkeit der Dinge war Roths metaphysisches Postulat, aus dem für ihn die Inadäquatheit allen Beschreibens und die unplanbare Wandelbarkeit des Schreibvorgangs als einzig adäquate Form der Adaption des Erlebten folgen musste, wie wir im Ersten Teil (Kap. »›Die weißen Städte‹: Ich, Welt und Schreibprozess«) sehen werden. Darin liegt etwas Paradoxes, denn das Schriftliche ist das unwiderruflich fixierende Medium – im Gegensatz zu Film und mündlicher Kommunikation und Musik. Wir werden im Ersten Teil sehen, dass der zentrale programmatische, metareflexive Text Roths der mittleren 1920er Jahre konsequenterweise in der-

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selben Sprunghaftigkeit agiert, wie zu sein er der Erfahrungswelt bescheinigt. Durch Addition einzelner, oft formelhafter Elementarsätze, die begründungs- und folgenlos generalisieren, sucht Roth stets die Pointe, steigerte die Ambivalenzen bisweilen zum offenen Paradox89, presste sie in Antithesen, erzeugte laufend den Schein, aphoristisch komprimiert und höchst transparent zu sprechen, und gab augenzwinkernd zu verstehen, alles könne zugleich ganz anders sein. Schon eine solche Andeutung zeigt, dass es nie um bloße Projektion von Ambivalenzen in fiktive Szenerien und Figuren geht, sondern um eine höchst schöpferische Verwandlung, in der die Ambivalenz selbst oft wieder ambivalent behandelt und mitunter regelrecht ironisiert und inszeniert wird – mithin um kunstvolle Ambivalenzen höherer Ordnung. Auf mehreren Ebenen wurde diese Schreibweise getrieben von Ambivalenzen im Verhältnis zur Ordnung und jeder fixierten Identität, also auch der von Aussage, Wahrnehmung, Empfindung, Sache – und zu sich selbst. Dabei kann man diese Schreibweise immer auch als wechselwirkende Kommunikation mit den eigenen, treibenden Lebensenergien, Idiosynkrasien und Selbstmodellierungen literarischer und nichtliterarischer Art deuten. Eine Analogie von Leben und Schreiben Roths lässt sich am Text festmachen. Wir werden in nahezu allen Textbetrachtungen entdecken, dass, wie und weshalb gerade die prima facie taghellen, direkt benennenden und die Sachverhalte unzweideutig ordnenden Elementarsätze sehr oft als verbale Posen und ›Mache‹ zu erkennen sind, mit denen der Autor suggestiv, implizit wertend spielt – das gehört zum Konzept des demonstrativ das mündliche Erzählen simulierenden Schreibens und auf andere Weise zum klassischen Feuilleton, worin Roth seine entscheidenden literarischen Lehrjahre verbrachte. Wichtig dabei ist, dass es keineswegs um ein Übertragen des von Roth im Privatleben fast zwanghaft praktizierten Rollen89

Wirtz 1997, S. 44, nennt das Paradox eine für Roths gesamtes Werk kennzeichnende Stilfigur. Das von der Autorin an dieser Stelle benutzte Textbeispiel belegt das allerdings nur bedingt.

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spielens in textuelle Aktionen handelt. Der Autor Roth, so kapriziös spielerisch er sich gibt, so obstinat er beeindrucken, erheitern, auf Anhieb rühren und Aufmerksamkeit sammeln will durch Prägnanz, demonstrativ infantile und entliehene Benennungsgesten, durch Kompression, raffiniert eingearbeitete Lücken und munter improvisierte Überraschungen, war kein kühl taktierender Simulant, der die Mittel und Gehalte frei auswählen und austauschen könnte. Er war vielmehr gefangen in den Manieren, die allerorten den Schein von transparenter Direktheit und Unverstelltheit erzeugen, und doch die Sache verschleiern, permanent verwandeln und vieldeutig bewegen durch Strudel von Mehrdeutigkeiten und Kippfiguren, Doppelbelichtungen und psychologische Subtexte. Erst in solchen und ähnlichen Deutungsbegriffen lässt sich darstellen, was Roth sowohl als Wandelbarkeit aller Dinge wie als Notwendigkeit des Schreibens meinte, um in der »Welt« Orientierung zu finden. Die typisch Rothsche Erzähl- und Reportage-Rede zeigt und verbirgt beinahe mit jedem Schreibzug, und das auf absichtsvollere Weise, als wir es im gewohnten Reden tun. Sie bannt scheinbar nackte Sachverhalte in kurze Formeln und kindlich schlichte Benennungsakte. Was »Welt« ist, scheint dabei gleichermaßen direkt gegeben oder zugänglich wie zugleich bloßes Spielmaterial für improvisierende Flunkereien und Maskeraden zu sein. Alles ist transparent gegeben in kindlichen Benennungsakten und löst sich, näher besehen, oft auf in eine Vielzahl von Feldern vagierender Polyvalenz, Verschränkungen von raffinierten Aussparungen und unvorbereiteten Setzungen, wie wir andeutungsweise am Beispiel des »Perlefter«-Beginns sahen. Überraschend viele Satzfolgen und Segmente, die klar wie ein konkretpoetischer Text geordnet (sic) und Sachverhalte vermeintlich unverstellt zu benennen scheinen, werden zugleich unterminiert, verflüssigt, kaleidoskopartig gebrochen oder lösen sich in Kippfiguren auf – ohne dass der Schein spontaner Schlichtheit, Direktheit und stilisierter Natürlichkeit je ganz verlorengeht. Die Sehnsucht danach, dass an den wie zwanghaft auf

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Pointe, schlagende Transparenz und Momentaneffekte zugeschnittenen Satzfloskeln und bunten Reigen simpler Benennungsgesten doch ein Stück historische oder Lebenswahrheit fass- bzw. fühlbar würde, war gewiss eine treibende Kraft der Rede über Ich und Welt und Zeit. Man kann vermuten, es sei ein wichtiger Impuls des Rothschen Schreibens gewesen, das, was ihm selbst in direkter Introspektion zu erkennen (oder zu konstruieren) unmöglich war, ein stabiles Selbst mit definiten Mengen von Wünschen, Fähigkeiten, Erfahrungen, eben dies habe er auf dem Umwege über die – imaginierten und tatsächlichen – Reaktionen des Publikums erlangen wollen. Diese Selbstbilder allerdings müssen dann so verwirrend aufgespalten und wiederum unfixierbar gewesen sein, dass es keine direkte Übersetzung geben konnte ins eigene Leben; und das wiederum dürfte die Abhängigkeit vom Leben in schreibender Welt- und Selbstschöpfung nur vergrößert haben. Ordnungen zu entwerfen, in denen Subjekte sinnerfüllt in Gemeinschaft und Welt leben, ohne in fragilen Selbstentwürfen und Desorientierungen zu vagieren, ist an sich noch kein genuin literarisches Problem; es ist eher eine Voraussetzung der freien Selbstbestimmung. Wir entwerfen uns prinzipiell in (zukünftige oder vergangene) Virtualitäten hinein: Wem die Fähigkeit zum imaginierenden Durchspielen des Möglichen fehlt, kann sich nicht wirklich »selbst« wählen. Das Hervorbringen von Möglichkeitsräumen ist eine Bedingung von Freiheit und Selbstbestimmung und damit von Ich-Identität. Wer diesen alltäglichen Vorgang ins Schreiben verlegt, erlebt ähnliche und doch ganz andere Modi der Freiheit, sich zu imaginieren und zu entwerfen: Er veräußert das Imaginationsspiel und macht es langsam, überprüfbar und einkanalig. Er wird abhängig vom fixierenden, einkanaligen, langsamen, monodirektionalen Medium der Schrift. (Zumindest tritt dieses Medium mit besonderen Restriktionen in Spannung zu gefühlshaften und intuitiven und bildhaften Vorstellungen vom Ich und der Welt.) Das Schreiben erzeugt durch

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diese Langsamkeit, Gerichtetheit und Enge andererseits eine Widerständigkeit, die es im bloßen, schrift- und sprachlosen Spiel der Einbildungskraft nicht gibt. Das muss für einen Menschen wie Joseph Roth erleichternd und faszinierend gewesen sein, der vermutlich bei bloßer Introspektion auf keinen fixen Kern im Selbst stieß, nicht einmal auf eine stabile Ordnung von Wünschen, der also gleichsam in ein flüssiges Medium griff, wenn er sich »selbst« wahrnehmen wollte. An die Stelle der nicht vorhandenen oder zumindest nicht fühl- und akzeptierbaren, inneren Ich-Konturen der Person Joseph Roth trat die jederzeit fühlbare Begrenzung durch die langsame, veräußerte Schreibbewegung. Am Text konnte er so arbeiten, wie er es an seinem Selbst nicht konnte – mit Erfahrung und geschultem Urteil, schlussfolgernd und optimierend arbeiten, eine Essenz bildend, gute und schlechte Lösungen gegeneinander abwägend, zunehmende, sinnvolle Ordnungs-Stabilität erzeugend. Gegen diese Fixierung durch Schrift, kann man vermuten, arbeitete dann wiederum Roths Drang zum Verschleiern, zum gewitzten Sich-Entziehen, zur Pose, zur Ironie an und verflüssigte die Gegenstände. Es resultierte die typische Roth-Rede, die in Satzgestik und Schriftbild gänzlich abgeschlossen und fixiert und transparent wirkt, doch in sich hinwiederum oft durchaus paradox und ambivalent gebrochen war, wie wir an vielen Textbeispielen sehen werden. Dabei konnte ein Dilemma, in das jeder Schriftsteller dieser Art gerät, der weitgehend konventionell und illusionistisch über Handlungen, Gespräche, Erlebnisse innerhalb von Ereignisszenerien erzählt, zu einem Vorteil werden: Während eine Person wie Joseph Roth sich im alltäglichen Leben stets fühlen muss, als sei sie kein wirklicher Teil des Lebens – die sichtbaren Scharaden auf der Suche nach Heimat, erotischen Bindungen und religiösen Identitäten sind nur Ausdruck dieses tieferliegenden Identitätskonflikts – und zugleich, als sei sie, entschiede sie sich für einen verbindlichen Ort im Leben, bald nicht mehr »sie selbst« (zumal dann, wenn private Bindungen ins Spiel kommen), so erlaubt es das fiktionale Schreiben,

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beides simultan zu »leben«: Die schreibende Person ist einerseits eine Instanz, die »im« erzählenden Text spürbar existiert, Regie führt, als Stimme, Stil und sogar »in personam« mit wechselnden Namen ihr Auftreten inszenieren kann; andererseits ist sie kein Teil des dargestellten »Lebens«, sondern dessen Schöpfer und Regent; in diesem Sinne also sowohl Akteur, Maske, Regisseur, Teilnehmer und Beobachter, Schöpfer und Geschaffenes. Was im Leben peinigend ambivalent war, konnte im Schreiben zur produktiven Doppelexistenz werden. Nicht nur, aber auch mit diesen Wechselverhältnissen des Lebens und Schreibens kann man es zusammenbringen, dass Roth im Programmtext von 1925 pauschal gegen alle starren, regelhaften, codifizierten, eindeutigen Ordnungen als Medien zur Erschließung der (fernen) Welt polemisierte – und zugleich im konventionellen Erzählen den Ausweg aus Diskontinuität und Unberechenbarkeit der erfahrenen Gegenwart sah. »Die unterschiedlichen Rollen und Etikettierungen, die Joseph Roth zugesprochen oder zugeschrieben und die von Sebastian Kiefer als unvereinbar eingestuft werden, bekräftigen die These des Todes eines identischen Roth.« So las ich in der neueren Roth-Forschungsliteratur90 und war zunächst irritiert, mich in der Monographie mit modischen Phrasen der kulturalistischen (bzw. poststrukturalistischen und postkolonialistischen) Diskurse in Verbindung gebracht zu sehen. Andererseits: Man konnte wohl tatsächlich den Eindruck gewinnen, die Studie zur Rolle der unkurierbaren Ambivalenz Roths im Verhältnis zu fixen Ordnungen der Dinge, der Begriffe, des Ich, der Werte, gehe in eine ähnliche Richtung, wie sie manche postnietzscheanischen und poststrukturalistischen Ideologeme weisen, nach denen alle personale Identität (oder Substantialität) eines selbstbestimmten (»auktoriales«) Individuum eine Illusion (bzw. eine Macht-Ideologie) sei, in Wahrheit alle Grenzen verflössen, Ambiguität und Metaphorizität stets das letzte Wort habe, Schein und Rolle nicht von einer inneren Substanz namens »Selbst« unterscheidbar seien. Nach solchen Ideo90

Bitouth 2016, S. 20.

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logemen ist die Vorstellung, Sätze könnten kriteriell überprüfbar sprachunabhängige Sachverhalte bezeichnen oder es nicht tun, ein ideologisches und illusionäres »Konstrukt« und ebenso die kategorisierenden Unterscheidungen in randscharfe Typen etwa der Geschlechter und Geschlechtlichkeiten oder des kulturell Fremden gegenüber dem wesenhaft Eigenen. Die Metapher vom Tod des Autors ist für mich eine der pseudopoetischen Formeln, aus denen diese Jargons bestehen – wer sich die Mühe macht, begrifflich und empirisch vorzugehen, wird stattdessen vielleicht Wandlungen der sozialen Rollenbilder von Schriftstellern ausmachen. Desgleichen die Rede von Texten als »offenen Artefakten«. Die Metapher der Offenheit wird in solchen Bemerkungen unausgewiesen wertend verwendet – doch in dieser Allgemeinheit ist das Schlagwort tautologisch: Ein Großteil unserer Kultur- und Erkenntnisbegriffe (/Ich/, /Natur/, /Zeit/, /Glück/, /Gerechtigkeit/, /Freiheit/ etc.) und unzählige Redeweisen sind seit Jahrtausenden Gegenstand von Debatten. Texte im Besonderen wären nur dann von sich aus deutungsbedürftig, wenn bei ihnen die kontextuellen Marker, die in der Alltagskommunikation die Bedeutung determinieren, abgeschwächt sind oder sogar ganz fehlen. Als offen per se kann der Sinn eines Textes erst wahrgenommen werden, wenn es keine guten Gründe gibt, dass manche Deutungen treffender sind als andere. Beliebig viele Deutungen gibt es jedoch weder bei schlichten Gebrauchstexten und -begriffen noch bei ästhetischen. Gäbe es beliebig viele, spielte die Individualität des gedeuteten Objektes keine Rolle mehr – diese Individualität ist jedoch auch für Dekonstruktivisten eine notwendige Bedingung von Kunst. Verwandtschaft zu Ideologien, die »Identität« generell rhetorisch und weltanschaulich (oder auch moralisch) unter Bann stellen, würde, wer darauf aus ist, noch viel eher in der vorliegenden Neufassung der Studie ausmachen können, schließlich wird hier das Ambigue, das Diskontinuierliche im Schein eines fortlaufenden Redestroms und Abbildens von Welt ungleich detaillierter vorgeführt.

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Doch just diese textnahen Analysen machen die grundlegende Differenz zu Denk- und Sprechweisen der Dekonstruktivisten und Postkolonialisten deutlich, überhaupt zu allen Gemeinplätzen, wonach das Vieldeutige und Unausdeutbare angeblich ein Kriterium oder sogar eine Qualität des Ästhetischen sein soll. Was Roth schreibend erschuf, war zwar in seiner eigenen Perspektive die einzige Möglichkeit, nicht »verloren« zu gehen und vertraut mit der »Welt« zu werden, dennoch ist das Ergebnis ein genuin literarisches – und als solches nicht wahrer als das alltägliche, sondern von anderer Logik und Zweckbestimmung. Und Ambivalenzen an sich sind nicht das, was nicht einmal die Person Joseph Roth von den meisten anderen Menschen unterschied, sondern nur deren Dauerhaftigkeit und Fundamentalität. Ambivalenzen sind allgegenwärtige Muster der mentalen, insbesondere emotionalen Informationsverarbeitung, der Bewertungssuche und Entscheidungsfindung; sie erfüllen als solche wichtige Zwecke. Es werden z.B. verschiedene Aspekte einer Bindung gleichzeitig aktiviert, um diese zu bearbeiten, ohne vorschnell Entscheidungen für oder gegen eine Seite zu verlangen. Ambivalenz ist jedoch in stabilen Personen gerade kein durchgängiges Muster der Bindung, der Gefühlsreaktion, der Wünsche, des Selbstbildes. Modiziert, nicht ersetzt, wurden die Vorschläge der Erstfassung, wie man die Einbettung von Roths Schreibstrategien in ein reales, mentales Leben und Erleben mit psychologischem Beobachtungswissen verstehen kann – ohne die bedingte Autonomie der sprachkompositorischen Prozesse zu leugnen. Ein bitteres Versäumnis wurde dagegen in der Neufassung korrigiert: die Gründe offenzulegen, weshalb der vorgeschlagene Rahmen zur Deutung des Schreibprozesses, seiner antreibenden Konfliktenergien innerhalb der gesamten, leibhaften, erlebenden Person Moses Joseph Roth das Konzept »Hysterie« aus damaliger, nicht-klinisch vorgehender psychologischer Literatur übernommen wurde – wiewohl der Begriff schon damals unter Klinikern als obsolet galt und zumal hinsichtlich des Judentums und der Geschlechterdifferenz unerträglich belastet ist.

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Die Gründe für die Verwendung haben mit der intuitiven Erfahrungsnähe der herangezogenen, therapeutischen Literatur zu tun, vor allem aber damit, dass Roth selbst der Begriff vertraut war und er sich unter anderem mit diesem weiblichen Verhalten verständlich zu machen suchte. Anschauungsmodell war zuerst das seiner seelisch kranken Gattin Friedl, jedoch keineswegs ausschließlich. Ganz ähnliche Symptome verlieh er auch Frauengestalten seiner erzählenden Texte – bezeichnenderweise nie Männern (wenn man vielleicht Benjamin Lenz im »Spinnennetz« ausnimmt). Roth selbst verwendete Kategorie und Symptomatik so geschlechtsspezifisch (und misogyn), wie es damals noch oft üblich war – wiewohl eben Hysterie (und auch Neurasthenie etc.) um 1900 vermehrt bei Männern diagnostiziert wurde, nachdem bereits Charcot selbst die Hysterie des Mannes fast gleichberechtigt neben die der Frau gestellt hatte91. Wenn ein von mir herangezogener Autor aus dem Lager der populär schreibenden Psychotherapeuten, Wolfgang Schmidbauer, den Begriff allein in seinem Nutzen bei Anwendung auf sein eigenes (männliches) Geschlecht behandelte, war das eine nötige Korrektur, doch nur, was den Gebrauch der Kategorie in der früheren Geschichte und in der heutigen breiten Öffentlichkeit angeht. Das Erklärungsziel dieser Passagen ist ebenso wenig wie damals eine Reduktion der Phänomene auf Psychologie, sondern im Gegenteil der Nachweis, dass der Eigensinn (oder: die Teilautonomie) der sprachkompositorischen Konzepte umso reicher verstanden werden kann, je differenzierter man diese Baustrategien und Konzepte auf das geistige Agieren und Erleben als Ganzes beziehen. Bemerkenswerterweise scheint der eben zitierte, neostrukturalistisch geprägte Roth-Forscher diesen Aspekt des schon in der Erstfassung entwickelten Modells akzeptiert zu haben: »Wenn Kiefer von ›Ambivalenz‹ spricht, meint er auch Roths konfliktuelle Verhältnisse mit Ordnung, Bindung und Autorität. Dabei geht der Verfasser über die einfachen Etikettierungen hinaus, um der Funktion dieser Ambiva91

Mosse 1997, S. 114–6.

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lenz für Roths literarische Kreativität auf den Grund zu gehen.«92 Das ist in der Tat essentiell am Theorem der Ordnungsambivalenz – jedoch nicht etwa, weil so eine Art wahreres Sein jenseits unserer gewohnten Modelle von (»auktorialer«) Ich-Identität oder gesetzhafter Ordnung oder verbaler Weltaneignung sichtbar gemacht oder gar Gericht gehalten würde über unsere alltäglichen Begriffsraster im Namen der Ambivalenz und damit der unfixierbaren Identitäten. Umgekehrt: Weil auf diesem Wege das genuin Literarische im Detail erfahrbar wird, mithin das, was sich gerade dem Typus der Sinnstiftung nach von alltäglichen Welt- und Selbstverhältnissen grundlegend unterscheidet. Es ist eine andere Sinn-Systemlogik. Ihr wenden wir uns am Beispiel des substantiellen Torsos einer poetischen Autobiographie zu, die in der Werkausgabe unter dem Titel »Erdbeeren« verfügbar ist.

92

Bitouth 2016, S. 21.

Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess Ich und Ordnungskonzepte in den Krisenjahren seit 1925 1 »Erdbeeren« Artifizielle Simulation mündlich improvisierenden Erzählens. Oppositionskonstruktionen und Ich-Bilder Es ist nicht leicht zu begründen, weshalb die »Erdbeeren« aus dem Jahr 192993 letztlich unvollendet blieben, so kraftvoll versteht Roth hier noch einmal, seine Herkunftslandschaft vor den Augen des Lesers heraufzubeschwören, ein osteuropäisches k.u.k. Kleinstädtchen mit starker jüdischer Gemeinde. Um unsere ersten Eindrücke des Schreibkonzeptes zu vertiefen, ist der weit gediehene Entwurf besonders geeignet, weil er nicht nur direkt das Problem der (werthaften, symbolischen, lebensweltlichen) Ordnungen und der Ich-Identität thematisch exponiert, sondern das in einer Frische und freien, quasi-mündlichen Sprunghaftigkeit von aneinandergereihten Retortensätzen und Floskeln tut, die besonders eindrücklich ist. Die (teils noch aus der Schule des Feuilletons herrührende) Kapriziosität und Willkür des Aneinanderreihens oft isolierter, elementare Inventarien naiv nennender Sätze verleiht der Rede eine höchst lebendige Qualität, zwischen Klamauk und Pointenraffiniertheit, Willkür, Sentimentalität und manierierter Kulissenschieberei, volkstümelnder Einfalt und Hintersinn, Schlamperei und hochbewusster, listiger Selbstreflexion, Präzision und Kontrollverlust.

93

Zur Quellenlage vgl. den Kommentar Fritz Hackerts. In: IV. 1072f. David Bronsen hat das Manuskript entdeckt und zuerst editiert, s. David Bronsen, Zum ›Erdbeeren‹-Fragment. Joseph Roths geplanter Roman über die galizische Heimat. In: H.L. Arnold (Hrsg.), Joseph Roth. Sonderband Text und Kritik, München 1974, S. 122–131.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Kiefer, Braver Junge – gefüllt mit Gift, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05108-0_2

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Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess

»[1008] Die Stadt, in der ich geboren wurde, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, die spärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos. Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klaren Sommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt. In meiner Heimatstadt lebten etwa zehntausend Menschen. Dreitausend von ihnen waren verrückt, wenn auch nicht gemeingefährlich. Ein linder Wahnsinn umgab sie wie eine goldene Wolke. Sie gingen ihren Geschäften nach und verdienten Geld. Sie heirateten und zeugten Kinder. Sie lasen Bücher und Zeitungen. Sie kümmerten sich um die Dinge der Welt. Sie unterhielten sich in allen Sprachen, in denen sich die sehr gemischte Bevölkerung unseres Landstrichs verständigte. Meine Landsleute waren begabt. Viele leben in großen Städten der alten und neuen Welt. Alle sind bedeutend, manche berühmt. Aus meiner Heimat stammt der Pariser Chirurg, der die alten und reichen Menschen verjüngt und Greisinnen in Jungfrauen verwandelt; der Amsterdamer Astronom, der den Kometen Gallias entdeckt hat; der Kardinal P., der seit zwanzig Jahren die Politik des Vatikans bestimmt; der Erzbischof Lord L. in Schottland; der Mailänder Rabbiner K., dessen Muttersprache Koptisch ist; der große Spediteur S., dessen Firma auf allen Bahnhöfen der Welt zu lesen ist und in allen Häfen aller Kontinente. Ich will ihre Namen nicht nennen. Leser, die eine Zeitung abonnieren, wissen ohnehin, wie sie heißen. An meinem eigenen Namen ist nichts gelegen. Niemand kennt ihn, denn ich lebe unter einem falschen. Ich heiße – nebenbei gesagt – Naphtali Kroj. Ich bin eine Art Hochstapler. So nennt man in Europa die Menschen, die sich für etwas anderes ausgeben, als sie sind. Alle Westeuropäer tun dasselbe. Aber sie sind keine Hochstapler, weil sie Papiere haben, Pässe, Ausweise und Taufscheine. Manche haben sogar Stammbäume. Ich aber habe einen fal-

1 »Erdbeeren«

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schen Paß, keinen Taufschein, keinen Stammbaum. Man kann also sagen: Naphtali Kroj ist ein Hochstapler. In meiner Heimat brauchte ich kein Papier. Jeder kannte mich. Dem Bürgermeister putzte ich die Stiefel, als ich sechs Jahre alt war. Als ich zwölf alt wurde, kam ich zu einem Barbier. Da seifte ich den Bürger- [1009] meister ein. Mit fünfzehn wurde ich ein Kutscher und fuhr den Bürgermeister am Sonntag spazieren. Wir hatten dreizehn Polizisten. Mit allen trank ich Schnaps. Brauchte ich da Papiere? Außerhalb der Stadt versahen Gendarmen den Dienst. Ihr Wachtmeister schlief mit meiner Tante jeden Donnerstagnachmittag, wenn er frei war. Ich schmuggelte manchmal Schnaps in die Stadt, aus der Umgebung – was verboten war und verzollt werden mußte. Die Zollwächter aber bekamen einen Wink vom Gendarmeriewachtmeister und ließen mich passieren. Also stand ich in meiner Jugend mit den Behörden gut. Später wurde es anders. Andere Zeiten kamen und andere Behörden. Ich glaube, daß bei uns zu Hause niemand Papiere hatte. Es gab ein Gericht, ein Gefängnis, Advokaten, Finanzämter – aber nirgends brauchte man sich zu legitimieren. Ob man als der oder jener verhaftet wurde – was machte es aus? Ob man Steuern bezahlt oder nicht – wer ging daran zugrunde, wem half man damit? Hauptsache war, daß die Beamten zu leben hatten. Sie lebten von Bestechungen. Deshalb kam niemand ins Gefängnis. Deshalb zahlte niemand Steuern. Deshalb hatte niemand Papiere […]« (IV. 1008–9) Viele dieser naiven, munter parlierenden Sätze wirken wie zerstreut eingeflochten, als folgten sie bloßen Momentlaunen eines eher kapriziösen, sich über die eigenen Entscheidungen, Überraschungen, Überspitzungen amüsierenden, mündlichen Erzählers. Manche da-

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Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess

von sind geradezu albern generalisiert wie »Meine Landsleute waren begabt« oder »Alle sind bedeutend, manche berühmt«. Derlei Sätzchen wirken wie Kapriolen, Späßchen oder bloße Momentreize in einem bunten Flickenteppich aus improvisiert aneinandergereihten, gesichtslosen Retortensätzen, die weniger gesagt als probeweise inszeniert und ausgestellt wirken – augenzwinkernd das Einverständnis des Lesers suchend, dass das alles nicht so ganz wörtlich zu nehmen sei. Auch wenn mitunter (man erinnere die Verwendung dieser Strategie im »Perlefter«) wieder ganz konkrete Details eingestreut werden, wird hier nichts beschrieben im eigentlichen Sinne, nichts begründet, ausgeführt, ausgemalt. Vielmehr werden in demonstrativer Willkürlichkeit improvisierend bloße Benennungen isolierter Details gereiht. So auch die eingestreuten, lose einen zuvor angerissenen Erzählstrang wieder aufgreifenden Sätze am Anfang des fünften Absatzes: »In meiner Heimat brauchte ich kein Papier. Jeder kannte mich. Dem Bürgermeister putzte ich die Stiefel, als ich sechs Jahre alt war. Als ich zwölf alt wurde, kam ich zu einem Barbier. Da [sic] seifte ich den Bürgermeister ein [!]. Mit fünfzehn wurde ich ein Kutscher und fuhr den Bürgermeister am Sonntag spazieren. Wir hatten dreizehn [!] Polizisten. Mit allen trank ich Schnaps. Brauchte ich da Papiere?« »In meiner Heimat brauchte ich kein Papier. Jeder kannte mich« knüpft an die Aufzählung der verwaltungstechnischen Ausweispapiere im Absatz zuvor an – und damit an den bröckchenweise erläuterten Gegensatz Osten-Westen. Die entscheidende neue Wendung liegt in einem Detail: Plötzlich ist nicht mehr von Papieren die Rede, sondern davon, in der Heimat »kein Papier« zu benötigen. Dem Habitus des quasi-mündlichen, scheinbar arglos kindlich benennenden Erzählens zuliebe wischt man den Gedanken fort, die Mehrdeutigkeit des Papiers im Eingangssatzes könne etwa ein kalkulierter, strukturell motivierter Doppelsinn sein. Es scheint der Methode des

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sprunghaft herausgreifenden, elementaren, in Oppositionen wie kein-jeder sich improvisatorisch fortbewegenden Erzählens folgend einfach auf den Common Sense vertraut zu werden, der die punktuellen Details automatisch zu den ›gemeinten‹ Gegenständen vervollständigt: »Papier« seien die Papiere im Sinne von persönlichen Dokumenten, die am Ende des vorangegangenen Absatzes aufgezählt wurden. Andererseits: Brauche ich kein(e) Papiere, weil man in dieser Lebenswelt keine polizeilichen Ausweise von mir verlangte – oder weil ich selbst kein solches Papier »brauche«, da ich hier auch ohne formellen Taufschein und Personalausweis weiß, wer ich bin? Beides, werden wir sehen, ist der Fall – doch unglaublicherweise dürfte das Nicht-Brauchen von Papier auch meinen, »ich« bedürfe hier in der vormodernen, osteuropäischen Kleinstadt keines bedruckten oder zu beschreibenden Papiers als Medium, um mich »selbst«, die Gemeinschaft und die Welt zueinander in lebbare Verhältnisse, ich-erzeugende soziale Bindungen zu setzen. I Die epistemische und ästhetische Rolle der Generalisierungen und Oppositionsfiguren Thematisch gesetzt und damit also schriftlich auf Papier, wenngleich in der Fiktion, papierlos mündlich zu sprechen, wird in »In meiner Heimat brauchte ich kein Papier. Jeder kannte mich« der (deutlich wertend vorgetragene) Gegensatz persönlicher, leiblich realer Kommunikation bzw. Vertrautheit in überschaubaren, gewachsenen Gemeinschaften und der sozialen Einbindung in Gestalt von Papieren im Sinne von Verwaltungsinstrumenten (Ausweispapiere, Registraturen, Gerichts- und Polizeiakten etc.). Wie so oft aber ist, was zunächst eine klare, sachliche oder logische Beziehung zweier aufeinanderfolgender Sätze scheint, näher besehen verwickelt, vieldeutig, erklärungsbedürftig. Sie macht zunächst den Eindruck einer Begründung: Weil jeder den Erzähler in der Heimat kannte, brauchte er dort

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»kein Papier«. Sehen wir vom auffälligen Singular ab, so ist es offenbar unsinnig zu behaupten, das Brauchen von Papieren und das Von-jedem-Gekanntwerden schließe sich aus. Ebenso ›unlogisch‹ im Sinne einer stringenten Entwicklung von Stoffen, Gedanken, Absichten ist der Fortgang zum dritten Satz: »Dem Bürgermeister putzte ich die Stiefel…«. Dass man zu einem einzigen Menschen des Ortes in einer Dienstbeziehung steht, hat nichts damit zu tun, dass angeblich jeder einen kannte – und eine kindliche Dienstbeziehung lässt sich nicht im qualifizierten Sinne als »kennen« verstehen. Ob die von Roth häufig verwandte Umschrift einer Redewendung – hier des Stiefelputzens als Metapher für Abhängigkeit schlechthin – eine ironische Note hineinbringt, kann zunächst außer Betracht bleiben. Das /kennen/ meint hier jedenfalls etwas ganz Unqualifiziertes, Unpersönliches, das Kind »kannte« eben den Bürgermeister, wie man einen Ladenbesitzer am Ort oder das Bahnhofsgebäude kennt. Diese Art »kennen« ist völlig unabhängig von der Tatsache, dass man Ausweispapiere besitzt oder nicht, egal ob sie ein Kennenlernen im Sinne von Erfahren mancher persönlicher Eigenarten im Dienst einschließt oder nicht. Auch heute würde niemand von seinem Friseur oder Taxifahrer verlangen, sich polizeilich auszuweisen. So sehr ein solcher Text mit Oppositionsfiguren zu operieren scheint – näher besehen sind die Antagonismen sachlich nicht recht. Wir werden noch öfter beobachten, dass solche Fragwürdigkeit insinuierter Gegensätze und Ding-Ordnungen im kindlich klaren Reden zum (teils bewusst, teils wohl unbewusst eingesetzten) Charme der Rothschen Rede gehört. Die Oppositionen etwa von sehr bestimmten Konkreta oder Possessivpronomen zu Generalisierungen, so fragwürdig sie näher besehen sein mögen, strukturieren jedoch Roths Rede an der Oberfläche wie eine abstrakte Farbkomposition: »In meiner Heimat brauchte ich kein Papier. Jeder kannte mich. Dem Bürgermeister putzte ich die Stiefel, als ich sechs Jahre alt war.« Dergleichen wird von Roth häufig verbunden mit zwar intuitiv angewandten, jedoch deutlich formalen Prinzipien. Entweder der ana-

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phorischen Struktur oder Variationsreihen oder umgekehrt des Wiederholungsverbotes. Letzteres ist in den drei zitierten Sätzen der Fall. Am Ende wird dieses Segment in sich gerundet durch eine colloquialsprachliche Rückkehr zum anfänglich gesetzten Elementarkontrast: »Wir hatten dreizehn (!) Polizisten. Mit allen trank ich Schnaps. Brauchte ich da Papiere?« Der Leitfaden der /i/-/a/-Assonantik ist evident; derlei gehört zur Inszenierung eines heiteren, spontan plappernd assoziierenden Spiels mit Worten bzw. Materialien. Dabei ist genau besehen die Art des Aussparens von Spezifikation (einer Variante der Zentrierung in Generalisierungen+Singularisierungen) wesentlich für die Qualität des Benennen-Stils. »Papiere« können hier wiederum alle möglichen Papiere sein, auch wenn der weitere Kontext nahelegt, darunter Ausweispapiere zu verstehen. Beide Mittel, das bloß singularisierende Nennen isolierter Einzelgegenstände (und Namen) wie das prinzipielle Generalisieren sind nicht nur Mittel der Alltagsrhetorik, sondern ähneln in der von Roth bevorzugten Form auch Mitteln des Märchens, volkstümlicher Fabeln, Kinderliedern u.a. Auf Dauer gestellt, würden sie unerträglich, mechanisch, steril, manieriert, preziös und ohne Suggestionskraft – wenn nicht Roth (erstens) all seine Erfindungsgabe dareingesetzt hätte, innerhalb des festen Rahmens ein Höchstmaß an Variabilität, Überraschung, Beweglichkeit, Farbigkeit herzustellen. Und wenn Roth nicht (zweitens) immer auch Regie über die Empathie des Lesers, die Schein-Relationen zwischen den einzelnen Aussagen und über das Ungesagte führen würde. Und wenn Roth nicht (drittens) jederzeit untergründig das hochkonstruktive Kalkül des Autors in mehreren Dimensionen spüren ließe – während die manifesten Worte als quasi-improvisierte Inszenierungen erscheinen, als nur bedingt kontrollierbare Kulissen, um darin ein bewegliches Stück im Gedankentheater des Lesers zu erzeugen. Der Wortlaut vieler Segmente wie der zitierten erscheint dabei jeweils als eine Phase, eine

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Erscheinungsform oder ein Aggregatzustand unter vielen gleichermaßen möglichen. Dieser Eindruck ist wesentlich für die poetische Gesamterfahrung, in der eine oberflächliche, kindliche, neo-orale Elementartransparenz durchdrungen ist von willkürlich konstruktiven Mitteln wie Oppositionsfiguren und Schein-Antagonismen, Generalisierungen, Da-ist-x-Gesten und der Insinuation der ›Flüssigkeit‹ und Wandelbarkeit aller Dinge. Wie subtil Roth ein drittes Element, die Oppositionsfiguren in Literatur verwandeln konnte, haben wir andeutungsweise schon am Beginn des »Perlefter« gesehen. Auch im Anfang der »Erdbeeren« sind sie offensichtlich fundamental: »Die Stadt, in der ich geboren wurde, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, die spärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos. Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klaren Sommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt.« Bevor wird die wunderbar feine Ausgestaltung dieser Opposition betrachten, können wir eine Vermutung über den tieferem Zweck dieser Oppositionskonstruktionen formulieren, über ihre Rolle in der ästhetischen Modellierung von Selbst und Welt: Sie sind dem Schein nach Übersichtlichkeit, Proportion und fixierbare Ordnung schaffende Gegenmittel zu jenen anderen Kräften der permanenten Verwandlung, der Unfixierbarkeit aller Wünsche, Wertungen, Ordnungen und damit auch von Ich-Entwürfen. Auf sprachkompositorischer Ebene sind diese Übersichtlichkeit schaffenden, oft mit – komisch, aphoristisch oder kindisch akzentuierten – Rhetoriken der Übertreibung, Zuspitzung, Überpointierung verbundenen Instrumente Gegenkräfte zur Willkür, mit der (scheinbar) isolierte Einzeldinge selektiert und sprunghaft assoziierend gereiht werden: Die Einbettung in elementare Gegensätze von Diesda-Gesten und Generalisierungen schafft einen als spielend, tanzend, scherzend, täuschend präsentierten Schein einfachster, klarer Orientierungen, einen Schein von Transparenz und Verbindlichkeit. So scheint man eine einfachere, klarer metaphernfreie Beziehung von Ich und Welt als in vermeintlich lapidaren Berichtsätzen wie »Die

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Stadt, in der ich geboren wurde, lag im Osten Europas« kaum herstellen zu können. Alle weiteren Sätze kann man jedoch als zunehmend in sich verstrickte Entfaltungen der Implikationen dieses Satzes verstehen. Mit jedem Satz gerät die dargestellte Ich-Welt in neue Schwebungen, Latenzen und Bezüglichkeiten, bis das, was hier »Ich« sagt und was »Ich« und »Welt« ist, in schwingende Gewebe mehrerer Schichten aufgelöst ist. Roth selbst hat sein Schreiben manchmal mit nicht unähnlichen Metaphern wie diesen beschrieben, wie wir im nachfolgenden Abschnitt sehen werden. Jeder neue, einfach nennende Satz stellt sich gleichsam immer auch dieser Auflösungstendenz in bewegte Bezüglichkeitsmuster entgegen. Oppositionsfiguren schaffen dabei zudem einen Schein von begründetem Abwägen oder vielleicht gar rationaler Urteilsfähigkeit und witzig souveräner Kontrolle über die Materialien und die schreibend gesuchten Ordnungen der Dinge, der Worte, Gefühle und Wertungen. Die hervorgebrachte Ordnung war für Roth letztlich nie bindend und rational entwickelnd zu ordnen. Oppositionsfiguren sind in dieser Welt Instrumente, um Gestaltlosem Gestalt zu verleihen, unklare Relationen zu vereindeutigen, Untrennbares zumindest in der Wortsprache zu trennen, Vieldeutiges zu bannen – Instrumente, die darunter leiden, dass sie, mag der Schein der sachlich-objektiven Rationalität noch so groß sein, subjektive Ordnungsmuster sind, und doch den Schein genießen, die Welt könnte vielleicht eines Tages (wieder) so sein, wie man sie erzählt oder poetisch darstellt. Und die vor allem sogar diesen Anhauch von Utopie durch ihre persistente Selbstironie und das listige, turbulente Spiel mit den Unterminierungen oberflächlicher Aussageklarheit allermeist brechen. Während Oppositionsfiguren, Generalisierungen und »Da«-Benennungen zumindest einen Schein von Klarheit erzeugen können, hätten Versuche, die Details von Wahrnehmungseindrücken, Zuständen, Wertungen, abwägend verbal festzumachen oder sie gar planvoll zu »beschreiben«, Roth in unlösbare Wirrnisse der Unent-

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scheidbarkeit, des Zugleichs von Abwehr und Sehnsucht, Verlangen und Abwertung geworfen. Er hätte durch Beschreibung niemals den Schein erzeugen können, sein obsessiver Trieb zum Witz der Zuspitzung, Satire, komprimierenden Reduktion etc. verfüge über den bearbeiteten Stoff – der stets in Wertungen, Emotionalisierungen, Begehrnissen, Dingordnungen, Ich-Entwürfen u.a. besteht. Der wichtigste metareflexive Text der Umbruchszeit in der Mitte der 1920er Jahre, dem wir uns im nachfolgenden Abschnitt zuwenden werden, ist denn auch eine programmatische Zurückweisung des »Beschreibens« wie überhaupt aller Versuche, die Welt mit System und Plan zu erschließen. Das »Erdbeeren«-Segment, welches mit »In meiner Heimat brauchte ich kein Papier« eingeleitet wird, entfaltet zunächst in Gestalt von Variationen das Motiv des »Jeder-kannte-mich-ohne-Papier« am Beispiel der Erwerbsarbeit: Die leibliche face-to-faceKommunikation verwandelt sich in mehrere körperlich unmittelbare, ohne Schriftvermittlung auskommende Arbeitsbeziehungen innerhalb der örtlichen Sozialhierarchie und am Schluss findet die leibliche Einbindung des Heranwachsenden in die Sozialhierarchie ihre humoreske Erfüllung im gemeinsamen, körperlich realen Schnapstrinken mit einfachen Repräsentanten des Staates, »Ordnungshütern« – mit der Pointe, dass das Schnapstrinken zugleich derealisiert. Entscheidend ist wiederum die Regie über das Unausgesprochene in der witzig minimalisierten Punkt-Punkt-KommaStrich-Darstellung der Geschichte der Sozialisation: Anfangs muss der Erzähler im Kleinkindalter subalterne Dienstleistungen für hohe Funktionäre der Ortshierarchie ausüben; am Ende darf er als Zeichen von Anerkennung Schnaps mit anderen Amtsträgern des Ortes trinken. Das ist eine burleske Version eines Männerrituals, und vor allem auch eine List bezüglich der Opposition von leiblichem Leben und »Papier«: Gemeinhin war (in einem verwaltungstechnisch ausgearbeiteten Herrschaftsgebilde wie dem Habsburgerreich um 1900) Papier das Medium, um Polizisten in ihr Amt zu bringen, ihr Gehalt

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zu verwalten, und deren Geschäftsgrundlage für die Überwachung und Sanktionierung des Gesetzes. Ohne Papier und gesatztes Recht ist ein Polizist auch und gerade in einer provinziellen Verwaltungsstadt wie der von Roth anskizzierten wenig oder nichts. Das würde in Roths Konstruktion eines Antagonismus von Papier (bzw. exakter Strukturierung und Identifikation) und leiblich real integriertem Gemeinschaftsleben jedoch nicht passen – und so stellt er die leiblichreale Verbindung mit den Polizisten auf dem Wege des Alkohols her, statt auf den Wegen, die für gewöhnlich einen Polizisten der modernen Welt erst zum Polizisten machen. Was dabei komödiantisch um- und überspielt wird, ist tiefer gesehen etwas anderes, vom Dilemma der Ambivalenz bestimmtes: Roths Denken und Schreiben in Oppositionsfiguren lebte davon, dass es keine Vermittlung zwischen den Antagonisten geben darf. Sie müssen märchenhaft oder komisch oder paradox ineinander umschlagen. Die Polizisten wären für gewöhnlich die Vermittlung beider Sphären: Papier und leibliche Einbindung. Dort, wo sie eigentlich zusammentreffen und sich vermischen müssten, in der Kommunikation mit Polizisten, muss der Witz die Vermischung verhindern! Und dieser Witz ist frappierend genau gestaltet: Der Abschlusssatz des Textsegments lautet nicht, wie man angesichts des singularisch feststellenden Eingangssatzes (»In meiner Heimat brauchte ich kein Papier«) erwarten würde, so: »Dafür [für das gemeinsame Trinken] brauchte ich kein Papier«; und auch nicht »In meiner Heimat brauchte ich [generell] kein Papier«. Roths Abschlusssatz fragt: »Brauchte ich da Papiere?« Der Unterschied von Singular und Plural ist hier so entscheidend wie das zeigende »da«! Denn: »Papier« ist das bloße Material, mit dem man alles Mögliche tun kann. »Papiere« dagegen sind ferner vielleicht alle möglichen Verwaltungsakten, Register, Urkunden, im normalen Sprachgebrauch aber, zumal in Beziehung auf Provinzpolizisten, vor allem die persönlichen Papiere zur »Feststellung der Identität«.

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Der nachfolgende, sechste Absatz beginnt mit einer neuerlichen, aus Oppositionsfiguren gewonnen Pointe: »Außerhalb der Stadt versahen Gendarmen den Dienst.« Das ist nicht bloß lustig der Nebentöne wegen in der etwas papierdeutschen Formulierung »seinen Dienst versehen« – eine Idiomatik, die wie so oft bei Roth, ihre Herkunft aus einem Wort- und Lautspiel zu erkennen gibt, hier der vielen a-s-r-d-Assonanzen. Sondern auch durch die wiederum witzig invertierte Opposition: Außerhalb der Kleinstadt in der unübersichtlich weiten Landschaft werden Gesetze offenbar befolgt, zumindest wird ihre Einhaltung von der Polizei kontrolliert – innerhalb der Stadt dagegen, wohin die Polizisten doch eigentlich als Repräsentanten von Staat, Recht und Gesetz gehören, versehen sie gerade keinen »Dienst«, eben weil hier das Gesetz offiziell gilt, doch von niemandem (innerlich) be- und geachtet wird. Wer in der Stadt dagegen realiter dient, das ist er selbst, der Erzähler – jedoch nicht am gesatzten, sanktionierbaren, offiziellen, verschriftlichen Gesetz, sondern ungeschriebenen Konventionen der leiblich realen, nicht schriftvermittelten, traditionellen Lebenswelt folgend. Wie so häufig, spielt Roth auch hier das implizite gegen das explizite Recht und soziale Normensystem aus – was in aller Regel Selbsttäuschung impliziert, da die Implizitheit oder Unbewusstheit keineswegs mehr Freiheit und weniger soziale Kontrolle bedeutet, sondern umgekehrt, mehr Unfreiheit und wechselseitige Kontrolle und weniger Wahlfreiheit und individuelle Entfaltungsmöglichkeit für den Einzelnen. Uniformen verleihen Trägern Rang, Ansehen, Männlichkeit und einen fixen Ort, eine Aufgabe in der Ordnung. Roth war fast neurotisch fixiert auf diese Funktionen; sie spielen in den späteren Erzählwerken bedeutende Rollen. Der fünfte Absatz, der die Sozialisation des Erzählers minimalistisch darlegt, unterwandert diese äußere Repräsentationsordnung – da ja die Vereinigung mit den Polizisten nonverbal und papierlos und subversiv erfolgt und das Barbieren vor allem ein »Einseifen« auch im übertragenen, komischen Sinne ist.

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Es ist, als wäre die Funktions-, Macht- und Repräsentationsordnung nur etwas Äußerliches gegenüber einer wahren inneren Ordnung, oder als dienten – so ist es in vielen späteren Erzählwerken Roths – Uniformen und Hoheitsabzeichen vor allem Dekorationszwecken oder einer kollektiven Schauspielerei, allenfalls noch wie Trikots einer Sportmannschaft, die optisch eine Zusammengehörigkeit in einer Spielanordnung sinnfällig machen. Das ist ein erträumtes Ideal von Lebens- und Wert-Ordnung, dem wir in Roths Werk in kleinem Format und in historischen Konstruktionen mehrfach begegnen (werden): als direkter, wenngleich gern ironisch variierter Ausdruck der inneren Ambivalenz im Verhältnis zur Ordnung, das heißt, zur Verbindlichkeit, Eindeutigkeit und fixierbare Identität erzwingenden Kraft des Gesetzes. Roths sentimental besetzte, doch nur durch seine besondere Art des Schreibens erzeugbare Lebenswelten sind in dieser Hinsicht solche, in denen jeder jeden kennt, doch innerlich alle in Parallelwelten leben. Dass die Auswahl und Reihung der Elemente, Leerfloskeln, willkürlichen Generalisierungen, albernen Behauptungen, lässlichen Flunkereien so willkürlich erscheint, müsste eigentlich auch bedeuten: Das, was man »Identität« des Erzählers nennen würde, sei nicht etwas, das vor Beginn des Schreibaktes gewusst und hernach nur mehr verbal vermittelt wurde, sondern in erheblichem Maße eine Folge des willkürlich montierten Materials. Roth selbst hat seine Art des Erzählens – und ausgerechnet anlässlich des oberflächlich ganz mit realen politischen Haltungen befassten Kurzromans »Rechts und Links« – einmal gegen die Gier des Lesepublikums verteidigt, im Text die alltägliche, äußere Wirklichkeit und einen psychologischen »Realismus« wiederzufinden, wie man ihn von der »Epik seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu Proust und André Gide« gewohnt sei. In seinem Roman dagegen finde der Leser keinen solchen Stoff wieder: »Das Rohmaterial sinkt also in meinen Büchern zur Bedeutungslosigkeit einer Illustration. Einzig bedeutend ist die Welt, die ich aus meinem sprachlichen Material gestalte (ebenso wie ein Maler mit

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Farben malt). Ein Vorgang also, auf den der Leser pfeift. Und man darf den Leser nicht pfeifen lassen […]« (III. 131). Zum Rohmaterial herabsinken muss heißen, der Erzähler ist ebenso souveräner Spieler mit Willkürzügen und Diskontinuitäten, wie er durch dieses Spiel allererst selbst den Verlauf der Geschichte erfährt – und damit auch jenes »ich« erst kennenlernt, das er zumindest für die Dauer dieser Geschichte lang ist. Die Willkür wird zwar immer wieder konterkariert durch konstruktive Elemente wie die erwähnten Oppositionen von Singularisierung und Generalisierung, von »Papier« und leiblicher Gemeinschaft; doch diese konstruktiven Elemente werden auch ihrerseits oft in ihrer Willkürlichkeit herausgestellt und ironisiert, während sie für Zusammenhalt und eine gewisse Entwicklungslogik sorgen. Auch und gerade deshalb sprach Roth ganz zu Recht von einem Bedeutungsloswerden der Rohmaterialien im Schreibprozess. Der Zusammenhalt wird im behandelten »Erdbeeren«-Segment tatsächlich nicht aus einem konkreten, historischen stofflichen Einfall, sondern durch die quasi-montierende Materialienanordnung hergestellt. Es werden wie in einer abstrakten Materialanordnung Typen bzw. Klassen von Basiselementen angeordnet, deren konkretisierende Füllung mehr oder minder beliebig scheint – und auch so, spielerisch ironisch flunkernd, präsentiert. Zum ästhetischen Reiz eines Segmentes wie dem zitierten gehören dann umgekehrt die Weisen, wie die konkreten Namen und Daten benutzt werden, im Modus einer aus beliebigen Retorten gezimmerten, löchrigen, luftigen Attrappe eine Sozialisation eher indirekt darzustellen – ohne sie eigentlich zu beschreiben, auszumalen, zu erläutern, sondern allein durch die Regie über die Leerstellen eine Art abstraktes Bild des Aufwachsens zu erzeugen, das seinen Sinn und Reiz aus der Regie über das Implizierte gewinnt. Es wird durch die kindlichen Nennensgesten und den Improvisationsgestus ebenso wie durch die konstruktive Dimension entwirklicht, in eine Schwebe des ironischen Halbernstes gebracht und scheint doch so unmittelbar wirk-

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lich zu sein, dass man auf die dargestellten Dinge zeigen könnte wie auf eine Häuserzeile vor Augen. Die konstruktive Idee dieses Bildes einer kindlichen Sozialisation im osteuropäischen Provinzstädtchen beruht vor allem auf diesen Implikationen: Innerhalb der kleinstädtischen Welt lassen sich die wenigen Möglichkeiten eines armen Kindes, die unweigerlich zunächst in einfachen Diensten für Wohlhabendere liegen, am ehesten veranschaulichen, wenn man sie dem zumindest formaliter mächtigsten Mann am Ort, dem Bürgermeister gegenüberstellt. Das ist die nächste Opposition: Armes Kind, niemanden repräsentierend als sich selbst – Eltern und Freunde spielen wie meist bei Roth keine Rolle –, versus höchster Amtsträger und Repräsentant einer positiv fixierten Rechtsordnung – die auch in einem Provinzstädtchen damals auf Papier festgehalten war. Kind versus Alter, Ohnmacht versus Macht, Randständigkeit versus Zentralität wären andere, implizite Dimensionen. Auch hier kommt der Amtsträger nicht in seiner realen Funktion, sondern nur wie ein pittoresker, heiterer Farbklecks oder ein Umrissschema einer malerischen Momentaufnahme vor. Oppositionen tragen praktisch jeden Satz und jede Satzfolge, etwa: »[…] kein Papier. Jeder kannte mich«: Darin stecken neben der (prekären) Basisopposition von Papier und (leiblichem) Kennen die Oppositionen des Meinseins und der objektiven Ortschaft, von Ich und Allgemeinheit, Kollektiv oder Gesamtheit (jeder kannte mich). Weitere, eher paradoxe Oppositionen wären die des Jederkennt-mich und der Namenslosigkeit des Kindes: Letztere korrespondiert in der erzählten Welt mit der Namenslosigkeit des Bürgermeisters, des Barbiers und der Polizisten sowie des Ortes, womit der Erzähler im Kindesalter der erzählten Welt angehört – während er dem Leser und nur ihm (!) gegenüber sich einen künstlichen Namen gibt (genauer: zu geben scheint, s.u.). Es entsteht eine (»westliche«) Kommunikationseinheit Erzähler–Leser, die der (weitgehend) »namenlosen« Kommunikation der erzählten Ost-Welt kontrastiert. Das verleiht der erzählten Welt der osteuropäischen Kleinstadt eine Aura

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leiblicher Selbstverständlichkeit, Reinheit, Unverstelltheit, Typik, Elementarität der hierarchischen Ordnung von sozialen Rollen und Werten, der die symbolisch und medial vielfach vermittelte Welt des Papiers gegenübersteht. Der Erzähler war und ist jedoch, beglaubigt durch seinen eigenen, neo-oral erinnernden Erzählstil, zugleich Bewohner der Gegenwelt. Das heißt: Die quasi-Oralität des Erzählens bildet das Verbindungsmedium: Es lässt teilhaben an der leiblich unmittelbar einbindenden, vorindustriellen, überschaubaren, gewachsenen und nicht nach Effizienzgesichtspunkten gemachten Ostwelt – und stellt auf einer anderen Ebene eine Gemeinschaft mit dem Leser hier und jetzt her. Die heiter improvisiert herumspringende Darstellung der Mannwerdung des Erzählers beginnt mit einer minimalen Benennung einer konkreten Dienstbeziehung (Stiefelputzen); um diese zu beglaubigen, wird eine konkrete Zeitangabe (sechs Jahre) beifügt. Auch das sind Kontrastkonstruktionen, die Roths anti-deskriptive Schreibweise auszeichnen: Der gesichts- und (weitgehend) eigennamenlosen Typik von Heimat, Personen, Beruf stellt er definite, individualisierende Angaben (wie z.B. Jahreszahlen, Namen der Berühmtheiten etc.) entgegen. Ihre dem ersten Anschein nach authentizitätsverbürgende Kraft wird gebrochen, insofern der Erzähler indirekt offenlegt, wie er auf die Jahresangaben kommt: Diese Sozialisation in 3 prototypischen Dienstkonstellationen beginnt mit dem Alter von 6 Jahren – das Doppelte der Anzahl von Berufen. Das Alter des Jungen zur Zeit des zweiten Berufs gewinnt der Erzähler, indem das Alter zur Zeit der ersten einfach verdoppelt – und dem kindlichen Helden nun einen (neuen) Beruf zuordnet, der ihn wiederum in leibliche (manuelle) Beziehung zum Bürgermeister bringen kann. Dieser fünfte Absatz der Romanexposition realisiert ein Standardelement konventionellen Erzählens, die Exposition des Helden und seiner Welt durch Darstellen seines Aufwachsens und seines Bildungsganges – in einer minimalisierten Konstellation, gleichsam mit viel leerem Raum um die putzigen Einzelelemente herum.

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Diese werden infantil reduziert, willkürlich zusammenfügt und doch durchkonstruiert mit einer Fülle von Oppositions- und Kontrastfiguren und ad hoc erfundenen und vorübergehend angewandten Fortsetzungsregeln. Mit ihrer Hilfe wird eine präzise Regie über das nicht ausdrücklich Gesagte möglich, und bei aller Kindlichkeit und Reduktion eine überraschend genaue, wenngleich fortlaufend modifizierbare, flexible Entwicklungslogik: Schuhputzersein ist die niedrigste Tätigkeit mit dem geringsten Bildungsanspruch innerhalb der drei Berufe. Das Barbieren setzt bereits eine Ausbildung voraus – die Berufswahl ist ansonsten natürlich willkürlich, es hätten auch andere Professionen sein können, doch diese Wahl scheint die Folge des komödiantischen Wortwitzes mit der Redewendung »jemanden einseifen«. Diese Redewendung wiederum wird zur humoresken Chiffre für die zunehmende Autonomie und das gestiegene Selbstwertgefühl des Kindes – nur eben sind oder scheinen diese aus einem Wortspiel hervorgegangen. Ähnliche Fälle gibt es zahllose in Roths Prosa. Sie sind besonders augenfällige Beweise für die Triftigkeit seiner (oben erwähnten) Behauptung, dass die Wirklichkeit ihm bloß bedeutungsloses Rohmaterial seiner sprachlich gestalteten Welt sei. Die dritte Station der antagonistischen Konstellation Kind–Bürgermeister würde man, die vorhergehenden Altersschritte {6,12} fortsetzend, bei 18 erwarten. Ginge der Erzähler so mechanisch vor, legte er jedoch die Willkür der Konstruktion soweit offen, dass die Illusion von erzähltem Leben zerstört würde. Zudem ist man in einer damaligen Kleinstadt, außerhalb der Bildungsschicht, mit 18 längst über das Alter hinaus, in dem ein Kind noch lernt. Daher halbiert der Erzähler kurzerhand den Jahresabstand von 6 auf 3 Jahre. Drei an der Zahl waren jedoch auch die Stationen des Dienens, und die 3 wird auch hernach sofort benutzt und im Satz »Wir hatten dreizehn Polizisten« untergebracht. Diese Zahlenlogik scheint zunächst die einzige (vielleicht unbewusst oder assoziativ erfundene) Entwicklungslogik des Übergangs der Sätze zu sein. Dass dieser Satz vor allem aus einer improvisierenden Ausmalung der Zahl 3 hervorging,

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vermeint man noch an der unbeholfenen und kurios zweideutigen Formulierung »Wir hatten dreizehn Polizisten« zu spüren. Das gibt sich locker colloquial, die Option, es ginge um den kollektiven Besitz von Polizisten scheint unbeabsichtigt – gehört jedoch zur Komik der Stelle. Dass die abgespaltene Anzahl 3 die Basis der erzählerisch additiven Fortschreitung war, ist nicht nur daran zu erkennen, dass überhaupt etwas an sich so Irrelevantes wie die Zahl der Polizisten erwähnt wird und kein Kind gewusst haben dürfte, wieviele Polizisten es genau in einer Kleinstadt waren. Man kann es auch daran sehen, dass an diese 3 noch eine 10 gehängt wurde, weil eine Kleinstadt schwerlich nur über drei Polizisten verfügen kann – allerdings eine Stadt mit zehntausend Einwohnern wohl kaum bloß über dreizehn. Auch das ist ein Produkt improvisatorischer Rekombinationsspiele mit vorhergehendem Material. Weshalb ausgerechnet die Berufsgruppe der Polizisten (und nicht die der Feuerwehrleute, Schmiede, Geistlichen usw.) den persönlichen Kontakt des Erzählers im Kindesalter mit den Vertretern der staatlichen Ordnung ermöglicht, wird nicht explizit begründet, liegt jedoch auf der Hand, da sie, wie der Bürgermeister, eine übergreifende Rechtsordnung repräsentiert, Polizisten »Ansprechpartner« und Papiere das Kontrollmedium jener Rechtsordnung sind. Schuhputzer, Barbiere, Kutscher kommen dagegen unter Umständen ganz ohne Papiere, Schrift, Verwaltung aus. Diese Opposition im Hintergrund ist notwendig, um den Witz zu verstehen, dass die Verbindung des Erzählers zu diesen Repräsentanten ausgerechnet durch den Alkohol gestiftet wird – dem verbreitetsten Mittel zur Herstellung von Kontrollverlust (allerdings auch der bloß halluzinierten Gemeinsamkeit). Und jenen Witz, den Roth durch die Innen-Außen-Opposition gewinnt, hier wie oft eine lustige Umspielung der Grenze verschiedener Ordnungstypen: dass die Polizisten nur dort ihren »Dienst« versehen, wo sie nicht hingehören, jedenfalls nicht stationiert sind – in der Außenwelt, einer dünn besiedelten, offenen Steppenlandschaft. Und schließlich den Wortwitz, hierbei ausgerechnet das dop-

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peldeutige Wort »versehen« zu wählen. Darin klingt das /Versehen/ an, es klingt beinahe wie /verstehen/ und wie /ver-sehen/ im Sinne von falsch sehen. Diese Gesetzeshüter sind wie viele in Roths Osten ›menschlich‹ und lassen den Jungen durch, wenn er von außen, also der endlosen Weite kommt und den Schnaps in die Stadt bringt, das Mittel des Kontrollverlustes, durch das er mit den Polizisten auf Augenhöhe verkehren kann. Dass dieser Kontrollverzicht auf Veranlassung des Gendarmeriewachtmeisters geschieht, ist wiederum wortwitzig: Selbiger nimmt vermutlich die Einsamkeit und/oder sexuelle Not der Tante des Erzählers dankbar an oder nutzt sie aus, was misogyne Untertöne birgt. Auffälligerweise umrahmen in der Aufzählung der drei Dienstformen des Erzählers die beiden assonierenden Worte »(Stiefel-)Putzer« und »Kutscher« das lautlich kontrastierende Wort »Barbier«. Auch das ist eines der zahllosen Beispiele, wie Stofflichkeiten in Roths Prosa direkte Folgen von Wort- und Sprachspielen sind. Die Entwicklungslogik ist damit noch nicht erschöpft. Kutschieren gehört wie Schuheputzen und Barbieren zu den Dienstleistungen, verlangt aber mehr Ausbildung, Autonomie und Verantwortung als diese – und damit auch mehr Macht über andere: Der Kutscher ist Diener und Herr zugleich, er ist existentiell am Wohlergehen des Pferdes (und der Kutsche) interessiert und beherrscht dieses. Er behandelt den Bürgermeister nicht nur von außen und an bestimmten Stellen, sondern hat Verantwortung für und (begrenzte) Macht über ihn, insofern er ihn transportiert und dessen Wohlergehen bis zu einem gewissen Grade von ihm abhängt. (Im Fünften Teil werden wir mit »Das falsche Gewicht« einen Text kennenlernen, der diese Herr-Pferd-Beziehung zu einer entscheidenden, geradezu metaphysischen macht.) Zudem behandelte das ErzählerIch anfangs nur die Stiefel des Bürgermeisters, etwas Äußerem; dann (Einseifen) den Leib des Bürgermeisters, und das an empfindlichsten Stellen (Gesicht und Kehle). Das Einseifen selbst ist der

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Bewegung nach auffällig verwandt dem Stiefelputzen: Barbierpinsel hier, Schuhbürste dort, in beiden Tätigkeiten werden Tücher benutzt, Flüssigkeiten aufgetragen, um Sauberkeit herzustellen, die Handbewegungen sind teils ähnlich. Allerdings pflegt der einseifende Junge nicht Extremitäten des Herrn, sondern dessen sekundäre Geschlechtsmerkmale, was die Opposition Mann-Knabe betont. Als Kutscher aber verfügt er über den ganzen Körper des Bürgermeisters und kehrt die Herr-Knecht-Beziehung partiell um – weil der Jugendliche selbst Herr über sein Dienstpferd ist. Er internalisiert gleichsam die bislang nur nach außen hin vorhandenen Machtverhältnisse und gewinnt so wiederum an Autonomie, nicht zuletzt an Ansehen. Er kann nun wagen, auf Augenhöhe mit den System-Repräsentanten der Polizei umzugehen. Roth ist so exakt, das Putzen der Stiefel als bloßes (dienendes) Tun des Knaben, nicht als regelrechten Beruf einzustufen, während »Barbier« zwar schon eine regelrechte Berufsbezeichnung, der Junge selbst jedoch noch kein (fertig ausgebildeter) Barbier ist (er kommt ja erst zu einem Barbier). Er leistet vielleicht nur Hilfsarbeiten (Einseifen), ohne schon eine Berufsausbildung zu haben. Womöglich benutzt er den Barbiersalon nur dazu, den Bürgermeister ab und an lustvoll »einzuseifen«! Erst mit 15 ergreift er einen regulären Beruf: Er fährt nicht bloß Kutsche, er wird vollwertiger Kutscher. Das Papier selbst fungiert wie ein katalytischer Eingangsimpuls dieses scheinbar lustig arglos dahergeplauderten Absatzes. Es löst durch Variation zuvor entstandener Oppositionen eine Kette instantaner Erfindungen aus – und dieser Spontangestus wurde von Roth auch bei Korrekturen an seinen Erzähltexten nie getilgt, vielleicht sogar verstärkt und systematisiert. Das heißt, das »Papier« mag dem tatsächlichen Produktionsakt nach ein solcher Reiz für eine Phase kreativer Textfindung gewesen sein oder nicht – in der überlieferten Version soll der Leser jedenfalls fühlen, dass das Wort »Papier« eben diesen Auslöseimpuls für (simuliert) orale Redevorgänge

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bildet(e). Für Improvisationen typisch gerät ein Element wie das Papier (dem Schein nach) per momentaner Assoziation in die Produktion hinein, um dann in unregelmäßigen Abständen aufgegriffen und neu kontextualisiert, ausgedeutet, ausgeführt zu werden. Es gewinnt so eine Art Eigenleben als Leitmotiv, das mit jedem neuen Auftreten der Entfaltung einer erzählten Welt neue Richtungen und Räume der Verknüpfung eröffnet. Das Motiv kommt in den improvisierend addierten Erzählschritten des »Erdbeeren«-Fragments zuerst im zweiten Absatz hinein, nachdem der allererste, nur drei Sätze umfassende, in minimalen Strichen die geographische Lage des (etwa) 10.000 Einwohner zählenden Städtchens in Osteuropa schilderte. Dieser zweite Absatz bricht mehrfach in derbe Scherze und Bemerkungen wie in parodierte Kitschmetaphern aus, die zum Ton des kindlich reduktiven Benennens in groteskem Missverhältnis stehen. Sie werden heiter zusammengeleimt mit leeren Retortensätze wie »Sie gingen ihren Geschäften nach und verdienten Geld«, »Sie heirateten und zeugten Kinder«. Diese Leersätze haben ihrer schematischen Banalität des stereotypen Sachverhaltbenennens wegen etwas von Selbstparodie an sich, andererseits auch von wohlrhythmisierter Litanei eines Aufzählens, das auch ganz anders verlaufen könnte. Die Erwähnung von Büchern und Zeitungen, also Papiermedien, die man in der osteuropäischen Kleinstadt lese, erscheint gleichermaßen wahllos hineinzugeraten in zerstreuter Beliebigkeit: »In meiner Heimatstadt lebten etwa zehntausend Menschen. Dreitausend unter ihnen waren verrückt, wenn auch nicht gemeingefährlich. Ein linder Wahnsinn umgab sie wie eine goldene Wolke (sic!). Sie gingen ihren Geschäften nach und verdienten Geld. Sie heirateten und zeugten Kinder. Sie lasen Bücher und Zeitungen. Sie kümmerten sich um die Dinge der Welt. Sie unterhielten sich in allen Sprachen, in denen sich die sehr gemischte Bevölkerung unseres Landstrichs verständigte.« (IV. 1008, Zeilen 5–12)

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Der Einfall, die Einwohnerzahl mit der Behauptung zu konterkarieren, genau dreitausend davon seien geisteskrank gewesen, zertrümmert mit blanker Albernheit die zuvor, im kurzen Initialabsatz angedeutete, großräumige Landschaftsatmosphäre. Kontinuität schaffen anfangs noch die wortkompositorischen Mittel (isolierte, statuierende, willkürlich selektierende Benennensakte; Kontraste von singularischem Nennen und ›grundlosem‹ Generalisieren usw.), doch wird die sonst glatte Oberfläche des artifiziellen Mündlichkeitstons hier durchbrochen. Solche Albernheiten und Belanglosigkeiten, Füllsätze, Brüche, Fehlgriffe, Registerwechsel usw. kann man jedoch ebenso gut als notwendige Symptome der simulierten Mündlichkeit verstehen: Ein Erzähler, der stets auf gleicher Höhe ist, alles intrikat motiviert, stringent und ökonomisch entfaltet, kann kein Stegreiferzähler mit Lust am Abenteuer des Erfindens und Spielens mit der Neugierde im Hier und Jetzt sein. Eine hübsche Ironie dieses Ausbruchs in Albernheit ist, dass auch sie die Opposition zwischen Ost und West umspielt. Unausgesprochen bildet sich hier der Gegensatz einer selbstgenügsamen, undramatisch in sich ruhenden Provinzstadt und der (vor allem westlichen) Welt. Dieses Motiv wurde vorbereitet durch den Gegensatz von Ost und West im allerersten Absatz, und dieser Gegensatz wiederum wird überblendet mit dem von Endlosigkeit (Osten) vs. Begrenztheit bzw. Trennung (in Richtung Westen): »Die Stadt, in der ich geboren wurde, lag im Osten Europas, in einer großen Ebene, die spärlich bewohnt war. Nach Osten hin war sie endlos. Im Westen wurde sie von einer blauen, nur an klaren Sommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt.« Nach Osten zur asiatischen Steppe und damit zu von Moderne (weitgehend) unberührten Zivilisationen ist die Herkunftsstadt offen – nach Westen dagegen durch eine Kette (sic) von Hügeln getrennt, als wäre die Kette ein Grenzwall oder der Verschluss eines Tores. Es kann zwar nichts Massiveres, Objektiveres als eine solche Hügelkette geben – doch in Roths Exposition bleibt diese

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meist unsichtbar, existiert also nicht als sinnlich gegenwärtige, erdenschwere, sondern eigentlich bloß als Gedanke und auf Landkarten für die Städtebewohner. Lediglich an seltenen Tagen wird sie sichtbar, dann aber als blaue Erscheinung – und blau ist selbstredend die Farbe des Wassers und des Himmels, also des Flüchtigen, Verfließenden, Ätherischen, Transparenten. Sie bildet folglich antagonistische Kraft zum scharf Begrenzten und Trennenden. An solchen Details erkennt man den bedeutenden Dichter, der überraschend Vieles präzise durchdenkt und durchkonstruiert, während er zugleich daran arbeitet, die Details als kindisch launige Spontannennungen zu präsentieren. Das gilt gerade auch für die Bücher und Zeitungen im zweiten Absatz. Die absurd deplatziert im Umfeld des kindlich reduzierten Benennens wirkende, lyrisch verquollene Vergleichsmetapher zuvor, »Ein linder Wahnsinn umgab sie wie eine Wolke«, steht in eigentümlicher Korrespondenz mit der abschottenden und doch unsichtbaren, da von Dunst oder Regen verborgenen und wenn sichtbaren, dann blau erscheinenden Hügelkette: Sie wäre im Normalzustand der Unsichtbarkeit ja ebenfalls eingehüllt von Wolken (oder Dunst), wie es in der Metapher der Wahnsinn mit den Bewohnern tut, während »lind« normalerweise vor allem Winde sind, ursprünglich also auch in den Bereich des Wetters und der Atmosphäre gehört. Die Vergleichsmetapher an sich wirkt bis zur Selbstparodie aufgetakelt: Wie in einer missratenen Lyrikübung assonieren die beiden Adjektiv-Nomenpaare in sich und mit dem jeweils anderen: »linder Wahnsinn« und »goldene Wolke«, während »Wahnsinn« und »Wolke« alliterierend verbunden sind. Schon die Attribution selbst fällt gestisch und lautlich heraus aus dem Bisherigen und dem Kommenden, großteils nackte Nennungen einfacher Gegenstände. Die doppelte Voranstellung assonierender Adjektive vor Kernnomina war jedoch zuvor schon einmal aufgetaucht, und zwar just im Satz, der Hügelkette und Atmosphäre benannte – die Aussage wird gleichsam eingehängt in ein Grundgerüst aus kunstgewerblich lyrisch-

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assonierenden Basismaterialien: »einer blauen, nur an klaren Sommertagen sichtbaren Hügelkette begrenzt« (vgl. blauen-klarensichtbaren, Sommertagen-sichtbaren). Der Bruch der reduktiv benannten Elementarien innerhalb einfacher Aussagesätze zu dieser ambitioniert das Atmosphärische poetisierenden komplexeren Periode ist auffällig und wiederholt sich im zweiten Absatz auf andere Weise. Der Kontrast zum nachfolgenden Leersatzpaar »Sie gingen ihren Geschäften nach und verdienten Geld. Sie heirateten und zeugten Kinder« könnte kaum größer und komischer sein. Das wirkt wie Füllware, um im mündlichen Erzählen einen toten Moment zu überspielen: Natürlich gehen fast alle Menschen in der ganzen Welt ihren Geschäften nach und zeugen Kinder. Diese Nullinformation wird jedoch zur Information durch die Stellung, die das Satzpaar in der Abfolge einnimmt, vielfältige Kontraste bildend. Der Kontrast wird hier auf die Sprechweise und die Gegenstände bezogen: Wahnsinn– Wolke vs. die ebenfalls alliterierenden Geschäft–Geld. Der folgende Satz »Sie heirateten und zeugten Kinder« variiert den Satzaufriss »Sie tun x und tun y« von »Sie gingen ihren Geschäften nach und verdienten Geld«, der wiederum in »Sie lasen Bücher und Zeitungen« wiederholt wird. An die Stelle des maximalen Kontrastes tritt hier die reihende Wiederholung der Bauform und der Redegestik. Das wären Oppositions- und Kontrastfiguren höherer Ordnung: Einem starken Kontrast der Redeweisen folgt die Wiederholung der Gestik und Satzform. Allerdings ist der Satzaufriss »Sie tun x und tun y« nicht unverbunden mit dem vorhergehenden »Ein linder Wahnsinn umgab sie wie eine Wolke«: Der Aufbau rund um zwei Nomina ist identisch bei aller Verschiedenheit. (Und in gewissem Sinne vom ersten Satz »In meiner Heimatstadt lebten etwa zehntausend Menschen« vage vorgeprägt.) Es entsteht also eine Abfolge entwickelnder Variationen innerhalb eines einfachen Satzaufrisses: »Sie gingen ihren Geschäften nach und verdienten Geld« wird vom nächsten Satz »Sie heirateten und zeugten Kinder« wiederholt, doch

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das Nomen in der ersten Verbphrase bleibt ausgespart. »Sie lasen Bücher und Zeitungen« wiederholt den Nukleus zweier Nomina innerhalb der Grundstruktur »Sie tun x und tun y«, spart jedoch das zweite Verb aus. »Sie kümmerten sich um die Dinge der Welt« spart in der Wiederholung überdies die Konjunktionsstruktur aus, womit man beim elementaren Subjekt-Prädikat-Objekt-Satz angekommen wäre. Der Munterkeit liegen in vielen Hinsichten überraschend klare, wenngleich offen bewegliche Entwicklungsregeln mancher Aspekte der Rede zugrunde. Diese Entwicklungsregeln werden jedoch niemals mechanisch abgewandt und nur auf kleine Abschnitte bezogen, bevor neue Regeln greifen. II Identität, Repräsentation und Namen zwischen Ost und West (Rabbi Trop; J. S. Agnon) Der Beginn eines Romans ist gewiss besonders sorgfältig gearbeitet worden, doch ähnliche, offene Entwicklungslogiken finden sich vermutlich in den meisten Textsegmenten Rothscher Prosa, zumindest an markanten Stellen der Konstruktion oder auch an selbstreflexiven Elementen. Wenn Bücher und Zeitungen auftreten, scheint das beliebig assoziativ, als hätten es ebenso gut alle möglichen Gegenstände sein können, die pars pro toto eine Lebenswelt aufrufen. Doch der Satz taucht, wie gesehen, innerhalb einer syntaktischen Variationenreihe auf – der Satz steht zudem in einer Folge von Sätzen, die man als Reihenfolge der Wichtigkeit lesen kann: Die Kleinstadtbewohner verdienen Geld, zeugen Kinder und »lasen Bücher und Zeitungen. Sie kümmerten sich um die Dinge der Welt. Sie unterhielten sich in allen Sprachen […]«. Bücher und Zeitungen, Druckerzeugnisse auf Papier, sind (zumindest in der Vorstellung des Erzählers) das nächstwichtige nach Geldverdienen und Kinderzeugen, und sind vor allem der primäre Modus, wie das Abwesende in der Kleinstadt präsent ist (in ihnen findet man u.a. Nachrichten von

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berühmten Ostjuden im Westen). Sie stehen hier gleichsam dingsymbolisch für das Grundthema, welches mit dem allerersten Absatz exponiert wurde – der Komplementarität von Osten und Westen, von Endlosigkeit und Abgegrenztheit, sinnlicher Gegebenheit und gedanklicher oder symbolischer Vergegenwärtigung (z.B. der Hügelkette zum Westen hin). Wiederum im Habitus des plötzlichen, launenbedingten Sprungs von einem zum nächsten Motiv kehren die Zeitungen im Ende des dritten Absatzes zurück (»Leser, die eine Zeitung abonnieren […]«): Zuvor wurden Namen von Menschen aufgelistet, die es im Westen zu Ruhm gebracht hatten – mithin paradigmatische Gestalten, die den Konflikt der beiden grundverschiedenen Ordnungen von Dingen, Regeln, Werten und des Verhältnisses der Bewohner zu diesen Ordnungen in sich erfolgreich ausgetragen oder sogar überwunden haben, insofern also Verbindungsglieder von Ost nach West darstellen. Die Namen allerdings werden nicht selbst, sondern entweder gar nicht oder nur in Gestalt des jeweiligen Anfangsbuchstabens gegeben. Das ist eine weitere der zahllosen Stellen, an denen Roth eine Pointe erfindet, um die Unvermittelbarkeit der beiden Ordnungen zu überspielen und zugleich indirekt zu benennen: »Ich will ihre Namen nicht nennen. Leser, die eine Zeitung abonnieren, wissen ohnehin, wie sie heißen.« Initialen sind die Form, in der Osten und Westen im Roman vereinbar sind. Im abgegrenzten Raum der Zeitung sind die Eigennamen ausgeschrieben – im Romantext nicht. Sie sind also ironischerweise nur den Bürgern des (vergangenen) Ostens vollständig bekannt. Und diese werden damit in dieser Hinsicht die eigentlichen Weltbürger, denn der westliche Leser – und Roths Leser ist zuallererst der westliche – müsste die Erfolgsmenschen eigentlich kennen, tut es jedoch nicht. Die reduzierten Namen sind verbunden mit der Berufsangabe – eine Vorwegnahme der Berufe des Erzählers im fünften Absatz – und den Anfangsbuchstaben: Die Eigennamen, der Vergegenwärtigung oder Identifikation des Individuums dienend, sind hier eigentlich individualitätslose Reste, zwischen Typus und

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Individuum: »Erzbischof Lord L. in Schottland; der Mailänder Rabbi K., dessen Muttersprache Koptisch ist; der große Spediteur [!] S., dessen Firma auf allen Bahnhöfen zu lesen ist«. Auch hier spielt Roth demonstrativ mit Buchstaben: Er verknüpft Status/Herkunft und Eigennamen alliterierend: Lord L, Kopte K, Spediteur S. Und innerhalb dieses spielerischen Gerüsts variiert er dann nach dem Gesichtspunkt Vielfarbigkeit. Dass ausgerechnet der Spediteur, der geistfernste jener im Westen zu Erfolg gelangten Osteuropäer, in Gestalt von Schrift im Osten präsent ist, wäre eine weitere, dezente Pointe. (Dass wir hier einer der vielen ungeschickten, oft idiomatisch falschen Ausdrucksweisen begegnen, kann übergangen werden. – Ob diese Folgen tatsächlicher oder bloß fingierter Schlamperei waren, bleibt schwer zu entscheiden. So oder so gehören sie zur Aura des instantanen Jetzt-Erfinders von Geschichten.) Die Abkürzung der Namen und der Verweis, dass sie Zeitungslesern ohnedies bekannt seien, korrespondiert natürlich lustig widersprüchlich der Figur: im Osten benötige man »kein Papier. Jeder kannte mich«. Das selbstverständliche Kennen ist eine Eigenschaft des Ostens im Umgang mit Individuen ironischerweise auch in Bezug auf die, die den Osten verließen – sofern sie via Ruhm ›sich einen Namen gemacht haben‹ und Zeitungen gelesen werden. Der Erzähler müsste eigentlich im Westen einen Namen haben, im Osten dagegen keinen benötigen. Roths gewitzte Lösung für dieses darstellerische Problem ist eine fast verborgene Konstruktion von Doppeldeutigkeit – wir werden Ähnliches noch häufig in den Analysen seiner Texte antreffen: »Leser, die eine Zeitung abonnieren, wissen ohnehin, wie sie heißen. An meinem Namen ist nichts gelegen. Niemand kennt ihn, denn ich lebe unter einem falschen. Ich heiße – nebenbei gesagt – Naphtali Kroj.« Der Name ist jüdisch und klingt ein wenig wie – diese Klingenwie, ohne eine historisch konkretisierbare Figur zu bezeichnen, ist charakteristisch für Roths Prosa – derjenige des Rabbi Naftali Tzvi Trop, einem 1871 geborenen, bedeutenden Talmudisten aus dem ost-

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europäischen, kleinstädtischen Judentum94. Oder auch wie »Naftali Herz Tur-Sinai«, einem herausragenden Judaisten und einflussreichen Kenner der hebräischen Sprache, Bibeldeuter und -übersetzer95. Dieser wurde nur acht Jahre vor Roth geboren, als Sohn eines in Hebräisch dichtenden Kaufmanns, der (wie Roth) aus Brody stammte. Naftali Herz Tur-Sinai war der Prototyp eines Ostjuden, der es im Westen zu Ruhm brachte – doch dabei etwas vermochte, das zu bewältigen nicht zur Ambivalenztragik Roths gehörte: Naftali Herz konnte seinem Glauben treu bleiben, weil er ihn transformierte. Er vertiefte ihn vielleicht durch den Wechsel sogar, denn im Westen eignete er sich moderne, historisch-kritische philologische Methoden an. Zum Zeitpunkt, als Roth sich an der dortigen Universität immatrikulierte (Sommersemester 1914), lehrte Naftali Herz in Wien semitische Sprachen. Er ging dann, wie Roth, nach Berlin – zuletzt jedoch gerade nicht nach Paris oder Amerika, sondern nach Jerusalem, ein Unmögliches für Joseph Roth, der Zionismus als Implantat westlich-verfremdender Nationalideen ins Judentum abtat. Roth musste das tun, seine kulturkritischen Oppositionsbildungen wären sonst in sich zusammengefallen. Naftali Herz war ein angenommener Name, ursprünglich hieß der große Mittler Harry Torczyner. Er lebte also wie Roths Naphtali Kroj eine namentlich gekennzeichnete Identität im und für den Westen – eine Identität des ruhmvollen Mittlertums – und legte dazu seine Identität in der ostjüdischen Provinz ab. Auch Joseph Roth ließ 94 95

https://web.archive.org/web/20070927214248/ http://chareidi.shemayisrael.com/ archives5764/nitzovim/NTZ64features2.htm. Die Übersetzung ist heute kanonisiert. Sie deutet programmatisch viele Stellen von der jüdischen Überlieferung her, »hebraisiert« dabei das Deutsche (häufig verblose Kurzsätze, parataktische Reihungen), in bewusstem Manierismus, doch weniger archaisierend und verfremdend, als es Buber/Rosenzweig taten. Der Text ist leicht zugänglich, z.B. http://www.obohu.cz/bible/. Eine Übersicht über die einzelnen Bände unter: http://www.bibelpedia.com/index. php?title=Torczyner,_H._%3D_Tur-Sinai,_N._H.

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als Autor, der im Westen reüssieren wollte, seinen zweiten Vornamen »Moses« fallen – doch eine Mittlerexistenz, gar ein gegenseitiges Bereichern von Ost und West konnte es für ihn aufgrund seiner Ambivalenz nicht geben. Daher ließ er seinen Erzähler wiederum seinen Witz spielen, um an der Nahtstelle zwischen Osten (Endlosigkeit, Papierlosigkeit, leiblich unmittelbare, gewachsene Gemeinschaftlichkeit) und Westen (Papier, individuelles Erfolgsstreben, fixierende Gesetzlichkeit) den Namen von sich als Mittler zu setzen – und zugleich zu konterkarieren: »An meinem eigenen Namen ist nichts gelegen. Niemand kennt ihn, denn ich lebe unter einem falschen. Ich heiße – nebenbei gesagt – Naphtali Kroj« birgt mehrfache Ironie. Der Einschub »nebenbei gesagt« wäre völlig überflüssig, wenn nur gesagt werden sollte, das Ich lebe unter falschem Namen und dieser laute »Naphtali Kroj«. Das wäre überhaupt nicht »nebenher«, sondern einfach und geradeaus gesagt. Der Witz der ganzen Konstruktion besteht darin, dass »Naphtali Kroj« sein »wirklicher« oder sein »falscher« Name sein kann, je nach Perspektive! Denn: Wenn diesen (echten) Namen »niemand« kennt, dann auch die Kleinstadtbewohner nicht. Wenn man das sagt und anschließend sagt, wie man heißt, wäre daraus zu folgern, dass jener wahre Name verraten (sic!) ist. Und »nebenbei gesagt« klingt nun, als verriete jemand dem Leser/Hörer etwas heimlich, das andere, Dritte, nicht wissen oder wissen sollen. Jedenfalls gibt der Erzähler hier dem Schein nach »Naphtali Kroj« als wahren Namen preis und deklariert ihn einem anderen Aspekt des Scheins nach als »falschen« Namen – und all das soll dann aber gar nichts zur Sache tun, die er doch in diesem Augenblick benennend darstellt, als liege sie ihm vor Augen. Zudem setzt Roth wieder reizvoll Nebentöne einer metaphorischen Idiomatik (bzw. einer »phraseologischen Einheit«) ein: »an meinem eigenen Namen ist nichts gelegen« klingt, als sei sein Name nicht nur eine kontingente, von außen herangetragene Benennung einer konkreten Person in der erzählten Welt, sondern selbst auch ein realer Gegenstand in der erzählten Welt, neben dem ein Haus oder eine

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Straße o.ä. »liegen« könne. Diese unterschwellige Metaphorik korrespondiert daher eigentümlich der skizzierten Stadtlandschaft. Dass sich Ostjuden nicht nur, wenn sie nach Palästina, sondern auch, wenn sie in den Westen migrierten, hebräische Namen zulegten, hatte oft etwas von symbolischer Abstreifung der Herkunft an sich. So hieß Samuel Joseph Agnon, wie Roth in einer Kleinstadt unweit Lemberg (1888) geboren, ursprünglich Samuel Josef Czaczkes. Sein Vater war Pelzhändler (die spielen in Roths Prosa öfters pittoreske Rollen) und chassidischer Rabbiner. Wie Roth liebte Agnon kleine Namensveränderungen und sprechende Namen. »Agnon«, wörtlich in etwa »der Gebundene«, war ein Phänomen der religiösen Gesetze96. Agnons Geburtsstadt hieß nicht wie in seiner Erzählprosa »Szybuscz«, sondern »Buczacz«. »Szybusz« meint im Hebräischen offenbar etwas wie Konfusion, Verdrehung, seltener Fehler oder Störung97. Agnon ließ mit seiner Umtaufe der Heimatstadt bereits etwas von seiner liebevoll kritischen Distanz zur Herkunftsregion erkennen – etwas, das Roth unmöglich war. Die Gelassenheit, die nötig ist, um kritisch abwägend Vorzüge und Nachteile abzuwägen, setzt vermutlich eine gewisse Ich-Stabilität und »Einssein mit sich« voraus – wiewohl sie umgekehrt diese Identität immer auch mit anzweifeln, konstituieren und transformieren helfen kann. Dem subtilen Spiel mit der Grenze beider Ordnungen und der vagierenden, benannten und doch unfixierbaren (Namens-)Identität des Erzählers folgt am Beginn der »Erdbeeren« ein Absatz, der den Leser verunsichert, weil darin Sachschiefheiten exponiert werden, von denen man nicht weiß, sind sie im Geiste des Humors und der Leserverführung bloß in Kauf genommen oder absichtsvoll lanciert

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»Aguna« (abgeleitet von hebr. »Ogen« für Anker) ist eine Frau, deren Mann verschwunden ist, dessen Tod jedoch nicht bezeugt oder bewiesen wird. Nach jüdischem Gesetz ist eine solche Ehefrau weiterhin verheiratet. Mitgeteilt bei Kühn 2018 (unpag.). So der Tübinger Judaist Gerard Necker, zit. bei Kühn 2018 (unpag.).

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worden, um die charmant nonchalente Haltung, unbekümmert um kleinliche Sachzwänge, zu verstärken? »Ich bin eine Art Hochstapler. So nennt man in Europa die Menschen, die sich für etwas anderes ausgeben, als sie sind. Alle Westeuropäer tun dasselbe. Aber sie sind keine Hochstapler, weil sie Papiere haben, Pässe, Ausweise und Taufscheine. Manche haben sogar Stammbäume. Ich aber habe einen falschen Paß, keinen Taufschein, keinen Stammbaum. Man kann also sagen: Naphtali Kroj ist ein Hochstapler.« (IV. 1008) Jemand, der sich als ein anderer ausgibt, ist natürlich nicht per se ein Hochstapler – er könnte auch ein Betrüger, ein Paranoiker, ein Schauspieler, ein Psychotiker oder Spion sein. Das scheint bloß liederlich runtergeschrieben und ist es vielleicht auch. Gewitzt fügt Roth einschränkend hinzu: »Eine Art Hochstapler«. Das ist wohl der Versuch, das doppelbödige Spiel mit dem Eigennamen, also der personalen Identität, und dem Zusammenprall der gegensätzlichen Ordnungstypen Ost und West in Richtung eines Schelmenromans auszuspinnen, das Erzählen selbst als eine Form der Hochstapelei erscheinen zu lassen und so zu ironisieren im Augenblick, da der Erzählende seine »Identität« im Text »offenbaren« muss oder will. Um einen bloßen Betrug kann es sich, genau besehen, schon deshalb nicht handeln, weil der Erzähler ja sein Alias im selben Atemzug wie das Bekenntnis seines vielleicht wahren, vielleicht falschen Namens offenlegt und dieses Spiel mit personaler Identität regelrecht zum Thema der Erzählung erhebt. Am Ende des vieldeutigen Absatzes stellt sich heraus, dass es keineswegs der Besitz oder Nicht-Besitz von Papieren jemanden zum Hochstapler macht, sondern der Besitz eines falschen, nicht zusätzlich beglaubigten Passes. Ein solcher Betrug ist in Westeuropa ebenso möglich wie im Osten. Das Zulegen eines neuen Namens beim Wechsel in den Westen hat – in Fällen wie Joseph Agnon oder

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Naftali Herz – gerade nichts mit Hochstapelei zu tun. Das einzige, was im Falle Naphtali Krojs das Wort Hochstapler legitimieren könnte, wäre, dass der Erzähler sich mit dem Besitz des falschen Passes (an sich nur kriminell, keine Hochstapelei) eine überprüfbare personale Identität erschleicht, die gleichsam auf der »Höhe« der entleiblichten Abstraktheit der westlichen Individualkultur angesiedelt sein möchte. Wenn, dann wäre auch das zweideutig ironisch, denn in den nachfolgenden Passagen wird ja gefühlsbesetzt das Glück einer primär leiblichen und dem impliziten Gewohnheitsrecht gehorchenden Einbindung in eine weitgehend vormoderne, nicht-urbane Gemeinschaft ausgemalt. Ironisiert würde dabei eine Art ›neokoloniale‹ Haltung des Westens, der die verwaltungstechnisch systematisierte, personale Identität als höhere Form der Identität annimmt, während sie vom Standpunkt der osteuropäischen Lebenswelt dagegen als abgeleitete, abstrahierte, lebenstötende, letztlich als Sich-Ausgeben für Anderes erscheint. »Alle Westeuropäer tun dasselbe« ist eine der von Roth oft benutzten Generalisierungen, die so unsinnig und mutwillig sind, dass man sie nicht ernst und wörtlich nehmen kann. Dieser Satz ist Teil eines Geflechts von Sätzen, die vielfach sachschief, schein-eindeutig und konfliktär sind: »So nennt man in Europa die Menschen, die sich für etwas anderes ausgeben, als sie sind. Alle Westeuropäer tun dasselbe.« In dieser Abfolge klingt der Satz, als ob »dasselbe«, was die Westeuropäer tun, sei: sich via Papierdokumente offiziell registrieren und identifizieren lassen – das unterstellt einen Art Unmittelbarkeitsmythos: Die eigentliche Identifizierung sei die leibliche, nichtbürokratische, was unhaltbar ist, diktiert vom Zwang zu Oppositionen. Nachdem dieser eben zitierte Absatz erläuterte, dass die (womöglich gegenüber der leiblich-realen entfremdete) Identität im Westen von verschiedenen Sorten Papiers abhing (inklusive Zeitungen und Bücher), folgt die entscheidende Pointe, der Wechsel in den Singular: »In meiner Heimat brauchte ich kein Papier.« Eine weitere Pointe

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steckt (möglicherweise) im »ich«: Nicht man brauchte kein Papier im Ort, sondern nur »ich«, der Erzähler selbst respektive seine Repräsentanten und verschiedenen Namen bzw. Nicht-Namen. In jenem Ort dort im Osten brauchte er kein Papier, das lässt er den Leser auf einem Papier wissen, auf das er im Westen offensichtlich angewiesen ist! Zu diesem Witz gehört auch: All diese Folgen wurden initiiert von der wie zufällig oder bloß launenhaft eingestreuten Bemerkung »Sie lesen Bücher und Zeitungen«. Woraus folgt: Bedeutung gewinnt ein solches scheinbar zufällig hineinpurzelndes Allerweltsdetail nicht an sich und nicht als Funktion in einer Beschreibung oder den Stoff homogen ausbreitenden Darstellung, sondern durch die Abwandlungen der Einfügung in verschiedenen Nahkontexten – der Variationsfolge über ein elementares Satzmodell, wie wir oben sahen – und vor allem durch das, was nachträglich an diese Allerweltsdetails an Erfindungen und sich reflektierende und ironisierende Konstruktionen der eben erzählten Welt ausgelöst oder provoziert wird. III Das Ideal des Doppellebens im Osten Die Qualität der betrachteten Expositionen von »Perlefter« und »Erdbeeren« hängt, wiewohl scheinbar gleiche Stoffbereiche und kompositorische Mittel verwendet werden, praktisch ausschließlich an der Individualität der jeweiligen Konstellationen, Textfelder, den tausend kleinen Pointen der Fortschreitung, des Abreißens, Wiederaufgreifens, des Feingefühls bei der individualisierenden Anwendung der Oppositionsfiguren, der Reihung von Benennensgesten, Generalisierungen, Kontrastbildungen usf. Und diese emphatische Individualität ist nahezu völlig unabhängig von allen stofflichen und historischen Gebundenheiten. Der Stoff ist, wie Roth es formuliert hat, nur ein Anlass; er wird aufgesogen im Laufe der kompositorischen Arbeit und verwandelt in autarke Textfelder. Poetisch adäqua-

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tes Lesen bedeutet hier nicht zu erfassen, was in welcher Form »dargestellt« oder gesagt wird; sofern diese Darstellungsfunktion überhaupt mehr ist als ein Hintergrund, vor dem sich das eigentlich poetische Geschehen abspielt, ist sie trivial und bedarf keiner Kommentare, da alles offenliegt. Wesentlich für ein adäquates Lesen ist es zu erkennen, dass Roths Simulation eines mündlich sprunghaften Schreibens darauf abzweckt, den Leser (also nicht den Hörer!) durch Lebendigkeit zu involvieren und ihn nachvollziehen zu lassen, wie Satz für Satz der Gedanke, es gebe hier eine »Welt«, und das sie sprechend-erlebende »Ich« allererst entstehen. Es gibt vielleicht keinen zweiten Text, der Roths eigentliches Lebensthema, die Ambivalenz im Verhältnis zu verschiedenen Typen von Ordnungen und damit von Identitäten und Bindungen zum Schreiben, so ins Zentrum rückt wie dieser Beginn des Romanfragments »Erdbeeren« – und keinen anderen, der die Bildung von Modellen der Ordnung und Identitäten von Ich und Welt so gewitzt, spielerisch und punktuell frappierend subtil, dann wieder kalauernd nachlässig zum eigentlichen Stoff macht wie dieser Beginn. Mit diesen Anfangspassagen des Romanfragments »Erdbeeren« (1929) taucht man in jeder Hinsicht in die Welt des reifen Erzählers Joseph Roth ein. Die Naivität eines sprunghaft improvisierend einfache, teils kindliche, in jedem Falle demonstrativ willkürliche Benennenselemente addierenden Erzählers ist in gewisser Hinsicht real; Roths Verhältnis zur Bezeichnungskraft des einzelnen Sprachelementes ebenso wie zur illusionszeugenden Macht des szenisch gebundenen Erzählens war naiv und unmittelbar. Wie wir im nächsten Abschnitt über die poetologischen Metareflexionen in »Die weißen Städte« sehen werden, war das Geschichtenerzählen für ihn tabu gegen erkenntniskritische Angriffe eben jener Art, die er selbst gegen das (»realistische«) Beschreiben richtete. Und zugleich machte er aus dieser Naivität im Umgang mit dem konventionellen Geschichtenerzählen etwas völlig anderes, ein bis an die Grenze der Montage gehendes Rekombinieren beliebiger, alltagsnaher Module

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des Nennens, Plauderns, Einvernehmens, Springens. Im Zentrum all der vielen, simplen Benennensgesten steht in Roths Prosa meist die Spannung von vertraut wirkenden Außenweltillusionen und Kippund Oppositionsfiguren, die allesamt mit dem Fixieren durch Worte zu tun haben, mit formalen, sanktionierten Regelsystemen und Ordnungen und dem, was diesen sich entzieht oder von ihnen unterjocht und fixiert und damit ausgelöscht werden soll. Dass seine im Geist der halb simulierten, halb realen Improvisation des Schreibens entstehenden Tableaus und Phantasien sich befehdender Ordnungssysteme zumal im Falle des kleinstädtischen Ostjudentums historisch verfälschend und sachlich inkonsistent waren, störte Roth nicht – was man vielleicht als verwandelte Fortsetzung seiner feuilletonistischen Haltung verstehen könnte oder als Lizenz, die einem mündliche Konversation erteilen würde. Diese Haltung geriet dann allerdings in Konflikt mit dem Ingrimm seiner theatralisch »kulturkritischen« Abrechnungen mit Grundelementen der liberalen, sich pluralisierenden, großstädtischen Moderne – etwa im langen Essay »Juden auf Wanderschaft«, den wir im Dritten Teil genauer betrachten werden. Mit eigenen Erfahrungen in der Kindheit haben Roths erzählend idyllisierte und in die West-Ost-Oppositionsfigur gepresste osteuropäische Kleinstädte im Habsburgerreich kaum etwas zu tun. Sein eigenes Heimatstädtchen Brody war mitnichten ein Beispiel dafür, dass etwa moderne, westliche Errungenschaften, aufklärerischer Geist, Wissenschaftsethos, Industrialisierung, Kommerzialisierung plötzlich und zersetzend in eine vormals geschlossene, ländliche, Geborgenheit schenkende Traditionsgemeinschaft mit starker jüdischer Minderheit eingebrochen wären, ohne dass es irgendwelche Vermittlungsstufen, Pluralitäten der Lebensweisen und Mentalitäten gegeben hätte. Brody war lange zuvor ein Zentrum jüdischer Orthodoxie, bevor es sich im 18. Jahrhundert zu einem Zentrum der jüdischen Aufklärung (Haskala) entwickelte, »bedingt durch seine wirtschaftlichen (über den Pelz- und Hopfenhandel) und intellektuellen Kon-

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takte mit Berliner und Leipziger modernen jüdischen Kreisen.« Bereits Kaiser Joseph II. verlieh dem internationalen Handelszentrum das Freihandelsprivileg. Die »Orientierung auf gesamtstaatliche Belange bewog die Kultusgemeinde zur Gründung einer säkularen Oberschule mit deutscher Unterrichtssprache, eine Initiative zur Qualifizierung, die von fortschrittlichen Juden getragen wurde. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts verlor die Stadt ihre wirtschaftliche Dynamik, der Polonisierungs- und Modernisierungsschub ging an ihr vorbei, sie erlebte einen Niedergang. Die alten Verwaltungsstrukturen bedingten aber den Verbleib wichtiger Einrichtungen in der Stadt, etwa von einer der nur drei galizischen Handels- und Gewerbekammern.«98 In Brody war das vom modernen Judentum damals oft geringgeschätzte, von einer Schar jüdischer Intellektueller im Westen (vor allem angeregt durch Martin Buber) umgekehrt zur ursprünglichen Volksfrömmigkeit verklärte Chassidentum, seine Wunderrabbis, der Wunderglaube, die volkstümlichen Legenden den meisten Menschen wohl nur noch vom Hörensagen her bekannt. Auch die Orthodoxie blieb eine Angelegenheit kleiner Minderheiten. In Brody hatten sich schon besonders lange der moderne Handel, die bürokratische Organisation, die Aufklärung in und um das Judentum herum mehr oder minder harmonisch mit traditionellen Strukturen verbunden oder diese marginalisiert. Was Roth verklärte, war lediglich das Abgehängtwerden von der weiteren Industrialisierung im 19. Jahrhundert – und die Rolle des Militärs, das ähnlich wie Roths Gendarmen im »Erdbeeren«-Fragment tatsächlich eher pittoresk die Stadt belebt haben denn als Teil einer realen Streitmacht erfahren worden sein dürfte im sich zuspitzenden imperialistischen Wettlauf vor Beginn des ersten Weltkrieges. Roth konstruiert seine kleinstädtische Idylle nicht in allen Fällen, aber besonders auffällig in den »Erdbeeren«, als Paradies der Gleichzeitigkeit von permanenter Verstellung und Authentizität, umfassender sozialer Vertrautheit und damit auch Kontrolle und höherer Frei98

Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos in: Asmus 2012, S. 32.

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heit, Geborgenheit und Unverbindlichkeit, Durchregulierung und innerer Anarchie – denn selbst die Polizisten »versehen« ihren Dienst in der Stadt ja nur dem Schein nach oder gar nicht, unterstützen Schmuggler und leben daher eigentlich in den Welten der staatlichen Rechtsordnung und ihrer Feinde zugleich. Naheliegt zu vermuten, dieses Doppelleben hänge mit dem Alkoholtrinken zusammen, schließlich stiftet es bei Reduktion des Abstraktionsvermögens Illusionen der Verbundenheit. Dass ein solches Fingieren eines vom inneren Selbst abgetrennten, sozialen Selbst, sei es durch Rollenspiele, Lügen, Halbwahrheiten, Erzählungen oder falsche Papiere, eine Art höhere innerer Freiheit und eine Art höherer Authentizität bedeutet, mag ein romantisch verführerischer Gedanken sein. Doch er beruht auf Trugschlüssen. Der Zwang, sich zu verstellen und stets ein intimes Ich gänzlich getrennt von einem sozialen Selbst, dem Produkt der internalisierten Spiegelungen anderer, zu halten, ist wohl in der Regel und dort, wo er auf Dauer dominant wird, eine Form zwanghafter Unfreiheit. Die alkoholvermittelte Verbindung von Erzähler und Polizisten schließt offenbar Fremdheit und Beliebigkeit ein: Die Verbundenheit gründet in sprachlosen, unpersönlichen, abgetrennten Gegenwelten des Inneren, vereint durch die Negation der normativen Ordnung, die die Polizisten eigentlich repräsentieren (sollen), die Rechtsordnung. Diese Figur einer strengen, leitenden oder tragenden, hierarchischen Ordnung im praktischen und metaphysischen Sinne, welche gleichzeitig nicht ist, was sie zu sein vorgibt, und zu nichts verpflichtet, scheint eine ganz und gar typische Gedankenfigur Rothscher Texte, wie wir sehen werden. Sie kann als ›schöner altösterreichischer Schlendrian‹ verpackt werden, in Gestalt von Eichmaßen auftreten, die vom Kollektiv hochgehalten und doch insgeheim unterwandert werden. Oder als pedantische Etikette des Verhaltens, deren innere Wahrheit Anarchie und Rebellion gegen jede fixierende Vorschrift ist. Oder als passionierte Hingabe an hierarchische Wertsysteme und Ideologien, die man der Welt aufzwingen oder predigend beibringen will,

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Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess

um sie vor Desorientierung und Chaos zu bewahren – an die der Wertgläubige innerlich jedoch mitnichten glaubt, sie vielmehr unterminiert. Alles das sind Rothsche narrative Konstruktionen, die unpsychologisch anmuten, genau besehen jedoch dezidiert psychologisch konzipiert sind. 2 »Die weißen Städte« Ich, Welt, Erleben, Schreiben im Krisenjahr 1925 Eines verlangt nach Erklärung: Just in denselben mittleren 1920er Jahren, da Roth eigentümlich unstet und desorientiert wirkte und mit sich und seiner Zeit immer verzweifelter zu hadern begann, fand er als Romancier zu sich. Im Umbruchjahr 1925 erschienen auffälligerweise einige programmatische Erklärungen, die vor allem mit dem Verhältnis von Selbst und historischer Erfahrung, Welt- und Textordnung befasst sind – zu finden am Beginn des (aus Reportagen für die »Frankfurter Zeitung« hervorgegangenen) Reisebuchs »Die weißen Städte« (II. 451–52699). Im Zentrum steht eine programmatische Ablehnung aller Versuche, über eine objektive, intersubjektiv geteilte, stabile Weltordnung zu berichten oder deren Existenz in Frage zu stellen: Diese wird sogar quasi-erkenntnistheoretisch begründet – ein seltener Fall im Werk Joseph Roths, der allen abstrahierenden oder gar theoretischen Analysen der Sprach- und Erkenntnisbegriffe (ebenso wie der Begriffe der Moral, der Politik, der Macht etc.) ablehnend oder gleichgültig gegenüberstand. (Was wiederum einer der typisch Rothschen Selbstwidersprüche erzeugt: Mit starken erkenntnis- und sprachtheoretischen Postulaten wird begründet, dass es vergeblich und verfälschend ist, übergreifende, systematisierbare Grundsätze im Umgang mit sich, der Rede und der Welt 99

Ein Buchdruck scheint nicht nachweisbar, jedoch ein handschriftlich korrigiertes, undatiertes Manuskript im sogenannten Berliner Nachlass. Daraus wurde die Textfolge in der Werkausgabe von 1975/76 gedruckt, vgl. den Kommentar des Herausgebers Klaus Westermann II. 1005.

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zu entwickeln.) An die Stelle des planvollen Beschreibens intersubjektiv gegebener Dinge und Ereignisse soll eine Art Poetik der subjektiven, fragmentierten, momentbedingten Reflexe und Erlebnispartikel treten – eine recht offensichtliche Systematisierung der Prinzipien, die Roth bereits in früheren feuilletonistischen Jahren implizit entwickelt hatte. Neu ist der programmatischen Deutlichkeit nach die Einordnung des Erzählens in diese postfeuilletonistische (oder auch: postdekadente) Erlebenspoetik: Das Erzählen soll gleichsam kompensatorisch die im Beschreiben, Erklären und, mutatis mutandis, in der modernen Lebenswelt überhaupt unmöglich gewordene Sachkohärenz, Ding-, Ordnungs- und Wahrnehmungsadäquanz im verbalen Weltund Selbstvergegenwärtigen künstlich wiederherstellen und sich dabei überraschenderweise auf die einzig verbliebene, verlässlich erscheinende, stabile Instanz stützen – das eigene Erleben: »Ich fahre niemals mehr in die ›Fremde‹. Welcher Begriff aus einer Zeit der Postkutsche! Ich fahre höchstens ins ›Neue‹. Und sehe, daß ich es bereits geahnt habe. Und kann nicht darüber ›berichten‹. Ich kann nur erzählen, was in mir vorging und wie ich es erlebe.« (II. 453) Das ist in einer Hinsicht verblüffend konsequent: Wenn man ohnedies keine objektive Dingordnung verbal darstellen kann, sondern nur das, was man erlebt, ist auch unmöglich, in die Fremde zu fahren. Es wird ja nur eigenes Erleben registriert, und das für sich genommen kann für gewöhnlich nicht wirklich fremd oder fern sein. Andererseits erscheint Roths Programm unhaltbar naiv. Er behandelt hier das eigene Erleben und das erlebende bzw. das erlebte Ich als Gegebenheiten, als letzte, verbliebene, nicht von äußeren Ideologien, Konventionen, Deutungssystemen, Modellen, Annahmen, Diskursen abhängiges Phänomen. Nichts könnte falscher sein. Die Psychologie hat seit Jahrzehnten in vielen Versuchen bewiesen, dass man sich kaum über etwas so leicht täuscht wie über das, was gerade »in« einem vorgeht, was das eigentliche »Ich« ausmacht und was man im Augenblick »wirklich« erlebt. Von konventions-, weltanschauungs-

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und wissensgeleiteten Konstruktionen des Selbst ist es allemal abhängig. Überraschender als dieser Fehler ist die Blindheit Roths in diesem Zusammenhang gegenüber der Abhängigkeit dessen, was man als »eigenes« Erleben im Schreiben oder Lesen bestimmt (oder zeigen will), von der Art des Schreibprozesses. Roth spricht dem subjektiven Erleben eine Unmittelbarkeit und Unabhängigkeit vom Schreiben zu – und tabuisiert sie gegen alle Zumutungen des erkenntniskritisch relativierenden Zugriffs, obwohl wenige Schreibarten so wie die seine vorführen, wie stark das Verständnis dessen, was erlebt wird, von der Sprechweise abhängt. Dass das Erleben verabsolutiert auftaucht, überrascht auch dem textinternen Vorgehen nach, denn wenige Zeilen zuvor hatte Roth dekretiert, die Ursache für das Unmöglichwerden jeder gewohnten »Beschreibung« sei, dass alle Dinge unentwegt ihr Gesicht ändern und somit gerade, sollte man denken, auch das Ich-Erleben und die Sprache, vermittels derer man auf jenes zugreift: Sie müssten eigentlich mobile, unberechenbare und wandelbare Entitäten sein. Dabei ist Erleben wohl die Entität, in der die Übersetzung in Worte besonders prekär, verfälschend, behelfsmäßig und damit abhängig von einer bestimmten Rede- und Schreibkonventionen ist, in der man auf das Erleben zugreift. Diese Abhängigkeit ist ungleich größer als bei systematischen Berichten über das Verhalten der Bevölkerung einer fremden Weltgegend – einen Sprachmodus, den Roth als das eigentlich Sinnlich-Wirkliche oder Bedeutsame verfehlend aussondert. Gerade das Geschichtenerzählen im gewohnten, auch von Roth im Prinzip übernommenen Modell kann das Erleben, was immer man darunter genau verstehen möchte, nur besonders mittelbar darstellen, durch die Konventionen des verbalen Systems insgesamt und der noch strikteren des erzählerischen Darstellens im Besonderen. Wenn wir diesen Eindruck des ambitioniertesten metareflexiven Textes jener Umbruchszeit verallgemeinern dürften, würde man annehmen, dass Roth vermutlich nie mit abwägender Distanz zu sich

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und seinem Schreiben den sinnkonstitutiven Anteil der von ihm verwendeten Sprach- und Textproduktionsmanieren an dem reflektieren konnte, was er subjektiv als Ich und Welt erlebte und was er für seine ›eigene‹ Meinung und Gesinnung hielt. Das Schreiben als Sinnkonstitutionsvorgang war dabei so selbstverständlich vorausgesetzt wie die Brille auf der Nase für den Kurzsichtigen, die Prothese für den Amputierten, das Funktionieren der Organe für den Gesunden. Schreiben war nie trennbar von Selbstschutz und Selbstneuerfindung; was er schreibend als wirklich erfuhr, nicht vom Wunsch, dem möge so sein. Roth blieb, könnte man vielleicht sagen, medial blind – obwohl er, wie wir bereits mehrfach sahen und noch öfters sehen werden, im praktischen Vollzug des Schreibens Reflexionen auf die Weise der Sinnkonstitution sogar zu einem, wenngleich intuitiv-spielerischen, wichtigen Element der Erfindung machte. Solche praktischen Selbstbeobachtungen konnten die Sachillusionen betreffen, die bestimmte formelhafte Zuspitzungen und seine Kurzsatzrhetorik erzeugten. Es konnte ein ironisches (oft implizit selbst kommentierendes) Offenlassen sein, ob man es nur mit Produkten bestimmter Mechaniken der Sprachfindung zu tun habe oder mit Artikulationen von Gedanken, Ansichten und Erlebnissen, die bereits vor dem Verbalisierungs- oder zumindest vor dem Schreibprozess existierten (und lediglich übersetzt wurden in eine bestimmte Formulierung). Auch diese Technik hat mit Ambivalenzen und Ambiguitäten im Verhältnis zu sich als Person, das heißt, als erlebende, wahrnehmende und schreibende Instanz zu tun. In einem sehr besonderen Sinn lebte Roth im Schreiben und lebte wohl nicht nur im Schreiben die feuilletonistische Zersplitterung aller Erfahrungskontinuität, die Auflösung von Entwicklungslogiken in Aggregationen einzelner, in sich abgeschlossener Formeln und Partikelbenennungsakte, die geradezu methodisch kalkuliert hervorgebracht wurden. Eine Vielzahl der einzelnen Formeln kann man als Preziosen und Verbalposen verstehen, die von einer nächsten Mo-

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mentlaune oder Pose abgelöst werden konnten – und den Poseur durch Rückkopplung immer genauso stark bestimmen wie er willentlich kontrollieren konnten, welche Pose oder Pointe genau er im nächsten Augenblick kreieren möchte und welche Implikationen das für ihn, sein Selbst- und Weltverhältnis hat, reflektiert im stets imaginär mitanwesenden Auge des Zuschauers bzw. Lesers. Roth dürfte in den zitierten Schlüsselpassagen aus »Die weißen Städte« gerade nicht den Eindruck erweckt haben wollen, er müsse eigentlich gar nicht physisch den Ort wechseln, da er ohnehin nur sein eigenes Erleben als Stoff des Schreibens benutzen könne. Zumindest nicht im Falle journalistischen Schreibens: Den Erlebnisstoff hierzu konnte Roth offenbar auf Dauer nur generieren, wenn er häufig den äußeren Ort wechselte. Es handelte sich also eher um erlebnisbewusste Antworten auf eintreffende Stimuli. Im Juli 1928 beispielsweise ließ er seinen Redakteur Reifenberg wissen, dass er – der soeben sich ja auf Reisen befand –knifflige Frauenangelegenheiten zu regeln habe und daher »wieder einmal die Zeit [gekommen sei], in der ich meine Existenz vollkommen umändern muss. Wegfahren, ein Jahr frei und alleine sein – ich will nach Amerika, wenn nicht nach Sibirien. Ich bin so sehr an das Reale gebunden, daß ich im billigsten (!) Sinn des Wortes erleben muß, um zu schreiben.«100 Eben dieser Brief liefert im Übrigen auch ein Indiz für etwas Ästhetisches, das so selbstverständlich wie schwer zu beschreiben ist: dass es selbstredend nicht darum gehen kann, bestimmte Situationen oder Wahrnehmungsgegenstände als bloßen Auslösereiz für zufällige persönliche »Erlebnisse«, Assoziationen oder gar Meinungen und Stimmungsbekundungen zu benutzen. Das generierte Erleben gibt zwar den Stoff des Sprachgebildes ab, doch ist das Ziel selbstredend zuallererst das durchrhythmisierte Sprachgebilde selbst; das Erleben wird in dessen Dienst genommen, nicht umgekehrt. Roth tadelt in diesem Brief – ein erstaunlicher Akt von Anmaßung gegen100

An Benno Reifenberg (Hotel Imperial Wien, 30. Juli 1928). In: Briefe, S. 135– 7, Zitat S. 136.

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über dem Dienstherrn! – einen Artikel Benno Reifenbergs, als hätte der ihn als Privatlehrer eingestellt. Reifenberg habe einen konkreten Gegenstand, eine Frankfurter Ausstellung, sträflicherweise dazu benutzt, »seinen persönlichen Gefühlen oder STIMMUNGEN gar einen überdeutlichen Ausdruck zu verleihen.«101 Das Wort Stimmungen findet sich im handschriftlichen Brief dick markiert, um seinem Dienstherrn die Elementarität seines Fehlers gleichsam fett vor Augen zu führen. Für unseren Zusammenhang folgt daraus: Roth war sich offenbar als Praktiker bewusst, dass das ästhetisch relevante »Erleben« gerade nicht, wie es in jenen Schlüsselsätzen aus »Die weißen Städte« erscheint, eine unmittelbare, sprachunabhängig gegebene Sache sei, auf die man wie auf einen Schatz zugreifen kann. Das ästhetische Erleben im Akt des Schreibens erzeugt vielmehr diese Erlebensqualität ebenso, wie das Gewicht und die »Bedeutung« der Worte vom Erleben in diesem spracherzeugten Kontext her empfunden werden. Wiewohl Roth in jenen Schlüsselsätzen abstrahierend metareflexiv über das eigene Schreiben, Selbst und Welt sowie dessen erkenntnistheoretische Grundlagen und dessen Veränderungen in der (urbanen) Moderne räsoniert, entwickelt er sein Programm keineswegs, wie man angesichts des Erklärungszieles erwarten könnte, diskursiv oder kontinuierlich – sondern erstaunlicherweise in einer gegenüber den gewöhnlichen Feuilletons beinahe noch einmal gesteigerten Atomisierung der Verbalformeln, in einer gesteigerten Konzentration auf sprunghaft aneinandergereihte, punktuelle Effekte von Einzelfügungen. Der atomisierende, das Marginale mit Hypergeneralisierungen und den inszenierten Kontinuitätsbruch kultivierende Geist des Feuilletons wird nicht zurückgenommen, sondern gleichsam von innen her radikalisiert, sodass sich manche Passagen einer Materialmontage von Trümmern und Einfällen nähert. Eingebaut finden sich auch stilisierte, ebenfalls vom Geist der momentbedingten Pointe diktierte Begründungen, weshalb diese Abkehr vom 101

Briefe, S. 135.

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Beobachten, Schildern, Erklären und damit aus einem rationalen, planvollen, objektivierend begründenden Weltaneignen generell erfolgt: Mit irgendgearteten politischen Vorgängen hat das gar nichts zu tun, und es gibt keinen Grund, weshalb, wenn er so empfand, Roth das in diesem Kontext verschweigen hätte sollen; im Gegenteil gehören Schuldzuweisungen unter politischen Umständen, die persönliche Entscheidungen oder Leiden angeblich verursachten, regelrecht zu den Standardritualen in kulturellen Milieus. (Man »leidet« dort gerne »an Deutschland« oder am »Kapitalismus« oder an der Zeit, als ob es kausal determinierende Instanzen wären.) Der Grund soll vielmehr in der modernen Auflösung jeder Ding- und Weltordnungsidentität liegen – worin man literaturgeschichtlich vermutlich auch eine radikalisierende Revitalisierung des Prinzips der in Einzelempfindungen aufgelösten Ich- und Welt-Diskontinuitäten sehen kann, das in der Wiener Moderne um 1900 (mit und ohne Ernst Mach und Hermann Bahr) so besonders wirkmächtig war102: »Seitdem glaube ich nicht, daß wir, die Fahrpläne in der Hand, in einen Zug steigen können. Ich glaube nicht, daß wir mit der Sicherheit eines für alle Fälle ausgerüsteten Touristen wandern dürfen. Die Fahrpläne stimmen nicht, die Führer berichten falsche Tatsachen. Alle Reisebücher sind von einem stupiden Geist diktiert, der nicht an die Veränderbarkeit der Welt glaubt. Innerhalb einer Sekunde aber ist jedes Ding durch tausend Gesichter verwandelt, entstellt, unkenntlich geworden.« (II. 452) An Textstrategien begegnen wir hier trotz der diskursiven Gestik vielem wieder, das wir aus Erzähltexten und Feuilletons bereits kennen. Das begründungslos dekretierende Hinsetzen von Allgemeinaussagen, Urteilen, Formeln, hier verbunden mit einem reihenden (anaphorischen) Aufbau aus Negationen: »Seitdem glaube ich nicht 102

Vgl. Fähnders 1998, S. 84–86.

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[…] Ich glaube nicht […] Die Fahrpläne stimmen nicht […] der nicht an die Veränderbarkeit glaubt […]«. Übertreibungen und Überpointierung gehören zu den Basismanieren, vorgetragen im Kokettieren mit vorsätzlicher Falschheit des Ausdrucks: »Alle Reisebücher sind […] Innerhalb einer Sekunde aber ist jedes Ding von tausend Gesichtern verwandelt […]«. In dieser letzteren Formulierung haben wir ein extremes Beispiel des für Roths Schreiben und zumal sein Erzählen grundlegenden Motivs der plötzlichen, teils märchenhaften, teils katastrophischen, teils der Überreaktion auf Kränkungen entspringenden Verwandlung und Verkehrung vor uns. Wir werden ihm in späteren Studienteilen wiederbegegnen. Die Permanenz der Übertreibungs- und Überpointierungsmanieren verleiht solcher Rede, die, solange man die einzelne Satzformel betrachtet, sogar von pathetischem Ernst sein kann, etwas Posenhaftes, teils Kapriziöses, teils witzelnd Komödiantisches. Umgekehrt gehört die Übertreibung zu den Mitteln der Theatralisierung von Geschichte und Dasein, die die Kulturkritik von jeher liebte103, dabei prinzipiell die eigene, intuitive, literarisierende Subjektivität als privilegierte Urteilsinstanz jenseits der empirischen Ausweisbarkeit inszenierend. Die programmatischen Seiten zu Beginn des Reisebuches wirken wie eine Etüde in halb geschauspielerten Bedeutsamkeitsgebärden und der Valeurs ihrer momentanen Überraschungsund Verblüffungswirkungen – nicht zuletzt auf den Schreibenden selbst. Zur Verblüffung gehören dann jeweils Weisen des Wunderns, dass trotz aller Artifizialität, Unstimmigkeit, Willkür der einzelnen Redegesten doch etwas wie Weltsuggestion entsteht. Der kalkulierte Einsatz von sachlichen Reibungen und Inkonsistenzen und zunächst unsinnig wirkenden, apodiktischen Behauptungen gehört wesentlich zu dieser Art Rede, Roths Umgang mit den Fahrplänen im obigen Text wäre ein Beispiel dafür. Natürlich kann man sehr 103

Die um 1900 geborene Generation behielt dieses Gebaren bis zuletzt bei, vgl. den programmatischen Titel Günther Anders, Übertreibungen in Richtung Wahrheit. Stenogramme, Glossen, Aphorismen. München 2002.

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wohl mit Fahrplänen in der Hand Züge besteigen – Roth selbst hat es getan, bevor er die Zeilen schrieb und wusste, dass er es wieder tun werde. Ob man es soll, ist eine ganz andere Frage, eine, die wir im Alltag öfters mit dem Wort /können/ ausdrücken (»Das kann man doch nicht tun« i.S.v. »Das darf/soll man nicht tun [wenn man klug handelt und/oder moralisch integer bleiben will]«). Roth manipuliert hier wie so oft idiomatische Strukturen, verkantet sie, macht sie zu Spielmaterial und labt sich an sach- und sprachlogischen Reibungen und Selbstentwertungen. Eine wiederum andere Frage ist, ob das Vertrauen auf Fahrpläne impliziert zu glauben, das eigene Erleben sei unwandelbar – was gewiss nicht der Fall ist. Sinnvoll ist der dem Gestus nach lapidar feststellende Satz überhaupt nur, wenn man ihn als Behauptung eines verborgenen Wesens der Sache gegen ihren gewöhnlichen Schein versteht – etwa so, dass man, sollte man mit Fahrplänen in den Zug steigen oder Fahrpläne allzu sklavisch befolgen, schon kein wirklich Erlebender mehr ist und damit den Beruf des literarisch ambitionierten Reiseschriftstellerflaneurs verfehlt hat. Der nachfolgende, ausschmückende Satz »Die Fahrpläne stimmen nicht, die Führer berichten falsche Tatsachen.« ist wiederum mit den immer gleichen, von Roth bevorzugten, wohl auch in Kolumnen, Glossen, Satiren, Parodien verwandten Manieren so sehr auf Pointe durch vorsätzliche Sachfalschheit und kokette, mit Polysemie und Idiomatik spielende Ambiguität bei gleichzeitiger, grundloser Generalisierung zugeschnitten, dass man sie nicht als Erläuterung des den Passagen zugrundeliegenden, fundamentalen erkenntnistheoretischen Anspruchs lesen kann. Dass Fahrpläne nicht »stimmen«, würde normalerweise bedeuten, dass die Zeiten und Ziele der tatsächlich fahrenden Züge nicht mit denen übereinstimmen, die der Fahrplan vorsieht oder anzeigt. Roth verschiebt wie sehr häufig in seinen Pointen das Verb in einem wortspielerischen Momenteinfall. »stimmen« muss hier eher die Unstimmigkeit von objektiv messbarer Zeit und der gefühlten oder wahren oder idealen subjektiven

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Wahrnehmungs- oder Erlebenszeit meinen, jedenfalls eher etwas wie ein Gefühl von Unstimmigkeit oder Inadäquanz. Kaum je so drastisch wie in solchen metareflexiven Passagen wird dieser Wesenszug des Rothschen Schreibens vorgeführt: als einer der minimalisierten, formelhaft oder aphoristisch komprimierten elementarisierten Präzision, der messerscharfen Momenteinblicke. In Wahrheit beruht sein Reiz auf der Spannung dieses Elementarisierungsscheins zu den vielfältigen Untertönen, Latenzen, alltäglichen Redegewohnheiten und Implikationen der Rede, die durch die leichte Entstellung und die Art der Materialkombination erzeugt werden. »Führer« im zweiten Halbsatz ist wiederum wortspielerisch verdreht, und Roth kokettiert abermals pointensüchtig mit dem Moment der Unklarheit, der so entsteht: Zunächst würde man »Führer« naheliegenderweise mit dem Zugführer in Verbindung bringen; das Prädikat »berichten falsche Tatsachen« ist daher nicht nur logisch schlampig oder selbstwidersprüchlich ausgedrückt (es gibt keine »falschen Tatsachen«, sondern nur falsche Behauptungen über Tatsachen), sondern erzeugt auch die nächste, in diesem Falle wohl absichtsvoll komische Irritation: Zug- und Reiseführer werden in eine Klasse mit anderen (politischen) »Führern« dieser Welt gepackt. Dass Reiseführer im doppelten Sinne (Bücher und Personen) mitgemeint sind, ergibt sich durch Rückschluss auf die im vorangegangenen Satz auftauchenden Touristen. Hinter der ganzen, fast in jedem Satz kokette Unstimmigkeiten, wortspielerische Irritationen, Sprünge und Schein-Logiken erzeugenden Passage, steckt eine denkbar schlichte und allbekannte und schon in der damaligen Reiseliteratur längst klischeehaft bemühte Maxime: Dass man den Eigenreiz, die lebensweltliche Aura fremder Weltgegenden verfehlt, wenn man sich auf standardisierte Empfehlungen und bloße Planerfüllung verlässt. Neu ist daran nichts: In der deutschsprachigen Literatur über Reisen in die russische Sphäre gehörten mindestens seit Kotzebue auch private Erlebnisse und Beobachtungen zum Repertoire104. Das 104

Brenner 1990, S. 236.

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Umherwandern ohne vorab bestimmtes Ziel, ohne Plan und Plansoll war wie die Konzentration auf das erschriebene, diskontinuierliche subjektive Erleben ein Grundmotiv in der Romantik, die zudem das Reisen zum festen Bestandteil des Romans [und der Lyrik] machte105. Und das Spiel mit Formeln, Inkonsistenzen, Unstimmigkeiten, Selbstwidersprüchen etc. gehörte generell zur Romantik. Individuell oder neuartig ist also nicht einmal die Inkonsistenz von Roths erkenntnistheoretischer Begründung dieser Stereotypen der Reiseliteratur; neu ist auch nicht die dabei auf Dauer gestellte Pauschalisierungsrhetorik – sie war beispielsweise Teil der aphoristischen Rhetorik, die die Frühromantik so liebte. Neuartig war natürlich auch nicht – wie wäre das möglich angesichts so elementarer logischer Funktionen unser aller Sprache? – die Rhetorik der Konfrontation hypergeneralisierter Allquantoren und gleichsam hyperkonkretisierender Singularisierungen: Gerne wechselt Roth beide oberflächlich gesehen gegensätzlichen Funktionen ab und mischt sie mit vorbereitungslosen Sprüngen in vermeintlich höchste Konkretion und Besonderheit des Ortes, der Zeit, des Kontextes und hyperbolischen Figurationen: »Alle Reisebücher sind von einem stupiden Geist diktiert, der nicht an die Veränderlichkeit der Welt glaubt. Innerhalb einer Sekunde aber ist jedes Ding durch tausend Gesichter verwandelt, entstellt, unkenntlich geworden.« Es ist geradezu plump und grundlos, allen Reisebüchern zu unterstellen, an die Unveränderlichkeit der Welt zu glauben – literaturgeschichtlich trifft seit der Romantik (oder seit Lawrence Sternes »A Sentimental Journey«) eher das Gegenteil zu, zumal, wenn man die permanente Veränderbarkeit der Welt auf einzig konsistente Weise versteht, meinend die Abhängigkeit des Erlebens und der Qualität und Bedeutsamkeit der Dinge von den erfahrenden Individuen und den jeweiligen Kontexten und Stimmungen. Wiederum wird etwas in apodiktischer, Bündigkeit, Urteilsgewissheit und Direktheit suggerierenden Pauschalisierung gesagt, das zu willkürlich, sachfalsch und darüber hinaus so 105

Brenner 1990, S. 330f.

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vieldeutig (oder unklar) formuliert ist, als dass man den Satz wörtlich oder auch bloß ernst nehmen könnte: Man liest solche Wendungen eher als neckischen oder gewitzten Verbalreiz, als Kapriole ohne Überprüfungsanspruch. Auch das verleiht vielen Rothschen Sätzen einen Charakter von Pose und Inszenierung. Das Verlangen nach Überprüfung der Sachansprüche und Bedeutungen wird durch die auf Dauer gestellten Sprechmanieren von vorneherein außer Kraft gesetzt – was dann wiederum eigentümlich den immensen Wahrheits- und Welterklärungsansprüchen widerspricht, die gestisch und formaliter – und in Roths postromantischer Überhöhung der erlebenden Künstlersubjektivität – erhoben werden. Wenn man diese Artifizialität einmal in Grundzügen erkannt hat, erstaunt es umso mehr, dass Roth in seinen erkenntniskritischen Begründungsversuchen in »Die weißen Städte« nicht über die Funktion der eigenen, in actu verwendeten Redeweisen im Zugriff auf das vermeintlich direkt gegebene Erleben reflektierte. Ein weiterer Sachfehler dieser metareflexiven Passagen bestand darin zu übersehen bzw. rhetorisch zu kaschieren, dass es etwas völlig anderes ist zu behaupten, das Erleben in jeder Sekunde wandele sich, als zu behaupten, die Dinge selbst würden sich in jeder Sekunde wandeln – was sie im Übrigen ohnehin tun (schon biologisch), während sie sich in anderen Hinsicht nicht wandeln können, da man sie sonst nicht als dieselben durch die Zeit wiedererkennen könnte. Wenn man aufmerksam den Wandel der Farb-Valeurs an einer Kirchenfassade in Abhängigkeit vom Tageslicht studiert – wie es ein Claude Monet ja auch tat – geht man selbstverständlich davon aus, dass es dieselbe Kirche ist, auf der sich das Farbspiel ereignet.) Man sagt lediglich manchmal Dinge wie, die Kirche sei an keinem Tag dieselbe Kirche. Nur sind diese Redeweisen etwas ganz anderes als eine Beschreibung von Erkenntnisvorgängen und Weltmodellen. Diese Redeweisen wollen vielmehr die Imagination und Aufmerksamkeit des Hörers/Lesers in bestimmter Weise lenken, schärfen, manipulieren. Daher verwendet man den Begriff der Identität in

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solchen Redeweisen gleichsam metaphorisch oder unalltäglich. »Innerhalb einer Sekunde aber ist jedes Ding durch tausend Gesichter verwandelt, entstellt, unkenntlich geworden« ist bloße Rhetorik, wenn auch gekonnt wirkungssichere. Gemeint ist wohl, dass das subjektive Gefühl von Bedeutung, Sinn, Wahrnehmungsqualität, Gegebenheitsweise sich fortlaufend wandeln kann. Und das wiederum ist eigentlich trivial. Wir haben es hier mit Varianten von Verwirrspielen zu tun, die zum Kernrepertoire des Schreibstrategen Joseph Roth gehörten: Spiele mit dem Schein, etwas unverstellt wörtlich zu benennen – verbunden mit dem Schein, bloß willkürliche, gleichsam grund- und daher objektlose Generalisierungen zu vollziehen, und dem Schein, bloß effektsüchtig den Moment über die Sachentwicklung zu stellen. Diese Manieren müssen so tief internalisiert gewesen sein, dass Roth sie auch und gerade dann nicht ablegen konnte oder wollte, wenn Diskursivität und somit möglichst Wörtlichkeit oder zumindest Eindeutigkeit oder Überprüfbarkeit gefordert war, wie etwa in »politischen«, historischen, juristischen oder metareflexiven Zusammenhängen. Diese Redemanieren müssen bei ihm auch Manieren des Denkens und Fühlens gewesen sein: Sie haben ihn, sein Gebaren, seine Selbstwahrnehmung, seine Inszenierungen wohl ebenso unwillkürlich mitbestimmt, wie er umgekehrt willentlich über sie verfügen konnte. Den Ambivalenzen, die ihn bestimmten, konnte er durch diese Art Sprachgebung eine fixe Gestalt geben, ohne selbst fixierbar zu werden – und dabei eine Art narzisstischen Mehrwert in Gestalt von Demonstrationen seiner unerschöpflichen Fülle an Variationen derselben Manieren, an Pointen und humoresk gebrochenen Rührungswerten schöpfen. Er konnte dem Schein nach auf ein unmittelbar gegebenes Ich und dessen Erleben mit Worten deuten – doch im Augenblick, da er es tat, entzogen sie sich dem verbalen und damit gedanklichen Arretieren.

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Das Aufheben von Überprüfbarkeit, während man sehr bestimmt und überprüfbar anmutende Sätze formt, die äußerlich gesehen gleichsam zu viel an Wahrheit behaupten; das augenzwinkernde Unterminieren von Wörtlichkeit, die in diesem Augenblick dem Redegestus und der logischen Form nach vermittelt zu werden scheint – derlei Prozesse waren Roths instabiler Persönlichkeit fast zu einer zweiten Schreib-Natur geworden im Umgangs mit sich, der Welt und den stets (gefühlt) mitanwesenden Zuhörern wie anderen Menschen. Diese Manieren blieben dabei, weil es keine inneren Signale gegeben haben dürfte, wo die Wahrheit beginne und die Pose ende, gleichsam verzweifelt frei im Sinne von bindungslos oder grundlos: Durch ihre Anwendung wurde Roth in der Schein-Welt des Schreibens zum Regisseur über Gefühle des sinnvollen Gebundenseins und zugleich Gefangener der Manieren. Ihr Posencharakter zeigte ebenso viel von »sich selbst« und seines Verhältnisses zur Welt, wie sie verdeckten und nur illusionär offenlegen konnten. Weil diese Manieren dem inneren Vagieren so sehr entsprachen, produzierte Roth sie nahezu reflexhaft oder zwanghaft selbst in privaten Briefen. Ihre Anwendung schufen im Fortgang des Schreibens allererst jenen »Joseph Roth«, den er selbst ertrug, leben konnte und den er gesehen haben wollte; und sie verbargen ihn »selbst«, je leichter und effektvoller er über sie verfügte. Liest man Roths metareflexive Sätze wörtlich, sind sie oft durch die immergleiche Rhetorik der übertreibenden Formel, der pikanten Volte und des scheinnaiven Deutens und aufzählenden, atomisierten Benennens spielerisch oder posenhaft verstellte Selbstverständlichkeiten; liest man sie als Aussagen mit Wahrheitsanspruch, sind sie fragwürdig bis falsch, ohne dass die persistente Ironie daran etwas ändern könnte. Derlei Sätze überschauen ihre semantischen Implikationen und die Voraussetzungen ihres Urteilens nicht. Das verleiht Roths Sätzen einen Charakter, der zwischen improvisierter theatralischer Pose und Selbstironie, Willkür, Staffage und Autosuggestion des Urteilens über sich und die Welt pendelt – und insofern wohl

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tatsächlich Ähnlichkeiten mit der leibhaftigen Wirkung der Person Joseph Roths besaßen. Beinahe jeder Satz in Aggregationen wie den zitierten ist eine Art Miniaturpose, die ihr Urheber nicht ganz ernstnimmt – deren Rückwirkung auf das Ich er dennoch genießt, ergründet und braucht, um überhaupt über eine einigermaßen stabile (sic!) Kommunikationsform mit sich und der Welt zu verfügen. Diese rollenhaft-performative Eigenart der gleichsam granulierten Sprachdiktion war Roth nicht nur die Bedingung, um »sich« überhaupt »selbst« mit dem Publikum verständigen zu können – sondern vermutlich auch, um sich mit sich »selbst« angstfrei und sinnerfüllt in Einvernehmen zu setzen. Es ist folglich selbst eine verbale Pose, wenn Roth behauptet, nur seine subjektiven Erlebnisse und sein Innenleben seien für ihn wesentlich, eine Art unverfälschter, vom Schreiben unabhängig gegebener Quell der Rede! In Wahrheit sind angesichts der auf Dauer gestellten, von momentanen Wirkungen geleiteten Stilmanieren gerade nicht seine subjektiven Erlebnisse bedeutsam, sondern allein Sätze, verbale Pointen, Überraschungen im Text, während er mit (fast) keinem Wort auf seine subjektiven, persönlichen Zustände eingeht (was eine ganz andere Sprache verlangt hätte) und eigentlich auch gerade nicht die Subjektivität seiner Erlebnisse zu verbalisieren versucht. Man wüsste wohl gar nicht, wie man reden sollte, wenn man aufgefordert würde, das Subjektive des eigenen Erlebens hier und jetzt oder gestern und dort in Worte zu fassen. Man wüsste nicht einmal, wo man anfangen sollte – bei den Empfindungen von Schwere des Körpers, bei Erinnerungen, beim Ziehen in der Hüftgegend, dem Gefühl, wie die Zunge im Mund liegt? Es mag zunächst verwundern, dass einerseits »Die weißen Städten« das (verbalisierte?) »Beobachten« zu einer in seiner Starrheit dem Fließen der Phänomene unangemessenen Welterfassungsform erklären, und stattdessen das Erzählen als letzte, homogenitätsstiftende Form propagieren, Roth anderseits aber nicht lange danach im

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programmatischem Vorwort eines Textes, der munter und sprunghaft, semi-mündlich Erzählwelt erfindet und gleichwohl mit »Bericht« untertitelt ist (»Flucht ohne Ende«), das Dichten für überholt erklärt: »Das Wichtigste ist das Beobachtete.« (II. 391) Und das, obwohl »Die weißen Städte« nachträglich bearbeitete Aufzeichnungen einer tatsächlich absolvierten äußeren Reise waren, »Flucht ohne Ende« dagegen durchgehend fiktiv erzählend mit deutlicher Reminiszenz an vormoderne, mündlich improvisierte Erzählformen. Wenn der Eindruck richtig ist, dass Roth auf seine in actu verwendeten, verbalen Instrumente und die unbewusst unterstellten Sprachbegriffe geradezu nicht explizit abstrahierend reflektieren konnte oder wollte, erklärt sich dieser vermeintliche Widerspruch: dem subjektiven Eindruck beim Schreiben nach ist es durchaus möglich, dass insbesondere erzählend erfundene Figuren dem Schreibenden ›vor Augen stehen‹ und sich wie von selbst entwickeln; dazu bedarf es nicht einmal besonderer, schon gar keiner literarischen Fähigkeiten. In vielen gewöhnlichen Tagträumen unseres Hirnkinos lassen wir abwesende Person in Gedankenspielen gewisse Entwicklungen ›von sich aus‹ nehmen, um sie näher kennenzulernen. Weshalb etwas ähnlich Anschauliches im Falle des erinnernden Verarbeitens sinnlicher Wahrnehmung der Außenwelt nicht möglich sein soll, ist zumindest nicht auf Anhieb einzusehen. Roth erkennt allerdings die eigenen Ambivalenzen und Aporien im Verhältnis von sinnlichem Wahrnehmen und schreibendem Herstellen der Illusion sinnlichen Wahrnehmens: Er spricht diese Ambivalenz in einer vieldeutigen (und wiederum quasi-anaphorisch gebauten) Pointe an. Auch diese Pointe tut so, als würde sie munter und souverän eigenmächtig mit Aporien und Unfixierbarkeiten spielen und sei nicht der Schreiber immer auch von unauflöslichen Ambivalenzen getrieben – hier etwa auch vom Dilemma zu erkennen und zu benennen, was überhaupt »gegeben« ist im Akt des Schreibens, was außen und was innen:

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Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess

»Ich sehe in den Straßen und in der Gesellschaft genauso aus wie zu Hause. Ja, ich bin draußen zu Hause. Ich kenne die süße Freiheit, nichts mehr darzustellen als mich selbst. Ich repräsentiere nicht, ich übertreibe nicht, ich verleugne nicht. Ich falle trotzdem nicht auf.« (II. 453) Die sich selbst ironisch unterwandernde Pointenfixierung durch willkürliche Negation des Erwarteten ist auch hier evident – und wiederum eine Frucht der Ambivalenz: Natürlich würde man erwarten, dass jemand, der immer gleich aussieht, nichts anderes als er selbst darstellt, nicht übertreibt, besonders unauffällig wäre. Roths Formulierung »Ich falle trotzdem nicht auf« unterstellt die umgekehrte Erwartung, dass ein solcher Nicht-Übertreibender, immer gleich aussehender Mensch in unseren Breitengraden auffällig sei – und das kann nur geschehen, weil alle rundherum per se nicht gleich aussehen zu Hause wie in der Außenwelt, nicht draußen zu Hause sind, etwas anderes darstellen, als sie selbst sind, übertreiben, verleugnen. Und eben solche Existenzweisen und Gemeinschaften waren, wie oben bemerkt, für Roth gerade besonders gute Lebensformen. Das können sie wiederum nur sein, wenn jemand die Sehnsucht kennt und abwehrt, drinnen ›bei sich‹ zu Hause zu sein, einmal nichts anderes darstellen zu müssen als sich selbst, nicht zu übertreiben und zu verleugnen. Aus dieser Ambivalenz geht Roths Pointe hervor. Sich »selbst« hat Roth niemals dargestellt, wohl nicht einmal versucht, so sehr es ihn drängte. Er dürfte geahnt haben, dass er es nie mit Erfolg hätte tun können. »Ich sehe in den Straßen und in der Gesellschaft genauso aus wie zu Hause« ist eine charakteristische Pointe, die, solange man sie gefühlshaft paraphrasierend liest, in all ihrem Schillern unauffällig und heiter konsumiert werden kann, in der typischen, apodiktischen Pauschalisierung jedoch entweder trivial wahr ist oder strikt falsch und den vorherigen, ebenfalls apodiktisch ausgesprochenen Grundsätzen widersprechend. Trivialerweise sieht man in gewissem Sinne gleich aus, egal, in welchem Raum man

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steht, sonst wäre man von anderen Menschen nicht wiederzuerkennen. Jedoch sieht man in jedem Kontext anders aus, je nach Beobachter und Situation. Es ist also gleichermaßen möglich, absolut gegenläufige Dinge über ein und denselben Gegenstand zu sagen – wie unsere in Redewendungen gespeicherte Alltagserfahrung weiß: »Kein Augenblick gleicht dem anderen«, »Niemand steigt zweimal in denselben Fluss« etc. Solche rhetorisch produzierten Sätze sind wie so viele Aphorismen trivialerweise wahr und dennoch offensichtlich falsch, je nachdem, welche Hinsicht man meint. Es ist sinnvoll, eben diese Hinsichten zu unterscheiden. Wenn man von Roths Stil als einem der lateinischen Präzision oder des entschlackten, unverstellten Ausdrucks spricht, geht man also einem Oberflächenschein auf den Leim. Knappheit, Formelhaftigkeit, die Tendenz zum Stellen des aphoristischen Geistes auf Dauer, das alles sind zugleich Instrumente eines systematischen »EntWörtlichens« und Camouflierens, Posierens, zelebrierter Spontaneität des Esprits, Übertreibens in selbstironisch ambivalenter Inszenierung, des Selbstentwertens in der Generalisierung wie in der Authentitizitätsfiktion. Die persistente Koketterie und Ironie, das unausgesetzte Spiel mit Zeigen und Verbergen sind Weisen, um das, was soeben scheinbar direkt benannt wurde, im selben Atemzug zu entwerten und zu verwischen, und alles in schwebend vieldeutige Netze von Formeln und punktuellen Effekten zu versetzen. Es ist insofern eine Schreibweise des permanenten, effektvoll dosierten Selbstwiderspruchs, der amüsiert dargebotenen Sachunrichtigkeit, einer heiteren, teils komödiantisch prahlerischen Generalisierung, dann doch wieder auch der gewitzten Zurschaustellung von Kindlichkeit. Alles ist Pose, wird aber häufig auch als Pose präsentiert – nicht ohne zu insinuieren, das schreibende Ich sei ein souveräner Gebieter über das, was es sagt und über alle Zusammenhänge, die entstehen, Doppelbödigkeiten, Widersprüche, Prahlereien und Selbstentwertungen.

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Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess

Die Übertreibungsmanieren sind mitunter bis zur Lächerlichkeit und wohl durchaus bewusst zum schlechten Stil hin ihrerseits übertreibend förmlich angehäuft: »Innerhalb einer Sekunde aber ist jedes Ding durch tausend Gesichter verwandelt, entstellt, unkenntlich geworden.« Eine auf ihre Weise fast komische Bauweise des vorliegenden Textes ironisiert oder karikiert sich hier selbst in ihrer Mechanik, ihrem fast unausgesetzten Streben nach der punktuellen, formelhaften Pointe, die nie stimmt, sich nie zu übergreifenden Sachenwicklungslogiken mit anderen Formeln bindet und doch vielsinnig und erlebnishaltig sein will. Die automatisch produzierten Manieren der formelhaften Pauschalisierung, der Willkürsprünge und Zuspitzungen zu apodiktischen Kurzsätzen kann in solchen metareflexiven Passagen eigentlich gar nicht anders, als sich über den eigenen Zwang zum Produzieren formelhafter Kontradiktionen, Oppositionen, Übertreibungen, über deren Beliebigkeit, Widersprüchlichkeit und Sachverfehlung, deren Momentbedingtheit ironisch zu amüsieren – und macht sich dabei immer auch über einen Leser lustig, der sich gerade noch verblüffen ließ, spätestens dann, als Roth am Ende der Metareflexionen exponiert, was man längst wusste: dass es diesem Autor schlicht unmöglich ist, Außenwelt »darzustellen«. Nur eben: Weltlos ist diese Art zu schreiben deshalb nicht, jedenfalls nicht vollständig. Diese Grundüberzeugung wird bloß im Exponieren ihrerseits ironisiert und in vieldeutig bewegte Spiele mit dem Motiv der Fremde einbezogen – wobei der Begriff der Fremde zwischen subjektivem Gefühl und objektiver Feststellbarkeit vagiert: »Seitdem ich in feindlichen Ländern gewesen bin, fühle ich mich in keinem einzigen mehr fremd. Ich fahre niemals mehr in die ›Fremde‹. Welcher Begriff aus einer Zeit der Postkutsche! Ich fahre höchstens ins ›Neue‹. Und sehe, daß ich es bereits geahnt habe. Und ich kann nicht darüber ›berichten‹. Ich

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kann nur erzählen, was in mir vorging und wie ich es erlebt.« (II. 543) Auch hier kommt alles wie in kristallklaren, anaphorisch parlierenden quasi-mündlichen Aussagesätzen kondensiert daher – und kann nichts wörtlich genommen werden, weil es den Sachbeziehungen nach wie verwackelt, falsch oder willkürlich und der Rhetorik der aperçuhaften Verknappung nach zu offensichtlich vom Gedanken an die evokativen Wirkungen im Leser bestimmt ist. Zudem wirken mehrere Fügungen wie wortspielerische Bastelübungen oder kunstgewerblich bemühte Lyrismen: Innerhalb eines Beinahe-Satzparallelismus werden die Zentralworte nach dem Gesichtspunkt der Alliteration gewählt: »Seitdem ich in feindlichen Ländern gewesen bin, fühle ich mich in keinem einzigen mehr fremd. Ich fahre niemals mehr in die ›Fremde‹«. Es werden fleißig Assonanzen geballt, u.a. eine /ei/-Reihe: »Seitdem ich in feindlichen Ländern gewesen bin, fühle ich mich in keinem einzigen mehr fremd.« Diese an sich kunstgewerblich wirkenden Aspekte verstärken den Charakter eines heiteren, sich entwirklichendem Spiel und lassen Roths Rede öfters in Parodien von wohltönenden Klischees übergehen. Das ostinate Schmunzeln, mit dem das zelebriert wird, betreibt nicht zuletzt vielerorts Camouflage für psychologische Subtexte. Selbige sind ein wesentlicher Grund (mehr) dafür, weshalb viele Texte Roths eigenartig schillernd, ungreifbar lebendig und hintergründig wirken, wiewohl ihre Oberfläche so reduktiv und unverstellt scheint. »Seitdem ich in feindlichen Ländern gewesen bin, fühle ich mich in keinem einzigen mehr fremd«, daraus könnte man folgern: Ich kann nur heimisch sein, wo ich (wie in einem Wiederholungszwang) angefeindet werde. Der Satz kann auch meinen, man sei durch eine Art Schock hindurchgegangen und nun immun gegen die kleineren Befremdlichkeiten. Dass »feindlich« hier wohl eher im Sinne einer militärischen und politischen Gegnerschaft gemeint ist, muss sich der Leser erschließen, indem er sich daran erinnert, dass das Adjektiv

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zwei Druckseiten zuvor bereits aufgetaucht war, dann verdrängt wurde durch einen Reigen einzelner Formeln und Kapriolen, ohne alle Kontinuität durch diverse thematische Felder springend, lediglich lose assoziiert durch das übergreifende Sujet der Kindheit im Osten: »Meine Jugend war ein grauer und roter Militärdienst, eine Kaserne, ein Schützengraben, ein Lazarett. Ich machte Reisen in fremde Länder – aber es waren feindliche Länder.« (II. 451) Dann, zwei Seiten darauf, taucht das Attribut »feindlich« in Verbindung mit »fremd« plötzlich wieder auf – wiederum wie ein auch und gerade für den Autor unvorhersehbarer, vielleicht unbewusster, unwillkürlicher Einfall, erzeugt vom Zwang zu Oppositionsbildungen (bzw. Einheiten von Identität und Differenz am Bande der Assonantik. In »Ich machte Reisen in fremde Länder – aber es waren feindliche Länder« korrespondieren »machte Reisen« mit »waren feindlich«, während »fremd« und »feindlich« alliterieren, das aktive Machen dem passiven Gewesensein (»waren«) kontrastiert etc. Diese allgegenwärtigen Manieren werden dabei so hyperbeweglich und selbstverständlich eingesetzt, dass sie zwar als Manieren mithin als Artifizialität, als Wille zum Stil unübersehbar bleiben, doch unwillkürlich und damit lebendig wirken können. Der Satz erscheint wie ein überraschender Flashback, oder eben eine improvisatorische Reminiszenz, die im Akt der redenden, unwillkürlichen Erinnerung das Erinnerte geschickt und fast unmerklich neu einbindet. Diese Technik des sofortigen und überraschenden Verlassens eines Stoffes durch simuliert spontanes Abirren der Assoziation, ist für das klassische Feuilleton so charakteristisch wie die vermeintlich unvorhersehbare, jedenfalls nicht planmäßige (bzw. nicht systematische oder schlussfolgernde), eher spontan variierende Wiederkehr von Motiven, Fragen, Themen, Sprechformeln. Durch diese tausend Sprünge auf kleinstem Raum entstehen Myriaden an Korrespondenzen, von denen meist offenbleibt, ob sie absichtsvoll gesagt sind oder intuitiv in einer unbewussten Schicht mitentstehen, im zitierten Beispiel etwa aus der syntaktischen Verknüpfung zwischen den Sätzen

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»Meine Jugend war ein grauer und roter Militärdienst, eine Kaserne, ein Schützengraben, ein Lazarett. Ich machte Reisen in fremde Länder – aber es waren feindliche Länder.« Es klingt, als ob der Militärdienst selbst der Rahmen des Reisens war – und daher überhaupt der Begriff Feind hineinkommt. Oder es handelt sich um zwei getrennte Handlungssphären, dann wanderte nur aus dem unbewussten Begriffsfeld des Militärs der Begriff Feind in den nächsten Satz. Überaus subtil ist auch der fließende Übergang im ersten Satz von einer Tätigkeit (dem Dienst) in Gegenstände: Kaserne, Schützengraben, Lazarett sind zwar im alltäglichen Verständnis Gegenstände der Lebenswelt, in der man normalerweise Militärdienst versieht – dass das Lazarett den Satz beschließt, ist wiederum eine Pointe. Buchstäblich gelesen war jedoch die Jugend ein Militärdienst – einem Abstraktum, dem wiederum Farbqualitäten zugesprochen werden! –, und diese Jugend wird dann zu Objekten (Kaserne, Schützengraben, Lazarett). Eine solche Metaphorik verwenden wir alltäglich durchaus, wir sagen: Meine Schulzeit war eine Hölle, meine Kindheit ein Gefängnis etc. Man kann den Satz auch harmloser lesen: Seitdem das Ich in anderen Ländern gelernt hat, mit Anfeindung umzugehen, gibt es keine fremden mehr. Doch jeder Leser wird zumindest ahnen, dass jener andere, psychologische Subtext mitschwingt unter einer Oberfläche, die bar aller Psychologie scheint. Wir sind schon mehreren Stellen begegnet, an denen Roth seinen Texten und Figuren eine charakteristische Lebendigkeit und Hintergründigkeit durch diese kaschierten psychologischen Sub-Texte verlieh. Im zitierten Abschnitt kommt zum Vagieren und Fragmentieren des Sinns vermeintlich elementarer und klarer Formeln wiederum die Dauermanier der Pauschalisierung und Übertreibung hinzu: »[…] fühle ich mich in keinem einzigen mehr fremd« klingt, als ob das Ich jetzt in der ganzen Welt (und nicht nur in den wenigen Weltgegenden, in denen es war) heimisch geworden ist – was wiederum so natürlich klingt, weil es alltägliche Generalisierungen imitiert, etwa: »Ich habe die ganze Welt bereist«, oder: »Mich kann nichts

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mehr überraschen«. Roths Satz klingt zudem ein wenig wie adoleszente Imponiergebärden der Art »Und ich hab die alle, einer nach dem anderen, umgepustet in dem verdammten Lokal.« Dieser Übergang von unernster, nicht wörtlich zu nehmender Generalisierung und Prahlerei oder Hochstapelei (sic!) ist fließend – auch das gehört zum Charme von Roths Erzählsprache. Wie sehr, kann man erfahren, wenn man die scheinbar selben sprachlichen Mittel aus der Alltagsrhetorik in den Erzählungen Scholem Alejchems untersuchte, der, aus dem ukrainischen Ostjudentum stammend, ohne Anzeichen von Zerrissenheit zwischen Ost und West pendelte und auffälligerweise in seiner Imitation des mündlichen Erzählens das, was Roths Erzählstil ausmachte, die artifiziellen Verkindlichungen des Nennens in Spannung zu Oppositionsfiguren, unterschwelliger Psychologisierung und schwebenden Vieldeutigkeiten nicht ausprägte. Die alltägliche Rhetorik des Pauschalisierens in der Erzählrede Scholem Alejchems und in Roths abstrahierenden Aggregationen von Satz-Posen Scholem Aljechems Versuch, nach Pogromen in Kiew 1905 mit seiner Familie in den USA Fuß zu fassen, war nicht nachhaltig, wiewohl er dort zu Ruhm kam. Er ging erneut nach Berlin, irrte auf der Suche nach Gesundheit und aus Lust an persönlicher Begegnung mit seiner großen Leserschar in Europa umher: Im Ersten Weltkrieg wechselte er erneut in die USA – wie auch seine berühmte Romanfigur Menachem Mendel sein Glück in den USA versucht. Für Scholem Alejchem waren westliche Moderne und das Schtetl zwar entfernte Lebenswelten, doch keine unversöhnlichen Feinde. Alejchem kannte den für Roth charakteristischen Denkzwang in unvermittelbaren Antagonismen und kulturellen Sieger-Opfer-Konstellationen nicht und durchlitt augenscheinlich auch keine vergleichbaren Identitätskonflikte. Er versuchte sich zwischenzeitlich als Börsenmakler (auch seine Romanfigur Mendel arbeitet erfolglos als Spe-

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kulant), verspielte dabei ein ererbtes Vermögen und hatte sich zuvor auch als Regierungsrabbiner bemüht106. »Sein Renommee unter den emigrierten Juden strahlte aus der Neuen in die Alte Welt zurück, so dass er 1911 und 1914 auf ausgedehnte Lesereisen durch Europa ging«107 – gleichermaßen in West- wie in Osteuropa, bevor er am Beginn des Weltkrieges wieder in die USA zurückkehrt. Scholem Alejchems Geschichten waren längst weltberühmt, als Joseph Roth sich anschickte, im Metier des Erzählens zu reüssieren. Alejchems Erfolgsmodell muss man, wie auch die verwandten Sofrims und Perezʼ sicherlich stets mitdenken, wenn man den Ursprüngen von Roths Adaption mündlichen, alltagsnahen Geschichtenerzählens nachgeht108. Nicht nur seinem »Hiob« dürfte die Rezeption und Verwandlung von Motiven und Redeweisen der Tewjeund Mendel-Romane Alejchems anzusehen sein. Doch würde durch entsprechende Vergleiche auch deutlich, dass Roths Erzählermodell keineswegs, wie Alejchems, sowohl stofflich als auch dem Sprachgestus nach, in elegischer Verklärung einer liebevoll erinnerten ostjüdischen Lebenswelt operierte, sondern ungleich abstrakter und indirekter Stoffe und Gesten des mündlichen Erzählens adaptiert hat. Alejchem hätte niemals, wie Roth, eine Poetik der (relativ) autonomen Sprachstruktur entwerfen können oder wollen. Roth war im Gegensatz zu Alejchem nicht fähig, die Differenzen von Ost und West in sich zu vermitteln, zu relativieren oder zu historisieren. Undenkbar für ihn, wie Alejchem ein eindeutiges, gleichermaßen empathisches wie relativierendes Verhältnis zur in seiner Eigenart und Beschränktheit rührenden, doch deshalb nicht wah106

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Biographische Angaben dieses neben Sforim und Perez dritten Klassikers der jiddischen Literatur nach Gernot Jonas, Nachwort. In: Alejchem 1995, S. 265– 273, hier S. 271f. Stefana Sabin, Schelme und Schlehmile. In: NZZ 13. 5. 2016, https://www.nzz.ch/ feuilleton/zum-100–todestag-von-scholem-alejchem-schelme-und-schlehmileld.82264 (unpag.). Roth kannte die Erzählungen Alejchems natürlich sehr gut, vgl. Bronsen 1974, S. 22.

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reren oder ursprünglicheren Lebenswelt seiner Herkunftslandschaft zu finden. Er hätte sich bezeichnenderweise niemals vorstellen können, sein Leben nach der Schulzeit im Osten zu verbringen – wiewohl oder eigentlich: weil er später das Schtetl zur antagonistischen, ursprünglicheren, unfragmentierten Lebensform gegenüber dem als Entfremdung empfundenen westlich-liberalen Lebensstil erhob. Auch Alejchem war übrigens zunächst ein ›moderner‹ Feuilletonist und Erzähler, der sich durch eine gute Gymnasialbildung aus der Enge des traditionellen Schtetl-Judentums befreit hatte. Doch dann entdeckte er das jiddische Erzählen und mit diesem das Schtetl neu und konnte das ohne Weiteres mit einem Leben in westlichen Metropolen vereinbaren. Durch die Brille von Roths »Logik« des OstWest-Verhältnisses betrachtet, konnte Alejchem diese Eindeutigkeit des elegischen Blicks, ohne in Verdammungen der westlichen Moderne zu verfallen, nur gefunden haben, weil er (auch) im Westen Karriere im Großen Kulturbetrieb machte. Roths ungleich abstrakteren Zugang zur Frage nach einem Konzept von poetischem Text könnte man sich veranschaulichen, indem man die oben zitierten Sätze aus »Die weißen Städte«, »Perlefter«, »Erdbeeren« u.a. mit einer Passage Scholem Alejchems vergleicht. Ein ohnedies zur Prahlerei neigender Bahnfahrgast ostjüdischer Herkunft behauptet, in der argentinischen Migration zu Reichtum gekommen zu sein, und versucht zu erklären, weshalb er jetzt zwecks Brautschau zurück in die ostjüdische Provinz fahre: »In Buenos Aires haben sie mir, ob Ihrʼs glaubt oder nicht, schon alle [Frauen-]Schönheiten der Welt präsentiert. Ich hätte welche haben können, hört Ihr, wie sie der türkische Sultan nicht kriegt. Aber ich habe mir ein für allemal geschworen, nein, ich fahre nach Soschmaken [sein ostjüdisches Heimatdorf in der Ukraine – S.K.], um eine Frau zu suchen. Ich will ein anständiges Mädchen. Eine jüdische Tochter. Wenn sie noch so arm ist, macht das nichts aus. Ich werde sie mit Gold

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überschütten und die Eltern auch. Die ganze Familie mache ich glücklich. Und dann bringe ich sie heim zu mir nach Buenos Aires. Einen Palast werde ich ihr dort hinsetzen wie für eine Prinzessin. Kein Stäubchen lasse ich auf sie kommen. Gut wird sie es bei mir haben wie keine andere Frau auf der ganzen Welt, ob Ihrʼs glaubt oder nicht.«109 So klingen Adaptionen der alltagsnahen Generalisierung, die tatsächliche, plastische, stimmig einfühlende Abbilder oder Portraits eines lebensweltlich vorfindlichen Personen- und Rede-Charakters geben wollen. Sie haben nichts von Konstruktion und Inszenierung an sich. Man interpretiert sie automatisch als nicht-wörtlichen Ausdrucksverstärker einer überschießend starken Absicht oder einer Wunschphantasie oder eben von Prahlerei in der positiven (»schon alle Schönheiten haben sie mir präsentiert«; »Gut wird sie es bei mir haben wie keine andere Frau auf der ganzen Welt«) wie negativen Fassung (»Kein Stäubchen lasse ich auf sie kommen«. Man sieht auf den ersten Blick, dass Joseph Roth im Vergleich zu Scholem Alejchem tatsächlich viel abstrakter auf diese Muster zugriff – sowohl auf die lebensweltlichen wie auf die verbalen Verhaltensmuster. Auch auf die Muster der alltäglichen metasprachlichen Thematisierung des Verhältnisses von überschießender Absicht und Glaubwürdigkeit der Wörtlichkeit: Symptomatischerweise dürften sich die ganz schlichten, aus dem Alltag gegriffenen Versicherungen der Art »keine Frau auf der ganzen Welt, ob Ihrʼs glaubt oder nicht« bei Roth gerade nicht finden. Er suchte im Gegensatz zu Alejchem keine wirkliche, alltägliche Schlichtheit der Sprache zum unverstellten Ausdruck von Gefühlen und Gedanken, die der Wiedererkennbarkeit und homogenen Anschaulichkeit der dargestellten Charaktere dienen sollte. Roth ist artifiziell selektiv, die Sprachmanieren verselbständigen sich bei ihm 109

Scholem Alejchem, Der Mann aus Buenos Aires. In: Ders. 1995, S. 66–81, Zitat S. 80.

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und werden diskontinuierlich rekombiniert und in der Anschaulichkeitssuggestion gebrochen. Seine Sachverhalte sind nicht homogen ausmalend, anschaulich vergegenwärtigt, sondern eher Projektionen des Lesers in mobileartige Konstellationen einfacher, atomisierter Benennsätze und dementsprechend oft auf den zweiten Blick als prekäre Konstrukte, Kippfiguren, Verbalposen und Schein-Evidenzen erkennbar. Roths Elementargesten tragen dazu bei, Synthesen von scheinbarer Transparenz und Eindeutigkeit einerseits und vieldeutig schwebenden, vielfach vernetzten Bedeutungen andererseits zu erzeugen. Solche sprachlogischen bzw. rhetorischen Module – ebenso die naiv scheinenden, hinweisenden »Da-ist-x«-Gesten etc. – dienen, die vermeintlich direkt benannte »Wirklichkeit« zu entwirklichen und den sprachstrukturellen Eigenrhythmus zu einer unter Umständen ganz autonomen Dimension des Textes zu machen – beispielsweise durch die oben erwähnten Wechsel von willkürlicher Generalisierung und ebenso plötzlicher, maximaler Konkretion des gegenständlichen Scheins. Bei Alejchem hingegen soll ein ungestörter, mimetischer Redefluss die ungebrochene Einfühlung in eine charakteristische Rede- und Lebensform ermöglichen, ohne dass es zum Verstehen der Abfolge und Lücken einer rekonstruierenden Deutungsanstrengung durch den Leser bedarf. Es wäre also gänzlich irrig anzunehmen, Roth habe lediglich eine stilistische Variante des traditionellen, Mündlichkeit imitierenden Geschichtenerzählens in der Tradition Scholem Alejchems geschaffen. Sein Zugriff war zu dessen Sprach- und Textkonzept mit seinem Verhältnis von Wort, Denken und Sache fundamental verschieden. Er war intuitiv in der Schreibpraxis erworben, doch ungleich vielschichtiger und artifizieller angelegt als diejenige Scholem Alejchems. Es ist kein »persönlich gefärbtes«, gefühlshaftes Imitieren alltäglicher Kommunikation, sondern eine bewusst ausgestellte Simulation alltagsnaher Simplizität in ästhetischer Konstruktionsabsicht.

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Der erste Satz in Roths metareflexiver Passage »Ich fahre niemals mehr in die ›Fremde‹. Welcher Begriff aus einer Zeit der Postkutsche! Ich fahre höchstens ins ›Neue‹. Und sehe, dass ich es bereits geahnt habe« (II. 453) scheint eine aus der mündlichen Alltagsrhetorik geläufige Übertreibung wie »niemals mehr« nachzuahmen: Man liest sie dieser Alltagsnähe wegen nicht wörtlich, sondern als bloßen Affektverstärker wie bei Alejchem, zumal hier Handlungen der Zukunft schon bewertet werden. Doch dieses Sprechpartikel (»phraseologische Einheit«) ist mit dem Abstraktum »Die Fremde« kombiniert, dessen Vieldeutigkeit oder Indefinitheit wiederum bloß dem Schein nach aus dem Alltag übernommen wurde. In Wahrheit arbeitet die Satzfolge wiederum mit kalkulierter Synthese von oberflächlicher Eindeutigkeit und Evidenz bei Ambiguität auf den zweiten Blick. Dass der Erzähler nie mehr hinausfahre, kann meinen, er fahre einfach nie mehr in die äußere Fremde, oder es meint, egal wo er hinfahre, die Weltgegend werde sich für ihn nun nicht mehr fremd anfühlen. Nicht nur, aber auch diese Doppeldeutigkeit scheint durch die Anführungszeichen in Roths Text noch eigens markiert zu werden. Die singularische, abstrahierende Form wie »die ›Fremde‹« changiert durch die nackte Nominalisierung zwischen Abstraktion und Konkretion, es kann subjektive Gefühle von Fremdheit ebenso wie konkrete, noch unvertraute Gegenstände (Sprachen, Landschaften, Kulturen usf.) meinen. Das gleichzeitige Aktivieren von Konkretem und Abstraktem und vor allem von subjektiven Eindrücken und objektiven Eigenschaften in solchen mehrdeutigen Konstruktionen ist für Roths Stil wesentlich – und einer der Gründe, weshalb er in den programmatischen Passagen der feuilletonistischen Reportagen »Die weißen Städte« die Oppositionen Fremde-Vertrautheit, Außen-Innenwelt mehrfach variierend einflicht, stets mit der Pointe, dass das, was Außenwelt zu sein scheint, im Grunde das Vertraute sei – woraus sich spontan der Verdacht ergibt, das menschlich Innere werde das eigentlich Fremde, aber auch, dass diese vermeintlich grundlegend-

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sten, sauber trennbaren, binären Kategorien näher besehen ineinander umschlagen: »Ja, ich bin draußen zu Hause.« Zu-Hause-sein wiederum kann ein Gefühl von ›heimischem‹ Vertrautsein bedeuten oder eine Situation, in der man ›aus sich herausgeht‹ – oder einen konkreten Ort der Außenwelt. Möglichweise jedoch auch, dass das Ich schon immer »draußen« zu Hause ist, weil es kein (stabiles) Inneres hat oder auf dieses nicht bauen kann. Roth denkt in den programmatischen Absätzen der »weißen Städte« das Verhältnis von Innen und Außen darüber hinaus auch in konkreten räumlichen Analogien, etwa dem des Zaunes, der das Subjekt vom Außen trennen soll, einem Zaun, der selbst errichtet worden sei durch den verhängnisvollen Glauben an Begriffe und »Nomenklaturen« (vgl. II. 453). Diese visuelle Analogie ist gewiss eine Variation der zuvor umspielten, klischeehaften Opposition von Fahrplänen, Regeln, Ding-Stabilität, Beobachten auf der einen, Wandelbarkeit, Erleben, Innenwelt auf der anderen Seite. Der Satz »Ich fahre niemals mehr in die ›Fremde‹« folgt noch in anderer Hinsicht Roths Strategie der kalkulierten Suggestion von Bündigkeit, unumwundener Treffsicherheit, augenblicklicher Prägnanz, Transparenz der Sache bei teils charmierender, teils vagierender Polyvalenz. Die grammatische Mehrdeutigkeit des Satzes hat mit dem Motiv des Ineinander-Umschlagens von Äußerem und Innerem zu tun. Der Satz kann bedeuten, das Ich sei jetzt immer und überall heimisch, auch wenn es in (kulturell, geographisch, wissensmäßig oder gefühlshaft) ferne Weltgegenden reist. Oder er bedeutet, das Ich sei überall heimisch, weil es entweder realiter oder der inneren Wahrheit nach nie mehr wirklich fortgeht, also seinen Ort gar nicht ›wirklich‹ wechselt. Der Satz könnte jedoch auch lediglich eine pointierte Zurückweisung des Begriffs »Die Fremde« im Zusammenhang mit dem Reisen anstreben – so scheint es vom nachfolgenden »Welcher Begriff aus einer Zeit einer Postkutsche!« her rückwärts gelesen. Das Attribut »fremd« wäre dann für die Begegnung mit fernen Lebenswelten möglicherweise legitim, die nominalisierte

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Form »Die Fremde« jedoch nicht. (Eventuell auch, weil Ferne und Fremde zwei gänzlich verschiedene Dinge sind?) Derlei Ambiguitäten bereiten die zentrale Pointe des metareflexiven Programmtextes vor – die Folgerung, das Erzählen sei heute, im Zeitalter der total gewordenen, unberechenbaren Verwandlung der Dinge, die einzige (Roth mögliche) Art, Kontinuität oder Wirklichkeit darzustellen oder zu fingieren, zu suggerieren (II. 453). Wenn Forscher solche Passagen lesen und folgern, man habe es mit einem »Bekenntnis zum Subjektivismus« zu tun110, wurde alles, was literarisch, eigenwillig, kunstvoll und vielschichtig an einer solchen Passage sein könnte, ausgelöscht und gegen einen banalen Verständigungssinn (wie: »Ich bin mehr der spontane Typ«) eingetauscht. Roths Reportagefolge beschreibt oder erklärt nicht nur nicht, sondern realisiert in seiner Sprechweise das darin geäußerte, erkenntnistheoretische Credo vielleicht sogar noch rückhaltloser, als es Joseph Roth eingestehen konnte – so sehr, dass sogar der weltanschauliche, metareflexive Überbau oft eher eine Folge als ein Grund der schreibenden Selbst- und Fremdverständigung scheint. Joseph Roths Annahme, beides – sein Erleben und die Sprache, in der er auf es zugreift – sei von der total gewordenen Unfixierbarkeit, Unbeschreibbarkeit, Unbeobachtbarkeit in der (bzw. seiner) modernen Welt ausgenommen, wäre dann eine im Schreiben erzeugte Illusion und eine durch nichts, vor allem nicht durch sein Schreiben, zu rechtfertigende, willkürliche, von Verlustangst getriebene Setzung. Im Text »Die weißen Städte« kommt denn auch nie ein solches, individuelles Innenleben vor – sondern nur sehr viele emotionalisierende Wirkungen bestimmter, literarisch geläufiger, rhetorischer Praktiken. Es wird lediglich als letzte, verlässliche Instanz behauptet und von der eigenen, erkenntniskritischen Reflexion ausgenommenen – ebenso wie das Erzählen. Dass die programmatische Metareflexion von »Die weißen Städte« just in Roths persönliches Krisen- und Umbruchsjahr 1925 fällt, dürfte 110

Klaus Westermann, Nachwort. In: II. 1023–1028, hier S. 1025.

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kein Zufall sein, auch wenn, wie gesehen, die prinzipielle Ausrichtung schon in den flaneurshaften Attitüden des jungen Feuilletonisten Roth angelegt war: Die quasi-erkenntnistheoretische Verabschiedung von allen Versuchen, die historische und geographische Welt argumentativ, begrifflich, systematisch deuten zu wollen, ist die Kehrseite der nun entwickelten Imagination geschichtlicher Welt in theatralisch-»kulturkritischen« Oppositionsfiguren und häufig auch in Täter-Opfer-Schemata – in denen symptomatischerweise die für den liberalen Westen fundamentale Unabhängigkeit des säkularisierten Rechtssystems und Gewaltmonopols als Garant des zentralen Wertes individueller Selbstbestimmung und Verantwortung keinen Wert besitzen. Stattdessen havarieren Rothsche Helden fortan zwischen der Sehnsucht nach totaler, Ich-aufhebender, rechtlicher, sozialer und werthafter Einbindung und Ausbruch aus eben solchen umarmenden Ordnungen. »Die weißen Städte« lassen die Versuche, das Fremde und das Eigene, Innen und Außen, Herkunft und Gegenwart zu unterscheiden, symptomatischerweise in Kippfiguren, ironische Doppeldeutigkeiten und simulierte Urteilsklarheit zerfallen. Im Gegenzug wird das traditionelle Erzählen fortan zum Medium der Zuflucht vor einer unfasslich gewordenen, permanent ihr ›Gesicht‹ wandelnden Realität: Im Medium tröstlicher Erzähl-Homogenität kann sich das schreibende Subjekt dank eindeutiger Gestaltungsund Weltabbildungskonventionen noch als souveräner Akteur und Weltenlenker, Erlebender und seine Bindungen Erfassender fühlen – und zugleich als inkommensurables Individuum inszenieren, das aus einem überlegenen Witz der instantanen Erfindungskraft heraus schreibt und Welten baut, zeigt und verbirgt. Dass »Die weißen Städte« Ich(-Erleben) und Sprache selbst von der diagnostizierten, total gewordenen Unfixierbarkeit aller Dinge ausnimmt, scheint insofern auch ein Produkt von Schutzreflexen: An die Stelle der weggebrochenen Gewissheit, dass und wie die geschichtliche oder physische Erfahrungswelt sinnhaft geordnet sei, werden per Dezision zwei metaphysische und schriftstellerische

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Orientierung schaffende Instanzen absolut gesetzt und zugleich der Reflexion entzogen: Das Ich-Erleben und die Rolle der Sprache (bzw. des Stils) bei der Wahrnehmung desselben – obgleich doch Ich oder Selbst in gewisser Hinsicht das Paradigma von wandelbarem Gegenstand überhaupt darstellen müssen. Das erlebende Ich wird wie eine vorsprachlich gegebene Entität behandelt in einem Text, in dem das Erleben des Ich nur als Folge vorkommt von atomisierten Satzformeln, Kippfiguren und scheinbar spontanen Elementarsätzen, Oppositionskonstruktionen, ironisch präsentierten Übertreibungen etc. »Ich fahre niemals mehr in die ›Fremde‹. Welcher Begriff aus einer Zeit der Postkutsche!« – das dürfte neben der Diagnose von der unplanbaren Wandelbarkeit aller Dinge ein weiteres Bruchstück intuitiv kulturkritischer Modernediagnose sein. Auch dieses aphorismusartige Bruchstück schießt mit Überraschungseffekt in eine Kette assoziativ lose verbundener Einzeleinfälle ein. Doch die Postkutsche ist dem Gegenstandsbereich der Züge und Fahrpläne entnommen, zuvor mehrfach als Chiffre einer planungsgläubigen Moderne aufgerufen (II. 452). Hier entsteht (bewusst oder unbewusst) eine neue Sachunstimmigkeit, ein neues Kippbild. Wenn der Begriff der Fremde wirklich der vorindustriellen Zeit entstammen sollte, dann müssten es gerade die modernen Eisenbahnen, Nachfolgetransportmittel der Postkutsche, gewesen sein, die das Fremde ausgelöscht haben. Doch das Fremde soll ja (für den Autor) nicht mehr existieren, weil Roth glaubt, Fahrpläne, formale Ordnungssysteme und abstrahierende Begriffe verstellten das Wesen der modernen Dingwelt, ihre unvorhersehbare Wandelbarkeit – während die Überbrückung von Raum und Zeit durch Eisenbahnen selbst keinen erwähnenswerten Einfluss auf die Erfahrung zu haben scheint. Was die Geschichte der Deutung dieses Verkehrsmittels auf den Kopf stellt. Auch und gerade in diesen metareflexiven Passagen nimmt Roth, ganz hingegeben dem einzelnen, gewitzten Moment, nonchalant Inkonsistenz in Kauf – was nicht zuletzt zum Habitus des traditionellen

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Feuilletonisten gehört. Was Roth in besonderer Weise konnte oder zumindest versuchte, war jedoch, die feuilletonistische Pointe, die traditionell nicht viel mehr sein wollte, als ein Blitzlicht des Esprits, so mit Lebensstoff zu verquicken, dass in der Schwebe bleibt, ob es sich um die kunstvoll kondensierte Formulierung einer lange erarbeiteten Einsicht in die Welt handelt oder lediglich um verbale Taschenspielertricks mit dem Endzweck des Applauses. Er präsentierte auch im Feuilleton gern seine Unentschiedenheiten wie seine affektiven, momentanen Vorlieben als wirkungsvolle stilistische Schwebungen, die auf den ersten Blick so tun, als könnten sie ganze Lebenswahrheiten zu einer kleinen Pointe eindampfen – und die diesen Schein sogleich wieder unterminieren. Die vor allem nicht verhehlen wollen oder können, dass das, was man als Welt- und Selbsterklärung in einer solchen Figur wahrnimmt, vielleicht nur das sich ungeplant einstellende Epiphänomen einer kalkuliert konstruierten Wortpointe ist. Eine solche Figur entspringt der Ambivalenz ganz eigener Art, einer Unentschiedenheit oder Unentscheidbarkeit in Bezug darauf, was hier eigentlich der wortspielerische und pointenhungrige Zufall erzeugte und was das »Ich« intendiert hat. Es ist von großem Reiz, sich probeweise vorzustellen, diese Art sich stets selbst destruierender Pointenstil würde von einer verborgenen Sehnsucht nach Homogenität gespeist: einer heimlichen danach, es gebe gleichsam ein Jenseits von diesen Momentposen und Spielen der Ambivalenz und Ambiguitäten, ein Jenseits aus Ich- und Weltkontinuität, oder ein noch zu (er-)findendes, stabil eingebundenes, in sich ruhendes und doch autonomes Ich. Man kann in den Programmpassagen aus »Die weißen Städte« etwas in dieser Art angedeutet finden – wiederum durch Ambivalenzen kaschiert, in der bereits erwähnten, verbalen Chiffre vom selbst erzeugten Zaun (II. 453), der das Ich einsperre und dabei die Sehnsucht erzeuge, ins Jenseits des Zaunes, in die freie Welt (?), zu gelangen. Möglich würde der Sprung ins Jenseits des Zaunes durch die Preisgabe des Glaubens an stabile, abstrahierende Strukturierungen der Weltordnung

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(der »Begriffe«, die angeblich in Deutschland geheiligt werden) und das Annehmen der unberechenbaren Wandelbarkeit aller Dinge – wobei das Ich-Erleben selbst und die eigenen, aktuell verwendeten sprachlichen Mittel eben von dieser Unberechenbarkeit und Unverlässlichkeit ausgenommen werden. Das Bild des Zaunes ist ein Bild, in dem die Ambivalenzen der metareflexiven Passagen kulminieren, denn es ließe sich ebenso gut sagen, dass die Maxime, alle Dinge nur als flüssige, letztlich nicht beschreib-, sondern bloß subjektiv (verbalvermittelt) erlebbare zu behandeln, umgekehrt das Ich in sich einschließe. Es soll ja diese schreibende Selbstdarstellungs- und Selbstverständigungsweise jede Art verlässlicher, intersubjektiv überprüfbarer, regelhafter Weltordnung und Prognostizierbarkeit von sich aus negieren, und wo eine solche Ordnung nicht angestrebt wird oder werden kann, fehlt auch die Voraussetzung dafür, um für sich selbst einen guten Ort der Bindung und Entfaltung zu finden. Andererseits ist das Erzählen und letztlich das Schreiben insgesamt Roth zufolge das einzige, Verlässlichkeit, Beheimatung oder Verwurzelung (›Unverlorenheit‹) stiftende Tun. Auch die erste, eigentliche Reportage nach der metareflexiven Einleitung beginnt mit Reihen von schein-transparenten, formel- oder aperçuartigen Kurzsätzen: »Ehe ich zu leben angefangen hatte, stand mir die ganze Welt offen. Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet. Ich selbst vernichtete sie mit Altersgenossen.« (II. 451f) Die rhetorischen Strategien hier sind uns nun schon vertraut: Reduktion auf alltägliche Elementarworte und Kurzsätze in sofort überschaubaren Phrasen; halbernste Übertreibungen und Generalisierungen; Spiel mit Quasi-Kontradiktionen und quasi-aphoristischen oder formelhaften Überpointierungen; Satzparallelismus mit Oppositionsstrukturen; Suggestion elementarer, direkter Bezeichnungen eindeutiger Sachverhalte, die näher besehen eine Fülle von Subtexten, Lesarten und damit von Ordnungsmodellen verbergen.

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Die beiden ersten der zitierten Sätze gehen aus der pointenbedachten Brechung vertrauter Sachverhalte und Idiomatiken hervor. Dass einem die Welt offenstehe, ist eine im Alltag gebräuchliche Redewendung, zumal im Zusammenhang mit Jugend: Dann meint man gewöhnlich, dass jemand so fähig und ›einnehmend‹ sei, dass ihm Vieles leicht gelingen und Anerkennung finden werde, oder auch, dass viele Lebenswege gleichermaßen möglich sind. Es folgt eine wiederum per Negation gewonnen Pointe im Modus der scheinbaren Selbstwidersprüchlichkeit: Nicht am Anfang des Lebens, sondern vor dem eigenen Leben habe ihm die Welt offengestanden. Die scheinbare Selbstwidersprüchlichkeit erzeugt jedoch eine Fülle an Ambiguitäten, teils wohl unbewusste, mitunter komische, teils vielleicht ebenso rührend und listig kindliche Assoziationen und Implikationen. Da der Tonfall dem einer einfachen, mündlich improvisierenden Konversation gleicht, reduzieren wir automatisch Vieldeutigkeit und Selbstwidersprüche und denken uns etwas hinzu, das der vermeintlich eigentliche Sinn scheint. Beispielsweise dieser: »Ehe ich wahrhaft / selbstständig / bewusst zu leben angefangen hatte, stand mir die ganze Welt offen.« Ob bewusst oder unbewusst, verbirgt auch diese Rede wiederum einen psychologischen Subtext: Wünsche nach Unselbständigkeit, Bewusstlosigkeit des eigenen Lebens, womöglich gar Phantasien des vorgeburtlichen Glücks. Als wolle hier jemand absichtsvoll indirekt zu verstehen geben, dass die Welt nur einem solchen nicht wahrhaft oder nicht selbstbestimmt Lebenden »offen«-stünde! Anders gesagt: Der Versuch, wahrhaft oder selbstbestimmt oder bewusst zu leben, verunmöglicht dem Ich, einen Platz in der Welt zu finden oder Teil von ihr zu werden. Die Welt ist unerreichbar, egal, ob das Ich lebt oder nicht lebt! Wenn der Leser dagegen den zweiten Satz veralltäglichend auflösen will, indem er unterstellt, ›gemeint‹ sei, dass gerade, als Roth sein eigenes Leben außerhalb des mütterlichen Haushalts mit einem Studium aufbauen wollte, der Erste Weltkrieg hereingebrochen sei und dann, als Roth 1918, entlassen aus dem Militärdienst, sein

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›eigenes‹ Leben endlich hätte beginnen können, er das in einer vom Weltkrieg zerstörten, traumatisierten, postapokalyptischen Wirklichkeit Österreichs und Deutschlands tun musste, zerstört wiederum alles, was den Stilisten Roth ausmacht – und alles, was Roth das Schreiben zu einem lebenswichtigen Tun werden ließ. Der Satz »Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet«, klingt zudem, als würde halb unbewusst bei der Formulierung einer Pointe ein Kausalzusammenhang zwischen dem Entschluss, mit dem Leben zu beginnen, und der Verwüstung der Welt insinuiert – so als ob dieser Versuch zu leben die Welt zerrüttet oder verschlossen hätte! Doch genau das wird überraschenderweise in der Roth auszeichnenden, wie so häufig leicht selbstparodistischen Übertreibungsmanier gesagt: »Ich selbst vernichtete sie mit Altersgenossen«! Im Schuldgeständnis blitzt eine verblüffende Größenphantasie durch, die so absurd oder albern überspannt wäre, dass man auch sie nicht wörtlich nimmt – oder gar nicht bemerkt, stattdessen nur den Satz in veralltäglichender Paraphrase auffasst, etwa im Sinne von »Ich war Soldat im Ersten Weltkrieg und daher ursächlich mit beteiligt am Massensterben, und diese Gräuel haben die ›Welt von gestern‹ endgültig zerstört.« Alle Sätze scheinen von lapidarer Transparenz – aber nur, weil der Leser gar nicht buchstäblich liest. Roth hat dabei den Übergang von der subjektiven Perspektive zu objektivem Weltzustand derart dezent eingeschmuggelt, dass man ihn leicht übersieht: »[…] stand mir die ganze Welt offen« – solange das Ich nicht mit dem Leben begann, existierte die Welt als subjektiv offene Perspektive oder großes Versprechen; in dieser Perspektive war die Welt eine Verfügungsmaterie des Ich oder eine grenzenlose Bühne für Ich-Möglichkeiten. Das Attribut »die ganze Welt« ist ein den wörtlichen Realgehalt unterminierender Affektverstärker – und mag nebenbei auch die kleinkindlichen Allmachtsphantasien anzeigen.

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Der zweite Satz »Aber als ich zu leben anfing, war die offene Welt verwüstet« ist in der Wortstellung etwas holprig, darin wohl mündliche Rede imitierend (im Schriftlichen würde man eher formulieren »Als ich aber […]«). Er verwendet das Wort »Welt« in einem ganz anderen Sinn als zuvor, nun ihren objektiven Zustand meinend oder zu meinen vorgebend. Das erzeugt semantische Turbulenzen: Die objektive Welt kann eigentlich nicht »offen« oder geschlossen sein, sie ist einfach die Welt, egal, ob verwüstet oder nicht, ausgenommen in einem pragmatischen Sinne von /offen/, Reisefreiheit oder ähnliches meinend. Offen kann die objektive Welt nur in der subjektiven Imagination wirken. Es kann auch das menschliche Verhalten offen wirken, etwa, wenn Menschen z.B. Fremde mit ›offenen Armen empfangen‹. Roths Formulierung führt also zu einer verwirrenden Doppeldeutigkeit: Ist es die gefühlte Offenheit oder die objektive Welt, die durch den Krieg »verwüstet« wurde oder beides? Wenn man liest, die in der subjektiven Wahrnehmung offen erlebte Welt sei verwüstet worden, dann lässt es sich kaum vermeiden, den Satz auch so zu lesen, dass sich der Versuch, (wirklich oder wahrhaft, bewusst oder selbstständig) zu leben und die Zerstörung der Offenheit der Welt wechselseitig bedingen! Sobald das Ich (selbstständig) lebt (und die Offenheit der Welt gestaltet), verschließt sich die Welt(-Offenheit), das Ich wird zum exludierten. Es erinnert sich (imaginär) daran, dass die Welt ein anderes Gesicht zeigte, bevor es anfing, (wahrhaft) zu leben. Frappierend reiche psychologische Subtexte zeigen sich, wenn man den Text buchstäblich, das heißt, so wie es Roth verlangte, liest: als (weitgehend) autonome Sprachkomposition, nicht als Verständigungsrede. Seine aus dem Feuilleton abgeleitete, neo-orale, kurzatmig auf Pointe und selbstironisch präsentierte Überspitzung und suggestive Bündigkeit (also auf suggerierte Bezeichnungsgewissheit) abgestellte Sprachgebung war ein Instrument, vermittels dessen Roth Ambivalenzen wahrnehmbar machte und zugleich kunstvoll verdeckte durch den Schein, bloß brillant spielend verbale Pointen

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zu präsentieren. Diese psychologischen Subtexte machen es mehr als wahrscheinlich, dass diese Art der Rede von der heimlichen Sehnsucht danach getrieben wurde, über diese solcherart wahrnehmbar gemachte und zugleich durch die Rolle des geistreichen Sprachspielers kaschierte Ambivalenz, Fragmentierung, Inkonsistenz hinauszugelangen – und: Man könnte den Übergang nicht nur ins großformatige Erzählen, sondern auch in Bericht, Reportage und später in selbstgewiss engagierte »politische« Meinung als Produkt dieser Sehnsucht verstehen, hinauszugelangen aus dem selbst gewirkten »Zaun« des Brillierzwangs, der immer auch ein Zwang zur Auflösung der oberflächlich glasklaren Verbalgesten in Ambiguitäten war. Im Erzählen jedenfalls fand Roth die Möglichkeit, im Modus des Scheins jene Kontinuität, Ding- und Rolleneindeutigkeit zu erleben, die zu verunmöglichen er als Signum der realen, geschichtlichen Erfahrungswelt der Moderne wahrnahm – oder zumindest in seinem wohl gewichtigsten Programmtext, jenen Anfangspassagen zu Beginn von »Die weißen Städte«, als Wesenszug der (westlichen) Moderne beschrieb. Sein Erzählen gründete somit ganz bewusst in einem riesigen Akt der Kompensation. Umgekehrt integrierte Roth in sein aus der Tradition des neooralen Erzählens gewonnenes Konzept die im Feuilleton erlernte Weise, durch Reduktion von Vokabular, Idiomatik, Gestik und Prosodie einen Schein von unmittelbarer Sachgewissheit und zugleich unverstellter Lebendigkeit der subjektiven, sprunghaften Empfindung hervorzubringen. Daraus entstand der charakteristische Schein, hier bewege sich jemand schreibend zugleich kunstvoll berechnend wie naiv unmittelbar in gefühlsgeladenen fiktionalen Welten (sic!). Im Fünften Teil werden wir sehen, dass die Ambivalenzen im Verhältnis zur Ordnung darüber hinaus die Konstruktionen seiner Geschichtsverläufe, die Figuren wie auch die Mikrostruktur seiner Beschreibungen prägen. Feuilletonistisch improvisiert wirkende Fügungen wie das zitierte Satztripel »Ehe ich zu leben angefangen

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hatte […]« sollte man eher als Simulationen von (verbal vermittelter) Ordnungssouveränität und zugleich Stil gewordene Re-Inszenierungen der inneren Ambivalenz im Verhältnis zu Ordnungen und Identität verstehen. Hundertfach hatte der Feuilletonist sich in dieser Disziplin geübt, bevor er als Erzähler und als »politischer« Essayist diese Ambivalenz in größere, historische Zusammenhänge einbettete. 3 Militärische Ordnungen vs. unvorhersehbare Verwandlungen aller Dinge im Schreiben Roth war (überzeugter) Mitarbeiter des pazifistisch eingestellten Blattes »Der Abend«111, als er sich – vor allem, doch nicht nur pragmatischen Notwendigkeiten gehorchend – zur Armee meldete (wobei er die Bescheinigung über seine Kriegsdienstuntauglichkeit gleich mehrfach anfechten musste). In einer später entstandenen, unveröffentlicht gebliebenen Notiz112 sprach er von seiner »Sehnsucht nach dem Krieg […] Ich ging in den Krieg, wie alte Junggesellen, die ihre Einsamkeit nicht mehr ertragen können, in die Ehe treten. Nun war ich nicht mehr allein. Nun gingen wir alle, Tausende, Millionen – und es war mir gleich, ob unser Unterfangen sinnlos war oder einen Sinn hatte«113. Roth haderte nicht mit Sinn oder Unsinn des Krieges als Tötungshandwerk, so stark ist in dieser Phantasie seine Sehnsucht nach Aufgehobensein in einer gemeinschaftlichen Ordnung. Das Militär war für ihn der Inbegriff von Zurückstellung der individuellen Fähigkeiten zugunsten des Kollektivs und entsprechend ambivalent besetzt – allerdings nur das zum ästhetisch-

111 112 113

Bronsen 1974, S. 159f. Ob es die tatsächlichen Motive gewesen sind, ist dabei unerheblich. Wichtig wäre allein, was und wie Roth diese Motive nachträglich zu erklären versucht. Das Manuskript war im Besitz David Bronsens. Abgedruckt bei Bronsen 1974, S. 159.

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psychologischen Spielmaterial verwandelte Militär der k.u.k. Vergangenheit. Der historischen Wahrheit nach, soweit wir sie festmachen können, war Roths eigene Militärdienstzeit eine Kette schmachvoller Erniedrigung und sinnlosen Drills. Sollte dem so gewesen sein, hätte man es vielleicht mit einer extremen Form der Dissoziation zu tun – oder einer der für Roth charakteristischen Umwertungen ein und derselben Sache von einem Extrem ins Gegenteil. Er witzelte seinerzeit mit seinem Freund und Bataillonskameraden Józef Wittlin über die Armee114. Seine Alkoholsucht begann wahrscheinlich in derselben Zeit115. Wittlin verwandelte seine Erfahrungen als Einjährig-Freiwilliger in den seinerzeit berühmten, auch im Ausland mehrfach preisgekrönten Antikriegsroman »Das Salz der Erde«116. Roth dagegen verbreitete zur gleichen Zeit abstruse Legenden über Kriegsabenteuer, dichtete sich einen Offiziersrang an, kultivierte im zivilen Habitus den entsprechenden Verhaltenskodex117. Einige dieser Legenden schrieb er seinen literarischen Helden zu, dem Oberleutnant Franz Tunda etwa im Roman »Flucht ohne Ende«, der »meine Autobiographie zum großen Teil« enthalten sollte. Das Militär und der Erste Weltkrieg ist eine nahezu beliebig besetzbare Leerstelle in Roths Selbstdarstellung – häufig bricht in seinen Schilderungen der Weltkrieg wie eine Art überirdische Macht herein und zerstört eine nahezu heile Welt. Wir sind einem Beispiel für diese Figur schon in Betrachtung der »Weißen Städte« begegnet. Ein markantes Beispiel seiner aus der Ambivalenz schöpfenden Stilkunst ist die Anfangspassage einer Folge von Galizien-Reportagen aus dem November 1924 für seine FZ. Die Passage ist ähnlich wie die ein Jahr später geschriebene Folge »Die weißen Städte« 114 115 116 117

Bronsen 1974, S. 177 Bronsen 1974, S. 173. Vgl. das Nachwort zu Wittlin 1986, S. 401. Der Roman war als erster Teil einer nicht vollendeten Trilogie geplant. Bronsen 1974, S. 176.

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zugleich Programm und stilistische Realisierung dieses Programms. Beide weisen das Beschreiben als Modus des verbalen Weltvergegenwärtigens oder vielleicht sogar Weltverstehens als inadäquat zurück: »Es ist eine große Vermessenheit, Städte beschreiben zu wollen. Städte haben viele Gesichter, viele Launen, tausend Richtungen, bunte Ziele, düstere Geheimnisse, heitere Geheimnisse […] Ich könnte Häuser beschreiben, Straßenzüge, Plätze, Kirchen, […] Familien, Baustile, Einwohnergruppen […]. Das ergäbe ebensowenig das Wesen einer Stadt, wie die Angabe einer bestimmten Anzahl von Celsiusgraden die Temperatur eines Landstriches vorstellbar macht. […] Man müßte die Fähigkeit haben, die Farbe, den Duft, die Dichtigkeit, die Freundlichkeit der Luft mit Worten auszudrücken« (II. 285f). Roth überrumpelt den Leser, um zu verbergen, dass er eine ganz unsinnige Unterstellung macht: Jemand, der eine Szenerie oder einen Vorgang »beschreiben« wolle, beabsichtige, die vielen kleinen Sensationen, Assoziationen und Repräsentationsmodalitäten verlustfrei wiederzugeben. Das hieße, eine totale Illusion, eine Art sinnestäuschenden Cyber Space hervorzubringen. Der zweite rhetorische Trick besteht darin, in der typisch Rothschen Manier des vorbereitungslosen Setzens von Singularien anzunehmen, es gebe so etwas wie das »Wesen einer Stadt«, so als sei diese ein Mensch mit Innenleben. Derlei gibt es allenfalls in unserer Art, über unbelebte Gegenstände zu reden. Roth will seine Art der improvisierenden Aufreihung punktualisierter Details als wahrere, weil bewusst subjektiv gebrochene Darstellung legitimieren; das stellt nicht nur einen hybriden, metaphysischen Erkenntnisanspruch dar, auch die Annahme, es handle sich bei Roths Schreibweise überhaupt um irgendeine Art von Wahrnehmungserleben oder gar Erfahrungs- und Wissenssynthesen, ist mehr als fragwürdig: Viel eher handelt es sich um auf dem Papier im praktischen Schreiben geordnete (sic!) elementare verbale Materialbausteine im Gestus sprunghafter Improvisationen (sic). Ein Schein von Außenweltdarstellung entsteht allenfalls als Folge dieser Ordnung

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schematischer, syntaktischer, gestischer und semantischer Basismaterialien, die in wechselnden Qualitäten und Intensitäten mit Erleben, Alltagserfahrungen und Wünschen assoziiert sind. Außenwelt scheint hier praktisch nur als Spielmaterial und Kulisse entstehen zu sollen, um eine Bühne zu haben, auf der Pointen, Empfindungen und wohlige Erinnerungen standardisierter Art auftreten dürfen, und zwar nicht als eigentliche Reflexions- und Illusionswerkzeuge, sondern als ihrerseits ironisierte Spiele des unschuldig und momentan genießenden Geistes, aktiviert durch kindlich unschuldige Benennungen. Eigenartigerweise wird auch in der eben zitierten metareflexiven Passage am Eingang der Galizien-Texte Roths Sprachgebung mechanistisch, als würde jemand hastig ein Repertoire abspulen, anstatt zu tun, was er vorgibt zu tun, nämlich die Erkenntnismöglichkeiten durch frei und spontan unberechenbar komponierte Schriftsprache zu reflektieren: Er zählt einfach elementare, konkrete Gegenstände auf und ordnet ihnen jeweils ein spezifizierenden Wert zu: »[…] viele Gesichter, viele Launen, tausend Richtungen, bunte Ziele, düstere Geheimnisse, heitere Geheimnisse«. Das klingt bestenfalls wie eine Lockerungsübung zum Aufwärmen – allerdings scheint eine Art versteckter Logik die wie improvisiert wirkende Reihe hervorzubringen. Die Adjektivreihe für sich genommen macht beinahe schon aussagenden Sinn; sie scheint sich bereits von selbst auf einen propositionalen Gehalt hinzu zu bewegen: »[…] viele, viele tausend bunte, düstere, heitere [Geheimnisse]«. Die Nomina sind demgegenüber fast sekundär. Doch auch diese bleiben für sich genommen in einer offenen Fortspinnungslogik geordnet: Launen sind etwas, das sich auf Gesichtern zeigt. Wenn viele Launen auf vielen Gesichtern gleichzeitig auftreten, gehen die kommunikativen Signale in tausend Richtungen – und weil »Richtung« stark mit »Gesichtern« assoniert, fangen die Worte ein wenig zu tanzen an, und man stellt sich vielleicht eine bunt bewegte Menge von in alle Richtungen zeigenden Gesichtern vor. Bei tausend verschiedenen Launen

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in tausend Richtungen dürften die Ziele des Handelns mannigfaltig sein, etc. Auch dieser Fügung liegt eine (bedenklich) kunstgewerbliche, quasi-lyrische Lautempfindung zugrunde: Die Nomina der Reihe sind alle um das /i/ gebaut, mit Ausnahme der »Launen«. Diese wiederum assonieren mit dem benachbarten »tausend«. Die Wiederholung »viele viele« taucht in »Geheimnisse Geheimnisse« verwandelt auf. »düster« ist schon der Lautung nach trübe, »heiter« wirkt dagegen hell und assoniert mit den es einfassenden, beiden Vorkommnissen von »Geheimnisse«, etc. Einer ähnlichen Logik folgt auch die nächste, lediglich nennende Aufzählung ohne Adjektiva: »[…] könnte Häuser beschreiben, Straßenzüge, Plätze, Kirchen, […] Familien, Baustile, Einwohnergruppen.« Roth stellt an solchen Stellen eigentlich gar nichts dar, er nennt, reiht, zählt auf – und überlässt dem Leser, aus den wie in ein Schaufenster gestellten Einzelworten eine Szenerie oder eben eine szenische Atmosphäre abzuleiten; und dazu regen nicht zuletzt die offenen Fortschreitungslogiken an. Nicht erst hier, 1924, ist Roths Schreiben eines wider das Beschreiben. Allerdings verband sich der Anti-Deskriptivismus da noch nicht mit den großen »kulturkritischen« Entfremdungserzählungen. Die Kontinuität zum empfindsamen Atmosphären-Pointilismus und koketten Feuilleton-Punktualismus der Jahrhundertwende ist mehr oder minder offensichtlich. Betrachten wir nun einen Text, worin Roth in seinem artifiziellnaiven Stil, Reihen von kindlichen, quasi-mündlichen, knappen Benennungsakten bildend, aufzählend, willkürliche Generalisierungen mit schein-konkreten Details, Namen, Zahlangaben konterkarierend, einen Stoff handhabt, der ihm stets synonym war mit einer straffen, hierarchischen, eindeutigen Ordnung – dem Militär. Hier der Anfang des Fragments118:

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Einst im Besitz David Bronsens, der es auf den Seiten 163f. seiner Biographie wiedergibt.

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»Meine vorgesetzten Unteroffiziere konnte ich nicht leiden, ebensowenig wie früher meine Lehrer, später meine Professoren. […] Ich erinnere mich ihrer, es waren zwei, welche die Einjährigen-Abteilung abrichteten, sie hießen: Marek und Türling. Der erste war schwarz von Haar und Schnurrbart und hinterließ mir einen glänzenden Eindruck. So oft ich an ihn denke, sehe ich den Glanz, der von allen Bestandteilen seiner Persönlichkeit ausging.« Die Behauptung des Nicht-Leiden-Könnens aller Personen eines Typus x, die im eigenen Leben eine Rolle spielten, aller Personen des Typs y und aller Personen des Typs z, gehört zu der uns schon geläufigen Figuration, die das eigene Übertreiben gleichsam mitinszeniert und ihre Semantik dadurch im Akt des Aussprechens unterminiert. Allerdings entstehen auch in diesem wie in vielen vergleichbaren Fällen (bewusst oder unbewusst angelegte) psychologische Subtexte – zunächst ein banaler, denn als junger Mann Autoritätsfiguren nicht leiden zu können, das ist denkbar gewöhnlich. Die Reihenfolge der Aufzählung, welche Autoritätsfiguren nun konkret abgelehnt werden, müsste eigentlich gleich sein, da ja alle ungemindert verachtet werden. Die Auswahl ist nicht beliebig. Unteroffiziere, die erstgenannten Soldaten, werden dem Rekruten in der Grundausbildung zugeordnet, und dies mag ein Maximum an Entindividualisierung und Gehorsamszwang bedeuten. Vor allem jedoch fungiert diese erste, demonstrativ willkürlich generalisierende Setzung des Absatzes (die oft mit Schreibphasen kongruent scheinen) auch hier wie ein erster Klecks, den ein Maler aufs Papier bringt, um einen Triggerpunkt zu setzen, der Ketten weiterer Aktionen, Reaktionen, Gedanken und Emotionen auslöst. Und nur über diese Assoziationsketten, nicht durch Ausdruck dessen, was der Autor an Sachverhalten erinnert, entsteht im Schreibfortgang kein homogenes, gefülltes Gesamtbild einer Sache, sondern eine Art Gegenständlichkeitsmosaik, besser: eine mobile, vagierende, löchrige Gegenständlichkeit,

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die nicht unabhängig vom Nachvollzug des (nachvollzogenen) Herstellungsprozesses vergegenwärtigt werden kann. Man erkennt nicht anschaulich, was der Fall war, sondern durchläuft eher viele Phasen der Verwandlung. Als Auslösereiz hätten ebenso gut ganz andersartige, gegenläufige Sätze und Wertungen dienen können, etwa »Meine vorgesetzten Unteroffiziere mochte ich leiden« oder »[…] erinnere ich gut«, oder »Meine vorgesetzten Unteroffiziere trugen schwarze Bärte und Schuhe« u.a. Für Roths Schreibtechnik ist nicht die inhaltliche Spezifik einer Anfangssetzung entscheidend, sondern allein, dass eine isolierte, entweder willkürlich singularisierende oder generalisierende oder punktuell nennende Setzung vollzogen wird. Roths Schreiben würde im vorliegenden wie in den meisten anderen Fällen nicht in Gang gekommen sein, wenn er zunächst einen komplexen, vorgestellten, differenzierten Sachverhalt abwägend konsistent und homogen zu beschreiben versucht hätte, etwa die verschiedenen Aspekte der konkreten militärischen Bezugspersonen in ihrem Umfeld oder die verschiedenen Arten von Erinnerungen, die er selbst damit zu verbinden glaubte – schon, weil es in einem instabilen Ich keine stabilen Wertungen, Ordnungshierarchien, Erinnerungen, Erfahrungssubstrate und Bindungsvorstellungen geben konnte. Stabil war nur die Instabilität und irreduzible Wandelbarkeit selbst. Der zitierte Absatz ist insofern typisch, als die anfängliche, willkürliche Setzung von Gegenständen – hier den Autoritätsfiguren seiner Jugend – und eines einzelnen Affektes in der Beziehung zu ihnen (Nicht-leiden-Können) einen Prozess auslöst, der schon wenige Sekunden darauf ohne jede sichtbare Reflexion auf diesen Wandel in eine fast infantile und kitschnahe, positive Schwärmerei von denselben Autoritätsfiguren kippt. Führte man empirische Leserbefragungen durch, ließe sich vielleicht beweisen, dass der Text genauso stimmig erfahren würde mit gegenläufigen Wertungen zu Beginn: »Meine vorgesetzten Unteroffiziere mochte ich gut lei-

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den, zuvor meine Lehrer, später meine Professoren. Ich erinnere mich ihrer, […] So oft ich an ihn denke, sehe ich den Glanz, der von allen Bestandteilen seiner Persönlichkeit ausging.« Der Wandel der Emotionen in Bezug auf die Gegenstände geschieht so unmerklich, rasch, suggestiv selbstverständlich im Schein kindlich direkter Benennungsgewissheit, dass vermutlich kein Leser einen solchen Passus als unsinniges, realitätsloses, beliebiges Spiel mit Floskeln abtun wird. Erst rückblickend erkennt man, dass die Verwandlung selbst ein wesentlicher »Gegenstand« eines solchen Absatzes ist, und der »Glanz« für sich genommen eine infantile Überschätzung desselben Gegenstandstypus anzeigt, der wenige Sätze zuvor noch abgewertet wurde. Auch die Aussage »Glanz, der von allen Bestandteilen seiner Persönlichkeit ausging« ist geradezu tölpelhaft in der wiederum alltäglichen Expressionsmanieren nachgeahmten Generalisierung: zu sagen, dass ein »Glanz« von einer Person ausging, ist schon peinlich, da kindlich adorierend genug; zu sagen, dass von allen Teilen der Person Glanz ausging, ist nur noch kurios – es wären darin ja Fußnägel, Knie, Warzen, Gedanken, Schleimhäute etc. einzubegreifen. Zu sagen, es gehe von »allen Bestandteilen« der Person Glanz aus, ist allenfalls noch burlesk; das Wort »Bestandteile« verwendet man eher für die Bauelemente einer Maschine oder in kalten Analysen, aber nicht dort, wo es um eine Art halbsakrale Aura gehen soll. Auch der pseudo-autobiographische Text über die Militärzeit klingt zunächst, als würde jemand mit absoluter Gewissheit unverstellt benennen, was der Fall war, was es ihm bedeutete, und auf diese Weise frei und in intimer Beziehung zum Gegenstand eine souverän überschaute, vertraute innere Ordnung (der erinnerten Dinge) erläutern. Zugleich ist alles völlig beliebig, willkürlich, allein aus Momentlaunen erfunden und in willkürlich herausgepickten elementaren Details benannt. Jeder Leser spürt, im nächsten Moment könnten sich tatsächlich, wie von Roths Poetik behauptet, alle Dinge völlig anders verhalten – es könnten ein, zwei oder drei Unteroffiziere

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gewesen sein, sie könnten so oder so geheißen, der eine oder der andere grau oder braun oder schwarz getragen haben. Von ihnen könnte Glanz oder Schrecken ausgegangen sein. Permanent scheint jemand ohne einen Zweifel punktuelle Details zu reihen und gleichsam sein Gegenüber am Wirtshaustisch vergnügt als Versuchsobjekt zu benutzen, um herauszubekommen, ob auch effektvoll ist, was er gerade mit fester Miene erzählt. Die elementaren Materialien und Satzgebilde suggerieren gleichermaßen Direktheit des Sprechenden zu den erlebten Dingen wie Lebendigkeit der jetzigen Rede, wobei (fiktionale) sinnliche Wahrnehmbarkeit und pures Ausdenken oft nicht voneinander zu trennen sind. Auch die Willkür der Auswahl und Verkettung wird dabei zum Zeichen der Lebendigkeit der jetzigen, erinnernden Rede, und durch diese Lebendigkeit soll die Aktualisierbarkeit, Wahrhaftigkeit und Präsenz des Erinnerten verbürgt werden. Zugleich gehört zum Charme einer solchen Rede, dass der Leser/Hörer in jedem Augenblick fühlt, man hätte auch ganz andere Details herauspicken respektive erfinden und ganz andere Wertungen vornehmen können: Die Vergangenheit wird instantan neu erfunden. Am Ende einer solchen, von willkürlicher Anfangssetzung ausgelösten Textphase hat sich ein locker gesponnenes Feld entwickelt, das durchaus ein gewisses, fragmentiertes, gleichsam bewegliches Bild eines möglichen Sachverhaltes gibt. Wie das geschieht, ist selbstredend ästhetisch entscheidend – und ebenso entscheidend, wie Willkür, Freiheit, Kindlichkeit der sprunghaften Setzungen als Qualität des erzählten Phänomens im Wechselspiel von improvisierend gesetzten Elementen und subjektiven, empfindungsgeleiteten Reaktionen darauf selbst mit wahrgenommen werden. Dass man in vielen Passagen überhaupt etwas anderes als ein Reihungsspiel mit willkürlichen Einzelwertungen und punktuellen Wahrnehmungsdetails zu hören glaubt, liegt auch, doch nicht nur an unserer prinzipiellen Freundlichkeit, mit der wir jemand behandeln, der so lebendig und sozusagen ›offenen Herzens‹ auf Details seiner

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Vergangenheit hinweist. Die Art, wie Roth insbesondere Personen durch einige punktuelle Details zu vergegenwärtigen vorgibt, hat häufig etwas von Punkt-Punkt-Komma-Strich-Zeichnungen, von Karikatur und minimalistischem Materialspiel. Auch das ist ein Element der artifiziellen Kindlichkeit, ebenso der unmerkliche Übergang in die pure Lust am Spiel mit Attributen wie in der Reihe der rot-schwarz-grün-gelb-Eigenschaften. Die Ironie ist eine höherer Ordnung: Sie lässt durchblicken, der Redende wisse genau, dass der Hörer/Leser wisse, dass alles auch völlig anders aufgereiht werden könnte, jede weitere Recherche nach Wahrheiten, genauen, beweisbaren Beziehungen zwischen den genannten Objekten und Eigenschaften, die Lebendigkeit und Unschuld, Spontaneität und Freiheit des Benennens zerstören würde. Ein solcher Redner/Schreiber antizipiert sozusagen schmunzelnd, wie sich im Gesicht der Hörer die Wirkungen einiger von Zeit zu Zeit eingestreuter Details zeigen, die historisch gewiss zu sein scheinen, nachprüf- und lokalisierbar, etwa die Zahl der Unteroffiziere, ihre Namen usf. (Man erinnere Roths Bedauern, in der Gegenwart spreche der Literat nicht mehr intim zu seinen »Liebe[n] Leser[n]!«) Es hätten auch eingestreute Bemerkungen der Art sein können: »Immer gingen wir die Ringstraße entlang, um dann an der Ecke der Universität unser Eis zu kaufen im Sommer, rote, weiße, schokoladenbraune Kugeln, bei diesem lustig singenden Italiener, dessen ellenlange Schnurrbartharte fast in die Tröge hingen und dessen Frau eine Handbreit größer als er war, weißt du noch, aus Meidling war sie […]«. Roths Ironie spielt immer (und nicht selten amüsiert) mit unserem eingeübten Vertrauensvorschuss. Dem zitierten Passus folgt eine weitere Reihe elementarer Attribute, als würde Roth abermals Produktionsschemata abrufen und wie lustig selbsttätig arbeiten lassen: »Seine Haare glänzten schwarz, seine Backen rot, seine kleinen Augen braun«. Nicht wenige solcher Stellen klingen nicht mehr kindlich, sondern nachgerade kindisch. Teils auch, als hätte jemand ganz naiv Bauweisen

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Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess

volkstümlicher Lieder in die Erzählprosa verpflanzt, innerlich sozusagen lustig trällernd beim Schreiben. Einen Informationswert hinsichtlich des darzustellenden Erzählstoffs haben solche Fügungen nicht. Die Farbabfolge schwarz-rot-braun erinnert etwas an Flaggenfarben und vor allem an das kinderlustige Spiel mit dem Farbkasten, ohne jede Prätention auf Kunstfertigkeit. Rhythmisierung und Assonanzen, Proportionen von Phrasen untereinander spielen beim instantanen Kreieren solcher Perioden eine wesentliche Rolle. Dieses vom Leser mitempfindbare innere Trällern von kinderliedartigen Mustern ist nur eine Erscheinungsform von mehreren, in denen die lautmalerische Sprech- und Fabulierlust sich beinahe verselbständigt – nicht zu verwechseln mit jenen Stellen, an denen Roth mit Lautspielen eigenartig abgegriffene Muster quasi-poetischen Gefühlsausdrucks reproduziert. Mit dem kindlichen Farbeinsatz ist das anfängliche Vorhaben des Textabschnittes, den Bericht eigener Erfahrungen beim Militär zu liefern, einfach verweht. Das munter reihende, springende Schreiben, das vorgibt, die Ordnung der (erinnerten oder wahrgenommenen) Dinge zu untersuchen und wohl aufbereitet mitzuteilen, ist insofern selbst ein Vorgang, in dem sich permanent Entdeckung, Erfindung, Rollenspiel, kindliche Materialspiellust und Verdrängung vereinen oder ablösen können. Nicht um Erinnerung und Rekonstruktion geht es dann, sondern um den Effekt gereihter Satzglieder im variierten Spiel von Identität und Kontrast: Identisch die Possessivpronomen, kontrastierend die Farbwörter als Abschluss der jeweiligen Phrase. Roth fuhr fort: »Sie [die Augen] hatten die braune Helligkeit von Biergläsern, die man vor eine Lampe hält«. Anstatt zurückzukehren zum anfänglichen Vorhaben, die eigene Zeit beim Militär zu reflektieren, überbietet dieser Satz sogar noch das Abirren bzw. Verdrängen durch Sich-Anheimgeben an kindliche, quasi-lyrische Materialspiellust und klebt dabei eine für sich genommen abermals höchst prekäre, ungeschickt gedrechselte, quasi-lyrische (atmosphärische) Vergleichsmetapher an. Der Trigger, welcher in diesem Fall das

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neue Element ins Spiel bringt, ist offenbar eine Reflexion oder Verwunderung darüber, dass die muntere (»trällernde«) Materialreihung zu einem Farbspiel geführt hat, anstatt zu einer Zergliederung oder wenigstens Beschreibung der erinnerten Militärzeit. Es ist, als wollte der Redende, anstatt das Abirren zu korrigieren, mittels eines forcierten Abirrens vom Stoff gleichsam durch die Hintertür wieder zur angestrebten Sache zurückkehren – in einer simulierten Ausdifferenzierung des erinnerten Wahrnehmungseindrucks. Der schein-differenzierende Einschub ist wegen des Tonbruchs zur vorigen Redeweise so kurios, dass er sich eigentlich selbst parodiert. Diese burlesk spielerische Vorgehensweise hat Roth in eigenständig ausgebildeter Haltung und Technik des Feuilletons sowie in (stilisiert) mündlichem Erzählen entwickelt und dabei Elemente des Komischen, der Satire, der Selbstinszenierung integriert – zu der natürlich die Inszenierung als schöpferisch inspiriertes Individuum gehört: Ein solcher Literat »verbirgt nicht, wenn ihm etwas einfällt, was die Langweiligen ›unpassend‹ finden könnten« (II. 535). Man kann den Sprung vom kindlich hüpfenden schwarz-rot-braun-Farbspiel in die lyrisierende Vergleichsmetapher als stilisierte augenblickliche Reflexion des eigenen Vorgehens verstehen: Der schreibend erzeugte (imaginäre) Blick verliert sich in »Nuancen«, und diese machen die Dinge halb transparent wie der Lampenschein hinter dem gefülltes Glas. So geschickt indirekt das Ausscheren aus der Welt berechenbarer Erscheinungen (und deren Wahrnehmungen) eingefädelt ist, es gibt nun kein Zurück mehr zum ursprünglichen Darstellungsvorhaben des Textabschnittes. Die Passage schließt, indem sie den Gesetzen der Ambivalenz gemäß in den komplementären Gegenpol zum anfänglichen (›realen‹) Affekt des Abgestoßenseins von Autoritätsfiguren springt – und sich seltsam leer wiederholen muss, als ob sie sich selbst nicht über den neuen Weg traut: »Er mag ein sehr gutmütiger Mensch gewesen sein. Er sah sogar gutmütig aus«.

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Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess

I Militär, Ambivalenz und der Ursprung des Stilisten Als Roth dem schwächsten seiner schwachen Helden, Paul Bernheim (»Rechts und Links«, 1929), das bemerkenswerte Kunststück zuschrieb, wie wenige »die Vereinigung militärischer Tugenden mit einer antimilitaristischer Gesinnung« (IV. 630) vollbracht zu haben, war das höchstens nebenbei ein adaptiertes Stück Tradition – jener Tradition bei Ferdinand von Saar, sogar bei Rilke und noch bei Doderer, wonach nicht Blutrunst, Strategie oder Todesmut den Offizier auszeichnen, sondern Anstand, Etikette und Tugend, diese eine Art ethisches Aristokratentum verkörpernd, dem Zivilstand weit erhaben119. (Der Vater Ernst Kreneks verkörpert diese Tradition sehr rein) Roth möchte seinen Paul Bernheim nämlich ganz und gar nicht als tugendhaft gebildeten Patrioten in Uniform verstanden wissen, sondern als innerlich zerrissenen: »Es soll hier nicht unerwähnt bleiben, daß sich Bernheim in jenen Tagen [nach der Revolution], mit seinen Offiziersabzeichen auf die Straße wagte, ja, daß er sich weigerte, Zivil anzulegen. Er schätzte seinen Rang nicht mehr, weil er zu einer besiegten Armee gehörte. Und nichts verachtete er, der vieles verachtete, so sehr wie das Besiegte« (IV. 639). Hier münzt Roth seine Ambivalenzen nicht, wie etwa in den Erinnerungen an die Militärzeit, in verbale Figurationen des Stils um, sondern projiziert sie auf die Gegenstandsebene. Zudem haben wir es mit einer der zahlreichen Varianten des totalen Umschlags von Wert-, Sinn- und Lebensordnungen durch eine innere Kränkung zu tun. Der Erste Weltkrieg erscheint nicht als Krieg, sondern als bloße Chiffre für den wundersamen und/oder schicksalhaften Umschlag aller Sinn- und Lebensordnungen. Roth hat einmal überraschend direkt gesagt, was er strukturell mit dem Wort Armee verbindet: Eindeutigkeit der Ordnung von Dingen und Worte (Begriffe), Interaktionen und Werten und daher ein umfassendes, behütetes Zugehörigkeitsgefühl, aber auch um individu119

Vgl. Bronsen 1974, S. 177f.

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elle Verantwortungslosigkeit und Entlastung von freier Selbstgestaltung. Das Soldatsein sei scharf getrennt vom Zivilleben, das durchseucht ist mit »viel Hinterlist […] Niedertracht und Gemeinheit«, denn in jenem sei alles »unverrückbar und einfach. Ein General ist ein General, ein Pferd ein Pferd, ein Befehl ein Befehl. […] Im Dienst war alles einfacher und ehrlicher; die Gefahr, der man dort die Stirn bieten mußte, brach von außen herein, man kämpfte gegen den äußeren Feind […] Das Leben war anstrengend, aber unkompliziert, man reagierte auf Befehle, war der eigenen Verantwortung enthoben, in eine Gemeinschaft eingeordnet und von ihr beschützt«120. Eindeutige, fixe Identität der Dinge ist offenbar an die Auslöschung von Individualität gebunden – und umgekehrt kann sich nur eine ausgelöschte Individualität behütet und gebunden fühlen. Individualität oder Einbindung und keine Vermittlung – eine sehr typische Ambivalenz für Menschen mit einer konfliktären Konstitution wie die Rothsche (früher hätte man sie »hysterisch« genannt, heute wohl eher, bedauerlicherweise ebenso stigmatisierend, »Borderline« oder »instabil«, vgl. Vierter Teil). Ebenso charakteristisch ist, dass recht alltägliche Zurückweisungen Stürme von Gefühlen auslösen, des Hasses kombiniert mit panischen Fluchttendenzen – die typischerweise dann wieder von extremen Isolationsängsten abgelöst werden. Was ihn, Roth, zum Militär getrieben habe, sei, sagte er zu anderer Gelegenheit, sein starker »Ehrgeiz ohne Ziel« gewesen – also eine brennende Sehnsucht danach, dem Selbst einen Inhalt, eine Besonderheit zu verleihen und mittels dieser Anerkennung zu erkämpfen, ohne zu wissen, was der Inhalt sein könnte. Er habe sich daher bereits vor [sic] Kriegsausbruch freiwillig gemeldet und dann, von der Musterungskommission zurückgewiesen, beschlossen, »in einen fremden Erdteil, zur Fremdenlegion zu gehen, ein neues Leben zu beginnen«. (Um Anhänglichkeit an ›sein‹ Österreich ging es also psychologisch keineswegs in seiner Fixierung aufs Militär.) 120

Bronsen 1974, S. 178f. Dort auch die weiteren Zitate.

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Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess

Roth verfällt ins Fabulieren genau in dem Augenblick, worin er seinen tatsächlichen Eintritt ins Militär schildern müsste – und imaginiert eine Musterungskommission, also eine äußere Instanz, die die individualitätslöschende Einbindung in die straffen Ordnungen angeblich verhindert habe. Und auf dieses Verwehren des Eingeordnetwerdens reagiert das erschriebene Ich mit einer trotzigen, gekränkten Totalabkehr und Flucht in die ›freiwillige‹, verletzte Isolation, einschließlich der Verachtung der Zivilisation, die ihn angeblich nicht aufnehmen wollte: »Ich stellte mir [als neues Leben] ein einsames Alter in einer Wildnis vor, als Mönch, als Einsiedler, als Bitterer. Schmerzerfüllt war ich und gleichzeitig [sic!] schon ausgesöhnt mit meinem Schicksal. Es waren die süßesten Träume meines Lebens […]. Meine Überlegenheit gegenüber Vorgesetzten, Kameraden und dem System [!] hätten mich vor dem Feld bewahrt, wenn ich nicht selbst die Sehnsucht nach dem Krieg gehabt hätte.«121 Auch das ist den Fakten nach fast komisch beliebig fabuliert, doch psychologisch überraschend wahrhaftig – der Krieg ist hier nur noch Chiffre eines unbestimmten Erlösungs- und Ausbruchsverlangens aus unlösbaren Ambivalenzen von Ich und Bindung. Sobald er die Ambivalenz zu militärischer Hierarchie und autoritär gebildeter Egalität der Untergeordneten berührte, versetzte ihn das in hoch emotionale Turbulenzen – die ihn nicht selten zu klappernden Assonanzen und lyrisierenden Ausdrucksklischees verführten (»unbeschreibliche unausschöpfliche Dummheit«): »Ich liebte das Exerzieren. Ich liebte es, weil es mich zwang, eine unbeschreibliche unausschöpfliche Dummheit gemeinsam mit den anderen – und mit welcher Genauigkeit – zu erleben. Ich haßte die Kameraden, die nicht exerzieren konnten oder einen Widerwillen gegen das Militär empfanden. Es waren die feinsten Menschen. Aber es erfüllte mich mit Feindschaft gegen sie, wenn ihre Gewehrläufe bei einem be121

Aus autobiographischen Notizen, wiedergegeben bei Bronsen 1974, S. 159. Im Roman »Tarabas« sind beide Pole dieser Phantasie in Kombination künstlerisch realisiert.

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stimmten Kommando aus der geraden Reihe der anderen hinausragten. Ich konnte nichts tun gegen dieses Gefühl, das ich zu bekämpfen suchte«122. Bemerkenswerterweise schrieb Roth die hochkochenden Emotionen dem halluzinierten Ich der Vergangenheit zu: »Ich konnte nichts tun gegen das Gefühl, das ich zu bekämpfen suchte.« Das Ambivalenzdilemma der Ein-Ordnung stellt sich als Hinund-Hergerissensein zwischen Ordnungsextremen dar: wenn schon Einordnung, dann penibelst und restlos, ansonsten lieber den totalen, gekränkten oder aggressiv-zersetzenden Ausbruch aus allen sozialen Bindungen suchen. Schon der Hauch individuellen Abweichens vom verachteten und als Ich-fremd oder sogar Selbst-zerstörend wahrgenommenen, autoritären Regelsystems erfüllt Roth mit »Feindschaft«123. II Verwandlungen der psychischen Ambivalenz in Stilfiguren Mit Berlin, einem Hauptschauplatz seiner journalistischen Karriere, stand Roth »in einem ständigen Spannungsverhältnis […], schwankend zwischen schwarzen Depressionen und hymnischer Begeisterung«124. Diese Stadt habe »so schnell wechselnde Physiognomien, daß man nicht von einem Resultat sprechen kann – […] ein penibles Konglomerat von Plätzen, Straßen, Mietskasernenwürfeln, Kirchen und Palästen. Eine ordentliche Verworrenheit; eine planmäßig ex122 123 124

Zitiert nach Bronsen 1974, S. 162f. Bei Betrachtung der schriftstellerischen Anfänge im Fünften Teil werde ich das die Ambivalenz von Fremdheit und Symbiose nennen. Bronsen 1974, S. 210. Sticheleien gegen das im Vergleich zu Paris und London so spät und schnell aufgestiegene Berlin, den Parvenü im europäischen Oberhaus, waren ein recht beliebter Sport der Zeitgenossen. Ein drastisches, aber gewitztes Spiel mit dieser Leidenschaft zur Berlin-Häme findet sich beim großen Berlin-Liebenden Döblin: »Draußen im Lande, im Westen und Süden, aber auch in der Provinz, war Berlin nicht beliebt. Es war der Wasserkopf und erschien protzenhaft. So verließ ich damals Berlin. Es war mein wirkliches Zuhause« (Döblin 1996, S. 334).

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Erster Teil: Ambivalenz und Schreibprozess

akte Willkür; eine Ziellosigkeit von zweckhaft scheinendem Aspekt. Noch nie ward so viel Ordnung auf Unordnung verwandt [sic], so viel System auf Wahnwitz« (III. 229). Wir sind bereits mehreren Stellen dieser Art begegnet, die regelrecht demonstrativ innere Ambivalenzen in kleine Feuerwerke von Pointen verwandeln. Sie erfüllen das Programm der poetischen Autonomie im Unplanbaren – nicht ungefährlich: Etwas Selbstreferentielles, vielleicht Selbstverliebtes ist an ihnen, und die vorgeblichen Stoffe werden austauschbar. Roths blendenwollende Charakteristik kann auf wohl jede Großstadt angewandt werden. Eine ähnlich ostentative, psychische Ambiguitäten in Semi-Antagonismen verwandelnde Stelle findet sich in Roths großzügig lobender Rezension eines Vaterromans des Kunstschriftstellers MeierGraefe von 1932. Roth konnte ihn wohl als Illustrationen seiner eigenen, so prekären Beziehung zu Vatergestalten auffassen. MeierGraefes Romanvater besitze, lobt Roth, »viele Wesenheiten«, ist »ein ›Aufbauender‹, ein ›Zerstörer‹, ein Riese mit den Schwächen eines Riesen, ein Erkennender, der nicht erkannt wird […] Umwittert von den erhabenen Wolken der Einsamkeit […] wird er, wie ein Gott, nur jenem offenbar, der ihn anbetet: dem Sohn«. (III S. 470). Das Pathos ist komödiantisch übersteigert und gewiss auch selbstironisch, doch die Variationsbreite, mit der Roth Antagonismen, Oxymora, Paradoxa in feinster Abstufung und Individualisierung der Phrasenbildung einzusetzen verstand, eindrucksvoll. Den glatten Widerspruch, das nackte »a ist non-a«, vermied er dabei fast immer. Stattdessen erzeugte er systematisch Grenzfälle, die beim ersten Lesen kontradiktorisch oder paradox scheinen, sich in erneuten durch die Verdächtigkeit des Scheins provozierten Lesedurchgängen, relativierend auflösen lassen. »[…] ein Riese mit den Schwächen eines Riesen« forciert den scheinbaren Antagonismus durch Aussparung von Spezifikationen und die Verwendung des bestimmten Artikels (»den Schwächen«) insinuiert, jedermann wisse, was »die« Schwächen eines (jeden) »Riesen« sind. Sinngemäß lesen wir (zunächst)

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»mit jenen allgemein bekannten Schwächen des Riesen«, doch ist in dieser Form der stilistische Reiz der irritierenden Prädikation deutlich schwächer. Der Kniff erinnert stark an den Gebrauch des bestimmten Artikels in der (modernen) Lyrik, jedenfalls, wenn wir ihn mit den klassisch gewordenen Worten Hugo Friedrichs verstehen »als determinierendes Mittel [, das] die Aufmerksamkeit zwar weckt, sie jedoch gleich wieder desorientiert durch die von ihm eingeführte gänzlich neue Sache. […] Indem die Determinante ihm den Schein des Bekannten gibt, erhöht sie die Desorientierung, macht das isolierte, herkunftslose Neue rätselhafter«125. Das ästhetische Spiel mit scheinbar widerstreitenden Prädikaten kann durchaus einen deskriptiven Anteil in sich aufnehmen, besonders dann, wenn nicht (nur) die Erfahrung einer Sache, sondern die denotierte Sache selbst ein objet ambigu ist. Ein Beispiel sind die amourösen Empfindungen des Tarabas aus dem gleichnamigen Roman: »Er war eifersüchtig, wild und zärtlich, bereit zu prügeln und zu küssen« (V. 482). Stilistisch ist das wiederum auf der Höhe eines Groschenromans und daher möglicherweise selbstparodistisch, doch gesteht man derlei Attributionen unwillkürlich zu, gegenstandsadäquat oder sogar mimetisch zu sein, während man Ausdrücke wie »Eine ordentliche Verworrenheit; eine planmäßig exakte Willkür« im Rahmen einer Stadtlandschaftsskizze als bloße, selbstreferentielle Figurationen auffasst. Eine Variante der Rothschen Vorliebe für das artistische Spiel mit Beinahe-Logiken und umgekehrt mit demonstrativ Unstimmigem oder Konfliktärem, präsentiert als Selbstverständlichkeiten, wäre seine Pseudo-Deduktion oder auch sein Krypto-Logismus. Diese sind besonders gefährdet, zu selbstreferentiellen Manierismen oder Automatismen zu werden: »Sie sind bewegt wie das Meer und ruhig wie das Meer und tief wie das Meer« (II. 996). Der Gegenstand, Joseph Conrads Romane, ist hier gleichgültig und austauschbar, die 125

Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, erweiterte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1985, S. 160f.

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Wirkkalküle allzu offensichtlich: Der Beginn setzt wiederum den Beinahe-Widerspruch (oder eine Kontradiktions-Approximation) ein. Das kann in diesem Fall nicht viel bringen, ist doch das Meer ohnehin mal ruhig, mal bewegt. Und das einfach per Vergleichsmetapher auf bedruckte Seiten zu beziehen, ist nicht unbedingt geistvoll, ganz sicher jedoch sachlich nutzlos; daran ändert auch die dritte Prädikation /tief/ nichts.

Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich in Roths »politischen« Positionsbestimmungen 1 Schreibend inszenierte Haltungen zur Politik und innere Vorbehalte Es lässt sich vermutlich niemals genau benennen, welchen Anteil die verbale und welchen die schriftliche Weise an einer bestimmten Welt- und Selbstmodellierung hat. Zu wünschen wäre, die vorangegangenen Lektüren mögen fortan feien vor der Naivität, Joseph Roth als ein Individuum zu beschreiben, das unabhängig von Schreibvorgängen, konsistente, stabile Deutungsmuster von sich und der historischen Welt gewonnen habe, diese dann in einem zweiten, davon getrennten Prozess lediglich in einen verbalisierten Anspruch der moralischen Geltungsansprüche übersetzt habe. Roth verfiel auffälligerweise gerade dort, wo er versuchte, sich diskursiven, abstrahierend erklärenden Umgangsformen mit sich und seinem Dilemma mit Ordnung und Identität(en) zu nähern, besonders stark den radikalisierten Pointenmanieren des Feuilletons, eingeschlossen das halb bewusste, halb unbewusste Operieren mit Selbstwidersprüchen, Ambiguitäten, dem Schwanken zwischen allzu forschen, Sachgewissheit buchstäblich vorgaukelnden Generalisierungen und aphoristischen Formeln einerseits, ironischer Selbstverkleinerung und Habitus des improvisierenden mündlichen Erzählers andererseits. Schon aus diesem Grund ist es kein Einwand gegen die Grundthese der Ambivalenz im Verhältnis zur Ordnung (und damit zu Identität von Person, Gemeinschaft, normativer Verbindlichkeit etc.) als wesentlicher (selbstredend nicht: einziger) Triebkraft seines Lebens und Schreibens, dass Roth vermutlich kaum eine seiner Überzeugungen politischer oder religiöser Art frei von gewissen inneren

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Kiefer, Braver Junge – gefüllt mit Gift, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05108-0_3

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Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich

Vorbehalten und Zweifeln gehegt habe126. Im Gegenteil, die ambivalente Ausrichtung ließ gar nichts anderes zu – und das in ganz anderer Theatralik und Aporetik als bei Zeitgenossen der pluralistischen Moderne, für die es generell charakteristisch sein mag, innere Vorbehalte zu pflegen gegen weltanschauliche oder moralische Überzeugungen und (religiöse oder soziale) Bewegungen, denen man sich selbst besonders verbunden fühlt. Für religiös Gläubige dürfte das meist zutreffen, vielleicht mehr noch für Kulturintellektuelle, die sich milieuentsprechend politisch »links« oder »kritisch« gerierten: Man inszenierte hier schließlich typischerweise con passione die Besonderheit und Autonomie der eigenen Individualität, und so gehört(e) dieses Distanzieren von einer »Bewegung« oder Gesinnung, Moral, Ideologie oder Weltanschauung, der man sich nominell verschrieben hat, eigentlich zum guten Ton. Auch die Roth eigene Passion für Schauspielerei und Simulationen ließ sich mit vielen dieser theatralisch aufflammenden Entfremdungs- und Sinnkrisendiskurse gut vereinbaren – und wenn man (was sicher nicht zwingend ist) Czeslaw Miloszʼ klassischem Essay folgt, war die Neigung zu Verstellung und Schauspielerei dem Bewegten der innerweltlichen Erlösungsidee des Sozialismus in besonderem Maß eigen127. Ein solcher stimmte (zumindest im sowjetischen Archipel), nach Milosz, 126

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Vgl. z.B. Mayer 2010, S. 281. In Kommentar meiner in der Erstauflage wohl tatsächlich, wenngleich nur en passant überpointierte Formulierung: »Auch ist Kiefers Behauptung, Roth sei 1926 als gläubiger Sozialist nach Russland gereist, nicht zu halten.« Da Roths öffentlichen Bekenntnissen immer starke Anteile von Pose und Wunschprojektion eigen waren, die im Wesentlichen aus Gesinnungen, nicht aus eigentlich politischen Konzeptionen der Organisation von Recht, Ökonomie, Entscheidungsgewalt, Machtkontrolle etc. bestanden, ist der Streit darum, wie vorbehaltlos er »Sozialist« gewesen sei oder nicht, müßig und unentscheidbar. Milosz 1954, S. 86f. u.ö. Roth würde allerdings eher einem anderen Prototyp in Miloszʼ brillantem Essay gleichen: Dieser war in den 20er Jahren ein bekannter, konservativer Prosaist mit metaphyisch-tragischer Welthaltung: »Ihn beschäftigte das Problem der Reinheit, der moralischen Reinheit und der stilistischen Reinheit. Er destillierte seine Sätze.« Ebd., S. 90.

1 Schreibend inszenierte Haltungen zur Politik

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äußerlich in ein kirchenartiges Lehrsystem ein und kombinierte das mit inneren, gleichsam protestantischen Gewissenszweifeln128. Wie immer man das im Einzelnen deuten möchte: Konstant in Joseph Roths windungsreichem Leben blieb, abgesehen von der Ambivalenz und der existentiellen Basis des Schreibens, ein Habitus – während die konkreten Inhalte und Kostümierungen bestimmter Figurationen im Verhältnis zu Fragen des Guten Lebens und der anzustrebenden Werte wechselten. Man kann diesen Habitus in weitem (und ungenauem) Sinne einen »kulturkritischen« oder literatenzentrierten nennen. Er implizierte die Abwehr empirischer und systematischer Argumente, setzte an die Stelle der Rechtfertigung eigener Kriterien das ästhetisierend-vieldeutige und affektive, zu Schuldprojektionen neigende Ausmalen, dessen hauptsächliche Instanz der Begründung folgerichtig die vorgeblich besondere Subjektivität des Urteilenden ist. Symptomatischerweise konnte Roth den Westen, dessen Freiheitsorientierung er selbst nur zu gerne und selbstverständlich lebte, nie als Verbund von Staaten liberaler, eigenverantwortungs- und freiheitszentrierter Ordnungen denken – sondern (meist) nur als bedrohliche oder verführerische Systeme der Effizienzsteigerung, der Kontrolle, des Kommerzes, der individuellen Erfolgsorientierung. Im Osten dagegen liebte er Lebenswelten zu erträumen, in denen der Einzelne umfassend eingebunden, behütet und sinnerfüllt lebt, jedoch letztlich innerlich zu keiner Teilung der Werte verpflichtet ist, im Gegenteil, oft lobt er sogar die Doppelzüngigkeit der dortigen Bewohner, die der höheren sozialen Kontrolle solcher vormodernen Provinzen sich entziehen oder sie durch innere Abspaltung unterwandern. Während der »Westen« kalt normierend und zweckhaft ohne Einbettung in eine sinnvolle Ganzheit des Glaubens und der Werte organisiert sein soll, nehmen die Bewohner etwa der »Grenzschenke« (s. Fünfter Teil) Wertorientierungen eigentlich in noch kälterer Berechnung als jeder Offizier vor: Bindungen entstehen in 128

Milosz 1954, S. 110f.

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Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich

dieser östlichen Grenzregion mitunter in der Art archaischer Blutsbande, doch meist geradezu sozialdarwinistisch als Zweckbündnisse auf Zeit, nur so lange interessant, wie ein Machtverhältnis Vorteile für beide Seiten erbringt. Dass Roth aus dem Vertrauen auf die Überlegenheit seiner subjektiven Impression und ihrer Suggestionskraft in der sublimierten Form des Stils heraus schrieb und jede Art von Abstraktion und empirische Fundierung der Begründung eigener normativer Ansprüche per se für unnötig hielt, war keine bloß individuelle Idiosynkrasie: Roth partizipierte am in den 20er und 30er Jahren zumal im deutschen Sprachraum noch einmal prominent werdenden Intellektuellenhabitus, der unter »Politik« das Entwerfen metaphorischer und emotionalisierter, meist feuilletonistischer oder essayistischer Krisen-, Entfremdungs- und Untergangsszenarien verstand, wahlweise mit oder ohne Verheißungsinstanz, jedoch immer mit Instanzen des Bösen, denen man persönliche oder kollektive Schuld an Verfall und Entfremdung zuschreiben und sie entsprechend anklagen konnte. Wir werden sowohl in Bezug auf die Einschätzung des Zustands der Republik als auch des Dilemmas der jüdischen Identität und des Verhältnisses von Ost- und Westjuden in den nachfolgenden Kapiteln jeweils anderen Stimmen jüdischer Intellektueller aus Roths Generation begegnen, die, wiewohl ähnliche äußere Identitätskonflikte durchlebend, diesen »kulturkritischen« Habitus nicht in gleicher, ästhetisierender und distanzloser Weise verinnerlicht hatten und demnach zu sehr anderen Urteilen über die Lage des Judentums und ihrer eigenen, der jüdischen Intellektuellen, kamen. Sie alle vermochten die besondere Konfliktuosität zu nutzen, eine besonders eigenwillige und dennoch stabile Haltung zu ihrer Herkunftslandschaft zu kreieren. Alle – bis auf einen: Joseph Roth. Sein Verhältnis zu den kulturkritischen Diskursen der Zeit zu untersuchen ist Aufgabe spezialisierter Kulturhistoriker, nicht der vor-

1 Schreibend inszenierte Haltungen zur Politik

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liegenden Studie129. Vom Modell der Ambivalenz her erscheint Roths Einstimmen in die Krisen- und Entfremdungsdiskurse vor allem als Projektion innerer Ambivalenz ins historische Format, um sich den Lauf der Welt in ästhetisierten Gute-Böse-Szenarien und Täter-Opfer-Schemata simplifizierend zurechtlegen und Schuldzuschreibungen vornehmen zu können. Behauptungen der Art, Roth sei in den frühen 1920er Jahren »Sozialist« gewesen oder nicht gewesen, sind ebenso unbegründet wie historisch nichtssagend: Was Roth öffentlich zu sein bekannte, war immer nur eine Option, ein vom Effekt auf sich und andere her gedachter Modus der Selbstinszenierung, und stets konnte er gegenläufige Überzeugungen zu gleicher Zeit hegen – so verehrte er zeitlebens Karrieremenschen in Kultur und Wirtschaft, aber auch Patriarchen und Grundbesitzer alten Stils, während er das Effizienz- und Erfolgsstreben des Westens verdammte, die materielle Beschränktheit der östlichen Provinzen verklärte und den »Westen« als eine von außen quasi-kolonialistisch auf diese organisch gewachsenen Welten zugreifende Entfremdungsmacht imaginierte. Darüber hinaus bedeutete zumal in den 1920er Jahren, Sympathien mit »sozialistischen« Ideen zu hegen, erst einmal nicht viel mehr, als sich in einem Feld diverser habitueller Gesinnungsmuster zu positionieren – und den Versuch, seinem Ich Kontur und imaginäre Zustimmung zu verleihen. Solche Etikettierungen haben auch deshalb historisch kaum Folgen, weil sich links oder sozialistisch oder kommunistisch zu gerieren gerade während der 1920er Jahre in für uns heute kaum noch nachvollziehbarer Weise bestimmt wurde durch vage ästhetisierende Heilserwartungen, Bildungsreligionen, theatralische Entfremdungsund Untergangsszenarien, Verschwörungstheorien, quasi-theologische Motive und vor allem durch Verachtung des (insbesondere wohlhabenden) »Bürgers«, des Liberalismus, der Pluralität und des Massenkonsums, oft auch des Parlaments. 129

Eine gut lesbare Einordnung der kulturkritischen Motive Rothscher Feuilletons in die kulturkritische Publizistik der Zeit: Rautenstrauch 2016.

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Roth verkörperte zudem eine Spielart jener im Westen lebenden Intellektuellen, die im »Osten« verlorene Urkräfte, weniger verfälschtes Menschsein, seelische Tiefe und Gemeinschaftssinn zu finden hofften und diese gegen einen sogenannten »Westen« (oder wahlweise Kapitalismus, Demokratie, Nation, Herrschaft von Kommerzgeist, Wissenschaft, Technik usf.) ausspielen wollten, dem man im Ton höchstdramatischer, pauschaler Anklagen vorwarf, seelisch verflacht, hedonistisch, sozial atomisiert zu sein. Phantasmagorien wie die Eduard Stadtlers, der Bolschewismus sei welthistorisch zum Sieg fähig und bestimmt, weil in ihm führende »Persönlichkeiten von großem politischen Format agierten, Kraft- und Künstlernaturen, vor allem Rosa Luxemburg und Karl Radek«130, klingen für unsere heutigen Ohren je nach Geschmack traurig größenwahnsinnig oder unfreiwillig komisch – gerade solche irrationalen Kulte starker Führungspersönlichkeiten und Redeweisen der Heilserwartungen waren jedoch tonangebend in jenen konvulsivisch ideologiegeladenen Weimarer Jahren, rechts wie links. Und der Kulturintellektuelle halluzinierte sich selbst allzu gerne auf seiner Weltbühne als eine solche Führerfigur mit höherem Wissen um das gute Menschsein, den Sinn der Geschichte. Die meisten heutigen Leser dürfte es schaudern zu erfahren, wie, sagen wir, vorbehaltlos ein Franz Jung sich am Totalitären der bolschewistische Diktatur nachgerade berauschte und etwa bei den Aufmärschen zum 1. Mai das Gemeinschaftserlebnis feierte, das aus der »bürgerlichen« Vereinzelung erlöse131. Revolutionshoffnung zumal im 20. Jahrhundert war allermeist auch »Heilssuche«132 – und damit keine Folge von abstrakten Reflexionen auf Werte, Machttheorien, Gerechtigkeitsdebatten, ökonomische Modelle etc., ein Produkt diffus vermengter Impulse: Empathie, Inszenierung einiger Momente des moralischen Selbsts, Ressentiments, milieuinterner Nachahmungs130 131 132

Zit. bei Koenen 2005, S. 245. Koenen 2005, S. 306. Furet 1996, S. 49f.

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trieb, vages Wünschen nach Verwandlung des sozialen Lebens, Sehnsucht nach Ursprüngen, Geborgenheit, Glück, Bindung u.a. spielte darin mit. Die vorliegende Studie beschränkt sich darauf, einige markante Texte unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, was es für den schreibenden Joseph Roth überhaupt hieß, sich in eine Haltung zu politischen oder sozialen Ereignissen und Gegenständen zu setzen – und/oder diese zu äußern. Glorifizierte heute jemand wie seinerzeit, sagen wir, Alfons Paquet, der die Revolution als wesentlich »geistiges« Ereignis verstand, deren Führer als »Männer der Idee«, um die alte »Kaiseridee« wiederzubeleben, würde man ihn bestenfalls als Sonderling oder Kauz belächeln133. Doch viele Kultur-»Idealisten« damaliger Zeit lebten wie Paquet ihre Macht-, Größen- und Heilsphantasien unter dem Deckmantel des Sozialismus (oder des Nationalismus, der Monarchie usf.) aus und erhofften eine »Diktatur der Vernünftigen«134, hochrespektierte Kulturintellektuelle rühmten Stalin als Schöpfer einer »Ideokratie«135. (Heinrich Mann propagierte derlei noch nach dem Zweiten Weltkrieg.) Die einzig wahre »Vernunft« war in diesen ebenso krausen wie restaurativen Phantasmagorien selbstredend das Privileg der kulturkritisch hochgestimmten Literaten-Philosophen. Insofern hat es vor allem etwas mit milieuspezifischen Gesinnungen, kaum etwas mit Politik im engeren Sinne zu tun, wenn Roth seine Stimme insbesondere in den frühen Weimarer Republikjahren – mal neckisch und empfindsam, mal aufbrausend und anklagend – den Ausgebooteten, Bedürftigen, Minderheiten und an den Rand Gedrängten lieh: Um das Jahr 1923 herum tat er es vermehrt und recht agitierend im Namen des proletarischen Klassenkampfes, um bald die »geistige«, aristokratische Revolution von oben einzuklagen (vgl. z.B. II. 1014) – nachdem er ohnehin schon längst zuvor Großgrundbesitzer bewundert hatte, später Großbürger, den Geld133 134 135

Vgl. Koenen 2005, S. 212–14. Vgl. Koenen 2005, S. 205. Ausdruck bei Furet 1996, S. 187.

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adel, Erfolgsmenschen diversen Typs136. Niemand schwadroniert vom »Adel des Geistes«, der nicht auch den einfachen Bürger verachtet und Phantasien von eigener Größe und Aufmerksamkeitsgewinn für sein Ego pflegt. Rettung könne von den Massen herkommen, doch nur, wenn sie durch die richtigen, vulgo: ihrer »Geistigkeit« wegen stets guten und umfassend wissenden Führer emporgehoben und geformt würden. Solche Halluzinationen blühten rechts und links, einig war man sich jedoch in der Verachtung von Demokratie, ökonomischem und ethischem Liberalismus und Pluralismus, kurz und vieldeutig: des »Westens«. Erich von Salomon hat es, nachdem er daran beteiligt war, Rathenau zu ermorden, wünschenswert klar gesagt: »Aber es geht doch um den Kampf gegen den Westen, gegen den Kapitalismus! Werden wir Bolschewisten!«137 Die »materielle Revolution« müsse endlich einer »geistigen« Platz machen, forderte Roth in der Sowjetunion: »Sie geht nicht vom Proletariat aus, sondern von der wirklichen Aristokratie, den wahrhaft freien Individuen« (II. 1014). Was und wer das sein soll, diese der Brotarbeit enthobenen wahren Aristokraten und schärfsten Widersacher der »Fabrikanten, Grafen und Offiziere« (II. 1012), verriet Roth nicht. Dass er sich hinzugezählt sehen wollte, liegt auf der Hand. Das war stillschweigender Konsens in all diesen kruden Krisendiskursen der Zeit wie schon der gesamten »Politics of Cultural Despair« (Fritz Stern), dem Hauptquell all dieser theatralischen Selbstinszenierungsspiele von Literaten-Philosophen. Roth war als Autor immerhin in der glücklichen Lage, mit seinem post-feuilletonistischen, synthetischen und manchmal synkretistischen Stil flexibel das babylonische Gewirr von Stimmen im weltanschaulichen Projektionstheater der politischen oder neureligiösen Heilserwartungen je nach Kontext als Materiallager gebrauchen zu können. Die deutsche Kollektivneurose des Vertrauens auf »geistigen Adel« als eigentlich gesellschaftspolitische Kraft war so verbreitet, 136 137

Vgl. Bronsen 1974, S. 197f. Koenen 2005, S. 340.

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dass selbst ein sonst eher nüchterner Gründungsvater der Republik wie Friedrich Ebert den Ort der Nationalversammlung im Februar 1919, Weimar, symbolisch verstanden wissen wollte. Man versuche, »den Geist von Weimar mit dem Aufbau des neuen deutschen Reiches« verbinden138, womit natürlich die literarische Weimarer Klassik und ihr »Musenhof« zuallererst gemeint waren, nicht Bach, Liszt oder gar Nietzsche. Diese »kulturkritischen« Krisen- und Entfremdungsdiskurse mussten Roth in mehreren Hinsichten sympathetisch sein. Das galt allemal für das Angebot, die Welt sich zu veranschaulichen als großes Drama guter und böser Kräfte, von Ost und West, Nation und Monarchie, Tätern und Opfern, Reichen und Armen. Attraktiv dürfte für Roth dabei die Lizenz gewesen sein, intuitiv oder assoziativ, aber vor allem: improvisatorisch schreibend das Zufällige und Subjektive direkt auf das (vermeintlich) Ganze und dessen Deutung bzw. Beurteilung zu beziehen. Kulturkritiker nehmen, hat Georg Bollenbeck in einer maßstabsetzenden Monographie des Kulturkritikers, bündig formuliert, »in der Regel die Haltung akademisch randständiger ›Dichterphilosophen‹ oder Intellektueller ein, die Distanz gegenüber der akademischen Philosophie oder Soziologie wahren, die sich keiner argumentativen Disziplinierung unterstellen, die ihre Texte nicht an eine Fach-, sondern an eine breite kulturräsonierende Öffentlichkeit adressieren und die eine Schlüsselattitüde der allgemeinen rücksichtslosen Weltdeutung einnehmen. […] Die kulturkritische Denkhaltung befördert keine systematische Ordnung, terminologische Genauigkeit und empirische Validität. Sie ist kognitiv und normativ ausgerichtet. Sie hasst, um mit Friedrich Schlegel zu sprechen, das ›Panzerhemd der systematischen Einkleidung‹. […] Ihre Denkhaltung bevorzugt ›intentional-werthafte Welterklärungen‹. Sie ermöglicht ›große‹ Verlustgeschichten gegen die ›große‹ Erzählung vom Fortschritt. Die Kulturkritik hat einen alarmistischen, hypergeneralisierenden Charakter; sie ist sub138

Zit. bei Eva-Maria Schnurr. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 22.

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jektiv-wertend, umgeht eine analytische Vertiefung; sie ist kasuistisch-empirisch, nicht systematisch-empirisch. Sie urteilt gesinnungsethisch-normativ. Sie ist ein affektiver Reflexionsmodus. Sie setzt, um mit einem prominenten Kulturkritiker zu sprechen, auf ›Übertreibungen in Richtung Wahrheit‹.«139 Synthesen der essayistischen und feuilletonistischen, der großen, theatralisch empörten oder verzweifelt zynischen, mitunter sich prophetisch oder kryptoreligiös, zuweilen auch philosophisch einfärbenden Manier des Kulturkritikers erfreuten sich gerade in jenen Zwischenkriegsjahren einer hohen Konjunktur, die »Frankfurter Schule«, Ernst Bloch, Karl Kraus verkörperten sie in denkbar unterschiedlichem, partiell vom nationalen Klima geprägten Profilen. Wieder anders machten sich Roths Kollegen und Konkurrenten bei der FZ, Siegfried Kracauer und weitgehend frei von abstrahierender Begrifflichkeit auch Friedrich Sieburg rhetorische Figuren der damals florierenden Entfremdungs- und Krisendiskurse zueigen. Roth dürfte sich auch in dieser Hinsicht durch seine fluide, auf Momentreize reagierende Art von den schreibenden Kollegen unterscheiden: Die verbalen Schemata der im weiten Sinne kulturkritischen Krisenund Entfremdungsdiskurse adaptierte er nicht, um werthafte, stabile Deutungsmuster der Welt hervorzubringen – eher wie eine Sprechrolle, in die man je nach Bedarf für einige Augenblicke schlüpfen kann. Er konnte sich des kulturkritischen Habitusʼ wie eines Registers des Schreibens bedienen – oder ihn beiseitelassen: Roth Konstruktionen des Ostjudentums, überhaupt des Gegensatzes von Ost und West, Moderne und Tradition, Demokratie und Monarchie kamen spätestens seit Mitte der 1920er Jahre ganz ohne »philosophische« Allüren aus, behielten jedoch einen »kulturkritischen Gestus« insofern bei, als Roth auch hier liebte, in ästhetisierender Theatralisierung vom Marginalen der subjektiven Eindrücke und Einzelinformationen direkt aufs Ganze zu schließen. Der Quellgrund seines Schreibens waren keine Thesen oder abstrahierende Argumente, 139

Bollenbeck 2007, S. 19.

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sondern basale, unspezifische Ressentiments und ihrerseits deutlich ambivalent zwischen Genuss und Leid schwankende Gefühle von Fremdheit und Verlust. Wiewohl Joseph Roths verbale Gestik in vermeintlich »politischen« Passagen häufig dem Kulturkritiker in Bollenbecks Sinne glich, gingen seine publizistischen Invektiven nicht im Milieuspezifischen auf – und das nicht bloß, weil ihm eine steil metaphysische, künderartige, quasi-geschichtsphilosophische Attitüde kaum lag. Hierzu dominierten das Spontane und Fragmentarische zu sehr. Einordnungen einzelner Schreibstrategien, Textelemente und Selbstinszenierungsmuster in solche und andere Traditionen vorzunehmen ist nicht Anliegen dieser Untersuchung. Das Ziel des Buchs wäre erfüllt, wenn es Zweifel daran begründet, dass die eigentümliche Dynamik der schöpferischen Individualität Roths als Folge von moralischen, religiösen oder politischen Konflikten und Änderungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit erklärt werden kann. Das heißt nicht, dass die politischen und sozialen Umbrüche in den jungen Republiken Österreichs und Deutschlands gar keinen Einfluss auf Roths wachsende Krisen gehabt hätten – nur eben gewiss nicht, weil Roth Opfer irgendwelcher Antisemitismen oder Kriegsgefahren geworden wäre. Die Transformation zur Republik muss vielmehr umgekehrt die Bindungs- und Identitätskonflikte verschärft haben, fiel doch jetzt die Heilsperspektive heraus. Die krypto-metaphysische Sonderstellung, die sich der Kulturintelligenzler im postromantischen 19. Jahrhundert zusprach, interessierte zwar die Feuilletons und Salons, aber nicht mehr den Souverän, und selbst die politische Öffentlichkeit nahm davon allenfalls noch am Rande Notiz. Überhaupt kollabierten gewohnte Hierarchien und Gewissheiten, was für Roth insbesondere im Verhältnis der Geschlechter wachsende Verunsicherungen erzeugte. Vor allem fordert eine Republik von jedem Einzelnen, sich als eigenverantwortlicher und zugleich informierter Teil der sich selbst gestaltenden Bürgerschaft einzubringen. Es dürfte daher nicht unplausibel sein zu vermuten, dass der

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Umbruch zur Republik die Ambivalenzen verschärfte: Einerseits bediente er die Sehnsucht nach Ausbruch aus gewohnten, als erstickend empfundenen Hierarchien nur noch in Ideologien, die spätestens mit dem Erfolg der Stresemannschen Verständigungspolitik marginalisiert wurden. Andererseits desorientierte dieser Umbruch, weil die Republik kein umfassendes hierarchisch geordnetes, den Einzelnen religiös und weltanschaulich behütendes neues Sinnsystem an deren Stelle setzte. Und das war für Roth in seinen zunehmenden Krisen der 1920er Jahre bald entscheidend – auch und gerade für die Hinwendung zur Ursprünglichkeit des Ostjudentums, der Rhetorik von Entfremdung und schließlich zu einer halluzinierten, nicht perfekten, doch umfassend behütenden Sinn- und Sozialordnung im k.u.k. Reich. Roths Abwendung von der liberaldemokratischen Gegenwart wurde in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre manifest und war wie angedeutet insofern rätselhaft, als sie in der Phase deutlicher Stabilisierung der liberalen Demokratien erfolgte, der Rassismus weitgehend des Einflusses auf Institutionen und politische Entscheidungen beraubt worden und Deutschland sich pazifiert hatte und in den Völkerbund eingetreten war. Man muss dennoch nicht allein auf eine zweifellos virulente individuelle Konfliktund Identitätsdynamik rekurrieren, um die unerklärliche Abwendung erklärbar zu machen. Ein labiler, in äußeren Autoritätsinstanzen (und literarisch halluzinierten Lebenswelten) nach Rettung suchender Mensch wie Joseph Roth muss von der liberalen Demokratie systematisch enttäuscht werden: Eine moderne Demokratie kann und muss vielleicht sogar Sehnsüchte nach großen, Orientierung und Bindung schaffenden Vater-, Führer-, Autoritätsfiguren mitunter aufgreifen und absorbieren – doch wird ihre Entscheidungsbefugnis immer begrenzt und dem Souverän und damit den mühsamen Prozessen des Interessenausgleichs durch Parlamentarier, Experten, Institutionen und Verbänden untergeordnet bleiben. Sie muss per se überschießende Sehnsüchte nach Heilung, Sinnerfüllung und Versöhnung, gerichtet auf äußere Instanzen, enttäuschen oder zumindest

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aufschieben – außer eben der, durch Festigung der demokratischen Entscheidungsprozesse Frieden, Selbstbestimmung und Partizipation zu ermöglichen. Roths innere Bindung an erträumte Führerautoritäten und väterliche Versöhnerinstanzen artikulierte sich prototypisch: Anstatt den politischen Prozess diskursiver Lösungsfindung innerhalb des Gleichgewichts der Instanzen zu analysieren, emotionalisierte und skandalisierte er Einzelereignisse und bewertete Gesinnung, Charakter und Ansichten einzelner Protagonisten der Funktionseliten. Wir kommen darauf zurück. Lösen konnte Roth sie bloß auf dem Papier. Lösen hieß hier jedoch nicht: Sie aufzulösen, sondern ihnen eine poetisch verwandelnde Gestalt zu geben und diese zu veräußern. Beispielsweise jene an Fällen wie »Perlefter«, »Erdbeeren« und metareflexiven Texten studierten, transparenten, schein-objektiven Sinn- und Bezugsoberflächen in Erzählungen, die einfach nur aufzusagen scheinen, was »da« ist, sich näher besehen jedoch in vagierende Felder der Vieldeutigkeit, der Bezugsambivalenzen, des Umschlagens von Innen und Außen etc. auflösen. Noch konkreter wird das in Roths Technik, das Umschlagen konträrer Ordnungs- und Bindungstypen als rätsel-, zauber- oder märchenhaften Vorgang zu schildern. Oder die Eigenart, übermäßiges Behütungs- und Orientierungsverlangen mit dem Ausbruchsimpuls gegen dieselbe, ersehnte, totale Ordnung, in Figuren zu vereinen. Wir werden diesen für Roths fiktive Welten grundlegenden Motiven im Fünften Teil mehrfach begegnen. Wir sahen auch, dass und wie im erzählenden wie im (nominell) nicht-erzählenden Schreiben das realiter Unvereinbare und irritierend Unentscheidbare (z.B. ob und weshalb man jetzt überhaupt noch in die Fremde geht, wenn man verreist; oder woher eigentlich der »Zaun« rührt, der das Subjekt von der Welt trennt und welche Funktion er erfüllt) auf kleinem Raum via Formgebung in Pointen und Paradoxa, in kaschierten oder selbstironisch präsentierten Inkonsistenzen oder auch in rührenden Legendenepisoden gestalthaft anschaulich werden, ohne dass das, wie im Leben, Desorientierungen oder Fixie-

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rungsängste auslöst. Roths feuilletonistische, anekdotische, erzählende Erinnerungsbilder waren daher keine Schönfärbereien, wie man sie jedem Reiseschriftsteller oder Journalisten durchgehen ließe, solange sich nur ein interessantes Resultat ergibt – es waren Verkehrungen, Umpolungen, Gestaltwerdungen, Doppelbelichtungen des Unvereinbaren, satzweise Re-Inszenierungen, Produkte und Bewältigungsversuche der Ambivalenz zugleich. 2 Neue Erklärungen für alte Beobachtungen Die Dekonstruktionsarbeiten des Zweiten und Dritten Teils bezüglich Roths »politischen« und religiös-ethnischen Gründen zur Beund letztlich Verurteilung der gegenwärtigen, realen Sozialordnung der (deutschen) Republik sind kein Ziel an sich und beruhen im Übrigen auf Argumenten, die lediglich Plausibilität, keine zwingende, lückenlos historische Rekonstruktion anstreben. Diese dekonstruktiven Arbeiten sind nur Zwischenschritte auf dem Weg zu einem neuen, letztlich auf das genuin Literarische der Sprachideen abzweckenden Modells. Der Zweite Teil will punktuell vorführen, wie sehr der historische und ästhetische Blick noch verstellt wird von nachwirkenden Gemeinplätzen, die im Künstler etwas anderes als einen Bürger unter Bürgern sehen wollen. Das eher bruchstückhaft exponierte Ambivalenz-Ordnungs-Modell versteht sich als Probelauf oder Prolegomenon zu einer Theorie der Kreativität: Der Verlust verbindlicher, werthafter und weltanschaulicher Orientierungen (und damit Identitäten) im Leben und die zunehmende Sicherheit und Erfindungskraft im Künstlerischen bedingten einander, weil der erwachende Künstler Roth im erfolgreichen Feuilletonisten Roth schöpferisch zu verwandeln verstand, was die Person Roth Stück für Stück in den Untergang trieb – die Ambivalenz im Verhältnis zu Ordnungen und damit auch zu Fragen der Identität sowohl der (sozialen und historischen) Welt wie der Individuen (einschließlich seiner selbst) und ihrer Bindungen.

2 Neue Erklärungen für alte Beobachtungen

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Der vorliegende Essay will dabei in mancher Hinsicht nichts gänzlich Neues erfinden, sondern althergebrachtes Wissen re-aktualisieren – etwa das um die tiefere Funktion der »Heimatlosigkeit« für den schöpferischen Geist: Schon die Antike wusste um den »Kunstgriff der secessio in montem sacrum, des protestierenden Abtretens vom Schauplatz, auf den man triumphierend zurückzukehren gedenkt. Bei dieser Opposition können die Begleitumstände nicht effektvoll genug inszeniert werden. Aber sie hat mit der Verbannung des Dichters nur die Äußerlichkeiten gemeinsam. […] Von einem gewissen Augenblick an denkt er nicht mehr an Rückkehr, sondern beginnt seiner Isolierung merkwürdig Vorschub zu leisten [sic!], weil er spürt, daß er sie braucht. Er weicht freiwillig an den Rand der Zeit hinaus, wo er sie wie Hesiod ganz durchschauen kann, oder auf einen Punkt außerhalb der Zeit, von dem er sie wie die Propheten aus den Angeln hebt. Seine Verbannung ist die List des Schicksals, durch welche das große Kunstwerk zur Reife kommt. Ebenso verhält es sich mit der Krankheit«140. Der Gefahr, persönliches Leid auf diese Weise zu verklären, sollte man sich bewusst sein, doch man könnte Joseph Roths »Flucht ohne Ende« zumindest versuchsweise einmal mit Rücksicht auf diese Worte Walter Muschgs (zugedacht Petrarca, Voltaire und Viktor Hugo) andere Aspekte abgewinnen. Die Metaphysik des Kunstwerks, die Muschgs Charakterisierung inspirierte, sollte man in den Geschichtsbüchern ruhen lassen. Das vorliegende Buch jedenfalls tut es und begnügt sich mit Konkreterem und Profanerem – empirienahen Strukturbeschreibungen von Textstrategien, dem schreibend und lebend generierten Habitus und (im Vierten Teil) mit einem säkularen Deutungsmodell der diese antreibenden Ambivalenzkonflikte: Letzteres soll verständlich machen, wie das literarische Tun selbst, also das Komponieren von Sprache, im Ganzen des erlebenden, individuellen Geistes eingebettet funktioniert. 140

Muschg 1957, S. 422f.

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In sozialgeschichtlicher Hinsicht kann man den vorliegenden Zweiten Teil auffassen als Addendum zur Geschichte jener »neuen[n] Art des entfremdeten Intellektuellen in der modernen Welt«, wie sie Fritz Sterns klassisches Werk »The Politics of Cultural Despair« initiierte141 – mit anderen, nämlich weniger geistes- und mentalitätsgeschichtlichen, sondern ästhetischen und sprachtheoretischen Zielen, einem bestimmteren Modell der psychologischen Dynamik, dafür mit ungleich bescheidenerem Horizont historischer Art: Die Studie kann auch als Exkurs in der Naturgeschichte des modernen Künstlers verstanden werden – jener eigentümlich »chamäleonartigen« Kreatur, die nach Keats das »unpoetischste aller Wesen ist, weil es keine Identität hat« und »ständig einen anderen Leib« ausfüllt142. Die Sozialgeschichte allerdings setzt nur einen Rahmen, um in diesem den Vorgang der schöpferischen Verwandlung in der Komposition von Sprache genauer zu verstehen. Die weitgehend dekonstruktiven Partien werden schon im Zweiten Teil verbunden mit konstruktiven: Sie gehen dem Anteil bestimmter Schreibweisen und daher mittelbar der Prozesse schreibender Verarbeitung von Ambivalenzen an Rothschen Konstruktionen der geschichtlichen Welt nach. Das implizite Wissen der schreibenden Praxis geht meist dem explizierbaren Wissen darum voraus, weshalb etwas so oder so bewertet und dargestellt wird. Die vorliegende Neufassung der Studien benutzt, wie eingangs erklärt, das Modell der Ordnungs-Identitäts-Ambivalenz ungleich stärker als in der früheren Fassung als variabel und undogmatisch handhabbares Instrument, um das Individuelle einer poetischen Sprach- und Textkonzeption und vor allem auch das Individuelle 141 142

Zitat Stern, S. 319. Die deutsche Übersetzung »Kulturpessimismus« ist irreführend. John Keats, Brief an Richard Woohouse vom 27.Oktober 1818, zitiert nach: Michael Hamburger, Wahrheit und Poesie. Spannungen in der modernen Lyrik von Baudelaire bis zur Gegenwart, erw. Neuauflage Frankfurt a.M. [usf.] 1985, S. 68.

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einer jeweiligen Textidee erfassen und beschreiben zu können – und dieses Individuelle ist nach einhelliger Überzeugung eine Bedingung der Kunst im anspruchsvolleren Sinn. Das Modell lässt typische, immer wiederkehrende Module der Bahnung von Emotionen, Wertungen, Denkweisen und verbaler Materialien des Autors Roth erkennen – und kann, den jeweiligen Gebrauch des Repertoires von Modulen rekonstruierend, die Individualität der einzelnen künstlerischen Lösung deshalb vor dem Hintergrund des Typischen umso plastischer wahrnehmen lassen. Dieser neue Weg vermag die inneren Zwänge und Kodifizierungen des künstlerischen Temperaments zu erhellen, macht aus dem schöpferischen Tun jedoch weder eine Angelegenheit der Medizin noch eine der Metaphysik oder gar der Ideologien, noch trivialisiert sie die individuelle Lösung zu einem »Ausdruck der Persönlichkeit«: Gerade im Falle Roth lässt sich zeigen, wie determiniert, gefährlich, ja hilflos der Umgang des schöpferischen Kopfes mit der Welt sein kann – aber vielleicht gerade deshalb umso intensiver und obsessiver nach ästhetischen Bearbeitungsmöglichkeiten sucht. 3 Das Ich als Bündel von Rollen Definition Ambivalenz-Ordnung-Identität Wir schreiben das Jahr 1939, Pfingstsonntag. Joseph Roths Bekanntenkreis, weitläufig, vielgestaltig wie nur je, ist zu guten Teilen im Café Tournon versammelt und steht vor einer peinlichen, unlösbaren Aufgabe. Der Tod hatte tags zuvor den großen Epiker ereilt, im delirium tremens – nicht ganz ungewöhnlich in den Räumen des Hospitals Necker, seiner allerletzten Heimstatt. Doch nicht Gevatter Tod selbst war es, der die Trauergemeinde so rasch ins Zerwürfnis stürzte. Es war die Notwendigkeit, Roth ein erstes Mal auf eines seiner vielen, sich widersprechenden weltanschaulichen Bekenntnisse festzulegen – schließlich kann man in aller (irdischen) Regel nur jüdisch oder katholisch der Ewigkeit übergeben werden.

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Längst habe er sich der Taufe unterzogen, führten die katholischen Disputanten ins Feld. Als allsonntäglicher Kirchgänger sei er ohnedies jedem bekannt, Beichte und Kommunion ihm zuletzt gar etwas wie ein Lebenselixier geworden. Soma Morgenstern143 und der ehrwürdige jüdische Gelehrte Josef Gottfarstein schlossen sich in diesem seltsamen Disput der Konfessionen zur Gegenfraktion zusammen: Keinen Zweifel hegten sie: Roths gebärdenreicher Katholizismus der letzten Jahre war bloße Konzession ans versprengte Häuflein der Legitimisten um Otto von Habsburg. Des melancholischen Dichters Herz habe allemal noch fort in alten jüdischen Tönen geschlagen – so rein, so heftig, orthodox und eifrig, dass es ihm zu guter Letzt von seiten des Talmudisten den (zweideutigen) Titel eines »Super-Juden« eintrug. Es kam, wie es kommen musste. Ein Affront gab den nächsten, die Debatte wurde hitzig. Die Eskalation konnte vermieden, ein Rest an Pietät noch eben gewahrt werden, als man sich in der Not den juridisch einwandfreien Ansprüchen anwesender Verwandtschaft beugte. Dass katholisch bestattet wurde, war somit eine Sache der Etikette und beileibe keine tiefere Einigung. Zudem – David Bronsen, dem findigen Pionier der Roth-Biographik, konnte das nicht entgehen144 – war es mit diesen Einklagbarkeiten nicht gar so weit her, bestand doch die »Verwandtschaft« aus einer einzigen Person – sinnigerweise einer getauften Jüdin. Das Begräbnis selbst fand dann nicht auf dem Friedhof Montmartre und damit nicht, wie geplant, unweit des von Roth geschätzten Heinrich Heine statt, das war den wenig solventen Gönnern einfach zu kostspielig. Weil die Taufe sich nicht nachweisen ließ, wurde 143

144

Morgenstern kannte Roth wohl schon seit den Lemberger Studienjahren (Asmus 2012, S. 39), traf ihn später, als er Kollege bei der »Frankfurter Zeitung« war, häufig, wurde jedoch erst 1938–39, als beide Hotelnachbarn waren (vgl. Asmus 2012, S. 92ff), ein eng Vertrauter. Seine Erinnerungen an Roth sind im Rahmen einer Werkausgabe (Lüneburg 1994ff) erschienen. Ich folge hier und in den weiteren Zitaten mehrfach der Darstellung bei Bronsen 1974, S. 600–5.

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es auch nur eine ›bedingt‹ katholische Beerdigung, zwar in der »division catholique« des öffentlichen Friedhofs, doch in Nachbarschaft zu Juden, Mohammedanern und anderen, die nicht dem Vatikan folgten. Und, der Symbole nicht genug, die Zeremonie selbst spiegelte in komprimierter Form das Leben des zwischen vielen Bekenntnissen changierenden, seit der Rückkehr aus dem Dienst in der k.u.k Armee 1918 mehr und mehr auf Reisen oder Flucht umhergetriebenen, von Hotel zu Hotel eilenden und in prekären privaten Bindungen taumelnden Dichters: Eine ›Unmenge‹ Menschen, »Freunde«, von denen sich die meisten nur dieses eine Mal trafen, folgte dem Sarg – Schriftsteller, schneidige Journalisten, Zufallsund Kneipenbekanntschaften, Lebensgefährtinnen, Künstler, Emigranten und fahrende Ritter aus aller Herren Länder. Corpsstudenten, geschniegelt und mit Rapier, kamen neben galizischen Juden, Monarchisten neben Sozialisten, Gossenbekanntschaften neben abgehalfterten Aristokraten zu stehen. Wie immer man Zerrissenheit zwischen den Ideologien auch für andere Intellektuellenschicksale der 20er und 30er Jahre reklamieren mag – die tragikomische Klamotte vom eifersüchtigen Zank um die Zugehörigkeit des frisch Verschiedenen zur eigenen (und nur zur eigenen) Partei, weit übers Kondolieren im Namen einer Organisation hinaus, die hat es so wohl nur einmal gegeben, und zwar an eben diesem 27. Mai des Jahres 1939. Dabei war es ja keineswegs eine Versammlung (nur) der Kleingeister und Stammtischredner, nein, die Posse am Grab war Spätfolge jener erstaunlichen Fähigkeit Joseph Roths, sich ausschließende Extreme im Ideologischen wie im Gefühlsleben (auto-) suggestiv und simultan zu verfechten; mithin: der Ambivalenz in Bezug auf sich ausschließende Wertordnungen und damit auch der IchIdentitäten. Sie ist der Grund dafür, dass es keine Antwort geben konnte auf die Frage, wo denn der ›wahre‹, der eigentliche Roth zu suchen sei. Von ihr aus betrachtet, konnte die Begräbnisgesellschaft sich gar nicht anders trennen, als eben so, wie sie es dann tat: Ein

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jeder trug seinen Glauben, den (einzig) wahren Roth zu Grabe getragen zu haben, getreulich und unbeirrt nach Hause. Heimgekehrt schien dem einen, die offiziöse Einrichtung der Trauerfeierlichkeiten habe der Gemütsart des Verstorbenen, seinem Faible für Festliches und Formelles wundersam entsprochen (»Genau so würde er es sich erträumt haben. Es fehlte nur der Radetzkymarsch«). Von anderer Seite aber wurden Schwüre laut, für Roth, den abgefeimten »Feind jeglicher Konvention« (!), hätte es kaum etwas Abstoßenderes geben können als derlei zeremonielles Bekennertum. Kurzum: Strittig war den Menschen, die mit Roth in Beziehung traten, nicht nur, welchem seiner Bekenntnisse man Glauben schenken könne, sondern vielmehr, ob er letztlich, sei es trotz oder gerade wegen deren Vielzahl, überhaupt ein Mensch der Parteinahme, womöglich des Kampfes für die Entrechteten dieser Erde145, ob er ein Mann der Förmlichkeit und Etikette oder das genaue Gegenteil davon gewesen sei: ein dem Absinth ergebener Bohemien, ein Flaneur, Weltflüchtiger, geborener Schreiber in seiner eigenen Welt. Aber doch ein galizischer Ahasver und Konvertit aus sozialem Kalkül, ein melancholischer Gaukler, ein Möchtegernmillionär146, der eigentümlicherweise im Namen ostjüdischer Bedürfnislosigkeit einer ganzen Zivilisation die Rechnung machte, und ein Tagträumer von den Freuden aristokratischen Daseins147, vom alt-österreichischen Offizier, vom Galan in Wichs und Rapier? An seinem frühen Lebensende schien es nicht den einen Joseph Roth gegeben zu haben, sondern ein Bündel an Rollen, ein schillerndes Etwas, das jedem ein anderes Gesicht, eine andere Gesinnung, 145

146 147

»Von Roth ging die Strahlung eines ethisch fundierten Menschen aus, der sich nur vom Begriff der Wahrheit beeinflussen lassen wollte, die bei ihm von fast religiöser Stärke zu sein schien«. So ein jugoslawischer Journalist, den der knapp 29-jährige Roth, frisch verheiratet und als Feuilletonist schon von beträchtlichem Ruf, in der Literaten-Gesellschaft des Wiener Kaffeehauses Herrenhof kennengelernt hatte (vgl. Bronsen 1974, S. 230). Siehe I. 517f, I. 702f (Hauptmann von Köpenick). I. 295, I. 944f.

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eine andere »Identität«, ein anderes Leben zu zeigen schien. Das mögen Mediziner vielleicht als phänotypisches Nachbild einer phantasievoll ausgelebten »Instabilen Persönlichkeitsstörung« bezeichnen. Ambivalenz zu Ordnung und Identität war unabhängig von der medizinischen Klassifikation eine der wesentlichen Triebkräfte dabei. »Ordnung« kann man dabei formal definieren als eine endliche oder abzählbar unendliche Menge von Elementen – Dingen, Meinungen, Personen, Institutionen, Selbstmodelle, Werten –, die untereinander in einem definit geregelten Verhältnis stehen und die sich durch die sie verbindenden Regeln als Gruppe oder System von Elementen von ihrer Umwelt abheben. Das kann eine einzelne Person – ein »personales System« –, eine Gruppe von Personen (von mindestens zwei Mitgliedern), eine lebensweltliche Ordnung, eine Rechtsordnung oder Beziehungsordnungen, Wertsysteme, aber auch ein Begriff von Wirklichkeit u.a. sein. »Ambivalent« ist die Beziehung von Personen zu einem solchen System zu nennen, wenn diese keine stabilen Präferenzen im Verhältnis zu ihm ausbilden, Zustimmung und Ablehnung zu sich ausschließenden Modellen und Präferenzen simultan auftreten oder Verlockung und Abwehr alternieren, ohne dass eine Vermittlung erreichbar erscheint148. Ordnungs-IdentitätsAmbivalenz schließt auch und gerade die Relation zu sich selbst ein. »Personale Identität« meint in solchen Zusammenhängen nicht bloße Identifizierbarkeit: Mit dieser spielte, man erinnere sich, Roth hochgewitzt in den »Erdbeeren« – allerdings auch inkonsistent, denn niemand würde eine formale Identifizierbarkeit per Ausweispapiere mit der Identität als Person gleichsetzen. Letztere schließt eine definite Menge von Werten, Wirklichkeitsbegriffen, Überzeugungen, Eigenarten ein und setzt damit vernünftige Selbstbestimmung voraus: Sie wandeln sich mit der Lebenserfahrung, können jedoch nicht beliebig ausgetauscht werden, ohne die »Identität« einer Person zu 148

Formal ließe sich der Begriff definieren als Unmöglichkeit, eine endliche, konsistente Menge von Eigenschaften der Objekte des Systems zu nennen, die in jedem Falle zu einer Zustimmung oder Ablehnung führt.

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ändern. Personale Identität ist nur lebbar, wenn man sich in stabilen Bindungen zu Mitmenschen, Natur etc. befindet. Man muss beispielsweise eine bestimmte Einstellung zur Sexualität besitzen, möge die in Verteufelung oder einem Anything-goes bestehen. Die eigene Wunschrolle im Leben wird dabei implizit mit festgelegt. Man muss eine bestimmte Haltung zur Endlichkeit des Lebens hegen usf. Die grundlegende These ist weder abhängig von einem bestimmten psychologischen Konzept der Person oder des Geistes noch von einer bestimmten Handlungstheorie noch von einem bestimmten, vorab gefassten Modell von Text und Sprache. »Ambivalenz« ist ein deskriptiver Begriff für die Struktur von Phänomenen, Handlungen, Einstellungen, Urteilen, Rhetoriken, mentalen Zuständen, die, soweit das überhaupt möglich ist, theorieunabhängig gegeben sind – sowohl des nonverbalen wie des verbalen Verhaltens. Typische Erscheinungsformen ambivalenter Konflikte sind bei Roth das unerklärliche oder wundersame Umschlagen von Typen der Ordnung in gegenläufige, das Umschlagen der Bewertung bestimmter Ordnungen in konträre; das demonstrative Ausstellen von unüberbietbarer Transparenz dessen, was gesagt zu werden scheint – kombiniert mit einer absichtsvollen Unterminierung eben dieser Schein-Transparenz im selben Schreibzug. Aber auch etwa das simultane Auftreten von Verlangen nach und Furcht vor einem Zustand, einer Ordnung, einer Bindung oder von Hass und Begehren – und mittelbar zugleich das instabile Schwanken heterogener Selbstbilder und Ich-Entwürfe. Charakteristisch ist dabei das Fehlen von Übergangszuständen, von Entwicklungen, von schrittweisen Lernprozessen bezüglich solcher Ordnungen, Modelle oder Bindungen. Daraus resultiert das Gefühl, den Vorgängen ausgeliefert zu sein, keine voraussagbare Veränderung eines Zustandes, einer Ordnung, einer Bindung durch willentlich kontrolliertes, abwägendes Handeln bewirken zu können – und dazu auch gar kein Motiv zu haben, denn ein definiter, wünschenswerter, nicht-ambivalenter, nicht-vagierender, bindender Endzustand

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ist nicht ausdenkbar. Daher irrt ein solches Individuum zwischen pausenlosem Fluchtimpuls und übermäßigem Bindungsverlangen, zwischen Hass auf einen gegebenen Zustand und Kreisen in irrealen Lebensmöglichkeiten umher. Diese konfliktuöse Dynamik, so möchte die vorliegende Studie belegen, war ein wesentlicher Grund dafür, dass Joseph Roth sich nur im Schreiben ›gebunden‹ fühlen konnte – und dass er ein Schreibkonzept entwickelte, wie wir es im Ersten Teil kennenlernten, eine Synthese von schein-transparentem, naiv mündlichem Direktbenennen und einem kalkulierten Sinn-Vagieren, aber auch und vor allem einem teils lausbubenhaften, teils subtil hintergründigen Kalkül der Lücke. Dieses Schreiben lebte aus einer halb simulierten und doch auch tatsächlich praktizierten, momentbedingten Willkür und einkomponierten Entwicklungslogiken, Proportionen, Variationsstrukturen, die stets verbergen und zugleich etwa zeigen. Den Begriff »Subordination« vorschriftsmäßig zu definieren, verlangt Carl Joseph von Trottas Vater von ihm (V. 161): Carl steht Rapport wie ein Pennäler, vertut sich jedoch im Wortlaut und wird daraufhin getadelt: vom Vater selbst dann pedantisch zur »Subordination« unter dienst- und sittengerechten Wortlaut gezwungen. Der Humor ist hier wiederum verwandelte Ambivalenz – zum Vater und der Dienstvorschrift. Beider Subordination behütet, leitet, befreit vom frei sich verantwortlichen Ich. Diese Ambivalenz im Verhältnis zum individualitätsauslöschenden, väterlichen Reglement hat Roth vielen seiner Figuren mit auf den melancholischen Weg gegeben, dem Helden von Solferino und Carl Joseph aus dem »Radetzkymarsch« ebenso wie dem Eibenschütz in »Das falsche Gewicht«. In letzteren beiden Fällen ist die übermäßige Ordnungshierarchie auffälligerweise auch ein Schutz vor Gefährdungen durch das eigene sexuelle Begehren. Das ich-enthebende Zuviel an straffer, formaler Ordnung und die Verdrängung von Sexualität und intimer Erfüllung sind miteinander verbunden.

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Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich

Der Begriff »Westen« war dieser Konfliktdynamik eingeschrieben: Einerseits benutzte Roth ihn polemisch unbestimmt, um die angebliche kulturelle Trivialität des »Westens« zu geißeln – mithin im Banne kulturkritischer Klischees, wonach die westliche Moderne das Organische und vielfältig Gewachsene ausrotte, den »geistigen Adel« vernichte und durch steril effizienzgeeichte Systeme ersetze. »Hygiene« war daher ein Wort aus diesem ressentimentgeladenen Begriffsfeld. Roth verwendete Ausdrücke dieses Umkreises ebenfalls im Zusammenhang mit weiblichen Körpern pejorativ und polemisch, meist mit praktischer Effizienz, aber auch mit der sexuellen Emanzipation der Frau und ihres Körpers verbunden. Gegenbegriffe wären das Ästhetische und das ästhetisch Erotische149. Andererseits durchlaufen zumal die männlichen Protagonisten später Erzähltexte Roths Rasier- und Reinigungsprozeduren: Diese Rituale werden vollzogen, wenn die eine Figur also der eigenen Sehnsucht nach eindeutiger Einbindung in ein alltägliches Gemeinschaftsleben nachgibt. Was der Ambivalenz wegen immer nur transitorisch der Fall sein kann. Andere, eher oberflächliche Beispiele für ambivalente Grundstrukturen und ineinander umschlagende Komplementaritäten wären diese: Roth war in mehreren Phasen seines Lebens sentimental angezogen von vormoderner Provinzialität und Sicherheit erzeugender Enge; doch er selbst hatte seine in der Provinz verbrachten Jugendjahre lang nur eine große Hoffnung – fort aus dem Würgegriff der Provinz, hinein in die Metropolen. Roth, der als Zwanzigjähriger k.u.k. Militär und Monarchie hassen lernte wie weniges sonst, versank als Mittdreißiger vor den Augen der Öffentlichkeit in poetischen Tagträumen vom unwiederholbaren Glück des Josephinismus und kultivierte bis in die Gestik hinein sein Ideal einer »Humanität«, die kaum definierbar war, ein reines Evokationswort, das in irgendeiner Weise mit Bildung oder »Anstand« und Distanz zur Industrialisierung und Vermassung, vor allem aber: unwiederbringlich ver149

Dane 2012, S. 98.

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loren sein sollte. Der Untergang des altösterreichischen Offiziers war eine Chiffre für diesen Verlust. (Roths Kult um das Habsburgische war daher keine Nostalgie: Der Parameter Ambivalenz bietet eine Erklärung an, weshalb das wahre Leben durch die Unmöglichkeit, es außerhalb des Schreibvorgangs zu realisieren, definiert ist.) »Höllenwut« paraphrasierte der Roth der 1930er Jahre zornig polternd den Namen des amerikanischen Zelluloidmekkas: Die animistischen Leinwandillusionen waren ihm nun Ränkespiele des »AntiChrist«; wenige Jahre zuvor war er noch ein sentimentaler Cineast mit Hang zum ›großen Gefühlskino‹ im Roman. Er war selbst, müsste man daraus folgern, vom Bösen verführt worden. Oder vermuten, ihm seien nun Teile des Selbst oder Ich-Rollen, die er nicht lange zuvor gefühlsgeladen ausgelebt und ausgestellt hatte, zum Inbegriff des Bösen geworden. Die rhetorische und gedankliche Figur des Verführtwerdens ist wie auch die Schuldprojektion überaus charakteristisch für eine durch und durch instabile Person: Vom Ausleben der vermeintlich innersten Gefühle zum Einnehmen der Rolle als Opfer verführerischer Mächte und dem aggressiven Vernichtenwollen der als äußere Verursacher der verhassten Selbst-Teile identifizierten Mächte ist es nicht weit. Und man kann annehmen, dass alle diese Verhaltensmodi gleichzeitig in einer solchen Person lagen. In mehreren seiner Figuren, angefangen mit Benjamin Lenz im »Spinnenetz«, tun sie das jedenfalls. Man wird in jeder Hinsicht weitere Ambivalenzen finden: Wir sahen andeutungsweise, und werden es in mehreren konkreten Textbetrachtungen ausgedehnter beobachten, wie oft Roth, der gerne den überverfeinerten Ästheten fern der Massenkultur gab, Klischees des Ausdrucks, der Metaphorik, der Geschlechtermuster und sozialen Rollen verwendete, die teils übel populistisch waren, teils trivial wie in der Welt des Schlagers; Roths szenische Phantasie, wenn man die Brechung durch komische Elemente außen vor lässt, war oft schematisch wie die eines Gebrauchstexters oder Drehbuchschreibers.

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Vieles färbte er ein durch komische Elemente, kaum je fehlt Ironie und Selbstironie der sentimentalen Phantasie ganz – doch ist unübersehbar, dass diese oft auch auf den Plan treten, um eine allzugroße Neigung zum Trivialen, zum puren Ressentiment, zum konfektionellen Schematismus zu bekämpfen. Durch und durch zeitverhaftetes Klischee war seine pauschalisierende, affektiv wertende Opposition des »Westens« und »Ostens«, ebenso wie die Opposition der Nation und des Kaiserreichs, auch des Habsburger- und des deutschen Reiches. Teils wohl fast gleichbedeutend wie der »Westen« verwendete Roth die populistische Bannvokabel »Amerika«. Es klang für Roth wie für nicht wenige kulturell aktive Zeitgenossen in den frühen 1920er Jahre wie der Name eines säkularen, jungen, aufblühenden Zauberreiches an Glück, Machbarkeit, Optimismus, Komfort und Gerechtigkeit – von dem zugleich Überwältigungsgefahr ausging, die Begeisterung rasch in Überfremdungsangst umkippen lassen konnte. Die märchenhaften Seiten erlebten die Menschen im Alltag: Nach 1919 steigerte sich die deutsche Republik in einen »Modernisierungswahn«: »Scharen von Geschäftsleuten und Ingenieuren reisten nach Detroit, um sich von den Fließbändern der Ford-Werke inspirieren zu lassen.«150 1924 lief ein erstes deutsches Fließband an, das Volk berauschte sich an Mobilität und Beschleunigung in verschiedenen Lebensbereichen. Hollywoods Filmkultur wurde prägend, amerikanische Musik ebenso. Wechselnde Moden der Massen, generell das Warenhaus gerierten zu Symbolen einer Ära, auch die Arbeiterschaft verlegte ihre Werte mit dem steigenden Wohlstand mehr und mehr auf Konsum, Besitz und Freizeitvergnügen151. In der Mitte der 1920er Jahre bereits galt dieses »Amerika« Roth (der auch darin bloß kollektive Affekte der Deutschen imitierte) als Inbegriff einer verfehlten Zivilisation und überfremdenden Macht der Technisierung, Kommerzialisierung, Gleichmacherei. Furcht150 151

Kristina Maroldt, Volk im Temporausch. In: Kußmann/Mohr 2015, S. 84. Kristina Maroldt, ebd., S. 86f.

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erregend an sowjetischen Zuständen waren für ihn, der in diesen Jahren das Land als Reporter, untergebracht in kommoden Hotels, gastweise kennenlernte, nicht der ausbleibende Wohlstand, Pluralität oder Staatsterror, Entmündigung und Misswirtschaft, sondern die ›Amerikanisierung‹ der Sowjetunion (was wohl vor allem Glaube an den Fortschritt durch industrielle Massengüterproduktion meinte), und bald darauf ist ihm das Sowjetreich kaum mehr etwas anderes als der Ausbund des Bösen – rein affektiv auf der Basis zufälliger, persönlicher kultureller Begebnisse und Präferenzen abgeurteilt, ohne jede Reflexion auf die systemischen Bedingungen. Eine der hellsten Figuren Roths jedoch, der wundersame west-östliche Kulturkarrierist Menuchim, erfuhr noch 1930 sein großes Glück ausgerechnet in Amerika. Erst solche überraschenden Figuren des Umschlagens theatralisch verdammter Mächte des Bösen in Mittler des Heils, von Opfersein und Ego-Glanz, Entsagung und märchenhaftem Erfolg oder Reichtum offenbaren die Ambivalenz als Triebkraft allen Fühlens, Wahrnehmens, Denkens und Schreibens – über alle angeeigneten, zeitbedingten Affektfiguren, Jargons und Diskursformationen hinaus. Es ist, als ob Roth in dieser ästhetisch gewiss zweifelhaften Konstruktion zu erreichen versuchte, was ein Scholem Alejchem auch im Leben erreicht hatte: Roth gab der Vaterfigur seines Romans den Namen »Mendel«, der, wiewohl ein häufiger ostjüdischer Name, vielleicht in Erinnerung an Mendele Moichele Sforim gewählt wurde, sicherlich jedoch in Hommage an den Mendel Scholem Alejchems, wodurch Roths »Hiob« als Verbeugung und Gegenentwurf zu Alejchems Welterfolg »Tewje, der Milchmann« gelesen worden sein dürfte, den man als »moderne Hiobsgeschichte« bezeichnet hat152. Ambivalenz im Verhältnis zur sozialen Ordnung impliziert stets die Ambivalenz im Verhältnis derer, die eine Ordnung schaffen, re152

So Brigitte van Kann, Eine moderne Hiobsgeschichte. Deutschlandfunk 13. 05. 2016.

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Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich

präsentieren oder garantieren. Roth verstand nach eigenem Bekenntnis (das allerdings so wenig ein Ausdruck stabiler, in intellektueller Distanz überprüfter Überzeugungen war wie alle anderen seiner Bekenntnisse), die Wahl Hindenburgs, eines streng monarchistischen, patriotischen, ehemaligen Heerführers von altem Schrot und Korn, zum Reichspräsidenten als akuten Grund, die Weimarer Republik preiszugeben, obwohl die Deutschen ihn gewählt hatten, weil er gerade das war, wonach auch Roth es so verlangte: Eine ›überparteiliche‹, nationale Versöhnerfigur, die die noch immer von vielen als fremd (oder ›von außen‹ importierte Überfremdung) empfundene Demokratie mit der guten alten, monarchistischen Zeit versöhnen und damit gegen alle Bürgerkriegsgefahren und Zersplitterungen ein neues Gemeinschaftsgefühl des Volks und der Eliten herbeiführen sollte. Nicht lange, und Joseph Roth tagträumte vor den Augen seiner Leser von einem anderen großen, demokratieverachtenden monarchistischen (und militärischen) Führer, der der verhassten Moderne, der furchterregend instabilen, pluralistischen, führer- und erlösungslosen Republik hätte noch Einhalt gebieten können (allerdings die angenehmen Seite der Moderne, den Komfort, die Mobilität, den Wohlstand für eine auserwählte Schar bewahrte). Das macht den Eindruck, als habe Roth auch die geschichtsmächtigen Führerfiguren, an denen er innerlich so sehr hing, in Gut-Böse-Polaritäten geordnet. Auch die große Geschichte, scheint es, eignete er sich in Kippfiguren an – das Böse, wenn man es nur etwas anders beleuchtete, wurde zu einer Figuration des Heils. Ein weiteres Beispiel für das Zugleich sich eigentlich ausschließender Ideale von Ordnung: Roth machte in der Dämmerung der ›goldenen‹ 1920er Jahre einer ganzen Zivilisation – der weitgehend säkularisierten, national, marktwirtschaftlich, egalitär und verfassungsmäßig organisierten und um individuelles Genuss- und Gewinnstreben gebauten – im Namen eines ostjüdischen oder kakanischen Elysiums die Rechnung, weil man dort noch vor dem Sündenfall des modernen Nationalstaates lebte. Zu gleicher Zeit jedoch

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pries er die »Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, das Zentrum einer einst messianisch begrüßten, jetzt Alltag gewordenen Industrialisierung, Säkularisierung, Modernisierung, liberalisierenden Pluralisierung: Er feierte Paris, Inbegriff der modernen Nation (und darüber hinaus der Säkularisierung), als Arkadien der Gegenwart153. Auch Roths Hadern mit seinen katholischen Sehnsüchten kann man nicht, möchte ich behaupten, verstehen, wenn man sie als Glaubenserfahrung und nicht einmal, wenn man sie als nostalgisches Begehren nach Rückkehr in die »humane« Supranationalität des Habsburgerreiches versteht. Schon äußere Daten sprechen dagegen: Soweit ich sehen kann, fiel Roths erstes ›unzweideutiges‹ Bekenntnis zum Katholizismus genau in die Zeit, da er (öffentlich) beginnt, vehement für das Ostjudentum Partei zu ergreifen. Gleich der erste (öffentliche) Versuch Roths, sich weltanschaulich festzulegen, führte nicht zu einer, wie auch immer bedingten oder vorläufigen oder eklektizistischen Position in Glaubensfragen. Er führte offenbar zu einer Aufspaltung in sich ausschließende Pole, die zu keiner Mitte finden wollten, kein Drittes duldeten und sich doch in ihrer Komplementarität wechselseitig zu brauchen schienen. Roths Dilemmata der Identität, Ordnung und Bindung können auch nicht als direkte Folge der Last gedeutet werden, die auf jüdischen Assimilanten aus dem Osten lagen: Mit dieser Last lebten auch andere, junge jüdische Intellektuelle seiner Generation wie Wittlin, Manés Sperber, Bialik, Soma Morgenstern, und diese fanden zu 153

Roth selbst benutzt wenigstens einmal den recht geläufigen Ehrentitel von Paris als »Hauptstadt der Welt« (Briefe, S. 45). In der Spätzeit ist Roths Idealreich mehr oder minder gebunden an seine Version der seinerzeit höchst beliebten schwärmerischen Idee eines erneuerten universalkatholischen »Reiches«. Dieses Ideal ist »das genaue Gegenstück zu dem […] nationalen Staatsgedanken, wie er sich am reinsten in Frankreich verwirklicht hat« (Sontheimer 1968, S. 225). In den späteren 1920er und dann den 1930er Jahren wurden generell »Reiche« in vielen politischen und weltanschaulichen Lagern – oft aggressiv und weltanschaulich stark aufgeladen – der im Westen dominierenden Lebensform der Nation entgegengestellt.

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jeweils eigenen Versöhnungen. Roth dagegen irrte unversöhnt umher zwischen widerläufigen Lebenswelten, Bekenntnissen, Ordnungsidealen. In allen Bereichen – ausgenommen das Schreiben selbst (und allenfalls noch die »Idee« des Kaisertums) – schlug Bindung in Fremdheit um, ohne dass es Möglichkeiten gegeben hätte, durch Erfahrung und Einsicht zu lebbaren, individuellen Mischformen zu gelangen. Die Angst vor »Fixierung«, wie Roth es nannte, stand vermittlungslos der Angst vor und dem Verlangen nach Ausgrenzung gegenüber, kippte wieder um in die Sehnsucht nach starker, eindeutiger Bindung und Lenkung, und alles beginnt im Zirkelgang von vorne. Ganz im Gegensatz zu den erzählten Welten der genannten Generationsgenossen ertönt in seinem Werk die Klage um den Tod der Individualität (oder wahlweise der »Humanität«) in einer kalt organisierenden, egalitären (»westlichen«) Moderne, doch überall lugen zugleich – und vor allem: unvermittelt dazu – Träume von einer ubiquitären, streng hierarchischen, Individualität und IchAutonomie ›aufhebenden‹ Ordnung hindurch. Dieser Widerstreit ist ein großer Orgelpunkt im Werk des Autors, der die Welt zumindest zeitweise pauschal geschlagen sah durch eine Moderne, die mit Luther anhob, diesem »Vorläufer Hitlers«, dessen »Thesen zu Wittenberg […] eine einhellige Ordnung zerstört, Zwiespalt gesät [hatten], ohne dafür etwas Großes zu geben«154 – dessen mindestens ebenso fundamentaler Grundzug jedoch blieb: »Mich zu fixieren ist unmöglich«155. Luther hatte den Glauben ganz in die Erfahrung des Einzelnen verlegt, das heißt: in die Verantwortung für sich. Jeder hatte seinen Weg zu suchen – eine enorme Bürde für den einzelnen Menschen, vor der ihn die katholische Lehrdogmatik bewahrt hatte. Naiv nostalgisch war Roths libidinöse Anhänglichkeit an die späte Habsburger Monarchie deshalb nicht. Der »Radetzkymarsch« betrauert keineswegs das habsburgische Kaiserreich in seiner faktischen, historischen Ausprägung oder träumt gar von der Restitution 154 155

Von Cziffra, S. 75. Briefe, S. 145. Vgl. II. 453.

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der historisch konkreten Staatsform. Der Roman zeigt wohl, dass das Reich zugrunde ging »aus innerer Schwäche, Verblendung seiner Träger, Selbstüberschätzung des Militärs, falscher Kriegseuphorie. Nur die Idee des Kaisertums […] bleibt als Ideal lebendig«156. Der Roman jedoch ist gerade deshalb sentimental auf neue Weise: Er gewinnt seine Poetizität aus dieser Affinität zur Ohnmacht, zur Vergeblichkeit des Menschen, in rationaler oder strategischer Selbstorganisation des politischen Gebildes wie der einzelnen Personen zum Herrn seiner selbst und der Geschichte zu werden. Diese Lust an der Vergeblichkeit der strategischen, vertraglichen, institutionellen, argumentativen Einrichtung der Welt lässt die Idee des Kaisertums allererst zur kryptoreligiösen Figur werden: Der Niedergang der Habsburgischen Welt erscheint wie eine Art gerechter Strafe dafür, dass man sich verführen ließ, an die säkulare, strategische, diesseitige, mündige Einrichtung der Welt zu glauben – Krieg, Technik, Wissenschaft, parlamentarische Demokratie mit ihrem Zentralgedanken der Selbstermächtigung des freien Individuums als Basis zur Einrichtung des Gemeinwesens und des Glücks sind die wichtigsten Instrumenten dieser welthistorischer Rache. Solche Denkfiguren waren in der konservativen, insbesondere religiös inspirierten Kritik an der pluralisierten, demokratisch verfassten Welt mit ihrem aufklärerischen Zentralgedanken des sich unabhängig von transzendenten Mächten ermächtigenden, vernunftgeleiteten Individuums ausgesprochen verbreitet. Auch darin übernahm Roth nur, was er in den Strudeln der Zeitgeistströme praktischerweise vorfand. Entscheidend ist: Roth benutzte diese beliebten Instrumente religiöser Kulturkritik nicht als Folge einer religiösen Erfahrung oder Glaubensüberzeugung, sondern als kompensatorische Reaktion auf zunehmende, ganz diesseitige Gefühle der Desorientierung, der Erosion, Instabilität, Gefahr des Gewaltausbruchs, und vor allem des Fehlens menschenfreundliche, total befriedende, zentrierende Überschaubarkeit, sinnhafte und gemein156

Stüben 2002, S. 154f.

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schaftliche Geborgenheit (oder Zugehörigkeit) herstellender, überparteilicher Autoritätsfiguren. Wenn man unter personaler »Identität« die definierenden Wesensmerkmale, aber auch etwas wie soziale Rollen, Selbstbilder, die Gesamtheit der werthaften, weltanschaulichen Überzeugungen oder Präferenzen eines Individuums versteht, wäre Roths »Identität« für ihn selbst zweifellos ein Gegenstand höchster Ambivalenz gewesen. Wenn man derlei bei ihm suchte, träfe man eher auf ein Repertoire von sehnsüchtig halluzinierten oder ironisch und ästhetisch-posenhaft zur Schau getragenen Identitäten und Werthaltungen, Angstund Wunschszenarien oder Ordnungsvorstellungen. Vielleicht auch auf ein vagierendes Ich, das immer nur auf der Suche nach Modellen und Bildern ist, in denen es sich (wieder-)finden könnte. Falls man seine personale Identität als Ensemble von sich oftmals ausschließenden Rollen, Bindungs- und Ordnungsidealen definieren könnte, hieße das nicht anzunehmen, Roth habe niemals selbst geglaubt oder gewünscht, eine oder eine dominante oder eine fixe Haltung, ein Wertesystem, eine (soziale oder werthafte) Identität zu haben. Im Gegenteil gehört zur Symptomatik, dass er in Reaktion auf das Ambivalenzdilemma ständig übermäßig mit sich »identische«, weil übermäßig gebundene und geordnete Personen imaginierte, und dass er oft selbst nicht entscheiden konnte, was Spiel, Fiktion, Schauspielerei, Kompensation, was Projektion und was ›er selbst‹ sei. Diese Dynamik muss eine Quelle seines feuilletonistischen Stils gewesen sein. In ihm münzte er sie in Serien brillanter, um keine stabile Ordnung, Folgerichtigkeit und Konsistenz sich bekümmernder Momentwirkungen um. So konnte das Verstricktsein in Kontradiktionen, halbkomisch zur Schau gestellten Rollen, Kippfiguren als spielerische Lust am Widerspruch und an der eigenen Überlegenheit des inspirierten, isolierten Moments ausgegeben werden. Den Ambiguitäten und Ambivalenzen ausgesetzt zu sein wurde in den Schein glänzender, sich jederzeit selbst ironisieren könnender Souveränität im Umgang mit Material und Werten, Selbst- und Wertmodellen ver-

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wandelt. Diese Fähigkeit des schöpferischen Verwandelns war Segen und Fluch zugleich: Sie verhalf Roth zur glänzenden Karriere als Feuilletonist – und ließ gerade deshalb die Ambivalenzkonflikte im eigenen Leben unbearbeitet. Am Ende konnte er nur noch im Nebelreich der Drogen atmen und im ungleich tröstlicheren Reich erzählter Fiktionen eines (einst oder wieder) möglichen, gebundenen und doch nicht »fixierten« Lebens. Roths Verhängnis blieb, dass er zu erfolgreich und zu lustvoll darin war, an die Stelle einer solchen Individualität (die definiert ist durch das versöhnende Verhältnis zur Ordnung oder dem, was man dafür hält) das (verbal sublimierte oder lebensweltliche) Demonstrieren von Haltung, Entschiedenheit, Orientierung, Ordnung zu setzen – wahlweise im Modus der verlorenen Versöhnung oder der enttäuschten Utopie, im Modus des Individualisten oder Gemeinschaftsdurstigen, des Ironikers oder des Elegikers, der stilistischen Brillanz oder des banalen Sentiments. Lust am Rollenspiel dürfte selten gefehlt haben: Ein solches erzeugt zumindest die Illusion, frei und souverän in Bezug auf eigene Entscheidungen und seine Individualität zu sein: Im Rollenspiel erprobt man eine Identität im Spiegel der anderen, ohne an diese Identität gebunden zu sein, in steter Vorläufigkeit und ohne dass das eigene Selbst identisch mit der Rolle ist, die man spielt – man bleibt immer auch bloßer Zuschauer der Rolle, die »man« spielt. Diese Aufspaltungen des Ich findet sich in vielen berichtenden und erzählenden Texten Roths. Wir begegneten in den »Erdbeeren« bereits einem Beispiel dafür. Damit ist man der Illusion nach mächtiger als der, der an eine einzelne, begrenzte, fixierte Identität gebunden ist – solange man die Klaviatur der kurzfristigen Wirkungen auf ein Publikum – und nicht zu vergessen: auch auf sich selbst – zu behandeln weiß. Und ist natürlich in Wahrheit umso ohnmächtiger. Roth war gewiss auch verzweifelt auf der Suche nach einem Ursprung der eigenen konfliktären Wünsche und Bindungsmöglichkeiten – und damit nach einem nicht nur schauspielernd oder im Modus der Klage um Unmöglichkeit oder Verlust erträglichen, sondern leb-

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baren, stabilen, im Handeln und Sich-Binden souveränen Selbst. In Tagträumen mit und ohne Papier suchte er nach Schuldigen oder Verantwortlichen für seine Identitäts- und Bindungsdilemmata, seine Instabilität und Fremdheitsgefühle, nach Retterfiguren und nach etwas, das im psychologischen Fiktionsspiel schöpferisch werden kann, im Leben aber auf Dauer zersetzend wirken muss: Zuständen, in denen Ausgegrenztsein und Ich-Souveränität, totale Ordnung und Unverbindlichkeit, Aufgehobensein und Anarchie, seelische Erfüllung und flexibles Spiel zusammenfallen. Diese Suche ist, wie wir in vorbereitenden Lektüren bereits erahnt haben sollten, eine Inspiration der kompositorischen Strategien Roths auf mikro- und makroskopischer Ebene. Wenn aus dem verbalen Handeln zum Zweck der bloßen Verständigung oder der vorsätzlichen Simulation oder rollenhaften Selbstpräsentation ein dezidiert literarisches Operieren wird, erzeugt es, obgleich durch intrapersonale Konfliktenergien gespeist, eine emergente Ordnung von Denken, Erfahren, Wirklichkeit und Sprache. Zur Qualität der Texte gehören dabei nicht zuletzt die Modalitäten, in denen die psychischen Konflikte, denen der Trieb zur schreibenden Imagination entsprang, im Episoden- und Figurenwerk spürbar bleibt – mitunter in Gestalt semi-psychologischer Analysen, andernorts in märchenhafter Verklärung von Ordnungsparadoxen, dann wieder in kurz irritierenden Kippfiguren, des Öfteren durch ironisches Simulieren, ein bloßes Spiel mit Figuren zu betreiben. 4 Roth auf der Suche nach dem ›wahren‹ Roth in den 20ern Die Legende vom ›Rothen Joseph‹ und die Ununterscheidbarkeit von Rolle und wahrem Ich als Grund der literarischen Kreativität Es nimmt kaum Wunder, dass man, als die Kultur der Weimarer Republik in den 1970er Jahren neu entdeckt wurde, auch Joseph Roth neu entdeckte, zumal den »roten Joseph«. Die Bundesrepublik hatte

4 Roth auf der Suche nach dem ›wahren‹ Roth in den 20ern

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ihre »zivile Wende«157 längst absolviert, die westdeutschen Bürger blieben unbeirrt postheroisch, während nun seit den 1960er Jahren kleine, sich politisch links verstehende Teile der »kulturkritischen« Elite die melodramatischen Krisen- und Entfremdungsdiskurse der Vorkriegszeit unter neuen Vorzeichen noch einmal wiederbeleben wollten158. Es lag nahe, die Sehnsucht nach großen weltanschaulichen Schlachten unter Führung der kulturellen, insbesondere literarischen Intelligenz nun durch eine Rückwendung in die Kultur der Vorkriegszeit zu befriedigen. Wenn man über Roths Konstrukt des »Rothen Joseph« spricht, müsste man daher eigentlich immer auch über die zeit- und ideologiebedingten Konstruktionen der Rollenkonstruktionen Roths in der Nachwelt sprechen. Das wird im vorliegenden Essay nicht geschehen. Er bescheidet sich mit Hinweisen darauf, wie die unbewusste Reproduktion von Künstlermythisierungen des 19. Jahrhunderts zu Konflikten mit den überlieferten Dokumenten führen muss und Roths Abwendung von Deutschland und bald vom »Westen« in den mittleren 1920er Jahren ebenso wenig erklären kann wie die Simultaneität disparater Wertorientierungen, Handlungsmuster und Identitätskonzepte, die für ihn generell charakteristisch war. Am allerwenigsten erklärt werden können die Strukturanalogien von privaten Bindungskonflikten Roths und seinen Versuchen, an bestimmte Weltanschauungen, Glaubensbekenntnisse, Identitäten Anschluss zu finden. Es widerspricht der These von der treibenden Kraft der Ambivalenz mitnichten, dass Joseph Roth selbst sich zeitweise wohl nur zu gern als entschiedenen Kämpfer für die Entrechteten gesehen haben wollte. Dass »zahlreiche Texte und Briefe Roths der These Kiefers 157

158

Schwaabe 2005, S. 156. Historiker glauben sogar das Jahr bestimmen zu können, in denen die Abkehr von alten patriarchalen und autoritären Mustern zugunsten des individuellen Erfolgsstrebens und Konsums abgeschlossen war: 1957, vgl. Schildt 1999, S. 102f. Zur Übernahme der Kulturkrisen- und Entfremdungsdiskurse der Vorkriegszeit durch die Neue Linke der BRD vgl. Schildt 1999, S. 158f.

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[widersprechen], der Weggang nach Paris stehe in keinem Zusammenhang mit der wachsenden Gefährdung der Weimarer Republik, dem Tod Eberts und der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten«, wie Dieter Mayer einwendet159, ist allerdings in jeder Hinsicht falsch: sowohl der historischen Entwicklung der Republik nach als auch den biographischen Dokumenten und insbesondere in Bezug auf literarische Texte. Von »wachsender Gefährdung« kann bei der Weimarer Republik bis zur Wahl Hindenburgs nach einhelliger Meinung der Historiker nicht die Rede sein – vielmehr von einer Überwindung der vielen tatsächlich existenzgefährdenden Krisen durch die Politik Stresemanns, die trotz aller Gefährdungen und Anfeindungen bis mindestens 1929 weitgehend erfolgreich den Staat leitete und republikfeindliche Strömungen in Quarantäne stellte. In den Jahren der tatsächlichen, mehrfachen Existenzgefährdung der Republik bis etwa 1923 schwelgte Roth auffälligerweise noch nicht in Ausstiegsszenarien aus der Gegenwart. Und selbst wenn die Republik zur Mitte der 1920er Jahre gefährdet gewesen wäre, war ein Bürger, zumal als Angehöriger einer harsch angefeindeten Minderheit, sofern er denn den Zustand der Gesellschaft nicht durch Emotionalisierung von Einzelfällen, Mutmaßungen über angebliche Mentalitäten und durch theatralische, rein intuitive Bewertungen ihm unsympathischer Gesinnungen von Einzelpersonen beurteilt, sondern im engeren Sinne politisch durchdacht hätte, geradezu gezwungen, alles zu tun, damit der republikanische Verfassungsstaat erhalten blieb. Menschenrechte etwa waren allein in diesem Modell ein mit Staats- und Rechtsgewalt zu schützendes, hohes Gut – und damit auch die Religionsfreiheit, die Toleranz, das Recht auf Unversehrtheit, auf Gleichheit vor dem Gesetz etc. Mayer folgt dem verbreiteten Fehlschluss, enflammiertes Aufschwingen zum Anwalt von Ausgegrenzten in medialen Auftritten sei gleichbedeutend mit werthaften und handlungsbestimmenden Überzeugungen der Person und politischen Überzeugungen im Sin159

Mayer 2010, S. 291f.

4 Roth auf der Suche nach dem ›wahren‹ Roth in den 20ern

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ne einer begründeten Präferenz für bestimmte Institutionen, Legitimationsverfahren, Verfassungen. Er folgt sodann dem Fehlschluss, derlei Nähe- und Empathiebekundungen (mit oder ohne zugehörige Schuldzuweisungen) seien etwas per se Gutes und daher politisch »fortschrittliches«. Eine öffentlich demonstrierte Empathie oder eine öffentlich inszenierte Anklage kann alle möglichen Gründe haben – naheliegenderweise etwa die Gratifikation für ein moralisch gutes Ego, Schuldprojektionen, vorpolitisches Mitleiden, einen milieuspezifischen Habitus u.a. In solchen Nähe- und Empathiebekundungen übten sich denn auch bisweilen Nationalisten, Nationalliberale, Christen, Atheisten, Monarchisten und durchaus auch einige Rechtsnationale. Opfermythen konstruierten fast alle, um potentielle Wähler emotional zu gewinnen; so war beispielsweise für Nationalsozialisten der deutsche Arbeiter Opfer von »Plutokraten« oder des angelsächsischen Marktliberalismus oder des Manchesterkapitalismus, die Vertriebenen waren Opfer der Friedensverträge. Für religiös motivierte Monarchisten machten Ungerechtigkeit und Armut ein Zeichen der Abkehr von der wahren, »humanen« Wertordnung aus, dem Mangel an »geistiger« Führung, der Verfallenheit an bloß kommerzielle Werte u.a. Man wird eine ganze Reihe von Artikeln Roths finden, die das Kunststück vollbringen, Gesinnung und moralische Anklage mit literarischem Anspruch zu vereinbaren. Er tat das mitunter so kunstfertig, dass fast unerkennbar wurde, wie gekonnt er in vielen journalistischen Texten sein eigenes Gefühl von fehlender »Verwurzelung« und Zugehörigkeit in moralisch hochangesehene Werthaltungen ummünzte, indem er sich empört darüber zeigte, welch zynische Zweiklassengesellschaft die Deutschen unter Migranten erzeugt hatten: Die verachteten »Ausländer« aus dem Osten, arm, unwürdig, lästig wie Fliegen, und die »Fremden«, die man mit Verbeugung in die noblen Hotels lädt, sie umschmeichelt, emsig bedienert, mit Frauenmaterial versorgt und ihnen Grobheiten aller Art verzeiht. So hat es Roth im Albumblatt »Die fremden Bürger«, unterzeichnet mit

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»Der rote Joseph« aus dem »Vorwärts« vom 27. 5. 1923 (I. 1006f) getan. Es ist eine gewiss gekonnt zu nennende Sublimierung eigener Gefühle, doch hat das mit politischen Wertüberzeugungen und höherer, intuitiver Urteilsfähigkeit qua Literatenamtes nichts zu tun, und noch viel weniger mit Sozialismus. Es sind so verbreitete, allgemeinmenschliche Empfindungen, dass nicht ihre Existenz, sondern ihre Nicht-Existenz bei einer jeweiligen Person erwähnenswert wäre. Ein konservativer Christ kann sie ebenso wie ein Atheist, ein Monarchist wie ein Bolschewist, ein Moslem wie ein Hindu, ein Nationalist wie ein liberaler Weltmann hegen, und die meisten haben das getan. Wenn ein Autor mit Neigungen zum textbasierten Flaneurstum sie ironisch, punktualisiert zum Reigen wohldosierter, effektvoller Fragmente verflüchtigt, textuell der Welt vorführt, kann es durchaus wirken, als wollte hier ein Ästhet seine stilistische Distinktion auch noch durch Moralisierung von subjektiven Einzelbeobachtungen erhöhen. Es kann. Wir sahen bereits, dass »Die weißen Städte«, jene (stilisierte) Reportagefolge aus dem Jahr der Hindenburg-Wahl, alle Versuche, die intersubjektive Sozialwelt durch systematische, verbegrifflichende Interpretation als (nicht nur den Autor selbst) irreführende Ideologie der Moderne und hier insbesondere der (angeblich) systemgläubigen Deutschen beschrieb. Das war eine Art erkenntniskritische und quasi-geschichtsphilosophische Adelung des eigenen feuilletonistischen Flaneurstums. Wir haben gesehen, dass Roth im Augenblick, da er – wie im Falle des existentiellen Konflikts um Oberschlesien – genötigt wurde, sich ein systemisch, rechtlich, vertragstheoretisch informiertes Bild eines politisches Falles zu machen, halbherzige Versuche dazu sofort abbrach und sich auf seine angestammte Position zurückzog, auf seinen »Filterapparat Ego«, was nichts anderes heißt als auf die im Feuilleton kultivierte Art, eine erinnerte Sache geistvoll und wirkungssicher zum Spielball des ästhetischen Selbst zu machen. Gänzlich andersartige, nämlich argumentierende Feuilletons sind nicht erhalten.

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Und was die erzählenden Texte angeht, die Mayer doch wohl mit ins Bild zu nehmen verlangt, so sind sie, wie wir sehen werden, der stärkste Beleg dafür, dass die Gründe für Roths ›Ausstieg‹ aus der republikanischen Gegenwart sicherlich nicht durch begründete Einsichten in die Bedeutung und systemische Relevanz einzelner politischer Ereignisse motiviert war. In seinen literarischen Texten blieb Roth allemal paradoxer, schillernder, doppelbödiger, ressentimentgeladener, aber auch interessanter, weil ambivalenter, als Interpreten bewusst ist, die seinen »Sozialismus« oder seine prekäre »jüdische Identität«, weil sie ihnen sympathisch sind, als konsistente »politische« Haltung beschreiben – anstatt sie, den Dokumenten angemessen(er), als bloße Spielarten schreibend erzeugbarer Ich-Optionen zu fassen. Optionen, unter denen keine »real« war, alle jedoch gleichermaßen funktional bei der schreibenden also virtuellen, im Wortsinne stets vor-läufigen Ich-Bildung. Der Einsatz von List und Simulationen, das ironisch doppelbödige Spiel mit Gewissheiten, Posen der Übertreibung und Orientierungen machen Roths Literatur zumal in dieser Krisenzeit aus. Diese Texte desavouieren, wo sie ästhetisch von Bedeutung sind, die naive und gerade dem Stilisten Roth unangemessene Vorstellung, erzählende Literatur sei eine Art unterhaltsamer Vorwand, um Meinungen oder Phantasien über die Welt, den Menschen und die Geschichte dem Publikum mitzuteilen. Wie weit Roth von derlei entfernt war, haben bereits die fragmentarischen Betrachtungen der »Erdbeeren« und des »Perlefter« vor Augen geführt. 1929 machte Roth sich in Willy Haasʼ »Literarischer Welt« lustig über Kritiker, die so einfältig waren, die Worte seines Romantitels »Rechts und Links« nicht einfach und primär als doppeldeutiges Spiel mit Orientierungsworten im konkreten Raum zu verstehen, sondern »in einem politischen Sinn […] und sogar in einem streng parteipolitischen«, also das Konkrete mit »weltanschaulichen« Bekenntnissen zu überfrachten160. Roth hält sodann die übliche Rede von »Spannung«, von Ex160

Selbstverriss. In: »Die literarische Welt«, 22. 11. 1929, zit. nach III. 130–32.

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position und Schluss und vor allem von »Charakteren« in einem seiner Erzähltexte für eine banausische, für seine Texte nicht mehr gültige Idee: »Mein Roman Rechts und Links leugnet ganz unmittelbar die Existenz von Charakteren, das heißt von Gestalten mit einer konsequenten Psychologie. Er hat zwar einen Anfang, aber nur, weil er doch anders nicht hätte beginnen können. Er hat dafür keinen Schluß, er hat ganz demonstrativ keinen Schluß. Seine Spannung kommt höchstens aus der Sprache, nicht aus den Vorgängen.« (III. 130f) Insbesondere letztere Behauptung kann man durchaus bezweifeln; »Sprache« ist schließlich kein Gefäß; Roths Texte sind das beste Beispiel dafür, wie vielfältig verbale Artikulationsakte mit Erfahrungen, mentalen Repräsentationen, Gefühlen, leiblichen Impulsen, wortlosen Gedanken verwoben sind. Roth war kein Theoretiker, seinem Begriff von »Wirklichkeit« und dessen verbaler Repräsentation liegt wohl ein naiver Begriff von Abbildung zugrunde. Dennoch kann man seine Formulierung einen gewissen, intuitiven Sinn geben. Die hinter den Banausien stehenden, einfältigen Vorstellungen literarischer Texte karikiert Roth so: »Der Autor ›greift‹ nach dem populär gewordenen Wort ›ins Leben‹, holt sich einen ›Stoff‹ und gießt ihn dann gewissermaßen in das bereits fertige Gefäß der Sprache. Dies hätte ich tun müssen.« Schuld an dieser Einfalt ist nach Roth die Schulung des heutigen Publikums »an der realistischen Epik seit Mitte des 19. Jahrhunderts«. Daher messe man »das literarisch Gestaltete am Rohmaterial […], das dem Autor als Vorlage gedient hat. Beschreibt ein Autor also zum Beispiel die Zeit der Inflation, so will der Leser, der die Inflation so genau kennt, diese auch im Buch wiederfinden. In meinem

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Roman aber findet er eine oder gar keine. Das Rohmaterial sinkt also in meinen Büchern zur Bedeutungslosigkeit einer Illustration. Einzig bedeutend ist die Welt, die ich aus meinem sprachlichen Material gestalte (ebenso wie ein Maler mit Farben malt). Ein Vorgang also, auf den der Leser pfeift. Und man darf den Leser nicht pfeifen lassen.« (ebd.) Roth bezichtigt sich selbst in dieser scharfzüngigen Abrechnung ironisch der unverzeihlichen Naivität, darauf gezählt zu haben, der Leser sei »mit mir der gleichen Meinung: dass die literarische Realität eine andere ist als die alltägliche – und deren Zerrspiegel: die Zeitung«. Sein Traum, bemerkt Roth resigniert, müsse ein Wunschtraum bleiben: jenes Publikum, »das Gestalten und Handlungen als originale Erscheinungen aus dem satten Boden der Sprache wachsen sieht, nicht als mehr oder weniger gelungene Imitation der Realität. Denn das Material des Schriftstellers ist zwar ohne Zweifel ›das Leben‹, aber ein in die Sprache verpflanztes und hierauf ihr entsprießendes Leben.« Roth rechnet in seiner eingeübten Kapriziosität mit eben jenem plumpen Durchschnittsleser ab, der nicht fähig ist, literarische Texte als Verwirklichung von Ordnungsideen verbal dirigierter Operationen zu sehen – sie vielmehr behandelt als Gefäße von Meinungen und als Versuche, das Vorfindliche zu imitieren und in spannende Geschichten mit darauf gepackter Botschaft zu verwandeln, die im alltäglichen Meinungs- und Moraldiskurs verwertbar sind. Der Verdacht mag naheliegen, Roths bissige Abrechnung sei selbst attitüdenhaft überzogen, ein im Grunde konventioneller »Erzähler« inszeniere sich hier als hochmütig lebensfeindlicher Ästhetizist, weit erhaben über naive mimetische literarische Gebrauchsware. Nur: Wenn man sich der Betrachtungen zu den Vorgehensweisen in »Erdbeeren« und im

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»Perlefter« erinnert, wirkt Roths generelle Charakteristik metaphorisch, doch ausgesprochen angemessen: »Denn das Material des Schriftstellers ist zwar ohne Zweifel ›das Leben‹, aber ein in die Sprache verpflanztes und hierauf ihr entsprießendes Leben.« Und ebenso treffend, wenngleich vortheoretisch vage, kann man Roths Vergleich empfinden: »Einzig bedeutend ist die Welt, die ich aus meinem sprachlichen Material gestalte (ebenso wie ein Maler mit Farben malt)«. Eigenartigerweise fehlt auch in diesen Charakteristiken die Phänomenologie und konkrete Selbstbeobachtung des eigenen Sprachgebrauchs: Wir sahen in den ersten Teilen der Studie auch, dass gerade in Roths Schreibweise einzelne Worte und Sätze mitnichten von der inneren (mentale Repräsentationen, Gefühle, Assoziationen, Erfahrungsverknüpfungen etc.) oder äußeren Wirklichkeit abgetrennte, autarke Objekte sind. Jeder Satz, egal welcher Art, ergibt nur Sinn, wenn er mit einer unübersehbaren Menge von Erfahrungen und Annahmen über sich, die Sprache und die Welt auf verschiedenen Ordnungsebenen verbunden ist. In Roths textuellen Ordnungen von Information werden vor allem wohlbedacht viele Dinge ausgespart, dafür andere implizit nahegelegt, vor allem aber enorm flexibel auf kleinstem Raum Doppelbödigkeiten, Verweisgeflechte, Schein-Transparenzen, Gefühlsklischees, Lyrismen, Aphorismen, willkürliche Selektionen eingebaut – und immer wieder Oppositionsstrukturen auf jeder Ebene eingewoben. Das ist jedoch etwas ganz anderes als ein weltloses Spiel mit Vorstellungen und Materialien und Empfindungen zu spielen. Roths Vergleich mit der Malerei ist missverständlich, schließlich kann man mit Farben doch von ihnen getrennte Gegenstände kolorieren, aber auch abstrakte (a-semantische) Ordnungen herstellen ohne irgendeinen Bezug zur bewussten »Wirklichkeit« außer dem, gewissen, abstrakten Ordnungsprinzipien zu folgen und Reizwirkungen auszuüben. Wahrscheinlich meinte Roth mit seiner Analogie figürlich-abbildende Malerei – und in dieser kann Figürlichkeit oder Gegenständlichkeit mitunter tatsächlich (etwa bei Gauguin) allererst

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aus dem bloßen Kombinieren abstrakter Farbfelder hervorgehen, was in morphologisch, syntaktisch und idiomatisch regelgeleiteter Wortsprache nicht in derselben Weise möglich ist. Und so verstanden können wir, »Erdbeeren« und »Perlefter«, aber auch »Die weißen Städte« erinnernd, diese zunächst so ästhetisierend metaphorische Selbstbeschreibung missverständlich, doch intuitiv treffend finden – allerdings hinzufügen: Roths Weise, das mündlich sprunghafte Erzählen artifiziell zu imitieren, implizierte auch, eben dieses wie lebendig aus dem Moment heraus erfindende Entstehen der punktuellen gegenständlichen Anschauungen (oder Illusionen) aus den einzelnen Setzungen elementarer Materialien zum Teil der Leseerfahrung zu machen. Behauptungen der Art jener zitierten von Dieter Mayer, einzelne markante Ereignisse wie die Wahl Hindenburgs haben Joseph Roths innere und äußere Abwendung von der Gegenwart durch »politische« Einsicht bewirkt, müssen die gesamte künstlerische Konstitution und Selbstdeutung dieses Schriftstellers ignorieren und widersprechen überdies biographischen Fakten. Solche konventionellen Behauptungen reproduzieren zudem in ihrer allzu wohlmeinenden Sympathie eine für nicht wenige Kulturschaffende (und erhebliche Teile des »Volkes«) typische Fixierung auf Autoritäts- und Führerfiguren und deren Gesinnung: Politik wird zur gefühlshaften Abrechnung und moralischen Verurteilung, das eigentlich politische Denken bleibt außen vor, etwa die Rolle des Rechtes, der Institutionen und der parlamentarisch kanalisierten Interessenkonflikte nach innen und außen. Und diese eigentlichen Bedingungen etwa der Wahl Hindenburgs und ihrer Folgen zu kennen war essentiell, wie wir sehen werden, um daraus rationale Gründe für politisches Handeln zu gewinnen. Mayers Einwand verkennt zudem den Charakter der im vorliegenden Essay propagierten Rekonstruktionsidee der schöpferischen Gestalt Joseph Roths als ganzer: Es geht gar nicht darum, ob es beispielsweise Zeugnisse darüber gibt, in denen Roth gegen manche

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Teile der Eliten polemisierte oder das Los von Migranten beklagte oder sich mitunter als »Sozialist« ausgab, was immer das für ihn sein sollte. Daran ist nichts bemerkenswert, es sind erst einmal Affekte oder öffentliche Posen, die den Wunsch eines Subjektes anzeigen, eine bestimmte Position im Feld des öffentlichen Moraldiskurses zu beziehen. Es geht auch nicht darum, ob Roth selbst zeitweise in einem schwer zu nuancierenden und dokumentengerecht zu machenden Sinne vermutlich ›wirklich glaubte‹, in der ein oder anderen demonstrierten Werthaltung oder Identität seine essentiellen, identitätsstiftenden Überzeugungen ausgesprochen zu haben. Das Ambivalenzmodell lässt vielmehr erwarten, dass Roth zeitweise und kontextabhängig geradezu pathetisch und dramatisch Partei ergreifen konnte, flammende Appelle abgab, felsenfeste Wertüberzeugungen und das Leiden an ihrer geringen Virulenz in der (deutschen) Gegenwart ausstellte. Dass weder für andere noch für ihn selbst letztlich entscheidbar war, woran Roth »selbst wirklich glaubte«, ist ein essentielles Movens einer solchen konfliktären Dynamik und erklärt den Wechsel theatralischer Rollen, so das Pendeln zwischen mystifiziertem, stolzem Ästheten-Isolationismus und sentimental verklärter Gemeinschaftsbindung. Charakteristisch ist ein vermittlungsloses Zugleich an Sehnsucht nach und Angst vor stabilen, in der Zeit mit sich identisch bleibenden, verbindlichen Ordnungen, Werten und damit Einbindungen seiner selbst. Entscheidend ist zumal bezüglich des Ursprungs schöpferischer, literarischer Phantasie etwas Weiteres: Ein solches Individuum ist nie bloßer, innerlich unbeteiligter Spieler frei wählbarer Rollen; und es ist nie ein Individuum, das wüsste, was ›jenseits‹ des Rollenspiels wohl sein könnte an ›eigentlicher‹ Identität oder auch nur an Wünschen und Erfahrungen – denn jede solche Gewissheit wäre wiederum ein schauspielerischer Akt. Als Roth zum 50. Geburtstag seines Verlegers Gustav Kiepenheuer einen persönlichen Lebenslauf anfertigte – ihm sind die Titelworte des vorliegenden Buches entlehnt – und abenteuerlich frei ein paar Brocken seiner eigenen Geschichte

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mit beliebigen, erfundenen Materialien kombiniert, dürfte es vermutlich keinen Punkt gegeben haben, an dem er selbst das Gefühl hatte, jetzt verlasse ich verbürgte Tatsachen meiner Geschichte und betrete das Feld purer Fiktion. Und nicht sehr viel anders dürfte es beim Schreiben der besprochenen Konfabulationen seiner Zeit in der Armee gewesen sein. Solche Texte, von denen er wusste, dass Menschen, die ihn leidlich kannten, sie ohnehin nicht wörtlich nehmen würden, dürften Roth nicht zuletzt deswegen interessierten haben, weil auch und gerade er selbst diese Grenze nicht wahrnehmen konnte und somit stets erprobte, welche Art Improvisation im Schreiben zu welcher »Identität« (oder Rolle) führen würde. Auch wenn aber noch die fantastischste der nicht wenigen Varianten, die er zu Lebzeiten von seiner Kindheit und Jugend produzierte, durch die heimliche Sehnsucht geleitet war, irgendwann doch auf eine erschriebene »Identität« zu stoßen, der er rückhaltlos den Namen »Joseph Roth« geben könnte, bleibt in diesen schreibenden Konfabulationen immer die Abgründigkeit spürbar: Eben weil es keine festmachbare, eigentliche Person, nicht einmal eine stabile Wunsch-Person und damit keinen ›wirklichen‹ Gegenstand gab, im Vergleich mit der/dem sich das Fabulierte triftiger oder unwirklicher anfühlen ließ. Dieses Selbstverhältnis begriff Roths Feuilleton-Poetik und die Metareflexionen in »Die weißen Städte« als prototypischen Fall von Objektverhältnis (respektive Erkenntnis) überhaupt. Aus diesem Selbstverhältnis dürfte er sein Modell des unaufhörlichen Fließens und unplanbaren Verwandelns aller Dinge im Schreiben (also nicht im Denken, Reden oder Fühlen) abgeleitet haben. Aus all diesen wie immer vorläufigen Überlegungen folgt ein bedeutender, eher theoretischer Aspekt des Umgangs mit dem Wortlaut Rothscher Texte und ›Bekenntnisse‹: Die virtuellen Ordnungsund Identitätsmodelle verbargen keineswegs einen (zu vermutenden) persönlichen Ich-Kern einfach hinter bloßen Wert- und Individuumsfiktionen. Vielmehr gehörten Gaukelei und Autosuggestion zu diesen gleichermaßen frei variierbaren wie zwanghaften Identitäts-

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Ordnungs-Aufführungen, und nicht nur die anderen, auch Roth selbst war in gewissem Sinne Teils des Publikums dieser Inszenierungen – seine Klage darüber, dass der intim ansprechbare Leser als Partner des Schreibens in der Gegenwart verlorengegangen sei, legt nahe, dass er einen solchen Dialogpartner im Schreiben stets mitdachte. Und das ist Texten wie »Erdbeeren« und »Perlefter« wie in etwas anderer Weise auch den journalistischen Arbeiten anzumerken. Dieser »text-interne Dialog mit dem Leser« wird dementsprechend seinerseits häufig thematisiert und kommentiert, wird so zum Dialog mit oder über den Dialog oder zum Spiel mit dem Spiel: mit der selbst produzierten Fiktion, der Leser sei ›wirklich‹ ein anderer als der Autor selbst. Seine Rollenspiele im Leben und in der »Politik« dürften mit denen des Schreibens gemein gehabt haben, immer zugleich zu verbergen und zu zeigen – und auch den Urheber das Zeigen oft nicht mehr vom Verbergen unterscheiden zu lassen. Roth sehnte und fürchtete sich gleichermaßen vor der in diesen ›Real-Aufführungen‹ implizierten, emphatischen Sinnerfüllung und Bindung, wie er mit ihnen einem (gedachten) Publikum gegenüber Wirkung erzielen wollte – und im Spiegel der vorauseilend imaginierten Publikumsreaktion, seine eigene Position zu finden hoffte. Was wiederum ein ambivalent besetzter Vorgang war. Lediglich als Vermutung, als ausgesprochen erklärungsträchtige, kann man von dieser Perspektive her auf eine verborgene Dimension der inneren Tragik schließen, die zum Ausstieg aus der gegenwärtigen Ordnung und allen sozialen Bindungen führen musste: Sein Selbst wäre, hätte es sich fix identifiziert, nicht, wie man erwarten würde, allererst ganz sichtbar, sondern (weitgehend) unsichtbar geworden. Es konnte sich nur wahrnehmen und ertragen, solange es vagierte. Nur als flüssiges, variables, paradox umschlagendes konnte sein »Ich« sich ›selbst‹ behaupten: Nur solange es letztlich unentscheidbar blieb, wo Schauspielerei und Wunschprojektion endeten und wo sein ›Selbst‹ begann; nur solange

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unentscheidbar blieb, ob ›hinter‹ den Rollen nicht doch ein eigentliches Selbst verborgen sei, das wie ein Regisseur die Rollen lenkt. Im Erzählen existierte bis zu einem gewissen Grad ein solches, übergeordnetes »Ich«, das die Maskerade beherrscht und steuert – das des Erzählers selbst. Insofern die (reiferen) Geschichten aus stilisiert-mündlicher Improvisation, mithin ohne souveräne, durchplanende, vorauswissendes (Ich-)Erzählinstanz operieren (und diesen nicht vorausplanenden, Sprünge und Inkonsistenzen tolerierenden Improvisationscharakter in der Endfassung stilisiert beibehielten), wird dieser gattungsbedingte Schein eines hinter den wechselnden Darstellungen operierenden, eigentlichen, souverän planenden Ichs bald wieder relativiert. Und insofern diese quasi-improvisatorische Neo-Oralität wiederum partiell ein artifzieller, absichtsvoller Schein ist, herrscht ein souveränes, narratives Selbst. Natürlich agierte Roth diese dilemmatische Konstitution auch im Alltagsleben nicht völlig unbewusst aus. Er machte sich vielmehr – erwartungsgemäß – zwischendurch über seine Fabulierlust und sein Spiel mit Identitäten, Publikum und den Konvergenzen von literarischer Fiktion und ›Leben‹ ironisch kokett lustig. Als er 1928 nach Wien reisen musste, um amtliche Nachweise seiner Einbürgerung im Jahre 1921 zu besorgen, waren dazu alle möglichen verschollenen Unterlagen (bzw. die amtliche Bestätigung des Verlustes) zusammenzutragen – Geburtsurkunde, Daten der Einschulung, des Militärdienstes etc. Entsprechend viele Ämter wurden aufgesucht. In jenem bereits zitierten Brief an Benno Reifenberg, der den Dienstherrn voll anmaßenden Autorenstolzes ob dessen, wie Roth empfand, willkürlich und unprofessionell, subjektivistisch assoziierenden Artikeln kritisierte, hatte er in der ihm eigenen, quecksilbrig heiteren Art auch davon berichtet, er arbeite »seit zwei Wochen daran, meine schriftstellerische und journalistische Existenz vor Behörden, die nicht wissen, wer ich bin, als die einzig maßgebende zu beweisen. Ich arbeite also

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mit dem Olymp, weil die Erde mich verraten würde. Mit dem Mangel an Dokumenten und mit Nachweisen, daß die Dokumente fehlen müssen. Ich lebe und erfinde zwanzig Romane – und das ist so anstrengend, daß ich meinen Roman nicht schreiben kann. […] In diesem Monat August muß ich endlich zu einem Dokument gelangen, das meiner ›jetzigen‹ Identität entspricht. Seit 25 Jahren lebe ich als eine phantastische Erfindung.«161 Roth spielt hier nicht nur gewitzt mit einer Art Konvergenz von Leben und romanesker Fiktion, genauer: Er bekennt kapriolesk, er sei, was seinen Zugriff auf seine »Identität« angehe, so sehr in Fiktionen gefangen, dass nicht einmal Meldebehörden das ändern können und etwa Fiktionen durch nackte Archivtatsachen ersetzen, wie umgekehrt, der Zwang, sich dokumentierend zu objektivieren, diese Fabulierlust allererst anregt. Die Nötigung zum objektivierten Archiveintrag löscht seinen Fiktionalisierungs- und Rollenspielzwang nicht aus, sondern verstärkt ihn. Folgt man der Standarderklärung des ›Ausstiegs‹ und Exilierens nach Paris und ins Schreiben, als deren Vertreter hier ziemlich willkürlich Dieter Mayer und Ingeborg Sültemeyer zitiert werden, nimmt man (etwas zugespitzt formuliert) an, es habe gleichsam jenseits des in feuilletonistischem und literarischem Schreiben inszenierten »Ichs« noch eine andere, eigentliche Person (oder Identität) desselben Namens gegeben, die sich mit der Welt grundsätzlich anders befasste, mit Informationen und Analysen politischer Ereignisse oder ethnischer Dilemmata und mit dem Wunsch nach Partizipation durch Eigenverantwortung. Roth hat das zumindest nach außen hin anders gesehen und anders praktiziert. Benno Reifenberg, seinem verantwortlichen Redakteur im Feuilleton der »Frankfurter Zeitung«, gegenüber beklagte er sich im selben Sommer des Jahres 161

An Benno Reifenberg, Hotel Imperial Wien, 30. Juli 1928/. In: Briefe, S. 135– 37, Zitat S. 136.

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1928, dass die Ressorts Politik und Feuilleton so strikt getrennt gehalten werden162. Roth meinte damit sicherlich nicht, er wolle seinen kapriziösen feuilletonistischen Stil mit seinen momentbedingten Urteilen, seiner Pointenzentriertheit, seinen Widersprüchen, seinen aphorismusartigen, sich in ihrer kontextbedingten Willkür oft selbst ironisierenden Generalisierungen, den Diskontinuitäten, Ironien und Maskeraden ablegen, um sich in der Sphäre der Politik eine nüchtern begründete Meinung auf der Basis von angeeignetem Sachwissen zu bilden und in anderer Schreibweise im Politikteil zur Diskussion zu stellen. Roth meinte selbstredend, dass seine feuilletonistischen, fabulierenden, kokettierenden Impressionen von Lebenswelten, Charakteren, Gesinnungen als politische Urteile in einer überregionalen, liberalen Tageszeitung akzeptiert werden sollten. Was diese Haltung in der Praxis eines Schreibens über politische Einzelereignisse bedeutet, werden wir im nachfolgenden Abschnitt am Beispiel des Berichtes zum aufsehenerregenden Prozess gegen die Mörder Walter Rathenaus zeigen. Es mag Zufall sein, und ist doch vielleicht bezeichnend, dass Roth ausgerechnet in einem kapriziös vieldeutigen Text zum Geburtstag des nach Holland vertriebenen deutschen Kaisers aus dem Jahre 1925, als die Republik gerade wieder Frieden im Inneren und – vielleicht noch überraschender – mit den Nachbarländern erreichte, eine grobe Polemik gegen Stresemann einflocht, den überragenden Staatsmann der Republik, Inkarnation einer auf Frieden, Freiheit, Verantwortung und Wohlstand in Europa gerichteten Vernunft- und Verständigungspolitik: »Und so schlimm es ist, daß in diesem Lande einer, der dem Studium des Flaschenbiers oblag, den deutschen Kronprinzen nur für eine ›Frage der Zeit‹ hält, so herrlich ist es doch, daß gerade die Leute, die mittelbar oder unmittelbar mit Flaschenbier zu tun haben, ihre Pietät unterdrücken müssen, um nicht noch mehr in Europa aufzufallen.« (»Kaisers Geburtstag«, II. 335–57, Zitat S. 335) Anspielungen auf das Thema der Dissertation Strese162

Der Brief zuerst veröffentlicht in Asmus 2012, S. 61f.

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manns im Fach Nationalökonomie zu machen gehörte zu den vulgärsten Formen, an rechten und linken Biertischen seinem Hass gegen den weitaus bedeutendsten Staatsmann Weimars Ausdruck zu verleihen: Der dreiundzwanzigjährige Stresemann war seinerzeit (1901) bereits als Mehrfachbegabung aufgefallen, als Rhetoriker und Journalist ebenso wie als Nationalökonom, und »hätte gern mit einer umfassenden theoretischen Arbeit promoviert«. Eine groteske Regelung der Leipziger Universität verteilte jedoch nach Gutdünken Themen an Promotionskandidaten163. Stresemann wurde der Flaschenbierhandel zugeteilt (vielleicht, weil sein Vater in dieser Branche tätig war). Roth befindet sich mit solch plumpem Ressentiment gegen einen Kopf, der dem seinen in fast jeder Hinsicht überlegen war, in düsterer Gesellschaft: »Goebbels, der auf seinen germanistischen Doktortitel ungemein stolz war, titulierte Stresemann höhnisch als ›Flaschenbierdoktor‹«164. Was das Dominiertwerden von Verachtungsgefühlen bei der Bildung »politischer« Urteile anging, war Roth generell in teils unangenehmer Gesellschaft. Wenn etwas maßgeblich zum Untergang der Weimarer Republik beigetragen hat, dann die Unfähigkeit vieler Bürger, nicht Hass und Verheißung, sondern politische Argumente sprechen zu lassen, Politik von Institutionen und Systemen und nicht von emotionalisierten persönlichen Aburteilungen her zu verstehen, stattdessen diskursiv und im freien Wettbewerb von Lösungsvorschlägen das eigene Gemeinwesen zu gestalten. Dieses fatale Defizit zu korrigieren, hätte, sollte man denken, die Aufgabe der kulturellen Eliten sein sollen. I Roths wachsende Unruhe in den 20ern »Der Neue Tag« verschwand, noch ehe er ganz da war. Dreizehn Monate seines unlukrativen Daseins hielt er durch, dann, ohne Siech163 164

Kolb 2003, S. 20f. Zum Beruf des Vaters vgl. ebd., S. 9. Kolb 2003, S. 21.

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tum, gab er einfach auf im zweiten Nachkriegsjahr, am 20. April 1920, »zu Tode saniert«165. Den Wienern stand, so kurz nach dem ersten Massenvernichtungskrieg der Geschichte, der Kopf nicht nach Federkünsten. Ein Benno Karpeles, ein Fred Heller und sogar Alfred Polgar selbst, die Galionsfigur der Redaktion, hatten ihre liebe Mühe, (zahlende) Leser zu finden. Joseph Roth, den Benjamin im Team, traf der Garaus weit schlimmer als jene arrivierten Herren. Er verlor das Forum seiner schriftstellerischen Erstlingstaten, seiner Anfänge, die gar nicht wie Anfänge aussahen166, so schnell verstand er sich auf jene melancholische, kapriziöse, espritgeladene Mokerie, wie man sie vom Feuilletonisten erwartete. Wenn uns der Name dieses vielversprechenden Mannes wenige Monate darauf im renommierten »Berliner Börsen-Courier« begegnet, seit 1922 im »Vorwärts«, seit Januar 1923 gar im stimmführenden Organ der Branche, der »Frankfurter Zeitung«, so ist das der Lohn für einen selbstbewussten Entschluss: nach Deutschland zu gehen und – ein Wort, das ihm nicht unwichtig war – »Karriere« zu machen167. Als frühreifer 165 166

167

Weinzierl 1985, S. 99. Einige Gedichte waren zuvor erschienen, die man nicht zu seinem eigentlichen Werk zählen darf (obwohl Roth, einmal in adoleszenter Gewissheit künftigen Ruhmes seine Kusine bat, Abdrucke dieser Verse für eine zu veranstaltende Ausgabe seiner Werke zu sammeln). Eine erste Erzählung aus dem Jahr 1916 blieb zu Lebzeiten ungedruckt, eine zweite erschien 1918, ließ jedoch kaum den bedeutenden Autor erahnen. Vgl. »FÜNFTER TEIL«. »Karriere« ist eine der ersten Erzählungen Roths überschrieben. Unten (Kap. »SICHERE DISTANZ«) wird ihre – ambivalente – Konstruktion analysiert. Entstanden ist sie nicht zufällig in genau diesem Jahr 1920. Noch im reifen Alter, 1927, sprach Roth von den ›Grenzen‹, die den ›Karrieren‹ der talentierten Ostjuden in der Heimat gezogen seien (s.u.). Eine für Roths Ambivalenz charakteristische, verdeckte Motive durch explizite Negation nur um so deutlicher machende Äußerung zum Thema Sozialehrgeiz überliefert Bronsen 1974 (S. 229): Einst versicherte Roth »orakelnd«, er und ein Schriftstellerkollege (namens Fontana) »würden beide den ersehnten Aufstieg erleben und erreichen, was sie sich durch ihre Kunst erhofften, ohne sich jedoch durch die Anerkennung beeinflussen zu lassen.«

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Jongleur vieler Stimmen trat er jetzt auf, seiner Wirkung in diversen Tönen gewiss. Er meisterte die wienerische Stilhöhe des kapriziöseleganten Feuilletons spielend, hielt den eigenen Tonus kreuz und quer durch ein imponierendes Spektrum der Modulationen: Lyrisches steht neben Groteskem, Satire neben dem possierlichen Albumblatt, eine Farce neben der dahergeplauderten Niedlichkeit, und sogar das Moralistenfach wusste er schon zu bedienen. Er füllte viele Rollen aus und spielte doch nur eine. Roth, der ironische Spieler, war jetzt ein Mann des unerschrockenen Wortes, wo es um den Zustand der Republik ging – von Zeit zu Zeit jedenfalls. Ein Mann aufgeklärter, vorwärtsgewandter Gesinnung, voller Sympathien für neusachliche Programme168, ein Bespötter der Stehengebliebenen, der Monarchisten zumal169. Und als alles so recht in Schwung gekommen, eine zierliche Schönheit eben geehelicht war, ging der Endzwanziger im Zenit der Publikumsgunst und der Honorare zu alledem eine zweite Laufbahn an – und auch die drei Talentproben als Romancier170 in den Jahren von 1922 bis 1924 fanden Zuspruch, wenngleich keinen ungeteilten. Ist es eine harmlose schlechte Laune, ist es böses Spiel, ist es bitteres Ressentiment, wenn dieser Frankophile den Deutschen ausgerechnet im Jahre 1925 an den Kopf wirft, die Luft westlich des Rheins, im modernen Nationalstaat par excellence, in der Kapitale 168

169 170

Nach Heizmann 1990, S. 52 sind sogar Roths Postulate ›Sachverständigkeit‹ und ›Beobachten statt Erfinden‹ aus dem Jahre 1927 noch Nachwirkungen dieser Nähe zur Neusachlichkeit. Diese Behauptung steht quer zur oben im Einleitungskapitel betrachteten Verabschiedung des Beobachtens als Weltaneignungsmodus in »Die weißen Städte« aus dem Jahr 1925. Der junge Roth in Wien verspottete Monarchisten, s. Bronsen S. 198–200. Ingeborg Sültemeyer 1976 nannte diese drei (»Das Spinnennetz«, »Hotel Savoy«, »Die Rebellion«) »journalistisch« wegenn ihrer thematischen Verwandtschaft zu Roths journalistischem Schaffen jener Jahre. Unten (»FÜNFTER TEIL«) werde ich zu zeigen versuchen, dass sie, was der Journalist Roth nur in kleinteiligen stilistischen Kapriolen inszeniert, in größere architektonische und erzählerische Welt-Konstruktionen übertragen.

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des säkularisierten, pluralistischen »Westens«, die sei ein Vorgeschmack des irdischen Paradieses, doch östlich davon, will sagen: in der Mitte [sic] Europas, bei den von Stresemann in die VölkerbundPartnerschaft zumal mit Frankreich geführten Deutschen, da ersticke ein Moloch verfehlter Zivilisation alles gute Leben? Roth jedenfalls ging für seine Zeitung nach Südfrankreich und fand dort ein modernes Vielvölkerarkadien, eine farbenfroh verwandelt fortlebende Pax Romana – obwohl Berlin schon und gerade damals ethnisch und in den Lebensstilen ebenso vielfältig dastand. Roth hätte wissen müssen, dass er der touristischen Illusion verfallen war, heiter bunte Lebenswelten dort zu finden, wo man selbst nur als Gast in kommoden Hotels durchzieht. Er zog weiter nach Paris und fand eine neue Heimat auch der Juden. Wenn er nun endlich heimgefunden hat, dieser Joseph Roth, angekommen im Herzen der prototypisch modernen, aus der Aufklärung hervorgegangenen Nation par excellence, warum dann die alsbald hoch und höherschlagenden Wogen seiner Verdammungsreden auf alles Nationale, Moderne, Säkulare, ihren Mangel an Sinnzentrum, Behütung, ihre Vergottung von »Hygiene« und Kommerz, von systematischer Vernunft und Wissenschaft? Roth muss, wenn man ihn wörtlich nehmen wollte, nicht aus dem Paradies heraus, sondern dort hinein vertrieben worden sein. Ausgeschlossensein, ›Exil‹ und Heimat fielen für ihn zusammen wie Diaspora und gottgerechtes Leben ›seiner‹ Ostjuden, denen er sich nun, in der geographisch größten Entfernung, so nahe fühlt wie nie zuvor. Anders gesagt: Roths Entschluss, in diesem Krisenjahr nicht nach Deutschland zurückzukehren, illustriert perfekt jenen oben angesprochenen »Kunstgriff der secessio in montem sacrum, des protestierenden Abtretens vom Schauplatz, auf den man triumphierend zurückzukehren gedenkt. Bei dieser Opposition können die Begleitumstände nicht effektvoll genug inszeniert werden. Aber sie hat mit der Verbannung des Dichters nur die Äußerlichkeiten gemeinsam. […] Von einem gewissen Augenblick an denkt er nicht mehr an Rückkehr,

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sondern beginnt seiner Isolierung merkwürdig Vorschub zu leisten [sic!], weil er spürt, daß er sie braucht.«171 Vielleicht lebte Roth, der hilflos dem eigenen Selbstinszenierungs- und Mystifikationsdrang ausgesetzt war und sich zugleich über ihn lustigmachen konnte, diese lebensentscheidende Selbstinszenierung von 1925 gar nicht so unbewusst aus, wie es manche Zeugnisse suggerieren. Jedenfalls: Jetzt, in der neuen Heimat, die keine wirkliche Heimat sein durfte, vielmehr immer zugleich Verbannung und kindlich trotzige Flucht vor halluzinierten Instanzen des zivilisatorisch Bösen, war das, was man unbedacht sozialistisches »Engagement« genannt hat172, dahin, als hätte es nie existiert. Ein heilloser Glaubensverlust betreffs zentraler Errungenschaften der modernen Industriegesellschaft und des liberalen, individualistischen Pluralismus brach sich Bahn. »Deutschland« (und zwischendurch »Amerika«) wurde nun zur Chiffre des zivilisatorischen Sündenfalls schlechthin: Verkörperung der verfassungsmäßigen Nation, der technischen Zivilisation, der stehenden Heere, der Verrechtlichung. Warum gerade jetzt? Die junge Republik durchlebte eben ihre stabilsten Jahre, die Judenhetzer waren, wo nicht mundtot gemacht – dazu standen sie zu tief in unrühmlichen, europaweiten Traditionen, die in jenen Jahren etwa in Frankreich sehr unfröhliche Urstände feierten! –, so doch des parlamentarischen Einflusses bar173. Der Zeitungsmann Roth ließ sich 171 172

173

Muschg 1957, S. 422f. So auch z.B. Nürnberger 1990, S. 55. Am deutlichsten dürfte Ingeborg Sültemeyer 1976 von einem (sozialistisch) ›engagierten‹ Roth der ersten Hälfte der 20er Jahre gesprochen haben. Mit dem Jahre 1925, der Frankreichreise zumal, sei Roth von »Resignation« in Bezug zur politischen Gegenwart befallen, und damit gehe, ebenso plötzlich, eine Abkehr vom politischen »Engagement« einher (Sültemeyer 1976, S. 88). Diese Einschätzung ist deutlich ideologisch motiviert – zur Entstehungszeit des Buches stand die ›Neue Linke‹ noch hoch im Intellektuellenkurs. Diese Einschätzung der politischen Rolle muss angesichts der sehr viel neues Material (u.a. aus den in Moskau eingelagerten Akten des Zentralarchivs deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens) bietenden Untersuchung von Walter

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nieder in der geliebten polyglotten Pariser Luft, ohne um seine deutsche Leserschaft fürchten zu müssen. Wieso also gerade jetzt, auf dieser rundherum angenehmen Höhenlage, so wegwerfende Gesten in Richtung deutscher Republik und, bald darauf, aufbrausend und erbittert, in Richtung Gegenwart, ja Moderne überhaupt? Der Übertritt der magischen Rheinlinie im Frühjahr 1925 war zunächst einfach eine Angelegenheit karrieristischen Kalküls. Es lockte der Ruf eines Auslandskorrespondenten der FZ. Zugleich war es ein Ausweichmanöver, eine Flucht aus verwirrendem Unbehagen: Kaum aus der Schusslinie nahm Roths Deutschlandverachtung eine neue Qualität an: Nicht der völkische Sud und nicht einmal so sehr der fatale germanisch-preußische Hang zum Paradieren174 (der von den Alliierten in den Friedensverträgen nur verboten, nicht ausgerottet werden konnte) war es nach eigenem und höchst öffentlichem Bekunden nun, der dem wohletablierten Parvenü den Schreck in alle Glieder fahren ließ. In Paris angekommen, fühlte er sich endlich nicht mehr von deutschen »Halbmenschen«, sondern von »Europäern« umgeben – während er gegen den größten Europäer seiner Zeit, Gustav Stresemann, vulgär polemisierte. Seinem Mentor Reifenberg schrieb er (als habe er wirklich etwas gefunden und nicht nur wiedergefunden175): »Hier lächelt mich jeder an, alle Frauen, auch die älteren, liebe ich bis

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1999 nicht modifiziert werden – allenfalls wären Versäumnisse und Fehler der Justiz im Umgang mit Antisemitismus zu beklagen. Der Hass auf die deutsche Militärmanie war keine Eigenart Roths, sondern gehörte beinahe zum guten Ton im Österreich jener Tage – nach Königgrätz stand man schließlich mehr oder minder unter der Knute des hoffnungslos überlegenen Nachbarn und ging letztlich eines Kaiserreiches und damit des Traumes, noch ein europäisches Reich zu sein, verlustig. Vgl. dazu auch »Exkurs 2: Zweimal Krenek«. II. 454 heißt es, er habe sein Ideal »so wiedergefunden, wie ich [es] in den Träumen gesehen hatte. Wenn man nur die Träume seiner Kindheit findet, ist man wieder ein Kind«. Um einer Pointe willen nimmt Roth auch hier den Selbstwiderspruch in Kauf. Es heißt einige Zeilen später, er sei »mit der Skepsis in dieses Land [gefahren], welche die Folge eines Lebens ohne Kindheit ist«.

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zum Antrag […] mit allem bin ich heimisch, obwohl wir uns fortwährend mißverstehn, wenn es um Reales und wir uns so herrlich verstehn, wenn es um Nuancen geht«176. Auch das ist natürlich geprägt vom momentüberlassenen Drang des Feuilletonisten, Erfahrung und Weltordnung in Girlanden punktueller, pointierter Reize und Kontradiktionen aufzulösen – doch unübersehbar entspringt eine solche Formulierung der ambivalenten »Fixierungs«-Angst, und sogar in dieser aus einem schnellen Ärmel geschüttelten Wendung ist das, was eigentliche Verbindung zur Welt – Verstehen – erzeugt, die Auflösung der Dinge in die »Nuance«: Das war eine Kategorie der DecadenceÄsthetik. (Einer paradigmatischen Realisation sind wir oben anlässlich des Feuilletons »Der Spaziergang« begegnet.) Zum Glück der neuen Exil-Heimat gehört eigenartigerweise, dass die Sprache seines Berufs, das Deutsche, nicht mehr die Sprache seiner unmittelbaren Lebenswelt ist. Eigentlich müsste das Gefühle der Fremdheit von Ich und Umwelt verstärkt haben, denn abgesehen von der deutschen Community dort kann niemand das, wodurch er sich definierte, seine virtuose Stilkunst, zugänglich gewesen sein. Roths Satz war kein Momenteinfall, sondern die Erscheinungsform einer Grundfigur, die aus der Ambivalenz hervorging und im feuilletonistischen und erzählerischen Werk vielfach variiert eingewoben ist. Vom noch in Frankreich entworfenen Helden Franz Tunda, dem ›Europäer‹ und ›Individualisten‹, heißt es, er »brauchte die Atmosphäre verworrener Lügen, falscher Ideale, scheinbarer Gesundheit […]« (IV. 432). Und diese Art ästhetisierte Paradoxa waren ein nicht unwichtiger Formant seiner Gegenbilder zur deutschen Sucht nach Eindeutigkeit, so jedenfalls lesen wir im großen Manifest des entscheidenden Umbruchsjahres 1925, den schon betrachteten »Die weißen Städte«: »Denn uns« – Roth blickt hier auf seine Zeit in Deutschland zurück und wechselt dabei wie in seinen Erzähltexten übergangslos die (imaginären) Sprechorte – »umgibt ein Zaun, uns Menschen, die wir zur deutschen Welt sprechen. In Deutschland ist 176

Briefe, S. 45.

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der ›Begriff‹ heilig und unwandelbar. Wir [sic!] glauben an die Nomenklatur. […] Jenseits, hinter dem Zaun [d.h. im Osten und Westen von Deutschland – S.K.], war die Nomenklatur niemals so heilig. Die Namen flossen immer weit um die Dinge, die Kleider waren lose. Man war nicht bestrebt, alles unverrückbar zu fixieren [sic]. Man wandelt sich jeden Augenblick, drüben, hinter dem Zaun […] Hinter dem Zaun gewann ich mich selbst wieder«177. Roth spielt hier wohl so sehr mit Figurationen des Ambivalenten, wie die Ambivalenz und der Eigenwille der Sprache mit ihm spielen: Wer hier »wir« und wer »sie« ist, wo eigentlich der Zaun und wo das Jenseits sein soll, wo man an »Nomenklatur« glaubt, und wo nicht, ist nicht »fixierbar«. Besser gesagt: Es scheint sich jeden Augenblick zu wandeln! Das ist wohl der vollendete verbale Ausdruck von Ambivalenz. Im Augenblick, da er begründen will, was so ins Exil treibend wirkt, wird alles zur Kippfigur und beantwortet die Frage in Gestalt einer Sprachgestalt. Die französische Freiheit wurde für Roth möglich durch eine Weltauffassung, die wenig mit der Prosa der Geographie, sehr viel jedoch mit seinem Ordnungs-Identitäts-Dilemma zu tun hat. Es ist eine Idealwelt aus dem Geist der Fixierungsangst, eine Gegenwelt zur teutonischen Begriffs-, Paragraphen- und Systempassion, also zum Dringen auf Verbindlichkeit und Eindeutigkeit von Ordnungen. In ihrem Zentrum steht jene Idee der unberechenbaren Wandelbarkeit der Dinge, die ursprünglich im Feuilleton kultiviert und in den erzählenden Texten zum Leitmotiv wurde der – märchenhaften, schicksalhaften oder in Überreaktion auf Kränkungen erfolgenden – plötzlichen Verkehrung einer Ordnung (von Werten, Bindungen, 177

II. 453. 1926 forderte Roth in einem Scherz das deutsche Volk zum Verlassen der Republik auf. Die Zusammenstellung der Feinde, die ein Leben dort verunmöglichen sollen, ist durchaus bezeichnend: Keine Rassisten, keine Nationalchauvinisten, sondern die Liberalen und die pragmatischen Gegenwartsbejaher (die Roth mit dem Namen Geßler assoziiert): »Aufgabe wäre, alle anständigen Menschen [in Deutschland] zur Auswanderung zu bewegen. Im Staate Geßlers, Stresemanns, Kerrs und Rowohlts ist nichts für uns zu holen« (Briefe, S. 79).

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Normen, Sinn): »Innerhalb einer Sekunde aber ist jedes Ding durch tausend Gesichter verwandelt, entstellt [!], unkenntlich geworden« (II. 452). In zum Teil wörtlicher Entsprechung finden wir derartige Konstruktion in Roths reifen Romanen wieder (s. FÜNFTER TEIL). »france = la lumière, la liberté personelle«178 meinte zuallererst Freiheit von eindeutiger, verpflichtender Bindung und vom Zwang zur stabilen, eigenverantwortlich gebundenen (Ich-)Identität – und Roth bezog das wohl in seinem Lob des Missverstehens in der französischen Umgebung auf die Alltagskonversation selbst. Auf seine, das Ambivalente, Missverständliche, die paradoxe Integration durch Abgetrenntsein favorisierende Weise hat er noch die im 19. Jahrhundert um die Welt gegangenen Visionen vom lasziven Mekka Paris geträumt179. Doch sein Paris war nur an der Oberfläche verwandt mit der »einfache[n], leichte[n] und natürliche[n] Menschlichkeit des Parisers« eines anderen großen Berlinmüden180 jener Tage. Eine westliche Industrie- und Kommerzmetropole war eigentlich für Roth der Inbegriff des Unheils, das aus dem Verlust der väterlich behüteten Sinn- und Sozialganzheit resultieren soll. Seinen Korrespondentenposten verlor er im Sommer 1926 an Friedrich Sieburg. Das dürfte für den von Jugendbeinen seiner Karriere hingegebenen und von seiner Singularität überzeugten Roth eine tiefe narzisstische Kränkung bedeutet und das Bedürfnis nach Schuldprojektionen auf äußere Instanzen verstärkt haben: Er war nun darauf bedacht, vom ›toten Raum‹ Deutschland nur das Allernötigste, die reichsbahnlichen Gleiskörper, die Gehaltsabrechnungen und ausgesuchten Hotelzimmer vor Augen zu bekommen, so, als er von der FZ-Redaktion von Paris gen Russland geschickt wurde. 178 179

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Aus einem 1934 gefertigten Lebenslauf Roths, zit. bei Bronsen 1974, S. 265. Hans Sahl, wie Roth als Berliner Zeitungsmann in Paris (allerdings erst 1930), notierte rückblickend: »Ich nahm Paris zur Kenntnis und stellte fest, daß Berlin ungleich lebendiger, dynamischer, moderner war als das Paris des Cafe ›Dome‹. Berlin war das 20. Jahrhundert, in Paris gab man sich dem Genuß am Ende des 19.Jahrhunderts hin« (Sahl 1990, S. 112). Tucholsky III. 399.

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Hier suchte er Bestätigung seiner langgehegten, in Frankreich kräftig wiederbelebten Phantasie vom Glück der Beheimatung in ausgegrenzten Regionen und schillernden Konturen, von der Existenz an zivilisatorischen, ethnischen, nationalen, kulturellen Rändern mit gewachsenen Sozial- und Sinnhierarchien. Von Ost und West rannte er nun gegen jene (vermeintliche181) deutsche Mitte Europas und also der modernen Zivilisation an, gegen jenes Bollwerk eindeutiger, lähmender Ordnung, gegen ein diabolisches Nomenklatur-Germanien, das er unentwegt verließ, um innerlich doch nie davon loszukommen – was auch, aber nicht nur mit der lukrativen Bindung an die Frankfurter Zeitung zusammenhing. Roth war berühmt genug, um auch anderweitig gutes Geld zu verdienen und tat das denn auch alsbald: Er heuerte wenige Monate später bei den reichen, nationalkonservativen »Münchener Neuesten Nachrichten«182 an. Mit äußeren Umständen allein sind Roths ruhelose Flucht- und Eroberungsbewegungen jener Jahre nicht zu erklären, zumal sie sich im Inneren längst zuvor angebahnt hatte. 181

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Roths Identifizierung von Deutschland und moderner, nationalistischer, verfassungsmäßiger Zivilisation ist eine in sich mehr als fragwürdige Konstruktion: Deutschland, das Land der gescheiterten bürgerlichen Revolution(en), war, was die Entwicklung des liberalen, verfassungsmäßigen, demokratischen Staates angeht, ein Nachzügler im Vergleich zu Italien, Frankreich, England, von der Schweiz, den USA, den Niederlanden zu schweigen. Historisch abwegig ist die Identifizierung von Moderne und Kriegstreiberei, weil erst in der europäischen Neuzeit ein Kriegsrecht und damit eine verbindliche Grundlage zur Eingrenzung des Krieges entstanden war. Die Kriegstreiber fanden in Deutschland in den Riegen der Anti-Modernen dankbares Gehör: Im Regelfall wurden einige Aspekte der Modernisierung, etwa Pluralisierung oder Parlamentarismus, Urbanisierung, Marktwirtschaft oder egalitäres Wahlrecht erbittert bekämpft, andere dagegen bejaht oder sogar kultisch aufgeladen. 1928 waren, wie schon 1914, die einzigen, die gegen die Aufrüstungsetats stimmten, die Kommunisten, und die waren auch für Roth ein Inbegriff der ›Moderne‹ vulgo Amerikanisierung. Während er das schrieb, wurde das größte (der Intention nach globale) und genuin moderne Friedensprojekt, der Völkerbund, vertraglich gesichert. Bronsen 1974, S. 377.

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Wenn der Historiker die oben angesprochenen Künstlermythen des 19. Jahrhunderts unbewusst anwendet, kommen dagegen Erklärungen wie diese zustande: »Das politische Unheil in Deutschland ließ ihn dem Laster seiner schwachen Helden, dem Branntwein, verfallen«183. Es besteht ein eigentümliches, Fakten und psychologisches Alltagswissen entschieden ignorierendes Bedürfnis danach, private Unbill eines Künstlers zur Wirkung äußerer, böser Mächte umzudeuten – mithin, Opfermythen und Schuldprojektionen (also Verantwortungsdelegationen) des 19. Jahrhunderts zu reproduzieren. Roths Alkoholismus begann spätestens während seiner Militärdienstzeit184 – nachdem bereits in der Jugend der Alkoholkonsum phasenweise erheblich gewesen sein soll. Und als Deutschland »politisches Unheil« drohte, in der Zeit bis 1923/24, machte Roth keine Anstalten, Abgesänge auf das republikanische Projekt oder die Modernisierungsperspektive westlichen Zuschnitts anzustimmen. Er schwankte vielmehr noch, ohne das innere Drama theatralisch nach außen zu tragen, zwischen Adorierung von Erfolgsmenschen, Stars der Massenkultur und dem Geldadel, patriarchalen Gutsbesitzern, Männern der »Welt von Gestern« einerseits, moralischen Invektiven zugunsten von Ausgebooteten, Verlierern, Migranten andererseits – und die Pose des feuilletonistischen Flaneurs und Solitärs fernab der Menge war dabei meist grundlegend. Bisweilen machen sich in der Forschungsliteratur Meinungsverschiedenheiten bemerkbar, was den genauen Zeitpunkt der Exilierung angeht, und in Nebensätzen gibt man zu verstehen, dass es vielleicht doch kein direktes, quasi kausales Verhältnis von sozialem Geschehen und persönlicher Konsequenz geben dürfte: »Joseph Roths Emigration beginnt, begleitet [sic!] von einer tiefen Identifikationskrise, bereits 1925«185. De facto handelte es sich 1925, von Roths dramatischen Beziehungsdramen abgesehen, um einen höchst 183 184 185

Soergel/Hohoff 1963, S. 785. Bronsen 1974, S. 173. Kliche 1999, S. 15.

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freiwilligen, lukrativen Wechsel des Arbeitsplatzes nach Paris. Doch das Wort »Emigration« wird heute wie ein affektiv aufgeladenes Adelsprädikat verwendet, mit dem Opferrollen und damit moralische Überlegenheit zugeschrieben werden. Einfache Fakten haben es gegen solche Projektionen schwer. Auch in sich sind solche Erklärungen nicht konsistent: Eine Sache ist, gewisse soziale Umstände nicht zu billigen, eine ganz andere, ins Exil zu gehen, und eine noch weiter davon entfernte, ›tiefe Identifikationskrisen‹ zu durchleben: Es bleibt absurd zu unterstellen, man müsse, um persönliche Identität zu bewahren, sich mit allen gegenwärtigen Zuständen einverstanden erklären. Mit vielen Dingen in der Gesellschaft nicht einverstanden zu sein gehört nicht nur zum modernen, mündigen Individuum, was abgelehnt wird, erzeugt immer auch Orientierung, Selbstgefühl, Gruppeneinbindung. Teile der Kulturelite zelebrieren seit mindestens der Aufklärung ihr eigenes Nichteinverstandensein, genannt: »Kritik«. Das gehört regelrecht zum guten Ton des Milieus. Kann man jedoch nicht wenigstens begründet behaupten, Roth habe Deutschland den Rücken gekehrt, weil seine, wenn auch bloß intuitive und gefühlshafte, sozialistische Überzeugung dort keine Realisierungschancen mehr hatte? Nein, die gesamte Entwicklung der deutschen Republik hinsichtlich Gewalt, Rechtssicherheit, Minderheitenschutz, Wohlstand auch für Chancenärmere um das Jahre 1925 herum widerlegt die Möglichkeit solcher Gründe, wie wir sehen werden. Schauen wir stichprobenweise genauer hin, was es mit Zeugnissen auf sich hat, die scheinbar am klarsten »sozialistische« Bekenntnisse artikulieren. Am 1. Mai des Jahres 1923 schlug Joseph Roth im »Vorwärts«186 geradezu klassenkämpferische Töne an, wenngleich nur anderthalb Seiten lang. Das ist in der Tat auffällig – vor allem in einer Hinsicht: Diese Seiten haben kaum etwas gemein mit Roths damaliger Handschrift – ganz im Gegensatz zu einem zweiten, noch am gleichen Tag 186

Sültemeyer 1976, S. 70.

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erschienenen Artikel Roths (I. 999f) –, recht viel jedoch mit dem in diesem Organ und zu diesem Anlass erwarteten Festrednerton. Wirft es nicht ein sehr merkwürdiges Licht auf Roths hochgestimmte Identifikation mit einer von »Bürgern« und »Offizieren« (I. 1000) befehdeten und ausgebeuteten Arbeiterklasse (»Wir«), wenn wir dagegenhalten, dass er längst auch für die liberale und ganz und gar »bürgerliche« FZ schrieb (und nebenbei für das ähnlich ausgerichtete »Prager Tagblatt«)? So wie auch, dass er bei erster Gelegenheit eines größeren Auftrags für dieses renommierte Blatt sein sozialistisches Wimpelchen fallenließ? Ungleich näherliegt anzunehmen, an jenem 1. Mai habe Roth seine (an sich unpolitische) Empathie für die Ausgebooteten, seine Vorliebe für den anklagenden Ton und, nicht zu vergessen, sein unbestimmtes, aber unvertilgbares Unbehagen an der Gegenwart, aus gegebenem Anlass in eine wirksame und opportune Inszenierungsform gegossen. Der konfliktäre, affektive Impuls jedenfalls blieb sich strukturell zeitlebens ziemlich gleich; konstant waren auch jene unbestimmten Fremdheitsgefühle, die ambivalente, oft sentimentale Identifikation mit Opfern oder Ausgebooteten und zugleich mit Erfolgs- und Geldmenschen, das hartnäckige Missbehagen am status quo der geordneten Dinge – nur die Form und Theatralik der Anklage und die Formen der Gegenbilder zum Gegenwärtigen, die wandelten sich, und das grundlegend. Der Zeitungsmann Roth musste, wenn wir einem Brief an den Mitarbeiter Herbert Ihering Glauben schenken, linker Ambitionen wegen die vertragliche Bindung an den »Berliner Börsen-Courier« (BBC) lösen: »Ich kann wahrhaftig nicht mehr die Rücksichten auf ein bürgerliches Publikum [!] teilen und dessen Sonntagsplauderer bleiben, wenn ich nicht täglich meinen Sozialismus verleugnen will« (Briefe, S. 40). Auch dieses Bekenntnis ist mitunter für bare Münze genommen worden187. Doch kommt die Wahrheit über Roths Motive 187

Siehe z.B. Klaus Westermann im Nachwort zu I. 1116. Seit Juni 1922 schrieb Roth bereits für den vielgelesenen »Vorwärts«, die Kündigung war also ungefährlich. Er blieb weiterhin Mitarbeiter der »Neue[n] Berliner Zeitung«, und

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einige Monate später, am 21. Januar 1923, von selbst an den Tag: Die (liberale) »Frankfurter Zeitung«, dieses »Idealprodukt der Journalistik« (Kisch188), bringt erste Zeilen von ihm – Roth will ganz einfach höher hinauf, und zwar in der Sparte »Feuilleton«, damals die nobelste Gattung, die die Presselandschaft zu bieten hatte189. Die geistvoll kapriziösen Kleinformate, die der BBC abdruckte, heben sich überdies in der gestochenen, kurzatmigen Diktion, der Konzentration auf Nebensächliches, auch intonatorisch und habituell in keiner Weise von den gleichzeitig in der (linksliberalen) »Neue[n] Berliner Zeitung« (NBZ), dem (sozialdemokratischen) »Vorwärts« oder der (liberalen) »Frankfurter Zeitung« erschienen Arbeiten ab190. (Eine nicht geringe Zahl von Beiträgen, die der BBC im Druck brachte, wurden überdies vom »Vorwärts«, der NBZ und der FZ übernommen191.) Roth hatte keinerlei Gewissensmühe, nach

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diese war für gemäßigt linke Überzeugungen durchaus zu haben. Wäre es ihm tatsächlich um ein Medium für seine Empfindungen gegangen, hätte er damit ein adäquates Forum bereits zur Hand gehabt. Die lukrativere Bindung an den »Börsen-Courier« wäre ganz überflüssig gewesen. Kisch 1997, S. 51. Wie selbstbewusst der junge Feuilletonist Roth schon während der Verbindung mit dem BBC auftreten konnte, zeigt die Fortführung des Briefs an Ihering: »Vielleicht wäre ich trotzdem schwach gewesen, für ein reicheres Gehalt meine Überzeugung zurückzudrängen, oder für eine häufigere Anerkennung meiner Arbeit. Allein Herr Dr. Faktor [d.i. der Chefredakteur – S.K.], durch viel Arbeit […] überreizt, behandelte mich mit einer lächelnden Überhebung, […] und wenn ich auch an meine Empfindlichkeit glaube, so muß ich doch feststellen, daß ich eine Behandlung genoß, die jener eines Herrn Schönfeld oder eines anderen Mitarbeiters aus verflossener Aera sehr bedenklich nahekam«. Man vergleiche etwa »Flüchtlinge im Osten« (NBZ, 20. 10. 1920) mit »Die Asyle der Heimatlosen« (BBC, 26. 1. 1922), oder die liebevoll rührigen, aber gänzlich apolitischen Impressionen aus dem jüdischen Milieu »Der Tempel Salomonis in Berlin« (NBZ, 2. 10. 1920) mit »Kunst im Ghetto« (BBC, 14. 7. 1921). Siehe die Auflistung der »mehrfach verwerteten Artikel« durch den Herausgeber im Anhang zum ersten Band der Werkausgabe, S. 1098f.

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der Kündigung beim BBC Mitarbeiter beim »Prager Tageblatt« (PT) zu werden, einem Organ, das in Sachen Liberalismus dem BBC nicht nachstand: Ein »ausgezeichnet informierendes, verläßlich gemachtes Blatt […], freiheitlich, ohne gerade Sturmglocken zu läuten«, lobte Max Brod, langjähriges Redaktionsmitglied daselbst192. Der vollkommen liberale, sich überparteilich gerierende, einigermaßen verlebte ›Kunst-Idealismus‹, den Roth am 27. 11. 1921 im BBC offerierte – »Der Schöpferische steht also fern der Gegenwart, fern seiner Umwelt, fern seinem Volke; er steht abseits, in säkularer Entfernung« (I. 685) – passt, so gesehen, ins Bild, auch wenn man diese Sätze so wenig wie irgendein sonstiges Bekenntnis Joseph Roths als Ausdruck stabiler persönlicher Überzeugungen verstehen darf. Roth, der Meister der virtuosen Bagatelle, ist nicht der Sozialist Roth auf Urlaub von der ideologischen Front. Der Sozialist Roth ist viel eher eine Spielart des Ästheten Roth – und der Ästhet entsteht durch sublimierendes Verwandeln und seinerseits ambivalentes Einkleiden des Ambivalenzdilemmas im praktischen Schreibvollzug. Sich selbst als Mitleidender und Sprachrohr der Ausgebooteten, Ungebildeten, Chancenlosen (»Volk«) zu inszenieren ist ein vorpolitischer Affekt und als solcher nicht nur bei Roth die Kehrseite geistesaristokratischer Sympathien, im Gegenteil, wie wir auch etwa am Beispiel des Generationsgenossen Ernst Krenek sehen werden. Volkspädagogik, Verachtung des Volkes in seinem vorfindlichen Zustand und geistesaristokratischer Dünkel bedingen sich gegenseitig. II Roths Bericht über den Rathenau-Prozess Sozialistisches ›Engagement‹ oder Mokerie eines Politikverächters? Die Artikelserie »Leipziger Prozeß gegen die Rathenau-Mörder« (I. 872–887) berichtete vom 4.–13. Oktober 1922 für die NBZ von einem Ereignis höchster, eine ganze Nation bewegender Brisanz, das 192

Zit. bei Bronsen 1974, S. 232.

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ein Licht warf auf den Zustand des Weimarischen Politkörpers im Ganzen. Prüfstein musste dieser Prozess gerade auch für den Juden Joseph Roth sein, hatte doch die Reichsanwaltschaft sich als Kläger gegen antisemitisch motivierten Terror verstanden – wiewohl die Täter Rathenau vor allem als politisches Werkzeug der Siegermächte des Ersten Weltkriegs sahen193. Dass die (mutmaßlichen) Täter zuerst von aggressiver Feindschaft gegen einen verhassten »Westen« getrieben waren, wie oben en passant vermerkt wurde (Salomon: »Aber es geht doch um den Kampf gegen den Westen, gegen den Kapitalismus! Werden wir Bolschewisten!«194), und dem Juden Rathenau sogar teilweise Bewunderung ob dessen patriotischer Leistung entgegenbrachten, konnte der uneingeweihte Beobachter Roth vielleicht nicht wissen, auch wenn der Erwerb solcher Informationen, zumindest heute, zum Handwerk des Gerichtsreporters gehört. Pikanterweise kämpfte das Milieu der Täter genau wie Joseph Roth selbst erbittert gegen eine gefühlte Überfremdung durch den »Westen«, insonders die USA als großem Sieger des Weltkrieges. Roth führte die Leser der NBZ durch die zehn Verhandlungstage in jenem Oktober des Jahres 1922 mit der ihm zur zweiten Natur gewordenen, kurzatmigen, pointenbedachten Schlaglichttechnik des Feuilletons – die Darstellungsform lässt nicht vermuten, dass man an einem Politikum ersten Ranges teilhaben soll. Wie in einem beliebigen Kriminalprozess oder einem Roman Roths »blinkt die Helmspitze eines Justizsoldaten«, sitzt der Staatsanwalt »hager und etwas vorgeneigt, in strenges Richterrot eingefaßt, und wenn er sich 193

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Hannover 1966, S. 122; verlässlicher ist Sabrow 1993 und Sabrow 1999. Frappierenderweise wurde Rathenau genau am Tag ermordet, nachdem er sich entschlossen hatte, den rechten Kritikern seiner Erfüllungs- und Verständigungspolitik (die er 1920 mit Reichskanzler Wirth entwickelt hatte) – insbesondere Hugo Stinnes – nachzugeben (Sabrow 1993, S. 222). Die eigentlichen Täter waren entkommen und sind später durch einen Zufall (Hannover 1966, S. 117) und vor allem die entschlossene, gut organisierte Polizeiarbeit gefasst worden (Sabrow 1993, S. 226f). Koenen 2005, S. 340.

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erhebt und spricht, hat seine Stimme einen scharfen Akzent«; macht die Mordwaffe »auf dem Richtertisch […] sichtlich auf alle Zuhörer und Richter und Verteidiger einen tiefen Eindruck. […] Ein Stuhlrücken fängt an, und die Aussagen des Angeklagten und die Fragen des Vorsitzenden ertrinken in der allgemeinen Aufregung […]«. Roth schrieb an mehreren Stellen nachlässig, überdrüssig, womöglich verlegen und verschiedentlich nicht auf der Höhe seines Könnens195. Man wartet als heutiger Leser darauf, was Roth über die zentrale Frage des Prozesses, die Funktion der »Organisation C«, der rechtsradikalen Geheimorganisation »Consul« (auch »O.C.«), Nachfolgeorganisation der infolge des Kapp-Putschs aufgelösten Marine-Brigade Ehrhardt, zu sagen hat, die von erheblicher Bedeutung für den Fortbestand der jungen Republik war. Die Scheidemann-Attentäter entstammten diesem Umfeld196, ebenso die Erzberger-Mörder. Mehrere Fememorde gingen auf ihr Konto, enge Verbindungen zu Reichswehr und Politik machten diese Kreise ungreifbar und heimtückisch – ein dunkles Kapitel der Geschichte von Exekutive und Legislative197. Einer der beunruhigendsten Züge des Rathenau-Prozesses war das schnelle Resignieren des Gerichtes bei der Ermittlung der Auftraggeber im Hintergrund198 – denn die Staatsanwaltschaft war der O.C. bereits 1921 im Zusammenhang mit dem Mord an Erzberger auf die Spur gekommen199. Roth hielt sich anderthalb Sätzchen, eine kleine Schlussmetapher lang, bei dieser zentralen politischen Dimension auf: »Ein Zeuge wird mit großer Ungeduld erwar195

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Da geht auch Ungelenkes durch: »Das Mordinstrument ruht in schrecklicher Schweigsamkeit und legt Zeugenschaft ab für den Ermordeten, dessen tätliche Ursache es selbst war[!]« (I. 874). Hannover 1966, S. 126f; Genaueres und Aktuelleres bei Sabrow 1993, S. 228– 234. Ebd., S. 136ff ist dies dokumentiert. Es ist allerdings irreführend dramatisierend, von einer »Farce« (Hannover 1966) zu sprechen. Sabrow 1993, S. 230.

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tet. Es ist der vom Oberreichsanwalt angekündigte Belastungszeuge der Organisation C. Ihre Mystik, diese Kabbala nationalistischer Mordlust, ihre geheimen Wege und Zeichen enthüllt zu sehen, harrt der Saal in stetiger Spannung« (I. 878). Das ist alles. Vom Versprechen, die »geheimen Wege und Zeichen« zu enthüllen, scheint Roth tags darauf nichts mehr zu wissen. Mit so leichter Hand wischt er eine zentrale politische Dimension des Prozesses vom Tisch. Insofern kann man die Artikelserie eigentlich gar nicht als »Reportage« eines politischen Ereignisses von nationaler Bedeutung lesen, jedenfalls nicht nach den Kriterien, die wir heute an den Bericht einer seriösen Tageszeitung legen, sondern nur als Kollektion satirisch eingefärbter, meist vom Physiognomischen ausgehender Charakterstudien eher mäßigen Anspruchs. Kategorisiert man so, wird man den nicht sehr substantiellen Texten weit eher gerecht. Dass die Mörder Walther Rathenaus nicht primär antisemitisch motiviert seien, wie Joseph Roth annahm, konnten Außenstehende wohl tatsächlich kaum wissen – doch eine Analyse des Verhältnisses von Täter und Opfer hätte in Verbindung mit Grundwissen um Rathenaus politisches Handeln und politische Ereignisse der letzten Jahre diese gerade für Roth doch eigentlich entscheidende Motivlage sehr wohl zu rekonstruieren erlaubt. Ernst von Salomon jedenfalls glaubte, auch seine Mitverschwörer hätten Rathenau nicht weil, sondern »obgleich er Jude war«, getötet. (Im Gefängnis notierte Salomon 1923/24, Rathenau habe als »der edelste Jude Deutschlands […] im glühenden, reinen Idealismus für sein Volk« gehandelt200.) Rathenau stellte die Nationalchauvinisten tatsächlich vor ernste Legitimationsprobleme, hatte er doch noch im Oktober 1918, nachdem sogar Ludendorff längst die unvermeidliche Kriegsniederlage eingestanden hatte und das Heer sich teilweise bereits auflöste, in einem Zeitungsartikel entgegnet, die deutschen Armeen seien sehr wohl in der Lage, weiter zu kämpfen. Der Zeitungsartikel stieß in ultranationalistischen und antisemitischen Blättern wie dem »Reichsbote[n]« auf 200

Zit. bei Koenen 2005, S. 340.

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jubelnde, respektvolle Zustimmung201. Und weil keineswegs das Judentum, sondern das »System«, der »Westen« das Objekt des fanatischen Hasses war, hegten die ultrachauvinistischen Nationalisten naturgemäß prinzipiell Sympathie mit der bolschewistischen Bewegung202. Nichts davon kommt in Roths Artikeln vor. Was die Ressentiments anging, hatten Rechte und Linke gemeinsame Objekte. Der Hass gegen das, was man »Dollar-Imperalismus« oder »Entente-Imperalismus« nannte, einte zeitweilig KPD und Nationalsozialisten203 – Roths ingrimmige Verdammung des Amerikanischen ist nicht grundverschieden von diesen Affekten. Dass die USA, von den Deutschen kurzsichtig und unter fataler Überschätzung eigener militärischer Stärke zum U-Boot-Krieg gegen Handelsschiffe im Weltkrieg gezwungen, militärisch hoffnungslos überlegen waren, löste ein nationales Trauma aus – und paradoxerweise partizipierte Joseph Roth an diesem, während er die Deutschen ebenso pauschal diffamierte. »Politik« wurde hier wie dort von Kompensationsbedürfnissen für eingebildete und tatsächliche Kränkungen sowie vagen Sehnsüchten nach großen, innerweltlichen Erlösungen bestimmt. Die Gemeinsamkeit der pauschalen Affekte wider den »Westen« hätte Roth in einige Verlegenheit bringen können während seiner Tätigkeit beim Prozess. Ebenso sein (Un-)Verständnis der Rolle des Rechtssystems in der Gesellschaft. Er erledigte die Auftragsarbeit mit Feuilletonistenroutine, benutzte die Gerichtssaalatmosphäre, die Rituale, die sinnliche Gegenwart der Beteiligten als Katalysator von Pointen, satirischen Strichen. Ästhetische und damit verbunden soziale Distinktion gegenüber den physiognomisch überzeichneten Angeklagten, nicht das Bemühen um ein begründetes Urteil über das Verfahren standen im Zentrum. So hätte sich jeder im eigentlichen Sinne »politisch« interessierter Berichterstatter vom Rathenau-Mord-Prozess ganz vor201 202 203

Vgl. Jones 2017, S. 29. Vgl. Koenen 2005, S. 340–42. Diner 1993, S. 74f.

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dringlich gefragt, weshalb diese »O.C.«, wenn sie den Behörden doch längst bekannt war, juristisch nicht entscheidend belangt werden konnte – und deren Existenz stand stellvertretend für die größten Gefahren der jungen Republik, nicht nur im konkreten Sinn, da die O.C. wahrscheinlich planten, 1922 einen Großteil der liberalen Führungselite zu ermorden und so Unruhe zu verursachen, in denen man die verhasste Linke auszurotten hoffte204: Operiert wurde aus einem militanten Hass auf den Parlamentarismus und Liberalismus im Allgemeinen (das heißt in ethischer und ökonomischer Hinsicht) als eine dem deutschen »Volk« angeblich fremde, von außen aufgezwungene Staats- und Werteordnung205. Es fällt auf, dass der Parlaments-, Demokratie- und Toleranzhass der Täter von Roth nicht reflektiert wird. Umgekehrt wäre ein versuchtes Erforschen der Gründe, weshalb die Verfolgung und Unschädlichmachung der O.C. nicht weiter gediehen war, auf fundamentale Prinzipien der Staatsorganisation gestoßen, von deren Einhaltung der Frieden und die Republik abhing – das Durchsetzen des staatlichen Gewaltmonopols und der Gewaltenteilung, letztlich des Rechtsstaates überhaupt206. Dass die Gerichte 204 205

206

Sabrow 1993, S. 233. Beliebt war beispielsweise das Bild einer »Analogie zwischen imperalistischer Durchdringung Mittelamerikas und der Ruhrbesetzung«, vgl. Diner 1993, S. 78f. Damit verbunden sehr häufig die Sehnsucht nach starken Führerfiguren, ›tieferen‹ ethisch-sozialen Werten und eine Verachtung des Pluralismus. Der Revanchegeist gegenüber den Siegermächten des Ersten Weltkrieges lebte auch in der auf eine Rumpftruppe von einhunderttausend Mann eingedampften Reichswehr fort, unter zahllosen Weltkriegsteilnehmern, und durchaus auch unter Monarchisten, Christen und anderen. Vgl. dazu das im Einzelnen veraltete, doch in Grundzügen noch immer instruktive Überblicksbuch Sontheimer 1968. Die O.C. stellte sich als Teil der »Schwarzen Reichswehr«, die es offiziell nicht geben durfte, dar. Inoffiziell begründet wurden diese Eingreiftruppen etwa mit der Notwendigkeit, im Namen der Nation oberschlesische Aufstände 1921 niederzuschlagen. Daher wurden diese an sich illegalen Hilfstrupps von Reichsbehörden gefördert, Sabrow 1993, S. 230f.

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die O.C. selbst nicht auf die Anklagebank brachten, bewies keineswegs die Korrumpierbarkeit der Justiz, sondern (in diesem Fall) deren hohe Rechtsauffassung: Sie verwahrten sich gegen politische Justiz und stellten Anklagen so lange zurück, bis zwingende Beweise vorliegen würden. Und als es im Februar 1924 zu einem Prozess vor dem Staatsgerichtshof kam, fand dieser unter gänzlich anderen Vorzeichen statt – in einer gefestigten Republik, und war daher »von dem Bemühen aller Parteien bestimmt, die Vergangenheit ruhen zu lassen.«207 Das wiederum mag man im Nachhinein als fatale Inkonsequenz im Umgang mit militanten Republikfeinden oder als fahrlässigen Optimismus interpretieren – es ändert nichts daran, dass die Praxis der Justiz im Falle des Rathenau-Mordes eine im Kern intakte, unabhängige Rechtsprechung exemplifizierte. Ein eindrücklicher Beweis für das loyale Funktionieren republikanischer Institutionen war auch die Verfolgung der Täter durch die Polizei, die zwar nicht fehlerfrei, doch schließlich effektiv war. Obwohl die Brigade Ehrhardt als Hintergrundorganisation darauf aus war, einen Bürgerkrieg zu provozieren und später mit Pomp in die SS aufgenommen wurde, standen ihre Ideale teils quer zu den nationalsozialistischen. Sie träumten nach Martin Sabrow viel eher von einer monarchistischen Gegenrevolution zur Restaurierung alter Eliten und Werte! Auch davon wusste der Berichterstatter Roth nichts. Die Rathenau-Mörder waren zugleich glühende Verehrer der jungen Sowjetunion208; sie verkörperte für Reaktionäre wie für Utopisten, sogar für Religiöse, Bildungsreligiöse, Monarchisten damals eine Art utopisches Gegenreich zur schon in der Nationaleuphorie des August 1914209 wahlweise als glaubenslos, seelenlos, führungs207 208

209

Sabrow 1993, S. 231. Koenen 2005, S. 340f. Zu einer »Arbeitsgemeinschaft zum Studium der Planwirtschaft« fanden sich 1931–32 u.a. Georg Lukács, Ernst Niekisch, Carl Schmitt, Ernst Jünger, KPD-Mitglieder und Autoren des »Tat«-Umkreises zusammen, vgl. Koenen 2005, S. 343f. Koenen 2005, S. 230.

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los, zersetzend, kriegstreiberisch, geistfeindlich, volksfremd gegeißelten liberalen Demokratie und Freien Marktwirtschaft. Roth hätte, einmal recherchiert, Ressentiments und Ideologeme gefunden, denen er selbst Sympathien entgegenbrachte. Das mag ein Grund sein, weshalb er seinen Erstling »Das Spinnenetz« um eine höchst verwirrende, abgründige Konstruktion heimlicher Strukturähnlichkeiten des Nationalchauvinisten und des jüdischen Außenseiters baute (s.u.). Nicht nur psychologische Konfliktdynamiken, das konvulsivische Rachebedürfnis für angeblich erfahrene Kränkungen, sondern vor allem der ans Psychopathologische grenzende Hass auf den Westen und seine Liberalität verbinden beide. Schon 1919 drohten Vertreter aller deutschen Parteien der Entente, sich notfalls mit der Sowjetunion zu verbinden und sich gegen den »Westen« zu wehren. Lenin wiederum gab den Anführer im Kampf um das ›Diktat von Versailles‹210. Gerd Koenen hat diesen »RusslandKomplex« der Zeit in einem vorzüglichen historischen Essay ins Gedächtnis gerückt. Auch vor diesem Hintergrund wird, was man leicht als eine persönliche Wende Roths zu einem nostalgischen Monarchismus oder als persönliche Vision des Glücks osteuropäischer Rückständigkeit missverstehen kann, eher als Umherirren in der Fülle der durcheinander tönenden Positionsangebote und Verheißungsrhetoriken der Zeit zu interpretieren sein, deren Gemeinsamkeit der Hass auf den Westen, den Liberalismus, die Pluralisierung, die ›Führerlosigkeit‹, die Gewaltenteilung, das Konzept von Politik als friedlichem Miteinander auf der Basis auszuhandelnder Verträge. Roths späte Verklärung des katholisch-habsburgischen Universalismus, verbunden mit einer Verachtung des Nationalgedankens, könnte man beispielsweise auch als bloße (lokal gefärbte) Variante flottierender Reichsideologien der Zeit verstehen, oder auch als Spielart jenes »deutschen Gegen-Universalismus«, der forderte, sich gegen den »Westen« (»Amerikanisierung« meinte mitunter nahezu dasselbe) als Konglomerat säkularer Nationalstaaten zu stellen um 210

Koenen 2005, S. 277–80.

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einer tieferen Idealität und Essentialität willen211 – ein vage ideologisch aufgeladenes Heilsversprechen, das dem deutschen Reich der Mitte zwischen asiatischer Autokratie und westlichem Liberalismus gemäß sein und einen natürlichen Seelen-Verbündeten im Osten Europas haben sollte212: Auch im Umkreis des Reichskanzlers Bethmann feierte man Russland als Bundesgenossen im Kampf gegen den westlichen Staatsgedanken um einer tieferen Seele willen. Gemeinsam wollte man die »Amerikanisierung« der deutschen Kultur und Gesellschaft verhindern213. 5 Exkurs: Lebenserschreiben und Bindungssimulationen in Briefen, Feuilletons, Reportagen. »Politik« als Material Man kann den Habitus der Artikelserie etwas unfreundlich auch so beschreiben: Der standesbewusste Feuilletonist fühlt sich in einem Bereich zuständig, in dem man es wohl besser nicht sein sollte, respektive nicht zuständig sein kann, sofern man an begründeten Urteilen über Justiz, Gesellschaft, Ökonomie und Staat, normativen Implikationen dieser Institutionen interessiert war. Die Unfähigkeit zu einer solchen, verstehend analysierenden, die eigenen Kriterien zur Disposition stellenden Herangehensweise hat Roth nicht nur eingestanden – sondern erwartungsgemäß als Stärke seiner Subjektivität verstanden wissen wollen. Auf ein Beispiel dieser Umdeutung trafen wir bereits bei Erwähnung seines sofort abgebrochenen Versuchs, die Hintergründe des Konfliktes um Oberschlesien zu erläutern: »Jedes Ereignis von Weltgeschichtsqualität muß ich auf das Persönliche reduzieren, um seine Größe zu fühlen und seine Wirkung abzuschätzen. Gewissermaßen durch den Filtrierapparat ›Ego‹ rinnen lassen und von den Schlacken der Monumentalität befreien. Ich will sie [?] aus dem Politischen ins Menschliche übersetzen« (I. 570) Diese 211 212 213

Koenen 2005, S. 56, Koenen 2005, S. 138. Koenen 2005, S. 79f.

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Subjektivität hat Roth auch hier nicht als Folge einer bestimmten Schreibweise verstanden; umso mehr hat er sie als etwas gedeutet, was in höchste »Objektivität« jenseits bloßer ›Sachlichkeit‹ umschlägt – eine beliebte Selbsterhöhungsfigur unter Essayisten und Feuilletonisten. So jedenfalls in einem Brief an Benno Reifenberg aus dem Jahr 1925, wieder einmal in einem kommoden Hotel weilend, den Plan einer Buchausgabe seiner Reportagen ankündigend: »Meine Reise ist Mitte September beendet. Ich habe Stoff für ein Buch. Auch da bitte ich Sie um einen redaktionellen Rat: ich kann am besten [sic!], ein ganz ›subjektives‹ also im höchsten Grad objektives Buch schreiben.« Der Mechanismus der Argumentation ist, wie so oft bei Roth, einfach die Flucht vor dem Argument in die Pointe, basierend auf erklärungslos vorgetragenen Oppositionsfiguren, apodiktischen Setzungen und Pseudo-Folgerichtigkeiten (»also«). Im Bereich des Politischen wäre eine solche Aufladung der eigenen Subjektivität eine Kampfansage gegen jeden Versuch eines rationalen Interessenausgleichs, letztlich an Demokratie überhaupt, denn ein jeder würde seine subjektiven Aversionen und Präferenzen als das »objektiv« richtige Wertsystem behaupten. Entweder setzte sich der Gerissenere, Listigere oder der Gewalttätigere durch, oder man lebt nebeneinander her und überließe alles dem Zufall. Roth nennt derlei »Romantik«: »Die ›Beichte‹ eines jungen, resignierten, skeptischen Menschen, der irgendwohin fährt, in einem Alter, in dem es ihm bereits gleichgültig ist, ob er Neues sieht oder nicht. […] Und er sieht die letzten Reste Europas, die noch keine Ahnung haben von der inzwischen immer stärker gewordenen Amerikanisierung [sic!] und Bolschewisierung Europas. Denken Sie, bitte, an die Bücher der Romantik. Abstrahieren Sie davon die Utensilien und Requisiten der Romantiker, die sprachlichen und die der Weltanschauung. Setzen Sie dafür die Requisiten

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der modernen Ironie und der Sachlichkeit ein. Dann haben Sie das Buch, das ich schreiben will, kann und beinahe muß. Es ist ein Reisebuch durch die Seele des Schreibers, wie durch das Land, das er durchfährt. Was halten Sie davon? Es ist im höchsten Grade dichterisch, mehr, als ein Roman.«214 Mehrere der Motive, die Roth hier im Brief an Reifenberg entwickelt, finden sich sehr ähnlich auch in »Die weißen Städte«. Expliziter als dort entwirft Roth im Brief ein Szenario, das sich dezidiert von abgegriffenen, »kulturkritisch« pauschalisierenden, undefinierten Evokationsvokabeln leiten lässt. »Die weißen Städte« allerdings sind dann keine (dezidierte) Rollenprosa, wie Roth sie im Reifenberg-Brief entwirft – was vielleicht zu denken geben sollte hinsichtlich des Grades, in der Roths Prosa immer eine Art Rollenprosa bleibt. Weder die Instabilität der Republik (mit dem Höhepunkt in den Putschversuchen und den separatistischen Bestrebungen von Rheinland, Sachsen, Thüringen, Bayern, Hamburgs im Herbst 1923) noch die hernach geleisteten, entscheidenden Schritte auf dem Weg zur inneren und äußeren Pazifierung, der institutionellen Stabilisierung und des ökonomischen Gedeihens spielten für das, was der neuromantische Reise-Flaneur Roth, ausgestattet mit den pauschalen Totschlagsvokabeln der popularisierten Kulturkritik, als Niedergang Europas schreibend halluzinierte, eine Rolle. So katastrophal Europa kollabiert war, so verblüffend rasch hatte man damals bereits die Neuerfindung Europas als vertragsrechtlich gesichertes Ensemble liberaler Demokratien eingeleitet: Im August wurde mit dem DawesPlans die (allerdings nur vorläufige Regelung) der Reparationsfrage geklärt. Mit der Übergabe des deutschen Sicherheitsmemorandums in Paris im Februar 1925 wurde der entscheidende Schritt des Weges

214

An Benno Reifenberg, Hotel Beauvau, Marseille, 30. August [1925]. Briefe, S. 61–68. Zitat S. 62.

5 Exkurs: Lebenserschreiben und Bindungssimulationen

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hin zu einer Rückkehr Deutschlands in die internationale, rechtlich geregelte Völkergemeinschaft getan. Nicht beweisbar, doch denkbar ist, dass in Roths brieflicher Ankündigung seines Reisebuchs und seiner Bitte um Rat und Unterstützung Strategie im Spiel war, schließlich verstand die FZ sich als unerschütterlich liberal, und Leuten wie Reifenberg, Leiter des Feuilletons seit 1924, letztlich jedoch ein Ästhet bildungsbürgerlichen Zuschnitts, war eine gewisse Distanz zur »Amerikanisierung« im Sinne von Konsum, Massenkultur und Technisierung durchaus genehm. Und den Bolschewismus empfand dieser Intellektuellentypus ohnehin als Bedrohung der gesamten, bewahrenswerten Kultur und Zivilisation. In »Die weißen Städte« allerdings, in seinen Russlandberichten der mittleren 1920er Jahre und den späteren »Juden auf Wanderschaft« hat Roth selbst ebensolche affektiv pauschalisierende, »kulturkritische« Niedergangsrhetorik in größerem Stil vertreten, und Reflexe gegen »Amerikanisierung« waren ihm ohnehin eigen. Erfahrene Männer im Metier scheinen die Natur von Roths Intellekt und Begabung früh erkannt haben: Das Engagement als »Berichterstatter« am Wiener Blatt »Der Neue Tag« (s.o.) währte kaum einige Tage, da stellte man den strebsamen Jüngling dorthin, wofür er geboren war – ins Feuilleton. Im zitierten Brief an Reifenberg verteidigt Roth beiläufig seine Neigung, schnell zu schreiben, gleichgültig welchen Stoff er gerade traktiert. »Ich möchte in zwei Wochen an diesem Buch in Paris schreiben. Sie erliegen hoffentlich nicht der deutschen Anschauung, daß man ein gutes Buch nicht schnell schreiben kann. Ich kann nur gut und schnell schreiben. Die Deutschen schreiben auch dichterische Bücher wissenschaftlich. Sie fühlen wissenschaftlich. Das geht nur langsam.«215 Roth liebte offenbar auch im privaten Umgang das durchweg ironische Jonglieren mit Klischees – hier des Klischees der deutschen Gründlichkeit und Systematik. Die stets ob ihrer willkürlichen Ver215

Briefe, S. 63.

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allgemeinerungen, Pseudo-Aphorismen munter schmunzelnde, improvisatorische Raschheit der Diktion diente sicher auch der Legitimation für das Verwenden solcher Retorten. Roth brachte sich durch seine internalisierte Programmierung auf ein staccato der überpointierten Formeln und begründungslosen Generalisierung hier wie so oft selbst in Dilemmata – die er, immerfort rasch schreibend, zum Anlass für neuerliche, gewitzte Wendungen und Selbstkommentare nutzt: Der berühmteste Langsamschreiber der Moderne und gleichzeitig der (zumindest dem Selbstverständnis nach) quasi-wissenschaftliche Präzisionshandwerker war schließlich Gustave Flaubert. Roth muss sich mit einem Scherz aus der Falle befreien, nachdem er, wie oft, vorschnell auf die Pointe gegangen war: »Die langsame Arbeit eines Flaubert z.B. beruht auf ganz anderen Voraussetzungen: auf der Faulheit nämlich.« Dieser Scherz führt nur tiefer in die selbstgestellte Falle, war Flaubert doch mit kaum etwas anderem als Schreiben befasst. Roth schiebt einen zweiten, lustigen Rettungsversuch nach, einen Schein-Widerspruch: »Sie wissen von der Schule her, daß man einen ganzen Tag ochsen kann mit der größten Faulheit in der Seele.« Die Prinzipien seines Schreibens von Briefen unterschieden sich, sofern ein Brief von einigem Gewicht war und eine wie immer prekäre Bindung an den Adressaten (und damit auch eine Abhängigkeit) bestand, oft nicht grundlegend von denen der feuilletonistischen und erzählerischen Texte. Roth schrieb bei solchen Gelegenheiten intuitiv improvisierend mit offengelegter Lust und Neugierde daran, wie er andere und sich selbst durch gewitzte Wendungen überraschen oder eben auch in Dilemmata verwickeln würde. Weder Polgar noch Kerr schrieben in der Regel wirklich so rasch, lediglich den ersten, ›spontanen‹ Einfällen folgend, lediglich dem eigenen Esprit und dem Überraschungswitz hingegeben, wie es die Endprodukte suggerieren. Dieser Spontaneitätsschein war das Ergebnis eines ausgefeilten Kalküls. Und ebenso war es auch bei Roth dort, wo er mehr als den bloßen Gelderwerb anstrebte.

5 Exkurs: Lebenserschreiben und Bindungssimulationen

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Eine nicht geringe Zahl von Feuilletons ist so durchkonstruiert und motivisch durchdacht, dass sie den Schein, instantan und frei assoziierend entstanden zu sein, selbst in vielen Arbeits- und Korrekturphasen hergestellt haben müssen. Der Briefschreiber Roth erging sich Reifenberg gegenüber in Aversionen gegen alles Deutsche. Er schwadronierte mit der ihm eigenen, ins Reflexsystem eingegangenen Ironie, die nahezu alles, was er behauptete, sogleich wieder in Frage stellte. So munter das daher geplaudert wirkt, Deutschland war ihm zu jener Zeit längst eine Projektionsfläche seiner strukturell aus dem Ambivalenzkonflikt abgespaltenen Ängste geworden, Ängste vor Ich-Verlust, Desorientierung – allerlei Unbewusstes, aber auch ein Projektionsfeld unterdrückter Aggressionen gegen halluzinierte Feinde, die kein Gesicht haben, denen er jedoch nur zu gerne eines geben würde – beispielsweise dasjenige Hindenburgs. Roth gab sich im ReifenbergBrief ganz dem Drang zu Übertreibung und bedenkenloser Projektion hin: »Wäre ich jetzt dort, ich würde wahnsinnig. Alles wird bei mir persönlich. […] Ich weiß nicht, was geschehen könnte. Ich wäre imstande, jemanden zu erschießen, Bomben zu werfen, ich glaube, ich würde ein Ende nehmen und kein gutes. Ich begebe mich in Lebensgefahr, wenn ich nach Deutschland fahre. Ich kann es physisch nicht.«216 Im eigendynamischen Prozess des Schreibens floss Roth übergangslos in solche Selbstinszenierungen hinein, verlor sich dabei und jeden Willen, jede Fähigkeit, zwischen schreibinduzierter Halluzination und nüchternem Urteil zu unterscheiden. Roth habe, wir erinnern die Erinnerung Hermann Kestens, gleichsam gelebt am Kaffeehaustisch – mühelos zwischen Konversation und Schreiben wechselnd. Oft habe er, müßig bleibend, Briefe geschrieben, »ein halbes Dutzend, ein Dutzend Briefe, hintereinander weg, mit hurtiger Präzision und winziger Schrift, ohne Unterbre216

Briefe, S. 64.

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chung, als schriebe er unter Diktat, ein entschlossener Schreiber, der jedes Wort wog, jeden Einfall, jede Empfindung mit der Genauigkeit einer Goldwaage. Zugleich schrieb er mit der prägnanten Geschwindigkeit eines Fußball-Mittelstürmers. Da schrieb er einen Geschäftsbrief, darauf einen Liebesbrief, Briefe an Verleger, an Autoren oder an Leser und Gattinnen, von Dichtern, an Politiker und Redakteure, an Freunde und Feinde, Monarchisten und Kommunisten, an Söhne von Kaisern und von Rabbinern, an Bettgenossinnen und Exilgefährten, an Hilfeflehende oder Mäzene, an seine Kusinen und an den Heiligen Vater in Rom.«217 Beim Schreiben konnte Roth, offenbar im Modus der vielleicht sogar körperlich empfundenden Halluzination, herstellen, was im Leben unmöglich war: Bindung und Gegenüber. Bindung, die nicht fixiert, weil sie körperlich nicht real ist und keine Entscheidung für, keine Einengung auf eine bestimmte Person verlangt, und doch nicht beliebig austauschbar war, sondern als individuelle empfunden werden konnte. Die leiblich anwesenden Menschen im Wirtshaus, denen Roth nach Kestens Erinnerung einen erheblichen Teil seiner Lebens-, also Hotelund Kaffeehauszeit widmete, waren dagegen bloßes Publikum, austauschbar wie fast jedes Publikum, jeder Einzelne darunter aber je nach Bedarf wie mit einem Spotscheinwerfer herausgreifbar, um einige Minuten oder Stunden Bindung zu spielen: »Roth war einer der beredtesten Menschen, denen ich je begegnet bin, gesprächig wie Sokrates, voller Anekdoten und Witze wie ein alter Jude, voller Neugier für andre Menschen. Seine Neugier war so stark, daß sie sich in Teilnahme, in Sympathie verwandelte und beinahe alle, mit denen er saß und trank, glauben machte, sie seien seine Freunde, ja er sei ihr bester Freund. Offenbar schuf Roth im Umgang mit Menschen 217

Hermann Kesten, Joseph Roth schreibt Briefe. In: Briefe, S. 9–19. Zitat S. 10.

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eine spontane Intimität, zugleich mit einer psychologischen Diskretion«218. Dem Psychologen sind derlei Züge bestens geläufig: Das Vermögen, wildfremden Menschen in Sekundenschnelle weiszumachen, gerade zu ihnen bestehe eine besonders intime, unverwechselbare Beziehung – es gründet darin, dass ein solcher gleichsam kernloser, fluider Mensch weiß, dass der, dem er solche Intimität suggeriert, austauschbar ist, aber auch in autosuggestiv entstehenden, flüchtigen Gefühlen, dass eine solche Verbindung jetzt in diesem Augenblick tatsächlich besteht. Mit dieser Fähigkeit verbunden ist nicht selten ein gewinnender Charme, eine Begabung zur Simulation von Empathie, oder eben das Talent zu suggerieren, aus einem Menschen sprudele nur so der Witz und die Lebens- und Kommunikationslust heraus, gerade dieser schönen Gesellschaft hier und jetzt wegen. Es liegt nahe anzunehmen, diese Fähigkeit entspringe der Abwehr des Wissens, dass der unweigerlich folgende Moment des wirklichen Alleinseins zum völligen Selbstverlust führt – wovor sich Roth vermutlich durch drei Dinge schützte: Alkohol, Schreiben, Leben im Gasthaus. Die Kommunikation einer solchen Persönlichkeit ist vom Werben und Charmieren wahrscheinlich kaum je zu trennen, auch nicht vom Genuss der suggestiven Wirkungen des eigenen Werbens, der Leichtigkeit des Gewinnens und/oder Täuschens. Schreiben muss für Roth stets etwas wie die Vergewisserung gewesen sein, dass er und die anderen noch »da« und verbunden sind, und diese Art Bindung eine ist, die man pflegen kann, ohne Panik vor Ich-Verlust auszulösen, da sie von Unverbindlichkeit und Fiktionalität nicht zu trennen ist, und über die Fiktionalität hat der Schreibende im Gegensatz zur lebendig realen Bindung viel mehr Kontrolle. Genauer: Er verfügte über Strategien, im Schreiben partiellen Kontrollverlust durch Improvisation und bewusst initiierte Autosuggestion zuzulassen – wäre alles willentlich steuerbar, würde 218

Ebd., S. 9.

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das Schreiben leblos, nicht Medium der Selbst- und Weltmodellierung, sondern der bloßen Übermittlung von schreibunabhängig gegebenen Erfahrungen. Paradoxerweise zahlt jemand, der auf diese Weise sich und die Bindung (oder Ein-Ordnung) an die Welt er-schreiben kann, einen umso höheren Preis, je mehr ihm das gelingt: Desto geringer nämlich wird die Notwendigkeit, das Drama der Bindungen und des Selbstseins im realen Leben zu lösen – und desto abhängiger damit das Ich vom Schreibakt. Wenn Roth sich gegen Reifenberg als einer präsentiert, der »Tag und Nacht schreibt«219, ist das typisch posenhaft übertrieben, doch nicht ganz frei erfunden. In gewissem Sinne mag er sogar innerlich ›geschrieben‹ haben, wenn er ohne Papier und Stift zu leben versuchte. 6 Die Wahl Hindenburgs und der Antisemitismus 1925 Anlass zur Abwendung von der Weimarer Republik? Die Wahl Hindenburgs ist, mündlichen Äußerungen Roths folgend220, als Anfang vom Ende seiner republikanischen Hoffnungen bezeichnet worden221. Der Übergang nach Paris hatte damit nichts zu tun, Roth wechselte einfach die Arbeitsstelle. Von dieser typischen Mystifikation schlichter Lebensbegebenheiten abgesehen: Konnte ein politisch interessierter und informierter Zeitgenosse die Reichspräsidentenwahl überhaupt so deuten? 219 220

221

Briefe, S. 65. Nach einem Zeugnis des Berliner Ullsteinredakteurs Max Krell bekundete Roth im April 1925: »Wenn es Hindenburg wird, reise ich ab, ich weiß, was dem folgen wird« (zit. bei Bronsen 1974, S. 263f). Und Roth sei tatsächlich am Tag nach der Wahl abgereist. Obwohl wir nicht sicher sein können, dass der Satz genau so gefallen ist (er wurde nach Jahrzehnten erinnert, und das in einem Kontext, der die zugespitzte Anekdote geradezu provozierte), entspricht er doch Roths Neigung zur theatralischen Pointe. Z.B. Klaus Westermann im Nachwort zum zweiten Band der von ihm mitveranstalteten Werkausgabe, S. 1024.

6 Die Wahl Hindenburgs und der Antisemitismus 1925

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Nun, es spricht einiges dafür, dass die Wahl Hindenburgs eine »Steigerung des militärischen Einflusses in Deutschland«222 nach sich zog. Die Reichswehr wurde der Kontrolle durch andere politische Instanzen weitgehend entzogen, die Kontakte des im Greisenalter wiedererstandenen, buschbärtigen Haudegens zum »Stahlhelm« und anderen ›patriotischen‹ Verbänden bestanden fort223. Der Wählerwille kann jedoch nur beurteilt werden, wenn man sich die personellen Alternativen vor Augen führt: Die SPD hatte aus taktischen Erwägungen den eigenen Kandidaten nach der Vorwahl zurückgezogen und den Zentrumsführer Marx unterstützt224. (Ein Bündnis, das sich 1932 wiederholte und Hindenburg gegen Hitler noch einmal siegen ließ.) Und dieser Marx war »der konservativste Zentrumsmann, den man sich denken konnte. Er war der DiktaturReichskanzler im Winter 1923/24 gewesen […] Marx war in keiner Hinsicht ein ›kleineres Übel‹ gegenüber irgendeinem [!] Reichspräsidenten der Rechtsparteien, mochte es Jarres225 sein oder Hindenburg. Wäre Marx zum Reichspräsidenten gewählt worden, dann hätte er in jeder Krise den Willen der Generale und der Großkapitalisten respektiert« (Arthur Rosenberg). Diese Einschätzung von Hindenburg als kleinerem Übel stammt vom im Einleitenden Teil angekündigten jüdischen Althistoriker der Generation Roths, Arthur Rosenberg. Dieser saß zu jener Zeit (1924–28) zunächst für die KPD und seit 1927 als Parteiloser im Reichstag, dabei bereits sein bis heute impulsgebendes Buch »Die Entstehung der deutschen Repu222 223 224

225

Rosenberg 1978, S. 185. Rosenberg 1978, S. 185. »Die SPD-Führung dachte wohl, daß das Zentrum im Reich zur Weimarer Koalition zurückkehren würde, falls die Sozialdemokraten dafür sorgten, daß Marx [der Zentrumsführer] Reichspräsident wurde« (Rosenberg 1978, S. 182f). Jarres war ein Parteifreund und Wunschkandidat Stresemanns (gemeinsam mit der DNVP), der den ersten Wahlgang gewann, jedoch nicht die erforderliche absolute Mehrheit. Stresemann, wiewohl unangefochtene Leitfigur der Nationalliberalen, konnte den Verzicht Jarresʼ zugunsten Hindenburgs nicht verhindern, vgl. Kolb 2003, S. 105.

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blik 1871–1918« entwerfend (EV 1928). Als Historiker blieb er seiner marxistischen Schulung undogmatisch treu, beschrieb Geschichte nie nur als Gestaltung und Lenkung von oben, sondern immer auch als Geschichte von sozialen Klassenkämpfen und ökonomischer Dynamik, ohne Eigentümlichkeiten der jeweiligen Entscheidungseliten und des Rechtssystems auszublenden. Er ließ sich jedoch in den späteren 1920er Jahren zunehmend vom Leitbild eines demokratischen Sozialismus führen, trat konsequenterweise 1927 aus der KPD aus und vollendete im Londoner Exil sein Referenzwerk zur Weimarer Republik, Deutschland unter dem NS-Regime dabei von ferne beobachtend. Rosenberg legte ein besonderes Augenmerk auf die Geschichte und Konzeption der Verfassung, denn deren Mängel trugen für ihn wesentlich zum Scheitern der deutschen Nation bei226. Damit verkörpert er einen Gegentypus zu Joseph Roth innerhalb des Milieus jüdischer Intellektueller mit sozialistischen Neigungen – das ist der Grund, weshalb er im vorliegenden Kapitel mehrfach als Instanz aufgerufen wird (wobei allfällige Korrekturen im Detail, die heutige Historiker anbringen würden, vernachlässigt werden): Der säkular systemanalytisch vorgehende Rosenberg war ein entschiedener Gegenspieler der in Kulturkreisen grassierenden, argumentationsfeindlichen, nicht systemanalytisch, sondern metaphorisch generalisierenden, theatralisch anklagenden und prophezeienden »Kulturkritik«. Es ist dieser rational argumentierende, empirisch unüberbietbar gut informierte, dabei die eigenen normativen und konzeptuellen Vorannahmen reflektierende Zugriff Rosenbergs, der ihn als Jude in den mittleren 1920er Jahren zu einem vollständig 226

Vgl. Wirsching 2005: »Mit einer marxistisch fundierten Betrachtungsweise, die Sozial-, Verfassungs- und politische Geschichte miteinander verknüpfte, und einer Orientierung am Leitbild eines demokratischen Sozialismus arbeitete er aus seiner Sicht wichtige Faktoren für das Scheitern des dt. Nationalstaats heraus. Hierzu gehörten die verfassungspolitischen Probleme des Kaiserreichs ebenso wie die mangelnde sozialistische Ausgestaltung der Revolution 1918/19.«

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anderen Urteil über den Zustand der Republik kommen ließ als den moralisierenden Rollenspieler Joseph Roth. Praktisch abwägender Vernunft und Informiertheit bezüglich des parlamentarischen Verfassungsstaats hätte es in besonderem Maße bedurft, um nicht, wie Roth, in beliebigen, gefühlshaften Reaktionen auf persönliche Eigenschaften und Auftrittsarten stecken zu bleiben. Hindenburg hielt sich wie er vor der Wahl angekündigt hatte, »als Staatsoberhaupt peinlich genau an die Verfassung und übte sein Amt wirkungsvoll aus, bis ihn die Altersschwäche überkam. Je mehr die Besorgnis der deutschen Republikaner bezüglich Hindenburgs schwand, um so mehr nahm sie auch im Ausland ab. Deutschlands Isolierung näherte sich ihrem Ende«227. ›Besorgnisse‹ angesichts der Wahl des greisen »Helden von Tannenberg« waren sehr wohl angezeigt – selbst wenn man die zynische Realitätsverweigerung gnädig vergessen hatte, die Hindenburg dazu brachte, noch im November 1919 vor Nationaldelegierten allen Ernstes die Niederlage im Weltkrieg einer »heimliche[n] planmäßige[n] Zersetzung von Flotte und Heer« zuzuschreiben, also sich öffentlich für die später so verhängnisvoll nachwirkende »Dolchstoßlegende« stark zu machen228. Auch hier sollte man im nachträglichen Aburteilen vorsichtig sein: Sogar Friedrich Ebert begrüßte, als er am 10. Dezember 1918 mit großen Teilen der Berliner Bevölkerung heimkehrende Frontsoldaten mit den Worten: »Kein Feind hat euch überwunden« – was nur bedeuten konnte: die »Revolution sei dem deutschen Heer in den Rücken gefallen« und habe die Niederlage verursacht!229 Selbst Gustav Stresemann war »unverhohlen und ehrlich verzweifelt«230 ob Hindenburgs Wahl, und er war besonders sensibilisiert, stellten doch die rechtsnationalistischen Kräfte auch in seiner eigenen DVP immer eine Gefahr für die Verständigungspolitik dar. 227 228 229 230

Gay 1987, S. 207. Sturm 2011, S. 24. Jones 2017, S. 112. Laut Zeugnis Graf Kesslers, zitiert bei Kolb 2003, S. 105.

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Stresemann hatte, nachdem seine Taktik bei der Aufstellung von Kandidaten nicht aufgegangen war, Hindenburgs Kandidatur nur durchgehen lassen können, weil er davon ausging, dass er ohnehin nicht gewinnen werde. Etwas völlig anderes ist es, aus affektiven Wertungen der Person Hindenburgs Gründe zur Abkehr vom Glauben an eine republikanische Zukunft Deutschlands abzuleiten. Dazu wären erst einmal Rechtskenntnisse und ein Verständnis für die Natur von Wahlämtern in Demokratien nötig gewesen. »Ist ja gar nicht so schlimm!«, rief der unbeirrte Monarchist und adlige Offizier aus, als ihm die Verfassung vorgelegt wurde231, und verstand sich – gutmütig, patriotisch und pflichtbewusst, wie er auf seine Weise wohl zumindest im Alter auch war – als ›Friedensbringer‹, dem es aufgetragen sei, die »Parteien zu versöhnen«232. Er fühlte sich, wiewohl er nie seine monarchistischen Präferenzen verhehlte, per Eid an die Verfassung gebunden. Für jeden politisch Denkenden war Hindenburgs Präsidentschaft mehrere Jahre lang beinahe ein Lehrstück in Sachen Demokratisierung: Die Institution Verfassung wurde sogar bei (einigen) Demokratieverächtern respektiert, das Parlament als Repräsentant des Volkswillens funktionierte als Instrument der Machtkontrolle usw. Die verfassungsmäßige Definition eines Amtes hat in einem funktionierenden liberalen Verfassungsstaat im Zweifelsfalle immer Hoheitsrechte gegenüber individuellen Charaktereigenschaften eines Amtsträgers – und solange die wechselseitige Kontrolle der Institutionen funktioniert, kann eine Veränderung der verfassungsmäßigen Definition auch nur schwer realisiert werden. Der Zustand eines demokratischen Gemeinwesens hängt sehr stark an diesem Primat der Institution und ihrer gesetzlichen Grundlagen gegenüber dem Amtsträger – allerdings unter Umständen auch davon ab, ob diese Ämterdefinition im Zweifelsfalle vom Souverän neuen Gegebenheiten angepasst werden kann. Hindenburg wich lange Zeit nicht 231 232

Erwähnt bei Dederke 1984, S. 182. Dederke 1984, S. 182.

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von seiner Treue zur Verfassung und dem von ihr definierten Amtszweck ab – und blieb daher auch lange loyal gegenüber dem liberalen Verständigungskurs Stresemanns, der ja wiederholt durch Plebiszite bestätigt wurde. Hindenburgs Unterzeichnung des YoungPlanes 1930 war dafür wohl das deutlichste Zeichen. (Das wiederum konnte man als einen späten Erfolg Stresemanns interpretieren, der sogar die beiden großen Rechtsparteien zur Annahme des Dawesplans hatte bewegen können.) Am Ende des turbulenten Krisenjahres 1923 hätte – wiederum in den Worten Rosenbergs – »ein kritischer Beobachter für den Bestand der Weimarer Republik keine fünf Rentenmark gegeben, denn alle demokratischen Kräfte im Land waren zertrümmert, und die Gegenrevolution hatte alle Trümpfe in der Hand«233. Das Jahrsechst nach 1924 war im Vergleich dazu eine Phase ausgesprochener Konsolidierung der Republik234, obgleich der Gefahren genug waren: »Der typische Akademiker blieb völkisch und antisemitisch, […] Offiziersverbände hielten ebenso an alten Traditionen fest«, der Beamtenapparat war überdimensioniert, die Auslandsbilanz katastrophal, Stresemanns Polen-Politik riskant, die antisemitischen Pöbel-

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Rosenberg 1978, S. 154. 1923 war das Jahr der Besetzung des Ruhrgebietes und des gescheiterten passiven Widerstands dagegen, der Unruhen in Rheinland, Pfalz, Sachsen und Thüringen, des Ludendorff-Hitler-Putsches. Stresemanns Geschick vermochte nicht nur die beiden großen Rechtsparteien, sondern sogar eine Mehrheit der Bevölkerung zum Akzeptieren des Dawesplans zu bewegen (Dederke 1984, S. 179). Infolge davon konnte die SPD viele Wähler zurückgewinnen (und größeren Einfluss auf die Sozialgesetzgebung dieser Jahre erlangen). Die Gründung des Reichsbanners war Ausdruck des erstarkten republikanischen Geistes, dessen eindrücklichste (wenn auch, einer betrüblichen Eigenart der Weimarer Verfassung wegen, nahezu folgenlose) Demonstration 1926 der Volksentscheid über die Enteignung der Fürsten wurde. Nach 1924 schwamm ein ausgemachter Feind der Weimarer Republik wie Hugenberg »gegen den Strom«, und das trotz der »Hilfe des Stahlhelms und trotz der Sympathien eines Teiles der deutsch-nationalen Akademiker« (Rosenberg 1978, S. 172).

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eien rissen nicht ab235. Doch es kann kein Zweifel sein, dass der in Frage stehende Zeitraum, in den immerhin die Räumung des Ruhrgebietes, die Locarnoverträge, der Beitritt zum Völkerbund und der deutsch-russische Freundschaftsvertrag fallen, einer der gesamtgesellschaftlichen Konsolidierung war: Wären die politischen Entscheidungsstrukturen via Wählervotum einigermaßen stabil geblieben und die Weltwirtschaftskrise besser gemeistert worden, hätte man eine nachhaltige(re) Einbindung Deutschlands in den Bund der friedlichen Völker und vor allem in die Gemeinschaft der europäischen Partner erreicht. Endlich stand auch die Rechtsprechung zur Freude des demokratischen Sozialisten und Verfassungstheoretikers Rosenberg mehrheitlich auf der Seite der Republik: »Die herrschende Klasse war in den Jahren der Stabilisierung davon überzeugt, daß die Zeit der Freikorps vorüber sei. So hat die deutsche Justiz es sogar gewagt, in diesen Jahren gegen die Fememörder Prozesse einzuleiten, als wären sie gewöhnliche Kriminalverbrecher. Die Männer der schwarzen Reichswehr kamen ins Gefängnis und erhielten lange Haftstrafen.«236 Die in den Volksmund eingegangene Rede von den Jahren zwischen 1924 und 1929 (bis zur Weltwirtschaftskrise) als ›Goldene Zwanziger‹ mag verklärend sein und hauptsächlich das sich pluralisierende, vitale kulturelle Leben in den 1920er Jahren meinen – doch sie kommt nicht von ungefähr237.

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Vgl. Rosenberg 1978, S. 170ff und Walter 1999 passim. Rosenberg 1978, S. 171. Seiner Einschätzung ähnelt diejenige bei Dederke 1984, S. 115. Das gänzlich andere Bild der Fememordprozesse bei Hannover 1966, S. 159ff überzeichnet wiederum politisch motiviert antidemokratische Umtriebe in der deutschen Justiz. Mit den gebotenen Einschränkungen übernimmt daher Gay 1987, S. 205ff diese Etikettierung. In Bezug auf die Kultur wird der Topos bis heute oft einschränkungslos verwendet, z.B. Andreas Wassermann, Wildes Flackern und Brennen. Berlin im kulturellen Rausch der Goldenen Zwanziger. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 139–150.

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Hinsichtlich der Frage der praktischen Rationalität und des Zwangs zur Informiertheit in einer Demokratie ist entscheidend: Vom Wählervotum hing beinahe alles ab. Wer passiv blieb, die Funktions- und Entscheidungseliten pauschal abwertete (und ihnen nicht bessere Institutionen, sondern bessere Führer und »Ideen« entgegenstellte), Entfremdungsszenarien entwarf statt für die ein oder andere demokratische Gestaltungsoption zu werben, machte sich mitschuldig am Untergang der Republik. Ein Beispiel für die Abhängigkeit der Beurteilung des sozialen Systems von Informiertheit und Wissen um das Funktionieren der Systeme, eines, das für gefühlshafte, von Gesinnungen und nicht von politischer Reflexion geleitete Zeitgenossen wie Joseph Roth gern als Anlass für Untergangsprophezeiungen, Generalverdammungen, pauschale Verdächtigungen und Verschwörungstheorien bezüglich Staat, Militär und antidemokratischer Kräfte benutzt wurde: Die Aufhebung des NSDAP-Redeverbotes in Preußen am 16. 11. 1928, dem die erste Großkundgebung im Berliner Sportpalast folgte. Sie war das Gegenteil dessen, was tagesaktuelle und gesinnungshafte Skandalisierungsgelüste daraus machen wollten, eine völkische Infiltration des Staates: Es war das Abrutschen der NSDAP in die parlamentarische Bedeutungslosigkeit von 2,6 Prozent der Wählerstimmen bei der Wahl vom 20. 5. 1928, was die preußische Regierung zu diesem Schritt bewogen hatte. Man glaubte, wenn man eine solch marginale Partei militanter Liberalitätshasser in den Genuss der freien Meinungsäußerung bringe, werde die Demokratie sich treuer bleiben, als wenn man sie staatlicherseits unterdrückt. Doch auch sofern man sich, mit allen Vorbehalten gegen eine von den ideologischen Grabenkämpfen der 1970er Jahre eingefärbte (an sich sogar irreführende, weil politisches und ökonomisches System verwechselnde) Formel wie »relative Stabilisierung des Kapitalismus«238 oder eine modernere, sachlichere wie »Stabilisierung auf 238

Vgl. Hermand/Trommler 1989, S. 23. Den Kapitalismus zum primären Gradmesser der Systemstabilität zu machen ist im Falle der Weimarer Republik

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gefährdeter Grundlage 1924–1930«239 einigen wollte, würde das an der Diagnose der Perspektive eines modernen, demokratischen Verfassungsstaates in Deutschland nach dem Jahr 1923 nichts Grundlegendes ändern. Ein Aspekt dieser Stabilisierung war selbstverständlich die stabilisierte Ökonomie: Die Verlässlichkeit der Profitraten garantierte die politische. So sagte es jedenfalls der in Sachen Ökonomie allerdings standesgemäß ahnungslose Heinrich Mann, um die europäischen Nachbarn gerade 1925 bezüglich der deutschen Republik zu beschwichtigen: Die deutschen Tugenden der Beständigkeit und Nüchternheit hätten die Schwärmereien verschiedener Couleur wieder sicher im Griff – die Reduktion des öffentlichen Lebens aufs Geschäftsmäßige aber garantiere den Bestand der Republik (die Hand des Volkstribuns, der um der Wirkung willen ein klein wenig mehr Optimismus demonstriert, als die Sache hergibt, bleibt natürlich unverkennbar). Jener Tugend wegen gehe auch (der VollblutMonarchist) Hindenburg in jenen Tagen »in keinen Vortrag des altdeutschen Nibelungenliedes, weil er vom Nutzen nicht überzeugt ist«240. Kurz: »Niemand ist mehr da, der sich an der Demokratie

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besonders töricht: Die Inflation und die Wirtschaftskrise 1923 wurden ja gerade nicht durch Marktbewegungen ausgelöst, sondern primär durch politische Entscheidungen. Büttner 2010, Abschnitt C. Die Welt zweifelte nach Mann daher in diesen Jahren »mit Unrecht an Deutschland […]. Die Demokratie war in Deutschland niemals ernstlich bedroht und wird es auch kaum mehr sein. Erstens, weil auch die sogenannten Monarchisten sehr wohl wissen, daß sie nur mit der Republik gute Geschäfte machen können. Zweitens, weil die Deutschen im Grunde die ernsthaftesten aller Demokraten sind.« Mann 1994, S. 208f. Manns Argumente können allerdings kaum überzeugen – die Schwerindustrie etwa war nicht darauf angewiesen, dass die Käufer Bürger eines demokratischen Gemeinwesens sind. Heinrich Mann neigte auf ganz andere Weise als Roth zur pauschalisierenden Floskel und zur Pointe. So auch, wenn er dekretiert, die Ausscheidung der Schwärmerei aus der im Zeichen des Geschäfts konsolidierten Republik mache die Diktatur unmöglich, denn »der herkömmliche Diktator fängt mit Lesen an. Die Werke der Phantasie kommen bei ihm vor denen der Tat.« Mann 1994, S. 209.

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vergreifen könnte: kein General, kein Revolutionär, weder Kohlendiktator noch Kaiser«. 241 Diese Sätze entflossen keinem neutralen Beobachter, sondern einem Volkstribun, ökonomischen Laien und strategischen Zweckoptimisten, der standestypisch literarische Bildung überhöht. »[…] weder Kohlendiktator noch Kaiser« ist sicherlich ein Wortspiel mit diversen Titeln des Hugo Stinnes, der, jede Ausbildung abbrechend, als Kohlenhändler anfing und einen der größten Konzerne der Epoche aufbaute, Inflationswirren systematisch nutzend, aber auch hellsichtig die Kombination aus Kohleförderung, Kraftwerk und Transport als Geschäftsmodell der Zukunft entwickelnd. Wiewohl den Kapp-Putsch verurteilend und als Unternehmer international operierend, unterstützte er doch die militanten Linken-Hasser am rechten Rand und glaubte wie so viele, die nationale Einheit sei nur durch einen starken Führer zu retten. Den »Neuen Kaiser von Deutschland« nannte ihn das Magazin »Times«242. Heinrich Mann behauptete nicht, dass 1925 die Deutschen allesamt zu glühenden Republikanhängern geworden waren – sondern nur, dass die Antirepublikaner dank funktionierender staatlicher und

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Mann 1994, S. 210. Der Untergrund war und blieb allerdings explosiv: Nachdem General von Seeckt die von Ebert im Angesicht der Aufstände von links wie rechts erteilten, nahezu diktatorischen Vollmachten wenigen Monaten danach wieder abgab, hielt er nur nach außen hin still. In aller Heimlichkeit betrieb man an der interalliierten Militärkontrollkommission vorbei die Wiederaufrüstung. Das Heer, das am 1. September 1939 bereitstand, war bis in die Zahl der Divisionen und Generäle hinein exakt die Armee, die von jenem Bund um Seeckt 1925 geplant und in die Realität umgesetzt worden war. (Janßen 1997, S. 16) Für die Einschätzung Rothscher (und Mannscher) Kommentare zum Zustand der Republik ist das allerdings irrelevant: Alles blieb streng geheim. Umgekehrt waren jene Wehrverbände, die im »Spinnennetz« auftreten, in der Stabilisierungsphase der Republik nach 1924 fast einflusslos in Bezug auf politische Entscheidungen der Regierungen. Angaben bei Nils Klawitter, Herscher an der Ruhr. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 95–99.

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zivilgesellschaftlicher Institutionen erfolgreich am Usurpieren der politischen Macht gehindert werden. Kurzum: Die Lage der Republik auch und gerade nach der Wahl Hindenburgs gab, kein Zweifel, Anlass zu Hoffnung, hatte doch der polternde Ludendorff, der »Reklamegeneral« der Rechten (Tucholsky243), sich mit wüsten Parolen »lächerlich« gemacht: »Diese Wahl zeigte den absoluten Tiefstand der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland im Zeichen der Stabilisierung«244. Ludendorff wiederum war Joseph Roth beinahe ein Synonym für den desaströsen Zustand der Republik245: Seine Romanfigur Theodor Lohse ist selbstverständlich Feuer und Flamme für den Raufbold mit der üppigen Ordensbrust246. Mir sind keine Zeugnisse bekannt, aus denen hervorginge, dass Roth das Kaltstellen dieser Desperados durch die Republik und ihre loyalen Anhänger erkannt oder gewürdigt hätte. Was den Antisemitismus angeht, den zweiten öfters genannten, äußeren Faktor, der Roths Flucht aus Deutschland und mittelbar aus der liberalen, pluralistischen Moderne erklären soll, so kann man ihn in der Phase der ›Stabilisierung‹ mit den Auswüchsen vergleichen, in denen sich einige Jahre zuvor die Verzweiflung über den verlorenen Krieg Luft zu machen gesucht hatte. (Dass zwei Prozent der jüdischen Bevölkerung auf dem Schlachtfeld ihr Leben ließen fürs Vaterland, war schnell vergessen.) Damals aber, als die Republik tatsächlich mehrfach um ihr Leben kämpfen musste, war bei Roth wenig von Republik- oder gar Moderneverzagtheit zu sehen, nur die populistische, unpolitische »Amerika«-Verachtung, ein vager, oft 243

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Tucholsky III. 166. Ähnlich Mann 1994, S. 210: Die »monarchistischen Abenteurer, wie der General Ludendorff, [sind] ebenso gut verschwunden, denn sie wurden lächerlich«. Rosenberg 1978, S. 182. Am 7. 3. 1923 z.B. zählt Roth humorvoll Ludendorff neben Akademie (!), Generalstab, Kaiser und der »Nachtausgabe des ›Tag‹« zu den Hauptübeln (I. 948). Vgl. Sültemeyer 1976, S. 113f.

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bildungsaristokratisch getönter Ekel an Aspekten der kulturellen Moderne, war bereits vorhanden. Und das angesichts paranoider Schlage-tot-Vulgarismen des ›Völkischen Beobachters‹ wie dieser: Das »ostjüdische und jüdische Ungeziefer überhaupt [ist] mit eisernem Besen auszufegen. Es muß ganze Arbeit gemacht werden. Die Ostjuden müssen unverzüglich hinausgeschafft werden« (1920)247. Welche Erleichterung hätte da das Abschneiden der Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl 1924 (wie noch das im Mai 1928) beschert haben müssen!248 Die Ostjuden – der Terminus bürgert sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein, zuvor bezeichnete man sie in der Regel mit dem traditionellen Wort für Juden im Hoheitsgebiet Deutschlands als aschkenasische Juden249 – waren in der Tat von Feinden umzingelt. Sogar die Sozialdemokratie hat mitunter deren Diskriminierung betrieben, die assimilierten Juden Deutschlands taten es fast durchweg, selbstredend nicht aus rassistischen Motiven, vielmehr weil (kleine) Teile der zugewanderten Ostjuden ihre traditionelle Lebensweise nicht vollständig aufgeben wollten. Nur – das Elend war schon zu Beginn der Republik da. Die Mitte der zwanziger Jahre bringt auch hier Mäßigung, die pogromartigen Ausschreitungen vom November 1923 sollten bis zum Ende des Jahrzehntes ohne Nachfolge bleiben250. Von fachkundiger Seite wurde ein Rückgang der öffentlichen 247 248

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Zit. Sültemeyer 1976, S. 112. Die Neuformierung der Nationalsozialistischen Bewegung auf dem ersten Nürnberger Parteitag August 1927 – u.a. wurde hier die Rassenlehre offiziell präsentiert – fand nach der Abfassung von Roths »Juden auf Wanderschaft« statt. Dieses Wiedererstarken kann also für den antiwestlichen und antidemokratischen Furor des Essays keine Rolle gespielt haben. Golczewski 2007, S. 150. Das Schicksal der Ostjuden nach der Jahrhundertwende lehrt traurig, wie sich die Geschichte wiederholt. Auf die ersten Einwanderungswellen nach Pogromen im Jahre 1903 und der gescheiterten Revolution zwei Jahre darauf antworteten deutsche Behörden mit Ausweisungsbestrebungen. Als die Fabriken sich wegen des militärischen Bedarfs an Menschenmaterial leerten, reagierte man wiederum mit Anwerbung und Verschleppung von Arbeitern aus dem

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Präsenz des Antisemitismus bis zu einem Tiefpunkt im Jahr 1928 diagnostiziert251. Es konnte weniger Zweifel denn zuvor daran geben, welche Staatsform allein dazu in der Lage war, die Rechte der Minderheiten, den inneren Frieden, die Menschenrechte für alle gegen jedwede politische Fanatismen, Führerkulte, religiöse Pluralismus- und Säkularitätsfeinde zu sichern. Nach der (nicht uneingeschränkt geteilten) These des Historikers Dirk Blasius war es nicht der Rassismus, der maßgeblich zu den Wahlsiegen der NSDAP beitrug, sondern neben dem Versprechen auf ökonomische Konsolidierung vor allem die Sehnsucht nach einer geeinten »Volksgemeinschaft« jenseits des Parteienstreits und jenseits der modernen, urbanen Pluralisierung und vor allem die Abwendung des Bürgerkrieges, der mit den zunehmenden Straßenschlachten und politischen Morden angebrochen schien, was den Nationalsozialisten zur Macht verhalf252. (Der Bürgerkrieg wurde von der KPD wie schon von den Spartakisten 1918 regelrecht herbeigesehnt, um die siegreiche Oktoberrevolution wiederholen zu können253.) Die Situation zu Beginn der 1930er Jahre muss die

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polnisch-russischen Okkupationsgebiet und holte zahlreiche Juden (wieder) ins Land. Lange vor dem November 1918 wusste man in den Reihen des (intellektuellen) Judentums, wie sich die Fahnen noch am Tag der militärischen Niederlage wenden würden: »Man bereitet für den Fall der Niederlage einen Sündenbock vor, den das Volk anstelle der wirklich Schuldigen in die Wüste jagen mag […] Es handelt sich um die edle Absicht, die Juden und ihre ›Presse‹ […] für einen etwaigen unbefriedigenden Ausgang des Krieges haftbar zu machen, die Volkswut auf sie abzulenken«. Erschreckende Klarsicht der »Neue[n] Jüdische[n] Monatshefte« vom Juli 1918 (zit. bei Dederke 1984, S. 114). Vgl. Niewyk 1980, S. 200. So räumte Papen das Kanzleramt zugunsten Schleichers, weil dieser den zu erwartenden Bürgerkrieg besser eindämmen zu können versprach. Blasius 2008, S. 140–2. Blasius 2008, S. 57. Die Kommunisten sahen die historische Entscheidungsstunde für gekommen, als Papen auf Konfrontationskurs mit ihnen setzte und gleichzeitig der NSDAP Integrationsangebote machte. Sie bezeichneten schon

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Deutschen direkt an die Wirren nach der Revolution 1918 erinnert haben, als Karl Liebknecht, weil er sich theatralisch zum Anführer einer halluzinierten Revolution nach bolschewistischem Vorbild inszenierte, »in die Rolle eines überlebensgroßen, nationalen Antihelden« hineinwuchs254. Abgesänge auf die Weimarer Demokratie sind für den Geschichtsschreiber verführerisch: Schwarzseher werden, egal wie irrational und projektiv ihre Gründe gewesen sein mochten, zu Sehern, wenn sich der Polithimmel irgendwann tatsächlich verdüstert. Unzweifelhaft ist: Bis zum Schluss hing das Schicksal der Republik ganz vornehmlich am Wählervotum, nicht an unbestimmten, düsteren Mächten oder ideologisch irregeleiteten Eliten. Nicht einmal mit den Septemberwahlen 1930 war die Republik notwendigerweise am Ende: Die autoritäre Umgestaltung der Verfassungsrealität durch die Präsidialregierungen seit Ende März 1930 bot, lehren Zeithistoriker, »auch neue Chancen der Stabilisierung der Staatsmacht der Republik.«255 Und: »Das Ende der Republik war nicht allein durch materielle Not bedingt. Eine wesentliche Ursache für die Beseitigung der Republik lag darin, dass die Wähler den erklärten Feinden der Demokratie Schlüsselstellungen eingeräumt hatten. Nur durch die Wahlerfolge der NSDAP konnte Hitler Kanzler werden. Und ohne den Versailler Vertrag hätte diese Partei wohl nie so viel Zulauf bekommen. Aber die Chance, Hitler zu verhindern, bestand bis zuletzt.«256 Hitler als interimsweise Galionsfigur einer »nationalen Demokra-

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damals die Weimarer Republik als »kapitalistische Diktatur« oder auch als »Faschismus« (ebd., S. 57f). Jones 2017, S. 94. Broszat 1984, S. 121. Wolfram Pyta. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 37. Vgl. auch die im Literaturbericht von Dederke 1984, S. 278 gelisteten Autoren, die diese Ansicht stützen: »Daß es zu einem schleichenden Verfassungswandel im Sinne des Machtzuwachses der präsidentellen Komponente kam, war nicht Ausfluß der Verfassungsregelungen, sondern Folge des Versagens der Parteien und mittelbar des Wahlverhaltens der Bevölkerung«.

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tie«, diese Idee vereinte nun Stahlhelm, Hindenburg und DNVP mit den desillusionierten Männern der Mitte, ohnehin Verbündete im Hass auf die Sozialdemokratie, der letzten Trutzburg der Republik257. Rassismus spielte fast keine Rolle dafür, umso mehr der Kampf gegen die Partnerschaft mit den Siegermächten des Weltkriegs im Völkerbund. Neuerdings hat sich »für die Weimarer Zeit ein Paradigma der Gestaltungsoffenheit durchgesetzt, so etwas wie ein Grundkonsens, dass eben nichts vorbestimmt, nichts von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Die Gestaltungsspielräume waren groß, nicht nur für die Politik, sondern auch die Bürger in diesem neuen Staatsgebilde. ›Nichts war sicher, und alles war möglich‹, beschreibt der Historiker Peter Fritzsche das verbreitete Lebensgefühl.«258 Rationale Verantwortungskalküle seien wichtiger denn je gewesen, doch sie gingen verloren und damit das wichtigste Antidot zu den in Deutschland so verheerend geschichtsmächtigen innerweltlichen Erlösungslehren, den heroischen Mentalitäten, dem Revanchegeist, der Sehnsucht nach dem neuen Menschen259 und nach starken Führer- und Retterfiguren und Volksgemeinschaft, den ästhetisierenden Gesinnungsethiken, den autoritär ignoranten Aufladungen von Bildung, Geist und Kultur als Versöhnungsinstanzen – alles Ideen, die einer bürgerlichen, freiheitlichen, stets zu langwierigen Kompromissen und Eigenverantwortung des Einzelnen verdammten Republik feindlich sind. Roth war mitnichten ein Solitär in seiner gesinnungshaften, von irrationalen Ressentiments und vagen Rettungs- und Verlustgefüh257 258 259

Vgl. z.B. Mommsen 1991, S. 366ff. Eva-Maria Schnurr. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 19. Für Philipp Blom ein geheimes Leitmotiv der Weimarer Kultur, das Weltkriegstrauma und die neue Unsicherheit sozusagen hyperkompensierend. Vgl. Philipp Blom, Träume und Albträume. Weimar oder die Sehnsucht nach dem neuen Menschen. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 71–80. Ob die Weimarer Zeit wirklich diese Suche nach einem neuen Menschen besonders stark betrieb, ist allerdings fraglich. Diese steilen Utopismen florierten eher in der postnietzscheanischen und esoterischen Jahrhundertwende, im Futurismus usf.

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len geleiteten Art; er gehörte damit zum traurig starken Mainstream der antiliberalen Mentalitäten in der Deutschen Republik. Von diesem Ende her gesehen, sind Fälle wie die des Joseph Roth doppelt tragisch: Er, gebeutelt von Ambivalenzen, gefangen in seinen Rollenspielen, doch weiterhin ein blendender Regent seines kleinen Königreichs Feuilleton, wandte sich ab von einer Republik, die unübersichtlich geworden war, krisenanfällig, pluralistisch, und gab sich eskapistischen wie gemütshaft besetzten Rettungs- und Verlustszenarien in dem historischen Augenblick hin, da eine rationale Verantwortungsethik in der Politik wichtiger geworden war denn je. Insofern kann man ihn mentalitätsgeschichtlich in einem Exkurs zu Fritz Sterns »Politics of Cultural Despair« beschreiben. Zu sagen, Roth sei aus der Geschichte oder der Gegenwart »ausgestiegen«, ist genau genommen irreführend: Es wird dabei unterstellt, dass er zuvor Teil der gegenwärtigen Welt und also der republikanischen Kultur war. Es erklärte wenig, auf konkrete Konstruktionsfehler der Weimarer Republik, in der Verfassung z.B., zu verweisen, um Roths Motive zum Ausstieg zu rationalisieren. Die Verfassung besaß bei vielen Zeitgenossen kein hohes Ansehen, lehren Historiker260, auch unter demokratischen Geistern, zumal der weitreichenden Befugnisse des Reichspräsidenten wegen. Man sollte jedoch wissen, weshalb das von den Verfassungsvätern so konzipiert wurde: Um als Gegengewicht zum (möglichen) ›Parlamentsabsolutismus‹ zu dienen261. Das Parlament stand wie auch die politischen Parteien bei großen Teilen der Bevölkerung tatsächlich in schlechtem Ruf262, die Koalitionsbildungen waren oft so schwierig, sodass man die Motive der Verfas260 261 262

Sontheimer 1968, S. 89 Dederke 1984, S. 227. Das Wort »Parteipolitik« fällt bei Roth ganz im Sinne damaliger, populistischer Republikverächter (III. 130). Zu dieser Standardverachtung der Parteien und des Parlamentes unter den antidemokratischen Kräften vgl. Sontheimer 1968, S. 155ff.

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sungsväter im Nachhinein gut verstehen kann. Wenig bis nichts spricht dafür, dass Joseph Roths Urteil über die Republik sich von solchen Rechts-, System- und Institutionenfragen hätte beeinflussen lassen. Ob Roth Demokratie als egalitär organisierte Konkurrenz von Interessen und Bedürfnissen innerhalb einer pluralistischen Friedens- und Rechtsordnung überhaupt denken konnte oder wollte, kann und muss man bezweifeln. 7 Hindenburg und die Ambivalenz in der Sehnsucht nach behütenden Figuren Roths Selbstdeutung ist auch bezüglich des Arbeitsplatzwechsels nach Paris ein klassischer Fall von inszenierter Schuldprojektion: Er war bereits im Frühjahr 1925 mit seiner Frau in Paris. Hell entzückt von dem Wechsel und dem geselligen Leben dort beschlossen sie die Übersiedelung an die Seine, lange vor der Wahl Hindenburgs. »Im Frühjahr 1925 war es Roths Wunsch, die Zeitung zu verlassen und nur noch Romane zu schreiben, und zwar in Paris. […] Roth schätzte das Erlebnis der Stadt im Frühjahr 1925 und bald darauf des Landes Frankreich enorm. Hier fühlte er Freiheit, Lebenslust, Verständnis – alle positiven Lebens- und Geistesqualitäten, die ihm in Deutschland fehlten.«263 Weshalb ein erfolgreicher Journalist mit gutem Einkommen im Berlin der 1920er Jahre, dem Zentrum des Nachtlebens, dem Mekka des modernen Hedonismus, der sexuellen Liberalität, der Theater und Künstlerzirkel ausgerechnet Freiheit und Lebenslust vermisste, dürfte (rational) nicht leicht zu erklären sein. Noch auffälliger ist jedoch, dass Roth »Verständnis« in Deutschland vermisste, in Paris aber gefunden haben will – also in einem Land, dessen Sprache er keineswegs perfekt sprach, in dem umgekehrt die Sprache, in der er schrieb, und das hieß eben: die Sprache, in der er schreibend lebte, nur von einer kleinen Minderheit (ausreichend) beherrscht wurde, und in dem er daher niemals eine berufliche Existenz 263

Asmus 2012, S. 56.

7 Hindenburg und die Ambivalenz in der Sehnsucht nach behütenden Figuren

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hätte aufbauen können. Wir sahen oben, dass Roth eben dieses Missverstehen in der Exil-Heimat als großen Vorzug pries. Die Wahl Hindenburgs als Auslöser anzugeben ist eine inszenierte Schuldprojektion, die sich paradoxerweise gerade nicht von der verachteten deutschen Mentalität entfernt, sondern an traurig starken Strömungen von Autoritätsfixierungen der Deutschen zu partizipieren. Die Kehrseite der Liberalitätsverachtung war allermeist die Überschätzung von Autoritäts-, Versöhner- und Führerinstanzen gegenüber systemischen Aspekten und rationalen Bewertungen divergierender Interessen. Nicht wenige westliche Kultur-Intelligenzler idolisierten beispielsweise sowjetische Revolutionsführer zu »Männern der Idee« und Geistes-Führern [oder auch geistigen Aristokraten], mit denen man einen Bund schließen müsse, um das Versailler Diktat zu brechen264 – und nicht nur Alfons Paquet hoffte, durch einen solchen Bund zugleich die alte »Kaiseridee« wiederbeleben zu können265. Joseph Roth, der schon seiner Kindheitserfahrungen wegen – wie David Bronsen einfühlsam beschrieb – auf der Suche nach behütenden Vaterfiguren war, dürfte über alle bloß subjektiv-willkürlichen Ressentiments hinaus, wenn, dann eher eine innere, unangenehme Nähe zu jenen autoritätsfixierten und im Gegenzug pluralismus- und parlamentsverachtenden Mentalitäten entwickelt haben: Mit der Wahl des sich überparteilich, väterlich, pflicht- und etikettenbewusst gebenden Hindenburg sollte Roth klargeworden sein, wie unangenehm nahe seine Sehnsüchte denen vieler Deutscher kamen. Lediglich der Stil der Repräsentation war ein anderer. »Der deutsche Nationalcharakter«, schrieb ein den Deutschen keineswegs übelwollender Zeitgenosse, »liebt das patriarchalische Vorbild. Der Glaube will sich an einer Persönlichkeit emporranken, der man Rettungskräfte mystischer Art zuschreibt […]. Hindenburg trägt in seinem Wesen die Fundamente, auf die sich Ehrfurcht und Zutrauen, Bewunderung und 264 265

Koenen 2005, S. 212. Koenen 2005, S. 241.

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gemütvolle Liebe gründen. Dazu muß die Natur den Menschen begnaden. Eine solche Erscheinung läßt sich niemals ganz ausdeuten […] Er wird einfach als der gute Geist empfunden. Vor ihm schwiegen die Zweifelsüchte, die Rechthabereien und die Wirrungen der Intrigen«266. Heutige Historiker zeichnen Bilder Hindenburgs in ähnlichen Farben: »Seine Aufgabe als Reichspräsident sah er darin, das deutsche Volk an Stelle des Kaisers durch seinen Mythos symbolisch zu integrieren. […] Hindenburg legte Wert auf Zeremoniell und Etikette. […] Seine imposante Gestalt, seine tiefe, sonore Stimme, seine knappen Formulierungen und seine väterlich-wohlwollende Ausstrahlung verliehen ihm hoheitsvolle Würde.« Er verkörperte die Hoffnung auf »Volksgemeinschaft« und damit auch des sehr weit verbreiteten Wunsches nach Eindämmung der Parteienmacht: Diese hielt Hindenburg, »wie die meisten Offiziere, für ein unerfreuliches, den Zusammenhalt der Nation störendes Geschäft. Trotzdem wurde er ein politischer Präsident, der seinen Eid auf die Verfassung ernst nahm.«267 Welche irrationalen und rein ideosynkratischen Impulse Roth in seinen (seinerseits inszenierten) Hass auf alles Deutsche und mittelbar auf die liberale, nationalstaatlich verfasste Moderne (»Amerika«, »Westen«) getrieben haben mögen, diese Nähe zum Hunger nach organischer Durchseelung, ›gewachsenen‹, überschaubaren Sozialordnungen, Gemeinschaftsgefühl, Befriedung durch väterliche Versöhnerfiguren, Rückkehr der Heilsperspektive ist offensichtlich. Hindenburg muss eine Zwillingsgestalt Rothscher Traumideale gewesen sein: Roths (ambivalente) Sehnsüchte waren so absolut, dass kein Wählbarer sie erfüllen konnte. Insofern war Hindenburg furchterregend stark qua Amt, Monarchismusglaube und militärischer Gesinnung – und zugleich zu schwach, denn er konnte den Einzelnen nicht aus seiner Vereinzelung lösen, das Ganze nicht total befrieden, die Heilsperspektive nicht zurückholen, so gerne er das persönlich 266 267

G. Schultze-Pfälzer 1929, zit. nach Dederke 1984, S. 180. Büttner 2010, S. 566.

7 Hindenburg und die Ambivalenz in der Sehnsucht nach behütenden Figuren

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vermutlich gewollt hätte. Das mag der Grund gewesen sein für Roths wie allermeist überpointierten und gerade deshalb doch psychologisch beredten Ausspruch, dass »ein republikanischer Hindenburg schlimmer ist als zehn Mussolinis«268. Hindenburg gewährte einem US-amerikanischen Journalisten kurz vor dem Zweiten und entscheidenden Wahlgang 1925 ein Interview, indem er diesen und damit die Alliierten seiner Treue zur Verfassung versicherte – wiewohl er seine »Herkunft aus einer monarchistischen Welt« nicht verleugne (Er hatte sich zuvor auch tatsächlich die Erlaubnis »seiner Majestät«, des Kaisers Wilhelm II., zur Kandidatur eingeholt): »Ein Reichspräsident, der allen Ständen [sic!] und Gliedern des Volkes dienen muss, darf aber nicht Vertreter des Kampfgedankens irgendwelcher Klassen sein.«269 Das mag wie strategische Beschwichtigung klingen, doch Hindenburg wurde vom Volk großteils in dieser Rolle angenommen und füllte sie auch weitgehend aus. Zwar war sein persönliches Anliegen eine Revision der Versailler Verträge, doch »er war Realist genug, in Stresemanns Politik der Kooperation die einzig erfolgsversprechende Strategie zu erkennen und sie gegen die Angriffe der Rechten abzuschirmen. Daß er sich deshalb die Feindschaft vieler deutschnationaler Standesgenossen zuzog, belastete ihn allerdings schwer.«270 Harry Graf Kessler (der auf der Seite der DDP für einen Sieg des Kandidaten der Weimarer Parteien gefochten hatte) prophezeite daher: Die Republik werde »mit Hindenburg hoffähig, einschließlich Schwarz-Rot-Gold, das jetzt überall mit Hindenburg zusammen als seine persönliche Standartenfarbe erscheinen wird. Etwas von Verehrung für ihn wird darauf abfärben.«271 Kessler verfügte über Gespür für die taktische Dimension der Politik: »Ganz unbegründet waren solche Hoffnun-

268 269 270 271

Zit. nach Klaus Westermann in II. 1026. Zit. nach Sturm 2012, S. 46. Büttner 2010, S. 566. Zit. nach Winkler 2014, S. 460.

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Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich

gen nicht.« (H.A.Winkler)272 In gewissem Sinne wurde Hindenburg kraft Verfassungstreue ein »Vernunftrepublikaner«, wie es sogar Stresemann selbst geworden war. Wir werden sehen, dass Roth seine ambivalente Haltung zu Autoritäten in das paradoxe Bild von Mächten goss, die das Charisma einer unbegrenzten Lenkung besitzen, doch nie wirklich Gewalt ausüben, nie auf wirkliche Einhaltung von Regel und Gesetz dringen, nie strafen, allenfalls einmal gutmütig drohen, immer bewahren, nicht vernichten – und keine eigenverantwortliche, stabile Ich-Identität verlangen. Darin musste Hindenburg, die verfassungstreue, überpersönliche Versöhnerfigur Roth ›enttäuschen‹ – wie ihn jede lebende Führerfigur enttäuscht hätte. Mit Militarismus hatte die Wahl so wenig zu tun wie Roths Halluzinationen des Kriegsherrn Franz Joseph II., allenfalls sekundär: »Er galt als Mann, der die Einheit der Nation und den Dienst an der Nation verkörperte. Hindenburg stand für preußische Tugenden und Disziplin. Der Protestant Hindenburg war selbst bei katholischen Wählern im Süden Deutschlands beliebt, sein Wählerpotenzial reichte weit über das rechtskonservative Spektrum hinaus.«273 Der habsburgische Kaiser gab sich väterlich weise, friedlich, gemütvoll, langsam, die eigenen Kriegsverwicklungen, Unterdrückung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und Rückständigkeit der staatlichen Institutionen verdrängend. Hindenburg verkörperte dagegen ostentativ Korpsgeist, teutonischen Willen zur Pflicht, zu Disziplin und Aufopferung, den Kult des Technischen und Industriellen und nicht zuletzt männlicher 272

273

Ähnliche Einschätzung bei Büttner 2010, S. 566: »Aber die Berufung des kaiserlichen Feldmarschalls an die Spitze der Republik barg auch eine Chance. Sie konnte andere Konservative veranlassen, ihren Frieden mit dem neuen Staat zu machen. Wenn der erklärte Monarchist die Wahrung der republikanischen Verfassung beschwor, durften auch sie sich zu ›Vernunftrepublikanern‹ wandeln.« Wolfram Pyta. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 31. Pyta ist Autor der maßgeblichen Biographie Hindenburgs: Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. München 2007.

7 Hindenburg und die Ambivalenz in der Sehnsucht nach behütenden Figuren

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Dominanz. Es war vor allem eine Frage des Stils; ihr gegenüber blieb die demokratische Verfassungstreue Hindenburgs und die Verhinderung aller demokratischen Emanzipation durch die Habsburger vor 1914 irrelevant. Die Breite, in der man sich insbesondere zu Beginn und am Ende der Weimarer Republik nach Autoritäts- und Führerfiguren wie umgekehrt nach Einigung des Volkes (»Volksgemeinschaft«274), neuen Gemeinschaftsgefühlen und neuen (bzw. restaurierten) Heilsperspektiven sehnte, dürfte nicht zuletzt auch eine Reaktion auf die Instabilität der Regierungen der Weimarer Republik, der Ökonomie275, des Inneren Friedens gewesen sein, und vor allem eine Reaktion auf das verbreitete Gefühl, sich wirtschaftlich, sozial, ethisch, der Lebensgestaltung nach ganz neu orientieren zu müssen276. Diese existenziellen Verunsicherungen musste ein Joseph Roth mit seinen stets prekären, in dauernden Krisen lebbaren intimen Bindungen und seiner Abwehr von stabiler Identität in gesteigertem Maße durchleben. Daher haben ihn die epochalen Gewinne offenbar nicht interessiert: Die nahezu uneingeschränkte Garantie der Menschenrechte, Egalität und Freiheit der Meinung, der sexuellen Orientierung und des religiösen Bekenntnisses – und nicht zuletzt die bis heute vorbildlich gebliebenen sozialstaatlichen Innovationen der Republik (insbesondere die Arbeitslosenversicherung, der großzügige soziale Wohnungsbau, auch die Unterstützungsleistungen für Kriegsversehrte u.a.277). Und noch weniger 274

275

276 277

Sehnsucht nach Gemeinschaft war eine epochenbestimmende, in den Jugendbewegungen (vgl. z.B. Gunther Latsch. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 132) ebenso wie in politischen Verbänden, Vereinen, Bewegungen. Das Wirtschaftswachstum war ungleichmäßig verteilt, die unternehmerische Konzentration nahm zu, Rationalisierungen erzeugten Arbeitslosigkeit, die Landwirtschaft war unrentabel geworden, die Auslandsverschuldung gigantisch, die lockere Kreditvergabe und zunehmende Spekulation mit Wertpapieren erzeugte Blasen u.a., vgl. Sturm 2012, S. 38f. Eva-Maria Schnurr, Visionen einer besseren Zukunft. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 17–25, hier S. 19. Instruktive Übersicht bei Sturm 2012, S. 44.

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das (für mehrere Jahre) befriedete Verhältnis starker Gewerkschaften und Arbeitgeber, die Rückkehr in den friedlichen Bund souveräner Nationen. All diese epochalen Leistungen der Weimarer Republik konnten die tiefe Verunsicherung am Ende nicht mehr kompensieren. Und sehr oft antwortete die deutsche Seele auf die neue Unübersichtlichkeit, Anfälligkeit und Ungewissheit mit einer Sehnsucht nach einer innerlich erfüllten »Volksgemeinschaft«278, um urbane Vereinzelung, forcierte Industrialisierung, Pluralisierung, Säkularisierung des Staates, Rationalisierung, Massenproduktion und Massenkultur gleichsam aufzufangen und zu kompensieren in einem überwölbenden, sinnstiftenden Ganzen. Roths Halluzinationen des Habsburgischen und vielleicht sogar seine Tagträume von den Ostjuden im Schtetl kann man über die zu Tage liegende, individuelle psychologische Konfliktlage hinaus vermutlich als (entfernte) Verwandte dieser verbreiteten Sehnsüchte nach gemeinschaftlicher Verbundenheit verstehen. Und es ist sehr gut denk-, wiewohl nicht beweisbar, dass diese hektische Beschleunigung das Grundgefühl des Weg- und Umbrechens und die vielen Gleichzeitigkeiten von Ungleichzeitigem in der Weimarer Zeit ihren Anteil daran hatten, dass Roth Mitte der 1920er Jahre ›ausstieg‹ und sich gleichsam verpuppte in eine postfeuilletonistische, teilweise neoimpressionistische (vielleicht sogar lebensphilosophische) Poetologie der flüchtigen, subjektiven Erlebensfragmente im Schreiben – welche er nun weltanschaulich auflud und als adäquate Antwort auf die (angebliche) Dominanz von Begriffen, Abstraktionen, Systemen, Planungen gegenüber der Unplanbarkeit und (angeblichen) Systemlosigkeit des (schreibenden) Erlebens verstanden wissen wollte. Es war eine Poetik des stolzen Rückzuges und der Hyperkompensation im Modus des ästhetisierenden Spiels: Ihr ist Resignation eingeschrieben, auch Überforderung, angstdiktierte Abwehrreflexe und Intellektfeindschaft spielten hinein. 278

Vgl. Wolfram Pyta. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 30.

8 Das Flucht- und Wendejahr 1925 im Spiegel der Literatur

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8 Das Flucht- und Wendejahr 1925 im Spiegel der Literatur Betrachtet man das alles dominierende Zentrum des Rothschen Lebens, das Schreiben, und hier insonders das erzählende, erscheinen Roths Desorientierungen in den mittleren 1920er Jahren in einem anderen Licht. Er fand in diesen Umbruchsjahren keinen Ton und keine Konstruktionsidee, die sein Bestreben, das Ordnungs- und Bindungsdilemma zu bannen oder analytisch zu zergliedern, mit dem Drang nach poetischer Überformung desselben einen konnten. Ein kurzes, höchst zweifelhaftes und unebenes Fünfzigseitenstück (»Der blinde Spiegel«) ließ er mit dem Untertitel »Ein kleiner Roman« in bibliophiler Aufmachung drucken, ›Jean-Paul-Satz‹, verzierte Majuskeln, wohlfeil dekorierter Einband. Der Ehrgeiz nötigte dem Dichter in diesem Jahre 1925 Drucksachen ab, die er sich in besonnenen Stunden nicht hätte durchgehen lassen (dürfen). Fleischlos geistern die Figuren durch diese Seiten, ihr Innenleben klappert mechanisch und gibt stellenweise ordinäre Geräusche von sich – auffälligerweise wiederum besonders dort, wo es um Emotionen und das Geschlechterverhältnis geht: »In Fini lebte er als der große, starke Mann, der sie in die Arme nahm«. Die Peinlichkeit wird vermehrt durch den Einfaltston, der das Hegen vulgärer Geschlechterklischees der schein-naiven Perspektive eines Mädchens zuschreibt. Peinlich rühren Merksätze dieser Art an: »Frauen vermuten Vollkommenheiten oder Größe hinter männlicher Häßlichkeit«. Häufig ist die Registrierung der Tonlage unsicher. Die Labilität der Intonation zeigt sich etwa in unmotivierten Ausbrüchen banaler Lyrismen – hier noch nicht, wie später so häufig, als papierne Klischees ironisch präsentiert, sondern einfach verwendet: »Das blasse Grün der Bäume und Wiesen breitete sich aus über Kinderwagen, Steinen und Bäumen«, lexemische Preziosen (»eine sehr grünende Welt«), und in verirrten lyrischen Spätgeburten des Expressionismus (»und die Frucht wölbte sich wie ein niederes Joch über zitterndem Nacken«). Es ist schwer zu übersehen: Roth havariert. Er verfügt über

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Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich

kein Konzept, wie er die Klischees des Ausdrucks, des Verhaltens, der Geschlechter, zu denen er zeitlebens neigte, in einen von ihm ganz offenbar angestrebten Einfaltston einbinden kann. Roth konnte zwar satirische, groteske und artifiziell infantilisierende Elemente, die zu seinem Repertoire im Feuilleton gehörten, ins Erzählen übertragen, jedoch noch nicht die Klischees, Sprechretorten und -gesten wie später Richtung Selbstparodie und Selbstironie einfärben, ohne diese Retorten oder den Darstellungsmodus gänzlich aufzulösen in Ironie. Bloßer Zeitnot kann man die Defizienzen dieses Kurzromans nicht anlasten; ein Text, der so aufwendig als Buch gedruckt wurde, sollte vom Autor intensiver überarbeitet worden sein als ein dem Tagesgebrauch zugedachter Zeitungsartikel. Es muss sich viel eher um Symptome einer Umbruchszeit auch im Schreiben handeln, als ob Roth sich nun, da er davon träumte, ganz als Romancier leben zu können (bzw. zu dürfen), seiner Mittel und Möglichkeiten noch einmal neu versichern musste. Was den Stoff angeht, begann er tatsächlich noch einmal von neuem279. Die epische Welt schrumpft auf ein Minimum zusammen: Roth bearbeitet nun das Dilemma von Bindung, Ordnung und Identität im kleinsten Maßstab, in Planspielen privater und insbesondere erotischer Bindungen280. Es scheint, als widme er sich in diesen 279

280

Das ist kein Widerspruch zur These des Fünften Teiles, Roths reifes Erzählwerk beginne mit dem Roman »Die Rebellion« von 1924. Roth fing 1925ff trotzdem noch einmal von vorne an – die reifen Romane greifen in Konstruktion und Tonfall durchaus Elemente wieder auf, die bereits im missratenen Versuch »Rebellion« erprobt worden waren. Erst der reife Roth erkennt, könnte man vielleicht sagen, die tiefere Reichweite von zuvor gefundenen Notlösungen. Die Tagebuchnotizen der Russlandreise, die Roth bald antreten wird, von Klaus Westermann in Band II der Werkausgabe publiziert, sind unter anderem ein Protokoll der im alten Wortsinne verstandenen »hysterisch« ambivalenten Beziehung zu Friedl. Sie geben einen direkten, beinahe obszön offenen Einblick in die privaten Mechanismen: Während der räumlichen Trennung von ihr fängt Roth zu schwärmen an, er reise überhaupt nur, »um Friedl etwas geben

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Jahren des äußeren Umbruchs direkt dem Ursprung seiner seelischen Dynamik und damit dem seines schöpferischen Drangs. So auch in der vorhergehenden, ebenfalls im Berliner Dietz Verlag selbstständig als Buch publizierten, noch kürzeren Erzählung »April« (IV. 333–351). Deren Rezeptur ist denkbar geläufig: Man nehme einen Jüngling, der »liebt ein Mädchen,/ Die hat einen andern erwählt;/ Der andre liebt eine andre,/ Und hat sich mit dieser vermählt«. Nur dass da, zum Unterschied von dieser ›alten Geschichte‹ Heinrich Heines noch ein Mädchen ist, dem es nicht besser geht. Liebesschwüre fallen programmgemäß, allerdings nur dann, wenn einem aufgeht, dass der andere einem nichts bedeutet, ja nichts ›ist‹! Dann und nur dann ist der Weg frei für die Leidenschaft, denn so zeigt sich entlastend, wie schön vorläufig und ungefährlich die Bindung ist. Die Klimax seiner kopfgestellten Begierden, so lässt uns der Held wissen, erreiche er, »seitdem ich wußte, daß sie bald tot sein würde, [denn nun] fühlte ich mich sicher in meiner Macht über sie« (IV. 347). Das ist einesteils ein erschütterndes Beispiel von Wiederkehr archaischer Ängste und Praktiken, andererseits eine direkte Projektion hysterischer Ambivalenzen und mit ihnen verbundener Männerängste. Roths Leben wird (was mehrfach der Fall war) mit Zeitverzögerung von der Literatur eingeholt: Ganz ähnliche ›Liebes‹-Phantasien wird er hegen, als seine Gemahlin Friedl von psychotischen Schüben eingeholt, gleichsam geistig gestorben war, wie im Einleitenden Teil erwähnt. (Näheres s.u., Vierter Teil.) Worauf Roth in diesen privaten Krisenjahren zurückgeht, ist die Struktur hysterisch ambivalenter Bindungen selbst: Diese entwickeln sich nicht, sie stürzen um, von Euphorie in Krisen, Symbiose zu Fremdheit und Leere. Weil es keine Mitte, keine Abstufungen der zu können« (was nachweislich falsch ist). Er verfällt in Apathie wegen der Trennung von Friedl, sodass Russland, kaum ist er dort, kaum noch interessiert. Und dann entdeckt er seine Liebe: »Es ist so leicht, leidenschaftlich zu lieben, der Gegenstand meiner Liebe muß mir nur Schmerz bereiten« (II. 1011).

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Einbindung gibt, kann es keinen (willentlich zu beeinflussenden) Prozess von Annäherung, Ausgleich im Austausch geben. Roths Helden der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zieht es oft hinaus aus behaglich engen Provinzen – zu »großen Häfen« etwa und »einer großen Stadt, es war vielleicht New York« (IV. 349f). Der Punkt des Umschlagens von erstickender Bindung in Fremdheit wird von Roth häufig als Erwachen konstruiert: »Als ich wach war, wunderte ich mich, daß ich eigentlich nicht mehr Teil der Stadt war, sondern gänzlich losgelöst von ihr und lächerlicher Bewohner eines lächerlichen Städtchens« (IV. 350). Der Held versucht daraufhin »den Schmerz zu begraben. Ich begrub ihn unter einem Wall von Grausamkeit« (ebd.). Grausamkeit gegen die allzu reale und zugleich schon verlorene (oder fremdgewordene) Ordnung folgt dem Erwachen wie ein Reflex, 1924 als »Rebellion« gegen die staatlich-metaphysische Ordnung, 1925 gegen intime Bindungen. Das dürfte eine zentrale, schmerzliche Entdeckung Roths im Krisenjahr gewesen sein: Der zweipolige Konflikt mit Ordnung, Bindung und Identität, dem Roth ebenso wie seine Geschöpfe in der Welt von Geschichte, Religion und Politik nicht Herr wurde, spielt sich in privaten Bindungen strukturidentisch ab. Man könnte es formelhaft »Strukturgleichheit von privaten (intimen) und institutionellen (bzw. sozialen) Ordnungs- und Bindungskonflikten« nennen. Der Versuch, sich in Leben und Literatur vor der Ambivalenz aus dem Historischen in das private und intime Nahumfeld zu retten, war dementsprechend von kurzer Dauer. Roths Konsequenz spricht für sich: Er geht nun auf Jahre hinaus ohne Rast und Ruh auf Reisen, hastet von Hotel zu Hotel, von einem Notanker zum nächsten. Und vor allem: Sein nächster Roman (der diesen Namen verdient) kreist um einen Helden, der mit Ambivalenz doppelt geschlagen ist – privat und im Verhältnis zur sozialen Ordnung. Roth nennt das Werk konsequenterweise »Flucht ohne Ende« (s.u., Fünfter Teil). Kehrseite dieses Totalwerdens der Ambivalenz ist die Verdammung der

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modernen Zivilisation überhaupt, paradigmatisch in Deutschland (und in zweiter Linie wohl in den USA) verkörpert. Einmal jedoch in diesen so mit sich und der Konfliktdynamik ihres Schöpfers hadernden Produkten der Jahre um 1925 wird das Unmögliche Wirklichkeit. Einmal in dieser Welt umspringender Bindungspole und vexierender Ordnungen ließ Roth zwei zusammenkommen und nicht gleich wieder davonstürzen. Das ist eine überraschende Alchemie in seiner Welt, die eigentlich nur Willkommen, Abschied und wenig dazwischen kennt. Die adoleszent mimosenhafte Heldin der Erzählung »Der blinde Spiegel« lockt es von ihrer ersten, vielsprechenden, aber eben, kaum begonnen, schon wieder erkalteten Bindung fort. Auch sie will sogleich nach der Bindung schon wieder hinaus, ins Freie, Ferne, Fremde und Andere. Zu einem ungebärdigen Tiermann und flachen Schmeichler zieht es sie, denn der ist vor allem eines – fremd in dieser Welt (vgl. IV. 378). Fremdheit zieht sie aus der allzu sicheren Bahn, doch als sie sich jener hoffnungsbebend anheimgibt, schlägt alles um und zwar – wie so oft bei Roth – buchstäblich über Nacht und in bedenklich sentimentalem Lyrismus beschworen: »Verrauscht war die süße Musik des Unbekannten« (IV. 381). Die kleine Fini geht zu Bett mit einem brünftigen Tiermann und erwacht neben einem Spießer, einem schwächlichen kleinen Pläneschmied ohne Zukunft, einem unversehens (wie ähnlich Andreas Pum, Held der »Rebellion«, s.u.) vergreisten, asthmatischen, kahlköpfigen (Roth lässt wirklich nichts aus), schwatzseligen Lethargiker. Der Allzufremde und Animalische wird allzugewöhnlich und damit, bevor er ganz da ist, wieder fremd (vgl. IV. 381). Dahin ist die Sirenenmusik der schönen Fremde und zurückbleibt – gemäß den strengen Gesetzen der Ambivalenz – die nackte Fremde im Hier und Jetzt. Zwischen der lockenden, Ich-Grenzen zersetzenden, das real Gegenwärtige negierenden Ferne und dem allzu Gewohnten gibt es keine Mitte. Fini, die Kleine mit dem unaufhörlichen Staunen über die »Wunder« der Welt, hüllt sich ein in den Kokon aus grüblerischem Nar-

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zissmus, in den fast jeder Held bei Roth früher oder später gerät: »Fremd ging Fini an den großen Ereignissen vorbei, klein und fremd. Zu gewichtig sind für uns [!] die Sorgen der großen Welt« (IV. 383). Das müde Restchen Leben, das ihr geblieben, reicht für den Autor noch eben aus, sie ihrer Bestimmung zuzuführen, in die Arme der ihr einzig möglichen stabilen Bindung. Das ist eine, die zugleich da ist und nicht da, eine, von der man nicht weiß, ist sie real oder Hirngespinst, eine, die die Sehnsucht nach Fremde mit der höchsten Sicherheit vermählt, ohne beide zu vermitteln. Fini findet ihre Bestimmung in den Armen des politischen Agitators Rabold, von dem alle wussten, »daß er verfolgt ist und unter fremdem Namen lebt, von Stadt zu Stadt fahrend. Diener einer gestrengen Gewalt und entfernt dem Getriebe dieses Lebens« (IV. 384). In der Person Rabolds ist die ›gestrenge Gewalt‹ verheißungsvoll anwesend und doch nicht bedrohlich real – eine Variante des Rothschen, ebenso grotesken wie beharrlichen Tagtraums von der allgewaltigen, hierarchischen Ordnung: Rabold beerbt Lohse und Lenz. Rabold verkörpert einen wie auch immer satirisch überzeichneten Prototyp in Roths psychischem Haushalt: Er ist kein Teil der konventionell regulierten Welt: Er verweigert, obgleich (in Roths innere Sprache übersetzt, müsste es heißen: weil) er von dem einen, wahren und guten Leben kündet, ein verantwortliches, berechenbar eingebundenes Ich hier und jetzt. Daher erfüllen sich Finis ambivalente Sehnsüchte, Grenzen und Autonomie des Ich auslöschend: »In ihr [sic] lebte Rabold, den sie kannte, dessen Vornamen sie nicht wußte, für den sie selbst einen Namen erfunden hatte, Rabold, […] der zu ihr kam, glühend und fremd, immer neu in tausend Gestalten, ein Gott zum irdischen Weibe«. Nicht leiblich, sondern in ihren jungmädchenhaft enthusiasmierten Tagträumen, die ihr zur eigentlichen Realität werden, findet Fini ihre Erfüllung (vgl. IV. 385). Man wird daran erinnert, dass Träume nach klassisch Wienerischer Seelenkunde der Ort sind, wo sich Ambivalenz ungestraft ausbreiten darf. Die satirische Überzeichnung der Geschlechterklischees wirkt demgegenüber wie bloßer Firnis und als

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Ausdruck eines Versuchs, sich durch böse Schärfe von eigenen Affekten zu trennen. Roth verfällt in wiederum grotesk überzeichnete und nicht gänzlich unernste, pathetische Figuren aus zweiter und dritter Hand, um Finis ambivalente Träume nicht als pathologische Sackgasse, sondern als Verheißung oder Erfüllung erscheinen zu lassen: Er gleicht sie den Phantasmagorien der wahren Mystiker, der wahren Erotiker im Angesicht eines wirklichen Gottes an. (Manchmal klingt es beinahe wie ein Echo von Meister Eckharts ›Tod im Leben‹.) Roth transponiert die Vorstellung einer Wiedergeburt im Leben durch Hingabe an den Erlöser in die kleine Welt der Fini: »Gestillt war die wühlende Unrast, erstickt jeder Wunsch, gestorben [sic] war Fini, die unselige, und selig auferstanden in Rabolds Welt«. Diese Welt ›gestrenger Gewalt‹ ist real angesichts der ich-losen Unterwerfung unter die autoritäre Verfügungskraft Rabolds und zugleich bloßes Phantasma (IV. 385), wie es nur Persönlichkeiten mit gravierenden Defiziten hervorbringen können. Natürlich geht Fini an ihrer Schwärmerei aus Not zugrunde. Der leibliche Tod vollzieht am Ende nur nach, was innerlich längst entschieden war. Der Suizid ist die höchste und zugleich natürliche Erfüllung einer Konstitution, die im Modus der traurigen Farce vielleicht gar Erinnerungen an Jeanne dʼArc, an Therese von Avila oder Simone Weil erwecken soll. Fini ist, so gesehen, in kleinem, satirischem Format ein Stück ›andere Moderne‹, eine späte Anekdote zum Thema »Mythologie der entgötterten Welt«: Das hochgespannte (oder eben: »hysterische«) Sehnen über alle körperliche Realität hinweg ist stark wie nie zuvor, doch der Himmel ist leer. Synthetische Götter, kopfgeborene Gespenster und irrlichternde Dämonen bevölkern – frei nach einem Novalis-Wort281 – unsere verlassenen Altäre, und Finis Angebeteter ist ein Diener solcher lichtscheuen Herrschaften einer teuflischen (oder teuflisch ambivalenten) Ersatzreligion. 281

Vgl. Karl S. Guthke, Die Mythologie der entgötterten Welt, Göttingen 1971, S. 15f.

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Finis Abtötung von Leib und diesseitiger Individualität folgt keine Auferstehung im Zeichen höherer Glaubensgewissheit, sondern die willenlose Dreingabe an einen Herrn der ›gestrengen Gewalt‹. Welcher Art diese Gewalt ist, scheint Fini kaum zu interessieren: Das Erlösungsbegehren ist vom pathologischen Fall nicht mehr zu unterscheiden. Finis mystisches Überschreiten holt nicht den Glauben in die Welt zurück, sondern nur dessen Unterwerfungsgesten, die masochistische Lust an der Preisgabe von Selbstbestimmung. Das kommende Weltsystem, dem Rabold sich und andere opfert, ist eine gesichts- und attributlose »gestrenge Gewalt«; bedeutsam sind allein Absolutheit, Eindeutigkeit, Unbedingtheit, nicht ihre konkreten Inhalte und normativen Ziele oder Legitimationen. Die Aura absoluter und charismatischer Ordnungskraft oder auch eines Willens zur absoluten Ordnung, die keine Freiheit anderer duldet, keinen Widerspruch, keine Frage nach Legitimation, ist der Quell der Mobilisierung von Sehnsüchten nach Ein-Bindung, Schutz, Ordnung, Sinn. (Jede so geartete Ordnung, wäre sie real, hätte Roth andererseits natürlich in die Flucht getrieben.) Joseph Roth war noch weit entfernt vom neo-oralen Parlando-Ton der reiferen Erzählwerke. Doch er machte offenbar spätestens in diesen Monaten eine kardinale, erschreckende Erfahrung, die ihn nicht mehr loslassen wird: Ethischer Sinn und Gehalt einer absoluten, autokratischen Ordnung, der das verzehrende Sehnen nach Aufgehobensein gilt, sind annähernd irrelevant (oder können es sein); entscheidend ist lediglich, dass sie absolut und autokratisch sind. Nur dann könne, fantasieren seine Figuren, es ein neues, erfülltes Gebunden- und Aufgehobensein in dieser Welt geben. Roth entdeckte, dass Bedürfnisse nach Heilung und Enthebung von der Last der Selbstbestimmung und Eigenverantwortung freiwillige Unterwerfung unter eine solche charismatisch-autoritative Ordnung hervorbringt. Die Erscheinungsform dieser Ordnung ist eine, die pathetisch und gewaltbereit gegen die bloße, gegenwärtige, unübersichtliche Welt gestellt wird. Sie tritt auf als Mission für höhere

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Werte – ihrer inneren Wahrheit nach ist sie wertfrei rach- und herrschsüchtig, nihilistisch, wertzersetzend, dem bunten Spiel der Individualitäten und Unübersichtlichkeiten erbittert verfeindet. In dieser Hinsicht spielt sich das Drama des »Spinnenetz« in diesen Erzählungen der Krisenjahre noch einmal ab, jedoch als groteske Tragödie der intimen Bindungssehnsucht. Versteht man Fini als Modellfall, in dem Roth grundlegende Konflikte hinsichtlich der Relation von Ich und Bindung, Begehren und Selbstwerdung durchspielt, müsste man von der Unmöglichkeit sprechen, persönliche Bindungen einzugehen, die nicht Selbstpreisgabe aus Entgrenzungsschwärmerei oder masochistische Unterwerfung bedeutet – und ebenso wenig kaltes, unpersönliches Machtbegehren (personifiziert in Rabold, aber auch verkörpert in Wunschphantasien, das Begehren gegenüber der Frau werde entfesselt erst im Augenblick von deren Ohnmacht oder sogar Tod, s.o.). Eine andere Form begehrter Bindung setzte voraus, dass der Begehrte, von dem der oder die Begehrende hofft, er möge ihn oder sie verwandeln bzw. erst zum wahren Selbst erheben, nicht zunächst abstrus überhöht und idealisiert wird, um dann unversehens Entwertung zu erfahren – was im Falle Finis wohl nicht nur ein Umkippen von Projektionen der Frau bedeutet, sondern im Mann selbst angelegt sein dürfte. Fini ist natürlich keine mechanische Projektion eigener Bindungsstrukturen des Autors. Sie wie auch der Konterpart Rabold ist eher Veräußerung, in der innere Konfliktenergien oder psychische Tendenzen bewusst bis an die Grenze der Karikatur oder Groteske getrieben wurden, einerseits, um ihr Profil schärfer sehen zu können, vielleicht auch, um die roh psychologische Konstruktion zu kaschieren, andererseits, um etwaige (Kurz-)Schlüsse der Leser zurück auf die Psychoökonomie des Autor selbst abzuwehren. Wenn man den Fall Fini als karikaturhaft verschärfte Veräußerung von Ich-Potentialen Roths versteht, wäre der Fall Roth klinisch gesehen vermutlich recht eindeutig: Früher dürfte man derlei Bindungsstruktur hysterisch genannt haben, heute verwendete man wohl

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eher das ebenso hässliche wie stigmatisierende Wort »Borderline« (oder »Instabile Persönlichkeitsstörung«) für dieses prekär ambivalente Verhältnis von Selbst, Bindung und Begehren, das IchWerdungs-Sehnsucht und Selbstauslöschung paradox ineinander umschlagen lässt. Dass diese Art Bindung in Gestalten eines Narzissten wie auch der Co-Abhängigen auftreten, dürfte heute eine weitgehend akzeptierte therapeutische Erfahrung darstellen. Der junge Erzähler Roth ließ dabei bewusst offen, ob die buchstäblich über Nacht umbrechende Selbstheit oder Ich-Identität des Mannes nur im Blick Finis existierte oder in irgendeinem Sinne »real« war. Wie immer man diese Symptomatik beschreiben und klassifizieren mag: Literarisch stellt sich der Umbruch in Roths Leben und damit der Beginn oder zumindest das Manifestwerden seiner persönlichen »Flucht ohne Ende« dar als ein Abfallen der politischen, kulturellen und religiösen Maskierungen des (schreibend bearbeiteten) Ambivalenzdramas um Bindungssehnsucht und -panik, um Einordnung und Fixierungsangst, sowie über das Umschlagen von radikaler Macht in Begehren, Ohnmacht und Verklärung. Roth versuchte offenbar in dieser Krisenzeit, der Ambivalenz gleichsam ins Antlitz zu schauen. Psychologisch dürfte das ein Fortschritt auf dem Weg zu klarerer Einsicht gewesen sein – wobei auffällt, dass Roth in den Erzählwerken der Krisenjahre nur Frauenseelen nackt psychologisch, oft drastisch pathologisierend, analysiert, während männliche Figuren, die kaum weniger ambivalent, »hysterisch« oder narzisstisch sind, nicht auf diese Weise entblößt werden. Was Roth in dieser schreibend übertreibenden Psychenspiegelung entdeckt haben dürfte, war, dass es hier und jetzt, im raum-zeitlichen Kontinuum und in der Sphäre des selbstbestimmten Handelns, keinen Ort gibt, wo das brennende Sehnen nach totaler Bindung an eine übermächtige Instanz ein lebensfähiges, zuträgliches Objekt finden könnte – würde es gefunden werden, käme das der Vernichtung des Ich (oder zumindest seiner weiblichen Variante) gleich. Der Erzähler lässt Fini konsequenterweise mitleidlos, fast sarkastisch

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und seltsam unsicher wie grob in der emotionalen Kolorierung zugrunde gehen. Und er lässt Rabold ein Opfer seiner Herrschsucht sein, die vom umgekehrten Extrem her sinnerfüllende, individualisierende Bindung verunmöglicht. 1929 hat Roth im bereits zitierten »Selbstverriss« (III. 130–32) von seiner Ablehnung einer »konsequenten Psychologie« gesprochen. Gemeint ist wohl eher eine stabile, berechenbare, kontinuierlich sich entwickelnde personale Identität. Öffentlich projizierte er den Grund für die Instabilität seiner Figuren die Außenwelt, indem er grob kulturpessimistisch behauptete, seine Figuren seien nur Gefäße der »Substanzlosigkeit unserer Zeitgenossen« (III. 132). Was er erzählend schaffe, seien also nicht Emanationen des Eigenen, vielmehr wolle er ein Autor sein, der »dem Menschen der Gegenwart sein eigenes Bild vorgehalten« habe (ebd.). Seine Erzählungen selbst wissen das besser. Abgesehen davon, dass es schmeichelhafter klingt, wenn man Subjektives als Spiegel des Ganzen ausgibt, kann man auch diese Projektion womöglich mit der Rolle des Schreibens erklären: Die Illusion, im Schreiben als Erzähler Souveränität über Stoff, Werte, Ordnungen, Identitäten zu besitzen, kann dazu führen, dass die Diskontinuitäten, Umbrüche, Grenzverluste und Ordnungswechsel wie von außen kommend erfahren werden, ohne dass es einen Kern des eigenen Ich berührt – des schreibenden Ich. Auch hier spielen wieder Retorten der Kulturkritik und der Selbstinterpretation des Kulturintellektuellen hinein: Dass alle Personen der Gegenwart gleichsam entkernt seien, war unter Intellektuellen der um 1900 geborenen Generation eine recht beliebte Lehnstuhl-Kulturverfalls-Diagnose, deren Substanz zu erheblichen Teilen aus übler Laune, Desorientierung durch steigende Komplexität und Beschleunigung, Verachtung der Massen sowie der Bürger in Verwaltung und Wirtschaft bestand. Friedrich Sieburg, fast gleichen Alters wie Joseph Roth, seit 1923 sein Kollege bei der »Frankfurter Zeitung«, seit 1926 sein Konkurrent als Pariser Korrespondent282, klagte ebenfalls noch 282

Vgl. Bronsen 1974, S. 278f.

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nach dem Zweiten Weltkrieg, es »weht uns aus unserer Epoche eine Leere an, von der wir nicht wissen, ob sie auf den Zustand der Welt oder auf unsere innere Situation zurückgeführt werden muß«283. Das Wort »Stress« wurde erst in den 1950er Jahren zum gerne gebrauchten Begriff der Krisendiskurse – in den 1920er Jahren nannte man es nicht so, meinte aber dasselbe Phänomen, wenn man Erfahrungen des raschen Wandels, der Beschleunigung, der Individualisierung, der Technisierung und Effizienzsteigerung, der Massenkultur, der Freizeit- und Konsumorientierung ins Zentrum zeitdiagnostischer Meinungskundgaben rückte. Die technisierte Welt der Großstädte lasse nur noch »Erfahrungen aus zweiter Hand« zu, formulierte Arnold Gehlen. Der Mensch werde »zum Durchgangspunkt fremder Interessen, fremder Meinungen, Tatsachen und Fiktionen«284. Die Beispiele sind Legion. Man braucht nur wenige zu kennen, um zu ahnen: Auch in dieser Hinsicht ist das, was man Joseph Roths persönliche Meinung und Wertüberzeugung zu nennen geneigt ist, ein Konglomerat flottierender Diskursmotive – doch kann das Modell der Ordnungs-Ambivalenz in manchen Fällen erklären, weshalb Roth welche Diskurs-Topoi adaptierte. Und vor allem, weshalb er just das, was er als historischen Verfall beklagte, zugleich als Befreiung feierte. 9 Exkurs: Ernst Krenek Kombination von »Sozialismus«, Kulturaristokratismus und Habsburgischem Mythos – ein Parallelfall?285 Ernst Josef Krenek war ein Mann vom Schlage der Rothschen Romanfigur Bernheim, einer vom merkwürdig pazifistischen Offizierstyp, wie es ihn wohl nur in der untergehenden Habsburger Mon283 284 285

Friedrich Sieburg, Die Langeweile als Lebensstil. In: Die Gegenwart, Jg. 8, 1953, S. 270–2 (Zitat S. 270). Zit. nach Schildt 1999, S. 158. Zit. nach Schildt 1999 S. 159. Weiter ausgeführt finden sich die meisten Themen dieses Abschnittes in: Kiefer 2000.

9 Exkurs: Ernst Krenek

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archie geben konnte. Ernst Josefs Mutter, Witwe eines Feldwebels, wurde von »der väterlichen Fürsorge des Staates, verkörpert in der patriarchalischen Gestalt des backenbärtigen Kaisers«286, vor der bitteren Armut errettet durch eine »Tabaktrafik«, die staatliche Lizenz zum Vertrieb von Tabakwaren. Das kaiserlich und königliche Konzessionspapier bewahrte auch den Sohn vor dem sozialen Abstieg: Der nutzte sein Anrecht auf eine militärische Laufbahn und trat nach ein paar Jahren Realschulbildung in die Prager Kadettenschule ein. Zeitlebens litt er unter Drill und sinnleeren soldatischen Ritualen, nicht weniger unter dem Verkümmern seiner früh sich bemerkbar machenden Neigung zu schöngeistigen Dingen. Seine Ursprünge im kleinen, wiewohl liberalen tschechischen Bürgertum wollte er nicht verleugnen, doch ebenso wenig seine Anhänglichkeit an das habsburgische Haus, und so wurde er etwas, das es in der Moderne so rein vielleicht nur in der Abenddämmerung des k.u.k.-Reiches geben konnte – ein Musteruntertan im Offiziersrang, der seinen Kaiser und mindestens ebenso seine Uniform liebte287, doch den Krieg verabscheute; ein Militär, dem der Rang eine empfindliche Standesehre verlieh, der hingegen das eigentlich Militärische, Gewalttätige, Kriegstreiberische verachtete und daher alles dafür tat, seinem Sohn den Kriegsdienst zu ersparen288. Er war zumindest im Rückblick seines ebenfalls literarisch ambitionierten, bei Karl Kraus in die Lehre gegangenen Sohnes, ein leibhaftiges Mitglied jener Familie der Idealoffiziere, die in künstlerischen Imaginationen Ferdinand von Saar, Rilkes, Doderers und eben Joseph Roths faszinierten. Das hehre Ideal hatte dabei einen eher profanen Hintergrund: Formell war die österreichische Armee staatstragend und unmittelbar dem Monarchen als obersten Feldherrn unterstellt. Sie stand damit als sichtbarster Rest vom Traum eines katholisch befriedeten europäischen Reiches. De facto allerdings – besonnene Geister wie Ernst 286 287 288

Krenek 1998, S. 15. Vgl. ebd., S. 43f. Krenek 1998, S. 131.

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Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich

Josef Krenek wussten darum – war das habsburgische Heer ein militärisch subalterner Faktor in Europa, und wenn die Armee gekonnt hätte, wie sie sollte, hätte sie alle Freiheits- und Modernisierungsbestrebungen der unterjochten Völker so brutal wie möglich unterdrückt. Aus der Unterlegenheit der materiellen Schlagkraft wurde eine – eingebildete – sittliche Überlegenheit der Militärführung; aus dem Instrument der Unterdrückung im Namen des Reichsgedankens eine im Grunde friedliebende Statthaltung der einen, wahren europäischen Tradition. Ähnliche kulturelle Kompensationsideologien sind aus anderen, militärisch unterlegenen Völkern und Armeen bekannt, auch und gerade der Deutschen nach beiden Weltkriegen. Die USA liebte man dann als eine lediglich technisch überlegene, kulturell jedoch barbarische Zivilisation zu bezeichnen. Für Ernst Josef Krenek verpflichtete dieses zwielichtige Ethos des Offiziers ähnlich wie zuzeiten wohl noch für Joseph Roth zu einem paternalistischen Mitempfinden für den einfachen Zivilisten, für ›das Volk‹. Gewissenspflicht der Mächtigen sollte es sein, Elend und unwürdige Lebensumstände des einfachen Mannes zu beseitigen, doch dürfe dies niemals bedeuten, die Masse zum Lenker der Geschicke zu machen. Volksliebe im Gefühl eigener Überlegenheit und Verachtung der unmündigen, um ihrer höheren Bestimmung unwissenden Masse vereinten sich in dieser historischen Figur, die Joseph Roths ästhetisierende Gefühle so gerne umspielte. Daher hegte Krenek senior, wie der komponierende Sohn später erinnert, auch die »übliche Einstellung des aufgeklärten liberalen Konservativen, daß Religion ein ehrwürdiger, reizvoller und vom Alter geheiligter Mythos sei und gleichzeitig Sicherheitsventil und Bremse für die Massen, die bedauerlicherweise jenen aufgeklärten Zustand, der sie befähigen würde, auch ohne Religion anständig zu leben und zu handeln, noch nicht erreicht hatten.«289 Der umhegte Sohn Ernst, das umhätschelte Musterkind, lebte nicht nur das Musische aus (was dem Vater verwehrt blieb), er sog auch dieses Österreich als eine 289

Krenek 1998, S. 44.

9 Exkurs: Ernst Krenek

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Mischung aus Monarchismus, skeptischer Volksfreundlichkeit von oben, supranationaler und zeitenthobener, gesinnungs- und geistaristokratischer »Idee« in sich auf. Je mehr die realen »Massen« der Gegenwart in den 1920er Jahren die Gefahren ihr Geschichtsmächtigkeit demonstrierten, rettete sich auch Ernst Krenek, ehedem, wie Joseph Roth, ein »sozialistischer« Neuerer, intellektuell in das luftige Gebilde eines katholischen Reichs Europa. »Wenn ich von Österreich spreche oder daran denke, meine ich zweierlei, das gegenwärtige, wie es 1918 festgelegt wurde, und die Idee des übernationalen Reiches, die eine ganz andere, historisch bedingte, theoretische Vorstellung ist. Das wirkliche Österreich ist für mich etwas unendlich Liebenswertes, Zerbrechliches, dessen Unternehmungen und Leistungen mich jedesmal erstaunen und mit Stolz erfüllen, so wie man ein krankes Kind bewundert, wenn es Suppe essen kann.«290 Auch Kreneks k.u.k. Reich war wie sein Sozialistentum eines der Gesinnung, des ästhetisierenden Habitus samt zugehöriger sozialer Distinktion, kein Modell konkreter Verfassungen, Institutionen, ökonomischer Systeme, Bürgerrechte, Entscheidungseliten und ihrer Funktionen. An die Stelle der aristokratischen partriarchalen Sorge für das einfache, zur wirklichen Selbstbestimmung noch nicht fähige Volk trat die Inszenierung einer ganz ähnlichen, patriarchalen Attitüde im Wissen um die quasi-klerikale Höhe des eigenen Daseins als Mitglied der gebildeten Kulturelite. Man kam als Künstler leicht in den Ruf, ein Revoluzzer oder Linksradikaler, in Deutschland auch oft ein »Musikbolschewist«291 zu sein; das waren Evokationsworte kultureller Fehden, die mit moralischen oder politischen Einstellungen der jeweiligen Komponisten (bzw. Interpreten) selten etwas zu tun hatten. So verhielt es auch im Falle des jungen Ernst Krenek. Ludwig Hoerth, der Regisseur seiner mit zweijähriger Verspätung an der Berliner Staatsoper unter 290 291

Krenek 1998, S. 965. Vgl. Eckhard John: Musikbolschewismus – Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918–1938, Stuttgart/Weimar 1994.

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Erich Kleiber uraufgeführten Oper »Die Zwingburg«, ließ, als das Volk auf der Bühne die Burg des unsichtbaren Tyrannen stürmte, eine gewaltige Fahne entrollen, ganz wie es Franz Werfel, der Librettist (oder, besser gesagt: Bearbeiter des Opernbuchs) vorgeschrieben hatte. Hoerth jedoch wählte aus eigenem Gutdünken die Farbe Rot für den Stoff, und so war es fortan für die rechte Presse ausgemacht, »die ›Zwingburg‹ sei wegen der roten Fahne, die ich angeblich gefordert hätte, ein kommunistisches Propagandastück, und es wurde sogar gesagt, dass die gedruckte Partitur auf dem Umschlag eine rote Fahne zeige, obgleich dieser überhaupt keine bildliche Darstellung trug.«292 Das Stück selbst allerdings war alles andere als »kommunistisch«, eher ein – mit expressionistischem Standardinventar wie dem dämonisch getriebenen Verführer in Gestalt des Leiermanns ausgestattetes – Lehrstück über das (gegenwärtige) Unvermögen der Masse, mit der ihr geschenkten Freiheit umzugehen293. Das Volk wird regiert von blinden Trieben, und so bedarf es der Lenkung – Ernst Krenek konnte sich und seinen Geist-Führer-Attitüden treubleiben. Beim Ausbruch des ersten Weltkriegs schienen ihm nicht zuerst die feinen Herren, Heerführer und gekrönten Häupter in der Hofburg und der preußischen Metropole verachtenswert, sondern die »Begeisterung […], mit der ein schwachsinniger Mob den Ausbruch des Krieges begrüßte«294. Krenek wuchs in den bildungsaristokratischen, das Volk ebenso mit Geringschätzung wie mit patriarchaler Fürsorge bedenkenden Habitus wortwörtlich hinein. Er war zeitlebens dankbar war für eine

292 293

294

Krenek 1998, S. 466. Vgl. Stewart 1990, S. 96f. Der in einem angehängten Epilog prophezeite Erlöser, der das Dilemma mit einem Zauberschlag dereinst aufheben werde, geht allein auf Werfel zurück. Vgl. Krenek, 1998, S. 360. Ebd. S. 356ff findet sich eine zynische, doch geistreiche Skizze über das innere Dilemma Werfels, das ihm keine Wahl gelassen haben soll, als eine solche quasi-religiöse Auflösung anzustücken. Krenek 1998, S. 106.

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streng altsprachliche Erziehung295, so schwer sie auch manchem Mitschüler – den weniger ›Begabten‹ – gefallen haben mag, und so hatte er keine Einwände gegen Arthur Schnabels aristokratische Auffassung von Bildung: Ihre Demokratisierung führe »unvermeidlich zu einer ständig wachsenden Produktion von zusätzlicher Dummheit«296. Mag die Erfahrung des bestialischen Massenkultes in den Diktaturen später seine Auffassung mit Bitterkeit und Misanthropie angereichert haben, so war sie dennoch eine beinahe wörtliche Wiederholung der Lehren seines Vaters, des braven altösterreichischen Offiziers, als Krenek im Exil bekannte, wenn er »mit Bewegungen sympathisiere, die auf Verbesserungen des ›gemeinen Volkes‹ abzielen, tue ich das deshalb, weil ich das gemeine Volk nicht mag und deshalb Maßnahmen befürworte, die es weniger gemein werden lassen«297. Es ist eine gallige Variante standesbewusster Empfindungen, die er im Elternhaus in sich aufsog. Dort war etwa eine Wohnung ›gesellschaftlich akzeptabel‹, »weil es dort kaum Arbeiter gab und weil in unmittelbarer Nachbarschaft das ›Cottage‹ lag, ein sehr vornehmes Wohnviertel mit großen Luxusvillen von Bankiers und Industriellen«298. Die »schlimmste Drohung, die es in der bürgerlichen Welt gab: der Rückfall ins Proletariat«, lesen wir in Stefan Zweigs »Welt von Gestern«299. Von diesen Attitüden her gesehen war es kein Widerspruch, das opportune Links-Sein mit Bildungsaristokratismus, Volksliebe und -verachtung, mit einer Verklärung Kaiser Franz Josephs zu verbinden. Die unübersehbare Senilität des Monarchen in den Jahren des Zusammenbruchs leugnete Krenek nicht, sondern benutzte sie, wenn auch nicht mit gleicher Deutlichkeit wie Joseph Roth, als Erklärung, wie das an sich zeitlose System untergehen konnte. Krenek griff, um 295 296 297 298 299

Ebd., S. 83ff. Ebd., S. 85. Ebd., S. 209. Vgl. ebd., S. 27. Zweig 1962, S. 43.

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die Voraussicht und Güte des Monarchen zu illustrieren, auf ein bei den Anhängern des »habsburgischen Mythos« oft bemühtes Argument zurück300: Philanthropische Weitsicht soll es gewesen sein, die Kaiser Franz Joseph lange Zeit daran hinderte, den Antisemiten Karl Lueger, Sieger der Wahl zum Bürgermeister der Stadt Wien, ins Amt zu setzen. Erst als es keinen anderen Ausweg mehr gab, habe er dem »Willen des Volkes« nachgegeben und den nationalistischen Demagogen schweren Herzens eingesetzt301: »Eigentlich sollte es unter den 1918 ›befreiten‹ Staaten Mitteleuropas keinen einzigen geben, der sich nicht reuig die ›Unterdrückung‹ zurückwünscht, der er durch das alte Reich ausgesetzt war.«302 Kreneks bildungsaristokratische Verachtung des Volkes im Namen der Fürsorge ist insofern immerhin ehrlich, was die Natur der sich mal links, mal »human«, mal bildungsidealistisch gebenden Größen- und Führerphantasien der Kulturklasse angeht. Joseph Roth hätte vielleicht ähnlich wie Krenek von der »unerschütterlichen Dummheit« des Volkes gesprochen, weil es vom – wie auch immer beschränkten – Thronfolger des weisen Franz Joseph, Kaiser Karl, nichts habe wissen wollen, jenem Karl, der zumindest in Kreneks rückwärtsgewandten Tagträumen auf Beendigung des Krieges drang, »selbst auf die Gefahr hin, sich dafür den unversöhnlichen Haß des megalomanischen Wilhelm von Preußen zuzuziehen. Dabei erkannte er deutlich, dass jeder Tag das Reich 300

301 302

Roth erzählt die Geschichte der kaiserlichen Verweigerung in gleicher Tendenz, allerdings phantastischer und gewitzter in seiner »Rede über den Alten Kaiser« (1939), III. 938ff, hier S. 944. Die Tat fand seinerzeit den Beifall aller Liberalen – der einstigen stärksten Widersacher Franz Josephs –, darunter der recht rebellische junge Sigmund Freud. Nach der Einsetzung Luegers zum Wiener Bürgermeister retteten sich die Liberalen dementsprechend in eine gesteigerte Anhänglichkeit an den Kaiser, der sie nun nicht selten die Demokratie und oft sogar die repräsentative parlamentarische Regierung verwerfen ließ! Vgl. Schorske 1982, S. 136f. Krenek 1998, S. 38f. Ebd., S. 119.

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dem totalen und endgültigen Zerfall näherbrachte. Zu schwach und zu unerfahren, um mit den intriganten, rücksichtslosen und brutalen Methoden seines deutschen Gegenspielers fertigzuwerden, und zu unentschlossen und zu glücklos in seinen Versuchen, das Wohlwollen Wilsons und Clemenceaus zu gewinnen, muß er gesehen haben, dass die schrecklichen Zeiten immer bedrohlicher wurden, und es ist kein Wunder, dass er zur Flasche griff und sich billige Filme ansah.«303. Kaiser Karl wurde also durch zu viel guten Willen und Willensschwäche Opfer der Umstände. Kreneks großes Erinnerungsbuch, in dem sich die meisten dieser zitierten Dinge finden, entstand ferne der Heimat, abgeschnitten vom europäischen Kontinent nach der Flucht vor dem Nationalsozialismus, doch Krenek verstand sich zur Zeit der Niederschrift »immer noch als einen ausgesprochen linken Republikaner und Demokraten von der Art, die man heutzutage hier in Amerika als ›liberal mit radikaler Tendenz‹ bezeichnet.«304 Es ging nicht um politische Überzeugungen im Sinne von Modellen der Gerechtigkeit, des Wohlstands, des Strebens nach egalitärer Mitbestimmung oder gar Demokratie, und wo einmal eine Revolution stattfand, in Kreneks Werken, im »Sprung über den Schatten« etwa, handelte es sich um eine unpolitisch lustige Fabel: Die Phantasien des Kunstschaffenden nach Führungsmacht und Aufmerksamkeit kleiden sich hier buffonesk ein: Der verarmte Poet triumphiert wie im Märchen über den vulgären Monarchen, während die Revolution vor allem die Inthronisation des Scharlatans Dr. Berg einträgt. In Kreneks Erinnerungen ist einmal von persönlichen »kommunistischen« Sympathien die Rede. In der Zeit kurz nach der Matura, als die expressionistische Literatur die jungen Männer schon deswegen begeisterte, weil man, ob man wollte oder nicht, nach einer grundlegend neuen Ordnung suchen musste und so die »kommunistischen Experimente in den Nachbarstaaten Bayern und Ungarn« 303 304

Ebd., S. 130. Ebd., S. 544.

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Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich

naturgemäß aufmerksam verfolgte305. Erst viele Jahre danach sei ihm bewusst geworden, dass »mich eine Revolution um ihrer selbst willen überhaupt nicht interessierte. Im Gegenteil, ich entdeckte, daß ich, was die äußere Organisation des gesellschaftlichen Lebens angeht, instinktiv konservativ eingestellt war. Und mir ging auf, daß meine einstige Sympathie für den Kommunismus eigentlich darauf beruhte, daß er eine klare, definitive Ordnung versprach, die erwarten ließ, daß sie von Dauer sein würde, weil jeder einen gerechten Anteil bekommen würde. Das erschien mir wünschenswert, weil die Lebensverhältnisse in der Nachkriegszeit alles andere als geordnet und klar waren. Ich ging so weit, daß ich mich in der Hauptsache für die theoretische Seite der kommunistischen Ordnung interessierte, wobei meine Neigung zum Organisieren und Systematisieren wieder zum Vorschein kam.«306 Hier spricht deutlich der Komponist reifen Alters, der seit einem Jahrzehnt um die ihm gemäße, metaphysisch reine reihentechnische Tonordnung ringt, eine Ader für die enge Beziehung von »Mathematik und Musik« entwickelt, die alten Niederländer für sich entdeckt hat und sich an vorgeblich überzeitlichen, reinen Ordnungsgedanken abarbeitet. Umso bemerkenswerter ist, wie leicht sich derlei mit dem opportunen Linkssein des Kulturschaffenden verbinden lässt. Kreneks Ordnungsdenken allerdings ist sehr verschieden von Roths Ambivalenzen im Umgang mit Ordnungen. 305

306

Krenek 1998, S. 183. Oft waren – auch in Deutschland – gerade streng Konservative angetan über den Zusammenbruch: Er sollte die Gelegenheit schaffen, alles, nämlich die Monarchie, von Grund auf zu erneuern, weil das geschwächte Kaisertum die wahren Ideale nicht mehr aufrechterhalten habe können. Krenek erinnert als Grund für seine Erleichterung über den November 1918 nicht die Hoffnung auf Änderung der politischen Verhältnisse, sondern die Freude über die Beendigung des Krieges und seines eigenen Soldatendaseins (Krenek 1998, S. 168). Eine Interpretation des Kriegsausgangs, die in die Richtung jener konservativen Haltung geht, für die die Monarchie nicht überholt, sondern nicht auratisch und stark genug war, findet sich in Krenek 1998, S. 170. Ebd.

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An sich war das Zugleich von Monarchismus oder geistidealistischem Führer- und Hierarchieglauben und »Sozialismus« kein seltenes Phänomen in den 1920er Jahren, wie überhaupt die Grenze zwischen »links« und »rechts« höchst durchlässig war. Der radikale Expressionist, den es bald ins Lager der rechten Republikverächter schlug, der ›Sozialist‹, der zu den Nationalrevolutionären überlief, der Katholik, der zum Bolschewisten wurde, solche Schicksale waren keineswegs Einzelfälle, zumal unter Intellektuellen. Nietzsche inspirierte die Jünger des Rembrandtdeutschen, aber auch die Bolschewiki mit ihrer chiliastischen Beschwörung des ›Neuen Menschen‹. Und die Sehnsucht nach einer neuen »Ordnung«, da ist Krenek gewiss beizupflichten, einte die Sehnsüchte links und rechts so sehr, dass Nationalismus und Kommunismus sich nicht ausschlossen: Mehrere Versuche wurden zum Beispiel unternommen, die KPD auf nationalen Kurs zu bringen, und 1923 von niemand geringerem als Radek sanktioniert307. Niekisch, hervorgegangen aus der Münchener Räterepublik, wurde zum ideologischen Haupt der nationalbolschewistischen Bewegung und träumte wohl letzten Endes von einer »Wiederherstellung des Preußentums mit Blickrichtung nach Osten«308. Hans Sahl konnte ohne weiteres mit Ernst von Salomon befreundet sein309, Kurt Hiller in der ›Weltbühne‹ einen Kotau vor Mussolini (1926) vollführen310 usf. Als die Deutschnationalen anfingen, durch Wiens Straßen zu lärmen, erinnert Stefan Zweig, wich die Regierung bald zurück – weil »in jener tragisch schwachen und rührend humanen liberalen Ära der Abscheu vor jedem gewalttätigen Tumult und jedem Blutvergießen« so groß war. »Wir jungen Menschen aber, völlig eingesponnen in unsere literarischen Ambitionen, merkten wenig von diesen gefährlichen Veränderungen in unserer Heimat […]. Wir hatten nicht das 307 308 309 310

Vgl. Sontheimer 1968, S. 128. Ebd., S. 130. Vgl. Sahl 1990, S. 174f. Vgl. Laqueur 1977, S. 95.

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Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich

geringste Interesse für politische und soziale Probleme: was bedeuten diese grellen Zänkereien in unserem Leben? Die Stadt erregte sich bei den Wahlen, und wir gingen in die Bibliotheken. Die Massen standen auf, und wir schrieben und diskutierten Gedichte.«311 Die gewählten politischen Vertreter dieser Klasse »aber glaubten ehrlich und redlich, daß sie im Parlament die Sprecher und Vertreter des ›Volkes‹ wären. Sie waren sehr stolz darauf, gebildete Leute, womöglich akademisch gebildet zu sein, sie hielten auf Würde, Anstand und gute Diktion […] Aber sie hatten vollkommen vergessen, daß sie nur fünfzigtausend oder hunderttausend Wohlsituierte in den großen Städten repräsentierten.« »Ordnung« und Sicherheit waren das Kennzeichen des späten, bürgerlichen k.u.k. Wien, in das Krenek gerade noch hineingeboren wurde – für Joseph Roth, zu Beginn seiner Wiener Jahre ein einziges Mal im Leben wirklich prekär (allerdings mit der Mutter) lebend, waren sie das allerdings nur im mystifizierenden Rückblick. »Es war eine geordnete Welt mit klaren Schichtungen und gelassenen Übergängen, eine Welt ohne Hast. Der Rhythmus der neuen Geschwindigkeiten hatte sich noch nicht von den Maschinen, von dem Autor, dem Telephon, dem Radio, dem Flugzeug auf den Menschen übertragen, Zeit und Alter hatten ein anderes Maß. […] Eile galt nicht nur als unfein, sie war in der Tat überflüssig, denn in dieser bürgerlich stabilisierten Welt mit ihren unzähligen Sicherungen und Rückendeckungen geschah niemals etwas Plötzliches; was an Katastrophen sich allenfalls draußen an der Weltperipherie ereignete, drang nicht durch die gefütterte Wand des ›gesicherten‹ Lebens. Der Burenkrieg, der japanisch-russische Krieg, selbst der Balkankrieg reichten nicht einen Zoll tief in die Existenz meiner Eltern«312. »Das neue Jahrhundert wollte eine neue Ordnung, eine neue Zeit«, schrieb Stefan Zweig recht pauschal phrasierend313; Joseph 311 312 313

Zweig 1962, S. 69. Ebd., S. 34f. Ebd., S. 64.

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Roth muss diese neue Ordnung paradoxerweise besonders viel Furcht und Desorientierung eingetragen haben, weil er Zweigs »Welt von Gestern« nie selbst erlebt hatte. Ernst Krenek dagegen schon, und das mag ein Grund gewesen sein, weshalb er, als er 1920 nach Deutschland kam, etwas tat, das dem in Ambivalenzen gefangenen Roth ganz unausdenkbar schien: Er wandte sich unerschrocken allem Neuen in der Kunst zu, nutzte die hier eingetretene, turbulente Entfesselung der Produktion dazu, die eigene Kreativität zu forcieren. Anfangs der ›Atonalität‹ verschrieben, wenige Jahre später dem so genannten »Neoklassizismus«, bevor er, im Brotberuf seit 1925 (bis 1927) als Assistent Paul Bekkers – Opernintendant, Musikschriftsteller, ein Vorkämpfer der Neuen Musik – die Jazz-Oper »Jonny spielt auf« schrieb und unverhofft einen der größten Publikumserfolge der Ära landete. Doch Kreneks Suchen war damit lange nicht beendet. Er verkörperte regelrecht die suchende Unruhe, die Pluralisierung, den oft mit Verlustängsten einherkommenden Aufbruchsoptimismus, der auch ein Optimismus der grenzenlosen Verfügbarkeit unverbindlich gewordener Sprachen war. Schon kurze Zeit später orientierte Krenek sich abermals um, und diesmal, zurückgekehrt nach Wien, vor allem an Franz Schubert. Eine Gemeinsamkeit muss es nach 1918 dennoch gegeben haben: Krenek und Roth erlebten beide »ihre Gegenwart als eine Umwelt, in der sie sich ganz neu orientieren mussten.«314 Beide waren ebenso irritiert und befremdet wie fasziniert von der schlagartig beschleunigten Industrialisierung und Rationalisierung und des Massenkonsums, die den Alltag vieler Menschen zunehmend bestimmte. Beide waren befremdet von den optimistischen Hoffnungen auf Machbarkeit einer ganz neuen Zukunft315 – und waren auf ihre je eigene Wei-

314 315

Eva-Maria Schurr. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 20. Philipp Blom, Träume und Albträume. Weimar oder die Sehnsucht nach dem neuen Menschen. In: Kußmann/Mohn 2015, S. 71–80; Eva-Maria Schurr. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 21.

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Zweiter Teil: Schreiben, Welt und Ich

se angesteckt vom neuen »Hunger nach Ganzheit«316 – als Gegenbewegung zu Pluralisierung, Parlamentarismus und Erfahrungsfragmentierung, als bildungsaristokratisch geladenes Antidot zum Gefühl des Umbrechens aller Orientierungen und der Führungslosigkeit oder Entzauberung der Sinn- und Sozialordnungen. Nur suchte Krenek in disparaten Bemühungen, ein neues, verbindliches Ordnungssystem zu schaffen, während Roth seine Sprechweisen, wie wir sahen, zwar auch sehr rasch wechseln konnte, das jedoch allein innerhalb der approbierten Disziplinen des Feuilletons, des Essays, während er im konventionellen, an leicht wiederkennbare Handlungsszenerien und Figuren gebundenen Erzählen Mitte der 1920er Jahre eine Art zweite, neo-orale Natürlichkeit erreicht zu haben glaubte.

316

Gay 1989, Kap. 4.

Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung Täter-Opfer-Konstruktionen in Roths ethnischreligiösen Positionsbestimmungen 1 Abkehr von Republik und Gegenwart – ein religiöser ›Identitätskonflikt‹? Diskurse formieren sich rhetorisch, ideologisch und idiomatisch in Schemata, Topoi, Konstanten, Formanten. Das ist besonders auffällig, wenn es um ethnische Identitäten geht: Hier hat es sich eingebürgert, von »Stereotypen« zu sprechen317. Schemata des Denkens sind an sich weder gut noch schlecht, sondern eine Bedingung des Denkens, Erkennens und Fühlens überhaupt. Doch kann kein Instrument etwas zusammenfassen, erklären, sichtbar machen, ohne anderes abzublenden, und im Falle der ethnischen »Stereotypen« ist das aus offensichtlichen Gründen besonders gefährlich, zumal sie fast durchweg mit Wertungen besetzt sind. Solche »Stereotypen« zeigen, wie für den Fall des Judentums insbesondere Sander L. Gilman vorführte, ihre Macht gerade dort, wo man sie negiert, umwertet oder verleugnet. Umwertungen finden sich im Werk Joseph Roths an vielen Stellen, und das mag mit Ambivalenz verbunden sein: Roth konstruiert nicht anders als die oft antisemitisch konnotierten Diskurse, sondern passt sich an – um dann komplementär anders zu werten. Origineller sind jene Stellen, an denen er Denunziationsvokabeln aufgreift und sie anderen Ethnien und Kulturen zuschreibt. Roths Verdammung des modernen »Internationalismus« etwa könnte die Verkehrung eines antisemi317

Für den Fall des Judentums noch immer grundlegend: Gilman 1993, ders. 1994. Weder Begriff noch Methode waren eine Erfindung Gilmans. Von »Stereotypen« des antisemitischen Vorurteils zu sprechen, hat sich allgemein eingebürgert, vgl. etwa Schoeps/Schlör 1995, S. 11. Gilmans Durchführung ist jedoch besonders material- und findungsreich.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Kiefer, Braver Junge – gefüllt mit Gift, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05108-0_4

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Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung

tischen Musters sein: Juden als unfähig zu heimatlicher, nationaler oder volksgemeinschaftlicher Verwurzelung zu zeihen war ein geläufiges »Stereotyp« der Zeit. Die diffamierende Vorstellung wiederum, Juden seien besonders häufig sexuell abartig oder impotent, hat Roth wohl invertiert, indem er es nicht dem tatsächlich wurzellosen Benjamin Lenz, sondern dessen nationalchauvinistischem Gegenspieler Theodor Lohse anhing: Lohse, der Archetyp des rechten Opportunisten, wird von einem Prinzen sexuell verführt. (Daneben gibt es mehrere unangenehme Passagen, die ›modern‹ eingestellte Frauen verächtlich machen durch Hinweis auf ihre lesbischen Neigungen – wohl kaum Verkehrungen eines antisemitischen Stereotyps, eher ein Privatproblem Roths.) Das satirische Gedicht »Tod im Frühling« auf einen deutschen »Professor, fromm und tugendhaft«, der »zur Erhaltung deutscher Manneskraft […] stets mit einem Werk von Dinter« schlief (»Lachen links«, 9. 5. 1924, II. 24f), könnte ebenfalls mit Verkehrungen antisemitischer Stereotypen operieren. Auch die von Gilman glänzend dargestellte Strategie jüdischer Autoren, gegen den Verdacht des »Mauschelns« anzuschreiben, indem man sich einer besonders klaren, ›reinen‹ Diktion im Deutschen befleißigt, könnte für Roths Weg fort von neuromantischer Poesie hin zu einer Erzählprosa der klaren Elementarsätze eine Rolle gespielt haben. Roth selbst wusste zumindest zeitweise um diese unsichtbaren Prägeformen, die seinen Phantasien, Wünschen, Formulierungen etwas Richtung, Maß und Struktur gaben – er nahm sie in sein Schreiben mit hinein, so in jene ebenso anrührende wie gewitzte »Mauschel«318-Szene des »Radetzkymarschs«, in der ein ostjüdischer Greis zwei weise Sätzchen ins Ohr des Kaisers munkelt. De-ren Codierung kennt keiner der Anwesenden, nur Franz Joseph selbst, der sanfte Universalpotentat, der an Weisheit dem schläfengelockten Alten einzig Ebenbürtige. Den Hofschranzen dagegen (»Ich habʼ keinen Ton von dem Juden verstanden«) istʼs reines 318

Der Begriff »Mauscheln« selbst taucht im handschriftlichen Entwurf sogar auf. Auszugsweise ist dieser abgedruckt bei Bronsen 1974, S. 105.

1 Abkehr von Republik und Gegenwart – ein religiöser ›Identitätskonflikt‹?

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Kauderwelsch – »Mauscheln« eben. Biblischen Alters, Göttern gleich an Weisheit – so, als Produkt der tagträumerischen Wunschphantasie, hatte Roth seinen Kaiser soeben bei den Lesern eingeführt, und dieser überlebensgroßen Augurengestalt ist das vielwissende Mauscheln des thorabeladenen Greises ein vertrauter Dialekt. Mehr noch, es ist die Tonlage der auch ihm eigenen Gaben an Güte und Sehertum: »›Gesegnet bist Du!‹ sagte der Jude zum Kaiser. ›Den Untergang der Welt wirst Du nicht erleben!‹ Ich weiß es! dachte Franz Joseph.« (V. 350). Die aus uralten Fernen kommende Hellsicht knüpft esoterische Verwandtschaftsbande zwischen (Ost-)Jude und Monarch, die beide weit über die gewöhnlich Verständigen erhebt, über »Rittmeister Kaunitz« und andere; sie macht aus dem ungleich-gleichen Paar einen letzten, verlorenen Humanposten vormoderner Weltweisheit in Roths poetischem Kosmos. Das Mauscheln verbindet in der elegischen Phantasie ein letztes, lebensmüdes Häuflein Aufrechter, das dem stahlgewitternden Moloch Deutschland trotzt, dem Inbegriff von Nation und damit auch der verhängnisvolleren Modernisierung, Technisierung und des Sinnverlustes. Zum eminenten Witz der anrührenden Stelle gehört, dass es sich zwar um Einvernehmen, nicht jedoch um einen Dialog handelt: Der greise Kaiser antwortet nicht vernehmlich, sondern stimmt nur in Gedanken zu – was ihn zugleich in intime Relationen zu Dichter und Leser setzt, die dort etwas wahrnehmen können, wo es die Zeitgenossen niemals hätten können, im Geist des Kaisers selbst! Fintenreich handhabte Roth eine gebräuchliche Waffe der AntiAntisemiten: Die entlarvende Verkehrung und Umwertung der Stereotypen, die den Israeliten brandmarkten. Regelrecht verwegen in der Konstruktion des Erstlings »Das Spinnennetz«. Der Held Theodor Lohse, der mediokre Mitläufer der Stahlhelmler und Konsorten, wird ironischerweise selbst Stück für Stück dem Stereotyp ähnlicher, welches seine völkischen Stichwortlieferanten (»Nationaler Beobachter«, »Weise von Zion«) als Inbegriff der jüdischen Rasse gebrauchen. Ganz zuletzt ist es ausgerechnet Benjamin Lenz, die In-

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Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung

karnation des (völkischen) Stereotyps vom (Ost-)Juden, der Lohse wie an Marionettenfäden lenkt: Der heimatlose, verschlagene Jude strebt tatsächlich an, was die paranoiden Hetzredner sich schaudernd zusammenreimten – die Weltverschwörung. Die antisemitische Propaganda der rechten Verschwörer ist das Instrument dieser Eroberungslust!319 So absurd und satirisch überspitzt das klingt, die Hirngespinste der Judenhasser überboten selbst derartige Paranoismen. Manès Sperber traf unmittelbar nach dem Kriege »delirierende Antisemiten«, die eine allerletzte Schlacht um ihre Sache suchten und verkündeten, »Adolf Hitler wäre ein Jude, ein Agent der ›Weisen von Zion‹ gewesen und hätte in ihrem Auftrage das Deutsche Reich moralisch, militärisch und wirtschaftlich verwüstet«320. So ertragreich das Durchforsten Rothscher Texte mit Hilfe des »Stereotypen«-Modells ist, so kann damit naturgemäß bloß das Typische moralischer und kämpferischer Phantasie erhellt werden, nicht das Individuelle der literarischen Transformation und noch weniger deren poetischer Gehalt. Umgekehrt kann das Modell der Ordnungs-Ambivalenz das Ineinanderumschlagen der vermeintlich klaren Oppositionen von Jude und Antisemit als zugleich konsequente wie verstörende schöpferische Verwandlung des Ambivalenzkonfliktes verständlich machen. Wissenschaftliche Interpreten des Rothschen Debütwerks gaben sich dagegen seit der ersten Ausgabe im Jahre 1967 alle Mühe, Roths frappierende, die Grundfesten der Moral zersetzende Konstruktion, zu übersehen oder der politisch korrekten Werteordnung anzupassen: Der Menschenhass eines Ostjuden aus gedrückten Verhältnisses, den das Schicksal zwischen die ideologischen Fronten des Westens geworfen hat, muss etwas qualitativ anderes sein als der des misanthropischen Kleinbürgers, der vor dem künftigen Führer buckelt, um endlich die Schmach seiner Her319 320

Siehe Ochse 1995, S. 151f. Ochse verkennt jedoch die satirische Tragweite der Verkehrung. Sperber 1983, S. 725.

1 Abkehr von Republik und Gegenwart – ein religiöser ›Identitätskonflikt‹?

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kunft gerächt zu sehen. Nur – wo steht das bei Joseph Roth? Ich werde im Fünften Teil vorführen, wie ungleich abgründiger, inkorrekter, radikaler die Konstruktion und damit der Umgang dieses Erstlings mit flottierenden Stereotypen ist. Viele von Roths Figuren werden von Rachegelüsten nach erlittener Kränkung regelrecht überflutet – Juden und Nicht-Juden, Tunda und Friedrich Kargan, Tarabas, Lohse und Lenz. Allesamt sind sie Vertriebene, Ortlose, instabil in ihren umstürzenden und konfligierenden Bindungssehnsüchten Kreisende, die in Gedanke oder Tat absolute, ja totalitäre ideologische Systeme oder strenge Ordnungshierarchien aufsuchen, um sich selbst Stärke und einen Ort zu verleihen – nicht selten einfach im Fieber der Rachegelüste. Wenn vier Intellektuelle einer Generation aus dem urbanitätsfernen, provinziellen Judentum Osteuropas im Habsburgerreich ausbrechen, nach Wien und weiter in westliche Metropolen ziehen, zwei davon zu polyglotten und aufgeklärten Humanisten werden (Manès Sperber und Józef Wittlin), der dritte ein Bote der verblassenden religiösen Wurzeln seiner Heimat (Martin Buber), der vierte aber am Zwiespalt zwischen kindheitlicher (in sich bereits zwiespätiger) religiöser Erinnerung und dem Hang zu den Vorzügen der Industriegesellschaft und eines westlich-komfortablen Lebensstils, »modernem« Gerechtigkeitsstreben und der Sehnsucht nach Geborgenheit in einer katholischen Ständeordnung zugrundegeht – was erklärt da überhaupt der Verweis darauf, dass eine kulturelle (oder religiöse, weltanschauliche, lebensweltliche) Zwiespältigkeit ein bekanntes Muster im »Identitäts«-Konflikt jüdischer Intellektueller dieser Provenienz ist? Und was unterscheidet diesen erhöhten Druck (»Stress«) des Sich-Wählen-Müssens vom generell für die urbane Moderne kennzeichnenden Druck des Wählenmüssens zwischen einer zunehmend großen Anzahl von Sinn- und Rollenangeboten? Weshalb befand sich beispielsweise der nur wenig ältere Chaim Nachman Bialik nicht in vergleichbaren Dilemmata, obwohl Bialik

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Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung

doch eine ebenfalls (seit dem 7. Lebensjahr321) vaterlose Kindheit in der ostjüdischen Provinz verbracht hatte – und dabei im Gegensatz zu Roth tatsächlich tief in Gläubigkeit hineinwuchs (er besuchte die Talmudschule in Wilna), und ebenfalls die Provinz verließ, weil sie ihm, wie dem jugendlichen Roth, zu eng geworden war und er deshalb gen Westen und nach Berlin strebte? Ist nicht vielmehr gerade ein Bialik, der zuletzt, in der palästinensischen Emigration, eine eigene religiöse Bewegung stiftete, die Tradition und ›Modernität‹ im Geiste der zionistischen Pioniere zu vereinen suchte, ein starkes Argument für die Lösbarkeit des ethnisch-religiösen Identitäts-Konfliktes, vielleicht gar für dessen produktivitätsfordernde Seiten? Das Dilemma der »jüdischen Identität«, das bei Roth zu Zerrissenheit zwischen den Konfessionen, zur Ambivalenz im Verhältnis zur eigenen Herkunft, zum »Wirtsland« und schließlich zur Moderne insgesamt führte, kann, so werde ich erstens zu zeigen versuchen, nur als Variante, Ausdrucks- und Reflexionsform des grundlegenderen Ambivalenz-Ordnungs-Identitäts-Bindungs-Dilemmas verstanden werden, nicht als Ursprung der Konflikte selbst. Zweitens möchte ich zeigen, dass Roths Haltungen und Deutungen des Konfliktherdes gar nicht (vollständig) beschreibbar sind künstlerische Mittel einzubeziehen. Joseph Roth erschreibt sich gleichsam ein Dilemma, er wächst hinein, benutzt es schreibend und unterliegt ihm gleichzeitig. Daher ist das Dilemma der religiös-ethnischen Selbstmodellierung zwar keineswegs mit seinem Künstlertum identisch, jedoch von diesem nicht zu trennen. Biographisch gesehen, trat denn auch das strukturelle Grunddilemma der Bindung in und an soziale und persönliche Ordnungen deutlich hervor in den Jugend- und Kinderjahren, lange bevor die religiöse Identität zum Problem wurde. Umgekehrt trat der religiöse Konflikt beim späteren Roth in Strukturmustern auf, die der – areligiösen – Selbstdarstellung Roths schon Jahre zuvor eingeschrieben waren. 321

Angaben zu Bialik sind entnommen dem Nachwort Richard Chaim Schneiders in Bialik 1990, S. 28–31.

2 Feuilleton und jüdische Identität. Gegenmodell Alfred Döblin

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2 Feuilleton und jüdische Identität. Gegenmodell Alfred Döblin Es dürfte drei prototypische Reaktionen auf eine ambivalente Entscheidungssituation geben: Hin- und Herspringen zwischen den Alternativen, dabei Wertungen verkehrend. – Verneinung, Abwertung oder Dämonisierung der ganzen Situation oder des Systems selbst, das als Ursache der Unentscheidbarkeit und damit der Desorientierung und des Unglücks gesehen wird. – Aufhebung des Ambivalenten in den ästhetischen oder tagträumerischen Schein des Sowohl-als-auch. Ich möchte zeigen, dass Roths historisch oder geographisch festgemachte Idealwelten, heißen sie nun »Lemberg« und »Demokratie«, Ostjudentum, altösterreichischer Offizier oder Militär überhaupt, im Kern solche schöpferisch verwandelten Ästhetisierungen des Ambivalenten sind – und dementsprechend gebunden an den praktischen Schreibprozess selbst, dessen Natur der erste Teil der Studie punktuell zu veranschaulichen suchte. Sobald Roth das Genre wechselte, das Virtuosenspiel der atmosphärischen Valeurs, Empfindungsnuancen, feuilletonistischen Pointen, erzählerischen Kippfiguren und Vieldeutigkeiten verließ, zerbröselten seine »Ideale« in sinnentleerende, im mehrfachen Wortsinne nicht lebensfähige Simultaneitäten von Unvereinbarem, so im großen Bekenntnis-Essay der »Juden auf Wanderschaft«. Sofern man überhaupt stabile Objekte der Rede unabhängig von der kapriolengesättigten Form identifizieren kann, waren Roths geographisch benannte Idealwelten wenig mehr als Verschiebungen des inneren Kräfteschemas ins Historische. Er münzte Dilemmata unentscheidbarer Ideal- oder Gegenordnungen und ambivalenter Bindungssehnsüchte in einen Widerstreit unvereinbarer, ineinander umschlagender sozialer oder historischer Kräfte, denen sich der Autor dann, in einer List des Unbewussten, ausgeliefert sah. Auch das ist zumindest partiell eine Folge der Schöpfung von (Ich-)Identitäten im Schreiben – und dem dabei stets imaginierten Publikum. Joseph Roths »Reise durch Galizien«, im November 1924 für die FZ verfasst (II. 281–292), handelt die Lage der Juden in drei (hoch

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Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung

stilisierten) Sätzen ab322, die von Pogrom, Verfolgung, Elend, Ausgrenzung nichts zu wissen scheinen, sich allerdings mit dem (unterstellten) Opferstatus der Ostjuden identifizieren. Der »wohlfeile und faule Witz des zivilisierten Hochmuts« (II. 281) wird gleich eingangs grantig vom Tisch gewischt – diese Geste steht, wie wir sehen werden, in einer langen Tradition, in der Exponenten westlicher Hochkultur als Schaulustige in traditionelle (hier: ostjüdische) Lebenswelten reisen, um sich dann schreibend zum verstehenden Anwalt der besuchten Lebensform zu machen, diese gegen die sich als überlegen gerierende besuchereigene Herkunftszivilisation verteidigen, die den Ostjuden herablassend diktieren will, wie das gute Leben auszusehen hat. Heute würde man solches Verhalten vermutlich »postkolonial« nennen. Oder Roth einen Autor, dessen Habitus die Selbstreflexion der westlichen Moderne einklagt. Damals wird man derlei Apologien, je nach Wertsystem eines Lesers, vermutlich eher als einen Teil der Aufklärung über die Blindflecken des aufgeklärten Westens empfunden haben, eine Tradition, die ebenso alt ist wie die Aufklärung selbst. In manchen Fällen dürfte man es als Spielart der Konstruktion des »Guten Wilden« wahrgenommen haben oder als affektive Aufladung der osteuropäischen Seele zum Antagonisten des säkularen Westens ohne tieferes Gemeinschaftsempfinden – manche verspotteten das damals als »Buberei«. Roth selbst jedenfalls stellte sich schon zu Beginn seiner Galizien-Textfolge von 1924 ins Lager derer, die sich öffentlich mit einer als Opfer großen Stils dargestellten Lebenswelt identifizieren und das Opfersein als Zeichen seelischer Überlegenheit deuten. Er scheint das Opfersein zudem schon als eine Art Gegenbegriff zum Glauben an totale Machbarkeit und Überlegenheit einzusetzen; das ist eine rhetorische Figur, die bis heute im Opferdiskurs oft ge322

Juden werden darüber hinaus beiläufig erwähnt, so die armen Händler der Bauernmärkte (II. 281) und jene, die mit gesenktem Kopf zwischen den christlichen Heiligenbildern durchschlüpfen (II. 283). Eine Sonderstellung kommt ihnen an keiner Stelle zu.

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braucht wird323. Roth jedenfalls lebt vor seinen deutschen Lesern auf in einer »mißhandelten, verpönten europäischen Ecke«, in der »die Romantik noch lebendig« ist (II. 284). Lemberg erstrahlt im heiteren Licht eines herbeibeschworenen Kakaniens, unbekümmert um den sich modernisierenden Rest der Welt. Mauern und Gassenwinkel konservieren das Flair der einstigen Etappe mit dem »Sitz eines österreichischen Armeekommandos, einer deutschen Feldzeitung, […] einer ›Offiziersmenage‹« (II. 286). Ein Pastiche in »polyglotte[r] Farbigkeit« entströmt Roths Feder, denn »heute noch sieht Lemberg wie eine Etappe aus« (II. 287): Nicht das historische Politgebilde des k.u.k. Reiches, sondern ein flaneurshaft feuilletonistisch beschworener Nachklang wird hier mit dem Status als Opfer einer pauschal und ressentimentgeladen, ebenfalls unpolitisch herbeizitierten ›Täter‹Instanz zusammengebracht – und der Fehlschluss auf die innere Überlegenheit des angeblichen Opfers gezogen. Alles soll hier im befriedeten Nebeneinander jüdischer und christlicher vormoderner oder volkstümlicher Frömmigkeit ruhen: »Wenn der liebe Gott nach Lemberg käme, er ginge zu Fuß durch die ›Straße der Legionen‹.« (II. 288). Roth ist, wie könnte es anders sein, nicht weniger doppelzüngig als die ›postkolonial‹ gestimmten Autoren, gegen die er wettert: Er schreibt gleichermaßen den Ostjuden vor, wie sie zu leben haben und was ihre welthistorische Rolle sei. Er gibt sich autark und individuell im Erleben und Urteilen, doch was er schreibt, ist ein Nachhall älterer Ästhetisierungen: Jahrzehnte zuvor staunte Hermann Bahr, der starken Anteil an der »Entdeckung der Provinz« im ausgehenden k.u.k. Reich hatte324, »welche Kontraste, welche Fülle, welche Farben« Galizien besitze325. (Was wiederum ein so abstraktes Spiel mit Worten ist, dass es überall und nirgends appliziert werden kann.) 323 324 325

Vgl. Breitenfellner 2013, S. 159f. Vgl. Wagner 1991, S. 143. Galizien ließ Bahr zum Beispiel staunen, »welche Kontraste, welche Fülle, welche Farben« dort herrschten (zit. ebd., S. 144). Zit. ebd., S. 144.

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Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung

Und im Berlin jener Jahre lag der längst zuvor von Intellektuellen (auch in Wien326) gehegte Tagtraum vom guten, urwüchsig gesunden, religiös noch intakten »Wilden« des Ostens mittlerweile gleichsam auf der Straße: In den 1910er und 20er Jahren suchten Scharen von Ostjuden in Berlin Obdach, geflohen vor den Bolschewiki, aber auch vor Kosaken, Polen u.a.327. Die ›Zionistische Vereinigung Deutschlands‹ stand hoch in der Gunst vieler Intellektueller wegen ihrer »›schwärmerischen Verehrung‹, ja Romantisierung der ›ostjüdischen Welt‹«, erinnerte der große Wiederentdecker der mystischen jüdischen Geheimlehren, Gerhard (Gershom) Scholem. Scholem, wenige Jahre jünger als Roth, war ein Berliner Bürgerkind. Als den 1923 nach Palästina Ausgewanderten längst der Ruhm eingeholt hatte, erinnerte er: Die meisten seiner »Altersgenossen fühlten sich zu den Ostjuden hingezogen, und dies aus einem einfachen Grund. Je mehr wie in unseren eigenen assimilierten Familien auf Ablehnung ostjüdischer Art und Verachtung für alles, was Ostjuden und ihre Lebensweise anging, stießen […], desto stärker zog uns gerade dieses Wesen an. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß es damals besonders in den Jahren des Ersten Weltkrieges und kurz nachher, bei den Zionisten geradezu so etwas wie einen Kult alles Ostjüdischen gab. Wir alle hatten die ersten beiden Bücher Martin Bubers über den Chassidismus gelesen, ›Die Erzählungen des Rabbi Nachman‹ und ›Die Legende des Baalschem‹, die wenige Jahre vor dem Krieg erschienen waren und Buber sehr berühmt gemacht hatten. In 326 327

Ein Herr Kürnberger aus Wien glaubte bereits 1865 ganz »frische neue Naturvölker« im Osten zu finden, Wagner 1991, S. 144. In der Mehrzahl waren es Mittellose, aber auch intellektuelle Prominenz wurde vom kulturellen Schmelztiegel Berlin angezogen. Die ›Russische Kunstausstellung‹ von 1922 stellte Chagall und andere der Öffentlichkeit vor, Paul Cassirer verlegte hier die Kindheits- und Jugendgeschichte Chagalls (Mein Leben, 1922). Der Kiewer jüdische Maler Issachar Ryback war 1921–1924 zu Gast (wandte sich allerdings von ostjüdischen Sujets ab, dem Kubismus zu). 1920– 1925 lebte und publizierte hier der bedeutende russisch-jiddische Autor Leib Kvitko in Berlin.

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jedem Juden aus Rußland, Polen, Galizien, der uns begegnete, sahen wir etwas wie eine Inkarnation des Baalschem und jedenfalls des unverstellten und uns faszinierenden jüdischen Wesens.«328 Es war Teil eines jugendlichen Aufbegehrens durch Romantisierung einer von der bürgerlichen Elterngeneration geringgeschätzten Lebensweise – und tatsächlich, erinnerte Scholem, vermischte sich (wie auch in der Jugend Walter Benjamins) das jugendliche Schwärmen für die Ostjuden mit der Jugendbewegung rund um Gustav Wyneken329. (Es existierte auch eine zionistische Version des »Wandervogel«, welche »die deutsche Romantik mit neujüdischer verband«330.) Der reife Gelehrte Scholem war, wiewohl Jugendbewegung und Neuromantik ablehnend, dennoch so stark von diesem Geist der Jahrhundertwende geprägt, dass er Buber als Pionier und Vatergestalt, nicht, wie historisch gerecht, als hochoriginellen, auf die jüdischen Bräuche konzentrierten Enkel der wirklichen Ahnen des spezifisch jüdischen »Orientalismus« im 19. Jahrhundert porträtierte. Am prominentesten dürfte ein 1831 als Sohn eines ungarischen Talmudisten geborener Orientalist gewesen sein, Gründungsvater der Turkologie und vor allem berühmter Orientreisender, namens Hermann Wamberger (alias »Arminius [!] Vámbéry«), der es, selbst gelähmt, vom armen Schneidergesellen zum renommierten Schriftsteller, Professor in Ungarn und zur persönlichen Beziehung mit dem englischen Königshaus brachte – sowie zu freundschaftlichen Verbindungen mit zwei weiteren Ahnen des postromantischen jüdischen »Orientalismus«, dem Abenteurer William Gifford Palgrave und dem Britischen Premierminister Benjamin Disraeli (vgl. Reiss 2006, S. 231–33). Der Chassidismus des Martin Buber – er war zwar in Wien (1878) geboren, jedoch im Lemberger Haus des Großvaters, eines Midrasch328 329 330

Scholem 1994, S. 48f. Scholem 1994, S. 50. Scholem 1994, S. 63. Der junge Scholem verabscheute diese Kombination, vgl. ebd., S. 64.

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Gelehrten, aufgewachsen – ist unübersehbar die Konstruktion eines im Westen lebenden Intellektuellen und aufgeladen vom westlichen Kult des Vitalen um 1900. Bubers Chassidismus erfasste den Körper, war inbrünstig und ekstatisch 331, farbig, vital, sogar grob, und untergrub das verkrustete, überdisziplinierte Regelwerk des gewohnten Judentums, die Etikette einer späten, allzu rational und kalt gewordenen Zivilisation: »Im Chassidismus siegt für eine Weile das unterirdische Judentum über das offizielle, – über das allbekannte, übersichtliche Judentum, dessen Geschichte man erzählt und dessen Wesen man in gemeinverständliche Formeln fasst.«332 Nicht rationales Erklären, nicht das Auslegen, nicht das Wissen von Gott und Heiligen Schriften, nein, der von Sinn und Ethos erfüllte Lebensvollzug innerhalb einer Gemeinschaft sollte Grund und Ziel sein333: Er sollte gleichsam aus den verschütteten, unterirdischen Lebensquellen die marode, überalterte westliche Zivilisation von innen heraus spirituell neu beleben, wenn nichts sogar sprengen und befreien. Was der chassidische Glaube vermitteln wollte, war laut Buber (überraschenderweise) ein mystisch Unsagbares wie das Dao des Laotse334: Es ist allgegenwärtig und doch nicht benennbar; es kann nur gelebt, nicht erklärt und gewusst werden. »Urjüdisches

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Erstes Wesenselement des Chaissidismus war für den jungen Buber »Hitlahabut«, die »Inbrunst der Ekstase. Sie ist der Becher der Gnade und der ewige Schlüssel.« Buber 1922, S. 2. Buber 1922, S. XI. »Alle echten religiösen Bewegungen wollen nicht etwa dem Menschen die Lösung des Weltgeheimnisses darbieten, sondern ihn ausrüsten, aus der Kraft des Geheimnisses zu leben; sie wollen ihn nicht über Gottes Wesen belehren, sondern ihn den Weg weisen, auf dem ihm Gott begegnen kann.« Martin Buber, Werke. München-Heidelberg 1963, Dritter Band (Schriften zum Chassidismus), S. 804. Zit. nach Wehr 1986, S. 64. Vgl. Buber, Werke. Dritter Band, S. 758: »Das, was die Eigentümlichkeit und die Größe des Chassidismus ausmacht, ist nicht eine Lehre, sondern eine Lebenshaltung, und zwar eine gemeindebildende und ihrem Wesen nach gemeindemäßige Lebenshaltung.« Vgl. Wehr 1986, S. 64.

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ging in mir auf«, so sagte es Buber selbst 335, expressionistisches Gären schwang mit. Am Ende des Ersten Weltkriegs hatte Buber zwar die ekstatische Mystik seiner Frühwerke überwunden, fasste den Chassiden jedoch immer noch als Kreatur, der aus der »Freude in Gott«, in daseinsbejahender Weltfrömmigkeit lebt (»Mein Weg zum Chassidismus«). Buberschen Impetus glaubt man öfters in Roths spielerischer Diktion nachhallen zu sehen, etwa im pointilistischen Bild Lembergs, Bubers Kindheitsstadt, von 1924: »Sakrales selbst wird hier populär. Die großen, alten Kirchen treten aus der Reserve ihres heiligen Zwecks und mischen sich unter das Volk. Und das Volk ist gläubig. Neben der großen Synagoge blüht der jüdische Straßenhandel. An ihren Mauern lehnen die Händler. Vor den Kirchenportalen hocken die Bettler« (II. 288). Das klingt zur Mitte der 1920er Jahre forciert ins Pittoreske getrieben, ausgedacht, wenn nicht sogar angelesen, floskelhaft, erzwungen auf dem Notizblock im Hotel ästhetisiert. Man versteht, weshalb Roth selbst kurz darauf (in »Die weißen Städte«) bekannte: »Ich fahre niemals mehr in die ›Fremde‹. Welcher Begriff aus einer Zeit der Postkutsche! Ich fahre höchstens ins ›Neue‹. Und sehe, dass ich es bereits geahnt habe« (II. 453). Alfred Döblin empfand (um 1930), was Martin Buber als innerweltliche Ekstaseerfüllung beschwor, sei viel eher ein Zeichen der Flucht in einen neuen Jenseitsglauben: »Die Juden hatten eine diesseitige Religion, ihre Religion war für die Praxis des Lebens. Jetzt wird daraus ein Absonderungskultus und Erinnerungs-, Pietätskult, eine Art Ahnenkult. Da sie immer hoffen und harren, ist ihr Reich nicht von dieser Welt. Und so werden sie die echtesten Christen«336. Döblin, der in seinem Ringen um einen religiösen, sozialen und politischen Ort so viel gemeinsam zu haben scheint mit Joseph Roth, war nur wenige Wochen vor diesem, bewegt von den Berli335 336

Vgl. Wehr 1986, S. 54. Döblin 1997, S. 28.

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ner Pogromen, seinerseits auf die Suche nach seinen Ursprüngen gegangen – nicht, um eine verlorene Idylle zu finden, sondern um zu sehen und zu fragen: »Könnte ich, könnte jemand sonst zurück auf diese Stufe?«337 Döblin vergaß nicht, oder besser, mochte gar nicht vergessen, dass er »weder zu den Aufklärern noch zu dieser Volksmasse gehörig [ist, sondern] ein westlicher Passant« 338. Einige seiner Sätze sind dabei garniert mit galligen und auch mal einfach lustigen Spitzen gegen »westliche« Selbstherrlichkeit: »Die Restaurants [Lembergs] sind österreichisch. Das Roastbeef, das man mir vorsetzt, ist zäh auf westliche Art«, doch bleibt Schmutz eben Schmutz, Armut Armut, und beide großteils hausgemacht durch das trotzige Beharren auf überkommenen Verhaltensweisen in einer sich ändernden Welt. In einer Lemberger Judengasse, dort wo das Schtetl, dessentwegen er gekommen ist, eigentlich noch intakt sein sollte, findet er nicht die Poesie der Bedürfnislosigkeit, sondern erfährt, »was Lufthandel, unproduktive Arbeit ist und was die feindseligen Worte von Parasiten, Schmarotzer bedeuten. Niemand, der es gut mit diesem Volk meint, wird versuchen, hier etwas zu beschönigen«339. Döblin war so souverän, die antisemitischen Stereotype »Unproduktivität« wie »Parasitentum« nicht nur deshalb zu verkehren, weil sie von Rassisten verwendet wurden. Er konnte das, was ihm realitätsnah schien an den »Stereotypen«, bestehen lassen. Umgekehrt wollte er, der wahrhaft auf der Suche auch und gerade in religiösen Dingen war, sich von keinem bequemen und beliebten Ressentiment gegen den »Westen« leiten lassen, mochte der auch noch so sehr gewisse Dimensionen der Erfahrung oder des Heils verloren und die Organisation in Nationalstaaten einen beklagenswert hohen Preis haben. Döblin bestand darauf, dass das Nebeneinander von Polen, Weißrussen, Ukrainern »und wer noch« keine friedliche Vielvöl337 338 339

Döblin 1987, S. 258. Döblin 1987, S. 251. Döblin 1987, S. 189.

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kerei sei, sondern eine ›Zerrissenheit‹ unter- und zwischeneinander, und man sich in einem rohen Überlebenskampf befand340. Die Ausgangslage der Reisenden Roth und Döblin war in mancher Hinsicht verwandt, doch Döblin wahrte jederzeit reflexive Distanz zu etwaigen Ursprungssehnsüchten und Projektionslüsten; er enthielt sich daher der Schuldprojektionen, konstruierte seine reisend erfahrene Welt nicht im Raster von Gut-Böse- oder Täter-Opfer-Erzählungen. Döblin fuhr, könnte man sagen, in konturierter IchIdentität als westlicher Intellektueller und Zaungast, ohne die Defizite der aufgeklärten Existenz, die die Selbstverständlichkeiten von Traditionen verloren hat, zu verleugnen, während Roth in labilen, erschrieben halluzinierten, nahezu unbegrenzt dehnbaren Ich-Grenzen und fließenden Ordnungsbegriffen reiste – und deswegen in »kulturkritisch« verbrämte Idyllisierungen, Schuldzuschreibungen, Täter-Opfer-Szenarien glitt. Ihm fehlte zudem, was die wirklichen Romantiker des Ostjudentums inspirierte: die Konsequenz, diesem besonderen Glaubensversprechen des Ostjudentums nachzugehen und somit die eigenen Worte auch zu leben. Der Glaube selbst spielt in Roths Pastellimpressionen kaum eine Rolle. Keiner der Wege, die andere Juden seiner Generation für sich fanden, war Roth möglich – keiner der Wege, die zu einer stabilen IchIdentität geführt hätten, weil sie die Krise des Glaubens als Chance zu einer Steigerung der Individualität nutzten. Döblin verstand seine Reise zu den polnischen Juden symptomatischerweise viel ausdrücklicher als Suche eigener (religiöser) Wurzeln – schon diese Suche nach dezidiert eigenen Ursprüngen und Sehnsüchten wäre von Roth ein Zuviel an Eindeutigkeit der IchWünsche und -ziele gewesen. Das brachte Döblin dazu, »sogar Jiddisch zu lernen«. Eben weil er dezidiert auf der Suche nach einem genaueren Verstehen des Verhältnisses von Ursprung, Selbst, Fremde war, wollte er im Gegensatz zu Roth etwas Fremdes kennenlernen, ohne es zu instrumentalisieren für Gut-Böse-Erzählungen. Er 340

Döblin 1987, S. 198.

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erinnerte die tiefe Rührung beim Anblick der ersten schläfengelockten Schtetljuden und konnte doch nicht anders als nüchtern zu enden: »Sie waren ein eigenes Volk, überhaupt eine andere Welt. Sie hatten ihre Religion, ihre Sprache, ihre Umgebung. So wenig ich mich zu ihnen rechnete, rechneten sie mich zu sich«341. Auf die Art zog Döblins wacher, Identitäten befragender und deren wie auch seine eigenen Grenzen respektierender Verstand eine Zwischenbilanz auf dem Weg in dieses vermeintlich unverfälschte Judentum, den zu gehen die Novemberpogrome 1923 angestoßen hatten. Palästina stand plötzlich wieder als Zionsland vor den Augen der bürgerlichen Berliner Juden, Döblin aber »fand, ich müßte mich einmal über die Juden orientieren«, wie es der Exilant gelassen selbstironisch erinnern wird342. Er wollte nicht vorab, nur weil er Jude war, besondere Kenntnis oder Zuständigkeit beanspruchen: »Ich fand, ich kannte die Juden nicht. Ich konnte meine Bekannten, die sich Juden nannten, nicht Juden nennen. Sie waren es dem Glauben nach nicht, ihrer Sprache nach nicht, sie waren vielleicht Reste eines untergegangenen Volkes, die längst in die neue Umgebung eingegangen waren. Ich fragte also mich und andere: Wo gibt es Juden? Man sagte mir: in Polen.«343 Diese skeptische Distanz zum Ideensud des stereotypgelenkten Westdiskurses, dieser scharfe Sinn für den Unterschied von fremd und eigen, Wunsch und Wirklichkeit, unterschied Döblin prinzipiell von Joseph Roth (wenn auch seine spätere, letzte »Fahne«, der Katholizismus, wieder in einen gemeinsamen Humus von Orientierungskonflikten und Sinnbedürfnissen weisen dürfte). Roths empfindsamer, halb kalkuliert, halb intuitiv ironisch-feuilletonistischer Stil vermochte es 1924, also vor seiner großen Umbruchskrise, noch die ihm unfassbare, undefinierbar hin- und herspringende Trennlinie zwischen fremd und eigen zu überspielen: 341 342 343

Döblin 1996, S. 132. Döblin 1996, S. 132. Döblin 1996, S. 132.

3 Postfeuilletonismus und flüssiges »Ich« im Schreiben

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alles in der Schwebe zwischen erschriebenem Wunschbild und Außenwelterfahrung zu halten. 3 Postfeuilletonismus und flüssiges »Ich« im Schreiben Roths virtuoses Modulieren zwischen Sprechrollen, inszenierten Haltungen und Stilen Der junge Migrant Joseph Roth eignete sich in Wien nicht eigentlich einen »Stil« an; er erarbeitete sich ein Repertoire von Haltungen und Schreibweisen, und zur Kunst seiner Feuilletons gehörte sehr früh das spielerisch-leichte, anpassungsfähige Verfügen über ein solches Repertoire innerhalb eines Genres, das nur noch in einem gegenüber der klassischen Ausprägung bei Hermann Bahr bis Alfred Polgar344 erweiterten Sinne des Wortes als »Feuilleton« zu bezeichnen wäre. Karl Krausʼ (anti-feuilletonistische) Weise der tagesaktuellen, polemischen Intervention mit ihren satirischen, sarkastischen Elementen gehörte unvermeidlich zum vorbildgebenden Repertoire eines ehrgeizigen jungen Literaten, der kurz vor dem ersten Weltkrieg nach Wien kam. Peter Altenbergs »Kaffeehausliteratur« glaubt man dem Habitus nach manchmal nachwirken zu sehen, diverse ästhetizistische und impressionistische Jahrhundertwendeposen und Flaneursästhetik – eher un-krausisch. In der frühesten Zeit dürfte man wohl Alfred Polgars humanistisches Ästhetentum nachwirken sehen. Roth folgte dem »chronischen Laientum« in gesellschaftlichen Dingen, das man Polgar – dem lebenslänglich aufrechten und schlagfertigen Pazifisten, dem unermüdlichen Ironisierer von Heuchelei und Ungerechtigkeit, Unterta344

Auch Polgars geschliffene Kleinformate bewegten sich gern unter Erniedrigten und Beleidigten. Sie erzählten von Unbeachtetem am Rande, von Beiläufigem, doch nur, um an ihm die Abdrücke der großen Dinge zu studieren. Marginales und Alltägliches verwandelt sich in der Hand des Feuilletonisten zum Hohlspiegel, in dem die Weisen der großen Welt in kleinen, konzentrierten Bildausschnitten vorüberziehen.

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nengeist in jedweder Form – lobend nachgesagt hat: Ein Aristokrat des Geistes legt Wert darauf, nicht immer sogleich »auf dem neuesten Stand der Information« zu sein345. Roth teilte dessen prinzipielles Misstrauen gegen alles Ideologische, Programmatische und Weltanschauliche346 nur in den im engeren Sinne feuilletonistischen Texten, nicht in anderen Sparten, und schon früh in den 1920er Jahren integrierte er starke moralische Wertungen, teils ganz un-polgarisch in heftiger Anklagehaltung, mit zunehmender Neigung zu kulturkritischen Verfalls- und Rettungsgemälden. Nach C.E. Schorske wollte er ein Schüler Herzls und Polgars, »ein Kleinkünstler in Zierformen« sein. Er »arbeitete mit versteckten Einzelheiten und Episoden, die dem Geschmack des 19. Jahrhunderts am Konkreten entsprachen. Aber er versuchte, seinem Stoff Farbe [sic] zu verleihen, die er aus seiner Einbildungskraft bezog. Der Eigenton seines Gefühls überwog deutlich den Gegenstand. Empfindungen wiederzugeben wurde die Weise, in der man ein Urteil aussprach. Demgemäß verschlangen im Stil des Feuilletonisten die Adjektive die Hauptwörter, und die persönliche Färbung verwischte womöglich die Umrisse des dargestellten Gegenstandes.«347 Diese seinerseits generalisierende Charakteristik wäre im Einzelnen für den Fall Roth erheblich zu modifizieren – nicht nur aus dem eher äußerlichen Grund, dass Roth das Feuilleton häufig in Richtung Reportage und Essay ausdehnte, mit satirischen Elementen mischte. Roths Stil ist viel eher durch das Modulierenlassen zwischen heterogenen Schreibweisen und -traditionen gekennzeichnet: Im Epitheta345 346 347

Marcel Reich-Ranicki, Vorwort zu Polgar 1982, S. 24. Reich-Ranicki, Vorwort zu Polgar 1982, S. 26. Schorske 1982, S. 8f. Da es dem Feuilletonisten primär um die Merkwürdigkeit und die momentane Wirkung der Darstellung selbst geht, kann er seine Episoden leicht von einem Ambiente ins andere übertragen, indem er zum Beispiel einfach Ortsnamen austauscht. Roths Artikel »Das Waldmännlein vom Stephansplatz« (›Der Neue Tag‹, Wien 14. 12. 1919) etwa erscheint am 27. 3. 1923 in Berlin (›Freie Deutsche Bühne‹) als »Das Waldmännlein vom Potsdamer Platz« (I. 194f und Anm. S. 1098).

3 Postfeuilletonismus und flüssiges »Ich« im Schreiben

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bereich ist er passagenweise ausgesprochen enthaltsam, andernorts üppig und blumig bis zur Selbstparodie, andernorts auch proto-konkretistisch in der Verteilung von Adjektiven. Roth arbeitete nicht in einem einzigen »Stil«; sondern einem modulationsfähigen Spektrum, zu dem gerade auch eine Rhetorik der Schlichtheit, Unverstelltheit und die oft kindliche Gestik direkten Benennens gehört. (Sie mag von Alfred Polgars Askese im Adjektivbereich angeregt worden sein oder nicht.) So findet sich eine Fülle von Sprechweisen, Rhetoriken, Gestimmtheiten von der neoexpressionistischen Groteske über das neoimpressionistische Tupfbild bis zur Charaktersatire. Auch die Galizien-Texte von 1924 führen vor, wie Roth seinen »Ton«, seine Haltung, sein Formelrepertoire, seine Gestik so leicht und gelegenheitsbedingt ändern konnte, als ob sein Schreib-Ich gleichsam noch flüssig war und er improvisierend zwischen verschiedenen Modalitäten seines Schreib-Selbsts wechselte. Wir begegneten bereits Stellen, in denen er so plakativ oder auch so eigentümlich mechanisch lyrisierend sprach, dass es selbstparodistisch wirkte. An anderen Stellen insbesondere früher Feuilletons setzte er durchaus die im gehobenen Schriftdeutschen beliebten, gesuchten Kompositaattribute ein, ganz selten dagegen neologische Epitheta, die man leichtfertig als Zeichen eines elaborierten Stils auffasst. Wie eigen und wie sehr alle literarische Qualität bei Roth von der Art abhängt, Lücken und Sprünge einzubauen, Diskontinuitäten und versteckte Verknüpfungen zu kombinieren, haben wir näherungsweise im Ersten Teil gesehen. Alle diese Eigenheiten des Rothschen Schreibens können in einer Pauschalcharakteristik wie der Schorskes nicht vorkommen. Wir sollten ein informelles Zwischenfazit zur Natur dieses Schreibens viel eher in solchen Sätzen formulieren: Nicht nur das, was er sagte, war ein Spielmaterial des momentanen Erlebens im Schreiben, sondern auch die Art, wie er es sagte, hatte oft Posenhaftes, etwas von improvisierendem, selbstironischem, parodistischem Nachsprechen oder Schreib-Rollenspiel. Er trieb das feuilletonistische Spiel mit Gegenständen und Gedanken auf einer

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neuen Ebene: oft auch als Spiel mit der eigenen Haltung und Sprechweise. Er war in diesem Sinne ein Spieler zweiter oder dritter Ordnung. 4 Feuilletonismus und Gesinnungsdemonstrationen in frühen Albumblättern jüdischer Motivik Als Roths ›jüdischer Identitätskonflikt‹ in den Texten der mittleren 1920er Jahren verstärkt hervorbrach, verband sich seine Version des Feuilletons und des preziosen Flaneurs mit etwas, das Polgar oder Altenberg denkbar fremd war: mit einem Drang zu gefühlsgeladenen, theatralischen kulturkritischen Wertungen und Anklagen. Zu entscheiden, welche Einflüsse genau auf welchen Kanälen Roths Schreiben speisten, soll der Fachhistorie überlassen bleiben. Roths ›flüssiger‹ Wechsel der Töne und Haltungen innerhalb des Feuilletons verbietet lineare Bilder seiner Entwicklung348. Neigungen zu pauschalen theatralischen kulturkritischen Aburteilungen waren ihm schon je eigen, früh hervortretend in seiner groben »Amerika«-Polemik, die nun, in der Mitte der 1920er Jahre, in großformatige Theatergemälde des »Westens« überging. Die »Reise durch Galizien« von 1924 war nicht die erste feuilletonistische Behandlung jüdischer Themen im Werk Roths. Sie bildete vielmehr den Höhepunkt einer Reihe ähnlich gelagerter, als neo- oder postfeuilletonistisch klassifizierbarer Arbeiten, die bis in die Lehrjahre zurückzuverfolgen ist. Bereits 1919, Joseph Roth mau348

Kliche 1999 verficht die Ansicht, dass mit der endgültigen Entfremdung von Berlin im Jahre 1925 auch die Gattung des Feuilletons für Roth ausgedient hatte. Er geht von falschen Voraussetzungen aus: »Das Feuilleton verlangt den relativ ortsfesten Beobachter, und verlangt es nicht auch das Vertrauen in die Demokratie [?]« (Kliche 1999, 15). Nach Schorskes zitierter Charakterisierung ist es umgekehrt geradezu charakteristisch, keinen fixen weltanschaulichen Standpunkt einzunehmen. Das klassische Feuilleton implizierte zudem stets Momente genießerischer Noblesse, aristokratischer Distanz und Nachlässigkeit sowie Boheme-Attitüden.

4 Feuilletonismus und Gesinnungsdemonstrationen

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serte sich gerade im »Neuen Tag« an der Seite Polgars, schickte ihn die Redaktion ins Burgenland (damals noch Heanzenland genannt). Sein Bericht von der jüdischen Gemeinde im dortigen DeutschKreuz war ein schlichtes, etwas substanzarmes Genrebild integrer, bodenständiger Frömmigkeit und der selbstverständlichen Koexistenz von Konfessionen und Bräuchen: »Die Juden von DeutschKreuz […] beschäftigen sich nur mit ehrlichem Handel und werden von der christlichen Bevölkerung sehr geschätzt« (I. 116). Die Generalisierungen Roths sind schon hier willkürlich, offensichtlich moralisch und vom Streben nach augenblicklich wirkender Suggestion bündiger Konzentration motiviert; aber auch hier scheinen sie ihre Willkür eigenartig schmunzelnd zu präsentieren. Diese noch leicht unbeholfenen Manieren stehen quer zur nonchalanten, den eigenen Esprit demonstrierenden Haltung des Feuilletonisten, dennoch blieb die dem Fach gemäße Gelassenheit im Verhältnis zum Objekt bis in die Mittzwanziger Jahre hinein in Roths Texten über weite Strecken bestehen. Ein kaum dreiseitiger mahnender Hinweis auf die prekäre Lage der Ostjuden von 1920 (I. 383–386) war da schon die Ausnahme. Aber auch der geriet leise, ohne eigentliche, direkte Anklage. Pathos und Mitleidbuhlerei wären, der offenkundigen Sympathie mit den Dargestellten ungeachtet, der moderaten Intonation dieser Zeilen noch fremd gewesen. Ihre Machart und Tonlage hob sie in keiner Weise von Artikeln über nichtjüdische Desozialisierte aus diesem Jahr 1920 ab – einem Milieu, dem sich bereits Polgar gern und ohne falsche Empathie oder Anklage widmete. Der Joseph Rothsche Ostjude ist zu dieser Zeit noch weit davon entfernt, ein Hort wahren, vormodernen Menschentums zu sein. Er ist eine Farbe unter anderen in den Randzonen der Gesellschaft und Europas überhaupt, garniert allenfalls mit ein wenig mehr Empfindsamkeit als branchenüblich. Eine – wenn auch anrührende – »Nuance« in der Welt des Stilisten. Die Lemberg-Blätter aber bringen eine erhebliche affektiv antiliberale Aufladung des szenischen Kolorits.

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5 Die ›Idylle‹ Lemberg: Roths Konstruktion des Ostjudentums als Ideal einer ›Demokratie‹ ohne Verantwortung und moderne Verfassung. Gegenmodelle A. Londres, M. Sperber Sigmund Freud, der passionierte Naturfreund, war wenige Jahre, bevor Roth es in ›sein‹ Lemberg zog, im Harz unterwegs. Grübelnd, lehrend, suchend wie stets, schritt er zwischen Bode, Selke und Oker hin, und durcheilte dabei im Geist die Rätsel der Träume. Eine einzige Nacht, ließ er seine Begleiter wissen, zeitige oft zwei Träume gegensätzlichsten Inhalts bei ähnlichen oder sogar identischen Objekten. Und Freud, der wandernde Weise, beschrieb bei dieser Gelegenheit das Auftreten komplementärer Affekte in einer Art, die die Mechanismen, welche dem Lemberg-Text Roths zugrunde liegen, aufschlussreich illustrieren: »Mitunter ist der eine der beiden ambivalenten Träume vergessen worden, man darf sich nicht täuschen lassen und annehmen, dass nun die Entscheidung zugunsten der einen Seite gefallen ist. Das Vergessen des Traums zeigt allerdings, dass für den Augenblick die eine Richtung die Oberhand hat, aber das gilt nur für den einen Tag und kann sich ändern. Die nächste Nacht bringt vielleicht die entgegengesetzte Äußerung in den Vordergrund. Wie der Konflikt wirklich steht, kann nur durch die Berücksichtigung aller anderen Kundgebungen auch des Wachlebens erraten werden«349. Übersehen wir, so instruiert, einmal den gesamten kleinen, dreiteiligen Textkorpus der »Reise durch Galizien«. Nur die ersten beiden Artikel (»Land und Leute«; »Lemberg, die Stadt«) errichten die Szenerie in ›polyglotter Farbigkeit‹. Der dritte (»Die Krüppel«) überraschte die Leser der »Frankfurter Zeitung« nur einen Tag später mit einem ›marche macabre‹ von Kriegsinvaliden. Das Reisefeuilleton war schlagartig vergessen, das lokale Kolorit zerstoben, 349

Die Zitate entstammen der ein Jahr später erfolgten schriftlichen Ausarbeitung. Sie finden sich im Ergänzungsband der Freud-Studienausgabe, S. 263.

5 Die ›Idylle‹ Lemberg: Roths Konstruktion des Ostjudentums

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die Sprechrolle gewechselt: ein genrehaftes, typisiertes Schauerstück taucht wie aus dem Nichts herauf, versetzte die Diktion ins Affektierte: »Und all das war eine traumhafte Mischvision von Rot und faulendem Fleisch und rinnendem Rückenmark und gebrochenen Halswirbeln« (II. 291). Wie oft greift Roth bei Umbrüchen in theatralisches Pathos zu kunstgewerblicher Assonantik wie zu billiger Theaterschminke (traumhaft-faulend; Rot-gebrochen; faulendem Fleisch und rinnendem Rückenmark) und verdickt die Schminke mit Komposita (Mischvision, Rückenmark, Halswirbeln). Die Emotionalisierung wird durch den grammatischen Querstand »Mischvision von Rot und faulendem Fleisch und […]« expressionistisch herausgetrieben. Dabei nimmt das Abstraktum Röte sozusagen vorweg, was an Bedrohlichem unausgesprochen in den aufgezählten Dingen einmal steckte: das Blut. In faulendem Fleisch ist es versiegt; im metaphorischen Adjektiv »rinnendem« scheint es präsent. Die Zusammenstellung der drei kurzen Reise-Texte unter dem Titel »Reise nach Galizien« erfolgte erst im Nachhinein350, doch mit Kalkül: Der zweifachen idyllischen Weichzeichnung der Weltgegend wurde das – nicht weniger stilisierte – Funebralstück beigesellt. Goethes Wort, dass in der Idylle »erfreuliche Lebenszustände einfach wahrhaft vorgetragen werden, freilich abgesondert von allem Lästigen, Unreinen, Widerwärtigen, worin wir sie auf Erden gehüllt sehen«351, passt auf Roths Konstruktion der Idylle352 Lemberg ge350 351

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Der Herausgeber der Werkausgabe, Klaus Westermann, gibt leider nicht an, wann und durch wessen Hand die Zusammenstellung erfolgte. Wilhelm Tischbeins Idyllen VI. (Die ›erfreulichen Verhältnisse‹ meinen bei Goethe in diesem Falle die ›menschlich-natürlichen, ewig wiederkehrenden‹ Beziehungen von Eltern und Kind). »Idylle« kann mit Böschenstein 1967, S. 12 bestimmt werden als Gattung, die »einen abgegrenzten Raum [beschreibt], in dem sich Grundformen menschlicher Existenz verwirklichen […] Dass diese Grundformen aber in einem beschränkten, aus der Geschichte ausgesparten Raum als möglich gedacht werden, scheidet die Idylle von der Utopie«.

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nau. Die heiteren Tableaus von 1924 sind nur an der Oberfläche eine traditionskonforme »Idylle«, ein geschichtsenthobenes Bild zwangloser, den Einzelnen in all seiner Individualität belassender Gemeinschaft353: Die Kraft der Ambivalenz ist derart stark, dass das Negierte, Verdrängte, säuberlich Ausgegrenzte nicht aufgelöst, nicht verflüssigt und entmachtet werden kann durch Idyllisierung. Es kehrt wortwörtlich unvermittelt zurück. Ein Regulativ oder eine Mitte zwischen der Tag- und der Nachtseite gibt es nicht. Roth ist bei der Konstruktion des komplementär Anderen zur Idylle in der Wortwahl sehr genau: Der Tag des Invalidenbegräbnisses ist einer »jener trüben Tage, an denen der verhängte Himmel sehr nahe über unseren Köpfen zu hängen scheint und der liebe Gott doch ferner ist als je« (II. 289). Das Bild vom ›zu nahen‹ und entleerten Himmel ist die bestimmte Negation des zweiten Artikels mit seiner Vision der unbedrohlichen Nahexistenz Gottes. Roth war, wie oben gesehen, fixiert auf das Militär als hierarchisches System der Einordnung – und feierte es, indem er paradoxerweise alles Soldatische und Maskuline tilgte. In die Lemberg-Artikel bringt er das Militär, als wolle er Freuds These von der Ambivalenz im (Tag-)Traum illustrieren, in zwei Gesichtern ein: Im Hintergrund als unpersönliche Maschine der Vernichtung, die er pauschal dämonisierend dem »Westen« und dem Völkerbund vulgo der liberalen, vertragsrechtlichen, demokratischen Moderne zuordnet; zweitens in kindlich-komisch verniedlichender Ästhetisierung als Inbegriff der »Humanität«, in der ein Militär gar kein Militär ist, lediglich noch die Stellung als Repräsentant genießt und ansonsten als netter Mensch von nebenan erscheint. (Gott ginge, käme er herab, in Roths Phantasie durch die »Straße der Legionen« in Lemberg – mithin als eine Art väterlicher Oberbefehlshaber und Ordnungshüter.) Roth konstruiert auch hier in sehr genauer Wortwahl die Nachtseite als vermittlungslose Negation jenes idyllischen Militärs: »In Doppelreihen, so wie sie einmal in der Marschkompanie marschiert waren, 353

Vgl. II. 284.

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bewegten sie sich vorwärts. […] Es waren jämmerliche Doppelreihen, ein entstellter [sic] Militarismus, […] und statt des gesunden [sic], gleichmäßigen Rhythmus der Soldaten hörte man das ungleichmäßige Klopfen der Krücken auf dem holprigen Pflaster« (II. 290). Und wenn es kurz darauf heißt, dass die Krüppel »nicht fehlgehen« können, »denn der Tote und der Tod ebneten ihnen den Weg« (sie sind auf dem Weg zum Friedhof), so kommt die Assoziationskette von abstrakter Ordnung, »Westen«, Krieg und Tod ins Spiel, die essentiell zum psychischen Haushalt Roths gehörte. Dass Deutschland im Vergleich zur galizischen Kultur der Sonderlinge »im toten Raum zu liegen scheint« (II. 285), war schon 1924 kein poetischer Zierat, sondern vor allem eine weitere, ästhetisch kreierte Oppositionsfigur, in der Roth schreibend die Welt ordnete und dabei doch die Ambivalenzen mehrte. Blinde Verachtung des Westens im Sinne eines friedlichen (sic!) Zusammenschlusses säkularisierter Nationalstaaten, artikuliert sich wohl auch in diesen Sätzen: »Man hätte den Invaliden [ein Lemberger Denkmal, zu dem der Zug hingeht] mitten in Europa begraben müssen, in Genf zum Beispiel, und Diplomaten und Feldherren einladen sollen« (II. 290). Der Bezug ist nicht ganz eindeutig, doch vermutlich schoss Roth hier (1924!) gegen das sich gerade zum Zwecke der Friedenserhaltung als formeller Nationenbund formierende, »moderne« Europa, verkörpert durch den Völkerbund (der seit seiner Gründung 1920 seinen Sitz in Genf hatte). Roth wäre damit, sehr bösartig gesagt, ein Vorläufer Hitlers: Dieser löste Deutschland bald nach der »Machtergreifung« aus dem Völkerbund aus und beendete die Genfer Abrüstungsverhandlungen354: Der »Völkerbund«, eine weit in die Zukunft weisende Reaktion auf die Weltkriegsgreuel, galt den Nationalisten und Nationalsozialisten ebenso wie die mit diesem verbundenen Versailler Verträge als ein weiteres Instrument, um Deutschland zu erniedrigen und zu entrechten. (Die Artikel 1–26 der Völkerbund-Satzung waren Bestandteil des Versailler Vertrags.) Die 354

http://www.spiegel.de/einestages/kalenderblatt-14–10–1933–a-948058.html

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Verknüpfung von Briand und Stresemann mit Kriegstreiberei ist blanker (und reaktionärer) Zynismus, eine vorsätzliche Ignoranz gegenüber den einzig wirksamen Optionen seiner Zeitgenossen, Europa zu pazifieren355. Roth benutzte die tatsächlichen Menschen Lembergs lediglich als Verfügungsmasse für seine farbigen, im Laufe der 1920er mehr und mehr werthaft aufgeladenen ästhetisch-moralischen Skizzen. Wie sehr, kann ein Vergleich mit den Texten Albert Londres zeigen, dem herausragenden Feuilletonisten Frankreichs jener Jahre; der brachte sie von seiner Reise durch Lemberg (1929) mit. Sein Lemberg hat, dem republikanischen, modernitätsfreundlichen, doch stets das Überkommene achtenden Geist des weltmännischen Londres gemäß, ein anderes Gesicht. Er gibt den dortigen Menschen buchstäblich eine Stumme und baut seinen Text konsequenterweise weitgehend dialogisch auf: »Der Markt ist das Herz des Ghettos. Ein Haufen Baracken, wie man sie nach einem Erdbeben oder einer Brandkatastrophe aufbaut. […] Gleichwohl herrscht dort Leben! Wenn manna vom Himmel fiele, dann hier. […] Ein Markt? Eher ein Rieselfeld! Eine Auswahl aller Abfalleimer der polnischen Stadtteile! Die Kaninchen, deren Felle man anbietet, scheinen mit dem Maschinengewehr getötet worden zu sein. Die Pelze sind nur ausgekochte Tierhaare. - Wir verkaufen nichts, erklären die Menschen. […] - Messieurs, sage ich zu ihnen, Sie werden nach Palästina gehen müssen. 355

Stresemann stand lange vor dem Beitritt Deutschlands zum Völkerbund 1926 im Fadenkreuz der Rechten und auch vieler Linker – als »Erfüllungspolitiker«. Während Roths Galizienblätter erschienen, war Stresemanns Eintreten für den Dawesplan bereits ein Vierteljahr alt. Und im Artikel 2 des knapp ein Jahr später ratifizierten Locarno-Vertrages verpflichtet sich Deutschland, neben Belgien und Frankreich, »in keinem Falle zu einem Angriff oder zu einem Einfall oder zum Kriege gegeneinander zu schreiten«. Zit. nach Dederke 1984, S. 165.

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Ach, die haben da unten schon genügend gelockte, schmutzige und verlauste Juden! Meinen Sie, Sie sind anders? Deswegen. Dort oder woanders! Um dort unten sein Geld zu verdienen, muß man hart arbeiten. Und hier? Hier wartet man ab, und man bekommt keine Malaria. Worauf warten Sie? Äh, auf einen Mantel mit einem falschen Pelzkragenkragen so wie Ihrer. Und außerdem? Einige Hände antworteten für alle. Die Geste ist hinlänglich: sie bezeichnet, daß diese Menschen Kinder des Herrn sind und der Gott Israels eine allmächtige Person ist.«356

Londres wird durch die Gassen geführt, und es sind Kloaken. Man wehklagt, weil man ohne Brot ist und hegt allerlei höchst unexotische materielle Sehnsüchte. So war es auch für den ganz jungen Roth, als er noch kein versierter Dichter, sondern als einfacher Soldat in den endlosen Kolonnen einer kriegführenden Ordnungsmacht diente: Im August 1917 schrieb er seiner Kusine Paula Grübel aus einem »ostgalizischen Augiasstall, einem ganz kleinen Städtchen. Im grauen Dreck sieht man bloß ein paar Judengeschäfte. Alles schwimmt, wenn es regnet, alles stinkt, wenn die Sonne scheint.«357 Ein knappes Jahrzehnt später, als Roth ein wohletablierter West356

357

Londres, S. 114–116. Bis in die einzelnen Worte hinein Ähnliches in Döblin 1997, S. 20 und S. 28f.: Die einem Ahnenkult ähnlich gewordene (ost-) jüdische Religion, eine Verfallsform des alttestamentarischen Glaubens, hält noch immer »die Menschen zusammen – immer für morgen, für morgen. Inzwischen ist das Heute mit schrecklicher Wahrheit, Forderung und Realität da, was sagt das jüdische Diesseits zu den verderbenden, zerfallenden Massen? Morgen. Sie haben die Wirklichkeit verloren. So treiben sie unter den Völkern hin.« Briefe, S. 35.

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bürger mit kommodem Mittelschichtsgehalt geworden war, seit Jahren selbstverständlich in gediegenen Hotels logierte, alle Segnungen der westlichen Liberalität selbstverständlich in Anspruch nahm, »sah« Roth im Schtetl keinen Augiasstall mehr. Nun »sah« er ein vom Westen umzingeltes und sturmreif geschossenes Idyll des Glücks vormoderner Selbstbescheidung, der pittoresken Überschaubarkeit und Orientierungsgewissheit. Londres, der nicht weniger berühmte Kollege, verbat sich dagegen jedes Lob der Armut und jeden elegischen Dunst, hingen die Gossenkinder Israels doch zu Trauben an seinen Rockschößen und flehten um Zlotys. Und er forderte, darin durchaus ein selbstbewusster Abgesandter der westlichen Moderne, aus Achtung vor den Bürgern des Schtetl etwas, das Roth Anathema war – persönliche Verantwortung für das eigene Wohlergehen: »Das also ist das Ghetto, ganz einfach. Die Resignation wird für lange Zeit die Lösung ersetzen. Dieses tragische Elend haben die Juden auch ein wenig selbst gewollt. Es ist ihr Werk. Nicht das von den heutigen, sondern das von den Juden aller Zeiten. Ein Jude will unabhängig bleiben. Angesichts dieses Ziels wählt er die Rolle des Händlers. Er verkauft! Er würde Läuse züchten und die Haut der Läuse verkaufen, wenn sie einen Wert hätte. Würde eine Stadt überleben können, die zu fünfundneunzig Prozent aus Verkäufern besteht?«358 Die Armut ist wieder ein Produkt der glücklichen Glaubensfülle und hat mitnichten damit zu tun, dass die Schtetl-Bewohner etwa weniger als im ach so böse kommerziellen Westen ans Geld denken – sondern an kaum etwas anderes.

358

Ebd., S. 116f. Auch hierzu finden sich Parallelen bei Döblin. »Man sieht ihnen die lange dumpfe Wartezeit an. Sie tragen den Rock des Mittelalters, sprechen die Sprache des Mittelalters. Der Messias. Das erinnert an die Indios von Mexiko, die auf das Zugrundegehen der Weißen warten sollen. Was ›draußen‹ geschieht, erleben sie stoisch wie Naturereignisse. Das ist der alte Stamm.« Döblin 1997, S. 45f.

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Londresʼ Sätze sind im Nachhinein gelesen nicht leicht verdaulich, sie riechen nach postkolonialer Eitelkeit. Doch er war glücklich, die Freiheiten und den Komfort Westeuropas genießen zu dürfen, weit von Schadenfreude oder Attitüden eines Überlegenen entfernt, der die Rückständigen das rechte Leben zu lehren gekommen war. Seine Form der Achtung meinte, die Abgehängten nicht als Opfer in kulturkritischen Anklageschriften zu missbrauchen, sondern ihnen dasselbe Recht darauf zuzugestehen, ihr Leben nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten. Eine Lösung konnte für ihn nur bringen, was man später Hilfe zur Selbsthilfe genannt hat, konkret: Es kam ihm darauf an, die starrsinnige Hörigkeit gegen überlieferte Gebräuche aufzubrechen. Man mag das für einen Irrtum oder Anmaßung halten – und tatsächlich scheint die allzu große Selbstgewissheit Londres zu einem Denkfehler verführt zu haben: Weshalb sollten materielle Annehmlichkeiten und traditionelle Religiosität sich ausschließen? Er übernahm in Negation unbewusst die Stereotypen von der inneren Verbindung östlicher Glaubenstiefe mit materieller Bedürfnislosigkeit und sah als tragisch an, dass der Gott der Ostjuden nur eins zu rechtfertigen schien: Warten an einem Ort, den man vorherbestimmt empfindet. Vielleicht lässt sich Londresʼ Reisebuch heute auch als Parabel auf die Verführungskraft von Opferkonstruktionen sowohl der Akteure wie ihrer auswärtigen Interpreten lesen. Die Differenzen von Londres und Roth lassen sich auf den fundamentalen Gegensatz zurückführen, den Eigenverantwortung und selbst empfundene Opferrolle bilden. Londresʼ »Lemberg« ist eine postmortale Zivilisation, nicht etwa weil sich seit 1924 (als Roth hingepilgert war) so vieles gewandelt hätte – das letzte große, allerdings verheerende Pogrom datierte ins Jahr 1918 –, sondern weil er Menschen mit eigenen Bedürfnissen sah und keine ›Idee‹; er sehnte sich nicht nach Bildern wahrerer Zivilisation gegenüber der eigenen; brauchte keinen Hort der Ursprünglichkeit zu konstruieren, um ihn gegen den »Westen«, Chiffre des systematischen, rationalen Geistes, aber auch der Massenkultur, des Pluralismus und Individualismus,

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auszuspielen: »Das Leben, das sie dort führen, ist infernalisch. Alle hoffen auf Flucht.«359 Joseph Roth wird ihnen symptomatischerweise genau diese ihre Sehnsucht danach, die Enge und Lähmung, das Opfersein zu verlassen, alsbald vorwerfen! (s.u.) Sie hoffen nur und tun es (allermeistens) doch nicht, weil sie schlichtweg die Welt zu wenig kennen, um zu wissen, wie und wohin – sich aus eigener Kraft zu einem besseren Leben zu bringen, das wollen sie sehr wohl. Der Tod steckt Londresʼ Juden in den Knochen. Er ist denkbar weit von dem Genfer Tod Joseph Roths entfernt; ähnlich wie für Döblin360 ist er eine Art Selbsterstickungstod. Mögen unter den polnischen Bürgern rundherum auch noch so viele raffgierige Hetzer, neidische Schmarotzer und tumbe Antisemiten sein, der Strick um den Hals der Juden, den Polen, Ukrainer und Kosaken mit Wonne enger und enger schnüren, war für Londres nicht zuletzt selbst gewirkt: Er bestand in den überkommenen Sittenregeln und Ritualen. Damit meinte er nicht einmal primär die religiösen im engeren Sinne, sondern zuallererst die aus dem Mittelalter herübergeschleppte Definition der gesellschaftlichen Rolle des einzelnen Menschen und seines Schicksals, von der in der Thora nichts steht. (Für Döblin wurden diese verstaubten Sozialregeln von der Kaste der Rabbiner, die an die Stelle der politischen Machthaber getreten war, in einen Zustand religiöser Immunität erhoben, um die eigene Macht 359 360

Döblin 1997, S. 113. Der Messiasglaube sei eine Notwehr aus politischer Ohnmacht, die zur »Dauerform« geworden ist, heißt es in Döblin 1997, S. 20f. Sie sei keineswegs eine hohe Ethik, sondern ein »verewigter Zusammenbruch«, fortgesetzt unter einem »Pfaffenregiment«, dem Nutznießerstand der Ohnmacht. Döblin sah eine freiwillige Selbstverknechtung zum »Sklavenvolk« (ebd., S. 31, S. 39). Er sprach – im Angesicht des Aufstieges der NS-Bewegung – den traditionell messiasergebenen Juden sogar ab, noch als Juden gelten zu können, schließlich habe der Herr selbst doch verlangt, sich die Erde untertan zu machen, aus der ägyptischen Versklavung auszubrechen und ein »heiliges Leben zu führen […] Nun, wenn man in den Keller geht, um diese Idee zu verwirklichen, so ist das schon eine sonderbare Methode.« (Döblin 1997, S. 39f).

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zu festigen und zu legitimieren.) Albert Londres drang auf eigenverantwortliche Modifikation der sittlichen Selbstbestimmung der Ostjuden und zollte zugleich dem – womöglich unwiederbringlichen – religiösen Ernst auf einigen zauberhaften Seiten Respekt361. Solche Gegensätze auszuhalten, sie, soweit möglich, zu vermitteln in steter Selbstreflexion der eigenen Wertannahmen, das dürfte für Joseph Roth unvorstellbar gewesen sein. Angesichts der Juden im Warschauer Ghettos, die nicht bis zu den Knien im Unrat waten wie in Lemberg, doch von Piłsudskis Polen ausgesaugt werden wie eine Herde Leibeigener, kommen Londres, seiner mit Vorsicht und Neugier auf das Fremde bewahrten aufklärerischen Sicht der Dinge wegen, Sätze in den Sinn, deren prophetischer Zug bestürzt: »Die Juden haben nicht ein bißchen ihre Lebensweise verändert. Ein Krustentier umklammert um so stärker den Fels mit seinen Scheren, je mehr man ihn davon losreißen will. […] Die orthodoxen Juden, die man in Warschau Nationaljuden [!] nennt, gehen unveränderten Schrittes auf eine abermalige Tragödie zu, die flache Mütze auf dem Kopf und die Levite am Handgelenk unterscheiden sie von den restlichen Bürgern, so wie die runde Scheibe im Mittelalter.« Hier bricht der Konflikt des westlichen Ideals individueller Selbstbestimmung und der traditionsgebundenen Lebensweise unversöhnlich auf. Allerdings: Dieser Konflikt war auch einer unter westlichen Intellektuellen. Martin Buber und Gershom Scholem sind bloß die prominentesten jüdischen Intellektuellen, die nicht einmal den Holocaust als Irritation des traditionellen Gottesglaubens akzeptieren wollten. Für Scholem zeigt der Genozid, dass das selbstauferlegte »Exil« Gottes auch historische Dimensionen hat. (Scholem verwendete den Begriff »Zinzum« der lurianischen Kabbala, die Selbsteinschränkung Gottes, mit der er im Vollkommenen Raum gab, um das Universum zu schaffen362.) Falls diese ebenso impo361 362

Vgl. z.B. Londres 1998, S. 127f. Ich paraphrasiere die Darstellung in Idel 2000. Die von Idel debattierte, schwierige Frage, ob Scholem die reale Geschichte als Widerspiegelung oder

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nierende wie bestürzende theologische Konsequenz unverrückbarer Bestandteil des Judentums wäre, müsste tatsächlich jede aufgeklärte Moral vor ihr kapitulieren. Doch wohin dann mit den Hungerschreien der Ghettokinder Lembergs, mit dem kollektiven Trieb nach Auswanderung? Haben Sie ihren Gott verraten, nur weil sie den leeren Magen und nicht theologische Spekulationen sprechen lassen? Albert Londres, der pazifistische Europäer. Joseph Roths Opferkonstruktionen und Abwehr von Eigenverantwortung Albert Londres setzte auf einen friedlichen Vielvölkerkontinent Europa wie Joseph Roth, jedoch nicht in sentimental ästhetisierender Beschwörung verlorener katholischer Friedensreiche, charismatischer, gütiger Völkerhirten und väterlicher Regenten, sondern im Geiste des Völkerbunds, also des diplomatisch auszuhandelnden Vertragsrechtes und des modernen Völkerrechts. Londres wusste, dass eine solche Vorstellung den traditionell lebenden Juden fremd bleiben muss: Er begleitete einen für Palästina werbenden zionistischen Pionier, und der verzweifelte fluchend an der Messias-Ergebenheit der bessarabischen Juden: »Weil sie auf ihn warten, lassen sie sich lieber den Hals abschneiden. Sie sind die Bewohner von Stromboli, die auf den Ausbruch lauern!«363 Dieser zionistische Idealist – für Roth einer der rohen Verräter an der schönen, bunten Ursprünglichkeit des Schtetljuden – pries den Schtetlbewohnern das künftige, befriedete Europa in glühenden Farben an: »Wir sind ein multinationales Volk […] Eines Tages wird Europa auch multinational sein. Und multinational muß nicht weniger national heißen. Wenn Europa multinational sein wird, dann ist die jüdische Frage hinfällig.« Es passierte das Schlimmstmögliche, es passiert nichts.

363

aber als symbolisches Modell eines nicht abbildbaren metaphysischen Geschehens verstehen wollte, spielt für unseren Zusammenhang keine Rolle. Londres 1998, S. 102. Hier S. 102f die nachfolgenden Zitate im Text.

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»Dieses Land benutzt euch«, donnerte der Pionier auf die bärtigen Dickschädel ein, »und wenn ihr zu nichts mehr taugt, wird es euch im Stich lassen. Niemand erhob Widerspruch.« Niemand interessierte sich für die Haarspaltereien der »jüdischen Frage«. Es ist für sie, die Juden im Osten, eine Kopfgeburt westlicher Salonjuden. Der Messias ist nahe, Palästina kaum mehr als ein Gaukelspiel der Lüfte am Horizont364. Londres protokollierte den Auftritt (oder fingierte ein Protokoll) und verzichtete auf jeden Kommentar. Er wusste, es kann keine kostenfreie Lösung geben, und sie wird umso weniger kosten, je mehr die Initiative von den Ostjuden selbst aus geht. Joseph Roths ›Lösung‹, soweit man über Opferkonstruktion und Schuldzuschreibungen eine solche erkennen kann, muss ein »Völkerbund« gänzlich anderer Ausrichtung gewesen sein: eine quasiästhetische, tagträumerische Assoziation von Völkern, die sich keinem Gewaltmonopol und keinem formellen, sanktionierbaren Recht unterstellen müssen, sondern sich wundersamerweise von selbst, lediglich sanft gelenkt durch auratische Vaterregenten, inkorporierte Ideen weiser, quasi-religiöser Behütung, friedlich arrangieren365. Roth fälschte hierbei – im Essay »Juden auf Wanderschaft« (s.u.) wird das deutlich – wiederum jüdische Geschichte aus moralisch und ideologisch geleitetem Interesse: Zwar war seit dem Mittelalter das Tragen von Waffen verboten, die »Ablehnung jeder physischen Gewalt […] ein fester Bestandteil der jüdischen Ethik«366, doch es betraf auch traditionell nur die Ausübung von Gewalt durch die Juden selbst, nicht aber durch eine Staatsmacht, unter deren Schutz sich die Juden stellten. Und auch das hatte sich in der Moderne deutlich 364

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Ehe Samuel Agnon nach Palästina zog, besaß, so erzählte ein einstiger Nachbar aus seinem galizischen Heimatstädtchen, »das Land Israel in unserer Stadt nicht die geringste Wirklichkeit.« Agnon 1993, S. 91. Beispielsweise heißt es im »Erdbeeren«-Fragment (IV. 1008ff): »Bei uns lebten die Wahnsinnigen, die Verbrecher, die Unschuldigen, die Törichten, die Klugen alle in gleicher Freiheit« – wundersam selbstorganisierend und ohne kontrollierende, gesetzgeberische Gewaltinstanz. Karady 1999, S. 122.

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gewandelt. Traditionell fußte das jüdische Leben jahrtausendelang auf Delegation der ordnungspolitischen Aufgaben, keineswegs auf deren Ablehnung, wie Roth hier schon insinuiert, um am Ende der zwanziger Jahre einen prinzipiellen Pazifismus des Judentums daraus zu machen: »Seit dem 3. Jahrhundert galt die klassische Formel ›das Gesetz des Landes ist das Gesetz‹ [gemeint ist: in allen Bereichen außer dem religiösen – S.K.]. Sie wurde zum politischen Leitgedanken der jüdischen Existenz in der Diaspora, wo (bis zu den nationalen Bewegungen Ende des 19. Jahrhunderts) niemals Unabhängigkeit oder irgendein Ausnahmestatus gefordert wurde außer dem konfessionellen.«367 Man darf sich von dem noch aus dem Mittelalter stammenden jüdischen Verbot, Waffen zu tragen, und der damit verwandten, traditionell jüdischen Ablehnung physischer Gewalt also nicht irreleiten lassen: Es war (auch) ein Gebot der strategischen Vernunft derjenigen, die kein eigenes Land mehr zu verteidigen hatten, nachdem sie ihr eigenes, kleines, durchaus kriegerisch errichtetes Reich in fatalen Auseinandersetzungen mit einer ungleich stärkeren Macht (dem Römischen Reich) verloren hatten und auf unübersehbare Zeit hinaus an das Wohlwollen von »Wirtsvölkern« gekettet sein würden. »Sie«, die orthodoxen Juden, die die Bibel zum politischen Katechismus umgedeutet haben, schrieb Döblin, »erniedrigen sich in Buße vor ihrem Gott, den sie verkennen. Er hat doch die Gestalt eines strengen Kriegs- und Schirmherrn behalten.«368 Gegen eine sie schützende Ordnungsmacht hatten die Juden dementsprechend nichts einzuwenden, im Gegenteil. Wer sie schützte und Lebensraum gewährte, wurde sogleich als loyaler Herr akzeptiert. Und im Rahmen ihrer Möglichkeiten und der praktischen Klugheit im Umgang mit der jeweiligen militärischen und staatlichen Ordnungsmacht, versuchten auch die Ostjuden, sich und ihre Rechte notfalls mit Gewalt zu verteidigen. 1918, angesichts der Kämpfe zwischen Ukrainern und Po367 368

Karady 1999, S. 23f. Döblin 1997, S. 45.

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len, baten die Lemberger Juden beispielsweise die Regierung, eine eigene Miliz aufstellen zu dürfen, und erhielten die Erlaubnis dazu369. Schon 1903–1905 formierten die Juden in Russland bewaffnete Selbstverteidigungsgruppen370. Roths Ostjuden dagegen sind durch das ohnmächtige Ausgeliefertsein an die kalt regelnden Ordnungsmächte der Moderne definiert371, also durch eine Art Opferstatus in der komplex organisierten Welt. Das widersprach dem Selbstverständnis eines erheblichen Teiles der Judenheit im Osten Europas, die durchaus und überzeugt am parlamentarischen System teilnahmen372. Die »polnischen Juden«, erzählt Roth in seinem Lemberger Nachtstück (bis jetzt war nicht die Rede davon, dass es sich um Juden handelt!), seien »die Repräsentanten aller Kriegskrüppelnationen der Welt, der internationalen Kriegskrüppelnation«. Sie harren aus in einer von der westlich geordneten Welt »verpönten« Ecke Europas (vgl. II. 284): Roth verklärt hier keine real beobachteten Lebenswelten. Er projiziert die

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Vgl. Golczewski 1981, S. 185ff. Karady 1999, S. 181. Obrigkeit und Militär hätten ein Heer Unschuldiger ›verführt‹, soll Roth schon als junger Mann gemeint haben (laut Wittlin, zit. bei Bronsen 1974, S. 157). Die galizischen Juden nahmen nach 1918 durchaus am parlamentarischen System teil (vgl. Marcus 1983, S. 261, Chap. 17). Wohl waren auch nach 1918 die meisten Juden dort orthodox, doch die Zionisten politisch einflussreicher. 1922 etwa gingen 25 von 35 Wahlkreisen an sie (Marcus 1983, S. 262). 1918, angesichts der Kämpfe zwischen Ukrainern und Polen, baten die Lemberger Juden (!) die Regierung, eine eigene Miliz aufstellen zu dürfen und erhielten sie (vgl. Golczewski 1981, S. 185ff). Die polnischen Juden waren von so großem politischen Gewicht, dass sich 1926 Josef Piłsudski, der frühere Staatschef, nachdem er in seiner Eigenschaft als Armeechef die Macht übernommen hatte, alsbald der Unterstützung der Juden versicherte. Dass die Regierung aus Zentrumsparteien und Rechten abgelöst wurde, begrüßten alle jüdischen Parteien, ebenso die – für sich genommen recht moderne – Erklärung zur Tolerierung der Minderheiten, die die katholisch orientierte Verfassung von 1921 ablöste (vgl. Marcus 1983, Chap. 18).

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unvermittelbaren Extreme seines extrem ambivalenten Verhältnisses zu Ordnungsmächten als getrennte in die Lemberger Welt. Roths Konstruktion des Judeseins in der modernen Welt zeigt vor allem auch Folgendes, und es ist für einen so vom originären Esprit seines Umgangs mit der Welt und sich überzeugten Autor fatal: ein Zugriff auf historische Ereignisse und soziale Systeme wie der seine vom subjektiven Erleben, dem intuitiven Assoziieren und Pointieren her, führt gerade nicht zu Originalität, Autonomie des Urteils, nicht zur Freiheit und Situationsanpassungsfähigkeit der Wahrnehmung, nicht zu individueller, empathischer Gerechtigkeit gegenüber Objekten, selbst und gerade, wenn es für ihn stark emotional besetzte Objekte wie jüdische Lebenswelten sind, sondern zu willkürlicher Geschichtsfälschung, Instrumentalisierung des Gegenstandes für eigene moralische, polemische, weltanschauliche Zwecke im Umgang mit der Welt – und vor allem zur Reproduktion populistischer, emotional besetzter Klischees und Instrumentalisierungen von Leidenden zum Zwecke der Selbstinszenierung als zivilisatorischer Ankläger. Roths Umgang mit staatlicher oder sonstiger autoritativer Macht war wohl nicht nur im Falle des Paradebeispiels Militär im Grunde einfach: Die behütende Seite der (politischen, militärischen und ökonomischen) Macht setzte er als Fundament, Nährboden und begrenzenden Rahmen einer ersehnten Lebenswelt wie selbstverständlich voraus – als etwas gleichsam »grundloses«, naturwüchsiges, das heißt, ohne zu erklären, wie diese behütende Funktion durch rechtliche, militärische Organisation möglich, legitim und real wird. (Daraus gingen die Phantasmen der Spätzeit hervor, der habsburgische Kaiser habe die Geschicke gleichsam nur durch zärtlichen Tadel und vor allem durch seelische Tiefe und Strahlkraft gelenkt.) Das Instrument zur tatsächlichen Machtandrohung und, damit notwendigerweise zusammenhängend, die Machtausübung derselben Institution, deren beschützender Kraft er und sein arkadisches Galizien so sehr bedurften, schied Roth fein säuberlich aus und delegierte sie kur-

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zerhand an eine böse Macht der Realgeschichte, die er mit Phrasen wie »Politik der Welt« (II. 288) oder Westen, Europa u.a. belegte. Alles, was Ordnungen zu verbindlich objektiven und stabilen, überprüfbaren Regelsystemen machte, ordnete er assoziativ den lebensfeindlichen, bösen Mächten zu – Nationalstaaten, Westen, Wissenschaft, Moderne – zumal, weil diese ein eigenverantwortlich handelndes, stabiles Subjekt verlangen. Daher ignorierte Roth alle faktischen Bemühungen der polnischen Juden, teilzuhaben an der politischen Gestaltung der großen Welt und so ihre Selbstbestimmungsrechte auf den Ebenen des Individuums und des Kollektivs wahrzunehmen. Die auch und gerade in Polen und Osteuropa starken Gruppen der jüdischen Bevölkerung, die liberal und rechtsstaatlich dachten, kommen bei Roth praktisch nicht vor. Emanzipations- und Modernisierungsbestrebungen durften für ihn schlichtweg nicht zum wahren, inneren Kern des Ostjudentums gehören. Wer ihnen folgte, war ein Opfer von ›Verführungen‹. Roth muss das Gefühl von Aufgehobenheit und Sicherheit der Bindung, die die fixen Rollenzuschreibungen und geringen Wahlmöglichkeiten der vormodernen, provinziellen Lebenswelten erzeugen können, verklärt und ersehnt haben – das Mehr an unmittelbarer, gewohnheitsrechtlicher Regulierung und (direkter) sozialer Kontrolle innerhalb festgelegter Hierarchien, das zu einer traditional verfassten Lebenswelt notwendigerweise gehört, verdrängte oder kaschierte Roth ästhetisierend, zumindest in seinen Texten. Ansonsten hätte es seinem Grundimpuls »Mich kann niemand fixieren!« widersprochen und also Abwehr oder Aggression erzeugt. Diese Umdeutung ist innerlich verbunden mit seiner pauschalen, rein von Ressentiments geleiteten Abwertung des »Westens« und »Amerikas« als alles Gute, Gewachsene vernichtende Massenkultur. Denn der Kernwert des liberalen Westens, das Primat der individuellen, egalitären Selbstbestimmung vor kollektiven, weltanschaulichen und religiösen Bevormundungen, taucht bei ihm nirgends auf (sehr ähnlich wie in vielen linken und rechten Ideologien). Diese Verdrängung und

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»Umwertung aller Werte« mag wiederum mit der dramatischen Ambivalenz bezüglich aller Dinge seiner Kindheitswelt zu tun haben. Als Kind jedenfalls hatte er diese restriktive Seite der kleinstädtischen Gemeinschaft nur zu sehr am eigenen Leib erfahren – die überbehütende, labile Mutter muss unter Kontrollzwang gehandelt haben, der partiell mit starker, wechselseitiger Kontrolle und moralischer Aburteilung von Geisteskrankheit und Witwentum in dieser Welt verbunden gewesen sein dürfte: »Jeder unterliegt der Kontrolle und Kritik, jedem ist es erlaubt zu kritisieren«, heißt es in einem maßgeblichen Werk über das osteuropäische »Schtetl«, denn in »diesem von Konkurrenzdenken geprägten Umfeld geht es im Wettbewerb um die höchste Rangstufe«373. »Die Bewohner des Städtels« – erinnert auch Manès Sperber, allerdings primär das Dorf, nicht die Kleinstadt meinend – »wußten sozusagen alles über jeden, sie interessierten sich besonders für die vermeintlich wohlbehüteten Geheimnisse«374. Obgleich Wohltätigkeit, Armen- und Krankenfürsorge sehr hohe Werte für die (ost-)jüdische Gemeinschaft darstellten, war sie doch streng hierarchisch geordnet. Mögen auch zahlreiche Sprichwörter und Redensarten die »Uneinigkeit der Juden, ihren ununterdrückbaren Individualismus«375 mit Ironie und Stolz tradieren, über allem lag doch prägend das »ojl«, die Last der Pflicht, der rein traditional definierten Bürde, wie sich versteht. Ja, der »Prozeß des Reifens ist [für den Schtetl-Juden – S.K.] ein Prozeß der Ansammlung von mehr und mehr Lasten: Je größer die Summe der erfüllten Pflichten, desto größer die Vervollkommnung, das Maß an Genugtuung, an Achtung, an Ehre im Himmel und auf Erden«376. Roth tat so, als seien die beiden Aspekte von Ordnung – der bedrohlich regulierende und der behütend sanft leitende – nicht wechselseitig abhängige Dinge einer Ordnung, sondern zwei gänzlich 373 374 375 376

Zborowski/Herzog 1991, S. 335 und 333. Sperber 1983, S. 104. Sperber 1983, S. 339. Sperber 1983, S. 332f.

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getrennte ohne Vermittlung. Das verwickelte nicht zuletzt den Schriftsteller Roth in ein Darstellungsproblem: Wo treffen die beiden (angeblich) getrennten Aspekte aufeinander, wie können sie überhaupt zueinander ins Verhältnis treten? Erwartungsgemäß: gefühlvoll und leicht komisch ästhetisiert. Er malt sich, wie erwähnt, den idealen Militär als Privatexistenz von nebenan aus: »Ich sah einen Oberleutnant mit vielen Kriegsauszeichnungen [!] und bunten Bändchen an der Brust. In der Hand trug er ein Glas ›Eingemachtes‹. Seiner Frau hielt er den Marktkorb. Dieser Kopfsprung [sic] ins Ewig-Menschliche, ins Private, ins Häusliche versöhnt mit den kriegerischen Wolken [sic] aus Sporenklang und Ordensglanz. In anderen Städten trägt ein ›Bursche‹, drei Schritt hinter den Herrschaften Oberleutnants, das Eingemachte. Manchmal ist es gut zu sehen, dass ein Oberleutnant ein Mensch ist« (II. 288). Das klingt bereits wie die Rede vom »Soldaten als Bürger in Uniform«. Roth war nicht einfach ein Nostalgiker alter Offiziersetikette, wie man mitunter meinte377. Seine Konklusion »So demokratisch ist hier 377

Es mag sein, dass die Vorstellung einer edlen Kriegskunst und der antinationale Affekt Roths im Zusammenhang mit seinem Faible für aristokratische Traditionen standen. Der »aristokratische Kanon von Tapferkeit und Ehre«, der nach Norbert Elias 1989 (S. 185) noch weit über die französische Revolution hinaus für die Herrscherklasse charakteristisch war, stand in der Tat im Widerspruch zu nationalen Empfindungen, die die in herrschende Kreise strebenden Bürgerlichen auszeichnete. Das aristokratische »Wir-Gefühl« bezog sich nach Elias dagegen primär auf eine »Lokalität, auf ihre Region oder ihr Land«, nicht auf die »Nation«. Roth versuchte wohl auch hier das Unmögliche, Paradoxe, die vermittlungslose Kombination beider (antagonistischer) Ideologien. Daher mag eine eigenartige Formulierung kommen wie »in anderen Städten« trage ein Bursche – in guter aristokratischer Tradition – das Gepäck des Herren. Roth ließ offen, ob der Offizier auch in Lemberg selbst Aristokrat (und damit z.B. satisfaktionsfähig) ist, oder nur biederer Bürger, der das Eingemachte selbst trägt. Wörtlich verstanden ist derselbe Offizier draußen (»in anderen Städten«) Aristokrat und also kriegerisch gesonnener Ehrenmann, drinnen aber Biedermann, dessen Uniform nicht mehr als eine adrette Form der Kleidung ist.

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das Militär« war nicht nur eine metaphorische Laune der Ironie; wie so häufig in seinem Werk kaschiert eine Pointe eine ambivalenzgezeugte Scheinlösung eines Ordnungsdilemmas. »Demokratisch« ist hier Chiffre für jenes Paradox einer Macht, die behütet, ohne zu sanktionieren, die trägt und regelt, ohne Gewalt auch nur anzudrohen, die unmerklich ordnet ohne den Einzelnen als verantwortliche, autonome Person zu behandeln. Roth erträumt eine Sozialordnung, die so organisch in sich ruht, dass sie gar keiner exekutiven Machtinstanz bedarf, welche die Regeln bestimmt, durchsetzt, sanktioniert und das Gemeinwesen gegen Anfeindungen schützt. Er findet zur hübschen Metapher vom »Kopfsprung«, um den Rätselpunkt des Umschlagens von realer Macht in »Humanität« zu bezeichnen. Hier, kann man vermuten, lag der Ursprung jenes »empfindlichen Sinnes für Repräsentation««, den Roth sich (berechtigt) zuschrieb. Dem Lippenbekenntnis nach blieb er noch eine Zeit lang »Demokrat«; man war das einfach zu dieser Zeit in diesem Milieu. Er sagte »Demokratie«, doch was er darunter verstand, war schon seit den frühen 1920er Jahren das Gegenteil, zumal mit Rücksicht auf den modernen Wortsinn eines Gemeinwesens, das seine Werte, Institutionen, Praktiken, Richtungsentscheidungen auf Basis individueller Verantwortlichkeit gleichrangiger Bürger fortlaufend neu aushandeln kann und soll. 6 Exkurs: Ordnung ohne Verantwortung Das verbindende Element von Roths Literatur, »Politik« und religiösen Identitätskonflikten 1926, Stalins Stern ging eben auf und verhüllte noch sein wahres Antlitz, lud man Joseph Roth in die Sowjetunion ein. Wer ihn kannte, erwartete gewiss keinen »Sozialisten« theoretischer Ambition oder dogmatischen Zuschnitts und noch weniger einen potentiellen Parteikader, aber doch einen der zahlreichen Kulturschaffenden jener Jahre, die noch unlängst im Blickfeld der roten Fahne sich

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geäußert hatten. Aufmerksame Leser hätten zugleich einen Autor erwartet, der zunehmend stärker attrahiert wurde von entliehenen bildungsreligiösen Rhetorikern und den damit meist einhergehenden Kulturverfallsgemälden, Mahnungen vor technokratischer Vermassung, Entzauberung durch Wissenschaftsideologie, Kriegstreiberei, Traditions- und Gemeinschaftsverlusten. Die Situation der Menschenrechte und der Selbstbestimmung, der Rolle staatlicher Gewalt, Rechtssicherheit, Wohlstandsentwicklung, Gerechtigkeit, Medizin, all das interessierte Roth so gut wie nicht. Was er ›enttäuscht‹ verabschiedete, hatte denn auch nichts mit Klassenkampf, Mitbestimmung, Gerechtigkeit oder Wohlstand zu tun. Die Reise endete im Abgesang auf die »Ordnung« der diesseitigen Welt überhaupt und den Glauben an die Regulierbarkeit des Lebens im Großen und Kleinen – eine offensichtliche Weiterführung der metaphysischen Maxime, die schon dem Schreiben des frühen Feuilletonisten zugrunde lag und in »Die weißen Städte« programmatisch artikuliert wurde. Roth hat lediglich das ursprünglich ästhetische Modell riesenhaft ausgeweitet zu einer Erkenntnislehre in der modernen Welt. 1926 bildet er diese auf ein Objekt ab, das nominell Sowjetunion heißen sollte, jedoch im Grunde ein Pseudo-Objekt war, bloß der Freisetzung von Ressentiments gegenüber eigenen Denkschemata dienend. Daraus lässt sich bezüglich seiner weltanschaulichen Entwicklung folgern, dass er nicht von einer Gotteserfahrung zu einem bestimmten Bild der Dinge kam, sondern umgekehrt von der – seinerseits ambivalenten, da von gegenläufigen Sehnsüchten nach Beheimatung, Aufgehobensein in väterlicher Behütung durchkreuzten – Erfahrung der permanent Ungewissheit erzeugenden Unberechenbarkeit des Daseins zum Postulat eines Gottes, der als einziger die Dinge dieser Welt ordnen kann. Roth versteckte sein Lebensdilemma, indem er wieder zu moralisierenden kulturkritischen Gemeinplätzen griff: Er geißelte den »billigen Materialismus«, der glaube, auf höhere Lenkung verzichten zu können. Die Gleichsetzung von Moderne mit niedrigem, egoisti-

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schen, glaubenslosen »Materialismus«, die Abwesenheit von Transzendenzperspektiven und wahrer Individualität war schon damals ein zur hohlen Phrase verkommenes Motiv affektiver Modernitätsverächter mit starker Neigung zur sozialen Distinktion. Und die Behauptung, weder Gesellschaft noch menschliches Glück könne erfüllend gelingen, solange der Mensch nichts ›Größeres als er selbst‹ (oder eine absolute Macht, eine transzendente Instanz o.ä.) anerkenne, war ein damit zusammenhängender Gemeinplatz religiös motivierter Kulturkritik. Dieses überkommene Motiv wiederverwerten zu wollen als Element einer Kritik an der kulturellen Moderne ist allerdings mehr als naiv: Wer soll angesichts der divergenten Meinungen in Sachen Gott entscheiden, auf welche Instanz man setzen soll? Soll ein neuer Klerus das befehlen – mitten in der pluralisierten Moderne? Die Weimarer, die Österreichische, auch die Französische Verfassung verboten derlei strikt. Schuld am Niedergang der westlichen Zivilisation sei, dekretiert Roth in Russland, die Weigerung einzusehen, dass »der Mensch doch nicht sein Schicksal bauen kann, dass Unberechenbares seine Pläne über den Haufen wirft, dass er zu einem Glauben an Überirdisches zurückkehrt, formlos, verworren und schließlich die irdische, mühsam hergestellte Ordnung zerstörend« (II. 1013). Es könne »der Mensch die Verantwortung [sic] leichter tragen […], wenn er glaubt, in seinen nützlichen, guten tugendhaften Arbeiten von einer großen, gerechten Macht [sic] unterstützt zu werden« (ebd.). Die psychologischen Quellen der Rothschen Sehnsucht nach einer haltgebenden, jedoch die Angst vor Verbindlichkeit nicht auslösenden, ›übermenschlichen‹, quasi-personalen Instanz sind offensichtlich. In der Bindungs- und Orientierungskrise um 1925 intensivierte sich dies Verlangen. Noch typischer war, wie Roth die Kommunikation mit dem höheren, nichts als wohltuenden Lenker fasste – in ein Paradox: Mit dem Beten solle man beginnen, wenn »man zu genießen anfängt und dennoch bitterlich leidet« (II. 1013). Was das meint, kann man sich

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womöglich so erklären: Wenn das Leben ein sinnloses Hinterherrennen nach hedonistischem Glück geworden ist, das um so leerer wird, je mehr hedonistische Augenblicke akkumuliert werden, dann bleibt nur noch – Beten. Dann hätte das Ich nur die Wahl zwischen einem Taumeln von Reizmoment zu Reizmoment und einem Anheimgeben an halluzinierte übermenschliche Instanzen: Ein substantielles Ich, das sich autonom gestaltet, indem es Erfahrungen verarbeitet, käme dann auch in diesem Roth-Passus nicht vor. Dass er 1926 mit der Sowjetunion ein Land bereiste, welches das materielle Wohlergehen aller Menschen zu einer Ersatzreligion gemacht hatte, angeführt von einer zur äußersten Gewalt entschlossenen, sektiererischen Kaste, mag seinen Anteil gehabt haben, dass eine Abkehr von innerweltlichen Lösungsversuchen sich hier schriftlich Bahn brach. Andererseits: Die Kommunistische Partei war eine ersatzreligiöse Gruppe, die fast dieselben Bedürfnisse nach persönlicher Erlösung durch Aufhebung einer erfüllenden Sinnganzheit zu realisieren versprach – daher ja bot sich die kommunistische Bewegung als Projektionsfläche für abertausende Intellektuelle an, durchaus auch Monarchisten, Geistaristokraten, christliche Fundamentalisten u.a. Roths pauschale Abkanzelung der Sowjetunion mag also wiederum damit zu tun haben, dass diese ›Utopie‹ sich auf Sehnsüchte berief, die allzu sehr den eigenen glichen – dann jedoch, sobald real werdend, ›enttäuschten‹ und Angst einjagten. Wesentlich für eine Einschätzung der Entwicklungslogik, die sich hier zeigt, ist, dass der Schluss auf die Unmöglichkeit irdischer Erfüllung ohne Glauben an einen Gott gemeinsam mit dem Bekenntnis zur religiösen Erhebung des Künstlerdaseins im Stile des 19. Jahrhunderts erfolgte: »Daß es außer dem materiellen Wohlergehen auch ein anderes gibt und daß man satt sein kann und sehr unzufrieden. Man kann essen und sein Brot verfluchen, den schönsten Frühling genießen und sich nach dem Winter sehnen, in Fülle leben und den Tod wünschen. Alles haben und Nichts wollen. Diese unstillbare Sehnsucht des Menschen ist eine natürliche, nicht die Folge kapitalistischer

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Weltordnung, aus der ›Spannung‹ zwischen Können und Ohnmacht, zwischen Haben und Sehnen, zwischen Erfüllung und Verlangen, zwischen Ernten und Säen entsteht die höhere geistige Kultur, die mittelbar, aber unbedingt auch praktisch nützlich ist, entsteht das Kunstwerk, das, wie man sagt, den Menschen ›erhebt‹« (II. 1013) Wenige Tage darauf, am zweiten Oktober 1926, Roth ist immer noch in Odessa, geht ihm denn auch durch die Begegnung mit einem jüdischen Handwerker und Revolutionär auf, dass der Proletarier an sich bereits »verdorben« sei, der wahre Idealist nur der »verachtete [sic] Intellektuelle« sein könne, und die Revolution eine »geistige« sein muss: »Sie geht nicht vom Proletariat aus, sondern von der wirklichen Aristokratie, den wahrhaft freien Individuen.« (II. 1014) Die Vergottung des materiellen Wohlergehens in der Sowjetunion seit Lenin müsse also gleichsam von einer noch gewaltigeren »Revolution« abgelöst werden, damit an die Stelle der Selbstvergottung der materialistischen intellektuellen Führer die wahreren Götter, die Künstler, treten können. Das atmet den Geist des nicht unbedingt von Narzissmus verschonten Rainer M. Rilkes Raum vom »Land, das an Gott grenzt«, bevölkert von »Künstler-Naturen«378. Dass Roths neue, vermeintlich religiöse Überzeugung nicht aus einer neuen Erfahrung, sondern aus der Verzweiflung am Existenzkonflikt mit Ordnung, Ich und Identität herrührt, kann man auch an etwas anderem sehen: Roth beschrieb Ambivalenzkonflikte in säkularen Zusammenhängen ganz ähnlich wie in vermeintlich religiösen – man erinnere die oben erwähnten pseudo-autobiographischen Erzählungen seiner Zeit im Militär: »[…] man reagierte auf Befehle, war der eigenen Verantwortung enthoben, in eine Gemeinschaft eingeordnet und von ihr beschützt«379. Autoritäts- und Führungsfiguren blieben für Roth auf jeder Stufe Gegenstände von besonders intensiver Ambivalenz und daher der ästhetisierenden Mystifikation. Der eigentliche Zweck des Militärs, Verteidigung von Interessen und 378 379

Koenen 2005, S. 45. Bronsen 1974, S. 178f.

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Rechten durch Androhung physischer Gewalt, interessierte ihn so wenig wie der zumindest nominelle Zweck des Sowjetsystems, die Schaffung eines ›klassenlosen‹ Wohlstands. Selbst wenn man glaubte, dass es sinnvoll sei anzunehmen, es gebe eine Art Schicksal oder insgeheim lenkenden Gott, folgte daraus nichts für das Einrichten der sozialen Ordnung – es sei denn, man würde zusätzlich annehmen, eben dieser Gott habe eine bestimmte Staatsform gefordert. Prinzipiell ist eine Demokratie ebenso wie eine Theokratie oder eine Monarchie mit dem Glauben an eine göttliche Lenkung vereinbar – nicht wenige tiefgläubige Katholiken waren Sympathisanten des Kommunismus. Generell hat die zunächst sicher plausible Annahme, dass das einzelne Leben (wie jedes komplexe dynamische System) nie vollständig vorausplanbar ist, nichts damit zu tun, in welcher Form man leben möchte – in solider Bürgerlichkeit, als Hedonist, als Ästhet, als Mönch, alles ist gleichermaßen möglich. Die Unwägbarkeit mancher persönlicher und intimer Begegnungen und Bindungen mit anderen Menschen ist wiederum etwas anderes als die angebliche Unberechenbarkeit der Welt. Und wieder etwas anderes ist die Veränderlichkeit von Empfindungen, die Objekte, Personen, Situationen oder auch der Gehirnstoffwechsel auslösen können. In einem bemerkenswerten Text jener Zeit hat Roth sein Verhältnis zu Ordnung und Verantwortung unmittelbar mit seinem schriftstellerischen Ideal verschränkt. Es ist seine Rezension von Döblins »Reise nach Polen« in der FZ (31. 1. 1926; II. 532–535). Döblin war zu Recht empört über die laxe (respektive ausgebliebene) Lektüre Roths. Der findet, wie meist, vor allem sich selbst in den Objekten wieder, doch gerade das macht den Text bemerkenswert: Die Miszelle liefert unter der Hand eine eigene Poetologie und ist zugleich, wie so oft beim virtuosen und virtuos selbstverliebten Spieler Roth, schon selbst eine Realisation dieser Poetik. »Er [Döblin] hat eine kühne Ungerechtigkeit, einen gerechten Mut, eine schöne sprachliche Willkür, er verbirgt nichts, wenn ihm etwas einfällt, was die

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Langweiligen [die Neusachlichen nämlich] ›unpassend‹ finden« (II. 535). Am nächsten kommt Roth dem eigenen poetisch-moralischen Lebensimpuls in seinem Lob für Döblins »wohltätige Frechheit. Er will keine ›Verantwortung‹ vor den abstrakten [sic] Autoritäten tragen. Er hat keine ›Grundsätze‹. Er stellt das Prinzip hinter die Anschauung« (II. 535). Auch in diesem Beispiel machte er es sich gleichsam allzuleicht bei der verbalen Verwandlung des Ambivalenzkonfliktes in stilistische Momenteffekte: »eine kühne Ungerechtigkeit, ein gerechter Mut, eine schöne sprachliche Willkür«. Die Absicht, Überraschungseffekte durch Setzen kurzer kontraintuitiver Effekte mit der Geste größter Gewissheit und Selbstverständlichkeit zu erzeugen, wird wiederum demonstrativ mechanistisch und willkürlich exponiert – und hat damit immer etwas ironisch Inszeniertes. Selbstreflexive Ironie wird auf Dauer gestellt und konterkariert die demonstrierte Suche nach Beschreibungspräzision durch Reihung von Attributionen, welche die Sache sozusagen von verschiedenen Seiten einkreisen sollen. Ungerecht zu handeln ist schon der Wortgestalt nach pejorativ besetzt: Es kann nicht gerechtfertigt werden. Man würde also entsprechend pejorative Attribute des Abstraktums erwarten – feige, rücksichtslos, unsozial, egoistisch. Gegen diese Erwartung setzt Roth das positiv belegte »kühn«, das etwas wie wagemutig meint und an ritterliche Tugenden gemahnt. Roth, obgleich hier wie allermeist ironisch sprechend, verwendet das Attribut gerade nicht, wie wir es heute oft verwenden: ironisch; etwa, wenn wir eine nicht zu rechtfertigende [sic!] Behauptung oder eine fahrlässige oder feige Handlung »kühn« nennen. Roth gewinnt seine Behauptung durch Negation von alltäglichen Verknüpfungen – und so die nächste Phrase der Aufzählungsfiguration, indem er eben diese Pointe nun ihrerseits werthaft und materialiter in mehreren Dimensionen invertiert. Die Worte /kühn/ und /Mut/ sind verwandten Sinnes, und wir können /mutig/ auch ähnlich ironisch verwenden wie /kühn/. (Eine unge-

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rechtfertigte Behauptung oder unbedachte Tat können wir ebenso ironisieren durch das Attribut »mutig« wie durch »kühn«.) Wenn Ungerechtigkeit in diesem Kontext »kühn« sein soll, müsste, denkt man, Gerechtigkeit feige oder mutlos sein. Diese durch die per Erwartungsnegation in der vorhergehenden Phrase »eine kühne Ungerechtigkeit« erzeugte Erwartung negiert Roth also seinerseits – und invertiert dabei die Rollen von Substantiv und Attribut innerhalb der Phrase: Er macht zum Gegenstand, was zuvor Attribut (kühn), und zum Attribut, was zuvor Gegenstand (Gerechtigkeit) war, letzteres semantisch negierend. Den Abschluss der Aufzählungsfiguration bildet ein Glied, das (wie auch an anderen Stellen Roths) die eigene, in diesem Augenblick verwandte Kompositionsstrategie ironisch mit offenlegt – und auch das, indem sowohl die soeben verwandten Phrasenbildungen variierend fortgesponnen und dabei Pointen durch Kontrafaktur verbreiteter Gegenstands-Attributs-Verknüpfungen gebildet werden. (Schönheit würde man zunächst wohl mit Ordnung, nicht mit Willkür zusammenbringen – wiewohl natürlich das Schöne des Zufälligen, Planlosen, Beliebigen in der Moderne umgekehrt schon wieder ein Gemeinplatz sind.) Dass Roth hier das Wort »Verantwortung« mit regelsetzenden Autoritäten und somit wohl auch von Forderungen nach Stringenz und Kohärenz in Verbindung bringt, ist konsequent und bemerkenswert. Er scheint sich recht nahe am postromantischen Klischee von der chaotischen, subversiven, in ständiger Abwehr sogenannter »Konventionen« und Regeln vorgehenden Kunst zu bewegen. Roth hat sich diverse Male in Beanspruchung solcher populärer (und undialektischer) postromantischer Muster dem Leser dargeboten (man erinnere die Zitate aus dem Lemberg-Text von 1924, II. 284, und den Brief an Reifenberg vom 30. 8. 2018, Briefe, S. 61–68, hier S. 62). Seine Erläuterung, wie man denn von subjektiven Assoziationen zu einer »wahren« Darstellung von Welt höherer Ordnung komme, ist überraschend banal – er behauptet wiederum schlicht, dem sei so:

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»Seine Übertreibungen sind grotesk und deshalb von größerer Wahrheit als ›sachliche Schilderungen‹«. Der »Übertreibung« als Methode sind wir schon mehrfach begegnet, mit ihren verwandten Spielarten der Satire, Polemik, Ironie, der Groteske, auch den Figuren des Hyperbolischen, der grundlosen Pauschalisierung und der generalisierenden Oppositionsbildung. Die Aufladung der »Übertreibung« als angeblichem Weg zu höheren als bloß ›sachlichen‹ Wahrheiten hat eine lange Geschichte in Satire, Parodie, Polemik und Karikatur, in der Romantik ideologisch überhöht und als solche im 20. Jahrhundert von (mindestens) Karl Kraus bis Adorno epigonal verlängert wurde380. Und Karl Kraus war für einen jungen Neuwiener, der in der Metropole reüssieren wollte, unweigerlich eine übermächtige Lehrerfigur381. Was den Erkenntnisanspruch angeht, sollte man eher von Satyrspielen der Romantik als von ernsthaften Modellen ästhetischen Erkennens sprechen: Im Zentrum stehen wiederum bloße Superioritätsbehauptungen, die mit nichts als dem Charisma der Künstlerperson begründet werden können. Dabei dürfte schon schwierig genug zu bestimmen sein, was man in einem solchen Text eigentlich genau erkennt – noch schwieriger zu erklären, 380

381

In dem oft zitierten, sich aphoristisch schlagend gebenden Ausspruch »An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen« (Theodor W. Adorno: Minima Moralia. In: Gesammelte Schriften 4, Darmstadt 1997, S. 54) projiziert Adorno das Prinzip in den Gegenstand. Ob Karl Krausʼ programmatischer Aphorismus »Wer jetzt übertreibt, kann leicht in den Verdacht kommen, die Wahrheit zu sagen« überhaupt von ihm stammt, ist ungewiss. Als authentisches Zitat wird es beispielsweise gegeben in Karl Kraus, Aphorismen. Berlin 1971, Kap. 8: Sprüche und Widersprüche. Seit Karl Krausʼ Tod, soll Roth Soma Morgenstern zufolge 1938 bekannt haben, »fühle ich erst, was ich ihm zu verdanken hatte. Solange er lebte, hatte ich beim Schreiben immer das Gefühl, als stünde er hinter mir und passe auf, daß ich gegen die Sprache nicht sündige.« Allerdings, fügt Morgenstern hinzu, war das ein glühendes Bekenntnis genuin Rothscher Art: »Es war das: das einzige Mal, daß er auf Kraus nicht [!] schimpfte. Sonst hatte er zeit seines Lebens für K.K. kein gutes Wort, obgleich sie in den Dollfußjahren politisch in demselben Sumpf standen.« Zit. nach Asmus 2012, S. 48.

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was hier denn »Wahrheit« sein soll, geschweige denn eine »höhere« als ein Erklären oder Darstellen nach intersubjektiven Kriterien. Der postromantische Habitus, den Roth sich hier zu eigen machte, war eine ästhetische Existenz aus zweiter oder dritter Hand – und wenn man sich nun vor Augen hält, dass eben dieser Autor noch Monate zuvor Sozialist gewesen war oder auch der neusachlichen Sprachauffassung nahegestanden hatte, wird einem die Rede vom ›Schillern‹ seiner Persönlichkeit anschaulich. 7 Schwebezustände und jüdische Identität (Gegenmodell Manés Sperber) Technisch ähnelt Roths Umgang mit ›seinen‹ Juden bis in die Umbruchsjahre hinein und stellenweise darüber hinaus seinem Umgang mit den Angelegenheiten der Politik. Es spricht einiges dafür, dass die Amphibolie der moralischen Kategorien den Ehrgeiz zur höchsten Verfeinerung der artistischen Mittel anstachelt. Der bedeutendste Essay zum Thema Judentum, »Juden auf Wanderschaft«, ging wie »Die weißen Städte« aus einer Serie von Reisereportagen für die »Frankfurter Zeitung« hervor, jedoch knapp zwei Jahre später (vgl. II. 1006). Unser nachfolgendes Kapitel widmet sich diesem Buch, einem paradigmatischen Dokument der Krisenjahre. Die »kulturkritische« Manier theatralisch empörten Brandmarkens ganzer zivilisatorischer Konstellationen innerhalb plakativer Gut-Böse-Szenarien wird hier so dick instrumentiert, dass sie nicht mehr vermittelbar ist mit dem fein dosierten Parfüm des Feuilletonisten. Die poetische Miszelle im Stil des vormaligen, verfeinert empfindsamen Feuilletonismus Roths findet sich auch im großen Judenauf-Wanderschaft-Essay von 1926/27 noch, doch wie eine überhängende Gewohnheit und nur als ein Register unter mehreren. Das schlichte Genrebild über die Wiener Juden (II. 857–65) ist ein solcher Fremdkörper in weitgehend ungestörter, feuilletonistischer Manier, und die Berlin-Kapitel des langen Essays übernehmen früher

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Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung

entstandene Feuilletonpassagen. Vermittelt mit dem Ressentiment gegen moderne Organisations- und Denkformen ist das ebenso wenig wie mit der Attitüde anderer Passagen, die den ›westlich‹ ignoranten Leser berichtend informieren wollen. Faktenrapport, Fabel, humoriges Kabinettstück und Reiseanekdote sind hart aneinandergefügt, der Wechsel vom Erzählen in erster und dritter Person Plural schroff, als würde der Autor hier tatsächlich verschiedene, unvermittelbare Ich-Rollen wechseln. Gerade diese Unvermitteltheit könnte man andererseits als konsequente Weiterentwicklung des Prinzips der Unberechenbarkeit und der zur Schau gestellten Moment- und Erlebensbedingtheit des Autors verstehen. Roth flicht im Schreibprozess divergente Momente in ein buntscheckiges Gewebe und verwandelt so innere Ambivalenzen in eine absichtsvoll poröse Politur voller Disbalancen, Inkonsistenzen und Klischees, in kunsterzeugte Schwebe aus simultaner Distanz und Identifikation, krass ausgestellter Subjektivität und inszenierter weltrichterlicher Attitüde. Das innere, eigendynamische Drama der Ambivalenz und der Verflüssigung der Ordnungsbegriffe und Wertüberzeugungen forderte immer höheren Tribut, auch und gerade in der Ton- und Formgebung. Im nicht lange nach dem großen Ostjuden-Essay entstandenen Roman »Rechts und Links«, brach die Konzeption des Wertund Ordnungssystems, wie David Bronsen erhellend dargelegte, so radikal um, dass in der vollendeten Fassung das »Fazit des Romans […] eigentlich Austauschbarkeit« der oberflächlich gesehen opponierenden politisch-weltanschaulichen Haltungen ist382. Ob wir Roths 382

Bronsen 1974, S. 320. Begonnen hatte Roth das Manuskript als erneute Recherche unter Lohse und Konsorten, bei »deutschen Geheimverbindungen, Separatisten, Rathenaumördern«, so jedenfalls schrieb Roth einige Monate nach der Veröffentlichung ded großen Ostjudenessays an Felix Bertaux (5. 1. 1928, Briefe S. 116). Der Nachfolger der Lohse-Figur (wieder Theodor genannt) entwickelte jedoch keine Substanz, die für die große Form tragfähig gewesen wäre. Roth machte daher Theodors älteren Bruder Paul Bernheim zur Hauptfigur, einem altvorderen Konservativen, und ließ sich von diesem ein Drittel des Manuskriptes lang in Atem halten, dann wechselte er erneut die Aus-

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Bemerkung, der Roman(-titel) »Rechts und Links« solle lediglich seine »eigene Haltung den anatomischen [!], topographischen, politischen Richtungen gegenüber« kundtun (III. 132), als Einsicht in die Quellen der Unentschiedenheit verstehen dürfen, ist kaum zu entscheiden – zu zweideutig und in Widersprüchen verwickelt ist der kleine, oben bereits erläuterte Selbstkommentar (»Selbstverriss«), dem diese Bemerkung entstammt, eigentlich eine kapriziöse Leserbelehrung, teils -beschimpfung383. Eines jedoch ist gewiss: Die Wahl eines solche Titels in jenen Jahren der zunehmend dynamischer werdenden persönlichen Krise signalisiert, dass Roth sein Denken in Oppositionsfiguren und dessen innere Verknüpfung mit den vermeintlich politischen Überzeugungen reflektiert. Zumindest in diesem bemerkenswerten Selbstkommentar versteht er sie als Spielmaterial einer poetischen Komposition. Roth wollte, je älter er wurde, eine gute alte Zeit verkörpern, in der man noch »Gesinnung« (und daher »Humanität«) besaß; Er weigerte sich empört, »Farbe zu bekennen« (II. 453), und gab den unfixierbaren Individualisten, Posenmacher oder Boheme in der Momentblase. Konsequenterweise propagierte er daher eine Gesinnung mit ›undefinierbarem‹ Gehalt (vgl. II. 454).

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richtung: »Sobald jedoch der rätselhafte Brandeis im zweiten Drittel des Romans auftritt, schwindet das Interesse des Romanciers für beide Brüder, die schon dem Titel nach stellvertretend für ihre Zeit hätten wirken sollen […] Das Fazit des Romans ist eigentlich Austauschbarkeit« (Bronsen 1974, S. 320). Der Eigenname »Brand-Eis« ist ein sprechender. »Selbstverriss«, in »Die literarische Welt« 22. 11. 1929, III. 130–32. Im ersten Teil verhöhnt Roth den Leser, weil der nicht erkannt habe, dass das Buch »meine eigene Haltung« wiedergebe (III. 130). Im zweiten Teil verhöhnt er ihn, weil er (der Leser) nicht begreife, dass die Welt des Romans eine sei, die »ich aus meinem sprachlichen Material gestalte«, man also niemals das literarisch Gestaltete am »Rohmaterial« (III. 131) messen dürfe. Im dritten Teil macht er sich lustig über den Leser, weil der nicht einmal begreifen könne, dass der Roman und seine Propagierung der Austauschbarkeit von »Rechts und Links« nur »die banale Trostlosigkeit dieser Welt präzise widerzuspiegeln« unternehme (III. 132).

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An sich sind Schwebezustände, Ambivalenzen und Ambiguitäten hinsichtlich persönlicher Identitäten und Ordnungen nicht schlecht; vielmehr notwendig, um Entwicklung zu ermöglichen; sie stiften Freiräume zu Neuorientierung, ähnlich wie Phasen der Selbstentfremdung. Auch wer nicht von Ambivalenzmustern regiert wird, benötigt diese Schwebezustände – jedoch nur transitorisch und in einigen Hinsichten des Lebens: als notwendige aber auch notwendigerweise zu verlassende Durchgangszustände, in denen alte Normen ihre Gültigkeit verloren und neue erst erarbeitet oder entdeckt werden müssen. Wenn Sigmund Freud Recht hätte (s.o.), wäre der Traum eine Art Labor zur Erprobung widersprüchlicher emotionaler oder bewertender Besetzungen bestimmter Ereignisse oder Objekte. Dann würde man Joseph Roths Schreiben als eine Art permanent und künstlich erzeugtem Tagtraum verstehen können, eines, das, im Unterschied von anderen Tagträumen, jedoch von einer ausgefeilten Technik und dem manuellen Vorgang des Schreibens selbst abhängig war. Medien, in denen vorläufige Unentschiedenheit produktiv gemacht werden kann, wären neben Tagträumen und musischen Zuständen auch Alltagsphasen zwischen verschiedenen Lebensabschnitten. Manès Sperber der Spross galizischer Juden, hat, als er ins französische Exil ging, jenen »höchst kuriosen Sachverhalt: eine Ferienstimmung«384 erlebt, der die ersten Tage eines Exilanten so verführerisch einfärbt. Der Rationalist Sperber allerdings wusste, dass diese »eigenartige Ferienstimmung der Emigranten […] eine unangreifbare Enklave der Sorglosigkeit entstehen [lässt], wie sie der bankrotte Schuldner während eines allgemeinen Moratoriums genießt. Viele persönliche Sorgen müßten den Flüchtling aufs äußerste bedrücken […] Da er aber ohne seine Schuld außerstande gesetzt ist, dies auch nur zu versuchen, gewöhnt er sich daran, alles in der Schwebe zu lassen. In den großen Ferien darf auch der schlechteste Schüler vergessen, dass Lehrer, Aufgaben und Prüfungen auf ihn 384

Sperber 1983, S. 674.

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warten«385. Roth dagegen hat eben diese Schwebezustände wie nichts sonst herbeigesehnt und kurzerhand zum Idealzustand der Welt erklärt – und ein umso inbrünstigeres Verlangen nach Übereindeutigkeit und Umsorgtsein gehegt; was nur in ästhetisierenden Fiktionen zu vereinbaren war. Auch er benutzte bemerkenswerterweise das Wort »Ferien«, um seinen Zustand nach dem Übertritt der französischen Grenze zu beschreiben, und typisch war die Emphase, mit der er, der ganz im Gegensatz zu Sperber höchst freiwillig Deutschland verließ, später den ›Verlust‹ beschwor, von einer Inbrunst, die dem Vernunftmenschen Sperber ganz fremd gewesen wäre.) Noch Wochen nach Antritt der langen französischen Exkursion glaubte Roth, nun für immer »süße, lange Sommerferien« feiern zu können, denn: »Was ich sage, nimmt man [in Frankreich] nicht wörtlich« (II. 454)! Es ist eine Befreiung von Verbindlichkeit und eine Befreiung vom Imperativ, in der Kommunikation sein ›wahres Ich‹ zu zeigen. Ihre Herkunftsmilieus und Lebensläufe ähneln sich, doch in der einen, fundamentalen Hinsicht, der Ambivalenz in Bezug auf Ordnung und Ich(-Identität), sind sie gegensätzlich. Sperber war im Unterschied zu Joseph Roth in eine tatsächlich noch geschlossene, traditionelle, jüdische (chassidische) Provinz hineingewachsen – und konnte sich nicht zuletzt dieser tatsächlichen, leibhaften Erfahrung des ostjüdischen Glaubensvollzugs wegen ohne jedes Anzeichen von Ambivalenz aus dieser religiösen Behütung heraus zum tatsächlich humanistischen Gelehrten heranbilden. Seine Prosa ist dementsprechend frei von der vieldeutigen, ästhetisierenden Kapriziosität, die man bei Roth findet – was literarisch einen hohen Preis hatte, der 385

»Die eigenartige Ferienstimmung der Emigranten läßt gegenüber allen Kümmernissen eine unangreifbare Enklave der Sorglosigkeit entstehen, wie sie der bankrotte Schuldner während eines allgemeinen Moratoriums genießt. Viele persönliche Sorgen müßten den Flüchtling auf äußerste bedrücken […] Da er aber ohne seine Schuld außerstande gesetzt ist, dies auch nur zu versuchen, gewöhnt er sich daran, alles in der Schwebe zu lassen. In den großen Ferien darf auch der schlechteste Schüler vergessen, dass Lehrer, Aufgaben und Prüfungen auf ihn warten«. Sperber 1983, S. 675f.

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Lebenskraft und persönlichen Lebensgestaltung jedoch förderlich war. Er hätte daher nie, wie Roth, die Übergangsphase, in der sich alte Bindungen und Identitäten lösen und neue sich erst anbahnen, jedoch noch nicht »fixieren«, zum Idealzustand von Leben überhaupt erklären können (oder wollen). 8 Ambivalenz und idealer Jude I Mitzwah kontra Kulturkarriere. Der Essay »Juden auf Wanderschaft« »Je westlicher der Herkunftsort des Juden, desto mehr Juden gibt es, auf die er herabschaut. Der Frankfurter Jude verachtet den Berliner Juden, der Berliner Jude verachtet den Wiener Juden; der Wiener Jude verachtet den Warschauer Juden. Dann kommen noch die Juden ganz dahinten aus Galizien, auf die sie alle herabschauen, und dort bin ich her, der letzte aller Juden«386. Roth gab sich 1937 locker selbstironisch nach seiner letzten Reise ins heimatliche Galizien – an diese »Heimat, zu der es keine wirkliche Rückkehr geben konnte, war er durch Sehnsucht und Ablehnung, Liebe und Haß, Stolz und verschämte Verlegenheit gebunden«. Im pointenbewussten Scherz steckte wie so oft eine psychologische Wahrheit. Roths eigene Karriere führte ihn in diesem Koordinatensystem aus der tiefsten Verachtung zum journalistischen Erfolg in genau umgekehrter Richtung, von Galizien über Wien nach Berlin; Frankfurt und dann Paris. Beide gegenläufigen Lebenslinien bleiben als unvereinbar konträre in ihm aktiv, ohne ein vermittelndes Drittes auszubilden – wie es anderen Intellektuellen ähnlicher Herkunft, etwa Sperber, Bialik, Wittlin, gelang. Im großen Essay »Juden auf Wanderschaft« (entstanden, als Mitteleuropa, einschließlich mehrerer Staaten im Osten, sich pazifiert 386

Zit. bei Bronsen 1974, S. 43. Dort auch das nachfolgende Zitat.

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und sozial konsolidiert hatte) brach Roth, getrieben von der zunehmenden Dynamik ambivalenter Kräfte, endgültig mit dem gelassen idyllisierenden oder kapriziös feuilletonistischen Zugriff auf das Ostjudentum. Letzteres wird nun zur Chiffre in dramatischen, mit kulturkritischen Gemeinplätzen ausgekleideten Szenarien eines Endkampfes polarer Kräfte, Gut und Böse, Untergang und Verheißung, Täter und Opfer. Das Böse wird mit einem (angeblichen) kulturellen Chauvinismus der »Zivilisation« des »Westens«, der in seiner Verblendung und Gemeinheit aus Schwäche nicht eingestehen kann, dass seine »tödliche, hygienische Langeweile« (II. 832) allzusehr der Seele des Ostens bedürfe. In schärfstem Kontrast zu Albert Londres ist Roth die tatsächliche Bedürfnislage der Ostjuden recht gleichgültig – ihm geht es nur um das Konstrukt »Osten« als Instrument, Schuldprojektionen und Anklagen innerhalb von Gut-Böse-Szenarien vorzunehmen, bei denen es keine Vermittlung der Antagonisten geben darf. Daher wirft er den Schtetlbewohnern vor, selbst schon sündenfällig geworden zu sein und ihre eigentliche, wesenhafte Bestimmung zu verraten, nämlich den unvermittelbaren Gegensatz zur westlichen Sterilität zu bilden: Auch der Osten kenne seine tiefere Bestimmung nicht mehr, auch er schicke sich an, die Extreme vermischen zu wollen – oder gar sich nach dem Westen und seinem blenderischen Komfort, Individualismus, Erwerbsorientierung, Freiheiten zu sehnen. »Jede, noch so äußerliche Assimilation ist eine Flucht, der Versuch einer Flucht aus der traurigen Gemeinschaft der Verfolgten; ist ein Versuch, Gegensätze auszugleichen, die trotzdem vorhanden sind« (II. 842). Desorientierend konnte, wie sich versteht, ein Migrations- und ein Assimilationsprozess, leicht werden: Assimilation setzte sich für Juden typischerweise »aus einer Reihe kreativer Akte zusammen, die zum Teil im Rahmen einer bewußten Strategie der Persönlichkeitsveränderung vollzogen wurden. Diese Veränderung betraf den Geschmack, den Habitus, die Verhaltensweisen ebenso wie die kulturellen Kenntnisse […]. All dies setzte eine ständige Selbstbeherr-

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schung voraus, die sich in der Kontrolle des Sprechens (um sich nicht zu ›verraten‹), des Körpers, der Gesten, der Verhaltensweisen ausdrückte«387. Wie sollte sich jemand in einem solchen langwierigen Prozess zu etwas anderem ummodellieren, der kein fixierbares, stabiles, verbindliches, gebundenes »Ich« hatte oder haben wollte? Roth muss Assimilation daher im Vergleich zu anderen Assimilanten eher als Stress, Bedrohung, Desorientierung erfahren und entsprechend die ungleich höheren Chancen auf Selbstentwicklung abgetan haben. Sobald sich irgend fixe Bindungen anbahnten, wurde ihnen mit dem Traum von der schönen, vermeintlich regellosen Übersichtlichkeit des Ostens begegnet. Mehr noch: Er konnte nicht entscheiden, ob er sich überhaupt assimilieren wollte respektive konnte, denn das hätte vorausgesetzt, dass er sich wirklich als (ehemaliger) Ostjude empfunden hätte. Solche Ambivalenzen projizierte Roth in sein Szenario der gegenwärtigen Judenheit in Europa – und versuchte durch die theatralisch übersteigerte, »kulturkritische« Aufteilung in opponierende Instanzen des Bösen und Guten, des Opfers und der Täter, wenigstens im Schreiben Entlastung und eine klare Wertordnung zu schaffen. Die theatralische Übersteigerung kann man in diesem Fall wohl sehr gut als Abwehr des heimlichen Wissens darum verstehen, dass, was sich im Schreiben so polar in Wert und Ordnungstyp halluzinieren lässt, in der Realität ungleich verwickelter, ambivalenter ist, mit Verführungen auf beiden Seiten, Ängsten, Grenzen, Gefahren. Daraus resultierte die aburteilende Charakterisierung der Verwestlichung als Flucht – während an anderen Stellen des Essays mehrfach mit der für Roth typischen Emphase den Karrieremenschen aus dem Osten als Zeichen der Überlegenheit des Ostens gehuldigt wird. Dass das, was ihn umtreibt, auch in diesem Falle nicht die historische und soziale Welt ist, sondern eigene, dilemmatische Konstruktion dieser Welt und vor allem seines Selbst, lässt Roth zwischendurch gar durchblicken – ihn irritiert, dass der polare, antago387

Karady 1999, S. 147.

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nistische Gegensatz von Ost- und West-(Judentum) sich auflöst, anstatt von den historischen Akteuren als unvermittelbarer Gegensatz säuberlich bewahrt zu werden: »Man hat keine Grenzen mehr, um sich vor Vermischung zu schützen. [sic!] Deshalb trägt jeder Jude Grenzen um sich. Es wäre schade, sie aufzugeben.« (II. 842) Das ist ein Ethnozentrismus eigener Art, fürwahr – der womöglich traditionelle religiöse Reinheitsgebote reproduziert, die Roth selbst nie praktizierte. Und es ist vor allem eine Projektion der Sehnsucht nach übermäßiger Identität und Eindeutigkeit, die unvermittelbare Gegenkraft seiner (hysterischen) Angst vor Fixierung und stabiler, eigenverantwortlicher Ich-Identität. Dementsprechend willkürlich und kontextbedingt kann dieselbe Metapher der geschlossenen, von der Welt getrennten Identitäts-Konstruktion bewertet und gedeutet werden – typischerweise entweder wie ein verlorenes Paradies gefeiert oder wie das Böse und Zerstörerische verdammt: Dass jeder (Ost)Jude »Grenzen um sich« tragen (!) soll, ist eine Variation der ZaunMetapher aus »Die Weißen Städte«: Dort wird sie jedoch den Deutschen zugeschrieben und Inbegriff der »Humanitäts«-Feinschaft, der lebenszerstörenden, technisch-wissenschaftlich grundierten, pluralistisch-egalitär-säkular organisierten Moderne. Diese Deutschen sollen den Zaun um sich selbst errichtet haben durch ihren verhängnisvollen Glauben an Begriffe und »Nomenklaturen« (vgl. II. 453). Roth hat mit der ihm eigenen, sich ironisch halb entwertenden Pointenlust das Verlangen nach empirischer Ausweisbarkeit seiner Behauptungen über das Wesen des Ostjudentums abgekanzelt: »Ich habe jüdische Bauern gesehen: Sie haben freilich keinen Ghetto-Typus [für Roth die reinste Verkörperung ›des‹ Ostjuden – S.K.] mehr, sie sind Landmenschen, aber sie unterscheiden sich sehr deutlich von anderen Bauern. […] Ich weiß, daß diese Formulierung jeden ›konkret eingestellten‹ Menschen sofort zu der höhnischen Frage reizt: ›Woher wissen sie das?!‹ – Ich sehe das« (II. 889). Was die Ostjuden aus Fleisch und Blut angeht, die Roth schreibend zu vergegenwärtigen sich anschickte, sind sie gar nicht so sehr

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verschieden von denen, die Albert Londres beschrieb (s.o.). Ihr Magen knurrt, Krankheiten lehren sie das Fürchten, unnötige Wege lieben sie nicht, schöne Stoffe dagegen schon und Kinder, die weder Krätze noch Ruhr haben, ebenfalls. Nur sind sie in Roths theatralischem Gut-Böse-Weltschauspiel dazu verdammt, ihre Rolle als guter Gegenpol und Opfer des »Westens« ausfüllen. Der bloß vorfindliche, sich seiner welthistorischen Rolle nicht bewusste Ostjude dagegen wünscht sich Produkte der westlichen, technischen »Zivilisation«, sei es Wohnkomfort, Hygiene oder Medizinalien – Roth erklärt das kurzerhand zu uneigentlichen, unwirklichen Bedürfnissen, zu Verführungen. Der westliche Ungeist »schickt Propagandaseifen [!] und Hygiene, Nützliches und Erhebendes, [er] macht eine lügnerische Toilette für den Osten« (II. 828). Wenn dem Ostjuden »der Westen Freiheit, die Möglichkeit zu arbeiten und seine Talente zu entfalten, Gerechtigkeit und autonome Herrschaft des Geistes« bedeutet, so nur deshalb, weil der ›Westen‹ raffiniert und strategisch geschickt die Ingenieure und Automobile den ›Büchern und Gedichten‹ hinterherschickt, denn den letzteren traut der Ostjude aus Gewohnheit!« In diesem gänzlich willkürlichen Scherz bringt Roth das andere, bevorzugte Soll-Bild des Ostjudentums unter, das Orientierung und religiöse oder gemeinschaftliche Ursprünglichkeit suchende Westintellektuelle jener Zeit so gerne beschworen, um ihre eigene, innere Nähe zu dieser Bevölkerungsgruppe zu begründen: dass der Ostjude nur deshalb arm und lebensuntüchtig sei, weil er innerlich für Goethe und die Philosophie brennt. Er wurde damit zu einem Spiegelbild des westlichen Idealintellektuellen, weil der offenbar sich selbst nicht verzeihen kann, dass er sich in Konsum, Wohlstand, moderner Medizin, Freizeit, Nachtleben, Reiselust, Hotel- und Wohnfomfort, Pluralismus der Lebensweisen, sexuellen und weltanschaulichen Freizügigkeiten ergeht. Und der der westlichen Gesellschaft nicht verzeiht, ihn, den Literaten-Philosophen, nicht mehr kultisch zur metarationalen Therapieinstanz aufzuladen und an seiner Stelle Technik und Wissenschaft als Leitmedien vorzuziehen.

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Roth konnte sich wohl nur im schreibend halluzinierten Glück von Lebensläufen ›mit sich identisch‹ fühlen, die dem eigenen Weg entgegengesetzt waren. Daher kommen in seinen Erzähltexten niemals Figuren seines Milieus vor. Dieses andere Leben verband er mit privaten Narrativen vom Ursprung der Leiden durch Verlassen oder Verleugnen des Ursprungs: Die Quelle allen ostjüdischen Elends ist nach Roths Essay daher, dass der Ostjude gar nicht wisse, wie gut es ihm eigentlich geht, er sehe nicht »die Vorzüge seiner Heimat«. Solche ebenso grotesken wie zynischen Konstruktionen kennt man aus der Geschichte der kulturkritischen Intelligenz zur Genüge – bis hin zur Verklärung des Massensterbens am Hunger in Maos China durch die linken Führer-Bewegten wie Rudi Dutschke, die es als neues Reich der glücklichen Entsagung und freiwilligen Armut beschrieben388. Innerhalb von Roths Werk sind sie in dieser Massivität vermutlich etwas Neues. Auffälligerweise wird sein Stil hier unsicher und wirkt, als rede sich hier jemand in Rage und vermische unbedacht disparate Leerfloskeln der Schlagersphäre mit üblen Ideologemen: Der Ostjude sehe »nichts von der Qualität dieses Menschenmaterials, das Heilige und Mörder aus Torheit hergeben kann, Melodien von trauriger Größe und besessener Liebe. Er sieht nicht die Güte des slawischen Menschen, dessen Rohheit noch anständiger ist als die gezähmte Bestialität des Westeuropäers, der sich in Perversionen Luft macht und das Gesetz umschleicht, mit dem höflichen Hut in der furchtsamen Hand« (II. 828f). Das ist ein übler Aufguss demagogischer, sich hypermoralisch schminkender Klischees, aufgeblasen in den Oppositionskonstruktionen: Anstand in der Rohheit versus Bestialität; perverser Westeuropäer versus Güte des slawischen Menschen; simulierte Höflichkeit versus echtes Leben etc. Dazu die indezent angehäuften, gewählten Adjektiva und Verba.

388

Vgl. Gerd Koenen, Die großen Gesänge. Lenin, Stalin, Mao Tse-tung: Führerkulte und Heldenmythen des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1991, S. 407ff.

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Roth vergaß in seiner Schreib-Rage alle guten Vorsätze, die er seinem Dienstherrn Benno Reifenberg vor Reiseantritt zu hegen versicherte – nicht ohne abermals eine grobe Spitze gegen seinen Vorgesetzten mitzuliefern: »Im Gegensatz zu ihnen [!] bin ich auch infolge meiner Abstammung und meiner Kenntnisse des Landes gegen eine Überrumpelung durch das gefeit, was man als ›russische Mystik‹, ›Seelengröße‹ und dergleichen bezeichnet. Ich weiß zu gut, was westeuropäische Menschen [!] immer wieder vergessen, daß die Russen nicht von Dostojewski sind«389. Er kannte sich nicht genug, um dann nicht doch mit der »gezähmten Bestialität des Westeuropäers« abzurechnen im Namen der »Güte des slawischen Menschen«. Wir finden auch in diesem Essay jenes Motiv, das Roth häufig einsetzte, wenn er darstellen sollte, wie der Umschlagpunkt oder die Vermittlung oder das Ineinanderwirken der polaren Ordnungstypen (Westen-Osten) geschieht: Es ist ein Rätsel, eine Halluzination, ein böses Märchen, eine Verzauberung – die Ostjuden in allem ihrem Glück der Beschränktheit, Sinnfülle, gemeinschaftlichen Gebundenheit sind Opfer böser Verführer. Wer von ihnen in den Westen geht, tut es »aus Trieb und ohne recht zu wissen, warum. Sie folgen einem unbestimmten Ruf der Fremde oder dem bestimmten eines arrivierten Verwandten, der Lust, die Welt zu sehen und der angeblichen [sic] Enge der Heimat zu entfliehen, dem Willen zu wirken und ihre Kräfte gelten zu lassen.« (II. 831) Wie an vielen emotional hoch besetzten Stellen, an denen die Zwänge des Ambivalenzdilemmas direkt spürbar werden, verfällt Roth auch hier in kunstgewerbliche Lyrismen und Ausdrucksretorten: Die Sünde, das Verlassen des Schtetls, dieser Existenzsprung in die »Moderne«390, wird vom Schick389 390

Briefe, S. 91. Dostojewski war »die Antwort der Konservativen auf Zola, den Helden der ehemaligen Fortschrittler«, Stern 1986, S. 253. Der von Roth imaginierte Weg in den Westen gleicht in Grundzügen dem Schritt hin zu etwas, was heutige Soziologen die »abstrakte Ich-Identität« der Moderne nennen würden; vgl. Habermas 1985, S. 10f.

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sal angemessenerweise mit Selbstverlust bestraft: »Sie gaben sich auf. Sie verloren sich. Die traurige Schönheit fiel von ihnen ab, und eine staubgraue Schicht von Gram ohne Sinn und niedrigem Kummer ohne Tragik blieb auf ihrem gekrümmten Rücken. Die Verachtung blieb an ihnen kleben« (II. 833). Derartige Instrumentalisierungen einer Ethnie in den ideologischen Gemälden westlicher Intellektueller waren den Ostjuden selbst vermutlich nur zu gut bekannt. Jedenfalls empfing ein offenbar begabter Ironiker namens Elimelech Kaiser den berühmtesten Sohn seines galizischen Städtchens, Samuel Agnon, bei dessen Rückkehr in die Heimat für einige Wochen mit folgenden Worten: »Die Touristen, die sitzen in schönen Städten und fahren in der ganzen Welt spazieren, und zu uns sagen sie, wir sollen hier an unserem Platz wohnen bleiben, da, wo unsere Väter gebetet haben, damit wir als Märtyrer für die Heiligung des Namens fallen, um dann von den Völkern der Erde gepriesen zu werden, wenn sie hören, wie wohlgefällig das Volk Israel ist. Es nimmt Leiden auf sich und läßt sich Seinetwegen umbringen. [Wir] sollen unaufhörlich den Versöhnungstag begehen, oder den Trauertag [, damit] man berichten kann, daß dies das Volk ist, das an Gottes Wort hängt und um Israel trauert«391. Roths Essay »Juden auf Wanderschaft« hielt bei aller individuellen Ambivalenz kräftig mit im Chor der Zeitgenossen, die mit wechselnden Vorzeichen gerne singularisch pauschal »Der Osten« und »Der Westen« sagten – schmutzig, aber vital und durchseelt von Gemeinschaftsgefühl, Idealismus und (religiöser oder volkshafter) Werttreue der erste, hygienisch, technokratisch, atomisiert, flüchtig und effizienzanbetend der andere392. Deutlich klingt jene »Bubertät« 391 392

Agnon 1993, S. 17f. So tief, dass zum Beispiel 1930 auf der Hygieneausstellung eine jüdische Broschüre die Frage nach der Andersartigkeit, Anfälligkeit, Widerständigkeit ›des‹ Ostjuden einfach so stellen konnte: »Warum wurden die polnischen Juden ›schmutzig‹?« Gilman 1994, S. 162. Vgl. auch das bestechende KafkaBeispiel ebd., S. 164.

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(Scholem393) des aus sicherer Entfernung westlicher Schreibstuben verklärten Ostjudentums nach, eine vitalistisch gefärbte Version des »Guten Wilden«; »echt und unberührt« war der Ostjude auch für Roth (II. 883), wie für (den jungen) Buber ist der Ostjude Dionysiker: Mit der »Kraft eines fanatischen Glaubens« feiere der Ostjude das Fest der Thora, bacchantisch und bei strahlender »Gesundheit« (II. 848). Drei Dinge fallen darüber hinaus auf: Die disparate Schreibweise und Rhetorik des Essays, die Erweiterung in ausladende, kulturkritisch-polemische Täter-Opfer-Szenarien unter bedenkenloser Verwendung affektiver Klischees der flottierenden Diskurse und die Fixierung (!) auf antagonistische Strukturen, die nicht vermittelt werden sollen, jedoch paradox ineinander umschlagen können: Wesentliche Eigenschaften, die man als Zeichen der Überlegenheit des Westjuden pries, fand Roth bei ›seinen‹ Ostjuden in gesteigerter Form, und zugleich all das, was die Panegyriker des guten Wilden aus dem Osten für das ihre hielten. Dass es in seinen Bildern und Wertungen der (gefühlten und erschriebenen) Wirklichkeit vor allem um die Abwehr der Vermischung oder Vermittlung antagonistischer Kräfte gehe, war sich bereits der junge, vermeintlich »sozialistische« Roth sicher – und verband diese Idee fixe auch hier mit heftigen Bedürfnissen. Der »Normalmensch«, heißt es 1921, jener Typ, der alles an die Elle des »Mittelmaßes« zwinge, sei »weder verdorben noch erhaben. Er steht zwischen dem Verworfenen und dem Idealen und ist der Gegensatz beider« (I. 685 – Hervorhebung von mir). Man sieht: Die ambivalenzgetriebenen Konstruktion waren von Kontext und Lebensphase 393

Scholem 1994, S. 65. Nach Scholem war das seinerzeit ein verbreiteter Ehrentitel für die »Ergüsse und Buber-Imitationen seiner Jünger«, nicht also für den Meister selbst. Scholems Erklärung für diesen »Kult alles Ostjüdischen« ist unbefriedigend schlicht: »Je mehr wir in unseren eigenen assimilierten Familien auf Ablehnung ostjüdischer Art und Verachtung für alles, was Ostjuden und ihre Lebenswelt anging, stießen […], desto stärker zog uns gerade dieses Wesen an«, ebd., S. 48.

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unabhängig und konnten mit verschiedenen Objekten gefüllt werden. Die Mitte ist gar keine oder eben: nicht existent; sie ist der Gegensatz. Als Roth ein gutes halbes Jahrzehnt später diese Schemata seinen kulturkritischen Täter-Opfer-Szenarien zugrundelegte, verordnete er dem Ostjuden, er müsse zuallererst die Vermittlung der Gegensätze fliehen – oder rückgängig machen. Roths ›eigentlicher‹ Ostjude394, sähe er doch nur seinen Wesenskern, ist nicht nur viel östlicher als das, was bloße Augen sehen. Er ist in seinem verborgenen Inneren nicht nur das blanke Gegenstück zum schnöden Westen, sondern zugleich viel ›westlicher‹ als alles, was im »toten Raum« Deutschland sein zersetzendes Unwesen treibt. Er ist das komplementär Andere zum deutschen Wesen – und dabei deutscher als der liberalste Jude sich wünschen könnte: verwurzelt und zugleich ein Bildungsidealist, der Julius Langbehn Freude gemacht hätte. Es ist offensichtlich, dass derlei kuriose Konstruktionen nicht einer empirischen oder historischen Erfassung der Lebenswelt entsprangen, sondern dem Bedürfnis, gefühlte Kränkungen und Herabsetzungen durch willkürliche Generalisierungen und Überbietungsgesten zu kompensieren. In irgendeiner Weise scheint hier noch der gekränkte, gehemmte Schüler Moses Joseph Roth mit am Werke zu sein, der den »Geist« der Deutschen adoleszent bewundert und alles daran setzt, die zugleich verhassten, weil als überlegen empfundenen Deutschen von seinem eigenen Genie zu überzeugen. Nur so lässt sich erklären, weshalb Roth hier merkwürdig gekränkt die Deutschen herabsetzt, um dann im nächsten Augenblick eben jenen Deutschen zu beweisen, dass er (Roth) und »seine« Ostjuden im Grunde deutscher als die Deutschen selbst sind, indem der Ostjude konservativ sei wie der Deutsche (II. 883) und »in seiner Liebe zur Arbeit, seiner nüchternen Denkweise [!], seinem 394

Es ist nicht entscheidend für unseren Zusammenhang, dass Roth zwischendurch die Vielfalt im Ostjudentum betont (II. 84 u.ö.) – sein eigenes Vorgehen beruht ja auf der plakativ gezeichneten Frontlinie von (Juden im) »Osten« und »Westen«.

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ruhigen Leben dem Deutschen zu vergleichen« (II. 832). Ja, dieses amphibische Wesen ist zu alledem sogar ein modernerer Europäer als noch der aufgeklärteste Völkerbündler und Stresemannwähler – humanistisch gebildet (obwohl Roth von vielen zu berichten weiß, die kaum lesen und schreiben können), rational, pazifistisch, kosmopolitisch, antinational. Nicht genug damit, träumte Roth noch von der ostjüdischen Poesie der Schriftlosigkeit, die – ohne Täter-Opfer-Oppositionen scheint er keinen schriftlichen (sic) Schritt mehr tun zu können – von der höheren Kultur vernichtet werde: In das Tagebuch der russischen Reise notiert er, dass da, wo »Analphabetismus selten wird, [die] Fähigkeit zur Banalität« entstehe (II. 1012). Uralte Schätze an ›Geistigkeit‹ bekomme dennoch ein jeder (wahre) Ostjude in die Wiege gelegt, und daher sei es letztlich ganz nutzlos, den Juden zum Bauer zu machen. Der »Typus des ostjüdischen Landmenschen« soll jedoch »mit seiner ›Scholle‹ so verwachsen wie der Bauer« sein (II. 354)395. Er ist also der beste Bauer und zugleich ein »geistiger Mensch« (II. 889). Zudem Ahasver, der ewig Wandernde, auf den schon die Titelzeile »Juden auf Wanderschaft« anspielt. Die »Wurzellosigkeit« des Diasporajuden, von Feuchtwanger noch 1930 als zeitgemäße Flexibilität propagiert396, fasste Roth, unhistorisch aber charakteristisch, als Freisetzung von aller verpflichtenden Bindung auf. Da warb er mit großen Gesten um ›Mitleid‹ und machte wiederum Schuldzuschreibung für dieses Leiden, das für Gläubige doch auch ein Zeichen der Zugehörigkeit zum erwählten Volk ist. Und im nächsten Satz geißelte er alle Mühen der Israeliten um Beheimatung, sei es via Assimilation, Bildung einer religiösen oder politischen Nation und sogar via rechtlicher Gleichstellung, da es doch nur eine Heimat geben könne: die höhere, die gottgewollte. 395

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Behauptungen wie die von Timms 1996, S. 27, der späte Roth schreibe an einer Apotheose des »Ewigen Juden«, sind daher schlichtweg unrichtig. Sie leugnen die Ambivalenz. Erwähnt bei Ochse 1995, S. 201 (Anm. 64).

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Die wahren Ostjuden sind in diesen bis zum Bersten oder auch zur Komik von Roths Ambivalenzen geprägten Schreibfiktionen, erdverbunden und doch aller Wurzeln beraubt, obendrein lieben sie ihr Land »wie der christliche Teil des Volkes« (II. 831). Hinter diesem höchst ambivalenten Lob steckt zugleich die Abwehr des antisemitischen Stereotyps vom vaterlandslosen Juden. Die Ostjuden werden (in punkto Liebe zu Land und Leuten) gelobt, sich erfolgreich angepasst haben – und dennoch beklagt Roth, die vom Westen Verführten würden »sich – leider! – nicht zu langsam, wie man ihnen vorwirft, sondern viel zu rasch« assimilieren (II. 832). Diese als »Gäste aus dem Osten« (II. 827) despektierlich zu behandeln, verbittet er sich – die Rede von den »Wirtsvölkern« (II. 830) führt er allerdings selbst energisch. Der erste der von den Ostjuden selbst verkannten »Vorzüge« ihrer eigenen Heimat liege in der »grenzenlosen Weite des Horizonts« (Roths eigene Erfahrung waren komplementär andere397): Das ist im konkreten und übertragenen Sinne gemeint und erinnert sofort an die Eingangssätze der »Erdbeeren«. Doch »Fremden« gegenüber »stellen alle Ostjuden eine geschlossene Front entgegen, oder eine scheinbar geschlossene Front. Nichts dringt an die Außenwelt.« (II. 841) Das ist eine Variation jenes Lobs der »Grenze«, die jeder Ostjude um sich ziehe, »um sich vor Vermischung zu schützen« (II. 842). Sie lieben die Vorzüge der Grenzenlosigkeit und sollen sich doch sektiererisch abschotten. Obgleich man im Ostjudentum die »glücklichen Christen […] nicht verfolgt und nicht verspottet«, ist die »Verachtung, die ein Ostjude gegen den Ungläubigen empfindet, tausendmal größer als jene, 397

Die biographische Wahrheit über Roths Empfindungen in der (nicht über die) Enge der Provinz findet sich andeutungsweise in Briefen aus der Gymnasialzeit: In Brody sei alles ganz einfach »sehr langweilig«, lesen wir da mehrfach. In ersten epischen Skizzen heißt es dementsprechend, »in ewiggleichem Geleise schlich das Leben in meiner Vaterstadt seinen Schneckengang weiter« (vgl. Bronsen 1974, S. 93f).

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die ihn selbst treffen könnte« (ebd.), und das erst bringt die Würze ins religiöse Begehren (II. 842). Der wie aus Kränkungen hervorgehende Überbietungszwang gipfelt in Roths Versicherung, dass jeder »lernbegierige jüdische Jüngling« seinen Goethe und Schiller »besser kennt als unser hakenkreuzlerischer Gymnasiast« (II. 828). Hier wirft Roth in seinem Oppositionszwang alles durcheinander: Zwar ermöglichte das traditionell leistungsfähige Schulsystem der Juden eine vergleichsweise hohe Schriftkompetenz und Durchschnittsbildung398, doch der nicht-assimilierte Schtetljude studierte zuallererst Thora, (seltener) Talmud und religiöse Überlieferungen; nur der westorientierte und reform- und/oder assimilationsorientierte Jude wie Joseph Roth selbst huldigte der mitteleuropäischen (und insbesondere deutschen) Bildungsreligion und war tatsächlich typischerweise von einem Drang zur »Überbietung«399 der Umwelt geleitet. Eine solche Überschätzung der klassisch-literarischen Bildung hatte Roth selbst in der Gymnasialzeit mit auf den Weg bekommen – hohe Bildungsabschlüsse waren allermeist bereits ein Schritt Assimilation. Seine Gymnasiallaufbahn wurde, wie im Einleitungsteil erwähnt, möglich, weil er gerade nicht den (jiddisch und auf religiöse Gegenstände konzentrierten) Cheder, sondern eine BaronHirsch-Volksschule besuchte. Sein Deutschlehrer am Gymnasium, den er verehrte, trat als überzeugter ›Assimilant‹ und Bildungsidealist400 auf. Brody war nicht nur – bedingt durch direkte Handelsverbindungen zum Berliner und Leipziger Judentum401 – seit dem 18. Jahrhundert ein Zentrum der Haskala, sondern überhaupt international orientiert, weshalb die Kultusgemeinde früh eine säkulare Oberschule mit Deutsch als Unterrichtssprache gründete402. Die Stadt wi398 399 400 401 402

Vgl. z.B. Karady 1999, S. 120f, S. 140f. Karady 1999, S. 148. Bronsen 1974, S. 85. Asmus 2012, S. 32. Asmus 2012, S. 32. Zum Brodyer Gymnasium ebd., S. 34. Sehr viel materialreicher Bronsen 1974, Kap. 4, vor allem auch, weil hier viele Zeugnisse über Roths Spaltung in eine Rolle als braven Musterschüler einerseits, Träume von

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derlegt alles, was Roth vom wahren Ostjuden forderte: Vermischung von Ost und West betrieben die Brodyer Juden schon Jahrhunderte, bevor es den deutschen Nationalstaat gab. In Manès Sperbers Lebenserinnerungen findet sich die hübsche Episode von einem schlichten (›sitzengebliebenen‹) Mädchen im Schtetl, das »Lotte genannt werden [wollte], wegen Goethes Werther natürlich«403. Doch ist dies charakteristischerweise ein Mädchen, welches die Enge des Schtetl »verabscheut«404. Sperbers Einschätzung der sagenumwobenen assimiliert-jüdischen Bildung ist, in Parallele zu seiner eigenen Bewältigung der »jüdischen Identität«, weitaus nüchterner als diejenige Roths: »Die Gebildeten schmückten gewöhnlich ihre zu langen Reden mit Zitaten aus Werken der Dichter, welche nicht immer genau paßten; […] Am meisten verehrte man Schiller – er war der sublime Dichter der Ideale; man nannte häufig Goethe, doch nicht ohne eine gewisse Verlegenheit – wegen seines bedenklichen Liebeslebens […]«405. Nach Roth soll dagegen jeder Schritt in Richtung Aufklärung auch einen »Abfall vom Glauben« bedeuten, (vgl. II. 842) und der Glaube allein sei das Definiens des wahren Ostjuden (II. 889 u. 891). Gleichwohl polemisiert er gegen die ›Popularisierung‹ der Bildung (vgl. II. 1012) und schwärmt vom Glück des Analphabetentums (s.o.) – in »einem Volk, das seit 200 Jahren keinen einzigen Analphabeten gehabt hat« (II. 889). Wie so oft, wenn er sich einer Paradoxie bewusst wird, flüchtet Roth in einen Witz: »Während die andern Bauern erst mühselig zu schreiben und zu lesen anfangen, wälzt der Jude hinter dem Pflug die Probleme der Relativitätstheorie in seinem Hirn.« (II. 889) Dabei (oder deshalb?) sollen Ostjuden eigentlich gar keine Bauern sein können.

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starken, großen Männern, Heldentaten, Rachegefühlen andererseits dokumentiert sind. Sperber 1983, S. 103f. Sperber 1983, S. 104. Sperber 1983, S. 31.

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Dem »echten und urwüchsigen« Ostjuden ist – sehr ähnlich dem »bon sauvage«-Stereotyp im 18. Jahrhundert (s.u.) – »jedes Gesetz, das ihm persönliche und nationale Freiheit verbürgt, höchst gleichgültig« (II. 842). Roths Anhänglichkeit an dieses vermeintliche Handlungsmotiv haben wir mehrfach kennengelernt, etwa im »Erdbeeren«-Fragment. Historisch gesehen ist seine Behauptung willkürlich: Sobald Ostjuden nach bürgerlichen Lebensformen strebten – und das taten sie im polnischen Schetl häufig, Roths Mutter und Verwandte waren typische Beispiele dafür –, wurden sie in der Mehrheit Anhänger liberaler Werte, achteten also eben jenes »Gesetz«, das dem Ostjuden »persönliche und nationale Freiheit verbürgt«. Die pränationale Nischenexistenz der Juden war im ausgehenden Habsburgerreich nur möglich durch das sehr ›moderne‹, liberale, diplomatische Wirken assimilierter Brüder im Westen (Wien usf.). C.E. Schorske hat das auf folgenden Nenner gebracht: »Der Kaiser und das liberale System boten dem Juden einen Status, ohne eine Nationalität zu fordern; sie wurden zum übernationalen Volk des Vielvölkerstaates, und in der Tat zu dem Volk, das in den Fußstapfen der früheren Aristokratie trat. Ihr Glück stand und fiel mit dem des liberalen Staates. Noch wichtiger für uns ist es, dass das Schicksal des liberalen Bekenntnisses selbst mit dem Schicksal der Juden sich verstrickte. In dem Ausmaß, wie die Nationalisten jedes Volkes versuchten, in ihrem Interesse die Zentralgewalt der Monarchie zu schwächen, wurden die Juden somit im Namen jeder Nation angegriffen«406. Roths konstruierten Ostjuden, der doch eigentlich Grenzen um sich bauen soll, zieht es an einigen Stellen der WanderschaftsSerie heftig in den Westen, locken hier doch die »Freiheit, die Möglichkeit zu arbeiten und seine Talente zu entfalten, Gerechtigkeit und autonome Herrschaft des Geistes« (II. 828). Er scheint sich an derlei Stellen für den Liberalismus des Westens erwärmen zu können – obwohl der »Westen« schon 1921 nicht geographisch oder 406

Schorske 1982, S. 123.

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politisch, sondern als Chiffre für eine Lebensweise stand, die Individualität austreiben soll, »keine Abweichung« duldet von der gesellschaftlichen Uniformität (II. 631), also im Grunde für das, was Roth am Militär schätzte. Die Weimarer und auch die österreichische Verfassung nach 1918 garantierten jedoch gerade, wie schon die amerikanische, den Schutz jeder individuellen »Abweichung« im Sinne besonderer weltanschaulicher, moralischer, religiöser Überzeugungen und Vorlieben. Die großen, konfessionsartigen Essays aus der Phase nach der weltanschaulichen und persönlichen Krise zeigen einen Autor, der keine religiösen Gründe für seine Haltung und inszenierte Identifikation hegt; keinerlei eigentlich politische Gründe; der sich für den vorfindlichen Willen der Bevölkerungsgruppe nicht nur nicht interessiert, sondern diesen sogar vorschreiben will, was sie zu wünschen haben, wenn es seinem in Oppositionsfiguren und antagonistischen Wertungen, Täter-Opfer-Schemata konstruierten, diskontinuierlichen Kulturkampfgemälde dient. Und das Gesamtbild des Juden ist noch einmal selbstwidersprüchlicher. In manchen Artikeln der 1920er Jahre warf Roth den Juden vor, passiv ihres Schicksals zu harren, anstatt tätig und offensiv zu werden, während der Wanderschafts-Essay als höchste Tugend des (wahren) Ostjuden die vollkommene Schicksalsergebenheit preist (II. 842). II Ideale Juden, gute Wilde und Roths Schreibkampf gegen die westliche Moderne Roths Ostjude, so selbstwidersprüchlich und subjektiv-konstruiert er sei, ist dennoch ein Nachfahr des »bon sauvage« in neuem – direkt oder indirekt von Buber entliehenem, mit Rothschen Kapricen garniertem – Gewand. »Welchen Dank sollen Euch die Wilden wissen für die bei ihnen eingeschleppten [!] technischen Fertigkeiten und Künste, die sie zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse und damit ihrer Arbeit vervielfältigen? Was nützen ihnen die Gesetze, von denen sie

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sich nicht mehr Sicherheit versprechen können, als Sie sie besitzen?« Das konnte man 150 Jahre zuvor in der einst berühmten »Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans Les deux Indes« des Abbé Rayal lesen407, zu einer Zeit, da noch immer die im frühen 18. Jahrhundert einsetzenden (schwerpunktmäßig französischen) Kulturkämpfe um die Deutung der Indianer und Hottentotten tobten. Die dabei beanspruchten, idealisierenden Attribute der »Wilden« waren schon zu Zeiten des Kolumbus im Diskurs etabliert, doch einem breiteren Publikum erst selbstverständlich geworden und mit Ergänzungen versehen, nachdem 1703 der verarmte Landadelige und Offizier in Kolonialdiensten Lahontan den Indianer als einen glücklich Unverdorbenen zeichnete, der ohne Privateigentum lebe, kein Geld kenne, keinem Aberglauben, sondern einer »Vernunftreligion« huldige, sexuell vollkommen frei Beziehungen eingehe, da die Frauen ihre eigenen ›Herren‹ seien – und diesen Indianer der verhassten, absolutistischen französischen Gesellschaft (die Landadelige wie Lahontan verarmen ließ) als Idealbild entgegenstellte408. Damit wurde der »Gute Wilde« zu einer Waffe in kulturkritischen Fehden. »Ich weiß wohl, dass Sie sich mit Widerwillen mit einem Menschen abgeben, der noch tief im tierischen Wesen steckt«, redete sich Abbé Rayal in Fahrt und ließ Dinge folgen, die bei Joseph Roth ihr fast wörtliches Echo finden werden – ein erstaunlicher Fall von Stabilität kultureller Stereotypen: »Glauben Sie denn nicht, dass die Sie umgebende Korruption, Ihre Gehässigkeit, Perfidie und Doppelzüngigkeit meine Vernunft ärger beleidigt als die Unsauberkeit eines Hottentotten meine Sinne?«409 Die Vorstellung eines Zustandes, in dem das positive Recht noch etwas Unbekanntes ist, hatte es lange 407

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G.T.F. Rayal, Histoire philosophique et politique des établissements et du commerce des Européens dans Les deux Indes, 1770, zit. nach Krauss 1979, S. 42. Vgl. Kohl 1986, S. 63–76. Krauss 1979, ebd.

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vor Joseph Roth den Franzosen angetan: Die Ursprünglichkeit der Huronen und also die Größe ihres Glückes – meinte ein anderer Zeitgenosse – lasse sich daran messen, dass sie friedlich »ohne Gesetze, Gefängnis, Foltern sanft und gemächlich« zu leben verstehen410. Man erinnere, wie Roth das Schtetl und wohl sogar das Leben unter dem weise-gütigen Vaterkaiser Franz Joseph II. als ein sozusagen sich sanft, organisch wie von selbst leitendes ausmalte. Und wie er in »Erdbeeren« und anderswo das Schtetl idyllisierte, weil hier im Grunde niemand an die Gesetze glaube. Die Übertretung der Gesetze (Korruption) sei gar keine, vielmehr ein Befolgen der ungeschriebenen Regeln einer glücklichen Gemeinschaft, weshalb nie jemand im Gefängnis sitze. Woraus folgt: Die Unterwerfung unter ein positives, formelles Rechtssystem erzeugt allererst Kriminalität, den Kampf mit Abweichungen und Übertretungen. Wir kommen den historischen und topischen (im Gegensatz zu den psychologischen) Quellen der Rothschen Denkform nahe, wenn wir erfahren, dass einige Franzosen des 18. Jahrhunderts sich vorstellten, die ach so rohen Wilden, das seien in Wahrheit »große Träumer, die stets mit traurigen und schwermütigen Gesichtszügen« ihr Dasein zubringen, am liebsten schweigend und in steter philosophischer Betrachtung von Erde und Meer. Roths Ostjuden sind ganz in diesem Sinne außen Bauern, innen philosophische Köpfe, der Tugend nach brave Westbürger, allerdings sollen sie auch in sich ruhend und abgeschlossen, zugleich ahasverisch wurzellos und umhergetrieben sein – was der traditionelle Gute Wilde naturgemäß nicht sein kann. Das Überraschendste, was der Blick in die Kulturgeschichte lehrt, dürfte sein: Sogar Roths Motiv, die wahre Produktivität der Ostjuden offenbare sich erst in den großen Taten ihrer ›zivilisierten‹ Enkel, wurde im alten Frankreich vorgebildet: Einem damaligen Jesuiten war es ein deutliches Zeichen der Güte und Lebenskraft, dass (unsichtbar) »auf den Schultern dieser Völker die Köpfe eines Julius 410

Vgl. Krauss 1979, S. 38.

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Caesar, eines Pompejus, eines Augustus« ruhten411. Diese Vorstellung war alt: Spekulationen, nordamerikanische Indianer stammten von vorderorientalischen Völkern ab, zirkulierten bereits seit der Renaissance. Mal postulierte man gemeinsame Wurzeln in einer adamitischen Urreligion, mal gemeinsame Herkunft von alttestamentarischen, später auch nordeuropäischen Völkern412. Das Tagtraummaterial von Joseph Roths Ostjudenkonstrukt bestand also zu erheblichen Teilen aus traditionellen Stereotypen, die er in sein (geschichtsklitterndes) System der ambivalenten Oppsitionsfiguren und des Zusammenfalls der Gegensätze im Idealobjekt einbaute – und als Element eines in diversen Zungen redenden, feuilletonistischen Pasticchios integrierte. III Armutsverklärung und Idolatrie von Erfolg und Reichtum. Schreiben und Leben in Momentblasen Roth behauptet gegen Ende seines Essays plötzlich, ostjüdische Bedürfnislosigkeit und stoisch ertragenes Leid seien notwendige Voraussetzungen für das Hervorbringen von ›westlich‹ orientierten Ausnahmemenschen in der Enkelgeneration ausgewanderter Ostjuden. Diese singulären Individuen – und welch ›westlicher‹, über die Bon-sauvage-Topik weit hinaustreibender, geradezu Nietzscheanischer Genie-Kult (demnach die einfachen Menschen nur als Sklaven, geniale Ausnahmemenschen zu ermöglichen, nützlich seien) tritt dem Leser da mit einem Mal entgegen! – sollen die Traditionsgebundenheit des (Ost-)Judentums legitimieren: »Die ›Produktivität‹ der Juden ist ja niemals eine grob sichtbare. Wenn zwanzig Generationen unproduktiver Grübler nur dazu gelebt haben, um einen einzigen Spinoza hervorzubringen; wenn zehn Generationen Rabbiner und Händler nötig 411 412

Zit. Krauss 1979, S. 38. So der Jesuit Lafitau, Gegenspieler Lahontans, vgl. Kohl 1986, S. 84–87.

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sind, um einen Mendelssohn zu zeugen; wenn dreißig Generationen bettelnder Hochzeitsmusikanten nur dazu geigen, damit ein berühmter Virtuose entstehe, so nehme ich diese ›Unproduktivität‹ in Kauf. Vielleicht wären auch Marx und Lassalle ausgeblieben, wenn man aus ihren Vorfahren Bauern gemacht hätte« (II. 890). In der ihm gemäßen Doppelstrategie bestätigt Roth den antisemitischen Topos von der »Unproduktivität« des Juden und widerlegt ihn zugleich durch den überbietenden Aufweis des extremen Gegenteils, dabei eigenen Behauptungen (etwa der, man könne aus Juden eigentlich keine Bauern machen) freimütig widersprechend. Roth lebte beim Schreiben auch und gerade eines solchen metareflexiven Textes gleichsam in einer Momentblase. Das war die konsequente Umsetzung des Programms, das er, lange zuvor aus dem feuilletonistischen Flaneurstum entwickelt, in »Die weißen Städte« artikulierte. Was er dabei entweder nicht wahrnahm oder nicht ändern wollte: Wer in einer solchen Momentblase schreibt, kann sich subjektiv immens frei fühlen – doch diese Willkür, die ihren Wert aus der momentanen Wirkung gewinnt, wird meist umso stärker determiniert sein von unbewussten Ordnungsimpulsen und Klischees, denn diese sind nur transformierbar, wenn man geduldig immer wieder zu einem Problemkern zurückkehrt, seinen Entwicklungsstand mit dem Stand zu anderen Zeiten reflektiert, mithin ein stabil wertendes Ich als Instanz entwickelt, das über die Zeit hin operiert und in kritische Distanz zum Momentanen gehen kann – vor allem aber, wenn man stabile Kriterien für bessere und schlechtere Lösungen eines Sachoder Darstellungsproblems entwickelt und zur diskursiven Disposition stellt. Das erst macht möglich, ein Ich-Ideal konsistent zu entwickeln und in Auseinandersetzung mit der Umwelt und sich selbst umzusetzen versuchen. Zu den vielen Tatsachen, die Roth, gesteuert von seiner ambivalenten und momentzentrierten Konstitution, unterschlägt bzw. igno-

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rieren muss, gehört jene, dass gerade die Weigerung der Ostjuden, Elend und Verachtung aus religiösen Gründen auf sich zu nehmen und das sich in Osteuropa rasant verbreitende, oft nur durch pure Mittellosigkeit an der Ausführung verhinderte Verlangen, ›westlich‹ autonom und zivilisiert zu werden (»Propagandaseifen«), am Anfang herausragender jüdischer Kulturleistungen stand413. Betrachten wir dazu einen prominenten Fall: Der Vater Sigmund Freuds, ein Wollhändler und wie seine Gattin aus galizischem Judentum, dabei jedoch (ähnlich wie Roths Mutter), religiös liberalisiert, hatte seinem strebsamen Sproß einmal erzählt, wie er auf offener Straße von antisemitischem Pöbel diskriminiert wurde. Dass der Vater das, wie Juden meist, protestlos und gesenkten Hauptes hinnahm, rührte keineswegs – wie Joseph Roth sich wünschte – von religiöser Verinnerlichung oder Demut her, sondern von nackter, praktischer Vernunft und Gewöhnung an Diskriminierung ohne allen religiösen Mehrwert. Sohn Sigismund Schlomo lebte, wenn wir einem Essay Carl E. Schorskes folgen414, gleichsam an Vaters Statt die ausgebliebene Empörung aus und sublimierte sie in Sehnsucht nach den Waffen, die den Juden zur Verfügung standen: dem Intellekt, der Wissenschaft, dem Arztberuf, dem Schreibhandwerk. Sigmund erging sich adoleszent in Phantasien von Rache und Vernichtung größten Stiles – halluzinatorisch in der Rolle eines neuen Hannibal, des Herausforderers von Rom. Er schuf als Arzt und Virtuose der forschenden Vernunft ein Lebenswerk, um Rom, die Mutter der christlich-abendländischen Kultur, die das Jüdische ausgrenzte, in die Schranken zu weisen oder wenn möglich gar zu erobern – und diese übermächtige Kultur des Abendlands zu demaskieren. Schorskes glänzende Diagnose kann man mit Vorsicht paradigmatisch nennen: Individuelle jüdische Kulturleistungen gingen gerade nicht aus den Wurzeln des traditionellen Judentums hervor, aus 413 414

Karady 1999, S. 21 und S. 147 spricht ohne genauere psychologische oder historische Exemplifizierung von »kompensatorischen Mechanismen«. Schorske 1982, S. 178–180.

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einer latenten Produktivität der äußerlich in mittelalterlichen Rollen gefangenen Ostjuden, wie Roth sich ausmalt, sondern aus einer gesteigerten bzw. überbietenden Verwestlichung. (Allenfalls der traditionell starke Leistungswille, Arbeitsdisziplin und Selbstkontrolle, Folgen kollektiv gepflegter Überlebens- und ›Kompensations‹-Strategien, mögen aus der Vergangenheit stammende Faktoren solcher Kulturleistungen sein415.) Daher auch wurden alle von Roth angeführten ostjüdischen Sprößlinge groß, weil sie Schtetl-Enge und Tradition durchbrachen. Den Laufbahnen der bewundernd genannten Spinoza, Marx und Lasalle dürften diverse Züge eigen sein, die auch Sozialhistoriker typisch jüdisch nennen, doch mit Geist und Praxis von Schtetl und Ghetto verbindet sie gar nichts416 – jedenfalls nicht mehr als einen Descartes, Stirner oder Saint-Simon mit Golgatha, Paulus oder irgendeinem Urchristen. Warum sollen wir Liebermann und Rathenau als lebende Beweisstücke überlegener, da ursprungsnaher jüdischer Geistigkeit ehren, Corinth, Albert Einstein und Claude Debussy jedoch zuallererst als talentierte Individuen?417

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Vgl. Karady 1999, S. 21, S. 120–122. Es ist im zitierten Abschnitt nur vom Judentum überhaupt die Rede. Da Roth auch von »Rabbinern und Händlern« sowie »bettelnden Hochzeitsmusikern« schreibt, dürfte er jedoch an ein eher traditionelles, wenn auch nicht unbedingt orthodoxes Leben gedacht haben. Nur auf den ersten Blick ist Roths Dilemma identisch mit jenem bekannten, das so etwa 1781, dem Jahr, in dem Christian Wilhelm von Dohm in einer »epochemachenden« (Walter Grab) Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden« vorschlug, den Juden bürgerliche Rechte uneingeschränkt zu gewähren, sobald sie nur »durch Fortschritte in der wirtschaftlichen Umschichtung und sozialen Eingliederung den Erwartungen der Obrigkeit entsprachen« (Grab 1991, S. 114). Das war nur möglich unter Verzicht auf die strenge Befolgung der Ritualgesetze, und so sind alle Juden seither, in wechselnder Schärfe, versteht sich, gestellt vor die fatale Alternative: Mitzwah oder Bürgerrecht. Doch ist es eben (wie so oft bei Roth) nur eine dünne Decke aus tatsächlicher Sozialgeschichte, und sie drapiert (wie so oft) eine tieferliegende, individuell gefärbte Ambivalenz.

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Joseph Roths Adoration (nicht nur) jüdischer Karrieremenschen, Wunderkinder, medialer »Stars« und nicht zuletzt des Geldadels im Westen wurde gewiss in seiner Jugend angelegt, gleichfalls wohl der eigentümliche Drang, Kränkungen durch Erfolg westlicher Art, die Umwelt und letztlich den Westen insgesamt sozusagen zu überbieten – anstatt einen sinnerfüllten Platz in ihr und ihrem säkularen Individualismus und Pluralismus zu finden. Der Juden-auf-Wanderschafts-Text wirkt, als predige eine Kanzelrede wider die Sünde des Fleisches und fordere, dass, wenn einer in Gottes Namen schon nicht anders könne als sündigen, dann doch bitte wenigstens konsequent, exzessiv, diabolisch. So ist für Roth zwar jede Näherung an die »westlichen Unsitten und Mißbräuche« verwerflich (vgl. II. 838), doch der radikale Aussteiger, der im Westen auf säkulare Art mächtig oder märchenhaft reich oder einfach ein umjubelter »Star« der Massenkultur wird, war für ihn ein Beweis der Überlegenheit antiwestlichen (ost)jüdischen Wesens! »Hiob«, der zu Lebzeiten erfolgreichste Roman Roths, verdankt sein Dasein genau dieser Ambivalenz. Anfangs ist Mendel Singer geborgen in sich von moderner Pluralität und säkularem Erfolgsstreben abschottendem Ostjudentum, mit mehrfach die Kitschgrenzen überschreitender, sentimentaler Empathie gezeichnet. Mendels Elend kommt von äußerlichen ›Verführungen‹ aus der Welt der großen Geschichte, der Nationen, der Moderne, des individuellen Erfolgsstrebens, des Pluralismus – wobei seine glückliche Einfalt sich im volksnahen Legendton ausdrückt, der dem der Bibel nahe ist. Das filmreife Happy-end des Romans allerdings stellt alles auf den Kopf und wurde dementsprechend kritisiert418, jedoch nur geschmäcklerisch, ohne es in seiner Eigenlogik zu verstehen oder zu begründen: Der ›verführte‹ Mendel wird spät erhöht und versöhnt, weil sein Sohn ›Karriere‹ macht, und zwar in Amerika, für Roth bekanntlich der Inbegriff verteufelter Moderne. Was wiederum seinen oben zitierten »Selbstverriss« des Romans »Rechts und Links« bestätigt, 418

Vgl. Bronsen 1974, S. 385 und S. 391.

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der den Leser belächelt, welcher romanhafte Werte und Überzeugungen nicht nach poetischen Gesichtspunkten, sondern hinsichtlich der Widerspiegelung realer Lebenswelten und vor allem einer konsistenten Psychologie beurteile. Am Ende des »Hiob« steht keine Lösung der Ambivalenz, sondern ein paradoxes und in dieser Paradoxie vielleicht wiederum poetisch reizvolles Tableau: Mendel verzeiht seinem Gott die Prüfungen und entblößt (nach Jahrzehnten zum ersten Mal) – ähnlich wie der Vater des Helden von Solferino im »Radetzkymarsch« – sein Haupt vor dem eintretenden Sohn, als wäre der der leibhaftige Messias, obgleich der doch einfach ein »Star« der Kulturindustrie geworden ist. Mendel findet zu Gott zurück, indem er ein doppeltes Sakrileg begeht – und so die Realität des Wunders in der Gegenwart erfährt! Wer in der Orthodoxie verbleibt, so müsste man aus Roths Fabel schließen, ist einfach nur nicht fähig, im Westen zu reüssieren. Die Bande des Schtetls wären die – womöglich verdienten – Ketten der Talentlosen, die des erfolgsorientierten »Self-Managements« nicht fähig sind. Auch hier können wir uns vorstellen, wie das anfängliche erzählerische Vorhaben, das der tagtraumartig dichten Beschwörung der verschwundenen Schtetl-Welt galt, mitten im Schaffensprozess umstürzte in etwas komplementär Anderes. Ein »Märchen« nannte Döblin, der große Stücke auf den Erzähler Roth hielt, eine leichtgewichtige, kleine Gelegenheitsarbeit aus den Pariser Exiljahren, die die Geschichte vom verlorenen Sohn Menuchim nacherzählt419. Ein »Wunder« heißt es gleich im ersten Satz, und im letzten, der Vater sei ob eben dieser wunderbaren Karriere wieder herzenseinig geworden mit seinem Gott. Ganz wie Mendel Singer aus dem Roman »Hiob«. Nur dass eben Döblin den verlorenen Sohn keine Größe im westlichen Kulturbetrieb werden ließ, sondern einfach einen berühmten »Kantor«, wenn auch auf sachten Abwegen. In solchen Details zeigt sich: Döblin war lebenslang ein Suchender, doch haderte 419

Märchen von der Technik, abgedruckt in Döblin 1997, S. 215–217.

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er mit keinem dramatischen Ambivalenz-Ordnungs-Identitäts-Dilemma. Auch ein Vergleich des Rothschen »Hiob« mit Geschichten Scholem Alejchems würde die Prägung der literarischen Einbildungskraft Roths durch das Ambivalenzdilemma zeigen. Angesichts der bröckelnden Zimmerdecke in einem Astrachanischen Hotel nehmen sich die ›Lügen‹ westlicher »Hygiene« schon etwas anders aus (II. 610) und für »westliches« Fliegenpapier gäbe Roth Königreiche, machen doch die »Fliegen, nicht die Fische achtundneunzig Prozent der Astrachaner Fauna aus« (II. 611). Den Schluss daraus allerdings wagte er nur privatim zu ziehen, postalisch aus dem wundersamen, ursprungsseligen »Osten« dem werten Reifenberg zugesteckt: »Ich sehne mich nach einem Hotelzimmer im Frankfurter Hof. Ach, fließendes Wasser! Warm, kalt, kalt, warm, Telephon, zehn Glocken, drei Lampen, Badezimmer nebenan, wollige Tücher, Automobile, weiße Servietten«420. Roth kaschierte mit seiner persistenten Ironie, dass sich in diesen kleineren Verlogenheiten nicht Charakterschwächen, sondern psychische Gesetze seines Lebens, Schreibens und vor allem der Ursprung seiner theatralischen »Kulturkritik« seit den Krisenjahren um 1925 zeigen. Die innere Konfliktlogik verhinderte, das Naheliegende zu suchen, nämlich Vermittlungsstufen zu dem, was hier als antagonistisch ausgegeben wird – also auch kontinuierliche Lern- und Entwicklungsprozesse anzustreben. Wie entfesselt und unkontrollierbar die inneren Ambivalenzen in diesen Krisenjahren für Joseph Roth bereits waren, wie zynisch daher seine Adaption der Klischees vom edlen Wilden im Ostjudentum, kann ein Vergleich mit einem nur wenige Monate zuvor entstandenen Text zeigen, in dem Roth regelrecht in selbstvergessene Verzückung gerät angesichts der flanierenden, allein den Göttern Hedonismus und Prahlerei huldigenden »Luxus-Schicksale« an der Adria: »Es ist wunderbar, in so guter Gesellschaft zu leben, die bei Tag nackt und abends im Smoking ist, abgebrannt und hygienisch, sauber und gut erzogen […], ohne die Laster, welche eine Folge der Arbeit sind« (II. 447 [FZ, 420

Briefe, S. 97f.

8 Ambivalenz und idealer Jude

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26. 10. 1925]). Auch hier inspirierte ihn die Strategie des Verkehrens von werthaften Oppositionen und Ordnungsgegensätzen: Sie brachte ihn zur witzigen Verkehrung der erwarteten Assoziation von Tag mit Kleidung und Nacht mit Nacktheit innerhalb der Tag-Nacht-Opposition. Der Witz wird in diesem Falle gesteigert durch die ubiquitär angewandte Manier der singularischen Generalisierung: Nicht diese oder jene Person ist am Tag nackt, sondern pauschal die Gesellschaft als Ganze, also eigentlich ein Abstraktum. Nur die Ambivalenz kann einem Schreibenden, der sich wie ein Konsument der Klatschpresse von den happy few und VIPs und Royalities in Verzückung bringen lässt, die Idee eingeben, »abgebrannt« in die Reihe der Herrlichkeitsattribute zu schmuggeln, und zwar als witzigen Kontrast innerhalb einer Phrase zur »Hygiene«. (Dieser Kontrast aktiviert wohl auch Konnotationen von Brennen und damit der Produktion von Asche oder Abfall einerseits, andererseits der Hygiene als Zeichen von Makellosigkeit, Selbstkontrolle, Gesundheit, körperlicher Distanz zum Schmutz der Armen.) Gipfel des hedonistischen Glücks jenes Geldadels, der von den »Lastern« (!) der Arbeit befreit sei, ist ein Zugleich von Allmacht und Flüchtigkeit, ein Paradox von Freiheit: Gar nichts haben und so übermäßig viel Geld haben, dass das Leben ein einziges, sorgenfreies Prassen und Vorführen des Prassens wie wohl auch der (»hygienischen«) Körper ist. Treibende Kraft dieser gewitzten Formulierungen war ein paradoxambivalentes Verhältnis zum Geld, das Roth von Anfang an prägte421. Sein Leben lang rannte er dem Geld buchstäblich hinterher, ob er gerade viel oder wenig verdiente. Es geriert ihm so – eigentlich ein Mittel, das Leben autonom von anderen zu gestalten –, je mehr er verdiente, zum Zwang, durch den er – meist wiederum kokett werbend und charmierend – von anderen abhängig wurde. 1929 verdiente er ausnehmend gut für einen Literaten, »aber es ging ihm trotzdem finanziell schlecht. Eigentlich war er immer in 421

Viele Beispiele bei Bronsen 1974, z.B. S. 204 der Bericht über großspurige Freigiebigkeit gegenüber Friedls (seiner späteren Gattin) Schwester.

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Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung

Geldnot. Das kam daher, daß jeder sein Gast war, denn er war ein großer Kavalier und außerordentlich freigebig.«422 Dieser mehrfach bezeugten Pose nach wollte Roth nicht nur die Menschen rundherum günstig stimmen und wohl auch unter Alkohol setzen, damit er, Roth, der nach der eben zitierten Zeitzeugin stets alkoholisiert war, sich zumindest vorübergehend in Gesellschaft seinesgleichen befand. Er wollte auch schauspielernd sich und der Umwelt insinuieren, besonders unabhängig und souverän, also autonom in Gelddingen zu sein – just in jener existenzbestimmenden Frage, in der er nie zu Souveränität und Freiheit und damit zu Lebensplanung gelangen konnte. (Das ist ein geläufiges Verhalten bei instabilen Persönlichkeiten, s.u., Vierter Teil.) In der »Legende vom heiligen Trinker« hat er diese elementare, sein Leben bestimmende und zerrüttende Ambivalenz in einer ebenso kindlichen wie gelassen ironischen, immer aber auch um Mitgefühl für den Eigenverantwortung abwehrenden Helden buhlenden Weise als eine dargestellt, die gleichsam im Leben selbst bereits poetisch wird. Dabei verband er das infantile Verhältnis zum Geld mit einer infantilen Abwehr eigenverantwortlicher Lebensgestaltung (aus der das Dahingleiten in Momentblasen folgt) und deshalb mit Alkoholismus und dem Roth von früh auf eigenen Wunderglauben423. Frappierenderweise sind diese vier Elementarien seiner psychischen Konstitution hier noch hyperkompensatorisch mit Imaginationen männlich-sexueller Dauerpotenz verknüpft. 9 Exkurs: Geld, Mutter, Sexualität, Opfersein »Die Legende vom heiligen Trinker« als Konzentrat der poetisierten Ambivalenz. Stil als Verdrängung Andreas Kartak ist ein unschuldiges Opfer der Industrialisierung und vor allem des westlichen Wohlstandsversprechens geworden: Er 422 423

So eine junge, jüdische Schauspielerin und Affäre Roths der damaligen Zeit, zit. nach Bronsen 1974, S. 368. Bronsen 1974, S. 77.

9 Exkurs: Geld, Mutter, Sexualität, Opfersein

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verließ seine polnische Heimat und ging nach Frankreich, um sich dort als Kohlearbeiter zu verdingen. Er, der arme Osteuropäer, trägt das Ost-West-Dasein wie andere Protagonisten Roths schon im Namen: »Andreas« ist ein typischer deutscher, »Kartak« eher ein osteuropäischer Name. Letzteren, den »Vatersnamen« (VI. 528), vergisst Andreas zwischenzeitlich. Als er ihn, mittlerweile obdachloser Outcast, beim Durchsehen seiner ungültig gewordenen Papiere wieder erinnert, ist ihm, »als entdeckte er sich selbst erst seit langen Jahren wieder.« (ebd.) Von einer Mutter keine Rede: Schon Andreasʼ Vater war Kohlearbeiter, und es steckt in Andreas noch ein Stück Bauerntum von Großvaters Seite her. Daran erinnert er sich, wenn er ein einziges Mal später im Leben als Obdachloser und Trinker für Geld arbeitet, auch das, ohne diesen Job zu suchen und nur ein Wochenende lang: Umzugshelfer für einen freundlichen, alten Herrn. Während dieses einzigen Versuchs, planmäßig zu handeln, um Geld und damit Möglichkeiten der Ich-Gestaltung nicht per Zufall (»Wunder«) oder Mitleid zu erlangen, erinnert er sich also des wichtigen Aspektes der persönlichen, im vollständigen Namen fassbaren Identität, die er ansonsten mit dem Osten und dem Vaterhaus verlassen zu haben scheint. Andreas gedenkt einer »Wurzeln« – nun aber wird er schikaniert von der Gattin des Auftraggebers. Sie steht für Reichtum, und Macht über ihn, Andreas, denn »sie war eine Dame« (VI. 522). Auch Geiz und Wunsch nach Kontrolle spricht aus ihr, ermöglicht durch persönliche Selbstkontrolle und Lebensplanung – deren Abwesenheit Kartak zu einem ewig Abhängigen macht. Sie zieht ein Zehnfrancsstück, das sie Andreas zunächst als Trinkgeld geben möchte, zurück, gibt nur die Hälfte, und das begleitet von der Mahnung, es nicht zu vertrinken und am nächsten Tag pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Aufgefordert von einer mütterlich besorgten, den gewohnten, verantwortungsvollen »Anstand« einfordernden Frau, kann Andreas dieses Versprechen als einziges auch halten – halb: Er vertrinkt nur das Trinkgeld und leistet sich vom Lohn ein

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Hotel und kommt am nächsten Tag pünktlich und »frisch an seine Arbeit« (VI. 522). Alle Versprechen, die Kartak Männern gibt, bricht er dagegen. Trinken tut er mit beinahe allen, Herren wie Damen, ausgenommen nur den noblen Spender ganz zu Anfang und die heilige Therese am Ende der Erzählung. Trinken nämlich ist das Mittel, um gleichsam in einer Momentblase zu leben, alle Zumutungen an Ich-Stabilität, Verbindlichkeit, Lebensplanung, Verantwortung gegen sich und andere gleichsam wegzuspülen – an ihre Stelle tritt der Glaube an Wunder – und dennoch Illusionen von Bindung zu leben. Vor allem im Trinken mit anderen, ungleich prekärer in der Sexualität. Eine selbst gesetzte Verpflichtung hält Andreas Kartak jedoch: Die gegenüber Therese (und damit gegenüber dem ersten, wohlsituierten Herrn und Gönner). Allerdings kann er dieses Versprechen nur halten durch das Eingreifen Thereses, das heißt des Mädchens, das Andreas für die heilige Therese (und träumend von ihr vorab: für seine Tochter!) hält. Sie ist die erste Frau, mit der er nicht nur ohne Sexualität und/oder Waren (Brieftasche) in Austausch kommt, sondern auch die erste, die Andreas einfach Geld gibt ohne Auflagen an Verhaltensbesserung oder (sichtbares) Eigeninteresse. Am Ende bricht er über dieser verpflichtungslosen Mildtätigkeit zusammen und wird von hilfreichen Händen, in die Kapelle der Therese getragen. Sie selbst (oder eine Namens-Doppelgängerin der eigentlichen Heiligen) begleitet den kollabierten Kartak in die Kirche (nachdem sie den dortigen Gottesdienst allerdings gemieden hat). Sein Leben endet in einem ersten, vertrauensvollen Anheimgeben an andere: Er selbst entscheidet noch immer nichts, seine Wundergläubigkeit siegt am Ende. Es ist natürlich ein Pyrrhus-Sieg, doch immerhin kann Kartak sich dank hilfreicher Hände bis zuletzt treubleiben und paradoxerweise halten, was er selbst, solange auf sich gestellt, nicht halten kann – ein Versprechen über einen längeren Zeitraum hinweg. Dass das Versprechen Geldbeträge betrifft, mag womöglich mit einer Ahnung Roths in das Wesen des Geldes zu tun haben: Es ist

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immer auch eine Art Versprechen und ein Mittel zum Aufschub des Konsums – weshalb Kartaks Verhältnis zu Alkohol- und Geldverbrauch sich ähneln. Sein Ende ist eine Erfüllung infantiler Wunschphantasien – kraft einer ohne Gegenwert empfangenen Geldspende durch eine wundersame (tochterartige, als sexuell tabuisierte) Kindfrau, die Kartak von Sexualität befreit und zugleich von Selbstvorwürfen, die ihm sein ständiger Bruch von Versprechen einträgt. Alkohol ist die Ermöglichung des Lebens in einer (infantilen) Momentblase und zugleich ein Trost über die hohen Verdrängungsleistungen, deren es bedarf, um in der Blase zu verharren. Ein Mittel zur Unterdrückung der Wünsche nach Verbindlichkeit (und den angenehmen Folgen, die sie haben kann), Ich-Stabilität und einer absichtsvoll handelnden Gestaltung des eigenen Lebens: Kartak weiß sicherlich, dass sein Vermeidungsverhalten bezwecken soll, sich vor den unlösbaren Konflikten zu schützen, die entstünden, wenn er seinen immer wieder schwach aufkeimenden Vorsätzen dazu, ein solches, verbindliches Ich zu entwickeln, nachgäbe. (Beispielsweise eine innere Leere in erotischen Bindungen und Arbeitsverhältnissen oder Eifersuchtsrasereien, Hassanfälle wegen Abhängigkeit u.a.) Alkohol macht die daran gebundenen Wünsche nach erfüllter Bindung vergessen: In der Betäubung der Momentblase verspürt man keine Angst, dass eine Bindung verlorengeht oder -ging oder keine mehr möglich ist. Von hier aus betrachtet ist es, nebenbei gesagt, höchst merkwürdig, dass Roth selbst einen Tick für Uhren besaß: »Seine Uhrensammlung war ihm eine echte Leidenschaft. Bei jedem Juwelier mußte er sich die Uhren in der Auslage anschauen. Kaufte er eine, so klemmte er sich eine Uhrmacherlupe ins Auge, sobald er ins Hotelzimmer zurückgekehrt war und verbrachte Stunden damit, sie auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen.«424 Kraft Alkohols musste er sich keine Gedanken mehr über Ich-Kontinuität in der 424

Nach dem Zeugnis von Manga Bell, zit. bei Bronsen 1974, S. 371.

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Zeit machen, weder über eine erwünschte noch über eine verfehlte: Der schützte ihn vor Folgen aus gemachten Erfahrungen, aufgeschobenen Entscheidungen und durchlittenen Konflikten – sei es mit Geld, sei es mit erotischen Bindungen oder mit Versuchen, eine heimatliche Verwurzelung zu finden. Kartaks Leben in der Momentblase ist hinsichtlich des Verhältnisses von Ambivalenz, Ordnung, Identität, Selbstbestimmung und Bindung eine Summe von Roths eigenem Dasein. Allerdings mit zwei charakteristischen Unterschieden: Erstens war für Roth im Gegensatz zu Kartak das Schreiben in Verbindung mit dem Alkohol das Medium eines aktiven, gestaltenden, sozusagen narzisstisch überkompensierenden Lebens in der Momentblase, ein Refugium vor den Zumutungen an Verbindlichkeit des eigenen Handelns in der Zeit und insbesondere im Privaten. Zweitens rührten erhebliche Teile des Unglücks und der Unruhe des realen Joseph Roth daher, dass er selbst die radikale Bindungslosigkeit und emotionale Gleichgültigkeit in Intimbeziehungen, wie sie in der »Legende« imaginiert wird, gerade niemals leben konnte – vielmehr umgekehrt ganz früh, und insbesondere auch in Beziehung auf seine Frau Friedl, unentwegt in Raserei vor Eifersucht geriet, abgelöst von Zuständen völliger Gleichgültigkeit und Fremdheit. Das heißt: Die innerlich unbeteiligte Distanz, die das Leben des Trinkers Andreas in der »Legende« in beliebige, lustlose, persönlichkeitslose Treffen mit Sexualobjekten führt, ist ein »Ideal«, dem Roth im realen Leben niemals auch nur nahekam, obgleich die Inhaltslosigkeit einer Intimbindung über körperliche, beliebige (und offenbar lustlose) Akte hinaus, wie sie in der Legende drastisch beschrieben werden, Roth im realen Leben immer wieder eingeholt haben dürfte: Die Frauen des Kurzromans, ausgenommen das (vielleicht »heilige«) Mädchen Therese, erfüllen sozusagen märchenhaft leicht die Wunschphantasie aller ängstlichen, gleichsam MannesIch-schwachen Männer und bieten ohne langes Abtasten der Person

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sofort ihren Körper als Sexualobjekt dem Manne dar wie in einem billigen pornographischen Film. Diese märchenhafte Erfüllung der angstgetriebenen Männerphantasien ist die Kehrseite der Abwesenheit jeden persönlichen Austauschs – und des misogynen Bildes von der Frau als Hure (Gabby), als vereinnahmender Mutter (Karoline, Umzugsarbeitgeberin), dem in typischer (hysterischer) Oppositionsphantasie das komplementär andere Bild der »heiligen«, unkörperlichen, kindlich reinen, gütigen, nichts fordernden, nur empathisch gebenden Kindfrau Therese entgegengestellt wird. Der Kurzroman ist erstaunlich offen und konsequent in der Wunscherfüllung von Männerphantasien und -ängsten: Sexualität, die die Frau in diesem von infantil verpackten Geschlechter- und Bindungsklischees erfüllten Kurzroman anbietet, ist keine Sehnsucht nach Begegnung mit einer anderen, individuellen Person oder nach Gemeinsamkeit und noch weniger der nach Lust, viel eher ein hilfloser Versuch, die Bindungslosigkeit durch lust- und geheimnislose Fleischvereinigung für einen Augenblick vergessen zu machen. Der Alkohol wirkt dabei mit mehreren anderen seiner Eigenschaften hinein: Er ist ein Betäubungsmittel, das, in größeren Mengen einverleibt, die Erlebnisfähigkeit stark einschränkt, während er zumindest vorübergehend subjektiv das Selbstbewusstsein heben und Hemmungen abbauen kann. Die Bedeutungslosigkeit der körperlichen Intimität im Erleben und für die Bindungswünsche im Roman dürfte allerdings eine Art stilvermittelte Verdrängung sein, denn umgekehrt ist die Suche nach dem körperlichen Sexualakt neben dem Wunsch nach Geld das allesentscheidende Movens im Lebens von Andreas über Tage, das heißt, nachdem die »Wunder« an Geldgeschenken ihn aus der Nacht der Obdachlosigkeit geholt haben. Andreas scheint (zumindest, seit er durch die Geldspende wieder in die bürgerliche Gesellschaft zurückkehrte) gar keinen anderen Inhalt im Leben zu kenne als trotz (oder wegen?) seiner Drogensucht auf Sexualakte aus zu sein. Auch das kann als Männerphantasie gedeutet werden, die in die

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sonst hilflos und passiv dahintreibende Trinkergestalt projiziert wurde: Regredieren in einen infantilisierten Trinker, der jedoch permanent sexuell potent ist. Das Simulatorische drückt sich auch hier in arglosen Verwendungen populärer Klischees aus, teils ungeschickt im Satzbau, teils in metaphorischer Schlagersentimentalität: »Sie verbrachten eine Zeitlang beim Essen und Trinken und fuhren hierauf, noch einmal im Taxi, zurück nach Paris, und auf einmal lag der strahlende Abend von Paris vor ihnen, und sie wußten nichts mit ihm anzufangen, eben wie Menschen nicht wissen, die nicht zueinander gehören und die nur zufällig zueinander gestoßen sind. Die Nacht breitete sich vor ihnen aus wie eine allzu lichte [sic!] Wüste. Und sie wußten nicht mehr, was miteinander anzufangen, nachdem sie leichtfertigerweise das wesentliche Erlebnis vergeudet hatten, das Mann und Frau gegeben [!] ist.« (VI. 536f) Dass die leer nebeneinander in ihren Ich-Blasen hertreibenden Menschen die Flucht ins Kino suchen, also der Gefühlserzeugungsfabrik, ist insofern konsequent. Und ebenso der seltsam holprige, grammatisch prekäre und in sich widersprüchliche Ausdruck »das wesentliche Erlebnis vergeudet hatten, das Mann und Frau gegeben ist.« Wenn etwas »gegeben« ist, haben wir es ohne unser Zutun erhalten, sei es ein Ding oder eine Situation, sei es eine Wahrnehmung oder Gefühl, sei es eine Fähigkeit. In der sexuellen Begegnung zweier Individuen, ist jedoch gerade nichts gegeben – sondern hängt alles daran, wie die Erlebensfähigkeit, die Wünsche und die Anpassung der Austauschformen an diese jetzige Begegnung verlaufen. Roths grammatische Panne wirkt insofern wie eine Freudsche Fehlleistung, eine schmerzende Stelle kaschieren wollend – die Begegnung des Individuellen, das Erreichen eines emergenten Zustandes, der etwas ganz anderes als die wechselseitige Abfuhr von Triebenergien ist und das Selbst sich in seiner Individualität neu erfahren lassen kann.

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Auch hier wieder ist der artifiziell objektivistische, verdinglichende Ton beredter, was die zugrundeliegende Psychologie auf gegenständlicher und darstellerischer Ebene angeht. Es mag hineinspielen, was einige (aber nur begrenzt aussagefähige) Untersuchungen nahelegen: Umso höher der Alkoholisierungsgrad eines Mannes ist, desto mehr soll er in der Frau nur ein Sexualobjekt sehen425. Er wirkt angstlösend, enthemmend, und männliche Versagensängste müssen bei Roth massiv gewesen sein, so häufig, wie man bei ihm das Bild der Frau als triebgesteuertes Wesen und andere misogyne Stereotype antrifft. Möglicherweise spielt das Dämpfen von Empfindung und Erleben durch stärkeren Alkoholgenuss in die Männerkonstruktion von Roths »Legende« hinein. Bloße Männerphantasie allerdings dürfte sein, dass in dem fortgeschrittenen Stadium des Alkoholismus, in dem sich Andreas (vulgo sein schreibender Schöpfer) befindet, rein körperlich Sexualität überhaupt und jederzeit möglich sei, nur eben die Gefühle und das zugehörige Bindungsverlangen abgeschaltet werden. Normalerweise nimmt das Prahlen mit Potenz bei Männern in alkoholisiertem Zustand üblicherweise zu – ungefähr im selben Maß, wie die Potenz realiter abnimmt. Andreas trifft mit Rücksicht auf seinen persönlichen Zustand eine überraschend hohe Zahl Frauen, die sich ihm als Sexualobjekt darbieten. Die wirklich großen Gefahren seines Leben sind also nicht, was man erwarten würde, Potenzängste, Ängste vor Ausgrenzung, Selbstwertmangel, Konkurrenz und (fremden und eigenen) Bindungsbedürfnissen im Zusammenhang mit intimen Handlungen, sondern umgekehrt Ängste vor zu intensiven Gefühlen. Frauen haben in der »Legende« dagegen zwar reduzierte, doch durchaus gelebte Gefühle und Bindungswün425

Vgl. Viola Ulrich, »Je betrunkener der Mann, desto mehr Sexualobjekt die Frau«. In: Die Welt 29. 7. 2017, https://www.welt.de/kmpkt/article171940599/ Alkohol-Betrunkene-Maenner-sehen-Frauen-nur-noch-als-Sexobjekte.html. Die Untersuchungsgruppe war allerdings zu klein, um umfassende Schlüsse daraus zu ziehen.

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sche – typischerweise zeigen sie diese nicht direkt, sie brechen aus ihnen vielmehr in Gestalt der Eifersucht heraus. Dabei ist Andreas selbst in ein einziger, langer Schrei nach Bindung, Hilfe und Aufgehobenwerden, sprich: Bemutterung (und Bevaterung). Nur er scheint das nicht zu wissen respektive nicht wissen zu wollen. Weniger bewusst kann man Bindungs-Ambivalenz kaum noch ausleben. Es mag auch von Bedeutung sein, dass ausgedehnter Alkoholgenuss bei Frauen den Testosteronspiegel ansteigen und das sexuelle Verlangen steigern soll, bei Männern hingegen den Östrogenspiegel steigert und das Sexualhormon Testosteron unterdrückt. Zudem kommt es durch die in mäßigen Dosen enthemmende, leicht euphorisierende und Selbstwertgefühl steigernde Wirkung des Alkohols zwar öfter als im nüchternen Zustand zu sexuellen Handlungen unter nicht partnerschaftlich gebundenen Menschen – doch die erlebnishafte und körperliche Seite der Sexualität selbst ist zumal bei Männern oft drastisch gestört426. Bei einem Alkoholkonsum wie demjenigen von Andreas ist das mit Sicherheit so. Insofern dürfte Roths »Legende« das Produkt einer Wunscherfüllung der klassischen, alkoholinduzierten »Selbstüberschätzung«427 hinsichtlich Attraktivität 426

427

So ist es zu lesen im allerdings sehr populär gehaltenen, in der Datenbasis dünnen, dafür unterhaltsamen Buch von Peter Kruck, Alcohol. Alles, was sie darüber wissen sollten. München 2006: Männliche und weibliche Körper reagieren »genau seitenverkehrt: Bei ihnen verringert sich der Östrogenspiegel, wodurch das Testosteron das Zepter in die Hand nimmt. Ergebnis: Frauen werden stärker sexuell angeregt. Da Alkohol auch dazu neigt, Hemmungen abzubauen, kommt es in der Regel nach gemeinsamem Alkoholgenuss häufiger zu sexuellen Handlungen zwischen Mann und Frau. Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Denn aus männlicher Sicht hat der Alkohol eine fatale Nebenwirkung. Durch seine gefäßerweiternde Wirkung reduziert er die Erektionsfähigkeit, er stört die Nervenimpulse vom Gehirn zu den Schwellkörpern im Penis. […] aufgrund der psycho-physiologischen Beeinträchtigung durch den Alkohol […] wird die Fähigkeit zum Orgasmus deutlich eingeschränkt.« Stephanie Lahrtz, Alkohol wirbelt das Gehirn des Menschen durcheinander. in: NZZ 19. 7. 2018: Die nach Alkoholgenuss ausgeschütteten Endorphine aktivieren nicht nur unser Belohnungssystem, darüber hinaus »bewirken Endor-

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und sexueller Leistungsfähigkeit sein. Dass die finale Erlösung in der »Legende« durch eine Mädchenfrau erfolgt, die gleichsam zu rein ist, um sexuell zu begehren, und zu rein, um sich zu alkoholisieren, spräche dann die Wahrheit über die Andreas wortwörtlich angedichteten, sexuellen Heldentaten – zwischen den Begegnungen mit sich ihm als Sexualobjekt andienenden Frauen absolviert er ja noch das klassische Männerritual des gemeinsamen Betrinkens mit anschließendem Bordellbesuch. Auch in dieser Hinsicht ist die »Legende«, von der persistenten, leicht ironischen Gemüthaftigkeit des Erzähltons unberührt, eine verstörend banale, halluzinatorische Erfüllung von Männlichkeitswünschen. Eines ist dokumentierbar: Im realen Leben war Roth das Gegenteil von gleichgültig oder innerlich unbeteiligt in Sachen Intimbeziehung. Jede ernsthafte Begegnung mit einer Frau entzündete vielmehr glühende Sehnsüchte nach Gemeinschaft, Bestätigung, erfüllter Bindung. Weil diese nicht stabil herstellbar war, taumelte Roth rasch in Rasereien der Eifersucht – vermutlich umschlagend in Gleichgültigkeit und Fremdheit, sobald eine Bindung sicherer und vertrauter wurde – oder auch in Zurschaustellung von Souveränität, Gelassenheit im Umgang mit Treue (s.u.). Als Andreas die einstige Zimmerwirtin seiner Zeit als Kohlenarbeiter, Karoline, wiedertrifft, bietet sich diese ihm nicht nur ohne jedes Werben als Versorgerin und Sexualobjekt an – ihr Werben wird angefacht, weil sie Therese, die Heilige, der Roth das geliehene Geld zurückzubringen soll, für eine Geliebte hält (vgl. VI. 424). Kaum sitzen die beiden im Lokal, »bestellte [sie] das Essen, wie immer«, das heißt, wie in jenen Jahren, da sie bis zum Mord an Karolines Gatten verbunden waren. Karoline will wieder Versorgung und Bemutterung gegen Sexualität eintauschen, übernimmt also die gesellschaftlich übliche Rolle des Mannes phine, ähnlich wie ihre chemischen Verwandten Opium und Heroin, eine gewisse Selbstüberschätzung.« Vgl. auch Sabine Kehrer, Männer und Alkohol. https://www.medizinpopulaer.at/archiv/medizin-vorsorge/details/article/maenner-und-alkohol.html.

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(was einer Ent-Mannung Andreasʼ gleichkommt). Damals schützte ihr Verheiratetsein vor Verbindlichkeit: Als der Gatte tot und sie damit frei war, endete die Beziehung dem inneren Ambivalenzmechanismus folgend, ganz selbstverständlich. Hätte eine persönliche Bindung bestanden, hätte sie ihre Mitschuld eingesehen, und beide hätten die Bindung gerade besonders bedacht gepflegt, bis Andreas nach 2 Jahren Haft freigekommen wäre. Beim Wiedersehen weht Andreas schon nach wenigen Stunden das Unbehagen von damals an und er vereitelt Karolines Versuche, in die alte Rolle der Versorgerin zu schlüpfen, brüsk: »Und er wollte ihr wieder einmal entfliehen, und er rief: ›Kellner, zahlen!‹ Sie aber fuhr ihm dazwischen: ›Das ist meine Sache, Kellner!‹« (VI. 525) Andreas unterbricht den Rückfall in die alte Verknüpfung von Versorgung und Sexualität – und wird damit wieder einmal unschuldig schuldig: Er hat nun zu wenig Geld, um es der heiligen Therese zurückzubringen. Da Andreas immerhin noch eine gewisse Summe Geldes behält, kann er Karoline ungerührt verlassen, nachdem er entdeckt hat, wie alt sie geworden ist – »blaß, aufgedunsen und schwer atmend schlief sie den Morgenschlaf alternder Frauen« (VI. 526). Sie kann ausgetauscht werden durch junge Mädchen, Prostituierte oder solche, die sich Andreas überraschenderweise anbieten – wiederum ohne Werben, ohne jede persönliche Bindung. In dieser Hinsicht sind die »Wunder«, die Andreas begegnen, nichts als Wunscherfüllungen ängstlicher Männer. Gleichsam lebensecht in Roths später »Legende« ist allerdings, dass Andreas entweder hurenartige Frauen trifft oder verheiratete oder die reine Mädchenfrau, zu unschuldig für ein Triebleben, eine Heilige, eine Maria. Auch das folgt dem Muster hysterisch-ambivalenter Bindungen: Gewöhnliche Frauen sind solange aufregend, als ein Konkurrent da ist oder sie sich dem Verlangen noch sperrt. Schulbuchmäßig rein muss es nach diesem Muster abgelaufen sein, als Roth seine – damals noch ganz junge, mädchenhafte – spätere Frau kennenlernte: Sie war eigentlich einem anderen Manne »ver-

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sprochen«. Im Unterschied zu Andreas jedoch reagierte Joseph nicht mit Gleichgültigkeit, sondern mit gesteigertem Werben, sich enthusiastisch in Halluzinationen künftiger Gemeinsamkeit steigernd. Das änderte sich schlagartig, als Friedl ihre Verlobung löste. Roths Übersiedelung von Wien nach Berlin hatte, wenn nicht den Grund, so doch zumindest die erfreuliche Nebenwirkung, sich von ihr, die nun für eine Verbindung frei war, zu entfernen428. Er erklärte später, »einer der Gründe, die ihn bewogen hätten, nach Berlin zu gehen, seien Verwicklungen durch die Liebe zu einer verheirateten Frau gewesen.«429 Schon, als er Friedl, die Gebundene, kennenlernte, hatte er angeblich eine Verbindung zu einer katholischen Frau. Er hätte sich taufen lassen müssen – was eine ungefähr gleichhohe Hürde für nähere Bindung war wie eine Verlobung. Frau Manga Bell, seit 1929 für einige Jahre Roths Freundin – ebenfalls verheiratet, als er sie kennenlernte, und im Badeanzug –, bot sich in seinen Augen als Sexualobjekt an. Später, als man mit immer größeren Konflikten zusammenwohnte, verbot er ihr nicht nur das Tanzen, sondern eben auch das Baden in panischer Eifersucht (also Konkurrenz- und Verlustangst): »Mit seiner Eifersucht hat er mich oft furchtbar bedrückt. Mein Friseur mußte zu uns kommen, weil er mich nicht allein fortgehen ließ. ›Der Friseurladen ist ein Bordell‹, behauptete er. Als ich in der ersten Zeit noch meine Arbeit als Redakteurin fortsetzte, war ihm das nicht recht. Er nannte mich nicht ›selbstständig‹, sondern ›selbsttätig‹, was als eine sexuelle Anzüglichkeit aufgefaßt werden sollte. Er wollte mich abhängig machen, und ich sollte neben ihm hocken, während er schrieb.«430 Dieser letzte Satz rührt besonders: Das Schreiben erscheint in ihm als Zustand der Regression auf ein furchtsames, der Gewissheit mütterlicher Nähe bedürftiges, vor den Zumutungen männlicher Sexualität zu schützendes Kind – das dann auf dem Papier den großen, ironisch souveränen Kreator gibt und 428 429 430

Vgl. Bronsen 1974, S. 206f. Bronsen 1974, S. 207. Interview mit Fr. Bell, zit. bei Bronsen 1974, S. 372.

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das Erwachsenen- und Mannsein nachspielt. Joseph Roths späte »Legende« dürfte passagenweise lebensnah sein, etwa, was die innere Leere, Unpersönlichkeit, Geheimnis- und Kommunikationslosigkeit angeht, sobald eine Verbindung gefestigt war. Unplanbar (sic!) müssen diese Zustände dann von Auftritten als Charmeur, Frauenschwarm, Erfolgsmann, Dandy, kinderlieber Versorger oder lässiger Freigeist, der seiner Frau freie Hand lässt, abgelöst worden sein. Und diese wiederum von Eifersuchtsanfällen, mithin von Verlust- und Konkurrenzangst. In der »Legende« erfüllte sich ihr Autor offenbar den Wunsch, ganz und gar Alkoholiker sein zu dürfen, der völlig ungerührt von Bindungsbedürfnissen und -brüchen in einer mutterschoßartigen Momentblase lebt, unberührt von männlichen Versagensängsten, unberührt von Eifersucht, vielmehr umgekehrt allezeit sexuell leistungsfähig. Eine Wunscherfüllung ist der kurze Roman auch, insofern ein märchenhafter Karrierist in der modernen Massenkultur, wie Roth ihn schon seit je anschwärmte, hier auftritt und bereits dem Namen und der Herkunft nach eine Alter ego des Trinkers Kartak ist: Der berühmte Fußballspieler Kanjak war, wie sich Andreas Kartak wundersamerweise während eines Kinobesuches, also in der Märchenfabrik der konfektionellen Tagträume, plötzlich erinnert, einst sein Klassenkamerad (vgl. VI. 531) und wohnt nun – selbstverständlich – in einem teuren Hotel an der Champs-Élysée, wo er anstrengungslos über schier unbegrenzte Mengen Geldes verfügt. In der Namensähnlichkeit Kartak-Kanjak muss Joseph Roth lustig seine beiden, unvermittelten Seiten aufgeteilt haben: Ihn selbst zog es in die kindliche Ohnmacht, Verantwortungsabwehr und Vergleichgültigung des Andreas. Doch Roth hatte nicht nur im Gegensatz zu Kartak Arbeit und mehr als genug Geld; er bewunderte zugleich das Dasein des Fußballspielers Kanjak, einen, der mühelos und ebenfalls ohne gewohnte Einordnung ins Arbeits- und Beziehungsleben zu märchenhaftem, unerschöpflichem (»legendärem«) Reichtum kam und damit zumindest dem Schein nach absolute Ver-

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fügungsmacht über sein Leben und über andere Menschen, insbesondere Sexualobjekte besitzt. Daher sind Kartak und Kanjak zwei Seiten ein und derselben, ambivalenten Konfliktstruktur: Roth teilte seine Idealmodelle bezüglich Reichtums, Ich-Souveränität und Bindung auf. Der artifiziell verkindlichende Erzählton ist ein einziger Appell an das Mitgefühl des Lesers für den ›Verführten‹ aus dem Osten, den schuldig-unschuldig aus der bürgerlichen Welt gefallenen und in Abhängigkeit geratenen Trinker Andreas Kartak, dem es allenfalls ein wenig an Willensstärke und Disziplin zu fehlen scheint. Der »Ton« will eine (Selbst-)Mitleidsgemeinschaft von Autor, Figur und Leser stiften, wie der Schlusssatz offenlegt: »Gebe Gott uns allen, uns Trinkern […]« (VI. 543). Andreas wird durch »Wunder« aus der Anonymität des Schlafens unter der Brücke katapultiert – und so davor bewahrt, mit seiner an sich vorhandenen Arbeitskraft das Leben bestreiten zu müssen. Das wiederum wäre zwecklos, da er Geld nicht dazu benutzen kann, sich ein persönliches Leben aufzubauen – bedeutete das doch, ein gewünschtes Ich in seinen Bindungen und Erwartungen konsistent zu imaginieren und umzusetzen. An diesem Leben in einer (uterusartigen) Momentblase zu leiden hindern ihn drei Dinge: Der Alkohol, die »Wunder« von Geld-Geschenken und sich selbst anbietende Sexualobjekte, die ihn innerlich kalt lassen. In dieser Hinsicht belegt auch und gerade die »Legende«, was wir bezüglich des artifziell antipsychologischen, zunehmend ins Naive, Gemütshafte, Gutgelaunte stilisierten »Tons« der reifen Erzählungen schon mehrfach festgestellt haben: Dass er insgeheim umso psychologischer gedacht wurde. Diese antipsychologische Stilisierung impliziert sowohl ein starkes Moment der Verdrängung als auch der Wunscherfüllung: im inszenierten Schreib-»Ton« fand Roth artifizielle Distanz und humoreske Gelassenheit zu seelischen Vorgängen. Wir sahen zwar im Einleitungsteil, dass man Roths Poetik der Verwandlung aller stofflichen Anlässe in sprachinterne Kompositionslogiken gegen konventionelle Interpreten ernstnehmen muss und

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dieses Ernstnehmen allererst den Sprachkünstler Roth sichtbar macht. Doch muss man andere Aspekte seines Schreibens umgekehrt desto psychologischer lesen und ganze Passagen, sogar ganze Texte als versuchte Transformation oder »Überschreibung« konfliktuös besetzter Probleme auffassen. Antipsychologisch kann man im Falle Kartaks allenfalls das Abziehbildhafte, Individualitäts- und Innenweltlose der Hauptfigur bezeichnen – offensichtlich, um das Geschehen und die abstruse Mixtur aus Infantilität und Dauerpotenz in verfremdete Distanz zu bringen. Symptomatischerweise sind schon die Frauen anders, individueller und stark psychologisch gezeichnet; auch das ist ein nicht unwesentlicher Teil des Geschlechteraspektes Rothschen Schreibens. Andreas Kartak hatte als Kohlearbeiter eine Art Gegenexistenz in jenem »Westen« gelebt, den Roth polemisch pauschalisierend »hygienisch« nannte: Er arbeitete wie sein Vater unter Tage, im Dunkel, doch im Gegensatz zum Vater entwurzelt und hilflos den Umständen ausgesetzt in den Westen getrieben. Hier lebte er eigentlich in einer Art säkularen Unterwelt, abhängig, verachtet und schmutzig, da auch visuell gezeichnet von der Kohle, dem Treibstoff der Industrialisierung, und ohne eigene Wohnung. Über Tage aber wurde er ein zweites Mal »verführt«, und diesmal im Wortsinne, von der Gattin seines Zimmerwirtes. Nach dem kleinen sexuellen Sieg im Konkurrenzkampf mit dem legitimen Ehegatten wird er zum Mörder, doch auch das eigentlich unschuldig, nämlich aus Notwehr in einer quasiödipalen Situation: Der rechtmäßige Gatte griff charakteristischerweise nicht Andreas selbst, sondern die Gattin an (VI. 527). Andreas sprang ihr heldenhaft bei, als der Konkurrent in Eifersuchtsraserei verfiel – ein Gefühl, das Andreas, hier vielleicht einen Wunsch Roths verkörpernd, völlig unbekannt ist. Anstatt sich eine neue Existenz aufzubauen, wird Andreas nach Verbüßung einer kurzen Haftstrafe obdachlos und ist fortan auf die Mildtätigkeit der Mitmenschen angewiesen. Doch es scheint, als wäre er in gewisser Weise am Ziel in diesem hilf- und verantwor-

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tungslosen Taumeln von Tag zu Tag. Aus der völligen Ausgrenzung holt ihn das »Wunder« eines gutsituierten Herren, der freiwillig in einem Akt der (vielleicht durch geistige Verwirrung mitbedingten) Caritas unter Obdachlose gegangen ist und Andreas Geld anbietet. Dieses Geld ermöglicht Andreas die Rückkehr in die bürgerliche Sphäre. Zunächst geschieht das durch Verlegen des Alkoholtrinkens in ein Restaurant (der Alkohol verbindet Tag- und Nachtwelt, Bürgerlichkeit, Sex und Exklusion); dann vor allem, indem er sich in einem Friseurladen reinigen kann. Es ist ihm nun, schreibt Roth, »als ginge von seinem Angesicht ein Glanz aus« (VI. 519). (»Glanz« tritt öfter auf, beispielsweise auch in dem oben behandelten, pseudo-autobiographischen Text über Roths Militärdienstzeit.) Unversehens wird Andreas Teil der Tagwelt. Ohne dass er irgendetwas dafür unternommen hätte, offeriert man als erstes eine Erwerbsarbeit, inklusive Vorschuss. Für den kauft er sich eine Brieftasche, Symbol des bürgerlichen Lebens, denn eine solche Tasche hat man, wenn man sein Geld sammelt, aufbewahrt, einteilt, also rational damit operieren möchte, um seine Zukunft zu gestalten – und nicht zuletzt, um das Geld wirklich in Besitz zu nehmen, also vor den Augen wie dem Zugriff der anderen zu schützen. Die Brieftasche ist das Symbol bürgerlicher, eigenverantwortlicher, rationaler Zeit und Selbstgestaltung. Bevor er diesen Kauf tätigt, hat sich Andreas präpariert: Er trank sich, wie der Volksmund sagt, erst einmal Mut an. Und sofort beim Kauf tritt er in sexuelle Beziehungen, wenngleich vorerst nur halluziniert. Die Verkäuferin wird in überraschend vielen erotischen Details beschrieben, die für den Fortgang der Geschichte völlig unwichtig scheinen, und doch das Wesentliche zeigen: Selbstverständlich ist sie sehr jung, hübsch, und Stück für Stück wird die Frau in ein Sexualobjekt verwandelt. Wie in mehreren Texten Roths werden dabei softpornographische Klischees mit misogynen Elementen versetzt. Das Mädchen wird verniedlicht und typische Attribute einer auf Wirkung bedachten Frau aufgezählt; auch das stilistisch prekär,

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voller Klischees und Putzigkeiten aus der Retorte: »Sie erschien ihm sehr hübsch […], in einem strengen schwarzen Kleid, ein weißes Lätzchen [!] über der Brust, mit Löckchen am Kopf und einem schweren Goldreifen am rechten Handgelenk.« (VI. 521) Wie in einer billigen pornographischen Phantasie steigt sie nun, »um überflüssige Fragen zu ersparen, […] sofort eine Leiter hinauf und holte eine Schachtel aus der höchsten Etage. […] Hierbei sah Andreas, daß dieses Mädchen sehr schöne Beine und sehr schlanke Halbschuhe hatte« (ebd.). Wenn es stimmt, dass Alkohol die Neigung, Frauen zu Sexualobjekten zu reduzieren, verstärkt und, in geringen Maßen genossen, anfangs die Appetenz erhöht, dürfte er bei Andreas am Eingang zur bürgerlichen Tagwelt in dieser Weise gewirkt haben – jedoch in der zweiten Hinsicht: zugehörige Versagensängste verdrängend. Wie im Folgenden überraschend häufig, geht Andreas mit dem unverhofft zugefallenen Geld zu Prostituierten – in Gedanken die Beine der Verkäuferin ausmalend. Dort (im Freudenhaus) muss er sich erst einmal weiter betrinken. Der Erzähler deutet in der immergleichen, ›nüchternen‹ verkindlichenden Distanz den Vollzug beider, in der Tagwelt stets zusammengehörenden Akte an, beide vermittelt durch Geld. Wenige Tage darauf, nachdem Andreas ein einziges Mal versuchte, sich durch Erwerbsarbeit äußerlich selbstständig(er) zu machen, begegnet ihm – diese Reihenfolge dürfte kein Zufall sein – eine Frau, die sich nun sofort als Sexualobjekt anbietet, eben jene einstige Zimmerwirtin. Noch vor jeder Intimität tritt der alte, von Hass, Fluchtimpuls und Misogynie begleitete Bindungszustand ein. Wiederum ist Geld das Symbol von Bindung. Das Prinzip des Tausches von Sexualhandlungen und Geld (bzw. Versorgung) wird erst am Ende der Geschichte durchbrochen – woraufhin Andreas ein glücklicher Tod ereilt, als sei er endlich einem verhängnisvollen Kreislauf entronnen. Ein zumindest von ihm selbst als »heilig« tituliertes Mädchen durchbricht die Verkoppelung von Geld und objekthafter, un-

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persönlicher, erlebnisloser, unverbindlicher Sexualität, die dennoch das einzige Mittel scheint, Kartak sich als Teil der Gesellschaft, als Mann oder sogar als Subjekt seiner Geschichte fühlen zu lassen. Das »heilige« Mädchen ist in seiner Mädchenhaftigkeit und Keuschheit eine Gegenfigur zur anfänglich auftretenden, jungen Verkäuferin des Geldbeutels, den sie gegen Bezahlung unter begleitender Präsentation sexueller Reize veräußert. Das heilige Mädchen Therese dagegen schenkt Andreas ohne sexuelle Präsentation, Gegenleistung oder Kontrollverlangen Geld. Er wäre, wenn er diese »Heilige« als neues Ideal annehmen könnte, von allen primären Konfliktdimensionen der Einbindung entbunden: befreit vom Zwang zur Sexualität als quasi-sachlicher Tauschhandlung und Selbstbestätigung. Befreit davon, entweder planvoll, doch für ihn sinnlos, Geld zu verdienen oder in der Asozialität auf weitere »Wunder« zu warten – auf Gönner z.B. wie den Fußballer Kanjak, der mühelos scheinbar unbegrenzten Reichtum erwarb und behielt. Dieser Kanjak ist der einzige, der Andreas ohne eine Gegenleistung zu erwarten, aushält (vgl. VI. 532f), und ist insofern eine verwandte Gestalt der heiligen Therese! Das Hotelappartement samt Badezimmer, das Kanjak dauerhaft bezahlt, ermöglicht Andreas den kurzen Sexualkontakt mit einer kleinen Tänzerin des wiederum verniedlichenden Namens »Gabby« (VI. 535f). Diese allerdings nutzt selbigen dazu, Andreasʼ Brieftasche weitgehend auszuräumen – versteht den Sexualkontakt also ebenfalls als Dienstleistung (vgl. VI. 538), was nur die Beliebigkeit und Inhaltsleere der Zufallsbeziehung bestätigt. Da Andreas nach diesem Diebstahl abermals unschuldig-schuldig zu wenig Geld besitzt, um es der heiligen Therese zurückgeben zu können, kann er nun von sich aus abermals ins Bordell gehen (VI. 539). Was, da es nach mehrtätigem Alkoholkonsum und sexueller Aktivität erfolgt, eine geradezu alberne (und wohl kaum mit Hinweisen auf »Übertreibung« als literarische Methode zu rettende) maskuline Wunscherfüllung ist. Kartak kann es nicht um Begehren, nicht einmal um Lust gehen, sondern darum, überhaupt als Mann ein Selbst zu erlangen –

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indem er zumindest äußerlich ständig sexuelle Handlungen vollzieht. (Eigenartigerweise erlischt die Verpflichtung, das Geld der heiligen Therese zu geben, eigentlich mitten in der Geschichte, da ihn der ältere, »wohlangezogene Herr«, der es ihm zu Beginn der Geschichte gab, gar nicht mehr wiedererkennt und ihm neuerlich Geld gibt, vgl. VI. 540.) Die ironischen Vokabeln »heilig« und »Legende« – das heißt: Heiligenerzählung, aber auch: unbewiesenes Gerücht und pure Erfindung – im Titel ändern wohl wenig oder nichts am Staunen darüber, wie frappierend nackt in diesem Text mit Geschlechterstereotypen, Infantil- und Potenzphantasien gearbeitet wird. Und auch nicht, dass das Attribut »heilig« im Titel beim Trinker, in der Geschichte jedoch bei Therese steht. Nicht nur die Dauerpotenz und sachliche Distanz sind fast Karikaturen von Männerphantasien, die Frauenbilder sind es ebenso. Die alte, misogyne Vorstellung der Frau als Hure oder Eva, als Initiatorin von Geschlechtlichkeit, wird aufgerufen. Karoline will Andreas wieder aushalten im Gegenzug für sexuellen Austausch; Tänzerin »Gabby« nimmt als ›Gegenleistung‹ Geld an sich. Andreas umgekehrt bezahlt für Sexualdienstleistungen im Bordell und tauscht, weil er über etwas Geld verfügt, die alternde Karoline gegen jüngere Frauen aus wie einen Gebrauchsartikel. Rothsche Männerwunscherfüllung ist zumal, dass die Frauen sehr wohl Begehren und Bindungsverlangen zeigen: Karoline (VI. 525) und »Gabby« (VI. 537) sind eifersüchtig auf Therese, und Andreas damit offenbar sehr zufrieden. Er trifft per Zufall ohne Leidenschaft, Abtasten, Werben auf die Frau wie auf einen Gegenstand der Straße, aus irgendeinem Grund kommt es zu sexuellen Kontakten, vielleicht nur, um die innere Kontaktlosigkeit der Personen durch körperliche Ersatzhandlungen zu überbrücken oder sich selbst zu bestätigen. Letzteres hätte Andreas naheliegenderweise besonders nötig, verweigert er sich doch halb infantil den primären Bereichen, worin Männlichkeit sich normalerweise bestätigt – neben dem Soldatischen zu

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allererst beruflichem Erfolg, materieller Sicherheit, gegebenenfalls körperlicher Maskulinität und Sport431. Darin mag tatsächlich subversive Ironie liegen: Ausgerechnet der Mann, der sich diesen Standardrollen verweigert und abhängig von Versorgung bleibt, ist dauerpotent und scheinbar für jede Frau begehrenswert. Die gewohnten maskulinen Rollen dagegen werden von Figuren verkörpert, die Kartak wundersam helfen: von gut situierten Bürgern, die ihm Geld verschaffen, einerseits, vom märchenhaft reichen Fußballidol Kanjak andererseits. Karoline dürfte entsprechend der klassische Fall einer Frau sein, die einen hilflosen, Verantwortung meidenden Mann braucht, sei es aus eigener Angst, sei es aus Bedürfnis nach Kontrolle in einer Sexualbeziehung. Sie kauft sich gleichsam einen Mann ein, der allen Herausforderungen ausweicht. Nachgerade komisch erfüllt Andreas dafür zwei andere Stereotype im Übermaß: die Unfähigkeit bzw. den Unwillen, sich zu binden, und eine unbegrenzte, von keiner Persön-

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Nach Mosse 1997 gehen wesentliche Züge der durch Soldatik, Athletik und Stoizismus definierten modernen Männlichkeit aus den Ideologien der Napoleonischen Kriege und der Einführung Allgemeiner Wehrpflicht (»Bürgerarmee«) hervor (145); die Einzelelemente existierten zuvor, doch erst hier sei der männliche Körper selbst im Gefolge der Französischen Revolution zum Symbol geworden (12), Männlichkeit und Weiblichkeit allererst scharf getrennt, »Freiheit« mit Opfer und Tod verbunden (72). Ironischerweise jedoch wurden diese Männlichkeitsideale durch J.J. Winckelmanns homosexuelle Sensibilität für die ästhetische Gestalt in Verbindung mit Emotionskontrolle vorgebahnt (44–47). Die Turnhalle wird fortan zum Ort der Vervollkommnung von Männlichkeit schlechthin (57), im 19. Jahrhundert zunehmend mit Patriotismus und Wehrtüchtigkeit verknüpft. Die klassische Rekonstruktion Mosses wurde später in vielen Hinsichten ergänzt und korrigiert. Mir scheint charakteristisch für einen rein geisteswissenschaftlichen Zugang alter Schule, dass einzelne, vor allem schöngeistige Schriften in ihrer Bedeutung gegenüber der alltäglichen Praxis überschätzt werden, während etwa die Rolle der Erwerbsarbeit, der ökonomischen Eigenverantwortung und des materiellen Erfolges praktisch nicht vorkommen. Diese waren für Roth jedoch essentiell.

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lichkeitsstörung und noch so exzessiven Alkoholsucht zerstörbare, sexuelle Potenz und Appetenz. Therese hingegen durchbricht das bis dahin prävalente, medizinisch einschlägige Bindungsmuster. Das tut sie nicht etwa, indem sie den Trinker kuriert und erzieht, und noch weniger, indem sie sich als Sexualobjekt anbietet, sondern indem sie ihm ohne sexuelle Absicht schenken möchte. Bislang hatten das nur Männer oder der Zufall vermocht. Ihre Offerte wäre vielleicht eine kleine Erlösung, denn eine Frau würde Andreas in seiner Abwehr von Verbindlichkeit und Planung bestätigen, ohne etwas dafür zu wollen, etwa Arbeitsdisziplin (wie zuvor die wohlhabende Gatting des Herrn, der Andreas als Umzugshelfer engagierte), »Vernunft«, Sex, Partnerersatz, generell: eigenverantwortliche Ich-Identität (im modernen Sinne). Von der »heiligen« Therese hatte Andreas zuvor geträumt, sie sei seine Tochter (VI. 528f) und damit sexuell tabu. Es hat den Anschein, als habe Roth hier seinen Wunsch nach unbedingter, doch zu nichts verpflichtender Bemutterung glücklich gelöst, indem er ihn auf eine prä-sexuelle Kindfrau überträgt, wobei in dieser Beziehung die Tochter den Vater bemuttert. Vielleicht stirbt Andreas in diesem Augenblick, weil das dann doch eine zu durchschaubare Übertragungskonstellation ist. Vielleicht kann Andreas nur, weil er glücklich stirbt, seine Schulden an die heilige Therese zurückzahlen (möglicherweise mit ihrem eigenen Geld). Die Ironie des Titels »Legende« soll gewiss eben diesen wiederum gefühlsgeladenen Schluss einfärben – zumal er klingt, als seien die Geldschulden eine Allegorie für das Schuldigsein des Menschen überhaupt, das nur mit dem Tod wirklich enden kann. Oder als ob die leibliche Existenz nur eine Art Leihgabe im metaphysischen Sinne sei, mithin: Jene höhere, behütende Hand ins Spiel komme, die Roth sich als heimlichen Regisseur ersehnte. Derlei metaphysische Perspektive ist tatsächlich nur verfremdet durch die artifizielle, teils komische Einfalt des Erzählgestus zu ertragen – zumal

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sie offensichtliche Verklärungen von Andreasʼ allzuirdischer Abwehr sämtlicher Verantwortung und Bindung sind. Die strukturelle Ähnlichkeit im Verhältnis zu Sexualität und zu Geld gründet in den Ambivalenzen von Ordnung und Identität – ohne dass man deshalb eine besondere These zur Ursache formulieren müsste. Der Sinn des Geldes ist neben Wertaufbewahrung und messung die Ermöglichung einer Verteilung knapper Güter nach objektivierbaren oder zumindest von einer Benutzergemeinschaft geteilten Maßstäben. Geld stiftet daher den Tausch von Lebenszeit in Güter und Dienstleistungen – diesen hat Roth im Roman »Das falsche Gewicht« zu einem Thema existentieller oder sogar religiöser Dimension erhoben, wie wir im Fünften Teil sehen werden – sowie die Bestimmung der Zeit, die zwischen Geldgewinn und -konsumtion liegt: Ein solcher Aufschub wiederum ist ohne Stabilität der Erwartungen, Wünsche und Pläne nicht sinnvoll. Sodann macht eine Gemeinschaft über die Bemessungseinheit Geld bestimmte soziale Tätigkeiten attraktiv oder unattraktiv. Geld ist insofern ein Instrument, sich »selbst« zu positionieren und zu verwirklichen – in Relation der intersubjektiv gültigen Kontextbedingungen und Quantifizierungskriterien, die den Austausch und damit die Ordnung der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen regeln. Vor allem aber ist es ein Mittel, durch quantitative Zeitstrukturierung sich Freiheit und Lebensgestaltung zu verschaffen: Anstatt eines unmittelbaren Tauschs von Gütern und Dienstleistungen erfolgt die Umwandlung dieser in Geld und zurück in Güter und Dienstleistungen, damit in Befriedigung von Lebensleistungen und von arbeitend verbrachter Lebenszeit, doch die Rückführung in den Kreislauf liegt im Ermessen des Einzelnen. Das Zusammentreffen von Anforderungen an einen stabilen, wohlüberlegten Selbstentwurf in die Zukunft, an überprüfbare Beziehungen zu anderen, mit dem Versprechen auf Ansehen, Ich-Erhöhung, Anziehungskraft für andere, musste einen so fundamental im Ambivalenzkonflikt zu Ordnung, Einordnung und Identität existie-

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renden Menschen wie Joseph Roth vor dramatische Dilemmata stellen: Er lavierte zwischen kindischer Überschätzung der märchenhaft Reichen und Mystifikation von Armut, zelebrierter Abhängigkeit, inszeniertem Opferstatus und Prahlerei mit Großzügigkeit. Kartak und Kanjak sind – durchaus nicht unironische – veräußerte Rollenantagonisten ein und derselben Persönlichkeit Roth. Er selbst hat einige oberflächliche Gründe (also eher Symptome), weshalb ihm Zeit- und Lebens- bzw. Identitätsgestaltung via Geld nie gelang, in einem Interview in Paris 1934 ziemlich direkt benannt, wenngleich wiederum mit fiktiven Sachverhalten garniert: »Nachdem ich mich mit meiner Zeitung [d.i. die ›Frankfurter Zeitung‹] wieder versöhnt hatte, veröffentlichte ich im Jahre 1931 [sic] ›Hiob‹. Der Roman hatte Erfolg, und ich begann, viel Geld zu verdienen. Mein Verleger Kiepenheuer gab mir 3000 Mark pro Monat, was zusammen mit meinem Journalistengehalt ein schönes Sümmchen ausmachte. Doch reichte es nie aus. Mein Lebensstil eines Grandseigneurs ist kostspielig.«432 Die finanziellen Belastungen durch die Behandlung seiner Frau erwähnt Roth wohl aus Pietät nicht oder weil sie nicht zu sehr ins Gewicht fielen. (Sie dürften eher niedriger gewesen sein als die Kosten des höheren Lebens, wie Roth es ihr bereiten wollte.) Der seinerseits grandseigneurhaft wohltemperierte Feuilletonchef Benno Reifenberg beschrieb Roths Verhältnis zum Geld als halb von infantilem Märchenhunger, halb von Größenphantasien getrieben, mithin als eines von Kartak-Kanjakischer Ambivalenz: Roth habe geglaubt, dass »andere den scharfgeschliffenen Wundersinn [sic!] für die geheimen Quellen des Geldes besaßen, ihm selbst blieben sie verschlossen. Sie versiegten unter seiner zierlichen Hand. Dabei züngelte die Phantasmagorie von Reichtum vor seinen Sinnen und brannte fort, und die eigene Armut nahm er keineswegs geduldig hin, eher beschämte sie ihn, wie das Zeichen einer 432

Von deutscher Literatur. Eine Stunde mit Joseph Roth, von Fréderic Lefèvre, zuerst in: Les Nouvelle Litteraires (Paris), 2. 6. 1934. Abgedr. in: III. 1031– 1035. Zitat S. 1033.

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Talentlosigkeit.«433 Das bezieht sich auf die stabilen Weimarer Jahre; »Armut« hatte mitnichten etwas mit ›wirklicher‹, materieller Armut zu tun und noch weniger mit Opfersein etwaiger Ausgrenzung, Exilierung oder Diskriminierung. Um des Geldes willen hat Roth sich sogar 1929 von den patriotisch-wertkonservativen »Münchener Neuesten Nachrichten« anwerben lassen434 – so wie er einige Jahre zuvor problemlos sozialdemokratische und nationalliberale Blätter zugleich als Arbeitgeber akzeptierte. Das Münchener Blatt hatte 1923 auf der Seite der militanten Republikfeinde gestanden und war erst nach dem Scheitern von Hitlers Putschversuch von offenen Sympathien für die Nationalsozialisten abgerückt435. Mitte der 1920er Jahre machte man, durchaus nicht ungewöhnlich für Intellektuelle dieses Milieus, einen gewissen Burgfrieden mit der Republik, wiewohl die Gegnerschaft der Münchener Zeitung zu Stresemanns Verständigungspolitik, vor allem zu jedem modernen Pluralismus entschieden blieb. Der Generaldirektor des Blattes, Paul Reusch, stand stramm zur nationalistischen Rechten, war einst Mitglied im Alldeutschen Verband, später im Lutherbund, saß im Aufsichtsrat der Deutschen Bank und betätigte sich in zahlreichen Interessenverbänden der Industrie (und des Handwerks) 436. 1929, als Roth Mitarbeiter wurde, hatte das Blatt seit etwa einem Jahr einen neuen Chefredakteur, der Sympathien mit dem Nationalsozialismus hegte – die Ausrichtung der Zeitung blieb jedoch konservativ-monarchistisch. Pikanterwei433 434 435

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Benno Reifenberg, Erinnerungen an Joseph Roth, zuerst 1949, zit. nach Bronsen 1974, S. 375. Bronsen 1974, S. 377. Angaben nach Paul Hoser, Münchner Neueste Nachrichten (03. 07. 2006); in: Historisches Lexikon Bayerns, URL: (19. 04. 2018). Vgl. Kurt Koszik, Paul Reusch und die »Münchener Neuesten Nachrichten«. Zum Problem Industrie und Presse in der Endphase der Weimarer Republik, http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1972_1.pdf. Aufzählung der Verbandaktivitäten Reuschs ebd., S. 76.

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se teilte das ehrenwerte Blatt durchaus einige Werte mit dem Roth jener Zeit: die Verachtung des »Westens«, polemisch verstanden als Herrschaft der Masse, des Glaubensverlustes, des Gemeinschaftssinns, des Kommerzes, der Technik. (Ein deutscher katholischer Monarchist mochte dem »Geist« nach einem österreichischen noch so verwandt sein, für Roth war er des Teufels.) Joseph Roth beschränkte sich in seinen Beiträgen darauf, unverdächtige Artikel über alltägliche Bagatellgegenstände wie Schaufensterpuppen und Waschmaschinen zu liefern437. Den kompromittierenden Wechsel hätte Roth sich ersparen können, da seine »Geldsorgen« eine Folge der inneren Konflikte waren. Hätte er dem Geldadel angehört, er wäre jenem »abgebrannten« Spieler unter ihnen ähnlich gewesen: »Es ist wunderbar, in so guter Gesellschaft zu leben, die bei Tag nackt und abends im Smoking ist, abgebrannt und hygienisch, sauber und gut erzogen […], ohne die Laster, welche eine Folge der Arbeit sind« (II. 447). Sogar das Standardattribut des verachteten und angeklagten »Westens« in »Juden auf Wanderschaft« taucht hier auf, die Hygiene. Sie spielt auch in der »Legende« eine wichtige Rolle; Hygieneritualen unterzieht sich der Trinker Andreas stets, nachdem er versorgende, gute Seelen traf und daher wieder eine Rolle in der Tagwelt der bürgerlichen Gesellschaft zu spielen sich vornimmt. Er tritt ins Tagleben, nachdem er durch den gutsituierten Herrn Geld erhielt und sich einen Friseurbesuch leisten kann. Als er sich wohlig des Geldes als Bedingung seines Losreißenkönnen von der bemutternden Karoline versicherte, heißt es in bezeichnender Ambivalenz: »Er war also böse auf Karoline. Und auf einmal [sic!] begann er, der niemals auf Geldbesitz Wert gelegt hatte [!], den Wert des Geldes zu schätzen. Auf einmal fand er, daß der Besitz eines Fünfzigfrancsscheins lächerlich sei für einen Mann von solchem Wert […]« (VI. 527). Das heißt: In diesem Moment, wo er plötzlich den Wert des Geldes zu schätzen lernt, ist das Geld, was er ohne etwas dafür zu tun, besitzt, nichts wert. »Verdient« hätte er mehr, 437

Vgl. Bronsen 1974, S. 378.

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riesige Mengen vermutlich, wie Kanjak – um sich auf Dauer von der Sexualität an Bindung koppelnden Frau lösen zu können. Als sich Andreas von Karoline losgerissen hat, findet er wundersam den Tausendfrancschein in der gebraucht gekauften Brieftasche – und unterzieht sich sofort wieder einem Reinigungsritual (VI. 529), um nach draußen zu gehen und den Schein zu wechseln. Als Kanjak ihm ohne Gegenleistung ein Zimmer mietet, reinigt Andreas sich ein weiteres Mal (VI. 534) etc. Diese Rituale sind Varianten jener Motive vom märchenhaften Wandel der Dinge, der Zeit, der Werte, die an entscheidenden Stellen Rothscher Prosa auftauchen. Und zugleich ein Produkt der Ambivalenz im Verhältnis zu Reinheit und ebenso zum Geld und zur IchIdentität, insoweit sie von sozialer Anerkennung und Erwerbsarbeit abhängt. 10 Das Motiv des jüdischen Erfolgsmenschen vor und nach Roths Krise 1925 Einige rätselhaft glückliche, ostjüdische Ausnahmemenschen, denen es vergönnt ist, im Westen zu reüssieren, bewiesen für Roth durch ihren Erfolg die Überlegenheit des ursprünglichen Judentums, dessen Wurzeln sie insgeheim treu blieben, treuer als der gewöhnliche, assimilierte, jüdische Bürger. Dieses Motiv ist die Kulmination der Ambivalenz im Verhältnis zum Ostjudentum und dessen (vermeintlichen) nach Kolonisierung strebenden Antagonisten, genannt »Der Westen«. Die Fixierung auf wundersame Karrieren und Wunderkinder war Roth schon sehr früh eigen. In einem anekdotischen Feuilleton mit dem bezeichnenden Titel »Wunderkind« entwarf er bereits 1918, lange vor den schriftlich sichtbaren Konflikten mit seiner religiösen Herkunft, eine solche Sonderexistenz: Eine »Mama [bildet] sich was auf das talentvolle Wunderkind« ein, weil es so leicht »einen gewissen impressionistischen und partikellosen Prosastil« nachahmen kann (I. 12) – also etwas, das Roths damaligem Stil nicht unähnlich war. Ein Jahr darauf

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fand er andere Wunderknaben in Deutsch-Kreuz (I. 115f), einem Nest im Heanzenland, Wiege Karl Goldmarks und des ungarischen Romanciers Alexander Docsi. Aber: Zu diesem Zeitpunkt stand Roths West-Karriere-Ideal noch nicht im Widerstreit mit der geschlossenen Herkunftswelt. Die von ihm in unverkennbarer, emotionaler Anteilnahme genannten Ausnahmebegabungen sprengten noch nicht das Bild einer wohlfunktionierenden, der Thora ergebenen Gemeinde, und letztere war noch kein lauthals zu beklagendes Opfer westlicher »Hygiene«. Im Dezember 1923 zeichnete Roth (der »Sozialist«!), ungerührt vom Schwanken der Republik, für das liberale »Prager Tagblatt« ein knappes Portrait des Finanzmagnaten Louis Hagen, eines konvertierten Juden und Zentrumsmanns von großem Einfluß. Kein Sohn des Ostjudentums war Hagen, wohl aber ein Enkelsohn, ein alternder Salonlöwe »aus der dritten Generation jüdischer Freiheit« (I. 1088), ein Assimilierter par excellence. In Roths feuilletonistisch-polemischen Texten der Krisenjahre 1925ff hätte Hagen wohl nur als Prototyp des bösen, des invertierten, entfremdeten Juden durchgehen können. Ein so »amerikanisch Arbeitender« sei Hagen, von einer so – man beachte das Attribut! – »verbindlichen Würde« des Gebarens, die »unjüdisch, international« ist, dass man ihn für einen der »sympathischsten Deutschen« hält (I. 1098). Roth wertet mehrere antisemitische Stereotypen auf einmal um, darunter die Erkennbarkeit eines heimlichen jüdischen Wesens innerhalb der noch so perfekten Assimilation. Doch über diese Arbeit mit Diskursstereotypen des Jüdischen legt er kulturkritische Klischees »westlichen« Verhaltens, kombiniert mit seinem Dilemma der Verbindlichkeit also Erwartungssicherheit und Stabilität des Ich: Er assoziiert das ›amerikanische‹ Arbeitsethos, Deutschland, Rationalisierung, Internationalität mit Verbindlichkeit des persönlichen Umgangs, ordnet sie einem Komplex von Verhaltens-, Organisations- und Wertmustern zu, die unjüdisch sind, also einem unterstellten jüdischen Wesen eigentlich fremd sein müssen. (Die Aufzählung von Internationalität als angeblich unjü-

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disch ist besonders abwegig, doch für Roths willkürlich ressentimentgeladenes Vorgehen bezeichnend: Die Juden in der Diaspora hatten sich längst als internationale Gemeinschaft empfunden und organisiert – lediglich traditionell und orthodox lebende Gemeinden in Osteuropa und Palästina sahen das anders.) Roth begnügt sich damit, antisemitische Diskursstereotypen gewitzt zu konterkarieren – seiner Denkart kam die Idee zupass, auch und gerade in der absoluten Verkehrung zeige sich das Urtümlichste und Überlegene des Judentums: »Nur der genaue Kenner merkt an einer gewissen Abgründigkeit des Auges, sozusagen seinem Alter, den jüdischen Menschen« (ebd.). Eine »gewisse Abgründigkeit des Auges« allein schon versichert ihn (und seine Leser): »Louis Hagen ist der Tradition seiner Väter treu geblieben, trotz seinem Religionswechsel« (I. 1088). Mittels dieses Stereotyps kann man zugleich persönliche Fremdheitsgefühle wie Sehnsüchte nach Überlegenheit und Erfolg bedienen. Hier, Ende 1923, ist Roths Umgang mit den Juden noch nicht von dramatischen, kulturkritischen Entfremdungs- und Opferszenarien bestimmt. Assimilation wird nicht als Entfremdung verdammt, wiewohl der Antisemitismus in der Weimarer Republik noch einmal aufflackerte. Er begnügt sich damit, das essentialistische Doppelweltmodell des Diskurses um behauptete, unsichtbare Wesenheiten assimilierter Juden zu adaptieren – weil er dadurch die Fixierung auf Karriere und Bewunderung mit der Sehnsucht nach Verbindung zu einer jüdischen Ursprünglichkeit vereinbaren konnte. Ist Roth also zu dieser Zeit, mitten in der tiefen Erschütterung der Republik und dem Aufflackern der braunen Gefahr, einverstanden gewesen mit jenen, die – wie Herbert Strauss noch 1983 – optimistisch (oder in verklärendem Rückblick) von der Weimarer Republik als jenem Land sprechen, »das damals für die Juden das beste in der Welt war«438? Für den Fall jüdischer Erfolgsmenschen offenbar 438

Zitiert bei Jost Hermand in: Grab/Schoeps 1986, S. 14. Hermand wirft diesen Auffassungen nicht zu Unrecht, doch übertrieben »Schönfärberei« vor.

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schon. Daher verwundert Roths Krisis in den Jahren 1925/26 um so mehr: Für Herbert Strauss dauerte diese glücklichste Phase der deutsch-jüdischen Koexistenz selbstverständlich bis ins Jahr 1929 fort. Was die heimliche, nahezu unbewusste »Treue« zu einer Art mystischem, verborgenen Stammeswesen der Juden angeht, das sich in winzigen Nuancen des Blicks oder der Physiognomie zeige, hat Alfred Döblin das Nötige gesagt (1920 in der »Neuen Rundschau«): »[D]as sogenannte Blut verdünnt sich rasch, die Nasen überzeugen mich auch nicht. Natur, Landschaft, Klasse nivellieren sich. Die westlichen Juden sind beleidigt, aber darum noch keine Semiten.«439 Und ein Jahr später: »Was ist das für ein Volk, dem man die Nasen wegnehmen kann, und es ist kein Volk mehr? Sondern ein anderes oder mehrere andere. […] Kann man die Judenfrage in Westeuropa durch Nasenplastik lösen? Sicher. Aber wo soll man mit dem vielen Stroh hin aus den Köpfen derer, die sich mit dem Judentum befassen?«440 »Der Jude«, der westlich assimilierte, war für Döblin ein unbewusstes Konstrukt durch Juden und Nicht-Juden: Sie »sehen« auch im unauffälligsten Gesicht ethnie- oder artspezifische Körperformen. Roths fast obsessive Fixierung auf (westliche) Stars und Karrieristen gipfelte in seiner Verklärung von meist jüdischen Genies. Im April 1924 berichtete er für die FZ über ein tierfilmschauspielerisches Wunderkind, Jankel Cohn alias Jackie Coogan. Den ersten, eigentlichen, jedoch der Öffentlichkeit verborgenen Namen müssen ihm Eltern gegeben haben, die ostjüdisch waren. (Jankel litt als Kind unter Pogromen, und die gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur in Osteuropa.) Der zweite Name ergab sich durch das amerikanische Show-Geschäft. Die lautliche Ähnlichkeit Jankel-Jackie und CohnCoogan insinuiert, diese Änderung sei nur ein winziger Sprung, und im Artistennamen klinge gleichsam das Jüdische verformt hindurch. 439 440

Zitiert in Döblin 1997, Nachwort des Herausgebers, S. 533. Zitiert ebd., S. 534.

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Jankel-Jackie ist ein physiognomischer Zwilling des schreibenden Bewunderers441 – zugleich ein ganz anderer, hat ihm die Natur doch mühelos geschenkt, was der (kleine) Roth sich sauer, mit viel Anstand und Disziplin verdienen musste und wollte. (Roth hat sehr früh seinen zweiten, unübersehbar jüdischen Vornamen »Moses« nicht mehr verwendet.) Der Schreibhandwerker wünscht sich psychologisch dies: »Was mich betrifft, so möchte ich ein kleiner Lausbub sein und mit Jackie Coogan im Rinnstein um Blech- und Hornknöpfe spielen.« (II. 162) Er spielt vor den Lesern kokett mit Wünschen nach Verkindlichung und Gemeinschaft mit Ausnahmeexistenzen: »Sogar ernste Männer sollen ähnliche Wünsche bereits verspürt, wenn auch nicht geäußert haben.« (Woraus man folgern müsste, der Autor sei wohl kein ernster oder gar kein Mann, denn er hat ja den infantilen Wunsch soeben geäußert.) Bewunderung erfüllte die Luft um Jackie, phantasiert der hingerissene Schreiber. Man »beneidet seine Eltern, seine Freunde, die Filmgesellschaft um ihn«, er kommt anstrengungslos zu Ruhm, Reichtum, unaufhörlicher Aufmerksamkeit und adelt die Eltern gleich mit – eine vollkommene Erfüllung kindlichen Narzissmusʼ. Jackie verkörpert besonders rein jenes Rothsche, seltsam banale, wie aus Klatschspalten herausfiltrierte Traumleben, das auf andere Weise der Fußballstar Kanjak (»Legende«) und der Geldadel in den mediterranen Strandetablissements darstellten – wobei Jackie gesegnet ist mit einen nie abreißenden Strom bewundernder Aufmerksamkeit: »Andere Kinder erleben solche Geschichten in der Phantasie. Jackie erlebt eine phantastische Wirklichkeit« (II. 163). Er vollbringt Außerordentliches und ist doch ganz bei sich selbst, lebt ganz und gar selbstbezogen, ohne Pflicht (oder auch: Verantwortung) und Beschränkung und wird dafür noch hofiert: Das »Wunderkind« ist von überlegener Klugheit und bleibt doch im Besitz seiner Kindheit. Und er ist ein Jude, der seine Herkunft leugnet durch die Namens441

Auf »Augen voll schelmischer Traurigkeit«, auf die Paarung von Klugheit und kindlicher Naivität führte Roth selbst seinen Charme oft zurück (vgl. II. 164).

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Dritter Teil: Behütende Ordnung ohne Verantwortung

änderung und doch ganz idealisch die Überlegenheit des Judentums beweist. Roths Schwärmerei ist gewiss auch die Verklärung des kindlichen Narzissmusʼ; zugleich ist die Konstruktion von verwirrender Widersprüchlichkeit – und das hat mit einem weiteren Lebensmotiv Roths zu tun: In Jackie ist der Widerspruch zwischen Zeigen und Verbergen wundersam gelöst: »Dabei wird er photografiert, gefilmt. Es sind Naturfilme. Ebensowenig wie der Eskimo spielt, wenn er gefilmt wird, ebensowenig spielt Jackie Coogan« (II. 163f). »Jackie« muss vielleicht nur deshalb nicht schauspielern, weil die durch den unjüdischen Namen markierte Identität ohnehin eine andere als die Jankels ist und dieses Kunst-Ich konfliktfrei und wie von selbst gelingt, während »Jankel« verborgen bleibt. Was Jackie schauspielert und doch nicht schauspielert, ist keine künstliche Aufführung – sondern Natur. Er, das amerikanische Ich, ist so artifiziell wie ein Englischer Landschaftspark und von zweiter Natürlichkeit wie dieser Park, jedenfalls im Film der Unterhaltungsindustrie. Diese Art Natur ist keine vorhandene – sondern eine, die durch Foto- bzw. Filmkameras allererst medial und mit Blick auf ein Massenpublikum hergestellt wird. Als Roth beschreiben will, wie die denkbar entfernten Gegensätze – märchenhafte Karriere in amerikanischer Unterhaltungsindustrie (»Westen«) und tradiertes Ostjudentum – insgeheim verbunden oder paradox versöhnt werden können, macht er erwartungsgemäß wieder von der Figur des Rätsels bzw. des Wundersamen Gebrauch: »Natürlich [!] denkt man an Seelenwanderung. In diesem Jungen steckt sein Großvater. Der wiedergeborene alte Herr Cohn aus Kowno oder Lodz. Der geniale Schauspieler, der sein Genie nicht offenbaren konnte, weil er ein orthodoxer Jude im europäischen Osten war und beten mußte und mit Gurken in Essig handeln« (II. 164). Das ist wiederum eine, in der Tat gewitzte Verkehrung eines antisemitischen Stereotyps, jenes von Verstellung als Wesenszug jüdischer Existenz, das Joseph Roth, den zwanghaften

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Rollenspieler und Simulanten besonders angehen musste. Der Ostjude Cohn ist in der Tat für die Schauspielerei geboren – doch er darf sie nicht ausleben, weil er noch traditionell jüdisch lebt. Er darf es erst, als er in das ganz Andere, die amerikanische Filmindustrie migriert – repräsentiert durch seinen Enkel: Herr Cohns »starb und hatte sein Schicksal nicht erfüllt. Also kam er wieder in die Welt und kroch in die liebliche Hülle seines Enkels. Einmal heißt er ›Jankel‹. Jetzt heißt er ›Jackie‹. Einmal war er ein armer, geprügelter, vor Pogromen zitternder Jude. Jetzt ist er der Liebling aller fünf Kontinente.« (II. 164) Dass hier das Schtetl als Ort des Zwangs zum unverstellten Ich erscheint, steht zwar in Widerspruch zu vielen anderen Schtetl-Phantasien Roths, doch die Pointe ist es wert. Verstörend an derartigen Idealbildern ostjüdischer Existenz im Westen ist nicht zuletzt, dass sie gar keine Bilder religiöser Existenz sind, sondern ernüchternd banale Erfolgssehnsüchte eines narzisstisch Gekränkten, ebenso kindliche Träume von erfüllter Ich-Identität. Der Geschichte nach scheint nicht allzuviel Zeit vergangen, seit der verunsicherte Pennäler Joseph Roth es einst seinen Mitschülern und Zeitgenossen heimzahlen wollte.

Vierter Teil: Der Schreibvorgang und seine Einbettung im erlebenden Geist Versuchte man aus der Serie der vorangegangenen Probebohrungen eine leichter fassbare Hypothese zu gewinnen, welche Konfliktstruktur Roths Schreiben antrieben, würde man zu solchen Formulierungen kommen können: Jede tiefere soziale oder institutionelle, verpflichtende Bindung wird im Modus des Wunschs als verlockend empfunden, sobald real geworden jedoch als lähmend, eigene Bedürfnisse und tiefere Ich-Möglichkeiten erstickend, daher sinnentleerend, befremdlich, tot. Beantwortet ist das Realwerden der Bindung typischerweise in verzweifelter Sehnsucht nach Befreiung, nach Flucht um jeden Preis, Herausspringen in eine andere Existenzform oder eben Negieren der Notwendigkeit oder Zuträglichkeit von Ich-Kontinuität überhaupt. Der Bindung entflohen stellt sich zunächst Erleichterung ein, ja Erlösung (und wie oft suchen Rothsche Figuren freiwillig Exil, die Fremde, den Ausbruch und Gefangenschaft). Nicht weniger plötzlich kippt alles bald abermals um. Gefühle der Auflösung, von Haltlosigkeit, Ausgestoßensein, Ziel- und Uferlosigkeit beherrschen das Leben; alles stürzt um in Sehnsüchte nach verlorener Ganzheit. Es liegt auf der Hand, dass die Unfähigkeit vieler späterer Hauptfiguren Rothscher Erzähltexte, eine Eigenschaft moderner Subjektivität zu benutzen, damit zusammenhängt: sich planvoll, schrittweises Lernen vermittels Reflexion von Erfahrungen, Selbst, Lebensweg, Bindungen, Weltbild und somit Ich-Identität zu erarbeiten. Dass es letztlich nur zwei Extreme der Einbindung in der Welt gibt, das Ich von seiner Freiheit entbindendes Aufgehobensein oder Ich-isolierender Ausbruch, Trotz, Kränkung und Abwehr des Ganzen; dass sie von einem Augenblick zum anderen umschlagen können; dass es letztlich keine Mitte zwischen ihnen gibt – eben dies sind typische Elemente dessen, was noch unlängst in psychologischen, nicht-klinischen Studien als »Hysterie« beschrieben worden ist. Daher wurde der Begriff in der Erstfassung dieser Studien ver-

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Kiefer, Braver Junge – gefüllt mit Gift, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05108-0_5

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wendet – wiewohl er eigentlich historisch sowohl hinsichtlich der Geschichte der Juden wie der Geschlechter unerträglich belastet ist oder war und seiner Unschärfe wegen von Klinikern längst nicht mehr verwendet wird. Es war ein schmerzliches Versäumnis der Erstfassung, die Gründe, weshalb der Begriff dennoch verwendet wurde – nämlich in hinzuzudenkenden Anführungszeichen und als historisch gewordene Figur, die (in etwas anderer Bedeutung) auch Roth selbst geläufig war –, nicht offengelegt zu haben. Das wird in der Neufassung nachgeholt werden – verbunden mit einer Darstellung von Roths gesamtem, höchst ambivalenten Verhältnis zu psychologischen und psychiatrischen Umgangsweisen. Zuvor jedoch erfolgt die Darlegung der Gründe, weshalb sich in der intuitiv-erzählenden Auslegung der praktizierenden Psychologen der Begriff für den Fall Joseph Roth in meinen Augen geradezu aufdrängt. 1 Die »hysterische« Konfliktstruktur in den Augen des nichtklinischen Therapeuten Das Feld der »Hysterie« trägt Spuren seiner – allerdings unsystematischen – Bewirtschaftung seit den Tagen der Antike442. Noch Freud gingen an ›hysterischen‹ Patientinnen Leitsätze der Psychoanalyse auf443. Der Begriff erlebte einen Aufstieg, um dann tief zu fallen. Sei442 443

Einige der abenteuerlichen Stationen dieser Geschichte führt Israel 1993, S. 11ff an. Freud hatte sich schon bei Charcot auf das Studium der Hysterie konzentriert. Nach seiner Niederlassung als Nervenarzt (1886 in Wien) bildeten Hysteriker einen wesentlichen Teil seiner Klientel. Die »Studien über Hysterie« von 1895 markieren die Abkehr von der Hypnose als therapeutischem Mittel, das Freud von Breuer (dem Co-Autor) übernommen hatte. Anlass der therapeutischen Umorientierung war die Entdeckung, dass das »pathogene psychische Material, das angeblich vergessen ist, dem Ich nicht zur Verfügung steht […], doch in irgendeiner Weise bereitliegt, und zwar in richtiger Ordnung« (Freud, Ergänzungsband, S. 80). Als wesentliches Mittel zur Freilegung entdeckt Freud schon damals die »Übertragung auf den Arzt« (ebd., S. 94–97). Die direkte Abbildung hysterischer Symptome auf sexuelle Traumatisierung als angeblich

1 Die »hysterische« Konfliktstruktur in den Augen des nicht-klinischen Therapeuten 455

ne historischen Belastungen und stigmatisierenden Impulse ließen ihn implodieren. In der Alltagssprache ist er noch in der etwas dezenteren adjektivischen Form in Gebrauch: Nennt man jemand »hysterisch«, leben darin die alten Verknüpfungen mit Aus- und Zusammenbrüchen, Konvulsionen fort. Viele andere Symptome sind heute dagegen abgewandert in Diagnosen wie »Borderline« oder »instabile« bzw. »histrionische« Persönlichkeit und die Erforschung der komplexen (das heißt, nicht durch einmalige Ereignisse, sondern durch langanhaltende Entwicklungskonflikte ausgelösten) »Traumatisierung«. Diese Kategorien wiederum waren in Psychologenkreisen noch nicht heimisch, als der Münchener Lehranalytiker Fritz Riemann zu Beginn der 1960er Jahren in einer nachgerade populär gewordenen Studie dem hysterischen Persönlichkeitstypus folgende Dispositionen zuordnete – und das vollkommen geschlechtsneutral444: (i) Angst vor jeder Festlegung, Angst vor jeder (persönlichen) Entscheidung und jeder (eindeutigen) Bindung. Diese Angst könne nicht nur soziale Bindungen betreffen, sondern in gewissem Sinne sogar (ii) die Verpflichtung auf Gesetze der materiellen, moralischen und geschichtlichen Welt überhaupt. Der Hysteriker nämlich neige auch »naiv dazu [zu glauben], dass für ihn die Kausalität und die Folgerichtigkeit von Geschehensabläufen nicht gilt«445. Auf lange Sicht führe das nicht selten zur Konstruktion einer »Pseudorealität«, gleich-

444 445

alleinige und notwendige Ursache (die Freud zeitlebens nicht ganz aufgab), bezeichnet die Grenzen dieser epochemachenden Schrift – allerdings belegen heutige, klinische Studien die überraschende (bzw. bestürzende) Häufigkeit von Misshandlungen und Missbrauch bei komplex traumatisierten Patienten (Kolk 2014, S. 148), deren Symptome oft denen der traditionellen Hysterie ähneln. Zudem liegen heute neurobiologisch differenzierte Erklärungen vor, weshalb Traumatisierte tatsächlich, wie von Freud/Breuer behauptet, an ihren Erinnerungen leiden. In dieser Hinsicht waren Breuer/Freud neben Charcot/Janet die weitsichtigen Gründungsväter einer modernen klinischen Forschung, vgl. Kolk 2014, S. 181. Nummerierung und Einteilung der Symptome stammt von mir. Riemann 1991, S. 158f, ebd. auch die beiden nachfolgenden Zitate.

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Vierter Teil: Der Schreibvorgang und seine Einbettung im erlebenden Geist

falls zur Negation biologischer Bedingtheiten und der geschlechtlichen Identität. In Riemanns informellen Worten: »Auch die Logik ist eine so lästige Realität […] Und welch phantastische Möglichkeiten bietet die Sprache, wenn man erst einmal dahintergekommen ist, was man alles mit ihr machen kann und wie man andere damit mattsetzen kann! So entwickelt man eine Pseudologik, die bis zur bewußten oder unbewußten Lüge gehen kann, in der man kaum je zu fassen ist.« Nicht nur die zunehmende Neigung Roths für legendenhafte Elemente und Motive des Wunders und der märchenhaften Verwandlung wären erzähltechnische Transformationen dieses Drangs, auch die Maxime der »Die weißen Städte«-Poetik. In der Erzählung »Der blinde Spiegel« (s.o. Abschnitt »Das Fluchtund Wendejahr 1925 im Spiegel der Literatur«) ist auf weniger als dreißig Druckseiten ein halbes Dutzend Mal von Wundern und Wunderbarem die Rede. Der ganze »Hiob« gravitiert auf ein »Wunder« hin. Wenn in der späten »Legende vom heiligen Trinker« dann mit kräftigem Sentiment viele Male von »Wundern« gesprochen wird, die dem Trinker widerfahren, ist das also keineswegs Zeichen einer in den letzten Lebensjahren merkwürdig herausgebildeten, allenfalls durch Alkoholismus und politische Verfolgung zu erklärenden Hinwendung zum Irrealen. Als »Kette von Wundern« wollte schon ein (ziemlich redseliges) Feuilleton für den »Berliner Börsen-Courier« des 6. 4. 1922 (I. 787–789) das ganze der technischen Machbarkeit verschriebene Leben der Gegenwart verstehen – eine »Kette von Wundern«, weil niemand mehr Herr sei im eigenen Haus der Welt: »Tief hinter Wolken und Sternen aber birgt sich ein Gott vor den Wundern der Welt« (I. 788). Auch das klingt eigentlich wie ein Satz aus einem Märchenbuch für Kinder, den ein erwachsener Schreiber selbst nicht recht ernst also wörtlich nehmen kann. Was sich nach 1925 ändert, sind nicht so sehr die Vorstellungen, Konflikte, Motive und Ordnungsbegriffe als die theatralische Inszenierung, der dramatische Affekt, der Zorn, mit denen sie werthaft aufgeladen und Schuldige ausgemacht werden.

1 Die »hysterische« Konfliktstruktur in den Augen des nicht-klinischen Therapeuten 457

(iii) Nach Riemann weicht der hysterische Mensch der Fixierung durch eine festgelegte Vergangenheit aus, negiert sie einfach und/oder ersetzt sie – das wäre Kriterium – durch ein Rollenspiel: »Durch das Durchbrechen zeitlicher und kausaler Zusammenhänge erreichen die hysterischen Persönlichkeiten ihre ungemeine Plastizität; sie leben gleichsam geschichtslos ohne Vergangenheit[. … Es] kommt dadurch in ihr Leben etwas Punktförmiges, Fragmentarisches und Schillerndes, ein Mangel an Kontinuität. Sie können sich chamäleonartig jeder neuen Situation anpassen, entwickeln aber zu wenig […] Ich-Kontinuität.« Diese Beschreibungen ernteten medizinisch nicht ungeteilte Zustimmung, fassen jedoch überraschend genau einige Züge der Erscheinung Joseph Roth. Eine weniger medizinische als phänomenologische Erklärung findet mit diesen Ausführungen auch das, was wir oben Roths Leben in »Momentblasen« nannten. Die Poetik von »Die weißen Städte« mit ihrer Maxime der angeblich prinzipiell unberechenbaren Wandlungsfähigkeit aller Erfahrungsdinge ist ein Produkt dieses Persönlichkeitszuges, verbunden damit auch die Abwehr von Eigenverantwortung. Ohne Einschränkung ist folgende Beschreibung auf Roth anwendbar: »Da sie immer irgendeine Rolle spielen, die […] auf die jeweilige Bezugsperson ausgerichtet ist, wissen sie zuletzt vor lauter Rollenspielen nicht mehr, wer sie selbst sind. So entwickeln sie eine Pseudorealität ohne Kontinuität, klare Konturen und charakterliche Prägung«446. Die aggressive Variante bzw. Steigerung des Zwanges zum Rollenspiel sieht Riemann (S. 172) in der Neigung zu »Szenen«, zur theatralischen Inszenierung aller Konflikte. Eine solche Theatralisierung hat immer etwas von Schauspielerei an sich, von wirkungsbedachter Simulation, weshalb sie auch von einem zum anderen Augenblick auftreten und im nächsten verschwunden sein kann. (iv) Auffallende Kindlichkeit gehört für Riemann zu den Kernsymptomen der hysterischen Persönlichkeit (S. 167, S. 169 u.ö.). Roth 446

Ebd., S. 161f. Ob mangelnde Ich-Kontinuität notwendigerweise Ermangelung von »Charakter« bedeuten muss, sollte man dahingestellt lassen.

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kultivierte sie mal kokett verspielt, mal sentimental, mal clownesk, mal hintersinnig in Leben und Schreiben. Der Charme seiner späteren Erzählprosa verdankt sich, wie gesehen, nicht unwesentlich artifiziellen Kindlichkeitsgesten. (v) Projektion von Schuldgefühlen in äußere Instanzen und die Flucht vor der Welt in Krankheit zählt für Riemann zu den weiteren Kernmerkmalen (S. 163). Das ist gewiss nichts, das exklusiv der hysterischen Persönlichkeit zukommt, sondern eine sehr verbreitete Neigung der Menschen. Sie war bei Roth lediglich besonders prominent und lebensbestimmend – so die Umdeutung der über Jahre hin gebildeten Wünsche, der Enge und Rückständigkeit osteuropäischer Provinz zu entfliehen zu »Verführungen« durch den infam täuschenden Westen. Die Krankheit, in die Roth floh, war der Alkoholismus. (vi) Hysterische Menschen, fasst Riemann seine therapeutische Erfahrung zusammen, »halten gern an der Vorstellung eines persönlichen Gottes im Sinne eines guten Vaters fest, der natürlich sie besonders liebt und das schon irgendwann zeigen wird. So bleiben sie in vielem kindlich-unreif, naiv und wundergläubig, sind verführbar durch Heilsversprechen, die helfen wollen ohne große Anstrengung. Sie sind daher oft Anhänger entsprechender Sekten, die auch ihr Sensationsbedürfnis ansprechen« (S. 193). Roth hat das Kindliche und Wundergläubige gleichfalls im Leben kultiviert und inszeniert – der vorgebliche Gottesglaube jedoch dürfte, da alle Autoritäts-, Vaterund Führerfiguren ambivalent besetzt waren, nur als erschriebener ›wirklich‹ gewesen sein. 2 Bemerkungen zur Terminologie I Freud, der Begriff der »Ambivalenz« und die Kunst Den Begriff »Ambivalenz« hat Freud von Bleuler übernommen (siehe z.B. Freud I. 412, VII. 96), die Bedeutung jedoch verengt447. Er wird 447

Anmerkung des Herausgebers A. Mitscherlich in Freud III. 94 (Anm. 1). Dort auch die nachfolgenden Zitate.

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hier in der weiteren, Bleulerschen Bedeutung verwendet. Zu ihr gehören neben der von Freud übernommenen Bedeutung [1.], dem affektiven Schwanken zwischen Hass und Liebe, noch [2.] »die Ambivalenz des Willens, d.h. die Unfähigkeit, sich zum Handeln zu entschließen; und [3.] intellektuelle Ambivalenz, d.h. Schwanken zwischen entgegengesetzten Auffassungen«. Freud behauptet, Ambivalenz sei nur beim Kleinkind »verträglich« (z.B. in Freud I. 327, VII. 96) und forderte eine strenge Unterscheidung von Hass und Liebe im Erwachsenenleben (z.B. Freud V. 284, ähnlich III. 102). Ausgiebige Ambivalenz des erwachsenen Trieblebens bezeichnete er schlicht als »Perversion« (Freud V. 104), während sie im Traumleben produktiv und gewöhnlich sei (Freud II. 411, 417, Ergänzungsband 263). Im Wachleben habe sie ihren Platz allein in der zweiten prägenitalen Phase, der »oralsadistischen« (Freud I. 553ff, I. 554ff, II. 284). Gemäß seiner Vorstellung der Analogie von Phylound Ontogenese vermutete Freud, dass die Ambivalenz in primitiven Gesellschaften in stärkerem Maße zugelassen war als heute (Freud III. 94, IX. 356): »Eine ausgiebige Triebambivalenz kann als archaisches Erbteil aufgefaßt werden« (Freud III. 94, vgl. III. 101). Das ist vollkommen spekulativ, wie Freud selbst zugibt. Noch viel weniger beweisbar wäre die Vermutung, Roths Sehnsucht nach dem Exotischen, Ursprünglichen, Slawischen, Östlichen gründe hierin – und damit auch seine Sehnsucht nach dem Kindsein, wo Ambivalenz noch zulässig ist und Berechenbarkeit und Selbstverantwortung noch nicht Pflicht. Doch: Warum nicht? Freuds berühmt-berüchtigte Vater-Obsession hat ihn zur Behauptung verführt, Ambivalenz im Verhältnis zur Mutter würde von Knaben in Gänze aufgehoben, indem sie die Aggression auf den Vater übertrügen (Freud V. 284), und diese Übertragung wiederum bilde die wesentlichen Quellen des Ödipuskonfliktes (Freud III. 299, IV. 239f), ja sogar der Gottesbilder (Freud VI. 300f). Das sind zweifellos eher Produkte von Idiosynkrasie und literarischer Phantasie als der wissenschaftlichen Disziplin. Ambivalenz bewirke hier, so Freud, eine Auf-

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spaltung in getrennte Bilder eines existenz- oder identitätsbedrohenden Vaters (»Kastration« in Freuds phallozentrischer Symbolwelt) und eines ganz und gar »guten Vaters« (Freud IV. 255). Man fühlt sich aller Spekulation zum Trotz erinnert an Roths (inszenierte) Panik bei der Wahl Hindenburgs, des väterlichen Versöhners, und an seine hemmungslose Sehnsucht nach einem weisen und gewaltlosen Kaiser Franz Joseph II. Auch ohne solche kaum überprüfbaren Spekulationen relevant dürfte hingegen Freuds Beobachtung sein, der Verlust eines ambivalenten Liebesobjekts führe zu Wallungen und Schuldgefühlen (Freud III. 204), die unverhältnismäßig seien zu den vorher bestehenden Hassimpulsen. Eine solche Struktur kann man in Roths Verhalten nach der Einweisung Friedls wiederfinden – doch auch in den vielen Kränkungen, panischen Fluchten, kindlich-trotzigen Selbstverkapselungen seiner Romanhelden. Erinnert sie hier an Freuds Bemerkung, dass in solchen Fällen weniger der Verlust der konkreten Person betrauert wird als vielmehr der der Ambivalenz selbst (Freud III. 210). Dieser Konflikt werde dabei verstärkt durch das Wiederauftauchen des frühkindlichen Sadismus (III. 263). Psychoanalytische Gerätschaften stehen vielerorts im Ruf, der Kunst banausisch an den Kragen zu wollen. Schon Freud habe mit der Depotenzierung des schöpferischen Aktes zum kindlichen Spiel eine »Mordtat am Künstler als Genie, am großen Mann«, und also einen zweiten Vatermord begangen, hat Sarah Kofman einmal ausgerufen448. Im Falle der Epigonen (die zum Beispiel nach immergleichem 448

Der erste war natürlich der an Gottvater selbst, so Sarah Kofman, Die Kindheit der Kunst, München 1995. Kofman ist ironischerweise ihrerseits vom Trieb beseelt und daher verwirrt, einen ›Vater‹ zu morden: Ihre Behauptung, dass Freud den schöpferischen Akt als bloßes Kinderspiel behandelt habe, ist unzutreffend. Ob Freud überhaupt eine Theorie der Kunst entwerfen wollte, ist bis heute umstritten. Richard Kuhns etwa hat aus den programmatischen Passagen der »Traumdeutung« gefolgert, dass Freud eine solche liefern wollte (Kuhns 1986, S. 27ff). Das ›romantische‹ Kapitel VII.F. der ›Traumdeutung‹ (»Das Unbewußte ist der größere Kreis, der den kleineren des Bewußten in sich ein-

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Schema Ödipales bei Hamlet, Hölderlin oder Kafka suchen) dürfte daran viel Wahres sein – Freud selbst hat sich nicht darin verstiegen, den psychoanalytischen Extrakt für die Sache selbst, das Geheimnis der künstlerischen Form und des damit verknüpften Erlebens zu halten (schon deshalb nicht, weil er zur Musik nichts zu sagen hatte). Umgekehrt scheint er kaum je seine Vorstellungen der Rolle von Ambivalenz im Seelenleben an konkreten Sprachmaterialien durchgeführt zu haben. Mir ist nur ein solcher Fall bekannt. Bei Shakespeare stieß er auf ein »Nebeneinanderstellen zweier entgegengesetzter Reaktionen gegen dieselbe Person, die beide den Anspruch erheben, voll berechtigt zu sein, und doch einander nicht stören«. Er fand diesen Double-Bind in der Leichenrede auf den ermordeten Cäsar, nicht in der berühmten des Antonius, nach der Brecht seinen Arturo Ui Rhetorik lernen ließ, sondern in der weniger berühmten des Brutus. Diese will den Hörer nicht, wie die des Antonius, in einem bildergesättigten Versstrom mitreißen; sie appelliert in präzise syllogistischer Prosa an die Vernunft: »Weil Cäsar mich liebte, weinʼ ich um ihn; weil er glücklich war, freue ich mich; weil er tapfer war, ehrʼ ich ihn, aber weil er herrschsüchtig war, erschlug ich ihn.«449 Dieses Beispiel scheint mir keines strikter Ambivalenz im Sinne des simultanen Besetzens von Personen mit sich wechselseitig ausschließenden Affekten zu sein. (Es handelt sich eher um eine Aufzählung verschiedener Aspekte einer Beziehung, die durchaus friedlich nebeneinander koexi-

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schließt […] «) beansprucht gewiss eine solche Wachablösung der idealistischen Bewusstseinsphilosophie insbesondere Kantischer Prägung – allerdings in deutlicher Nachfolge der romantischen Geist- und Willensphilosophie (Schelling, Schopenhauer), vgl. Danziger 2014, S. 13f. Der Anspruch einer umfassenden Theorie auch der Kunst lässt sich daraus nicht ableiten. Akt III, Szene II. Freud zitiert nach der Schlegel/Tieck-Übersetzung. Im Original ist der angeblich ambivalente Affekt noch weniger deutlich. Dort beginnen die Kettenglieder jeweils mit »as« – »As Caesar loved me, I weep for him; as he fortunate, I rejoice it« – und dabei schwingt ein präpositionaler Sinn der Art »hinsichtlich der«, »insofern« mit. Die Unterscheidung von Hinsichten verhindert normalerweise eine verbale Darstellung von Ambivalenzen.

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stieren können.) Die Sprachgebung selbst jedoch erinnert sofort an Rothsche Satzkonstruktionen und insofern an rhetorische Ursprünge seiner Sprechweisen – nicht nur, aber auch und gerade jene der Oxymoron- und Kontradiktions-»Approximationen«, der anaphorischen Reihung von pulsierenden Kurzsyntagmen, die zwar einen Redefluss, jedoch keinen Fluss kontinuierlicher Veranschaulichung ergeben. Interessant für unsere Zwecke mag auch Freuds Bemerkung dazu sein, woher die eigentümliche, semi-widersprüchliche Sprachlogik stammt: »Ist das nicht der nämliche Satzbau und Gedankengegensatz wie in dem Traumgedanken, den ich aufgedeckt habe?« (Freud II. 411) Dass Freud, einem eigenen Traum nachsinnend, fortfährt mit der rührenden Identifikation von eigenem, erträumtem und artistisch kreiertem Ich (»Ich spiele also den Brutus im Traum«) und somit gleichsam vorwegeilend Wasser auf die Mühlen seiner künftigen Verächter goss, überdies das nonverbale geistige Leben dem verbalen Handeln angleicht, sollte nicht vergessen machen, dass er ein Feld betreten hatte, dass nicht betreten zu haben ihm viele Kritiker vorwerfen: Freud offerierte Ideenmaterial zu einer (künftigen) psychologisch fundierten Theorie künstlerischer Form oder der ästhetischen Sprach-Komposition. Die vorliegende Studie will weitere Schritte zu einer solchen Theorie gehen und mikroskopisch am Textbeispielen veranschaulichen – Psychologie im engeren Sinne wird dabei jedoch weit überstiegen. Angepeilt ist viel eher eine Theorie der psychologischen und generell erlebensmäßigen und kognitiven Grundlagen literarischer Kompositionskonzepte, ihrer Wirkungen und spezifischen Sinn-Erfahrungen, oder eben: der schreibenden Selbst-, Sprach- und Weltmodellierung. Literarische Ideen sollen dabei gerade nicht auf Persönlichkeitspsychologie reduziert werden. Vielmehr muss umgekehrt bis in einzelne Figuren des Witzes oder der Stil und der beschriebenen Welt hinein nachvollziehbar werden, wie der schöpferische Prozess die konfliktuösen Energien, Aporien und Prägungen einer Person adaptieren und verwandeln kann in einen – wenn auch illusionären – Triumph der Sprachphantasie,

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der stilistischen Suggestionen und Erfahrungshalluzination. In gewisser Weise wird damit empirisch detailliert nachvollziehbar, was Harry Mulisch einmal gewitzt, doch pauschalisierend so umschrieb: »Warum war Echnaton entweder jemand mit einem Vaterkomplex oder ein erhabener Religionsstifter? Er war beides, denn nur jemand mit einem Vaterkomplex kann ein Religionsstifter werden, aber dennoch ist der Kultus eine Religion und keine Neurose.«450 Für eine solche bedarf es keiner speziellen Theorie zur Rolle unbewusster Impulse oder gar des Verhältnisses von Sprechen und Denken. Auch keiner der künstlerischen Phantasie, so verführerisch es in Roths Fall sein mag, sich Inspiration mit Ernst Kris als eine Art selbstregulierte Regression des Ich vorzustellen, als intellektuell behutsam gesteuerte Empfängnis aus früheren Entwicklungsschichten (in einem Zustand, der in seiner (äußeren) Bedürfnislosigkeit an das Säuglingsalter erinnert451). Nützlich ist Krisʼ Vorstellung, dass der schöpferische Prozess im Gegensatz zum Traum nicht nur eine durch unbewusste Impulse bestimmte Aktivität, eine Indienstnahme des psychischen Lebens durch Freudianische »Primärprozesse« sein muss, sondern ebenso gut umgekehrt funktionieren kann: Das Selbst (re)inszeniert aktiv diese Primärprozesse neu und nimmt sie in Dienst452. Es ist, bei aller Determination durch »Es«-Kräfte auch ein wechselseitiges Geben und Nehmen mit Ich-Kräften. Ein solches Modell der Wechselseitigkeit von Ich-Kräften und weitgehend unbewussten, nicht-ichlichen Kräften würde dem Vorwurf des biographistischen Kurzschlusses oder der Kritik entgehen, Psychologie müsse die Sprachform zum Dokument erniedrigen453. Roths Stil, der 450 451 452 453

Harry Mulisch, Das sexuelle Bollwerk. Sinn und Wahnsinn von Wilhelm Reich, Reinbek bei Hamburg 1999, S. 57. Kris 1977, bes. S. 186f. Kris 1977, S. 26. Eine ähnliche Intention bei Kuhns 1986, der »nicht unterstellen [will], daß sich die Kunst damit auf ein Symptom reduzieren ließe. Diese Art von Reduktion ist der psychoanalytischen Theorie häufig vorgeworfen worden. Die Urverdrängung tritt während der lebenslangen Tätigkeit eines Künstlers vielmehr in

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das Willkürliche, Sprunghafte, Improvisatorische einerseits benutzt, andererseits dieses auch konstruktiv simuliert, kann man sogar als Offenlegen dieses wechselseitigen Indienstnehmens von unbewussten Anteilen und kontrollierten Ich-Kräften verstehen. Der Gebrauch des Terminus »Ambivalenz« aber ist hier von keinem Akzeptieren einer speziellen Theorie des Psychischen, Syntaktischen, Semantischen, Kognitiven abhängig. Die Einzellektüren gründen zudem, wie in den ersten Teilen gesehen, in unterschiedlichem Maße auf der Kategorie des Ambivalenten, erweitern das Spektrum in Richtung Ambiguität und beziehen sie im Gegensatz zu Freuds Gebrauch auch auf Ordnungs- und Wertvorstellungen, sie unterscheiden zwischen Ambivalenzen auf der rhetorischen, stilistischen, Affektiven, werthaften und der gegenständlichen Ebene. Die lockere Methode dieser Lektüren ist gleich weit entfernt von konventionellen Form-und-Gehaltsanalysen wie von linguistischen, psychologischen, religions- oder sozialhistorischen Deutungen. Diese Lektüren sind analytisch erweiterte Phänomenologien der »Oberfläche« – im Bewusstsein, dass man etwas nur als Oberfläche erkennen kann, wenn man weiß, dass es die Oberfläche von etwas ist. Sie ergründen die Quellen der Oberflächenstruktur wie die Suggestion des sinnfällig Gestalteten im Leser-Bewusstsein, Wort für Wort, Satz für seinem Charakter (nicht als Symptom) zutage, der vom Publikum in der Entwicklung und Veränderung des Stils seiner Werke wahrgenommen wird. Es ist der Stil, der tieferen Einblick in die Werke ermöglicht.« (S. 41). Das Wort ›Verdrängung‹ legt hier ein Herauftreten des Tiefenkonflikts aus dem Unterbewusstsein direkt in die künstlerische Form nahe. Stil wäre dann eine Art Abbildung oder direkter Niederschlag psychischer Strukturen in syntaktische(n). Doch »Stil« ist ganz gewiss das Ergebnis einer schöpferischen Bearbeitung und Verwandlung des Verdrängten, bei Joseph Roth ohnedies: Schon das SichAneignen eines bestimmten Idioms – des klassischen Feuilletons – ist bei ihm ein kreativer Prozess. Und jede einzelne Fügung ist, wie wir sahen, gerade weil sie sich so oft flottierender Klischees, Muster und Retorten bedient, das Ergebnis von Manipulationen, Neutralisierungen, Dramatisierungen, Humorisierungen, Extremierungen, Verwaschungen usf.

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Satz und zielen dadurch endlich auf (vorläufige) Modelle des genuin Literarischen ab. 3 Bemerkungen zur Terminologie II Der Begriff »Hysterie« und Roths ambivalentes Interesse an psychologischen und psychiatrischen Denkweisen und Praktiken Der Begriff »Hysterie« kursierte um das Jahr 2000 herum noch in der nicht-klinischen, psychologischen Literatur, wiewohl seine Unglücksgeschichte ihn schwer belastete: Misogyne Motive haben ihn vom Beginn weg geprägt, seit dem 19. Jahrhundert spielte er eine Rolle in antisemitischer Rhetorik. Neurasthenie galt um 1900 »als die Krankheit der Juden, die für viele den Typus des modernen Menschen verkörperten«454, doch eben auch die mit jener teilverwandte »Hysterie«455 – der große Jean Martin Charcot, Sigmund Freuds Pa454 455

Gilman 1993, S. 217. Ein Beispiel von vielen für diese besonders widerwärtige Seite des modernen Antisemitismus, oft mit rassistischen Brandmarkungen verbunden, wäre der seinerseits ins Pathologische gesteigerte Judenhass in Maurice Fishberg, Die Rassenmerkmale der Juden. Eine Einführung in ihre Anthropologie. München 1913, S. 140: »Ärzte mit zum Teil jüdischer Praxis stimmen darin überein, dass Störungen des Nervensystems unter Juden sehr häufig sind. Dieser Eindruck wird zum großen Teil nicht sowohl durch Behandlung jüdischer Nervenkranker wie durch die Beobachtung erzeugt, dass Familienangehörige und Freunde jüdischer Patienten, selbst wenn es sich um einen nur leichten Krankheitsfall handelt, ungeheuer ängstlich und bekümmert sich zeigen. […] In den meisten Abhandlungen über Hysterie und Neurasthenie findet man eine Bemerkung des Verfassers, dass diese krankhaften Zustände am häufigsten bei Juden zu beobachten sind. In Charcots Vorlesungen schleppt sich der arme, hilflos-verlassene Mann, der »Ewige Jude«, von Polen nach Paris, um einen berühmten Arzt über sein eingebildetes Leiden zu konsultieren. Tobler behauptet, dass alle Jüdinnen in Palästina hysterisch sind, und Raymond sagt, dass in Warschau bei Juden beiderlei Geschlechts Hysterie etwas sehr Häufiges ist; die jüdische Bevölkerung jener Stadt allein bildet fast ausschließlich die unerschöpfliche Quelle zur Versorgung aller europäischen Kliniken mit typischen

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riser Lehrer, hat zwar die misogynen Implikationen reduziert, indem er Männer und Frauen »als Beispiele zur Verbreitung dieses Stereotyps« präsentierte, doch nicht die Assoziation mit dem Judentum getilgt. Männer aus dem Ostjudentum wurden besonders häufig Opfer pseudo-psychiatrischer Brandmarkungen456. Als Friedl Roth um 1928 herum manifest psychotische Züge ausprägte, »sprach sich unter den Berliner Freunden herum, es handele sich bei Friedl um typisch jüdische Anfälle, die als Buße für irgendwelche jüdischen Sünden anzusehen seien.«457 Auch das Wort »hysterisch« benutzten – ausgesprochen wohlwollende, jüdische – Freunde, um ihre Symptomatik einzuordnen458. Das Wort gehörte für die im späten 19. Jahrhundert geborene Generation zum Alltagsvokabular, »Hysterie« war zeitweise eine grassierende Modediagnose, ähnlich dem heutigen »Burn-Out« oder in der Generation zuvor der »Neurasthenie« – ähnlich vage war seine Verwendung unter Laien. Roth benutzte das Wort in Bezug auf seine Frau ebenfalls, zu Freunden wie auch, als er sich um 1930 herum in die psychiatrische Literatur eingelesen hatte, gegenüber Fachleuten, sich in der von ihm sonst gegeißelten, psychiatrischen Laiendiagnose versuchend: »Seit August ist meine Frau schwer krank, Psychose, Hysterie, absoluter Selbstmordwille, sie lebt kaum«459. Einem nicht näher bestimmbaren »Dozenten« hatte er am 20. 7. 1931 eine Einschätzung über-

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Fällen hysterischer Menschen, besonders männlicher. Verschiedene Nervenspezialisten sprechen sich in diesem Sinne aus.« Dass die Zuschreibung von Nerven- und Geisteskrankheiten zum Kernbestand des Antisemitismus gehörte, ist heute unstrittig, vgl. z.B. Julia Schäfer, Der antisemitische Stereotyp. Über die Tradition des visuellen ›Judenbildes‹ in der neueren Propaganda, http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/der-antisemitische-stereotyp/ (2004/ 2017) unpag.: »In Untersuchungen zu angeblich typisch ›jüdischen Krankheiten‹ begegnet man – auch von jüdischer Seite – der Nervosität (auch Neurasthenie), Diabetes und manisch depressiven bzw. schizophrenen Neigungen.« Gilman 1994, S. 180–2. Bronsen 1974, S. 339. Soma Morgenstern gesprächsweise, vgl. Bronsen 1974, S. 339. Brief an René Schickele vom 10. XII. 1929, Briefe, S. 155f.

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mittelt, in der er das Wort gleich dreimal benutzt, die Elemente von enthemmter Obszönität und Sexualität in Friedls Symptomatik eigenwillig einordnet und ihr einen starken künstlerischen Sinn andichtet – offenbar, um die auch hier als Makel empfundene, geringe Bildung zu kaschieren – und sogar eine sozusagen freudianische, sexuelle Traumatisierung im Jugendalter: »Nach der offiziellen Psychiatrie: ›Katatonie auf schizophrener Grundlage‹ […] infantile, schizoide Konstitution; peinliche sexuelle Erlebnisse in der Pubertät, soziale Minderwertigkeitsgefühle, hergeholt aus kleinbürgerlicher Abstammung, in der Ehe; künstlicher Abortus vor zehn Jahren; starke Hysterie, Menstruation meist in Ordnung […] sehr begabt, künstlerischer Intellekt; erste zwei Anfälle 1928, 1929, rein hysterischer Natur; immer, wahrscheinlich heute noch, das ›Schizophrene‹ vom ›Hysterischen‹ überlagert.« (zit. Nach Bronsen 1974, S. 346). Dass ich mich, vom des Antisemitismus unverdächtigen Sigmund Freud ausgehend, in der Erstfassung der Studie anregen ließ von einer Schrift des Psychoanalytikers Lucien Israël, der eine Lehranalyse bei Jacques Lacan absolvierte und selbst (geboren 1925) aus einer traditionellen jüdischen Familie stammt, beruhigte mich damals; heute irritiert es mich, und diese Irritation wird nicht wirklich beseitigt durch meine Berufung auf Wolfgang Schmidbauer, der damals, wie mir schien, an Charcots ›Emanzipation‹ des hysterischen Mannes anknüpfend, erfrischend provokativ den im Alltag noch immer heimischen Begriff der Hysterie von seinen Erblasten zu befreien suchte, indem er ebenso aufs männliche Geschlecht angewandt sehen wollte (»Der hysterische Mann«). Das schien mir Gedächtnisarbeit genug und Roth die neu formulierte Symptomatik schlagend ausgeprägt zu haben. Besonders günstig war es für die Zwecke der vorliegenden Studie, dass sich Literatur von praktizierenden Psychologen wie Israël, Schmidbauer und Fritz Riemann dem Phänomen nicht klinisch-experimentell sondern intuitiv erzählend nähern. Das ist für unsere Zwecke ein schätzenswerter Vorzug gegenüber neueren, theoretisch ungleich anspruchsvoller kalibrierten Modellen –

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die zu erwähnen mir in der Neuauflage allerdings ebenso geboten scheint wie der Hinweis darauf, dass das Deuten und Beurteilen beobachtbaren Verhaltens in Kategorien wie der »Hysterie« für Roth selbstverständlich war – selbstverständlicher noch als für die gebildeten Menschen seines Wiener Umfelds ohnehin. Wenngleich »Hysterie« als ätiologischer Begriff längst ausgedient hat, werden Charcots Experimente nicht als gegenstandslose Fiktionen mit entsorgt. Heutige Kliniker können darin Anfänge moderner Erforschung von Traumata sehen460. Viele Heilkundige bezeichnen Persönlichkeitsmerkmale, die man einst »hysterisch« nannte, als »histrionisch« (oder als »Konversionssymptome«). Manche subsumiert man heute der (terminologisch windschiefen) »Instabilen Persönlichkeitsstörung« (vom »Borderliner-Typ«461 oder vom »Impulsiven Typ«). Wer eine klinische Beurteilung des Falls Joseph Roths anstrebt, kommt um diese Modelle nicht umhin. Das zu leisten geht weit über die Möglichkeiten der vorliegenden Studie hinaus. Dieser Vierte Teil will lediglich aufzeigen, dass die zentralen Konflikte, die, der These des Buchs folgend, wesentliche Antriebskräfte des schöpferischen Ichs Joseph Roths bildeten, eine den Klinikern geläufige Gestalt von Persönlichkeitskonflikten darstellen, wie immer sie fachgerecht klassifiziert werden mögen. Der Aufweis von Ähnlichkeiten in Verhalten, Artikulieren, Selbstdeuten Roths mit den nicht experimentell abgestützten, sondern intuitiv erzählend aus der therapeutischen Praxis gewonnenen Kategorisierungen genügt. »Hysterie« allerdings sollte man der darinsteckenden Altlasten wegen bloß noch als historisch gewordene Rubrik verwenden. Ziel des Einbeziehens von Erklärungsmodellen der Medizin und Psychologie ist in der Neufassung wiederum nicht, den Autor Joseph Roth zum psychologischen Fall zu erklären – auch wenn er das nach 460 461

Vgl. Kolk 2014, S. 177f. Offenbar verhandeln heute auch einige der Psychoanalyse nahestehende Therapeuten den Umkreis der Symptome, die man einst »hysterisch« nannte, unter der Kategorie »Borderline«, vgl. Hohl 2009, S. 9.

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heutigen Kriterien (»DSM«) mutmaßlich war. Ziel sei vielmehr, das, was individuell dilemmatisch erscheint, als etwas sichtbar zu machen, das der Psychologie nach alles andere als individuell ist (darunter fallen dann auch Roths theatralische Szenarien zivilisatorischen Unheils), um umgekehrt das, was dann in der Tat höchst individuell wäre am Fall Roth – die schöpferische Ausbeutung und Verwandlung des Typischen – umso deutlicher hervortreten zu lassen. Insofern soll der schöpferische Vorgang des poetischen Komponierens von Worten gleichsam geerdet werden in der lebendigen Person, um den irreführenden Eindruck abzuwehren, die vorliegende Studie unterstelle, ein Dichter arbeite mit Sprache abstrakt wie ein Mathematiker mit Zahlen oder ein Schachspieler mit seinen Figuren. Gerade das tut er nicht, und nicht bloß im trivialen Sinne, dass in einem Text wie der »Legende vom heiligen Trinker« sich die psychische Dynamik Roths überraschend direkt ausdrückt – mit auffälligen Verschiebungen und Verdrängungen. Auch nicht nur, weil in fast allen Texten mit dem Ausdruck von Affekten gearbeitet wird, ohnehin Roths Literatur emotionalisiert wirkt. Er arbeitete – an »Perlefter«, »Erdbeeren« und vermeintlich weniger persönlichen Texten war das zu sehen – mit Worten und Syntagmen, die lebendig und bedeutsam in einem das Semantische weit übersteigenden Sinn waren, weil sie unüberblickbar verbunden sind mit Gefühlen, unbewussten Impulsen, Wissensannahmen, mentalen Modellen von Ich und Welt und Sprache. Roth nutzte ostentativ persönliche Idiosynkrasien, um dieses labyrinthisch reiche, zu erheblichen Teilen unbewusste, mentale (Er-)Leben im Umgang mit Worten seinerseits zu transformieren im schreibenden Akt des Zugreifens auf beide, die Worte und ihre mentale, erlebende Einbettung. Diese Erdung wortkünstlerischer Prozesse im reichen, individuellen (Er-)Leben bedeutet umgekehrt nicht, und darf auch nicht bedeuten, das schreibende Komponieren von Worten als bloße Form der Meinungsäußerung, des Ausdrucks von Phantasien, Gefühlen, Assoziationen oder des Übermittelns von Vorstellungen (»Geschichten«)

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zu verstehen, die vor Beginn des jeweiligen Schreibprozesses existent waren. Insofern das der Fall wäre, handelte es sich um bloße Verständigungsliteratur. Für Joseph Roth hing die existentielle Bedeutung des Dichtens daran, dass der physisch reale Vorgang des schreibenden Hervorbringens und Ordnens von Material die Bedingung dafür war, überhaupt zu erfahren, was und wie er, der Dichter, fühlen, glauben, wahrnehmen und also auch schreiben möchte und kann. Er zelebrierte regelrecht, wie wir sahen, diese Momente des schreibenden Vor-Gangs und damit seines schreibenden Erlebens und Selbstbeobachtens hier und jetzt als Kern des Poetischen, demgegenüber das Stoffliche, die außerpoetischen Meinung des Autors epiphänomenal ist. Allerdings wäre dieser Grundzug in vielen Hinsichten und somit die Poetik der weitgehenden Autonomie von Sprachmaterialien aus »Die weißen Städte« im Einzelnen zu relativieren. Auch innerhalb der Feuilletons dürfte beispielsweise die Stoffgebundenheit stark variieren. Aber: Dass der Autor zwischen Stoff und Autonomie des Gewebes vermittelt, stellt eine Art Freiheit höherer Ordnung dar, die Roths Poetik der Autonomie der Textordnung wiederum bestätigt! Der Autor ist frei, Stoffgebundenheit oder Autonomie zu wählen, in jedem Augenblick. Was neuere, klinisch basierte Erklärungsmodelle der durchaus geläufigen Konfliktdynamik Joseph Roths im Speziellen angeht, würden heutige Bindungsforscher in der bei Weitem wichtigsten Bindung seiner Kindheit, der mütterlichen, vermutlich Züge der »Desorganisation« erkennen: Schwanken zwischen Symbiose und Fremdheit, übermäßiger Kontrolle, Instrumentalisierung zu eigenen Zwecken und Gleichgültigkeit oder mangelnder Empathie und Andersheit462. Nach Bowlby erzeugen verschiedene Bindungsmodelle 462

Viele Beschreibungen David Bronsens würden vermutlich diesen Verdacht bestärken. Etwa folgende anlässlich Bronsens Darstellung eines letzten traurigen Wiedersehens anlässlich ihres frühen Todes 1922: »Jene Furcht, die die Mutter ihm als Kind eingeflößt hatte, war längst gewichen, er sah ein, nachdem er älter geworden war, daß die Strenge, die sie zur Schau trug, zum Teil ihrer Un-

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im Kind verschiedene Zugänge zu bestimmten Gedanken, Gefühlen und Erinnerungen463. Ein extremes Schwanken in den Zugangsweisen zu eigenen Zuständen und Erinnerungen ist eine typische Folge. Interessant mag darüber hinaus sein, dass Bowlby zufolge eine solche Desorganisation der frühen Bindung ein starker Indikator für das spätere Auftreten von (schon im Umkreis Charcots bekannten464) »Dissoziationen« (Abspaltungen von Erinnerungen, Selbst- und Fremdwahrnehmungen, Ich-Teilen usf.) wäre. Es wird sich nicht beweisen lassen, doch beispielweise Roths Phantasien von einer glückhaften Individualität, die ermöglicht wird, weil die Person in starker sozialer Kontrolle einer (weitgehend) vormodernen Kleinstadtwelt (Schtetl) direkt, ohne bürokratische Erfassung aufgehoben ist und keine Regel, kein Gesetz innerlich annimmt, kann man als Folge dieser »Desorganisation« und Unsicherheit der Bindung verstehen. Kein derartiger, frühkindlich geprägter Konflikt bestimmt deterministisch ein Leben; die individuellen Verarbeitungsweisen sind verschieden. Doch es sollte nicht schwer sein, Roths auffallende Sehnsucht nach sich ausschließenden Möglichkeiten mit diesem Symptomkreis in Verbindung zu bringen. Und vor allem auch die auffallende Unmöglichkeit, sich sinnerfüllt und aufgehoben in einem bestimmten Lebenskreis zu fühlen – das Dasein als Schreibender inmitten von Menschengetriebe ist eine Allegorie seines Lebens generell: Menschen, denen er zugleich überhaupt nicht zugehört, weil er schreibt und in Gedanken weiterschreibt; die Sehnsucht nach dauernden Reizen, nach Betrieb, Auswechselbarkeit, Anonymität der Welt-

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sicherheit entsprang. Diese Frau, die ihre Tage ohne geistige Interessen verbrachte, die sich in Wien fremd gefühlt hatte und nur mit den nächsten Verwandten verkehrte, war selber hilfsbedürftig und einsam. Doch waren die unterschwelligen Ressentiments dem Sohn geblieben, ›dem ewigen grausamen Gesetz der Natur‹ gemäß, – dies ist ein Wort Roths – das Söhne und Mütter zwinge, einander ›fremd und fremder‹ zu werden.« Bronsen 1974, S. 221. Fonagy 2003, S. 22f. Charcots Assistent Pierre Janet ist nach Kolk 2014, S. 180 der Entdecker der »Dissoziation« in Bezug auf das Gedächtnis.

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stadt (Wien-Berlin-Paris), von wo aus er die vormoderne Überschaubarkeit verklärt; der Heißhunger nach Bewundertwerden bei gleichzeitiger Verklärung der Bedürfnislosigkeit; etc. Konsultierte man für den Fall Roth den heute verbindlichen Leitfaden (DSM) in der 5. Auflage, bliebe man sicher auf den Seiten hängen, auf denen das kriteriell eingefangen wird, was man mit einem Wort belegt, das kaum weniger stigmatisierend als die »Hysterie« ist: die »Borderline-Persönlichkeitsstörung«. Man denkt vor allem an den typischen Verlauf von Roths erotischen Bindungsversuchen, den Wechsel von enthusiastischem Werben und der folgenden Leere, wenn die Bindung sich festigt: »1. Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutliches Verlassenwerden zu vermeiden. 2. Ein Muster instabiler und intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.« Man dürfte hellhörig die Kriterien 3 und 4 lesen: »3. Identitätsstörung: ausgeprägte und ausdauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung. 4. Impulsivität in mindestens zwei potentiell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgeben, Sexualität, Substanzmissbrauch […].« Man erwägt die Triftigkeit von Kriterium 6 (»affektive Instabilität«) und Kriterium 9 (»Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome«)465. Der Zwang zum Posieren, von Roth selbst oft als Posieren ironisiert, dürfte man mit solchen Symptomen sinnvoll verbinden können. Gewissenhafte Praktiker sind vorsichtig in der Anwendung solcher Kriterien, die niemals vollständig objektivierbar sind, im konkreten Individuum stets mit anderen Mustern verbunden auftreten und obendrein stigmatisierend wirken können. Andere Fachleute würden womöglich insistieren, viele Züge, etwa die Schwäche des 465

Der Kriterienkatalog findet sich in jeder Darstellung der Borderline-Persönlichkeitsstörung, z.B. Alice Sendera / Martina Sendera, Borderline – Die andere Art zu fühlen. Heidelberg, S. 10f.

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Identifizierens innerer Zustände, seien Folgen einer »Komplexen Traumatisierung«466 – die öfters Teil einer Borderline-Störung ist. Welche auffallenden Symptomatiken Roths eher ins Gebiet der »Instabilen Persönlichkeitsstörung« fallen, dürfte auch unter Fachärzten nicht mehr einvernehmlich entschieden werden können, und Roths Glaube an die prinzipielle Unberechenbarkeit aller Dinge lässt sich zwanglos damit verbinden. Glücklicherweise ist diese Studie nicht auf eine solide, detaillierte Kalibrierung des medizinischen Erklärungsmodells angewiesen. Es genügt ein intuitives Erfassen individueller Denk- und Erlebensstrukturen, auf deren Basis die beschriebene Ambivalenz sich in Schreiben und Leben entwickeln konnte. Die Nähe zum Leidensbild, das einst unter der prekären Vokabel »Hysterie« gefasst wurde, dürfte indes evident sein. Wir werden in den Lektüren des Fünften Teils viel Material erhalten, das mit einem so zu beschreibenden Bild der erlebenden Person Joseph Roth verbindbar ist – die Einzellektüren wollen jedoch zuerst durch sich selbst überzeugen. Wir werden einer immensen Vielfalt genuin literarischer Umsetzungen einer konfliktärer Grundthematik begegnen, die, wenn Roth sie in autobiographischen Entwürfen direkt in Stilfiguren und fiktive lebensgeschichtliche Strukturen abbildete, fast zwanghaft begrenzt und wenig originell erscheint. So in einem Text, welcher zu bekennen vorgab, er sei »bereits in früher Jugend […] von der deutschen Kultur verblendet gewesen und habe aus dem ghettohaft anmutenden Leben Brodys heraus gewollt. Er sehe aber ein, seitdem er aus dem jüdischen Zusammenhang gerissen worden sei, fühle er sich verdoppelt und nicht mehr heimisch in seiner Haut« (Bronsen 1974, S. 153). Das Motiv 466

Vgl. Kolk 2014, S. 91: FMRT kann nachweisen, dass bei Vernachlässigung, Misshandlungen, Gewalterfahrungen, Desorganisation genau jene Regionen im mittleren, oberen Streifen des Gehirns (vorne über dem inneren Ende der Augenbrauen beginnend) kaum aktiv sind, die für das Bewusstsein von inneren Zuständen da sind.

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der »Verführung« durch den Westen (oder die Moderne oder Deutschland) ist uns schon mehrfach begegnet – es gehört zum grundlegenden Bestand bei der Konstruktion eines West-Ost-Gegensatzes in Schemata von Täter und Opfer, ursprünglichem Wesen und Entfremdung davon: Der ureigene, tiefste Jugendwunsch nach einer literarischen Karriere im Westen wird invertiert zur »Verführung«, der Akteur zum Opfer, die tatsächliche, außerordentlich konfliktuöse (»desorganisierte«) Bindung in seine kleinstädtische Umwelt zu einer einst heilen Ganzheit verklärt. Was sein »Ich« ausmachte, wird zur von außen gesetzten Illusion umgedeutet. Auf diese Weise erklärte sich Roth konfabulierend, weshalb er nirgends heimisch werden konnte, sogar »in seiner Haut« nicht mehr. So gravierend und typisch die Identitätsirritationen des Ostjuden im Westen auch gewesen sein mögen (Sander L. Gilmans benutzte dafür die psychologische Metapher des »double-bind«), einen geschlossenen »jüdischen Zusammenhang« hat es für den jungen Joseph Roth in Brody nie gegeben, und das nicht nur deshalb nicht, weil dieses Städtchen so besonders eng mit westlich aufgeklärten Teilen des Judentums und mit deutschen Handelsleuten in Kontakt stand. Von den oben erwähnten jüdischen Literaten aus der osteuropäischen Provinz seiner Generation unterschied sich Roth prinzipiell durch das einschlägige Drama seiner vaterlosen Kindheit bei einer Mutter, die, sofern wir den von David Bronsen gesammelten Zeugnissen Vertrauen schenken, selbst nahezu aufgaben- und bindungslos im Leben trieb, den Spross überfrachtete mit Karrierehoffnungen, so vereinnahmend wie empathielos, kontrollsüchtig, pedantisch und ich-fremd gewesen sein muss. Als inneren Kontrapunkt zur hermetisch abgeriegelten Welt des strebsamen Gymnasiasten und Muttersöhnchens entwickelte Roth bald hernach im Schreiben Fantasien des Ausbruchs (also der Flucht aus beängstigend enger, verbindlicher Bindung bzw. Ordnung) und umgekehrt Fantasien märchenhafter Verwandlungen der verlangten und zugleich verhassten EinOrdnung. Dass und auf welche Weise spätere Figuren – von Ben-

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jamin Lenz, Tarabas bis Kapturak und viele andere – verfeinerte Gestaltungen dieser früh ausgeprägten Konfliktenergien waren, werden wir im Fünften Teil sehen. Dass Joseph Roth eine außerordentlich labile, ihn bewundernde, doch halt- und aufgabenlos im Leben wandelnde Frau umwarb, in Phasen der Stabilität stets nach Ausbruch suchte, in Phasen der Trennung irreale Verbundenheitsschwüre leistete, waren sichtbare Folgen der frühen Bindungs- und Identitätskonflikte. Er muss das geahnt haben und befasste sich nachdrücklich mit Methoden, Erkenntnissen, Möglichkeiten der Nervenheilkunde. I Zwischen Heilserwartung und Verdammung: Roths Umgang mit psychologischen und psychiatrischen Denkweisen und die Beziehung zu Friedl Roth 1930 war Roth in besonders kritischem Zustand, und seine Ehefrau, seit Jahren betreuungs- und pflegebedürftig in den Händen anderer, musste endgültig in die Nervenheilanstalt eingewiesen werden. In diesem Jahr erzählte er ausführlich und empört, in der Rolle des skandalisierenden Entlarvers, im Periodikum »Das Tagebuch« von einer (dem damaligen Wortgebrauch folgend) »Schwachsinnigen«, die durch unachtsame Behandlung seitens überforderter Pfleger zu Tode gekommen sei, was – eine typische Vorstellung des skandalisierenden Entlarvers – kein Einzelfall gewesen sein soll (»Psychiatrie«, III. 215–221). Auffallend frei von Metaphorik und Ironie klagte Roth in der ihn ebenso kennzeichnenden moralischen Richterpose die Nutzlosigkeit der oft in die Freiheit des Patienten eingreifenden Behandlung an. Die Rohheit schien ihm eine Folge der Unfähigkeit, die Binnensicht der Psychotiker nachvollziehen geschweige denn heilend beeinflussen zu können. Er referierte mit Sinn für theatralische Kommunikationsverfehlung zur Illustration zwei therapeutische »Gespräche«, die in der Fachliteratur als Anschauungsmaterial dienten (III. 220).

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Die Anklage nahm beinahe Foucaults (romantische) Verdammung der totalitären Ermächtigung des Pflegesystems vorweg: »Wollen wir uns aber selbst schon mit der Tatsache abfinden, daß die praktische Psychiatrie keine medizinischen, sondern polizeiliche Aufgaben erfüllt, so müßten wie immerhin noch gegen die Art protestieren, in er sie diese ihre polizeilichen Funktionen ausübt. Über Hunderte von Irren wacht oft nur ein einziger miserabel bezahlter Arzt. Die Wärterinnen und Wärter werden manchmal nicht weniger ›wild‹ als ihre Patientinnen.« (III. 218). Die Psychiatrie sei daher selbst das, was man den Irren nachsagt – »asozial«, »unmoralisch«, und der Grund ist für Roth sehr einfach: »Sie hat keine Therapie. Man sieht es ihr nach. Man gestattet ihr mehr als jeder anderen Wissenschaft. Sie allein darf Symptomenkomplexen willkürliche, nichts aussagende, klingende Namen geben und diese Namen auch noch alle zehn Jahre ändern. Sie allein darf lediglich nach Analogien arbeiten und reine Beobachtungen als Erkenntnisresultate drucken lassen. Sie allein darf sich um Zusammenhänge von Geist und Körper nicht kümmern […]. Sie allein darf Gifte geben, fast ohne zu erwägen, ob und inwiefern sie schaden. […] Sie allein darf dort, wie sie gar nichts weiß, sagen und drucken, sie wisse etwas. Man hat sich bereits gewöhnt, von ihr nichts anderes zu verlangen als die Gewissenhaftigkeit, die eine Tugend unserer Polizei ist.« (III. 219) Roths »Methode« ist wiederum die des enflammierten Schuldzuweisens, Skandalisierens flüchtiger Einzelbeobachtungen. Ungewöhnlich ist jedoch, dass er eine Größe ins Spiel bringt, die bei ihm kaum je als systemische auftaucht und seinem selbstgerechten Setzen intuitiver Eindrücke widerspricht: die demokratische Öffentlichkeit als Kontrollinstanz (vgl. III. 219). Die Psychiatrie gestehe sich nicht ein, dass man weder (neurologische) Ursachen noch Heilungserfolge kenne, und ergehe sich in »nutzlosen« Haarspaltereien der Symptomklassifizierung (III. 220). Roth spricht von »Diktatur einer Wissenschaft […], die in Wirklichkeit aus (nicht hundertprozentig sicheren) Beobachtungen und leeren Nomenklaturen besteht.« (III. 220) Die

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fähigen und gut gesonnenen Psychiater seien von diesem System erdrückt. Wenn man schon nicht heilen könne, solle man wenigstens die Anstalten öffnen, den Insassen achtungsvoll gegenübertreten und durch Besuche von Bezugspersonen Linderung schaffen. Roth war nicht der erste, der den modernen Umgang mit Psychotikern kritisiert; es dürfte nur kein Laie mit solcher Selbstgerechtigkeit und Brachialität Richter gespielt haben wie er. Stellvertretend für seine Zunft replizierte ein Herr Dr. Lilienstein, Facharzt für Nervenkrankheiten in Bad Nauheim, im nämlichen Periodikum. Er behielt Contenance angesichts der rüden Attacke und wies Roths dunkle Vision als Ausgeburt dichterischer Phantasie zurück – die meisten Nervenheilanstalten seien keine polizeilichen Verwahr- und Strafanstalten mehr. Die Öffentlichkeit werde zunehmend einbezogen. Der Vorschlag, Besuchszeiten zu verlängern, sei nicht Roths Erfindung, sondern oft schon klinische Praxis. Lilienstein musste zugeben, dass mit den meisten Patienten mehr als vorübergehende Linderungen kaum erreichbar sei und der Personalmangel Fehler begünstige – deshalb jedoch jeden medizinischen Fortschritt zu leugnen und die Psychiater als Ansammlung von hilflosen Dilettanten abzukanzeln, verbat sich der Nervenarzt selbstredend. Wie Roth eine eigene, abgetrennte »Seele« zu postulieren, die jenseits der deformierten Psyche existieren und Gegenstand der Zuwendung sein solle, hielt der Arzt für verständlich, doch inpraktikabel – und war im Übrigen ebenfalls alles andere als neu, vielmehr eine bekannte Reaktion, seit die Psychiatrie im 19. Jahrhundert auf den Boden einer experimentellen Naturwissenschaft gestellt werden sollte. Roth durfte in derselben »Tagebuch«-Nummer eine »Erwiderung« anbringen (III. 225–8). Er blieb bei seiner Pose des in jeder Hinsicht intellektuell Überlegenen, dem es zukommt, eine ganze Disziplin zu entlarven467. Um den naheliegenden Verdacht abzubür467

Es gehe ihm nicht darum zu beklagen, »daß ausnahmsweise ein Patient auf eine so unvorsichtige Art gesäubert wurde. Vielmehr ist die nächtliche

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sten, als Laie nicht zuständig zu sein, ließ er sich auf ein Namedropping psychiatrischer Kapazitäten der Zeit ein – die er, insbesondere in Sachen Schizophrenie wohl durchaus abschnittsweise konsultierte, war die Erkrankung seiner Frau doch ein Moment steter Irritation468. Dass er auch die Hysterie aufzählte (III. 227), war unvermeidlich. Sie gab kraft leichter, äußerer Sichtbarkeit schon in der Ursprungsphase der modernen Nervenheilkunde im 18. Jahrhundert das »Modell der Medizin für nervöse Krankheiten« ab469, stand an der Wiege der Psychoanalyse um 1900 und war jedem gebildeten Wiener vertraut. Wir werden im Fünften Teil sehen, dass einige sehr frühe Erzählungen satirisch oder grotesk überhöhte psychologisch grundierte Figurenstudien sind: Die antipsychologische Oberfläche der reifen Erzähltexte kann man als bewussten Gegenentwurf oder Ausblendung der psychologischen Dimension und somit als kalkulierte Verhüllung verstehen – worin das Verhüllte absichtsvoll durchscheinen soll, also seinerseits ambivalent angelegt ist. (Man erinnere die »Erdbeeren«-Lektüre.) Von ganz anderer Art und Funktion sind Manifestationen psychologischer Konstruktionsweisen auf der Gegenstandsebene. Ein besonders drastisches Beispiel für letzteres wäre Theodor Lohse (»Das Spinnenetz«), den Roth durch Einflechten einer homosexuellen Episode charakterisierte und so das Männlichkeitsgebaren im rechtsnationalistischen Milieu Lohses als Hyperkompensation verdrängter Homosexualität erscheinen ließ. Roths Decouvrierung ist allerdings zweideutig: Zum einen, weil es die Erfindung eines Autors mit seinerseits prekärem Männlichkeitsbewusstsein war, entsprechend von homophoben Impulsen getrieben. Zweitens glich eine solche De-

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Säuberung schmutziger Patienten immer unvorsichtig.« (III. 226). Kursivierungen im Orig. Vgl. Fronk / Andreas 2002, S. 69. Klaus Dörner, Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Frankfurt a.M. 1969, S. 41.

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maskierung eben jenem psychoanalysierenden Vorgehen von Laien, gegen das Roth an anderer Stelle polemisierte: »Welches Literaturweibchen ist nicht überzeugt, daß das Traumbild einer strickenden Großmutter unbedingt mit ihrer Erotik zu tun hat?« (I. 645) Wie so oft bemüht Roth ganz ungeschminkt diskriminierende Stereotype, nicht nur misogyne: Dass Psychoanalyse »weibisch«, ein Tick neurotischer Frauen oder effeminierter Männer sei, sagte man ihr in denunziatorischer Absicht schon sehr früh nach (eventuell, weil einige berühmte Patienten Freuds weiblich waren). Dieses Klischee verwendete Roth, implizit die Befähigung der Frau zur wahren Literatur in Frage zu stellen. Er brandmarkte Freudianismen ganz ähnlich wie Karl Kraus wortspielerisch als »Psychose der Psychoanalyse« (I. 645) und sprach von einer – sic! – »hysterischen« Wissenschaft, da diese Gleichgeschlechtlichkeit als »naturgegeben« beweisen wolle (ebd.). (Eine Ausnahme machte er 1924, als er wohlwollend einen Demonstrationsfilm der Funktionen von Hypnose und Unterbewusstsein vorstellte [II. 130–31]. Allerdings ging es hier nicht um die Psychoanalyse selbst. Eher dürfte sein Glaube an transrationale Wunder angesprochen worden sein.) Roth benutzte ein weiteres denunziatorisches Stereotyp, die angebliche Affinität der Psychoanalyse zu Perversionen, denen er wie die meisten seiner Zeitgenossen die Homosexualität zurechnete. (Er besaß also offenbar nicht einmal Grundkenntnisse: Freud selbst wollte ebenso wenig wie Adler oder Jung Homosexualität naturalisieren, im Gegenteil hegte er einen durchaus rigiden Begriff gesunder, vollwertiger, sexueller Praktiken.) Das tat Roth 1921 anlässlich eines Gerichtsverfahrens gegen den messianisch auftretenden Reformpädagogen Gustav Wyneken, der der Päderastie mit Schülern angeklagt war – um sie, nicht um Gleichgeschlechtlichkeit ging es eigentlich! Der Prozess gegen Wyneken, die »so genannte ›Eros-Affäre‹ war ein Politikum, das grundsätzliche

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Fragen sexueller Moral aufwarf«470, denn Wynekens Ideologie des »pädagogischen Eros« mit ihrer Berufung auf antike Knabenliebe fand prominente Unterstützer, darunter den Pionier der Sexualwissenschaft und der Schwulenemanzipation Magnus Hirschfeld471, aber auch Kurt Hiller (und eigenartigerweise Käthe Kollwitz). Roths auffahrend selbstgerechtes Verdikt über die zeitgenössische Psychiatrie 1930 dürfte nicht nur von der Verzweiflung angesichts der Unrettbarkeit seiner schizophrenen Frau motiviert gewesen sein, sondern auch von Erinnerungen an Einrichtungen, die er wenige Jahre zuvor besucht und als ideal, offen, human gefeiert hatte – so 1926 die von christlichen Idealisten gegründete DiakonieAnstalt »Hephata« in Treysa (II. 536–541). »Von andern Schwachsinnigen- und Besserungsanstalten im Lande unterscheidet sich ›Hephata‹ dadurch, daß es kein Internierungslager sein will, sondern eine freie Gemeinschaft freiwillig hier Lebender; eine Gemeinde von Flüchtigen; kein Gefängnis für Ausgestoßene. Jeder hat ein Recht auf Arbeit und Genuß der Freiheit.« (II. 536) Es ist ein staunens470

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Zitat aus dem (die sexuellen Wirren Wynekens freundlich kleinredenden) Artikel: Uwe Rupprecht, Spuren eines Vergessenen. Der Pädagoge Gustav Wyneken. Hamburger Abendblatt 04. 01. 1999, auch unter https://ruprecht.art.blog/ 2018/03/05/spuren-eines-vergessenen/. Wyneken benutzte pädagogische Konzepte wohl auch zur Legitimation seiner Päderastie: Er »baut enge Beziehungen mit den Jungen auf, missbraucht sie sexuell und begründet das mit dem pädagogischen Konzept des ›Eros‹. Für die Jungen sei das eine tiefe und bereichernde Erfahrung. Er bezog sich auf Textstellen bei Goethe bzw. Nietzsche und argumentierte, dass diese Praxis nicht seiner Triebabfuhr dienen würde. Er sprach von einer ›ernsten und heiligen Atmosphäre‹.« Matthias Hofmann: Geschichte und Gegenwart Freier Alternativschulen, Ulm 2013, hier zit. nach https://www.freie-alternativschulen.de/index.php/startseite/ueber-uns/selbstverstaendnis/898–reformpaedagogik-und-sexueller-missbrauch . Hirschfeld war führend bei der Transformation der Sexualpathologie zur Sexualwissenschaft (vgl. z.B. Rainer Herrn, Distanzierte Verhältnisse. Die Sexualwissenschaft und die Berliner Universität 1850–1930. In: Bleker 2012, S. 164f). Als Pionier im Kampf gegen die 1871 durch den §175 ins Strafgesetzbuch gelangte Kriminalisierung der Homosexualität wollte er mit der Etablierung einer Sexualbiologie deren Natürlichkeit nachweisen.

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wertes Glanzstück des Feuilletons, das Roths Anteilnahme und Idyllisierungssehnen hier hervorgebracht hat. Seine sarkastische Ader scheint ganz stillgelegt auf diesen fünf Druckseiten, seine Begabung für die Formel, die hochkonzentrierte Lebensskizze und die kontrastierende Generalisierung betreibt einen Werbefeldzug für den Geist christlich inspirierter, praktisch tätiger Liebe, weil diese gerade nicht bevormundet und nicht moralisch bewertet, also, in Roths Sprache: nicht fixiert, und Zwang für das ungeeignetste Mittel zur Beförderung des Humanen hält. Die guten Seelen der Diakonie sind da, wenn Leidende sie brauchen; man stützt, wo jemand fällt, man gibt Obdach, wo jemand keines finden kann, und selbst der geschlagensten Kreatur wird hier Vertrauen geschenkt, zu gehen und zu kommen, wann sie möchte. Selbst in der von Wirren und Krämpfen entstellten, ungebärdigen Person glaubt man hier, eine verschüttete Seele fühlen zu können. Roth feiert im Bild der Klinik eine (angeblich) gelebtes Ideal starker, versorgender Bindung, die eine Seite zu nichts verpflichtet, da die andere, gebende willig den Part einer allzeit geduldigen, nie verlassenden, selbstlosen Rundumversorgerin spielt. Man wird aufgenommen ohne Zwang zur stabilen Ich-Identität im gewohnten Sinne verbindlicher sozialer Erwartungen, Verantwortlichkeiten und kommunikativer Regeln. Sein Lebenskonflikt führt die tagträumende Feder; daher tauchen hier der zentrale Begriff der Ordnung und Roths bevorzugte Chiffre für gebundene Bindungslosigkeit auf, der »Zaun«: »Aus allen Gegenden des Landes kommen Unglückliche nach ›Hephata‹. Pathologische Ausreißer verfolgt man nicht. Infolgedessen kommen sie wieder. Man bestraft sie, indem man ihnen noch größere Freiheit läßt. Man verweist sie in eine kältere Einsamkeit. Kein Zaun umgibt sie. Aber auch nicht die Wärme der anderen. Weil der Trieb zur Gesellschaft auch in Kranken stark ist, fühlen sie die Strenge einer fessellosen [!] Einsamkeit. Lockte sie früher die Ungebundenheit, so ruft sie jetzt die Gemeinsamkeit. Wer nicht arbeiten will, dem verbietet man zu arbeiten. Infolgedessen erwacht in ihm der

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Ehrgeiz, eine Leistung zu vollbringen. […] So korrigiert man die Verwirrung der Natur zu einer erträglichen Ordnung, die den Lauf der übrigen Welt nicht stört.« (II. 536f) Roth imaginiert das Hilfsangebot der Diakoniker im Grund als ein beherrschtes Drama ambivalenter Bindungsstrukturen: Die Diakoniker scheinen zu wissen, dass es nur die Alternative zwischen Fesselung und Einsamkeit der Verstoßung gibt. Die ebenso ungeschickte wie banal-metaphorische Ausdrucksweise zeigt auch hier Ambivalenz: »Man verweist sie in eine kältere Einsamkeit.« Jemand verweisen heißt, ihn zu tadeln, strafend davon zu jagen, sekundär, auf etwas hinzuweisen. Die Diakoniker wissen in Roths schreibender Halluzination, dass man die inszenierte Androhung von Bindungsabbruch und Verlassen durch den Patienten nicht wörtlich und also nicht zum Anlass nimmt, Zwang auszuüben. Eine solche Beziehung, wenn sie zwischen zwei gewöhnlichen Individuen bestünde, würde man vermutlich als Kombination von überbehütendem Mutterkomplex und Gleichgültigkeit verstehen – und als in sich widersprüchliche: Der Verlassende muss nie Angst haben, einen Verlust zu erleiden oder von anderen verdrängt zu werden. Auch das muss Teil der Rothschen Phantasie gewesen sein. Damals geriet Hephata in die Schlagzeilen, weil dort nach 1945 ein Strafregime herrschte – Zwangsmedikationen, Menschenversuche, pädophile und gewalttätige Übergriffe, Zwang zu Kirchenbesuchen472. Das mag ein Bruch nicht nur mit dem Geist der achtenden Liebe, sondern auch mit der helferischen Praxis der Zwischenkriegszeit bedeutet haben – oder Roth blendete die für kirchliche Institutionen nicht ungewöhnliche Strafpraxis als Teilmoment der Fürsorge 472

Der Alltag muss in den 1950er und 60er Jahren durch das Gegenteil dessen bestimmt gewesen sein, was Roth 1926 beschrieb: Disziplinierung, Erniedrigung, Züchtigung, Zwangsmedikation – und eine schmerzhafte Untersuchung des Schädels, vgl. das Gespräch mit einem Opfer in Pitt von Bebenburg, »Jeder wurde mit dem Zeug abgefüllt«. In: Frankfurter Rundschau 17. 02. 2018, zugänglich unter http://www.fr.de/rhein-main/hephata-in-treysa-jeder-wurdemit-diesem-zeug-abgefuellt-a-1449687,0 .

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aus. Sachliche Recherchen zur Relativierung des Gesehenen hielt er auch hier für unnötig. Heute wäre ausgeschlossen, in einem so prominenten Organ wie der FZ so über Gegenstände »berichten« zu lassen, die die Würde vieler Menschen betrifft. In dieser Hinsicht hat sich unsere Anforderungen an die – sic! – Verantwortung des Schreibenden offenbar deutlich gewandelt. Roth ließ seinen Text von 1926 mit einem kapriziösen, doch alles andere als bloß mokanten, in rhetorische Fragen und Pointen gepackten Appell ausklingen: »wir«, also wir Nicht-Insassen, hätten kein Recht, »jemanden aus der Welt zu schaffen, der nicht das Glück hat, so geartet zu sein wie die Mehrzahl der Menschen. Ist es etwa der Sinn des Lebens, Städte zu bauen, Eisenbahn zu fahren, Windjacken am Sonntag zu tragen? Wo wäre die Grenze, wenn wir gestatten würden zu töten? (Wir Normalen sind ohnehin mit einer großen Leidenschaft fürs Morden begabt.)« Und dann kann Roth sich doch eine zynisches Schlusspointe und verbale Vernichtung der Medizin nicht versagen: »Wo bleibt der Nutzen, den die Medizin aus der Forschung an lebenden Idioten zieht, zur Verhütung, vielleicht zur Heilung der Idioten? Wir können nicht entscheiden, in welchem Grad die Idioten produktiver sind als wir.« (II. 540f) Auf den Gedanken, das Töten geisteskranker (oder behinderter) Menschen könne für Viele angesichts der hohen Kosten und der geringen Heilungschancen, eine Option sein (oder werden), brachte Roth keine Vorahnung von Eugenik oder gar des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms, dem Frieda 1940 tatsächlich zum Opfer fiel 473, sondern – überraschend genug – das Abwägen eines volkswirtschaftlichen Argumentes zur Bewertung sozialer Maßnahmen: Ob es gerechtfertigt sei, erhebliche Summen (die Anstalt Hephata scheint chronisch unterfinanziert gewesen zu sein) »für rettungslos Verlorene aus[zu]geben, indes Millionen normaler Leistungsträger verhungern?« (II. 540) 473

Frieda wurde im Juli 1940 in der Gaskammer des Schlosses Hartheim ermordet, vgl. Hutter 2011.

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Es dürfte kein Zufall sein, dass Roth, der noch 1926 ein verheißungsvolles Portrait einer geradezu harmonischen Heilanstalt zeichnete, mit steigenden Kosten, die ihn in finanzielle Bedrängnis brachten, weil er seinen gehobenen Lebensstil nicht aufgeben wollte, 1930 erbittert die Psychiatrie insgesamt als ein einziges, großes Strafsystem vorstellte, worin verleugnet wird, dass gar keine Heilung herbeigeführt werden kann. Seit spätestens 1924 litt Frieda (geb. 1900) wiederholt unter starken gesundheitlichen Problemen, seit 1926 zeigten sich Symptome geistiger Verwirrung474. Roth verlegte sich lange Zeit aufs Leugnen (auch) dieser Realität. Spätestens 1928 scheinen Anzeichen von Schizophrenie (Stimmenhören, Verfolgungswahn u.a.) bei Frieda nicht mehr zu übersehen gewesen zu sein (Soma Morgenstern, der sonst dezente Freund, benutzte zur Beschreibung das Wort »hysterisch«475). Die Diagnose wurde von einem Arzt auch bald gestellt – Roth reagierte mit Zorn, »und bildete sich ein, seine Frau wäre zu heilen«476, während er zugleich beharrte, schuld an der Erkrankung zu sein477. Das kann nur jemand meinen, der absolute Verfügungs- und Gestaltungsmacht über eine Frau zu haben glaubt, als sei sie kein Partner, sondern sein Geschöpf. Die Selbstvorwürfe waren wohl tatsächlich die Kehrseite seines Desinteresses am Sosein Friedas und am tatsächlichen Zusammenleben mit ihr. Den Dokumenten nach muss er sie in einer Weise behandelt haben, die man wohl nur als »Co-Dependenz« in einer narzisstischen Beziehung bezeichnen kann: Er brauchte eine innerlich gebrechliche, schutzbedürftige, ungebildete Frau, die zu ihm haltlos bewundernd aufsah und die er in ihrer inneren Haltlosigkeit wie eine Knetpuppe nach seinen Wünschen formen konnte478 – und zugleich 474 475 476 477 478

Bronsen 1974, S. 334f. Bronsen hält sich an einen Bericht eines Schwagers von Friedl. In mündlichen Erinnerungen, mitgeteilt in Bronsen 1974, S. 339. So der Arzt Dr. Wollheim, zit. bei Bronsen 1974, S. 340. Bronsen 1974, S. 339 u.ö. Vgl. Bronsen 1974, S. 330f: »Roth hatte sich also eine Frau ausgesucht, die schutzbedürftig war und bei der er das eigene Bedürfnis, beschützt zu werden,

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eine Frau, deren äußerliche Attraktivität und Laszivität er dazu verwenden konnte, um sein labiles männliches Selbstwertgefühl zu festigen. 1930, als Roths Abrechnung mit der Psychiatrie im »Tagebuch« erschienen war, wurde Friedl, seit langem in Betreuung und zeitweise stationärer Obhut (aus der Roth sie gegen den Rat der Ärzte zunächst wieder herausholte479), in das private Wiener Sanatorium Rekawinkel eingeliefert: Sie hatte bereits Nahrung verweigert und wog noch 32kg. Soma Morgenstein bewirkte, dass die längst entmündigte Seele im Dezember 1933 einen finanziell ungleich günstigeren Platz in der (öffentlichen) Landesirrenanstalt »Am Steinhof« bekam. (Der Staat bezahlte Unterkunft und Therapien, lediglich die Verpflegung musste privat von Roth bezahlt werden.) 1935 schließlich wurde Frieda in eine (kostenfreie und offenbar zugleich moderne, offene) niederösterreichische Landesklinik verlegt, wo sie

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dadurch abreagieren konnte, daß er sie beschützte. Am Anfang war er auch noch von der Lieblichkeit seiner Frau fasziniert. Aber im Grunde genommen war ›das kleine Mädchen‹ für ihn da, um es zu bilden und zu formen und zu ihm aufzublicken. Er konnte sie mit Stolz in die Gesellschaft führen, und ihre Schönheit sollte ihm in den Augen anderer eine Bestätigung sein. Schließlich wurde Friedl einige Male in den Zeitungen abgebildet.« Roth hatte »eine bestimmte Vorstellung davon, wie sie sein sollte und wie er sie sich wünschte und gestattete ihr nur wenig Selbstständigkeit und eigene Ansichten.« Der Zeitzeuge Ludwig Marcuse sprach direkt davon, Roth habe das lustige, intelligente, wenn auch einfache Wiener Mädchen wie eine Puppe geformt, bis sie seinem Ideal einer eleganten Frau von Welt entsprach: Er »modelte an seiner Frau, bis er sie zu einem Dichtungsgeschöpf machte und ihr jede Natürlichkeit raubte. Sie mußte nach seinen Anweisungen spielen, und er hat sie zugrunde gerichtet. Obgleich sie in sexueller Hinsicht eher temperamentvoll war, durfte sie sich das nicht anmerken lassen. Nach außen mußte sie sich distanziert und korrekt geben.« Zit. bei Bronsen 1974, S. 330. Nach Ludwig Marcuse hatte Roth es etwa 2 Monate, nachdem Friedl in der Nervenheilanstalt im Berliner Westend aufgenommen worden war, nicht mehr länger ausgehalten und sie in einer absurden Aktion »herausgeholt«, vgl. Bronsen 1974, S. 341.

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1940 von deutschen Kommissionen im Zuge des Euthanasieprogramms abgeholt wurde. Es überrascht kaum: Auch in Bezug auf die Psychiatrie spiegeln Roths Texte, indem sie eine Institution mit Distanz oder Distanzlosigkeit emotionalisieren, idyllisieren, ironisieren, zu Pointen nutzen, verdammen, hasserfüllt bekämpfen, die jeweiligen Lebensphasen wider und damit das Bedürfnis, Instanzen der Schuld oder Rettung zu konstruieren. Im Frühjahr 1919 hatte er, das aufsteigende Talent, bereits einmal für die Zeitung (»Der Neue Tag«, vgl. I. 23–27) eine Nervenheilanstalt besucht, die berühmte »Am Steinhof«. Er brachte damals ein mokant distanziertes, gänzlich undramatisches Feuilleton hervor, in dem er nicht nur (erwartbar) die Folgen der Nachkriegsmangelwirtschaft für die Patienten-Speisekarte schildert, sondern die Insassen selbst wie lebende Kuriositäten auf einer Kirmes-Bühne auftreten lässt: eine moderne »Wunderkammer« menschlicher Grillen, die vielleicht weniger verrückt sei als die Welt draußen. (Diese naheliegende Pointe hat er im Hephata-Artikel vom Februar 1926 etwas kunstvoller, ernster engagiert wiederholt.) Anlass, eine eigene »Seele« jenseits des verstörten Intellektes der Insassen zu postulieren, wie er es später praktizierte, sah er hier noch nicht. In der Hephata-Idylle von 1926 artikulierte sich nicht nur ein paradoxes Ideal von »Bindung«, sondern zugleich die Wunschphantasie, auch in der entstelltesten Person sollte jenseits der Symptome etwas sein, das man nur »Seele« nennen und eines Tages erretten kann. Man müsse lediglich die richtige Art der Kommunikation finden, um an diesen verborgenen seelischen Kern heranzukommen: »Idioten und Verrückte sind wie Tote. Nur auf eine metaphysische Weise können wir uns mit ihnen verständigen. Ihr Sinn ist ja verworren, ihre Zunge lallt, ihre Bewegungen sind unsicher, richtungslos, flatternd, schwerfällig, ihre Augen haben gar keinen Ausdruck und sind wie Fenster ausgeräumter Hallen. Nur das, was jenseitig ist in uns allen, ist bei ihnen intakt. Nur durch Ahnung, Einfühlung, Ertasten, Erraten, Güte, Instinkt können wir mit ihnen verkehren. Ihr

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Gehirn ist zum Teil vernichtet. Aber Gehirn ist, streng unmedizinisch ausgedrückt, nur das Material der Seele, ihr Handwerkszeug.« (II. 537). Auch hier versucht Roth, ähnlich wie in den kulturkritischen Gemälden der Zeit, sich in die Idee einer »jenseitigen« Instanz zu retten, von der allein die Lösung jener für ihn nicht leistbaren Bindung an Mensch und Welt zu erhoffen sei. Im Leben scheint er Sexualität als letztes Medium imaginiert zu haben, um die unerreichbare Gattin doch zu erreichen. Und wer ihm diese Illusion raubte – wie, in seinen Augen, die zeitgenössische Psychiatrie –, den überzog er mit theatralischen Verwünschungen und attestierte ihm in toto Unfähigkeit wie Inhumanität. Wüsste man, scheint er geglaubt zu haben, wie die Dysfunktionalität des Gehirns zu beheben sei, ließe die unberührte Seele sich von der oberflächlichen Entstellung befreien. 1937 veröffentlichte Roth abermals einen Artikel »Psychiatrie« (III. 717–18). Er ist den Umständen des Exils entsprechend noch ärmer an Empirie und konkreter Auseinandersetzung; er eröffnet mit einer begründungslosen Generalisierung: »Jeder Psychiater weiß […]« (III. 717). Wie in eigener Sache spricht Roth nun davon, die (also alle) Kranken täuschten, da sie meist »längere oder kürzere luzide Perioden« durchlebten, oftmals »die Angehörigen, die sie besuchen, manchmal auch die Psychiater« (ebd.). Nun plötzlich dekretiert er milde nachsichtig (jedoch wiederum aus einer gönnerhaften Richterposition heraus): »Die Psychiatrie ist eine noch junge Wissenschaft. Man kennt weder genau die Ursachen der Geisteskrankheiten noch die Mittel, sie zu heilen. Man weiß nur, daß es für die Umgebung der Irrsinnigen und für diese selbst günstiger ist, wenn man sie absondert. Sie sind, wie die Psychiater sagen, ›asoziale Persönlichkeiten‹.« Wenn man bedenkt, welch dramatische Entwicklung die Psychiatrien seit 1930 im deutschsprachigen Bereich genommen hatten, klingen diese Worte unangenehm egozentrisch und ignorant – abgesehen davon, dass es empirisch falsch blieb zu unterstellen, alle Psychiater hielten alle Geisteskranken für »asoziale

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Persönlichkeiten«. »Nun, jeder Psychiater weiß, daß es schwierig ist, den Familienangehörigen eines Geisteskranken die absolute Notwendigkeit einer Internierung beizubringen. Es ist menschlich, nicht zugestehen zu wollen, daß der Bruder, mit dem man zusammen aufgewachsen ist, mit dem man gestern noch zusammen Mittag gegessen hat, mitten in der Nacht plötzlich den Verstand verliert. Man kämpft verzweifelt gegen diese Vorstellung und gegen den Psychiater.« Dass Roth hier so offensichtlich pro domo sprach (ausklammernd, dass er seine Frau sehr selten besuchte), mag einer der Grunde dafür gewesen sein, weshalb er mitten im kurzen Artikel eine Kehrtwende einlegt und versuchte, die subjektiven Bekenntnisse vor den Augen der Leser in eine Allegorie des politischen Zustandes Europas umzudeuten – unter abermaliger Variation des bekannten Motives, nicht die Irren, sondern die »Gesunden« und insbesondere die Angehörigen der Eliten in Politik und Militär seien die eigentlich Irren. Für Roths Gattin Frieda dürfte es wohl nur eine Möglichkeit gegeben, sich aus der Instrumentalisierung und ohnmächtigen Abhängigkeit zu lösen – wenn sie ihre weibliche und erotische Attraktivität eingesetzt hätte, die Möglichkeit anderer Sexualpartner ins Spiel zu bringen. Roth war, ganz der narzisstischen oder eben: hysterischen Struktur dieser Bindung gemäß, entsprechend panisch, sobald nur die Möglichkeit dazu aufschien. Als Friedl 1926 bei einem Presseball eine Bemerkung über die spielende Kapelle fallen ließ, machte er (von mehreren Zeugen bestätigt) eine Szene: »Zur Verblüffung aller stand Roth auf, steigerte sich in einen Wutanfall hinein und warf seiner Frau in äußerster Erregung vor, sie hätte mit dem slawischen Geiger geschlafen. Darauf ergriff er den Arm der schluchzenden Friedl und führte sie hinaus. In der Folge munkelten die Augenzeugen von einem Ehebruch und stellten Mutmaßungen über die mangelnde Potenz Roths an.«480 Auf derlei Gerüchte muss man 480

Bronsen 1974, S. 334. Bronsen erfuhr davon sowohl in Interviews mit Manfred Georg und Roths Freund Stefan Fingal, vgl. ebd., Fußnote 25, S. 638.

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nichts geben, doch beim Durchstreifen der Sammlung Bronsens fällt auf, dass Augenzeugen zu allererst Friedls sexuelle Attraktivität und lockeren Umgang mit ihren Reizen bemerkten – ebenso die Kehrseite: vollkommene Abhängigkeit, Hilflosigkeit, Empfinden kultureller und sozialer Minderwertig, andererseits Roths Eifersucht, die wohl erst nachließ, als Friedls durch die Krankheit entstellt war. Durchleuchtete man Roths Erzählwerk von dieser Seite, fände man wohl Verbindungen der Symptomatik und Verdrängung der Psychologie von der Erzähloberfläche, etwa auch der eigenartigen, sozusagen jeder Innenwelt baren, abziehbildhaften Bauweise seiner Figuren. Es ist zudem lehrreich, die Texte, in denen überdeutlich »ich« gesagt und vermeintlich ›eigene‹ Erlebnisse »dargestellt« werden, daraufhin durchzusehen, ob es hier denn überhaupt so etwas wie eine subjektive Binnenperspektive gibt – oder nicht vielmehr gerade die Inszenierung von Spontaneität, Mündlichkeit usf. dazu dient, eben eine solche zu verbergen oder Eigenes/Inneres und vermeintlich Fremdes/Äußeres in einander umschlagen zu lassen. In einem exemplarischen, gekonnt preziös die eigene Feinheit der (verschriftlichten) Beobachtung zelebrierenden Feuilleton des Titels »Der Herr mit dem Monokel« werden 1924 auf zweiundeinhalb Seiten scheinbar bloß registrierende Sätze gereiht wie »Der Herr trug in der rechten Augenhöhle ein Monokel. Es hatte den Anschein, als […]« (II. 131). Ein einziger Satz sagt in diesem klassisch gekonnten Feuilleton »ich«: »Ich war gerade mit diesen Betrachtungen beschäftigt, als ich zu merken glaubte, daß der Herr mit dem Monokel ungeduldig zu werden begann.« (II. 132) Das Subjekt kommt hier nicht in seinen individuellen Zuständen vor, nicht in seiner »Persönlichkeit«, sondern nur als schreibend simulierter Registrierapparat ohne persönlich erlebenden Träger: Der Ich-Satz bringt keine Subjektivität jenseits der Subjektivität der Sprachgebung ins Spiel, sondern inszeniert die Unmittelbarkeit beobachtenden Teilnehmens. Das Lesen wird zum Nachvollzug dieses Teilnehmens – doch der Ich-Satz macht zugleich etwas anderes, typisch Rothsches, nämlich Gegen-

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läufiges: Er erklärt die vorausgegangenen Räsonnements, die literarisch geschickt von äußerer Beobachtung in Rekonstruktion der Binnenwelt des Monokelträgers überglitten, zu bloßen Phantasien: Der Ausdruck »als ich zu merken glaubte, daß der Herr mit dem Monokel ungeduldig zu werden begann« markiert den Moment, in dem der schreibende Sprecher gleichsam aus seinen Tagträumereien erwacht, weil er eine »wirkliche« Bewegung wahrnimmt. So raffiniert das im Einzelnen ist – eine Binnenperspektive der erlebenden, sich ihrer individuellen Prägung bewussten Person gibt es im Text ebenso wenig wie eine in sich seiende, objektive Außenwelt bzw. Außenwelt-Darstellungssprache. Auch das kann man eine produktive Verwandlung von Ambivalenzen nennen – zu der Probleme mit realistischer Empathie gehört haben dürften – Ambivalenzen, die, wie gezeigt, Roth als Unmöglichkeit charakterisierte zu beschreiben, was subjekt- und sprachunabhängig geschieht; ebenso unmöglich war paradoxerweise auch, was nur in der Introspektion des Subjekts wahrnehmbar ist. Dieses Schreibkonzept »subjektivistisch« zu nennen, ist daher irreführend. Die Binnenperspektive kommt nur als flüchtiger Schein im Sprachgebilde vor. Das gilt zumal für die Figuren der erzählenden Texte. Ein (narzisstischer) Mangel an Empathie muss für den Umgang mit seiner Gattin charakteristisch gewesen sein: Andernfalls behandelt man den Lebenspartner nicht wie ein innerlich labiles, unselbständiges Schmuckstück. Die Vorstellung, »der Mann« halte die Frau als nützliches Objekt ohne Eigenrecht, zelebrierte Roth gelegentlich explizit – die Frau sei ihrer Natur nach eine »Dame«, objekthaft schmucke Erscheinung und also Gegenstand des Werbens. »Sie dürfen niemals eine Frau etwa so hoch einschätzen wie drückende Schulden. Nur diese können uns den Kopf verlieren machen. Ich bin so altmodisch, die Ehe, die ich auch nicht überschätze, höher zu werten als die sogenannte Liebe. Nicht nur deren Ziel und Ende ist der coitus, sie besteht aus einer ganzen Kette von Beischlaf, der durch den Anblick und Zwiesprache ebenso gründlich ausgeübt

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wird, wie durch die ebenfalls sogenannte körperliche Vereinigung.«481 Dass Roth hier Geldnot über intime Bindung stellt, ist ein überraschend klares Bekenntnis von Selbstwertproblemen – denn viel Geld zu haben, das war in seiner Welt essentiell, um als Mann geschätzt zu werden. Davon abgesehen war Roths hypermaskuline Pose teils der Beziehung zum Adressaten geschuldet: Bernard von Brentano, der als Spross einer wertkonservativen Familie deutscher Politiker mit der antirepublikanischen Linken sympathisierte. Die FZ machte ihn 1925 zum Nachfolger Roths im Berliner Büro – falls dahinter mehr als persönliche Verbindungen standen, wäre es durchaus charakteristisch für die Toleranz der gemäßigten Demokraten in der »Stabilisierungsphase« der Weimarer Republik, solche politischen Privatpassionen nicht allzu tragisch zu nehmen. Roth fühlte sich längst als arrivierter Autor von Format und freundete sich mit dem jüngeren Kollegen an. Sein brieflicher Rat, erotische Beziehungen nicht zu »Literatur« zu machen und etwa noch Verliebtheit zu entwickeln, wo es um den sachlichen körperlichen Akt gehe, gehörte zum Repertoire der Männerposen in diesem kommunikativen Zweiersystem. Als Pose war dieses Wunsch-Ich Teil seines Lebens, vermutlich auch Friedl gegenüber. Bei Roth war derlei ritualisiertes Inszenieren eine Strategie, dem brüchigen Selbst vor den Augen anderer wenigstens im Modus der Rolle etwas Stabilität zu verleihen. Ambivalenz diktierte ihm noch die unscheinbarsten Wendungen: Nicht Frauen, allenfalls Geldschulden »können uns den Kopf verlieren machen«. Man hört ein instabiles Ich, das wünscht, es sei so. Und Roth prägte Sätze, die selbst so »literarisch« sind, wie er sie Brentano verbieten wollte: »Ich bin so altmodisch, die Ehe, die ich auch nicht überschätze, höher zu werten als die sogenannte Liebe. Nicht nur deren Ziel und Ende ist der coitus, sie besteht aus einer ganzen Kette von Beischlaf, der durch den Anblick und Zwiesprache ebenso gründlich ausgeübt wird, wie durch die ebenfalls sogenannte körperliche Vereinigung.« 481

An Bernard von Brentano. Frankfurt, 19. XII. 1925, Briefe, S. 70f, hier S. 70.

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Die Satzfolge ist syntaktisch doppeldeutig, so dass es die Ehe oder die Liebe sein kann, deren Ziel der Koitus sein soll. Roth bringt hier das Kunststück fertig, im selben Atemzug zu behaupten, sexuelle Kopulation als einziger Zweck der Ehe sei nichts als angeblich leidenschaftslos-sachliche Verknüpfung von Mann und Frau, und sexuelle Vereinigung könne ebenso gut unkörperlich ausgeübt werden – was ja wohl eine tiefere, empathische Gemeinschaft voraussetzt. II Der Ursprung »hysterischer« Ambivalenz in frühkindlichen Bindungserfahrungen Lucien Israel, der, wie im einleitenden Teil erwähnt, 1925 ins traditionelle Judentum hineingeborene Psychoanalytiker, hat in einer essayistischen, aller Empirie und Klinik fernen Studie unserem Bild der »Hysterie« neue Akzente hinzugefügt (und sie sogar wieder zu einem Hauptgegenstand der Psychoanalyse machen wollen). »Hysterie«, der dramatisch gesteigerte Ausdruck innerer Ambivalenz, ist nun nicht mehr notwendig an die sprichwörtlich gewordenen Krampfsymptome gebunden, auch wenn die mit ihr einhergehen können. Israel schlug u.a. vor, hysterisches Verhalten grundsätzlich als einen »Beziehungsmodus« zu verstehen. (Französische Analytiker wie J.-D. Nasio stimmten ihm bei482.)

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Israel 1993, S. 23. ›Beziehung‹ wird dabei als soziale Bindung im weiteren Sinn gefasst. Vgl. J.-D Nasio, Hystérie ou l’enfant magnifique de la Psychoanalyse, Paris 1990, dt. tlw. in Wagner 1991: Hysterie ist für Nasio, der wie Israel französisch locker essayistisch und dezisionistisch schrieb, »die krankhafte Ausprägung einer zwischenmenschlichen Beziehung, die eine Person einer anderen unterwirft.« Der Hysteriker sei »durch und durch eine Angstnatur«, und die Gefahr, die abzuwehren sein Lebensinhalt ist, sei »eine höchste Lust zu erleben.« Derlei Spekulationen sind offensichtlich stark ideologisch und von quasi-anthropologischen Wertannahmen abhängig, durchmischt mit Nietzsche-Elementen und aus dem Zusammenhang gerissenen Freudianismen:

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Ebenfalls von therapeutischer Praxiserfahrung geprägt, jedoch weitgehend frei von Ideologie, hat Wolfgang Schmidbauer 1999 das Selbsterleben des Hysterikers als dramatisch inszeniertes Fortschreiten von Katastrophe zu Katastrophe beschrieben. Die Ursache der männlichen Hysterie soll typischerweise eine kindheitliche Kränkung und die Abwesenheit einer vollwertigen Vaterfigur sein, deretwegen im späteren Leben permanent, reflexartig die Ferne und Unerreichbarkeit des Vaters verklärt werde. In dieser Sichtweise ähneln die Symptome der Hysterie teils stark denen des »Narzissmus«. Dass Hysterie und Narzissmus sich eng verbinden können, ist schon lange bekannt und in Roths Fall evident. Die Erklärungsweise aus frühen Bindungserfahrungen ist heute nicht mehr auf intuitive Annahmen angewiesen. Führende Kliniker können reiche Erfahrung heranziehen, wenn sie das Borderline-Phänomen, das der älteren »Hysterie«-Symptomatik zum Teil verwandt, aber viel präziser beschreibbar ist, auf Störungen der frühkindlichen Erfahrung zurückführen (»Desorganisation«; Manipulativität, Übergriffigkeiten)483. »Die Leidenschaft des Hysterikers ist immer eine doppelte: Liebe und Haß«, sagen uns Psychoanalytiker mit der ihnen eigenen Vorliebe für Dekret und Apodiktik. Aus »verdrängter Liebe und nicht eingestandenem Haß« habe die zeitlebens stärkste Bindung Joseph Roths bestanden, hat David Bronsen bedachtsam formuliert und war sicher, wem diese dominierende Bindung galt: Maria, der Mutter des vaterlos aufgewachsenen Joseph Moses Roth484. Als verhuschtes

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Zentrales Mittel sei »eine Schutzphantasie: die Angstphantasie der Kastration.« (Vgl. Wagner 1991, S. 15, S. 23). Vgl. die materialreiche Darstellung des »bindungstheoretischen Ansatzes« in Bateman/Fonagy 2014, S. 103ff. Es ist vielleicht kein Zufall, dass die beiden prominenten Muttergestalten in Roths Werk, obwohl ihre Entstehung Jahre auseinanderliegt, zwei komplementäre Extrempole verkörpern: »Barbara« in der gleichnamigen Erzählung (1918) lebt nur für ihren Sohn, lehnt das einzige Liebesangebot ihres Lebens ihm zuliebe ab (IV. 18f) und geht zugrunde an dieser pathologischen Bindung. Das Übermaß

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Vierter Teil: Der Schreibvorgang und seine Einbettung im erlebenden Geist

Wesen, scheu und nie anders als schwarz verhüllt, taub und stumm für ihre Welt, nachdem ihr Mann noch vor der Geburt des ersten und einzigen Kindes dem Irrsinn verfiel – so etwa tritt sie uns aus den wenigen Spuren, die von ihr überdauerten, entgegen. Sie war ein Opfer der strengen Zensur der Kleinstädter, jener allmächtigen gegenseitigen Kontrolle, die auch für das Schtetl typisch ist – zumal der Irrsinn dem traditionellen Judentum kein Gegenstand des Mitleides war, sondern ein sittlicher Makel, der auf die Sippe ausstrahle485. Maria antwortete den Argusaugen der Nachbarschaft mit Verweigerung jeden Kontakts, mit der Vereinigung aller Liebe auf ihren Sproß und dem rastlosen Bemühen, den Putz ihrer beiden Fassaden makellos zu halten, auf dass kein böser Blick von außen Halt finde und Schwachstellen erspähe. Alle Morgende und alle Mittage ging es, den Sproß, ihr Ein und Alles, an der Hand, zur jüdischen Gemeindeschule. Dann: warten, schließlich, wiederum Händchen haltend, weg von der Schule nach Hause, Tag für Tag486. Irgendwann wurde es getrennt, das stumme, symbiotische Gespann der Straßen Brodys; irgendwann, nachdem das k.u.k. Kronprinz-Rudolf-Gymnasium, die heutige »Schule Nummer eins« im verarmten ukrainischen Provinzstädtchen, das seine letzte Kopeke für die Instandsetzung der klassizistisch gesäumten »Goldgasse« hingab, als dürren Rest verflossener, bescheidener Eleganz487, den kleinen Moses Roth in seine Reihen aufgenommen hatte und das Händchenhalten Marias unter seinen Mitschülern allzuviel Hohn und Spott erntete. Dann allerdings,

485 486 487

an Zuwendung beantwortet ihr Sohn, je länger desto mehr, mit Gleichgültigkeit. Zwanzig Jahre später entwarf Roth in der »Kapuzinergruft« – wohl nicht zufällig der einzige Roman, in dem es eine funktionierende erotische Bindung gibt – umgekehrt eine erotisch getönte übermäßige Liebe eines Sohnes zu einer ebenfalls verwitweten Mutter (IV. 239). Vgl. hierzu wie zum ganzen Abschnitt die erhellenden Seiten 66ff in Bronsen 1974. Vgl. Bronsen 1974, S. 67. Vgl. Michael Martens, Am Rande des Reiches. In: Die Zeit Nr. 38, 16. September 1999, S. 66.

3 Bemerkungen zur Terminologie II

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als der strebsame junge Mann nach Wien ging, um als Literat zu reüssieren, ging die Mutter mit, und eine Zeitlang teilten sie nun sogar nochmals eine Wohnung. Der kleine Moses oder zumindest ein Teil seiner jungen Seele identifizierte sich offenbar mit der zwanghaften Defensive Marias (und man erinnere, welch eigentümlich ambivalente Rolle Rituale der Reinigung bei Roth, etwa in der »Legende vom heiligen Trinker« spielten): »Es war mein Ehrgeiz, vollendete [sic] Anzüge und Manieren zu besitzen«488. Die Selbstlosigkeit Marias mochte den Jungen Joseph innerlich in die Flucht treiben; später goss er sie in eine seiner vielen, fingierten489 Erinnerungen: Am Sterbebett der Mutter (1922) habe er »die ganze Nacht nach der Operation an ihrer Seite verbracht. In der Frühe wachte sie auf und entdeckte, daß das Hemd […] zerrissen war. Ungeachtet seines Protestes sei sie aufgestanden, habe ihm das Hemd geflickt, sich dann mit Mühe ins Bett gelegt, und sei bald danach gestorben«490. Es dürfte es nur die Wahl zwischen restloser Teilhabe und rückhaltlosem Ausstieg gegeben haben. Roth macht in einer Anekdote daraus ein paradoxes Zugleich: »Die Zeit, die ich bei meiner Mutter verbrachte, war meine glücklichste Zeit [!]. In der Nacht stand ich auf, kleidete mich an und ging aus dem Haus. Ich wanderte drei, vier Tage […]«491. Seelisch zweigeteilt blieb auch der Gymnasiast Roth. Ein stillbraves, gemiedenes Musterschülerchen, das unaufhörlich Rache nehmen will an einer tückischen Welt; ein zwanghafter Anpasser, dessen Phantasien mit den Umstürzlern fiebern. Statt rächerische Taten 488 489

490

491

Zit. Bronsen 1974, S. 95. In Wahrheit hat Roth in all den Jahren nach dem Weggang aus Brody seine Mutter kaum eines Briefes und nur eines Besuches gewürdigt (was bei hysterischen Persönlichkeiten kein Beweis für eine schwache Bindung ist). Bronsen hielt Roths Erinnerungen an die Mutter zu Recht für weitestgehend fiktiv. Wiedergegeben bei Bronsen 1974, S. 70. Bei anderer Gelegenheit spricht Roth seine unterdrückte Aggression aus: »Einmal verbrühte sich meine Mutter die Hand. Sie litt schrecklich. Ich blieb ruhig« (Bronsen 1974, S. 95). Wiedergegeben bei Bronsen 1974, S. 97.

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Vierter Teil: Der Schreibvorgang und seine Einbettung im erlebenden Geist

zu vollbringen, kritzelt der Primus Sardonisches in seine Kladde. Als der berühmt gewordene Roth sich später erinnert an den Pennäler Roth, macht die Erinnerung das zweite, im Hefter verborgene Ich zur äußeren Realität (was allen erhaltenen Zeugnissen von Mitschülern widerspricht): »Jeder, der mich geschlagen hatte, bat mich darauf um Entschuldigung. Denn er fürchtete meine Rache. Sie konnte grausam sein. Ich hatte niemand besonders lieb. Haßte ich aber einen, so wünschte ich ihm den Tod und war bereit zu töten. Ich besaß die beste Schleuder […] Ich bereitete Hinterhalte vor, Fangeisen.«492 Pedantischer, mutterbefohlener Ordnungszwang und Sardonik, Strebertum und Wunsch nach Rache für Gekränktheitsgefühle sind nur scheinbar sich ausschließende Ich-Komplexe. Beide Impulse, Trieb zum Regelkorsett und die Gegenkräfte Rebellenblut und Ausbruchshitze, dürfte Roth wie von fremder Hand auferlegt empfunden haben. In seiner Selbstwahrnehmung müssen die antagonistischen Anteile wie eigenständig auf einer inneren Bühne agiert haben: »Ich war ein ausgezeichneter Schüler, nicht durch Fleiß, sondern durch Überlegenheit. Es wäre mir unwürdig erschienen, vom Lehrer bei einer verbotenen Lektüre, beim Zigarettenrauchen oder beim Abschreiben einer Schularbeit erwischt zu werden, zu stottern oder mir einsagen zu lassen. Ich fügte mich den unüberwindlichen Mächten und weil sie mir nichts anhaben konnten, fühlte ich mich frei [sic!]. Indessen waren die Rebellen, die Tollkühnen und die Aufrichtigen immer auf der Flucht vor den Lehrern, die Jägern gleichen. Mich belustigte es, an dieser Jagd nicht teilzunehmen, sondern sie zu betrachten […] Über ein Aufsatzthema: Was Du ererbt von den Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen, schrieb ich zustimmend, klug und beweisend. Dabei wußte ich genau […], daß der Besitz nicht abhängig gewesen wäre von seinem Erwerb. Aber ich war eben eine Ausnahme«493. Das Posenhafte und Willkürliche jedes einzelnen Satzes ist auch hier so offensichtlich wie die Konfliktstruktur – und viel492 493

Zit. ebd. Bronsen 1974, S. 84f.

3 Bemerkungen zur Terminologie II

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leicht sogar die Verbindung zum von aggressiven Zerstörungsimpulsen konterkarierten Strebertums: Viele Sätze haben etwas demonstrativ Naseweises an sich, eine künstliche Munterkeit, die den ausgedrückten Leiden eigenartig widerspricht. Eigenartig und schwer zu beschreiben ist auch die Mischung zwischen ausgestellter Pointiertheit der formelhaften Behauptungssätze und dem Unvermögen zur Kontrolle über die amphibische Sache: Hochmut schlägt in Getriebensein um, kindische Prahlerei ist von Misanthropie, Überlegenheitsgebaren von Ohnmacht kaum zu unterscheiden. Das Ambivalenzdilemma um Fremd- und Selbstbestimmung mündet übergangslos in Roths Wunschbilder des väterlich behütenden Gottes: Sie sind untrennbar verbunden, von einem »Ich« durch eine ›höhere‹, behütende Macht erlöst zu werden, das gefangen ist in seinem Zwang zum formelhaften, wirkungsorientierten Überpointieren; das zwanghaft verbirgt, wo es apodiktisch knappe Sachverhalte behauptet, als seien sie transparenteste, selbstverständlichste, vertrauteste Außenwelt: »Ich sah zum Himmel empor und wußte, […] daß Gott nicht verschwunden, sondern gleichsam nur übergesiedelt war, aus dem Himmel irgendwohin anders, ich wußte nicht wohin, wahrscheinlich aber in meine Nähe. Daß niemand die Welt regierte [sic] war mir offenbar. Daß aber jemand meine eigenen Wege überwachte, fühlte ich. [… Der,] zu dem ich betete, half immer, er strafte niemals [sic]. Ich hätte ihn immer verleugnet. Aber desto eifriger glaubte ich an ihn«494. Nicht nur Riemanns Hysterikersymptom (vi) (s.o.) ist hier verblüffend nackt ausgeprägt – man glaubt auch förmlich zu fühlen, wie direkt manche Stilmanieren Roths aus den ambivalenten Konfliktenergien hervorgehen, die ein solches Thema wie die Suche nach väterlich-überwirklicher Lenkung in ihm aktivieren.

494

Zit. ebd., S. 77f. Der Einschub: »Ich hätte ihn immer verleugnet« ist für sich genommen schon gänzlich ambivalent.

Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk »La litérature cʼest la sincérité même, la seule expression vraie de la vie«495 Die Person Joseph Roth mochte noch so machtlos zunehmenden Ambivalenzkonflikten ausgesetzt gewesen sein – der Schriftsteller war es nie. Ambivalenz im Verhältnis zur Ordnung ist sogar das unausgesprochene Zentralthema seiner frühen Erzählungen, mit denen er sich als Autor findet. Die Entscheidung für die Erzählprosa kann man als Entscheidung zur direkten Bearbeitung und Ausbeutung des zentralen Konflikts mit stärkeren diskursiven Anteilen als im Feuilleton verstehen. Roths Ambivalenzen im Verhältnis zu fixen Ordnungen kehren prägend in den Konstruktionen seiner frühen Romane wieder, und erst mit dieser Projektion des Strukturdilemmas im größeren Format konnte er über sie freier verfügen. Der Debutroman »Das Spinnennetz« kreist nicht zufällig um zwei antipodische Helden. Die Sympathien des Erzählers sind dabei nur auf den ersten Blick klar verteilt. Insgeheim sind die Widerstreitenden sich verwandt und feind zugleich. Roths Roman »Die Rebellion« fand, wie wir sehen werden, jene uns schon begegnete Darstellungsform für die Ambivalenz im Verhältnis zur Ordnung im Motiv der unversehens und ruckartig umstürzenden historisch-politischen Verhältnisse. Sie korrespondiert (meist) mit zauberhaften Umstülpungen im Binnenraum der Personen, ihren Sinn- und Wertordnungen. »Leviathan« etwa, die späte, vielleicht vollkommenste Erzählung (»Novelle«) Roths (VI. 544– 574), lebt ganz aus diesem Motiv. Als Nissen Piczenik, der Protagonist, ein vorbildlicher Schtetljude, der nie die Ränder seines Nestes Progrody übertrat und das Meer nur vom Hörensagen kennt, schüch495

Zitiert bei Bronsen 1974, S. 349.

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 S. Kiefer, Braver Junge – gefüllt mit Gift, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05108-0_6

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Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk

tern seiner Jahrzehnte im Todesschlaf versteckten Sehnsucht nachgibt und ein paar Schritte auf Schiffsplanken im nicht weit entfernten Odessaer496 Hafen tut, ist er plötzlich ein »ganz neuer Mann, […] dessen Inneres nach außen gestülpt worden war, ein sozusagen gewendeter Mensch […]«. Nach wenigen Augenblicken auf der Mole fühlt er, »dass er nicht aus der Eisenbahn gestiegen war, sondern geradezu aus dem Meer, aus der Tiefe des Schwarzen Meeres. So vertraut war er mit dem Wasser, wie er niemals mit seinem Geburtsund Wohnort Progrody vertraut gewesen war« (VI. 562). Was noch Augenblicke zuvor dem »alte[n] kontinentale[n] Nissen« (ebd.) das Fremdeste war, ist zum Vertrautesten geworden, das vermeintlich Vertrauteste das Fremdeste, und aus der Ambivalenz im Verhältnis zur Ordnung dichterische Suggestion. Zu seinem eigenen Vorteil enträt dieser Erzähler Roth sich der moralisierenden, kulturkritischen Oppositionskonstruktionen und Schuldzuschreibungen, die der Publizist Roth liebte. Im Kapitel »Ein sozialistischer Held […]«: In diesem Kapitel werden wir sehen, wie und weshalb Roth seinem einzigen kommunistischen Helden (»Der stumme Prophet«) bemerkenswerterweise eine ganz und gar nicht weltgeschichtliche, vielmehr höchst private Unbill andichtete, um ihn in die Arme der linken ideologischen Einpeitscher und Kleintyrannen zu treiben. Darin mag ein Kommentar Roths zu eigenen politischen Sehnsüchten liegen – und vor allem zur Ambivalenz seiner Sentimentalität und die unlösbare Verknüpfung der weltanschau496

Womöglich wählte Roth Odessa, weil das seinerzeit ein Zentrum der hebräischen Literatur und der zionistischen Bewegung war – ein Verrat am ursprünglichen ostjüdischen Menschentum, wie der reife Roth empfand. Bialik bereitete sich dort auf das Berliner Rabbinerseminar vor, Mendel Mocher Sforim, der ›Großvater‹ der hebräischen und jiddischen Literatur, wirkte hier, Achad Haam, der bedeutende hebräische Essayist und viele andere. Nissen Piczenik entfremdet sich jedoch nicht von sich und seiner Welt. Ihn zieht Sehnsucht nach Ich-Entgrenzung durch Verschmelzen mit dem Grenzenlosen (dem Meer) hinaus. Das ganz Andere, Fremde gegenüber seiner behüteten Kleinwelt und seiner kontrollierbaren Ich-Sphäre zieht ihn magisch hinaus.

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lichen Konfession mit dem Drama intimer Bindungssehnsüchte und -wünsche. Er schwankte hier wie häufig zwischen kühl-spielerischer, eigenen Witz zelebrierender Ästhetendistanz und Gefühlsware im Stil von Groschenroman und Poesiealbum. Wie gewitzt und doppelbödig die Variationsphantasie war, mit der er die Ambivalenz in erzählerische Motive transformieren konnte, führt das Kapitel über die Grenzschenke vor: Es ist eine Idealzone seiner Welt, eine Region am Rand der Ränder dieser (europäischen) Welt, in der konträre Ordnungen (Westen-Osten; gute alte, organisch und leibhaftig geordnete Patriarchenwelt versus moderne, verwaltete, pluralisierte und technisierte Welt) sich treffen, die handgreiflich und doch nicht ganz real sind. Das Kapitel über den »Radetzkymarsch« ergründet selektiv die Funktion leitmotivartig eingesetzter Gegenstände. In krypto-sakral kontemplierten Portraits des Helden von Solferino und des Kaisers verdeckt die Sehnsucht nach totaler Ein-Ordnung in eine väterlich weise Sinn-Hierarchie die ambivalente Instabilität des Helden in eben dieser Ordnung: Er hatte wie viele Protagonisten Roths einen komisch geringfügigen Anlass als unverzeihliche, alles umstürzende Kränkung interpretiert und bei seinem Übervater, dem Kaiser, vergebens um Revision angesucht. Danach fällt er, charakteristisch für einige Helden Roths, in kindlichen Trotz, bricht gekränkt aus der totalen Sinn-Einordnung aus und kapselt sich beleidigt in der Provinz ein, also im »Osten«. Mit der realen, vom frei sich bestimmenden »Ich« erlösenden Ordnung des k.u.k. Militärs hat er gebrochen – huldigt jedoch kryptosakral weiterhin dem Kern und der Legitimation dieser Ordnung, der Idee des gottgewollten, väterlich behütenden Kaisertums. Roth war (in dieser späteren Lebensphase) nicht eigentlich ein Dichter des ›habsburgischen Mythos‹; eher ein k.u.k-Dekadent, ein Poet des sterbenden Habsburgertums, ein Tagträumer vom Katholizismus im spätabendlichen Zwielicht: Was im Bild des heranrollenden Weltkrieges beschworen wird, ist nicht der Krieg als solcher.

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Dieser hat Roth, wie oben bemerkt, so wenig interessiert wie das Soldatische generell, im Gegenteil. Was droht, ist der Verlust des umfassenden Behütetseins in einem tagtraumartig beschworenen Kaiser. Roth bannte magisch die Idee eines wohligen, kollektiven, alle Eigeninitiative lähmenden Dreinschickens in den Untergang – so schützt man sich vor der wie eine biblische Katastrophe heranrückenden neuen Zeit, der Zeit, in der jeder auf sich zurückgeworfen sein wird, seine weltanschaulichen Überzeugungen und Werte selbst hervorbringen und dafür einstehen muss. »Und während ich es noch verurteilte, begann ich schon, es zu beklagen« (II. 910) – dieser Satz ist, so gesehen, der bündigste Ausdruck des Rothschen Verhältnisses zur Monarchie (wenn nicht zur Welt überhaupt). Wäre seine Phantasmagorie einer totalen Behütung und eines Erlöstseins vom sich eigenmächtig entwerfen müssenden Ich real geworden, hätte es ihn in Panik versetzt – doch im Dreinschicken in den Niedergang ist die totale Behütung, Durchorganisation und damit Teil-Entmündigung nicht mehr real, eher ein angenehm dehnbarer, vager Möglichkeitszustand zwischen Sein und Nichtsein. Der Interpretenzwist, ob Roth nun der nostalgisch überhöhende Sänger der k.u.k. Epoche ist oder im »Radetzkymarsch« (auch) eine »wahrhaft erbarmungslose Kritik des komatösen Habsburger Systems«497 übt, kann keine Schlichtung erfahren – er ist die getreue Spiegelung der zwiespältigen Sache selbst. Am 6. 3. 1928, gut zwei Monate vor der Reichstagswahl, die den Tiefstand der völkischen und den Zenit der sozialdemokratischen Bewegung dokumentieren wird, führte Roth seinen FZ-Lesern vor, zu welcher Ordnung er hielt: »Seine[r] k. und k. Apostolische Majestät« (II. 910–15). Diese wohl erste große Phantasmagorie Roths von der Geborgenheit im k.u.k.-Reich entwickelt in selbstvergessener, sentimentgeladener Halluzination eine Lösung des Dramas der

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Sebald 1991, S. 110. (In dieser Schärfe ist Sebalds Behauptung allerdings ohnehin nicht recht diskutabel).

Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk

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Ambivalenz im Verhältnis zur eigenverantwortlichen »Ich«-Bestimmung, oder eben: der Ich-Identität. Der Text beschwört sehr ähnlich wie Roths Halluzinationen seines Militärdienstes eine totale Sinn- und Regel-Ordnung, die dem Individuum keinen Bewegungsspielraum lässt und somit von jeder freien Wahl des Selbst und seiner Bindungen enthebt, doch das nur zum Besten der Untertanen tut, wollen die doch schier alle Grenzen übergehen und vor Liebe zergehen angesichts ›ihres‹ prächtigen, allmächtigen, doch guten Vaterkaisers. In jedem Satz umspielt Roth hier das Dilemma der Ordnung, ihrer (Un-)Sichtbarkeit, Berechenbarkeit, Abwesenheit, Dehnbarkeit, Nähe und Ferne, Intimität und Gesetzlichkeit neu durchseelt vom väterlichen behütenden, zugleich über- wie allzu-menschlichen, greisen Kaiser. Bei den allmorgendlichen Ausfahrten, heißt es in dieser fingierten Erinnerung, gehörte »zu den kalt berechnenden [sic] Anordnungen des alten Kaisers, dass kein sichtbar [sic] Bewaffneter ihn und seine Nähe bewachen durfte. Die Polizeispitzel trugen graue Hütchen statt der grünen, um nicht erkannt zu werden. Komiteemänner in Zylindern, mit schwarz-gelben Binden, erhielten die Ordnung aufrecht und die Liebe des Volkes in den gebührenden Grenzen [!]. Es wagte nicht, die Füße zu bewegen […] es war, als flüsterte es eine Ehrenbezeugung im Chor. Es fühlte sich dennoch intim […] im kleinen Kreis eingeladen« (II. 912). Abwesenheit jeder Eigenbewegung, totale Ordnung bis ins kleinste Zäserchen hinein, intime, aber unpersönliche Geborgenheit – doch von Individualitätsverlust und Fixierungsangst und Erstarrung ist keine Rede bei diesem Joseph Roth. In »Das falsche Gewicht« schließlich hebt Roth das Dilemma mit der Ordnung auf eine Ebene, von der herab der Leser ins Geschehen und nach einem opernhaften Finale dorthin zurückgeführt wird (s. Kapitel »Alle deine Gewichte«). Wir werden hier eine noch dichtere Verwebung des wie mündlich improvisierend, sprunghaften Aufzählens einzelner Details mit motivischem Kalkül kennenlernen als in Beispielen wie »Perlefter« und »Erdbeeren«. – Wiederum eine Va-

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riante des Ambivalenzdilemmas mit der Einbindung in militärische Ordnungen, vor allem aber auch noch einmal bedenklich distanzlosen Umgangs mit Stereotypen der postromantischen Diskurse über Außenseiter, Gefühlsausdruck und Geschlechter. So eindrucksvoll und vielleicht auch überraschend es zu sehen ist, wie früh Joseph Roth künstlerisch aus der zentralen Triebkraft der Ambivalenz die poetischen Konstruktionsideen seiner narrativen Szenerien zu gewinnen sucht, war er zu Beginn jedoch vorwiegend Lyriker. Die Frage, ob und wie bereits in diesen Anfängen ein ästhetisches Gefühl für jene Ambivalenzen vorhanden war, ist zunächst bloß eine werkgeschichtliche; sie zu beantworten, könnte jedoch auch Licht auf gattungsspezifische Möglichkeiten werfen. Umgekehrt wird das Verstehen der Gründe, was Roth an der Lyrik nicht befriedigte, auch ein besseres Verständnis der Motive erbringen, sich und die treibende Kraft der Ordnungsambivalenz auf dem Feld der erzählenden Gattungen zu erkunden. Entscheidend dürfte gewesen sein: Im Erzählen folgt das Sagen und Konstruieren eines »Ichs« anderen Gesetzen. 1 Die literarische Vorgeschichte eines Epikers I Die Schwierigkeit, »Ich« zu sagen: Roths lyrische Anfänge Um die Anfänge des Schriftstellers Roth war es merkwürdig bestellt. Der Gymnasiast schmiedete selbstvergessen Reim auf Reim, entflammt von kühnen Träumen kommenden Ruhmes. Sein Talent war dabei so zweifelhaft, dass der (im Übrigen verehrte) Deutschlehrer von Beginn an energisch gegensteuerte. Der Pädagoge muss ein erstaunliches Gespür für die Gaben seines Schützlings besessen haben: So entschieden er die lyrischen Prätentionen des Primus abkanzelt, so entschlossen fördert er den künftigen Prosaisten. Die Schulkameraden bekommen nicht nur einmal Rothsche Aufsatzprosa als mu-

1 Die literarische Vorgeschichte eines Epikers

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stergültige Leistungen serviert498. Doch das pädagogische Ingenium half nichts: Roth debütierte mit Versen (1915 in Wien), und in der Tat, sie zeugen von bescheidenen Talenten. Der Anspruch des Anfängers überstieg sein Können bei weitem: Verslein wie »Menschen gibtʼs, die sich was sagen müßten / Und sagenʼs nicht […]« ließ Roth unter dem gar nicht bescheidenen (und keineswegs ironisch zu verstehenden) Titel Welträtsel in Satz gehen. Die Hartnäckigkeit des strebsamen Neulings ist dabei bemerkenswert: Was hat ihn bewogen, so lange gegen seine eigentlichen Gaben den lyrischen Ausdruck zu suchen? II »O Bruder Mensch«: Ambivalenz von Fremde und (letaler) Symbiose Roth griff in seinen Talentproben, die 1915–19 in Druck gingen, ziemlich durcheinander in die Schubladen des überlieferten Repertoires. Ins neoromantische Fach zum Beispiel, apostrophengarniert: »Nun, da es Nacht, liebkos ich deine Nähe / und sinke in die Knie und rufe: wehe! / daß ich nicht sehen kann dein Angesicht«. Die Zeilen wurden respektabel gedruckt, vom renommierten »Prager Tagblatt« am 5. 8. 1917 (I. 1104). Die Schlussstrophe wendete, was gefühlig begann, gewaltsam ins Expressionistische: »Sieh, Bruder Mensch: Durch Nebel wuchtet schon der Tag!« Umschlagpunkt ist Strophe drei: »Weil du mich schlugst, besitzest du mich ganz: / Um dich zu lieben, mußtʼ ich dich erst morden! / O Bruder Mensch! vergib, daß ich erlag!« Man muß zweimal lesen: Geschrieben steht »Weil du mich schlugst, / besitzest du mich ganz« – die Aggression ist Initialpunkt, nicht etwa Beiwerk oder Trübung der Liebe. Strophe zwei hatte zuvor ein undeutliches, verstörendes Bild möglicher Vereinigung gegeben, das erst im Nachhinein verständlich wird: »[…] / wir waren zungenfremde Weggenossen, / nun unser Blut vereint die Flur durchflossen, / weiß ich: Du bist mir nah 498

Klaus Westermann im Nachwort zu Band I., S. 1009.

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und blutsverwandt.« Eine gehörige Portion Liebestod-Topik499 bot der angehende Dichter auf, um sie einigermaßen enigmatisch auf den Fall zweier Männer (!) verfeindeter Armeen zu übertragen. Selbst hier, in der homoerotischen Variante, bewegte sich Roths Phantasie in den Bahnen des Grundkonflikts: Stumme Gemeinsamkeit (»zungenfremde Weggenossen«) steht am Anfang, Ich-Auflösung (»nun unser Blut vereint die Flur durchflossen«) am Ende. Die Phase dazwischen, das Erwachen der Individuen und die Entstehung eines festen Gegenübers ist Kampf pur, auf Leben und Tod. »Liebe« entsteht durch und mit der Vernichtung des Gegenübers. Zwar steht das Gedicht »O Bruder Mensch«, soweit es Tonlage und Stoff betrifft, eher vereinzelt da. Dennoch ist es charakteristisch für das Dilemma des angehenden Schriftstellers. Am Eingang des Werkes stand ganz unabhängig von Religion, ethnischer Herkunft und geschichtlicher Situation der Versuch, in entrückter Sprache eine bildliche Vorstellung stabiler oder konsistenter Subjektivität und seiner intimen Bindung zu finden. Besser gesagt: zu erzwingen. Er scheiterte und suchte, noch während er sich als Lyriker nicht ganz aufgegeben hat, die Prosa, die feuilletonistische und früh auch die erzählende. »Ach wüßt ich doch den Weg zurück, den Weg ins Kinderland« – das war, ein halbes Jahrhundert nach Johannes Brahms (und seinem Textdichter Klaus Groth), als der expressionistische Stern bereits hoch am hiesigen Poetenhimmel stand, noch immer die Bitte des jungen Dichters Joseph Roth. »Wo?«500 fragte der Titel eines Gedichtes aus dem Jahr 1916 noch einmal, und es fragte in denkbar approbierten Harmonien: »Ich war einmal ein kleines Kind, / Das 499

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Ein Maulbeerbaum spielt wohl auf Ovid (Met. IV. 161f) an, die »Erinnerung doppelten Blutes« an Pyramus und Thisbe. Pyramus hatte zuvor das Schwert noch einmal aus der Wunde gerissen, damit sein Blut sich mit dem (Löwen)Blut auf Thisbes Schleier vereinige. Auch sie konnten sich, weil die Väter gegen ihre Verbindung waren, lange Zeit nicht mit Worten verständigen. Österr. Illustrierte Zeitung 6. 2. 1916 (I. 1101).

2 Sichere Distanz: Roths frühe Erzählungen

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angstgequält zur Mutter floh, / Wenn durch den Schornstein fuhr der Wind --- / Ich weiß nicht, wo […]« (I. 1101). Seltsamerweise ist das »Lied«, welches »ich« beim Verlassen der Heimat vernimmt, keineswegs trübe, nicht einmal zweideutig, nein, es »klang so zart und müde so, / Als ich von meiner Heimat schied«. Strophe drei zieht aus dieser Lage einen Schluss, der so zweideutig wie die imaginierte Kindheit selbst ist: »Es hat einmal mein Herz gelebt, […] / Mohnblumen brannten lichterloh, […] / Ich habʼ einmal ein Glück erlebt«. Hat das Ich etwa gerade dort, wo die Felder in Flammen standen, sein verlorenes Idyllenglück erlebt? Es versteht sich: Hier spricht ein junger Mann in zusammengeklaubten Versatzstücken, und das Spiel mit Double-Bind-Figuren der Bindung und Kippbildern von Wahrnehmungen und emotionalen Zuständen war und ist in der Lyrik so häufig anzutreffen, dass es keiner besonderen Dispositionen des Autors bedurfte, um sie ebenfalls zu bedienen. Der postromantische Lyriker Roth griff öfters zur auch in frühen Feuilletons geübten Satire: Der Satiriker Roth gibt gefühlte Unstimmigkeiten als Grillen, Dummheiten oder Ungereimtheiten seiner Umwelt aus und distanziert sich abwertend von ihnen. In der Lyrik bleibt das Satirische allerdings ein Intermezzo, in Feuilleton und Erzählung gehörte es stets zum Werkzeug. 2 Sichere Distanz: Roths frühe Erzählungen Ein halbes Jahr nach dem eben besprochenen Gedicht brachte »Österreichs Illustrierte Zeitung« die erste (erhaltene) epische Talentprobe des Neulings: »Der Vorzugsschüler«. Gleich die eröffnende Zeile schlägt mit ihrem Diminutiv die teils spöttische, teils karikierende, teils possierliche Tonart an, die Roth mitunter auch im Genre Feuilleton erprobte, jedoch vor allem zum Kernrepertoire des Erzählers Roth gehören wird: »Des Briefträgers Andreas Wanzls501 Söhnchen, Anton, hatte das merkwürdigste Kindergesicht von der 501

Die Assoziation »Wanzl« – »Wanze« dürfte beabsichtigt sein.

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Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk

Welt« (IV. 1). Die von Roth geliebte Hypergeneralisierung finden wir schon hier ins narrative, satirisch humoresk getönte Instrumentarium integriert. Obwohl nur Monate seit dem Versuch, in neoromantischen Tönen »Ich« zu sagen, vergangen waren, hatte Roth hier keine sichtbare Mühe, einen konsistenten Ton zu finden – das Amüsement an der herzlichen Bedeutungslosigkeit seines Helden war durchgängig, nicht zuletzt, weil Anton ein karikierend überzeichnetes Teil-Ich Roths selbst gewesen sein muss. Das »Söhnchen« ist eine »Respektperson« (IV. 3), jedenfalls für die Eltern, ist Spross eines Vaters mit dem »charakteristische[n] Wesen eines kleinstädtischen Briefträgers« (ebd.). Von körperlicher Missgestalt ist Anton, dafür findet sich kein »Stäubchen auf seinem Rock, kein winziges Loch im Strumpf, keine Narbe, kein Ritz auf dem glatten Gesichtchen«. Spiele verpönt der Musterknabe, die Nase kriecht nur selten hervor aus den Schulbüchern, und natürlich hält er in der Schule »die Arme nach Vorschrift ›verschränkt‹«: »Freilich war er Primus«. Der junge Autor verlegte sich auf eine durchgehend karikierende Abwertung; auf diese Weise konnte er sich innerlich vom Protagonisten distanzieren und Sicherheit gewinnen. Der Text selbst ist deshalb jedoch eher ein Produkt der Idiosynkrasie gegenüber eigenen Ich-Potentialen, und einer Art satirischen Kontrollzwangs. Der Zynismus Roths in diesem erzählerischen Erstling ist von einer Persistenz, die den Leser lähmt – und das Ambivalenzdrama gleich mit: Es spielt sich hier noch allein auf der satirisierten Gegenstandsebene ab. Wanzls zwanghaftes Anpassertum kommt ihn teuer zu stehen: »Nein, Anton Wanzl war nicht gut. Er hatte keine Liebe, er fühlte kein Herz. Er tat nur, was er für klug und praktisch fand« (IV. 4). Das Attribut »brav« verwendete Roth auch im Selbstportrait für Gustav Kiepenheuer, dem der Titel der vorliegenden Studie entnommen ist: »Er gab keine Liebe und verlangte keine. Nie hatte er das Bedürfnis nach einer Zärtlichkeit, […] er weinte nie. Anton Wanzl hatte auch keine Tränen. Denn ein braver Junge durfte nicht weinen« (ebd.). Noch in der späten »Legende vom heiligen Trinker«, sahen

2 Sichere Distanz: Roths frühe Erzählungen

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wir, wie wesentlich dieses Prinzip der inneren Abspaltung von Bedürfnissen für Roths Figurenerfindung sein konnte. Bereits Anton Wanzl ist bloße, innere Kälte – und auch hier ist erotische Bindung nur als strategische Unterwerfung und persönliche Gleichgültigkeit möglich: Einer Verkäuferin (sinnigerweise von Miederwaren) versteht Anton strategisch Gefühle einzuflößen, ist er doch einer jener höhergestellten »Ehrenmänner«, deren sie bedarf, um emporzublicken. Sie dagegen ist zu selbstlosem Dienen bereit und nennt das »Liebe« (IV. 6)502. Er umgekehrt hat »kein Bedürfnis nach Liebe« (IV. 6), doch wird er, dem die Lehrer soviel Klugheit zubilligten – ein Attribut, das auch Roth sich gerne verlieh –, wortverlegen, improvisiert, um die Pein innerer Kälte zu drapieren, einen »kleinen Vortrag über die Periode der Minnesänger«. Hier beginnt der Weg der schreibend sich und den Figuren angedichteten Kälte und Bedürfnislosigkeit, die bis zu Andreas Kartak im Spätwerk führt. Mit einem Übermaß an Kontrolle sterilisiert sich Anton selbst, rettet sich in kurzsichtiger Schläue vor den Anfechtungen des Lebens in die Quarantäne. Allerdings: Genau besehen ist die Miederwarenverkäuferin nicht weniger als Anton vom Gedanken an gesellschaftlichen Aufstieg absorbiert. Auch sie subordiniert Triebleben und Individualität ganz diesem Ziel. Ihre Mittel jedoch könnten nicht entgegengesetzter sein: Statt Intrige und Kalkül stellen sich bei ihr genau im rechten, will sagen im strategisch günstigen Moment – als in der Person Antons das Sozialleiterchen aufwärts zum Greifen nahe ist – heftige Gefühle ein. Und das ganz unangesehen der offenbaren inneren Gleichgültigkeit des Studiosus Wanzl. Weil sie zwischen Strategie und Trieb nicht, wie Anton, säuberlich zu scheiden weiß, sondern ›echte‹ Leidenschaft entwickelt, geht sie zugrunde. 502

Roth beschreibt bösartig genau, wie Anton schon bei der ersten Annäherung peinlich darauf bedacht ist, jeden Anflug von Begierde und Empfindung im Keim zu ersticken: »sein fades, blasses Haar war heute sorgfältiger gescheitelt als je, eine kleine Erregung war seinem weißen Marmorantlitz doch anzumerken« (IV. 7).

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Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk

Antons Weg verläuft strikt nach Plan und mit zwanghaftem System am Leben vorbei. Die Lebensfeindlichkeit des Systematischen, später ein Lebensthema Roths und ein Fundamentalmotiv seiner gesamten, »kulturkritischen« Weltbildung im Schreiben, durchleben diese frühen Antihelden also selbst – als zwanghaften Ich-Anteil, noch nicht in die Außenwelt projiziert, sondern selbst verantwortet. Vielleicht rührt daher die Dominanz der Satire und des Spotts. Etwas wie Glück und Lust erlebt Anton erst postum, »tief drinnen im Metallsarg […] Anton Wanzl lachte zum ersten Male«. Doch selbst hier ist es nicht eigentlich Lust, die zum Lachen treibt, sondern pure Schadenfreude: »Er lachte über die Leichtgläubigkeit der Menschen, über die Dummheit der Welt. Hier durfte er lachen. Die Wände seines schwarzen Kastens konnten ihn nicht verraten. Und Anton Wanzl lachte. Lachte stark und herzlich« (IV. 13). Das Ordnungsdilemma zeigt sein wahres Gesicht: Anton, der posthume Sardoniker ist zugleich der wahre Anton und auch wieder nicht. Penible Ordnungsexistenz und Verachtung der Ordnung und Menschen darin, aggressive Ausgrenzung und Kriechergehorsam sind ineinander umschlagende Extrempole. Roths frühe Erzählungen errichteten kleine, statische Experimentierwelten, denen der rechte Lebensatem und vor allem das poetisierte Schweben, die Freiheit des bewussten Spiels mit eigenen Darstellungsmöglichkeiten und mit den Lesererwartungen fehlen. Es dürfte Einiges für die These sprechen, der eigentliche, poetische Erzählatem habe genau solange gefehlt, wie Roth sich den Grundfaktoren der eigenen Geschichte nur mit eindeutiger Distanzierung, Abspaltung und Neutralisierung zu nähern vermochte. Die mitunter despektierlich bescheinigte Undeutlichkeit des Verhältnisses von Erzähler und Figur in so manchem späteren epischen Werk Roths ist, von hier aus gesehen, eine fast unvermeidliche Folge der erzählerischen Reifung. Eine heftige innere Notwendigkeit, die Grundkonstanten zu bearbeiten, muss Roth jedoch bereits früh eigen gewesen sein. Einige Jahre später variierte er den von Anton Wanzl re-

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präsentierten Typ in Gabriel Stieglecker503, 23jähriger Buchhalter, Held der Erzählung »Karriere«: Er ist nun ganz und gar eine prototypische Verkörperung zwanghafter Ordnungsexistenz. Die Ambitionen des Erzählers sind allerdings auf den Kopf gestellt, ist doch dieser Gabriel eine Existenz von so überwältigender Banalität, dass der Erzähler hier umgekehrt seinen Ehrgeiz daran setzt, der luftleeren Welt des buchhalterischen Alltags wie unter dem Vergrößerungsglas Farbe und Poesie zu verleihen – was einen deutlichen Fortschritt in der Entwicklung von Roths erzählerischem Können bewies. Der Erzähler folgt in mikroskopischen Schritten den Federzügen des Buchhalters und macht daraus einen Akt grotesk-surrealer Einfühlung mitten in der durchgehend ironisch bis satirisch gefärbten Erzählung, was vermutlich dem Erzählanfänger einige Jahre zuvor noch nicht möglich gewesen wäre. Er produzierte hier, die Ambivalenz ungleich freier und schöpferischer transformierend, eine Mystik des Allergewöhnlichsten, eine Kabbala der Pedanterie, eine auf seine Weise ehrgeizige kleine Theosophie der Zwangsneurose. Gabriels Ziffern besitzen, im Unterschied zu Abermillionen anderen, die lieblos in Kolonnen gezwängt werden, eine Art von Seele: »Sie hatten eine persönliche Note, einen Charakter, waren Individualitäten. Die 3 hatte keinen Bauch, die 2 keinen Buckel, die 7 keinen Schwanz. Sondern alle Ziffern hatten ›Linie‹, waren zart und schlank wie moderne Frauen und konnten an künstlerischem Schwung nur von Modellzeichnungen in den neuesten Modezeitschriften übertroffen werden. Denn Gabriel Stieglecker liebte seine Geschöpfe, die Ziffern. Er blies ihnen sozusagen seinen Atem ein« (IV. 23f). Im Verlauf der Geschichte erfahren wir Einiges über die Gründe, die zum Rückzug der Individualität in minimalste Phantasienuancen des zwanghaft befolgten Verhaltensschemas – und übrigens zur Travestie des uralten Mythos von Dichter als gott-analogem Schöpfer – 503

Auch hier hat Roth einen sprechenden Namen gewählt: Die Assoziation von »Stieglecker« und »Stiefel-« oder »Speichellecker« ist deutlich.

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Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk

führte: Gabriel ist die Tatsache, dass er, sei es als Privatperson, sei es als Berufstätiger, Rechte besitzt, einfach unbekannt. Er ist nicht viel mehr als eine Leerstelle, die mit Anordnungen von außen in der Wirklichkeit verankert wird. Er ist, das wissen seine Vorgesetzten nur zu gut, durch kleinste Achtungsbeweise wie eine Marionette dirigierbar. Gunstbeweise aus der Chefetage fallen in Gabriels Welt wie aus einer anderen, höheren Seinssphäre herab. Ordnungszwang und Vergötzung von Autoritäten sind zwei Seiten derselben Sache. Diese Imagination des Ich als Leerstelle, das mit Imperativen von außen gefüllt wird, kann man wie auch Gabriels Animismus der Ziffern als darstellungstechnisch noch limitierte Vorgestalten der reiferen, humoresk und satirisch getönten Erzähllösungen verstehen. Roths spätere Romane verändern diese ambivalenten Strukturen und Motive nicht im Affektkern; sie überführen das aufgetane Grunddilemma lediglich in die großen Dimensionen von Geschichte und Politik und der erotischen Bindungen. Mit dem Aufsprengen der stofflichen Dimensionen eskalieren allerdings die Affekte. 3 Ambivalente Verführungen der Autokratie: »Das Spinnennetz« »Wie liebte er diese Zeit, Benjamin Lenz, diese Menschen. Wie wuchs er unter ihnen, gedieh, sammelte Macht, sammelte Geheimnisse, sammelte Geld, sammelte Freuden, sammelte Haß. Sein lauerndes Auge trank das Blut Europas, sein halbhöriges Ohr den Klang der Waffen, […]. Oh wie liebte sie Benjamin Lenz! Wie durfte er sie hassen und ihren [!] Haß nähren und großzüchten!« (IV. 116f) Die erste wirkliche jüdische Persona des Erzählers Joseph Roth kommt, wie auch sonst, aus dem Osten. Gebetsriemen, Passach und Mitzwah sind ihm Schall und Rauch, doch ist er ein großer Verächter – nicht der Ostjuden, der Christen, der Militärs, der Monarchisten, der Völkischen, der Frauen, der Kommunisten, nein, Benjamin Lenz, der Lodzer Jude, Spion in Kriegszeiten, unterweltlicher Aufsteiger neuerdings, ein Karrierist in lichtscheuen Kreisen Berlins, ist ein Feind

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der Menschen, ein Menschheitshasser sozusagen. Und weil er das ist, ist er Spion geworden, ein Spion aus Berufung, erfüllt mit Ingrimm und Ranküne, mit obsessivem Verlangen nach Entlarvung und Zersetzung. Sobald Roth sich erzählend einen Ostjuden erschuf, verhackte er sich in den etablierten Diskursen: Die Assoziation von Juden und Spionage ist ein »Stereotyp« des Diskurses bis in die Gegenwart504. Und Roth befreit sich von diesem Stereotyp nicht, sondern überbietet ihn! Lenz nämlich ist ein solcher Ausbund an erbitterter Misanthropie, dass er kein einfacher Spion sein und bleiben kann. Er spioniert doppelt, A verrät er an B und B an A. Und er behält sogar die Übersicht, als noch eine dritte Partei seine Schachervirtuosität – sie wird im Text seine »Intelligenz« genannt! – begehrt. Lenz ist kein Opfer, jedenfalls nicht dem Wortlaut des Romans nach. Benjamin zieht sich den Schuh des verachteten und darum zur Gegenwehr berechtigten Außenseiters durchaus nicht (nur) unfreiwillig an. »Selbsthass« im wörtlichen Sinne kennt er nicht: Benjamin ist keiner der Ostjuden, die das Entrée billet zur westlichen Kultur mit Verstellung und (offiziellen) Preisgabe des Glaubens oder tradierter Werte bezahlen. Er hasst nicht seine jüdische »Identität«; er hadert nicht einmal mit ihr, wiewohl oder obgleich ihm ganz offensichtlich ein zentrales Element der oben skizzierten, inneren kindheitlichen Ökonomie des Joseph Roth in grotesker Übertreibung vererbt wurde. Die eingangs des vorliegenden Kapitels zitierten Sätze weisen in einen ganz anderen Brandherd: Benjamin hasst die ihn ›Liebenden‹. Hass ist irgendwie auch Liebe (vielleicht kann man es als »wohlwollende Zuwendung« und gleichzeitig Bewunderung oder Respekt übersetzen), ja, der Hass kann gar nicht groß genug sein, 504

In seinem Roman »Operation Shylock. A Confession« (New York 1993) schickt Philip Roth eine Figur seines eigenen Namens in die Schlingen des israelischen Geheimdienstes, nachdem ein zweiter »Philip Roth« sich lange zuvor als Privatdetektiv und Leibwächter vorgestellt hatte. Dieser Doppelgänger wollte seit Kindheitstagen dem Vorbild Jonathan Pollard, einer jüdischen Agentenlegende, nacheifern und hoffte so, ein großer »Jude im FBI« zu werden.

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Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk

denn wenn er ein Maximum erreicht haben wird, so steht, wie wir im Laufe des kurzen Romans erfahren, das Ganze (des Staates oder sogar der Zivilisation) schon halbwegs in der von Lenz wollüstig ersehnten Katastrophe. Lenz wirkt wie ein selbsternannter, destruktiv gewendeter Jünger des »erlösenden Menschen« aus der wortgewittrigen »Genealogie der Moral« Nietzsches. Der war ein schöpferischer Hysteriker in noch einmal anderer Dimension als Joseph Roth. Entsprechend exaltiert wandte er die Methode der theatralischen Übertreibung an. Sein utopisch »erlöster Mensch« wäre wohl kaum erlösend im gewohnten Sinne gewesen, sondern utopisch, ein »Mensch der großen Liebe und Verachtung«505. Es ist in dieser Ambivalenz ein durchaus stabiles Beziehungsgeflecht, in das sich Lenz begeben hat, und zwar das ihm einzig mögliche: Er ist der Entscheidung, was Liebe, was Hass sei, enthoben, und beantwortet beide der Ambivalenz wegen unterschiedlos mit Hass506. Nur indem er unausgesetzt Rache an ihr übt, erträgt Lenz die Welt507. Er hasst nach Herzenslust, treibt alles Bestehende dem 505

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507

Vgl. Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. München 1954, Bd. 2, S. 835: »Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muß er uns doch kommen, der erlösende Mensch der großen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke mißverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei […]«. Eine Ausnahme scheinen die Verwandten für Lenz darzustellen: Er unterstützt seine daheimgebliebenen armen Angehörigen (siehe IV. 111), hat aber zum Bruder keine nennenswerte Bindung. Die Geldsendungen erkaufen eine absurde Bindung an seinen Ursprung im Osten und sind eher ein Alibi, um seinen Zerstörungshunger (der natürlich im Grunde ein Liebeshunger ist) zu begründen. »Er haßte Europa, Christentum, Juden, Monarchen, Republiken, Philosophie, Parteien, Ideale, Nationen. Er diente den Gewalten, um ihre Schwäche, ihre Bosheit, ihre Tücke, ihre Verwundbarkeit zu studieren. Er betrog sie mehr, als er ihnen nützte. […] Seine Klugheit haßte. Er war klüger als Politiker, Journalisten und alles, was Gewalt hatte und Mittel zur Macht. Er probte seine Kraft an ihnen. Er verriet die Organisationen an die politischen Gegner; […] er freute

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Untergang entgegen und kann dabei doch gebraucht oder geliebt werden wie kein zweiter. Anders gesagt: Er wird begehrt, ohne begehren zu müssen, er lebt in stabilen Bindungen, ohne Teil einer verpflichtenden Ordnung zu sein. In letzterer Hinsicht ähnelt er überraschenderweise dem »Wunderkind« Jackie Coogan, dem wir oben begegnet sind – mit dem allerdings fundamentalen Unterschied, dass Lenz die Ordnung, in die er eingebunden ist, der Zerstörung entgegenführt. Anders kann er auf die als überwältigend empfundene Kränkung und Missachtung nicht reagieren. Die Suche nach einem Platz in der gegenwärtigen Gesellschaft ist ihm so aussichtslos, die Sucht nach Anerkennung seines megalomanischen Wunsch-Ichs so brennend, dass er nichts Geringeres als den Untergang Europas (in seiner damaligen Form) avisiert, um »seinen Tag« (IV. 110f), die Stunde kolossalen Triumphes herbeizuführen: »Seine Idee hieß: Benjamin Lenz« (IV. 110). Ihm bleibt nichts zu tun, als den allgemeinen »Wahnsinn« sadistisch zu beschleunigen. Er »vergrößerte die Verwirrung, steigerte Freude am Blut, Lust am Töten, verriet einen an den anderen, beide dem dritten und diesen auch«. Nur eines durchschaut er nicht. Der ersehnte »Tag« ist ein Widerspruch in sich: Mit dem Erreichen seines Traumes wäre ja genau die Welt untergegangen, die er zwingen wollte, ihn angemessen zu würdigen und zu erhöhen. Was dieser große »Tag« sein soll, ist für ihn so unausdenkbar wie die Unterscheidung und Vermittlung von Liebe und Hass. Eigentümlicherweise gleicht Lenz in seinem maßlosen Versuch der Rache aus Hyperkompensation in mancher Hinsicht seinem Gegenspieler Theodor Lohse – der allerdings nicht von derselben, dramatischen Ambivalenz gesteuert wird. Lenz ist diesem Repräsentanten des tief verachteten »jungen Europa« (das »national und selbstsüchtig, ohne Glauben ohne Treue, blutdürstig und beschränkt« sein soll) innerlich verwandt und auch gefühlsmäßig durchaus verbunsich an dem gläubigen Gesicht des Betrogenen, der aus den falschen Tatsachen Kraft zu neuer Grausamkeit schöpfte […]« (IV. 110).

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den, wie schon P.W. Jansen beim Neudruck des jahrzehntelang verschwundenen Romans ahnte. »Der eine wie der andere sind sie Männer ohne Eigenschaften«, heißt es bei Jansen. Lenz allerdings verharre in Verneinung von Lohses Sehnsucht nach Bürgerlichkeit und Geborgenheit, da sie (die Negation) »die einzige Chance [sei], bei sich selbst zu bleiben, während sich ringsum, im Ausverkauf Europas, jedermann, jedes Volk, jede Nation an den Ladentisch der wohlfeil gewordenen Realitäten drängt, um sich möglichst billig, möglichst bunt, möglichst schillernd und möglichst falsch einzukleiden«508. Das klingt bündig und ist schlicht falsch: Nicht die Verachtung des Bürgerlichen, sondern jenes ›Oh, wie durfte er sie hassen, die ihn Liebenden‹ wütet im Herzen Benjamins. An einigen Stellen werden »sie« sogar zu »die Menschen« insgesamt (was man allerdings als kontextbedingte Ausdrucksform verstehen und auf die Zeitgenossen der eigenen Sphäre reduzieren kann). Es sind auch keine Heilslehren im gewohnten Sinn, die Lenz in Rage bringen, und er ist das Gegenteil eines Mannes ohne Eigenschaften, ist oder fühlt sich im unveräußerlichen Besitz zweier einander verwobener »Eigenschaften«, die sein Tun und Lassen diktieren: seinen Anspruch auf solitäre, räuberische Intelligenz und seinen grenzenlosen Willen zur sardonischen Macht, der verlangt, alle, die ihn lieben, nachdem er sie an der Nase herumgeführt hat, zu hassen und letztlich zu vernichten. Jansens Umgang mit dem Text ist typisch für sozialgeschichtlich orientierte Deutungen Roths: Sie bringen den bizarr überdehnten Text ins handliche Format eines politisch korrekten Verständigungsdiskurses, was man gern »Zeitdiagnose« nennt. Natürlich hat Roth seinem Lohse Züge eines Mitläufers nationalchauvinistischer Ideologien gegeben. Natürlich soll der »Nationaler Beobachter« an den »Völkischen Beobachter« gemahnen 509. Natürlich arbeitet er 508 509

Jansen 1967, S. 156. Aufzählung dieser Züge bei Wolfgang Duchkowitsch, »Gern fabulierte Theodor Lohse im ›Nationalen Beobachter‹«. In: Lughofer 2009, S. 17–28

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für eine Geheim-Organisation, die jeden Zeitgenossen an die »Organisation Consul« erinnerte, und natürlich hat er Persönlichkeitszüge, die man unter Freikorpslern gern findet 510. Doch nur ein mediokrer Verständigungsschriftsteller oder Allerweltsjournalist hätte einen Roman mit dem Zweck verfasst, Gesinnungen, die ohnehin jedem bekannt sind, »darzustellen«, will sagen: in eine empathieerweckende Story zu verpacken. Konventionelle Beschreibungen dieser Ähnlichkeiten zu zeitgeschichtlichen Verhaltensmustern gehen dementsprechend, wie schon die oben gebrachten Zitate vor Augen geführt haben sollten, am Sprachbestand und jeder Art Idee, die man genuin literarisch nennen könnte, vorbei. Roth benutzte viel eher das Genre des Verständigungsromans oder des ›vernünftigen‹ Sozialrealismus als Maske, um Abgründiges zu versuchen, eine postnietzscheanisch-nihilistische Psychologie gewaltbereiter Individuen. Im Falle Lenz gründet sie in einer alle Moralgrenzen sprengenden, entfesselten perfiden Rachsucht als Reaktion auf empfundene Kränkungen – und es ist für einen jüdischen Autor ein aberwitziges Ansinnen, diese konvulsivische Zerstörungssucht einem jüdischen Protagonisten vermacht zu haben: In groteske Übersteigerung getrieben wird hier ein antisemitisches Stereotyp, das von der ›zersetzenden‹ Natur der Juden. Bezeichnet man mit P.W. Jansen Benjamin Lenz als »Antithese zur institutionalisierten menschenfeindlichen Anarchie des Westens«511, stellt man den Text auf den Kopf – geleitet von unbewusst angewandten Normen des politisch Korrekten im Umgang mit Juden, die der junge Joseph Roth radikal zersprengte. Lenz verflucht in grenzenlosem Hass die »Ordnung Europas«. »Die Gemeinheit, der die Humanität zum Opfer in Europa fiel, nennen wir ›Ordnung‹«, schrieb Roth zwei Jahre zuvor in genau diesem Sinne (I. 632) und dürfte damit, dem damaligen Wortgebrauch der Republikverächter 510 511

Vgl. Helgard Kramer, Der soldatische Mann. Ein exemplarischer Aufstieg im ›Spinnenetz‹. In: Lughofer 2009, S. 29–48. Jansen 1967, S. 155. Meine Hervorhebung.

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links und rechts und im religiösen Milieu gemäß, das egalitär verfasste Westeuropa der in Gewaltenteilung aufgebauten, sich pluralisierenden und individualisierenden Staaten gemeint haben, das genaue Gegenteil von »Anarchie« also. Allerdings: Vielleicht könnte Ambivalenz den Irrtum Jansens etwas verständlicher machen: Der Kampf gegen ein Zuviel an (verpflichtender, manifester, systematischer) Ordnung, den Lenz ausdrücklich führt, »ist« im ambivalenten Charakter zugleich der Kampf für mehr Ordnung im Sinne eines sinnerfüllenden Eingebundensein – etwas, das man am Ende womöglich (wie Jansen) mit »Heil« bezeichnen könnte. Gewiss, Lenz fungiert auch als Gegenspieler Lohses und dessen gewaltbereiter Unterwerfung unter einen militanten Autokratismus (mit dem Startschuss am 2. November). Er ist jedoch in der Tiefe seiner Seele alles andere als ein Feind hierarchischer Ordnungen und schon gar kein Anarchist, umgekehrt gar der Ordnungsfanatiker schlechthin, ein apotheotisch gesteigerter Lohse, nur soll nicht eine soziale Idee das Prinzip der zu schaffenden Ordnung abgeben, sondern die »Idee Benjamin Lenz«! Sein Schicksal ist das Ausgeschlossensein, doch keines von passiven Opfern, im Gegenteil: Lenz labt sich an dieser inneren Unzugehörigkeit, weil er so das Geliebt- und Gebrauchtwerden maximieren kann, um desto abgründiger die ihn Liebenden hassen zu können. Nur insofern ist seine Gesinnung anarchistisch zersetzend, ansonsten bleibt sein Herz das eines solipsistischen Diktators. Die Bindungen sind dabei durchaus stabil – stabil ambivalent. Nur eine ist ohne Ambivalenz, jedenfalls ohne sichtbare, das ist die Bindung an sich, der »Idee« Benjamin Lenz selbst. Er will im Größenwahn die Welt niederbrennen, doch im Grunde will er das eigene, aus der Bindungsambivalenz geborene narzisstische Größen-Ich der Welt aufzuzwingen – vielleicht, weil er spürt, dass die Grenzenlosigkeit seines Hasses nur die Grenzenlosigkeit seines kleinkindlichen Liebes- und Geborgenheitswunsches ausdrückt. Um das abzuwehren, verkapselt er sich in ein phantasmagorisch aufgeblähtes »Ich«. Psychologen wie

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Wolfgang Schmidbauer (1999) würden ein solches narzisstisches, ichsüchtig übersteigertes Selbst mit einem »hysterischen« Selbst identifizieren – wobei Schmidbauer sich wohl nicht hätte ausmalen können, zu welch gigantomanischen Übertreibungen es dabei die neusachliche oder »sozialkritische« drapierte Phantasie eines Romanschriftstellers bringen kann. Lenz und Lohse sind hassliebende Brüder-im-Geiste oder eigentlich: Brüder einer ähnlich tiefen Kränkung, die hyperkompensiert werden soll durch Hass auf die bestehende, als Anarchie, Flachheit, Beliebigkeit erfahrene Sozial- und Wertordnung einerseits, durch die Unterwerfung unter ein autoritäres, aggressives Führerprinzip andererseits. Beide Protagonisten stehen bei aller Verwandtschaft für Pole im Kampf gegen die Ordnung des modernen Europa wohl auch für Pole autokratischer Sehnsüchte überhaupt: Lohse lechzt nach Führung und rückhaltlosem Dienen – dabei wird er heteronomes Moment in einer verschworenen Rotte und wirft seine Persönlichkeit aus Verlangen nach kollektiver Aktion dahin. Lenz lechzt nicht weniger nach Führung, auch er ist ein selbstloser Missionar einer misanthropischen Ersatzreligion um eine vergötzte Führergestalt, nur dass es sein eigenes Über-Ich ist, dem er zu Kreuze kriecht. 4 »Die Rebellion« Was einem Gabriel Stieglecker (s.o.) die Ordnung und Führung des Kontors, das ist einem Andreas Pum, dem Helden des Romans »Die Rebellion«, die des Vaterlandes. So sehr steckt ihm die sakrosankte Ordnung des Staates in Fleisch und Blut, dass selbst der Verlust des Beines auf dem Feld der Ehre ihn nicht erschüttern kann: »Er glaubte an einen gerechten Gott. Dieser verteilte Rückenmarkschüsse, Amputationen, aber auch Auszeichnungen nach Verdienst. Bedachte man es recht, so war der Verlust eines Beines nicht sehr schlimm und das Glück, eine Auszeichnung erhalten zu haben, ein großes. Ein Invalide durfte auf die Achtung der Welt rechnen. Ein ausgezeich-

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neter Invalide auf die der Regierung. Die Regierung ist etwas, das über den Menschen liegt wie der Himmel über der Erde. Was von ihr kommt, kann gut oder böse sein, aber immer ist es groß und übermächtig, unerforscht und unerforschbar, wenn auch manchmal für gewöhnliche Menschen verständlich« (IV. 245). In humoresker oder parodistischer Form legt Roth hier einem einfältigen Protagonisten eine kindliche Variante der eigenen Behütungsphantasien in die Gedanken – und die von ihm häufig beanspruchte Technik des Verfließenlassens von Figuren- und Erzählerperspektive wirkt wie so oft selbstironisch bezüglich der Erzählstimme, die augenzwinkernd offenlässt, was fremde und was eigene, wahre und parodierte Wunschvorstellungen sind. Mit einem Mal steht in diesem Roman fast schon der reife Roth vor uns, dem architektonischen Grundriss nach, aber auch in der rätselhaften Geringfügigkeit des Anlasses, der Andreas aus der alles Große und Kleine umspannenden, gottbefohlenen Ordnung wirft512. Zwei, drei hämische Worte nämlich genügen, um Pums himmlische und ewige Ordnung in einem Nu fortzuwischen – ein »Rätsel«, eine »Verzauberung« kommentiert der Erzähler (IV. 291)513. Die Absolutheit der staatlichen oder gesellschaftlichen Ordnung, die für Lohse und Lenz, Anton und Gabriel eine ganz und gar profane Angelegenheit war, wird nun (1924) plötzlich in einer verkindlichten Sprache der Religion beschrieben: Der Entzug der Drehorgellizenz ist für Andreas gleichbedeutend mit dem Entzug der göttlichen Gnade, er fühlt sich nun als Heide (IV. 300). Sein vermeintlich religiöser Glaube hing also daran, dass ihm väterliche Autoritäten, von deren Unterstützung er abhängt, gewogen sind und ihn quasi512

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Ein kleinmütiger Mitbürger unterstellt ihm Simulantentum, was den Jähzorn des braven Andreas in Sekundenschnelle überborden läßt und zu Händeln mit den Ordnungsorganen führt. Dass in die »Rebellion« des Andreas vielleicht die ostjüdische Art, mit seinem Gotte zu rechten, zu hadern oder – wie Mendel Singer – ihm zu schmollen, nachwirkt, erklärt nicht, weshalb gerade diese Struktur von Roth aufgegriffen wurde.

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persönlich beachten. Andreas Pum kehrt urplötzlich einer ganzen Welt den Rücken, die er nur Tage zuvor als Verkörperung gotterfüllter Gerechtigkeit gepriesen hatte. Im Karzer fühlt er sich rasch heimisch (IV. 305, 307), ja um nichts in der Welt möchte er das Leben hinter Gittern wieder aufgeben. Andreas Pum ist damit der erste der langen Reihe freiwilliger Exilanten oder Ausgegrenzter unter den Rothschen Figuren. Am Ende der Reihe steht der Trinker Andreas Kartak aus der »Legende«. Bei keinem von diesen ist die Exilierung eine Folge zwingender politischer oder sozialer Anlässe. Nur wenige Tage gehen ins Land, und die Welt sieht Andreas wieder freien Fußes. Mittlerweile ist sie jedoch nichts Geringeres als die Verkörperung des Wahnsinns schlechthin (IV. 303). Auch der Wiedereintritt in die Welt ist ein wundersamer Vorgang: Pums körperliche Erscheinung ist in den Stunden hinter Gittern schlagartig entstellt – »wie im Märchen« ist er über Nacht vergreist (IV. 317)514. Und wer solcherart – schuldlos wie Andreas Kartak der eigenen Auffassung nach – aus dem Körper der Gesellschaft, ja selbst aus dem Strom der Zeit entfernt worden ist und bei der Rückkehr eine umgestülpte, irrsinnig gewordene Welt vorfindet, der muss den Verstand verlieren, zum Verletzten oder Protestierenden werden. Andreas wählt letzteres, die »Rebellion«. Genau besehen will auch er ›nur‹, diese Welt möge vergehen, ist doch in ihr seines Rechtes nicht. Darin ganz offenbar eine Nachfolgegestalt von Benjamin Lenz515 – in anderem, durch artifizielle Naivität verfremdetem Erzählgewand. Ein großer Verächter der gegenwärtigen Ordnung ist Andreas nun – Jahre, bevor Joseph Roth selbst es sichtbar sein wird. Das Individuum Roth scheint mit Zeitverzögerung in die Kostüme der von 514

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Man erinnere die im Kapitel »Kleine Symptomatik« angeführte, von Riemann 1991 diagnostizierte Illusion des Hysterikers, außerhalb der Zeit stehen zu können. Andreas’ Sadismus ist dabei allerdings, im Gegensatz zu Lenzens, von bescheidenem Ausmaß. Zu seinen wenigen Genüssen gehört der Anblick eines Einbrechers in flagranti.

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ihm zuvor erschaffenen Gestalten geschlüpft zu sein. Vielleicht, weil sie eine Lösung der Ambivalenz gefunden zu haben versprechen? 5 Ein sozialistischer Held, die Rolle der Kolportage und die Fußangeln der (hysterischen) Liebe Der einzige »sozialistische« Held in Roths epischer Produktion, Friedrich Kargan (»Der stumme Prophet«, 1929), dient sich nicht aus Mitmenschlichkeit der kommunistischen Sache an. Er vollzieht einen Akt reiner Willkür, um der seelischen Obdachlosigkeit in der umbrechenden Welt zu entfliehen, ganz ähnlich jener Zuflucht ins Militär, die Roth sich in autobiographischen Fragmenten selbst andichtete. Die Grausamkeit, mit der Friedrich als kommunistischer Funktionär durchgreifen kann, ist eine Übertragung »ins TaktischMilitärische, was ihm seine angeborene Tücke seit seiner frühesten Jugend diktiert hatte« (IV. 885). Die Herkunft aus der seelischen Konfliktmasse der Kindheit Joseph Roths ist hier wiederum so offensichtlich wie die Bewusstheit des überzeichnenden Veräußerungsaktes. Der krypto-autobiographische ›Braver Junge‹-Text für Gustav Kiepenheuer, in dem Roth sich als giftig, böse und zugleich brav bezeichnet, sprach auch so direkt von seiner neidgeborenen Erbitterung und Verachtung der Armen, wie man es normalerweise aus Schonung sich selbst gegenüber gewiss nicht in der Öffentlichkeit täte, wenn man schon solche Gefühle hegt. Eine solche Entblößung niedriger Affekte – andernorts konnte er den akkuraten, horazliebenden Pennäler Moses Roth einen »Klugscheißer« nennen516 – mag mit dem Hintergedanken geschehen sein, besondere Souveränität und Unverstelltheit im Umgang mit sich selbst zu demonstrieren, oder auch zu suggerieren, diese Konflikte seien endgültig Vergangenheit. Roth verfängt sich auffälligerweise auch dabei wieder in befremdliches, rhetorisches Ungeschick: Die Armen »erschienen mir dumm 516

Bronsen 1974, S. 84.

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und ungeschickt. Auch hatte ich Angst vor jeder vulgären Äußerung. Ich war sehr glücklich, als ich in Horazʼ Odi profanum vulgus eine autoritative Bestätigung meiner Instinkte fand.«517 In seinem Gymnasium, das sich am deutschen Bildungsidealismus orientierte, dürften ihn tatsächlich derlei Affekte heimgesucht haben – jedoch stets konterkariert von gegenläufigen Gefühlen, der Sehnsucht nach Behütung und nach Verlust der exzessiven Selbstkontrolle beispielsweise, auch ein die eigenen Rachephantasien kompensierendes, demonstriertes Mitleiden mit den Armen, und natürlich nach Versorgt-, Behütet-, Geleitetwerden. Seinem Protagonisten Friedrich Kargan gab Roth ganz ähnliche, wiederum der Kränkung entsprungene Ambivalenzen mit auf den fiktionalen Lebensweg: »Man wußte nicht, daß seine stille und immer wache Höflichkeit eine kluge und schweigsame Arroganz verdeckte. […] Indessen haßte er seine Vorgesetzten, seine Lehrer, seinen Wohltäter und jede Art von Autorität. Er war feige, körperlichen Spielen mit Altersgenossen abgeneigt, […] ging jeder Gefahr aus dem Weg, und seine Angst war immer noch größer als seine Neugierde. Er bereitete sich vor, Rache an der Welt zu nehmen, von der er glaubte, sie behandelte ihn als einen Menschen zweiter Klasse« (IV. 780)518. Entsprechend besucht Friedrich die kommunistischen Versammlungen nur aus »Ehrgeiz« und resümiert korrekt, was dem Leser schon 130 Druckseiten zuvor aufgegangen, er »diene ohne Glauben« (IV. 913). Ähnliche Figuren der simulatorischen Beipflichtung eines emphatisch wertbasierten Sozial- und Sinnsystems trifft man in Roths Werk mehrfach, nicht nur in den »Erdbeeren«. 517 518

Bronsen 1974, S. 97. Kargan ist dabei unter seinesgleichen. Von einem kommunistischen Wortführer heißt es: »Er hätte ebenso gut Pogrome veranstalten können wie Banken ausrauben« (IV. 801). Roth lässt Friedrich seine große Enttäuschung mit der Partei erleben, als er die patriotische Bürgerlichkeit der Funktionäre ›Mitteldeutschlands‹ und ihres persönlichen Machtstrebens kennenlernt (vgl. IV. 902) – ausgerechnet Kargan, der von Anfang an mit falschen Zungen der Partei das Wort redet, um sich an der Welt zu rächen!

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Bezeichnend ist dabei wiederum, dass die Werturteile über bestimmte Gegenstände bei gleicher ambivalenter Gesamtstruktur gegenüber den zitierten Selbstcharakteristiken Roths komplementär verschieden ausfallen können: Statt Bravheit und stillem Anpassertum hier rohe Dominanz; statt Hass auf die Armen »aufrichtige« (!) Liebe zu den Armen. Allerdings, und das ist mindestens ebenso charakteristisch für die starke narzisstische Komponente der Hysterie oder, je nach Deutungsmodell, Instabilität der Persönlichkeit, nur Liebe zu den Armen, die ihn, Friedrich, beachten: »Er lernte in der Diskussion, um jeden Preis recht zu behalten. Er entwickelte seine starke Begabung für falsche Formulierungen. […] Er lernte, eine Schlagfertigkeit vorzutäuschen, die er in Wirklichkeit nicht besaß. Er sagte fremde Sätze aus Broschüren als seine eigenen auf. Er genoß Triumphe. Dennoch liebte er noch aufrichtig die Armen, die ihm zuhörten, und den roten Brand der Welt, den er entzünden wollte« (IV. 788). Es ist jedoch nicht nur die kindheitliche Kränkung (mit der enervierend viele Rothsche Helden ausgestattet sind), die zum Weltvernichtungswillen treibt. Weil Glücksversprechen und moralische Verfehltheit der Welt hinsichtlich der inneren Bedeutung für ihn dasselbe sind, rennt Friedrich gegen sie an – und wiederum verfällt Joseph Roth in plumpe Gefühlsausdrucksschemata: »Die Welt! Welch ein Wort! […] Sie strömte eine große Schönheit [!] aus, und sie barg eine große Ungerechtigkeit [sic]. Zweimal in der Woche hielt er es für nötig, sie zu vernichten, und in den anderen Tagen bereitete er sich vor, sie zu erobern […]« (IV. 788). Das dürfte in die literarische Groteske getriebene narzisstische Hysterie im Endstadium sein. Ambivalenz (und nur sie) erklärt, weshalb Friedrich so freudig in die Verbannung zieht. Er tut das nämlich paradoxerweise zu einer Zeit, da er endlich eine Heimat gefunden hat: Er ist mit einer jahrelang von fern begehrten Frau vereint und hat endlich auch eine ihm gemäße weltanschauliche Heimat gefunden, nachdem Herr von Maerker ihn als Jünger der habsburgischen Restauration gewann. Aus-

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gerechnet jetzt, da er angekommen ist, geht er wie selbstverständlich, ohne äußere Not, noch einmal nach Moskau, vorgeblich einer Parteiorder gehorchend. An der Oberfläche vermissen wir hier jede nachvollziehbare epische Motivation, der tieferen Psychologie der Bindungsambivalenz nach ist es sehr konsequent konstruiert. – Dieselbe psychologische Konsequenz, mit der Roth die Begegnung Friedrichs und seiner künftigen Frau gestaltet hatte: »Diese Begegnung mit einer schönen Frau war wie das erste Zusammentreffen mit einem Feind«, heißt es da zunächst (IV. 790). Die »Dame aus der Kutsche« nämlich ist menschlich und sozial für ihn unerreichbar – darum begehrt er sie. Weil er standesbedingt keines Blickes gewürdigt wird, hasst er sie zugleich und tritt deshalb [!] in Kontakt mit den Kommunisten. Nachdem er endlich Zugang zu dieser Elisabeth gefunden hatte, die »sich als der Mittelpunkt eines Kreises von Auserlesenen fühlte, die sie anbeteten und die sie selbst verehrte« (IV. 853), sind Friedrichs Empfindungen diese: »Fremd und ferne und beinahe feindlich erschien sie ihm in der Mitte der anderen. […] Er liebte ihre Stimme, aber nicht ihre Worte. Er liebte ihre Augen und haßte, was sie aufnahmen« (IV. 853f). Anbetung und Vernichtung im Hass sind gleichzeitig aktiv in dieser »Beziehung«. Roth ist allerdings so konsequent in seiner Konstruktion hysterischen Begehrens519, dass er Kargans eigentliche, zwingende Leidenschaft allererst entbrennen lässt, als Hilde Verachtung für jede verpflichtende Bindung demonstriert und sexuelle Libertinage zur Schau stellt, gleichwohl hörig ihrem ›alleinerziehenden‹ Vater gegenüber. Roth betreibt hier eben jene Art Laien-Psychoanalyse, gegen die er als Journalist stets polemisiert hatte. Hilde bezieht ihre Macht aus dem Verbund permanenter erotischer Offerte und zur Schau gestellter Austauschbarkeit ihrer Partner. – Darin ist sie ihrer kommunistischen Nachfolgerin in der ›Gunst‹ Friedrichs höchst verwandt. Die-

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Vgl. Israel 1993, S. 84ff. Die emanzipierte Hilde war mit Sicherheit eine angsteinflößende Reizfigur für Roth.

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ses Schema der Frauen-Macht trifft man in Roths Erzähltexten öfters. Es war gewiss mit Männerängsten verbunden. Friedrich muss ein ganzes Jahrzehnt schmachten, bis es zur Verbindung kommt. Kaum ist er allerdings am Ziel, tritt, der hochgestimmten Liebesschwüre ungeachtet, Lähmung und tödliche Flaute ein – ein Grundgesetz der Hysterie wird wirksam 520. Der ahasverische Held weiß das nur zu gut und dreht bei, noch bevor er das verheißene Ufer ganz erreicht hat. Da mag Senta-Hilde – jetzt, da er mit gleicher Münze heimzahlen kann, ist sie, dem Gesetz der Ambivalenz gemäß, wie verwandelt – noch so oft schwören: »Ich werde dir überallhin folgen. Selbst nach Sibirien« (IV. 924). Die Wende aus heiterem (oder leicht bewölktem) Himmel fasst Roth in zwei beiläufige Sätzchen: »Eigentlich wäre hier die Geschichte unseres Zeitgenossen Friedrich Kargan zu einem guten Ende geführt, wenn man darunter die endliche Heimkehr zu einer geliebten Frau verstehen will und die Perspektive, die sich […] auf eine Art häusliches Glück eröffnet. Aber das merkwürdige Schicksal Friedrichs oder die Unbeständigkeit seiner Natur [sic], die wir in dem vorliegenden Bericht kennengelernt haben, widerstreben einem so sanften Ausgang eines bewegten Lebens« (IV. 925). Nein, es ist keine unerklärliche »Unbeständigkeit seiner Natur«, die Friedrich umtreibt, sondern eine konstante, dilemmatische (hysterische) Bindungsstruktur. Friedrich ist nie ganz da, wohin es ihn verschlagen hat, doch er sucht fieberhaft nach Bindung und flieht sie zugleich, und zwar beides in Extremen: Er wird ein kleiner Savonarola des Sozialismus, eines scholastischen und inquisitorischen Systems, das alles einem strengen Kodex von Maximen unterwirft – Geschichte, Gesellschaft, Sexualität, Natur. Zu gleicher Zeit ist derselbe Friedrich der erbittertste Verächter dieses totalen Regelwerkes. Er ist fahrender Redner im Dienste einer glücklichen Menschheit und ein Menschenhasser, der es an Bosheit 520

Plastisch und mit einfühlendem Humor wird es von Israel 1993 beschrieben, begleitet von französischen Chansons, deren Sprache bis in die Wortwahl Roths Darstellung der »Liebe« von Friedrich und Hilde gleicht.

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und Zwanghaftigkeit mit Benjamin Lenz aufnehmen kann. Er hasst so objektlos (oder dissoziierend?) in seinem hysterischen Ambivalenzmechanismus gefangen, wie er »liebt« – sehr ähnlich wie Tunda: »Er betrauerte sie [Hilde] schon, noch ehe er sie gesehen hatte. Er liebte sie doppelt: als ein Ziel und als eine Verlorene. Er liebte das Heldentum seiner weiten und gefährlichen Wanderung. Er liebte die Opfer, die nötig waren, die Braut zu erreichen, und die Vergeblichkeit dieser Opfer« (IV. 396). Knapper und exakter lässt sich die hysterische Liebe nicht summieren521. Die strukturelle Äquivalenz des erotischen Dilemmas zum historischen reicht bis in die Wahl des Vokabulars: Man halte dazu den (oben bereits zitierten) Satz Roths über sein Verhältnis zum franzisko-josephinischen Reich daneben: »Und während ich es noch verurteilte, begann ich schon, es zu beklagen« (II. 910). Roth setzte wiederum Klischees des (verbalen und nonverbalen) Gefühlsausdrucks ein, als er seine Figuren ihre ›Liebe‹, also ihr vermeintlich Innerstes entdecken lässt. Die Liebesschwüre Friedrichs und Hildes wirken wie Einlagen von Strass, Schlagerseligkeit, Groschenroman in der sonst gedämpften, spielerisch entpathetisierten, scheinbar unpsychologischen Diktion. Die zuvor unauflösbare Mischung aus Begehren, Fremdheit und narzisstischer Strategie wandelt sich mit der Trennung in Eindeutigkeit, die Eindeutigkeit und entliehene Schein-Vollkommenheit des Kitsches. Die Liebeslockrufe Friedrichs und Hildes werden umso lauter, süßer, hemmungsloser, je sicherer sie sind, dass ihnen vorerst kein verbindliches Zusammensein folgt. Die hysterische Ambivalenz kann man als eine enge Verwandte des Narzissmus bezeichnen, insofern sie, solange insbesondere räumliche Trennung besteht, mehr Eindeutigkeit, ein vollkommeneres Glück, eine bedingungslosere Leidenschaft – im doppelten Wortsinn – »verlangt«. Das treibt beide Intensitätszustände 521

Unverblümt sagt es Tundas ›ferne Geliebte‹: Diese hält die Trennung ohne Wiederkehr gern aus, weil »anwesende Männer weit hinter Verschollenen zurückstehen.« (IV. 400).

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der hysterischen Liebe, die Vorfreude und den Verlust, in ungeahnte Intensitäten, und Joseph Roth in Versatzstücke des situationsgebundenen Gefühlsausdrucks, die er wiederum spielerisch verspottet: »Und auch er [Friedrich] tat schließlich die dümmste und männlichste aller Fragen, die im Sprachführer der Liebe verzeichnet stehen: ›Warum hast du nicht auf mich gewartet?‹ Und er bekam die unvermeidliche Antwort zu hören, die ihm jede andere Frau ebenfalls gegeben hätte und die keineswegs eine logische Antwort ist, sondern eher eine Fortsetzung dieser Frage: ›Ich habe immer nur dich geliebt!‹« (IV. 923f). Verspottet wird das Konfektionelle und Mechanische des erotischen Fühlens und Verhaltens, weil es subjektiv von den Figuren als das Bedeutsamste und Authentischste und Individuellste erlebt wird. Insofern ist der Spott auch klassisch ironisch angelegt. Ironisiert wird allerdings nicht das schulbuchmäßig Hysterische der Beziehungsstruktur selbst. 6 Das Motiv der Grenzschenke – die »helle Mitte« zwischen den Ordnungen Wir sahen bereits mehrfach, dass Roths stilistische und motivische Phantasie besonders von jenen Momenten entzündet wurde, an denen antagonistische Ordnungen der Werte, Bindungen und Identitäten aufeinandertreffen sollen. Er baute seine gesamte, idiosynkratische Weltanschauung auf einem antagonistischen Paar, das er in geographischer Sprache als »Westen« und »Osten« fasste. (Des zwanghaften Denkens in binären Oppositionen wegen gibt es bei ihm kein Norden und Süden.) Die verräumlichende Metaphorik konnte jedoch auch andere Gestalt annehmen. Und sehr häufig ist die bis zur Selbstparodie ausgestellte Banalität der Gefühle ein Indiz dafür, dass ein solches Aufeinanderprallen der Ordnungsschemata dargestellt wird. Von Friedrich Kargan heißt es am Schluss des ›Stummen Propheten‹, ihm sei eigen die »stolze Wehmut eines Einsamen, der am Rande der Freuden, der Torheiten und der Schmerzen

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wandelt« (IV. 929, Hervorhebung S.K.). Friedrich ist ein Grenzgänger in doppelter Hinsicht. Am Anfang seiner Irrwege treibt ihn, »Rache an der Welt zu nehmen« und dabei (!) »Staatsmann, Politiker, Diplomat zu werden«. Damit ist er eine Nachfolgegestalt des Benjamin Lenz. Doch schlägt er zu diesem Zweck nicht etwa eine bürgerliche Laufbahn ein, sondern geht »in eine der Grenzfilialen« des großväterlichen Geschäftes. Unterschlupf findet er an einem Ort, der eine feste Größe Joseph Rothscher Epik ist, in der Grenzschenke. Eine »helle Mitte« wird sie Roth später einmal nennen, diesen Sammelpunkt und Schmelztiegel der Ausgestoßenen, Verschlagenen, Exilierten, Illegalen aller Couleur: Es ist der Ort derjenigen, die sich weder der Ordnung noch der Unordnung alleine zuweisen lassen. Im Schlusskapitel werden wir mit dem Roman »Das falsche Gewicht« ein besonders drastisches Beispiel für Roths Verwendung von romantischen Außenseiterklischees kennenlernen, um diesen Ort auszumalen – in diesem Fall unangenehmerweise erweitert um Weiblichkeits- und Zigeunerklischees. Zwar gelten in dieser Grenzwelt die verhassten, positiv verfassten Rechtsnormen nicht oder nur zum Schein, insgeheim lebt man jedoch – und erst diese Ambivalenz macht die Grenzregion zu einer Schlüsselgegend für die Rothsche Phantasie – umso striktere soziale Hierarchien. Hier wirken wiederum Klischees des Männlichen hinein, insofern Mut, direkte Kampfeskraft, Mitleidlosigkeit, Bandentreue u.a. eine Rolle spielen – also gerade jene Attribute, die der späte Roth dem Militär vorenthalten hatte! Verschlagenheit ist hier eine Lebensmaxime, das genaue Gegenteil etwa von gutbürgerlichen Forderungen wie »Aufrichtigkeit«, Toleranz innerhalb sanktionierter Gesetzesordnungen und Rücksicht auf das Gemeinwohl. Die »Realität« des engen Gemeinschaftsgefühls in der Grenzschenke ist daran gebunden, dass die Männer (sic) sich per Alkohol derealisieren – und ihre gemeinsame Frontstellung gegen einklagbare, objektive Rechtsnormen bestätigen. Diese enge Verbindung rührt auch daher, dass Alkohol, in Maßen genossen, nicht nur Ängste

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und Begierden dämpfen, das Endorphinsystem anregen, Selbstüberschätzung bewirken und sexuelle Beziehungen anbahnen kann, sondern wohl auch die Degradierung der Frau zum Objekt verstärkt. Generell verhilft starker Alkoholkonsum zu einem Leben ohne planbare Zukunft, also einem »Leben in der Momentblase«; er erlöst vorübergehend von Zumutungen an ein sich verantwortlich in die Zukunft entwerfendes Ich. Das behütende Gemeinschaftsgefühl in der Grenzschenke ist daher eines, das paradoxerweise jederzeit aufgelöst werden könnte – bleibt jemand fort, wird sich niemand weiter um ihn bekümmern, es sei denn, seine persönlichen Vorteile sind betroffen. Roth postiert die Grenzschenke mal am Rand des ›Ostens‹, auf ukrainischem Boden, mal im ›Westen‹, am äußersten Rande des habsburgischen Hoheitsgebietes, mal im Osten des Westens, mal im Westen des Ostens. Ja, nicht selten konstruiert er für seine »helle Mitte« eine Grenze der Grenze: Die Schenke steht nicht nur (meistens) am äußersten Rand der Länder und Erdteile, sie steht auch (ausnahmslos) »am Rande« des Grenzstädtchens. Durch sie hindurch geht in einem scharfen Schnitt die Grenzlinie der Epochen, die Trennlinie einer guten alten patriarchalischen und einer sich modernisierenden, zunehmend dem Mammon und dem schnöden Eigennutz, den Fahrplänen, Verwaltungsapparaten, formellen Verbindlichkeiten, der Technik und Wissenschaft sowie dem Streben nach materiellem Komfort ergebenen Zeit. Doktor Demant etwa (»Radetzkymarsch«), einer der vielen in den Schlingen und Falltüren der Zeitenwende erstickten, letal geschwächten Geisteskinder Roths, ist wie sein »westliches« Pendant Carl Joseph, Enkel des Helden von Solferino, der späte Spross eines starken Vatergeschlechts, und Roth bedient alle Klischees, um einen vitalen, jüdischen Patriarchen, der vom Virus des »Westens« noch unangekränkelt war, zu zeichnen – und lässt ihn natürlich in der Grenzschenke residieren522. (Weitere Exemplare dieser Gattung finden sich in der »Kapuzinergruft« und im »Leviathan«.) Patriarchenlocken und ein in Glaube und Welt522

Vgl. V. 206.

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weisheit unerschütterlicher Gleichmut, also äußerste Kontinuität, Stabilität und Konsistenz der Persönlichkeit auf der Basis von Sinnerfülltheit und Souveränität der Lebensführung sind ihre Insignien; das Gegenmodell ist ziemlich genau die »Unbeständigkeit der Natur« Friedrich Kargans. Ist eine solche östlich-vormoderne, erratische Gestalt vom Bazillus der Moderne (des »Westens«) erst einmal angesteckt, ist sie, aller lockenprächtigen Gravität zum Trotz, nicht mehr eins mit sich, in Thora und Talmud versunken, sondern in Rechnungsbüchern. Hat die Moderne in einer zweiten Welle der Attacke auf ihr (fast) wehrloses Opfer, die organisch gewachsene Provinz der schwebenden Verbindlichkeiten und gesetzlosen Geborgenheit jenseits gesatzten Rechtes dann endgültig gesiegt, muss die mythische Größe des einstigen, starken Patriarchen dem Verbrechen weichen: Jadlowker (»Das falsche Gewicht«) ist Wirt der Grenzschenke geworden, nachdem er den angestammten jüdischen Betreiber ermordet hat. Die Grenzschenke war für Roth zumal seit den späteren 1920er Jahren ein Refugium, während ringsumher das Angestammte und Wahre und in sich Ruhende den Verführungen der Moderne erliegt: In »Die Kapuzinergruft« leben die Ausflugsgäste in ihr wie außerhalb der Zeit. Sie ist auch der Ort wortwörtlich lebensumstürzender Treffen: Die Begegnung mit dem eigenen höheren Selbst kann sich hier vollziehen wie etwa bei Nissen Piczenik (»Der Leviathan«). Es tauchen befremdliche Gestalten auf, die den Figuren eine ›höhere Bestimmung‹ offenbaren, den Weg in eine andere Ordnung weisen: Friedrich Kargan trifft in der Grenzschenke den »schwarzen Kaukasier Savelli« – Roth bedient in dicker Schminke exotistische Stereotypen, einen Heimatlosen, der ihn in die Fänge der Sozialisten führt und also auf exzentrische Umlaufbahnen schickt, dabei die in Friedrich je schon angelegte, innere Ambivalenz ins zuletzt unlebbare Extrem treibend. Durch die Savelli-Begegnung gerät er zum Grenzgänger im höheren Sinn, verschreibt sich nun der ›westlichen‹, mo-

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dernen, antiindividualistischen und vom Geist der effizienzorientierten Durchplanung bestimmten sozialistischen Totalordnung und wird, in einem zweiten, mit dem ersten unvermittelten und unvermittelbaren Ich ein ebenso radikaler ›östlicher‹ Anarchist, ein Entlarver der Lügen des westlichen »System«-Wahns wie Lenz. Aller Romantik der vitalen, vormodernen Ursprünglichkeit und des Außenseiterlebens zum Trotz, ließ Roth viele seiner Figuren rund um die Grenzschenke die hysterische Ambivalenz in radikaler Übertreibung bis zum bitteren Ende durchleiden: Kapturak, nirgends hingehörend als in die Zwischenräume der Ordnungen, verrät wie Benjamin Lenz alle an alle und verhehlt seine Lust daran auch gar nicht. Er ist Sinnbild eines zentralen Elementes der »hellen Mitte«, Inkarnation des eiskalten Nährbodens der an der Oberfläche so melancholisch zarten Ausflüge Roths nach Galizien und Wolhynien. Weil die Grenzschenke ein Ort der Entfesselung und buchstäblichen Entgrenzung gerade auch der Bindungs- und Ordnungskonflikte ist, spielt in ihr natürlich auch die vermutlich einzige Liebesgeschichte in Roths epischem Mikrokosmos, die diesen Namen verdient. Ästhetisch höchst prekär poetisiert sie drastisch romantische, ethnische und geschlechtsspezifische Klischees, doch davon abgesehen, fand der Autor hier immerhin zu einer Art Synthese der Bindungsambivalenz und ihrer neuromantischen Verklärung. Im Abschnitt über den Roman »Das falsche Gewicht« werden wir sie näher betrachten. 7 »Radetzkymarsch« Komische Theatralisierung der regressiven Sehnsucht nach allmächtigen, gütigen Vaterführern Der Held von Solferino, eigentlich ein gesichtslos maßgeschneiderter Mitläufer in den kaisertreuen Offiziersriegen des späten k.u.k. Reiches, hat die Göttin Gelegenheit beim Schopf gepackt und sich im Handstreich ins Licht der Weltgeschichte gerückt. Ebenso un-

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versehens wird er von dort vertrieben, durch einen der für Roth typischen, nichtigen Anlässe zum trotzigen Ausstieg aus der ubiquitär behütenden Ordnung verführt: Ironischerweise taucht seine kleine Heldentat mit den großen Folgen im Lesebuch seines Sohnes in fälschlicher Übertreibung auf! (V. 145–48) Es klingt, als spiele Roth hier selbstironisch mit seinem eigenen Trieb zur Übertreibung, mit den üblichen Elementen der Satire, Komik, Groteske, auch der Kolportage und des witzigen Arrangements von Versatzstücken. Jedenfalls ist auch hier der entscheidende Umschlagpunkt der Geschichte eine Auswirkung übermäßiger Kränkbarkeit, gefolgt von fast kindisch verbittertem Trotz, durch den viele Protagonisten Roths geschlagen sind. Und gefolgt von einer Verwandlung der allumfassenden, behütenden, vom freien Ich erlösenden Sinn- und Sozialordnung in einen elegischen Tagtraum eben dieser somit verlorenen Ordnung. Weil disproportionale Kränkung der Anlass zum Ab- und Ausbruch war und eine zuvor verdrängte Ambivalenz (und damit Labilität) der Einbindung sichtbar machte, bleibt nach erfolgtem Ausbruch oder Umsturz die affektive Bindung an den Zustand vor dem Umbruch erhalten: Die Figuren kommen innerlich nicht los vom Zustand vor der zornigen Trennung, als wären sie mit der straffen Ordnung auf Gedeih und Verderb verheiratet oder deren Leibeigene gewesen. Der Zustand vor dem Aus- oder Umbruch wird in der subjektiven Rückschau zum Verlust eines verlorenen Behütungszustandes. Erst der Verlust scheint die Erfülltheit des verlorenen Zustandes bewusst zu machen – oder sogar erinnernd herzustellen. Dieser Verlust nach dem Ausbruch kann elegisch ausgetragen und im »Radetzkymarsch« sogar als lebensbestimmende Kraft zelebriert werden; er kann in theatralisch gesteigerte »Liebe« und/oder Hass gegen die früheren Bindungskontexte umschlagen, oder der Bruch wird als innere Vergleichgültigung erlebt und inszeniert, als trotziges Einleben im Ausgegrenztwerden beispielsweise.

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Dass und wie diese innere Labilität und das typische Umbrechen mit Roths Poetik der unvorhersehbaren Verwandlungen aller Dinge zusammenhängt, liegt auf der Hand. Diese Kränkbarkeit gründet in Ambivalenz, die typischerweise eine absichtsvolle, aus Erfahrungen lernende Selbstentfaltung verunmöglicht und stattdessen das Umstürzen von überbehütenden Ordnungen und Einbindungen in trotzige Ausbrüche zum zentralen Entwicklungsmodus macht. Ob man die hysterische Kränkbarkeit und Instabilität eher als sogenannt »impulsives Handeln« oder der für »Persönlichkeiten des BorderlineSpektrums« typischen Verletztlichkeit interpretieren will, spielt für das Erfassen der erzählenden Personenkonstruktion erst einmal keine Rolle. Diese Struktur der Bindungsambivalenz, verbunden mit Ordnungs- und Identitätsambivalenz, findet sich bei Roth in der Konstruktion intimer Bindungen, sozialer wie der eines bestimmten Berufsstandes oder in der Konstruktion des quasi-katastrophischen Bruchs in der Geschichte, die der Erste Weltkrieg gewesen sein soll: Katastrophisch erscheint der nicht, weil er der erste Massenvernichtungskrieg war, also nicht eigentlich seiner neuen Dimensionen technisierter Gewalt und damit nicht der soldatischen Maskulinität wegen; diese erscheinen bei Roth gar nie als solche. Einesteils vielleicht, weil sein demonstrativ an mündliche Reduktion anlehnender und durchgehend spielerisch humoristisch verkleinernder Erzählton der reiferen Texte das gar nicht zuließ. Andernteils, weil Roth nur die Konstruktion der Individuen interessierte und Geschichte als Staffage und halbernst zusammengemischte Kulisse des Dramas verhandelt wird. Auch die Schlacht bei Solferino, realiter eine der größten und blutigsten Schlachten des 19. Jahrhunderts, kommt bei Roth eher als bunter, nicht sehr ernst zu nehmender Reigen vor, als eine auf das Format einer Bühnenszene verkleinerte Katastrophe, gerade noch groß genug, eine Kulisse für das Histörchen der zufälligen, von einfacher, empathischer Anhänglichkeit und nicht von militärischem Talent oder Mut geleiteten Heldentat Trottas zu haben.

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Kurz: Auch und gerade der Massenvernichtungskrieg nach 1914 interessierte den Erzähler Roth nur als Kulisse, als eine Art RealGleichnis: Als durch innere, seelische Erosion angebahnte und dann tragisch hereingebrochene Katastrophe, die eine bestimmte Form von sinnerfüllender Einbindung des Individuum in soziale und werthafte, behütende Hierarchien unwiederbringlich zerstört haben soll. Allerdings behandelte Roth die Chiffre des Ersten Weltkriegs meist so spielerisch, ironisch und in demonstrierter Versatzstückästhetik, dass Leser nie wissen, ob der Erzähler selbst das Historische besonders gewichtig nimmt, und das Auftragen historisierender Patina nicht immer auch sich selbst ironisiert. Die k.u.k Ordnung wird im »Radetzkymarsch« denkbar unhistorisch und unpolitisch als hierarchische, von sanften göttlichen und apostolischen Instanzen nach unten durchgestaltete Sozial- und Sinnstiftungsordnung gedacht, als Quellgrund für unwiederbringlich verlorene, soziale und seelische Beheimatung, in der das Subjekt noch nicht der Obdachlosigkeit des modernen Pluralismus und Individualismus ausgesetzt war. Der »Radetzkymarsch« bringt damit kein neues Modell der Geschichte, sondern variiert lediglich das Grundmodell Roth, in dem er das Ambivalenzdilemma in die Geschichte projizierte: Statt gelähmt zu sein, weil das Dilemma keine stabile Lösung dafür zulässt, welche Formen der Ein-Ordnung und folglich der persönlichen Identität gewählt und selbstbewusst gestaltet werden, ist man nun gelähmt, weil angeblich (von Ausnahmen abgesehen) eine ganze Lebensordnung oder zumindest das die Staatsordnung repräsentierende Militär gelähmt sein soll. Die libidinöse Bindung des Erzählers gilt daher nicht einem erfüllten Ganzheitszustand, aus den ein rätselhaftes Geschick oder bloße Trotzreaktion das Individuum vertrieben haben, sondern einem Zwischenzustand, in dem die Akteure zwar noch sicher sind, dass ihre historische Sinn- und Sozialordnung einmal die absolute und alternativlose war, doch ebenso sicher, dass diese nie mehr wiederkehren wird. Das Einschwingen in die Lähmung tröstet, weil in

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ihr der alles durchdringende, melancholische Tagtraum von der unmöglich gewordenen Ganzheit wach bleibt. Die Gewissheit, dass Ich-Aufhebung in Sinn-Ganzheiten real werden kann, wird im Modus des Verlustschmerzes aktualisiert. In dieser umfassenden SinnGanzheit ist man vor jeder aktiven, freien, individuellen Ich-Gestaltung entbunden, das heißt, man bleibt von den Zumutungen der individuellen, freien, verantwortlichen Selbstgestaltung verschont, die dann in der sich turbulent modernisierenden und pluralisierenden Weimarer bzw. Ersten Österreichischen Republik tatsächlich schlagartig hereinbrach – vorbereitet vor dem Ersten Weltkrieg in Kulturzirkeln, Reformbewegungen der Pädagogen, Körpererfahrung, Jugendmusikbewegung, Homosexuellen- und Frauenemanzipation, die etwa in Paris oder London längst etabliert war. Das ganze, in historische Kulissen versetzte Geschehen ist im Kern zuallererst ein Drama des sich frei bestimmen müssenden Ichs in einer Zeit hinwegbrechender metaphysischer Wert- und Sozialhierarchien – wobei im Roman diese Gewissheiten selbst ironisch gebrochen werden: Man erkennt und/oder erzeugt diese Vorstellung von umhüllender, behütender Sozialordnung allererst im Augenblick, da man deren Verlust zu fühlen glaubt. Leid- und wonnevoll wird man zum Betrachter der eigenen Hilflosigkeit und Abhängigkeit von (wohl nur in der eigenen Einbildung wirklich existierenden) Behütungs- und Leitinstanzen – und im selben Maß, wie man sich lustvoll der Regression und Lähmung ergibt, kann das zentrale Versprechen der westlichen Moderne und ihrer diversen Emanzipationsprojekte nur als feindliche Macht, als Bedrohung und Verfallsmodus erscheinen. Das gilt auch etwa für die Versuche der Arbeiterschaft, stärker an der Gestaltungsmacht der Gesellschaft und am Wohlstand zu partizipieren. Die Arbeiter werden im Roman mit der dräuenden Katastrophe eines Krieges assoziiert (vgl. V. 332), also nicht mit Emanzipation, Aufbruch, Selbstermächtigung, Mündigwerden des einfachen Volkes. Es gilt auch für alle Versuche der Völker, sich vom siechen Imperium und seiner weltanschaulichen und sozialen

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Bevormundung zu emanzipieren, also größere Selbstbestimmung als Volk, Ethnie, Nation, Minderheit oder als Frau zu erlangen. Was durch das Einschwingen in die dekadente Lähmung des Trotta-Milieus abgewehrt wird, ist zuallererst jeder Versuch, das Individuum als sich selbst sexuell, sozial und weltanschaulich wählendes und daher mit egalitärer »Würde« gesegnetes Wesen ins Zentrum zu stellen, ohne ihm andere weltanschauliche Vorschriften zu machen als diese – ein sich frei wählendes und im Zusammenspiel mit anderen freien Individuen gestaltendes Einzelwesen zu sein, und von dieser Maxime her die Gesellschaft neu zu denken. Aus diesem Kerngedanken der anglo-amerikanischen und französisch initiierten politischen Moderne resultiert der zentrale Imperativ der Eigenverantwortung, der naturgemäß immer auch eine erhebliche Last bedeutet. Diese Idee ist die bedrohlichste, ungreifbarste von allen, denen im Roman (also von jeweiligen Figuren, nicht unbedingt vom Autor selbst) die Schuld am Verlust der Lebenskraft und des ganzheitlichen, väterlich leitenden und behütenden Sinns zugeschrieben wird. Roth hat diese Diagnose einer seiner Figuren selbst in den Mund gelegt. Es ist gewiss bloß eine von vielen möglichen Perspektiven, doch Dr. Skowronnek ist ein sonst wenig involvierter, recht rationaler und pragmatischer Zeitgenosse, Schachpartner des Bezirkshauptmanns. Dieser hatte sich am Tag zuvor durchgerungen, seinem Sohn endlich die »Verantwortung« (V. 368) für sein Leben zurückzugeben – selbst wenn dies bedeuten sollte, aus der Armee zu scheiden, was den Austritt aus einer alles einhüllenden Sinnordnung bedeutet. Nicht zufällig ist es mit Skowronnek ein außerhalb der zentralen Staatsinstitutionen Lebender, der dem Bezirkshauptmann rät, was jeder aufgeklärte Mitmensch längst geraten hätte. Stattdessen hatte der Bezirkshauptmann sein tradiertes, patriarchales Recht auf Bevormundung ausgeübt – und die Erziehung daraufhin angelegt, dass das aufklärerische Ziel einer möglichst großen Selbstbestimmungsfähigkeit verhindert wird. Was mit dem Ersten Weltkrieg wie ein überweltliches Katastrophengeschehen sich ankündigt, ist

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nicht der Krieg an sich – sondern die aufgeklärte Freisetzung des Einzelnen von weltanschaulicher, sexueller, religiöser, moralischer Bevormundung durch väterliche Autoritätsinstanzen und damit die Zumutung der modernen, pluralen Autonomisierung des Einzelnen. Roths angeblich historischer Roman ist nicht zuletzt eine komische, weil fast absurd aufgeblähte Projektion seiner eigenen VaterAmbivalenz (einschließlich der lebenslangen Suche nach einem gütigen, Stabilität schaffenden Vater und die permanenten Konflikte mit Autoritätspersonen) in eine historische Kulisse: Der Bezirkshauptmann hat eben diese Erziehung zur individuellen Mündigkeit unterlassen – und der Sohn (Carl Joseph) wird denn auch entsprechend handeln: Sobald er seine Freiheit erlangt, ergibt er sich dem Verfall und Trunk. Gemeinsam mit seinen Vätern ist ihm, dass er keine erfüllenden, persönlichen Bindungen und keinerlei erfüllende intime Bindungen besitzt, also gerade das nicht, wodurch der in Freiheit gesetzte Mensch der Moderne (wenn man von Religion und Beruf absieht) sich im Regelfall selbst finden, einbinden und spiegeln kann. In der Romanexposition fährt der frisch gebackene Held von Solferino nach der kurzen Audienz beim Kaiser sogleich zu seinem eigenen Vater in dessen ärmliche Dienstwohnung. (Er war zuvor schlicht nicht in der Lage, das Außerordentliche seiner erhebenden Verwandlung im alle zwei Wochen gehorsamst anzufertigenden Brief an den Vater in Worte zu fassen!) Grotesk überhöht in vielen Details wird der Kontrast der nunmehr glanzvollen Erscheinung des Sohnes zur Ärmlichkeit des Vaters vor Augen geführt – wie so oft an entscheidenden Stellen, präsentieren sich das triefende Sentiment und die Banalität der angeblich religiösen Würde schmunzelnd und ironisierend mit billigen Lyrismen aufgeschminkt: Er stand »mitten in dieser ärmlichen und ärarischen Traulichkeit wie ein militärischer Gott, mit glitzernder Feldbunde, lackiertem Helm, der eine Art eigenen schwarzen Sonnenscheins verbreitete, in glatten, gewichsten Zugstiefeln, mit schimmernden Sporen, mit zwei Reihen glänzender,

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beinahe flackernder [!] Knöpfe am Rock und von der überirdischen Macht des Maria-Theresia-Ordens gesegnet« (V. 143). Die Aura der Szene kommt daher wie ein überschminkter Pope in einer derben Volkskomödie oder ein antiker Heroe im Possenformat. Nur soll bei Roth vielleicht in Erinnerung an ähnliche Ambitionen des Komischen bei Heinrich von Kleist oder Nestroy in einer solchen Farce dennoch oder gerade deshalb die metaphysische Substanz der Romanhandlung stecken: Dass der ›gottähnliche‹ Sohn dem gravitätisch langsam sich erhebenden Vater seinen Kopf beugt, ihm die Hand küsst und je einen Kuss auf Stirn und Wange empfängt, erscheint wie eine hilflose oder kindische Imitation einer alttestamentarischen Szene – und dennoch steckt darin, mit der Kaiseraudienz zusammen gelesen, die Substanz der halluzinierten Welt vollkommener Sinnerfüllung, Ergebenheit und Behütung, deren Untergang die Trottas bald nachsterben werden. Ein wenig ist es, als könne der Autor eine solch kindische Idee selbst nur mit Spott und im Modus der Farce ertragen – Distanz zu sich und seinen regressiven Sehnsüchten gewinnt er so nicht, dafür jedoch die unausgesetzte Nötigung zu Humor, Ironie, zum Übertreiben von Ausdruck und Geschehen in die Posse, um sich vor dem Leser zu verstecken und doch vernehmbar zu bleiben. Dass der Erzähler sich selbst als Wunschwesen eigentlich nur in possenhaft gesteigerter und komisch depotenzierter Inszenierung ertrug, heißt nicht, dass es einen anderen Autor Roth neben diesem gegeben habe, der gleichsam vernünftig und distanziert dem Treiben des anderen Ich neutral distanziert zusah. Vielmehr ist diese Nichtexistenz eines eigentlichen Autors jenseits der kurios überschminkten Theatralisierung der Rede und der Gegenstände ein Grund, weshalb Roth nur im Schreiben ganz »er selbst« war und sich als Teil des Lebens fühlte, gebunden, ohne »fixiert« zu werden – und natürlich einer der Hauptgründe, weshalb in Roths (späteren) Romanen kaum ein Satz von Komik, Humor, Ironie, Satire oder Selbstparodie frei ist.

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Dr. Skowronnek bestätigt den Bezirkshauptmann in seiner Entscheidung – das allerdings in charakteristischer Selbstwidersprüchlichkeit: »Man kann keine Verantwortung tragen!« sagt er zunächst uneingeschränkt verallgemeinernd (V. 370), um dann fortzufahren: »Kein Mensch darf für den andern eine Verantwortung tragen.« (ebd.) Kann man also generell keine Verantwortung tragen oder darf man es nicht und zwar nur für andere nicht? Das ist eine der ungezählten Stellen in Rothschen Texten, an denen man unsicher wird, ob hier Freudsche Fehlleistungen geschehen oder nur simuliert werden – und somit die Ambivalenz sich unbewusst in Selbstwidersprüchen ausdrückt oder dieses Sich-Ausdrücken nur simuliert oder bewusst in Kauf genommen wird. Dass Roth Ambivalenz in Beziehung auf die Verantwortung und Autonomie des Einzelnen gestaltet, ist evident, denn er setzt den Dialog so fort: »›Mein Vater hat sie [die Verantwortung] für mich getragen‹, sagte der Bezirkshauptmann, ›mein Großvater für meinen Vater‹.« (V. 371) Das heißt: anstelle eines erwachsenen Individuums habe dessen Vater die Verantwortung im doppelten Wortsinn für diesen »getragen« und ihn so eigentlich in dauerhafter, halber Unmündigkeit gehalten. Und der Vater des Vaters hatte es ebenso gemacht. Skowronnek lässt sich von dieser genau besehen höchst seltsamen Behauptung zu einer dritten, mit seinen beiden zuvor geäußerten, abermals unvermittelbar verschiedenen Behauptung hinreißen: Wie in Mimikri an das Weltbild des Bezirkshauptmanns verlängert er die Reihe der Väter bis zum himmlischen Vater: »›Es war damals anders‹, erwiderte Skowronnek. ›Nicht einmal der Kaiser trägt heute die Verantwortung für seine Monarchie. Ja, es scheint, daß Gott selbst die Verantwortung für die Welt nicht mehr tragen will. Es war damals leichter! Alles war gesichert. Jeder Stein lag auf seinem Platz. Die Straßen des Lebens waren wohl gepflastert. Die sicheren Dächer lagen über den Mauern der Häuser. Aber heute, Herr Bezirkshauptmann, heute liegen die Steine auf den Straßen quer und verworren und in gefährlichen Haufen, und die Dächer haben Löcher, und in die Häuser regnet es, und jeder muß

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selber wissen, welche Straße er geht und in was für ein Haus er zieht.‹« (V. 371) Der Zusammenbruch des Reiches wird hier dem Wortlaut nach als Verlust der Verantwortung rekonstruiert, und dieser Verlust im selben Atemzug mit dem Wandel des ästhetischen Blicks auf die Welt assoziiert – doch der Verlust von Verantwortung ist genau besehen die gestiegene Zumutung an Freiheit und Eigenverantwortung, die die Moderne mit sich bringt, denn Verantwortung hatten immer die anderen und zuletzt der übermenschliche, apostolische Vaterkaiser. Der Verfall betrifft gerade nicht die Verantwortung im gewohnten Sinne, sondern meint das Wegbrechen vorgegebener Bahnen der sinnhaften, sozialen und individuellen Selbstbestimmung des Einzelnen wie der sozialen Gruppen. Insofern haben wir es mit einem prototypischen Fall von Ambivalenz im Bereich des Wortlautes zu tun: Die Diagnose meint das Gegenteil dessen, was im simplen Wortlaut ausgesagt zu werden scheint. Das, was als Verfall der historischen Ganzheit ausgegeben wird, ist eine bloße Chiffre für das Leiden an der enttäuschten Sehnsucht nach Fremdbestimmung durch eine halluzinierte Vater-Behütungs-Instanz. Zudem liefert Skowronnek eine Legitimation der eigenen Lähmung des Gestaltungswillens: Man wäre paradoxerweise nur dann fähig, Selbst und Welt aktiv und zukunftsfreudig zu gestalten, wenn man keine Verantwortung übernehmen müsste, weil der Kaiser und damit letztlich der Vatergott für einen Verantwortung »tragen«. Als solche artikuliert erzwänge diese treibende Sehnsucht nach Fremdbestimmung panische Gegenreaktionen: Roth müsste in das extreme Gegenteil des Abbruchs aller Bindungen verfallen oder mit ihm drohen – also das, was er, in sich wiederum höchst ambivalent, seinen Trottas in Bezug auf die militärische Ordnung anhing. Die regressive Sehnsucht kann im Erwachsenenleben naturgemäß nicht erfüllt werden. Roth maskiert seine gewiss auch biographisch gefärbten, doch vor allem zeittypischen Sehnsüchte nach »überparteilicher« Führung und Autorität, die die Zumutungen der modernen Eigenverantwortung gleichsam rückabwickeln sollte, durch zwei

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Dinge: die historischen Kulissen, welche das Drama der Identität und der Bindung in Gemeinschaften und an Autoritätsfiguren als eines der äußeren, geschichtlichen Welt ausgeben können. Und zweitens durch Humor und Ironie. So verwandelt er regressive Begierden in ironisches Schweben: Die Sehnsucht nach Behütung wird überführt in den ästhetischen Schein der souveränen, weil ironisch gebrochenen und verkleideten Gestaltung eigener Sentimentalität. Die ohnmächtige Erstarrung der Figuren, eigentlich (vorwiegend) aus individuellen psychologischen Konflikten um Selbstbestimmung, Bindung, Eigen- und Fremdverantwortung hervorgegangen, erscheint als wohliges Einschwingen in den Untergang einer historischen Lebensform – der Figuren aber auch des Erzählers. Der Erzähler allerdings kann sich dabei im Gegensatz zu den meisten Figuren immer auch vom Geschehen distanzieren – via Ironie und Humor versichert er sich und dem Leser, alles sei doch bloß ein Spiel. Solche Distanzierung von eigenen Sehnsüchten kann auch ganz direkt erfolgen, etwa indem der Erzähler bittet, die im Sentiment badenden Figuren nicht für voll zu nehmen: So lässt Roth Skowronnek erkennen, »daß der Bezirkshauptmann zu jenen einfachen Naturen gehörte, die gleichsam noch einmal in die Schule geschickt werden mußten. Und er beschloß, den Bezirkshauptmann wie ein Kind zu behandeln, das eben seine Muttersprache lernen soll.« (V. 366) Ähnlich offen und zugleich humoresk gebrochen wird auch die mehr oder minder naive Art behandelt, wie der Erzähler sich den Krieg ankündigen lässt – als komme der innere Verfall wie ein äußeres, schicksalhaftes Geschehen über die Figuren, dem sie in wohliger Schauerlichkeit begegnen. Das ist eine auch erzähltechnisch denkbar anspruchslose und reichlich abgegriffene Art von Veranschaulichung. Die eigentliche Mystifikation dieser inneren Tragödie dürfte jedoch in der Anwendung eines weiteren, naheliegenden Kunstgriffs liegen: Der Insinuation, das eigentliche Geschehen sei so ungreifbar und bedeutungsgeladen, dass es nicht selbst (ohne den Umweg über die verschiedenen Perspektiven) dargestellt wer-

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den könne, sondern nur in der Brechung einer Vielfalt subjektiver, auf ihre Weise relativer Deutungen. Natürlich sind nicht alle Figuren gleichermaßen verfallsaffin und autonomieängstig wie die Linie Trotta, doch die bilden den Kern und sollen gleichnishaft für die Monarchie im Ganzen stehen. Roths Konstruktion der Verantwortungs-Delegations-Kette ist so schlicht wie alternativlos: Würde er die regressive Sehnsucht nach väterlicher Behütung vor der eigenen Autonomie nicht über Großvater und Kaiservater bis zur Instanz eines Vatergottes verlängern, wäre die Konsequenz aus der Einsicht in das Wegbrechen der väterlichen Behütung und Bevormundung kaum zu vermeiden – es müsste der Aufstand gegen eben diese Bevormundung und der Durchbruch zur eigenen, lustvoll erfahrenen Autonomie sein. Das seinerseits frappierend banale und naive Postulat eines solchen humanoiden Vatergottes über dem Kaiservater soll diesen fast unvermeidlichen Gedanken vertreiben – und jene, die den Kontakt mit dem behütenden Vatergott verloren haben, mit Todessehnsucht schlagen. Trottas Angst vor der eigenmächtigen Gestaltung des Selbst und des Lebens muss andererseits so stark sein, dass lieber die apathische Lust am Niedergang gewählt wird – wenn auch die äußeren Gründe dafür divergieren. Kränkung spielt meist mit, gerade beim an sich klugen Dr. Demant: Er wählt den Tod, weil er einsehen muss, dass er sexuell und finanziell seine Ehefrau nicht beeindrucken, er somit die Männerkonkurrenz ob kurz oder lang verlieren wird. Das Habsburgische ist gegenüber dieser inneren Tragödie eine beliebige, austauschbare Kulisse und auch die antisemitischen Anpöbeleien kommen nur marginal hinzu. Der »Radetzkymarsch« teilt mit anderen Erzähltexten Roths ein grundlegendes Strukturmuster: Dem versuchten sozialen Aufstieg in einer formal durchregulierten Ordnung folgt eine schicksalshafte Peripetie, hier wiederum in Gestalt eines kränkungsbedingten Aus- und Umbruchs aller Bindungen. Der »Radetzkymarsch« wiederholt die-

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ses Auf und Ab (bzw. Hinein und Hinaus) gleich drei Mal, verteilt auf vier Generationen. Einem kleinen Aufstieg des Helden-Vaters folgt ein noch kleinerer Abbruch, der einem erneuten, hohen Aufstieg bis zur Klimax in der Heldentat bei Solferino und anschließender Adelung vorausgeht, die wiederum in einen desto tieferen Absturz in die östliche Provinz münden. Ein langsamer, dritter Aufstieg führt den Sohn des Helden – »verantwortet« sprich: befohlen vom Vater – bis zum respektablen Zivilbeamten (Bezirkshauptmann), dessen Sohn Carl Joseph dann noch einmal eine kleine Peripetie erlebt, wiederum im Militär, wiederum auf väterliche Weisung, in eigenartiger, innerer Leere. Sein Untergang ist keiner mehr, der von glänzender Heldentat in kindischen Trotz führt, sondern in einer kleinen kameradschaftlichen Handlung fernab aller Geschichtsbücher direkt in einen denkbar überflüssigen Tod. Es ist die erste Katastrophe, die wirklich schicksalhaft über die Trottasche Linie hereinbricht. Allerdings: Wäre seine Unfähigkeit, sich zu autonomer Selbstwahl zu entschließen, geringer gewesen; hätte Carl Joseph längst einmal wirklich »ich« gesagt und wäre aus dem Militär ausgetreten, hätte er sich diesen Tod erspart. Der ist nur die konsequente Fortsetzung der existentiellen Überforderung und Angst vor freier Selbstwahl – und tatsächlich hätte diese Art autonomiefürchtende Lebensform nach dem Weltkrieg, in der sich schlagartig säkularisierenden, demokratisierenden und pluralisierenden Moderne, keinen Platz mehr gehabt. Wie in vorauseilendem Gehorsam nimmt Carl Joseph den eigenen Tod in seinem Alkoholismus bereits vorweg. Aus mittellosem slowenischen Bauerntum hatte sich der Vater des Helden von Solferino im Militär zum Unteroffizier emporgearbeitet, dann jedoch einen der typischen, schicksalhaften Umbrüche erlitten – durch Mächte der Gegenwelt zu jenen formal rechtlichen, staatlichen Ordnungen, dem »Osten«, in Roths konfektioneller Phantasie besiedelt mit romantischen Außenseiterfiguren, die in Konflikt mit der Ordnungsform des staatlichen Gewaltmonopols und der Rechtshoheit geraten und gerade dadurch eine eigene Art Würde

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gewinnen. Um den Preis, dass Gewaltmonopol und Rechtshoheit nur als feindliche Macht (und nicht als Garant des Friedens und der Rechtssicherheit) erfahren werden können. Mit Vorliebe plazierte Roth Schmuggler unter die Bewohner der Grenzgebiete: Sie überwinden Grenzen zwischen Hoheitsgebieten, entziehen sich dem offiziellen, gesatzten Recht, bilden informelle Netzwerke mit eigenem, nicht schriftlich fixiertem Recht. Sie enteignen nicht direkt etwas und wenden normalerweise keine Gewalt an, sondern bringen begehrte Güter, die von einer Rechtsordnung verboten oder kontingentiert oder mit Steuern belegt sind, an Konsumenten. Und dienen insofern den Menschen, indem sie Recht und Gesetz meist im Einverständnis mit den Käufern umgehen. Als der Heldenvater Trotta sich in der staatlichen Rechts- und Sozialordnung emporgedient hatte, wird ihm aus eben dieser romantisierten Gegenwelt des Grenzgebietes im »Osten« durch einen Schmuggler das Licht eines Auges geraubt – er wird damit hinauskatapultiert aus den Exekutiv-Instanzen der Ordnungsmacht (Militär und Polizei) und degradiert zum Sozialfall. Er muss nun auf der äußersten Grenze des prächtigen, hierarchischen Gesellschaftsgebäudes seine Tage beschließen: Als im Dienst Invalidierter wird er zum Parkwächter eines prächtigen Schlosses bei Wien, gloriose Herrschaften an der Spitze der sich religiös legitimierenden Staats- und Gesellschaftsordnung beherbergend. Der alte Trotta also lebt als Alimentierter auf dieser äußersten Grenze, täglich die überwirkliche Distanz zu den hohen Herrschaften im Zentrum des Schlosses erfahrend, an deren Legitimität er nicht zweifelt. Sein Sohn lebt anstatt seiner den Aufstieg, bringt es zum Offizier, der Zufall macht ihn zum »Helden«, und darauffolgend (dank kaiserlicher Huld) zum Ahn eines Adelsgeschlechtes: Sein Heldenmut besteht in einigermaßen schlichter Symbolik darin, den Kaiser vor dem nahenden Untergang zu retten – in einer Schlacht, die die militärische Schwäche des sich anachronistisch noch immer als Universalreich verstehenden k.u.k. Gebildes bewies

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und den Weg zur Einigung Italiens ebnete, mithin zur Bildung eines Nationalstaates, für Roth dem Inbegriff des Abfalls von der eigentlichen »Humanität« – die wiederum (nur?) in der allumfassenden, väterlichen Fürsorge und autoritativen Weisung eingebettet gedieh. Das Habsburgerreich verlor in der Solferino-Schlacht eine zuvor mit allen militärischen Mitteln durchgefochtene Besetzung. Feldmarschall Radetzky hatte 1848 und 1849 die Aufstände der unterjochten Völker noch unterdrücken können: In Gestalt des Radetzkymarsches ist dieser mit hohem Blutzoll errungene Sieg, der die Illusion eines Großreiches noch einmal nährte, im Roman allgegenwärtig. Dieser Marsch ist ein Inbild in mehrerer Hinsicht, zuallererst der Verwandlung einer rohen, militärisch durchgesetzten Hegemonialpolitik in ästhetisierend verniedlichende, nur leicht durch Komik und plaudernde Ironie gebrochene Halluzination eines angeblich durch höhere Sinnhaftigkeit legitimierten Reiches. Jedoch auch ein Inbild für die Anlage des Romans, in der nicht das Außerordentliche (ausgenommen die Heldentat), sondern in romantischer Ironietradition das beschränkte Mittelmaß zum Spiegel des Ganzen wird. Das banale, provinzielle Scheppern der Musik steht in allenfalls ironisch zu ertragendem Missverhältnis zur sakralisierend verklärten Reichsidee selbst. Die Schlacht bei Solferino war eine der größten der neueren europäischen Geschichte523 und vor allem eine »humanitäre Kata-

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»Etwas mehr als 300.000 Soldaten standen sich gegenüber, 170.000 Österreicher und 150.000 Franzosen und Piemontesen. Es sollte zu einer der größten Schlachten der europäischen Geschichte kommen. Das Dorf Solferino bildete den Mittelpunkt der Front, die sich vom Gardasee über eine ganze Kette von Hügeln und Anhöhen bis in die Poebene zog. So überraschend der Kampf begonnen hatte, so schnell waren die feindlichen Armeen ineinander verkeilt wie wilde, bisshungrige Tiere. Das Töten begann im Morgengrauen, und es endete erst bei Sonnenuntergang mit dem Rückzug der Österreicher.« Ulrich Ladurner, Im Strom der Verzweiflung. In: Der Standard 19. 6. 2009 www.derstandard.at/1244461062026/Schlacht-von-Solferino-Im-Strom-der-Verzweiflung .

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strophe«524, allerdings eine, die mehrfach in die Zukunft wies – weil sie die Befreiung der Völker durch die letzten hegemonialen Reiche einleitete, aber auch, weil sie die Geburtsstunde des Roten Kreuzes war. Taktisch zog die österreichische Militärführung katastrophal falsche Schlüsse aus dem Desaster von Solferino525 – und bereitete so den eigenen Untergang vor: Selbiger war nach der wiederum desaströsen Niederlage gegen Preußen 1866 nur noch eine Frage der Zeit. Das niedliche, verfallslüsterne Kammerspiel des Romans »Radetzkymarsches« rund um die herzlich bedeutungslosen Charaktere der Trottas ist in all seiner versuchten, komischen Leichtigkeit auch eine obsessive Substitution einer blutigen Geschichte durch eine Fiktion wunderbar behütender, umfassender Sinnhaftigkeit, die im Auseinanderbrechen als vergangene oder verfallende noch einmal erfahrbar wird. Die Verdrängung der durch Hybris und Unfähigkeit erzeugten Opfer zugunsten einer sentimental verklärten, vorgeschützt religiösen Reichsideologie gibt der Autor in doppelbödiger Ironie als Tun der Akteure selbst aus: Ein jedes Erscheinen des Radetzkymarsches im Roman ist wohl gleichermaßen sentimental wie erschütternd leer und geistig banal. Das Geist- und Geheimnislose dieser Musik und ihrer Aufführungsrituale verkörpert oder erinnert ironischerweise das erodierende, vermeintlich behütende Sinnganze – was wiederum eine Erscheinungsgestalt der Ambivalenz ist, da jenes behütende Sinn- und Sozialganze somit zugleich ein scheppernd trivialer Traum geworden 524

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Vgl. 150 Jahre Schlacht bei Solferino. Eine humanitäre Katastrophe, http:// www.bundesheer.at/truppendienst/ausgaben/artikel.php?id=908. Dort auch eine kurze, instruktive Darstellung der im nachfolgenden erwähnten waffentechnischen und strategischen Fehler. Vgl. ebd: »Auf österreichischer Seite wurden daraus die falschen Schlüsse in der Infanterietaktik gezogen. Das ›Unterlaufen‹ des gegnerischen Feuers sollte nun kopiert werden. Letztlich endete dieser Versuch im Krieg 1866 gegen Preußen – diese verfügten über das Dreyse-Hinterladergewehr, das eine wesentlich höhere Feuergeschwindigkeit als das Mini-Gewehr hatte und ein Laden der Waffe auch im Knien und Liegen erlaubte – neben operativen Fehlern in einer militärischen Katastrophe.«

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ist – oder eben: der Tagtraum vom erodierenden Sinnganzen selbst nur ein schlechter Tagtraum gelähmter Seelen. Ein wenig wie der Schlager die große, romantische Liebe zerstört, indem er sie dümmlich direkt in die Herzen tragen will. Und doch kann keine Banalität sie offenbar ganz zerstören. Man trällert weiter die infantilen Melodien nach. Geist- und geheimnisloses Mittelmaß sind nicht nur die Figuren, sondern auch die meisten Leitbilder und -motive des Romans. Sie scheinen so kunstgewerblich, aufdringlich naiv in die Handlung gebaut, dass sie eher wie Parodien von Strukturelementen wirken. Nicht nur den dargestellten Ereignissen, auch den Textbauweisen sind Züge permanenter Enternstung oder komischer, teils fröhlich kindlicher Desillusionierung eigen. Vieles wirkt nicht wie episch ausgebreitet, sondern wie plakative Arbeit mit Versatzstücken, Zitaten, Stereotypen vergangener Theatertraditionen oder Kolportageromanen. Etwa das vielfache Blicken auf Uhren, das den Leser behandelt, als sei er ein kleines Kind, das nicht weiß, worum es geht, wenn man es ihm nicht von Zeit zu Zeit nochmal einschärft. Auch, bevor der Bezirkshauptmann den Brief absendet, mit dem er Carl Joseph »freie« Wahl zwischen Militär und Zivildasein bescheinigt, blickt er natürlich auf die Uhr (V. 269); und natürlich tut er es wiederum, nachdem er das Gemälde des Helden von Solferino angeschaut hat. Und natürlich wird ihm dieses Bild immer rätselhafter. Der Sinn verschwimmt ihm wie einem Trinkenden die klare Kontur der Dinge. Diese wie in witzig simulierter Pseudo-Naivität benutzten Versatzstücke oder Kolportageelemente produzieren keine künstlerische Strukturierung vermittels Leitmotivtechnik, sondern allenfalls eine herzige, kunstgewerbliche Parodie derselben. Das gehört zur eigenartigen, ambivalent zwischen humorvoller Kinderei und tragischer Verfallslust, Bastelübung und durchgearbeiteter Kunstgestalt changierenden Lagerung des Romans. Die vier Trotta-Männer kann man auch als Variationenreihe auf die Ambivalenz im Verhältnis zur straff hierarchischen Ordnung

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(»Subordination«) sehen. Es beginnt mit zwei Varianten des fundamentalen Motivs vom Ausbruch aus dieser ersehnten Ordnung durch einen bagatellesken, komisch zufälligen Anlass. Man vererbt diese Ambivalenz und ein jederzeit aktualisierbares Kränkungspotential an den Sohn. Der Vater des Solferino-Helden vererbt eine Erniedrigungserfahrung, die durch den entschlossenen Aufstieg bis über die Unteroffizierslaufbahn des Vaters hinaus kompensatorisch beantwortet wird – und durch ungeplanten Zufall sogar für einen kurzen Moment in den Heldenstatus führt – charakteristischerweise gerade nicht durch eine eigentlich soldatische Tat, sondern empathische Aufopferung für den Vater(-Kaiser). Es folgt nach absurd bedeutungslosem, im doppelten Wortsinn kindischem Anlass der Ordnungs-Ausbruch in kindlichen Trotz, und dieser führt nicht mehr an den Rand der höfischen Elite in der Hauptstadt wie der Vater, der so hoch nicht fiel, sondern an den Rand des Reiches, in die östliche Gegenwelt, wo die strengen, staatlich und damit kaiserlich-väterlich kontrollierten, schriftlich fixierten Gesetze unterwandert werden. Der Solferino-Held vererbt seine kindische Kränkung, indem er dem Sohn verbietet, die Militärlaufbahn einzuschlagen. Sein Sohn wird deshalb nie von der Ambivalenz im Verhältnis zur Ordnung eingeholt; sein Leben rollt ohne Aufstiegselan und Ausbrüche einfach ab – weil es sich außerhalb der militärischen Ordnung vollzieht. Die Ambivalenz holt dann erst wieder seinen Sohn Carl Joseph ein. Dieser würde, wenn er nicht Furcht vor jeder Autonomie hätte, ausbrechen, weil er das uterusartige (symbiotische) Umfasstein von einer totalen Sinn- und Sozialordnung im Militär nicht mehr nachvollziehen kann: Er fühlt sich unwohl in seiner Uniform wie in einer fremden Haut. Doch das Jenseits des Militärs, mit dem er sich nicht mehr identifizieren kann, macht zu viel Angst, als dass er der eigenen inneren Abwehr folgen könnte. Er hat die Ambivalenz im Verhältnis zur Ordnung geerbt, ist jedoch zu geschwächt, um auch nur den Umbruch in kindlichen Trotz zu wagen. Stattdessen ergibt er sich dem Alkohol und findet am (wiederum in alliterierendem Sentiment

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selbstparodistisch beschworenen) Einschwingen in den Untergang eine paradoxe Form der Sicherheit: »Allmählich verwandelte sich auch Trottas Enttäuschung in wohliges Weh. Er schloß eine Art Bündnis mit seinem Kummer.« (V. 378) Er ist eine volkstümliche oder semiseria-Version Hanno Buddenbrooks, durch und durch ambivalent: Weder hat er die Kraft noch den Willen, das strenge Normensystem, in das er von fremder (väterlicher) Hand gesteckt wurde, offenbar ohne Möglichkeit, »Ich« zu sagen, so zu deuten, dass es ihn erfüllt, oder gar, es zu verlassen, um ein eigenes Leben aufzubauen. Insofern wiederholt sich hier das Trotta-Muster. Carl Josephs Notlösung dieser Unentscheidbarkeit ist eine, zu denen viele Figuren Roths greifen müssen: Unter stetem inneren Groll (oder Kränkung) erfüllen sie das strenge Verhaltensregiment bloß äußerlich, simulatorisch, schauspielernd – eine Grundfigur des inneren Splittens, die vermutlich schon sehr früh in Joseph Roth angelegt war, wie wir im Vierten Teil sahen. Es wäre irreführend zu sagen, das fragmentierte, in lähmender Ambivalenz gefangene, deshalb zu plan- und lustvoller Selbstgestaltung des Lebens unfähige Ich dieses Carl Joseph sei eine Analogie zum letal geschwächten k.u.k. Reich – vielmehr hat sich Joseph (sic!) Roth umgekehrt zu dieser seiner inneren, früh ausgeprägten konfliktuösen Grundstruktur eine historische »Welt« hinzuerfunden, die wie eine Projektion des Kernkonflikts in eine pseudohistorische Bühnenkulisse wirkt. Dafür spricht auch die werkgeschichtliche Entwicklung: Roth hat, wie gesehen, die Ambivalenzen von Ordnung, Bindung und Selbstgestaltung erzählerisch zunächst in privaten Dilemmata durchgespielt, um sie dann im »Spinnennetz« auf eine größere, historische Konstellation zu übertragen, die höchst paradox in sich gespiegelte Paarung von antidemokratischen Rechtsnationalisten auf der einen, einem antidemokratischen jüdischen Multipelspion auf der Gegenseite. Konsequenterweise ist das Hauptwerk mit dem »Radetzkymarsch« dann eine Geschichte, in der über Gene-

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rationen die Lähmung eben jenes Willens zur Selbstgestaltung zunimmt. Es ist sozusagen eine Fabel des lustvollen Dreinschickens in partielle Unmündigkeit, das immer auch eine zunehmende Resignation gegenüber dem Erbe der Väter ausmacht. Eigentümlicherweise können hier nicht einmal Versuche zu sexueller Bindung diese innere, lustvoll die eigene Lähmung betrachtende Apathie durchbrechen. Wie in der »Legende« bedient Roth sexuelle Klischees: bei der Verführung des jungen Carl Joseph die sexuell aktive, ältere, erdverbundene, umhüllende, sich dem Mann als Verführerin und Objekt anbietenden Frau (V. 166f), versetzt mit softpornographischen Klischees bis zur Selbstparodie: Frau Slama »lächelte und zog ihn langsam, rückwärts schreitend, mit beiden ausgestreckten Händen und den Kopf zurückgeworfen, ein Leuchten im Gesicht, zur Tür, die sie von rückwärts mit dem Fuß aufstieß. Sie glitten ins [!] Schlafzimmer.« Undenkbar, dass in Roths Werk ein sexuell initiierender Mann auf ähnliche Weise erschiene. Roth war sich nicht einmal zu schade, die traditionell zugehörigen Bestrafungsphantasien einzubringen: Ihren freien sexuellen Umgang mit Sexualität bezahlt Frau Slama mit einem frühen Tod im Kindbett (V. 172). Er stellte wie häufig triviale Bildlichkeit und Attributionen aus, die den Regionen des Schlagers oder des massentauglichen Spielfilms entnommen sind: »Von unten her stieg eine neue Welle von Wärme und Kühle [!] bis an seine Brust. Er ließ sich fallen. Er empfing die Frau wie eine weiche, große Welle aus Wonne, Feuer und Wasser.« (V. 167) Zugleich sind diese Ausdruckstrivialitäten durchsetzt mit Worten, die zur Beschreibung sexueller Handlungen benutzt werden, sodass man nicht weiß, ob das eine nächste Stufe der Komik ist: eine Parodie von Unterstellungen unbewusster Impulse in der Rede. Frau Slama zieht rückwärts und sie »glitten ins Schlafzimmer. Wie ein ohnmächtig Gefesselter [?] sah er zwischen halb geschlossenen Lidern, daß sie ihn entkleidete, langsam, gründ-

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lich und mütterlich. Mit einigem Entsetzen bemerkte er, wie Stück um Stück seiner Paradekleidung schlaff auf die Erde sank« etc. Es würde wohl lohnen, auch in diesem Hauptwerk Joseph Roths die eigenartigen Verknüpfungen von Ich-Gestaltungslähmung, Vaterhörigkeit, sinnerfüllender Einbindung in straff formale, männliche Ordnungen und Sexualität in dem ganzen, zwischen Klamotte, historisch kostümierter Sentimentalität, zarter Ironie und alberner Komik changierenden Text zu verfolgen. Was für ein Potpourri an arglosen Späßen und kunstgewerblich arrangierten Versatzstücken gemischt mit Vaterkomplexen und Verlustsentimentalität ist beispielsweise der Bordellbesuch (»Liebesmanöver!«, V. 206) anlässlich Carl Josephs Aufnahme ins Offizierkorps! Roth lässt den Hauspianisten des Bordells die »Liebesmanöver« des Korps ausgerechnet mit dem Radetzykarsch untermalen, schon das scheint arrangiert wie in einer Boulevardkomödie. Carl Joseph trifft im Vorzimmer auf den jüdischen Regimentsarzt Demant – es klingt, als hätte Roth selbst hier einen sprechenden Namen gesucht, »demant« war die ältere deutsche Fassung des Diamanten –, weil beide sich dem käuflichen Sex verweigern. Beider Geschichte wird in komplementärer Verwandtschaft konstruiert, um die bewährten Projektionsflächen zusammenzubringen: das Militär als Inbegriff der straffen, väterlich behütenden Männerhierarchie und das angeblich vitale, organisch quellende Schtetl-Ostjudentum der Vergangenheit. Demants Großvater war einer der lebenskräftigen jüdischen Schankwirte aus Galizien (V. 210), die in Roths Romanen die unwiederbringliche Fülle der Väter verkörpern und zugleich Gegenmodelle zu jenem von Roth in stereotypen Bildern beschworenen »Westen« darstellen. (Er lässt auch hier kein Klischee aus, den Großvater zu zeichnen, natürlich ist er alt, groß und hat einen silbernen Bart, V. 220.) Als solche sind sie Teil der Halluzination des Lebens im Reich der Habsburger – und der »Radetzkymarsch« belegt durchgehend, dass diese vage, ästhetisierende Halluzination nahezu nichts mit Geschichte,

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nichts mit Gesellschaft, nichts mit Recht zu tun hat: Im Kern geht sie aus Ästhetisierungen des Rothschen Lebenskonfliktes hervor. Die ebenso anrührende wie komische Pointe des »Radetzkymarsch« liegt darin, die individualpsychologischen Quellen des Bedürfnisses nach einer Beschwörung des zerfallenden Reiches offenzulegen: Im Zentrum der Konstruktion steht das Nachlassen der Binde- und Strukturierungskraft von Vätergestalten bis in den Himmel hinauf. Sie sind den Söhnen rätselhaft geworden – die immer etwas hilflos und sentimental wirkenden Versuche der Enkel, die Porträts der Vatergestalten zu lesen, stehen dafür sinnbildlich. Die leitmotivisch auftauchenden Uhren sollen dem Verfall metaphysische Würde in einem Gleichnis von Vergänglichkeit verleihen. So ist es auch in der komisch zusammengebastelten Szene im Bordell, als die beiden Enkel Carl Joseph und Demant sich näherkommen: Anstatt sich dem Männerritual des Bordellbesuches zu unterwerfen, versucht Carl Joseph zunächst, im Dunkel die Standuhr zu entziffern (V. 209), bevor beide sich ergehen in Betrachtungen eines Kaiserporträts, »im blütenweißen Gewande, mit blutroter Schärpe und goldenem Vlies«. Carl nimmt es aus dem Rahmen und birgt es in seiner Tasche, damit es nicht weiter besudelt werde vom unsittlichen Geschehen (V. 209). »Schweinerei!« ruft der keusche junge Mann, und im Geist des jüdischen Kameraden geistert der Großvater Trotta herum, der ja den Kaiser damals auch »gerettet« habe: Das »auch« kann auf Solferino-Helden und Carl Joseph bezogen werden, ein lässlicher Scherz. Carl Joseph bestreitet daraufhin, »ihn« retten zu können – was sich wiederum auf den Großvater und/oder den Kaiser beziehen lässt. Demant versichert, nur an den Großvater Trotta gedacht zu haben; das offenbart eine seelische Konsonanz, die beide Gestalten fürderhin verbindet. Für sie hängt die Großvatertreue mit Abscheu vor den sexuellen Ritualen des Männerkollektivs zusammen. Dasselbe saufselige Kollektiv wird Demant später aus wiederum nichtigem Anlass in das tödliche Duell treiben. Demant stimmt

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resigniert zu – vor allem der drohenden Erniedrigung seiner sexuellen und finanziellen Männlichkeit gegenüber seiner Gattin. Lustvolle Regression in Untergang und Freiheitsvermeidung wird als welthistorische Konstellation ausgegeben – und diese riesenhafte Projektion zugleich als munteres, zur Gefühlsretorte, Selbstbespiegelung in Gefühlswallungen und Unernst neigendes Spiel vorgeführt. Durch den typischen, sich beweglich an Varianten des mündlichen Erzählens angleichenden Stil gerät der Leser schmunzelnd zum Mitwisser (oder Komplizen), der sich mit dem Erzähler über die Beschränktheit vieler Figuren, der Pastiche-haftigkeit vieler Gefühlswallungen amüsiert. So verweigert Dr. Demant das Sex-Ritual der saufseligen Offizierschaft, weil er ein treuer Gatte ist – allerdings schon deshalb treu, weil diese Gattin des wiederum possenhaft überdeutlichen Namens »Eva« wie nicht wenige Frauen bei Roth »enttäuscht« ist ob der bescheidenen Karriere ihres Gatten: Diese weitgehende Erfolglosigkeit verunmöglicht, dass sie angemessen mit Luxusgütern beschenkt und in gewissem Sinne »entlohnt« wurde. Sie droht Demants mehr oder minder offen mit sexuellen Beziehungen zu anderen Männern (V. 215). Dass das Begehren nicht einem zweckrationalen Tausch- und Optimierungsgesetz folgen, sondern einer Person in ihrer Eigenart gelten könnte, ist im Roman so wenig denkbar wie für Roth selbst. Roth hat hier das überraschend banale Geschlechterstereotyp von der schönen Frau als zu schmückendem Erwerbsobjekt seiner Figur vermacht, dem gleich-ungleichen Freund Trottas, und lässt ihn daran zugrunde gehen. Das ist eine erzählerische Ironie ganz eigener Art. Wir sind misogynen Geschlechterstereotypen öfters in Roths Werk begegnet, von den frühesten Erzählungen an. In den reiferen Erzählwerken dürfte es sich dabei wohl immer auch um von Männerängsten diktierte Bilder handeln, mit denen Roth auf den neuen Phänotyp der selbstbestimmten Frau der 1920er Jahre reagierte. (Der allerdings vorerst noch ein Ideal blieb, vorgelebt in kleinen Intellek-

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tuellenzirkeln, der Werbung, dem Film, der Kleidung526. Die soziale Realität hinkte in den meisten Schichten hinterher527.) Für die Emanzipationschancen der Frau durch Zugang bei Ämtern, Universität und Arbeitsmarkt hat Roth sich symptomatischerweise überhaupt nicht interessiert. Umso mehr beschäftigte ihn die sexuelle Emanzipation – sie stellte er immer wieder als bloßes Mittel zum Tausch gegen materielle Annehmlichkeiten und Statusvorteile dar. Dass es vermutlich ausgerechnet der scheinbar keusche Carl Joseph ist, mit dem Demants Frau Eva – wenngleich vorderhand wohl noch bloß in Gedanken – fremdzugehen wünscht (V. 216f), ist eine hübsche, etwas böse Pointe, jedoch eine rein stoffliche. Dass wiederum der Anschein einer Liaison zwischen Carl Joseph und Eva (im Verein mit antisemitischer Diskriminierung) zum Auslöser der Duellforderung wird und damit den Tod Demants indirekt verursacht, passt zum Geist der leichten Komödie. Ein nichtiges Ereignis, eine kleinliche Beleidung unter trinkenden Offizieren, die selbst nicht mehr an Satisfaktion und Ehre glauben, leitet die persönliche Katastrophe ein. Die alles durchdringende, mit Parodie und Komödiantik vermischte Ironie tritt hier in der klassischen Disproportion zwischen Anlass und Folge auf, wiederum in übermäßiger Kränkbarkeit ruhend. Auch diese Peripetie ist daher viel eher eine Parodie von Peripetie: Wie fast alles in diesem sich in seiner Untergangslüsternheit belustig selbst betrachtenden Roman ist auch sie keine Folge einer klaren, freien Entscheidung oder tatsächlich gelebter Werte. Sie ist eine Variante der Ambivalenz im Verhältnis zum Wunsch nach einem 526

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1918/19 ereignet sich auch und gerade im Kleidungsstil der (jungen) deutschen Frau eine Revolution. Mit einem Schlag durchbrachen die Frauen die Korsettagen, in die man sie im Kaiserreich gesteckt hatte. Man zeigte Bein, Arme, viel Dekollete, trug Seidenstrümpfe, trieb Sport. Im Tanz wurde es sowohl auf der Bühne wie im Lokal ausgelassen und provozierend erotisch. Allerdings drückte sich die veränderte Stellung der Frau auch in Angleichung an die Erscheinung von Knaben aus, nicht nur in der legendären Bubikopf-Frisur. Vgl. Bettina Musall, Bubikopf und Seidenstrumpf. In: Klußmann/Mohr 2015, S. 63–5. Vgl. Sturm 2011, S. 42.

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selbstbestimmten Ich-Entwurf, einem sinnerfüllenden Ort im Leben, nach rationaler, freier Selbstbestimmung generell. Das Duell war eine Folge unglücklicher Umstände, kleiner Unachtsamkeiten – vor allem aber eine Folge des Triebs, sich von der Last der freien Selbstwahl zu erlösen, sei es im Alkohol, sei es im Tod. Demant verlacht das Nichts an Ethos, das sich »Ehre« nennt; es ist auch ein Lachen der Verzweiflung, ein Auflachen beim Versinken in Nihilismus und Zynismus, gefolgt von der Preisgabe des eigenen Lebens. Der Tod Demants ist auf eigene Weise ein Exempel für Roths Figurenkonstruktion aus psychologischen Motiven heraus, präsentiert in antipsychologischem Darstellungsstil: Seine Selbstpreisgabe ist »sinnlos«, denn der Beleidigende ist ein bedeutungsloser, vulgärer Trinker im Offizierscorps, und weder dieser noch Demant glauben an eine »Ehre«, deretwegen sie töten bzw. sterben wollen. Die Preisgabe ist die intellektuell einfache Lösung; die schwierige wäre, dass Demant seine persönlichen Probleme löste, zu allererst die Kränkung ob des ausgebliebenen Berufserfolgs und die Erniedrigung, wahrscheinlich sogar Erpressung durch seine Frau, also ganz gewöhnliche Konflikte der Lebensgestaltung. Weshalb er nicht anders handelt, bleibt rätselhaft – es soll vermutlich als Partizipieren an der allgemeinen Lähmung des Willens zur Selbstbestimmung in der untergehenden Monarchie verständlich werden, doch das ist natürlich keine Begründung und gänzlich unhistorisch, schließlich wurde das Habsburgerreich bereits seit Jahrzehnten durch harsche Unterdrückung eben dieser Emanzipationsbestimmungen sowohl auf kollektiver wie auf individueller Ebene aufrechterhalten, und Juden, zumal solche der Bildungsschicht, waren im Allgemeinen Anhänger des Liberalismus. Als Carl Joseph der frisch verwitweten Gattin Demants einen Kondolenzbesuch erstattet, hat es den Anschein, als sei es nie zu Intimitäten zwischen beiden gekommen; der Enkel macht dabei in Gedanken Eva für den Tod Demants verantwortlich – und wiewohl keine Intimbeziehung besteht, wird Carl Joseph bei dieser Gelegen-

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heit beinahe hysterisch in seiner Angst vor erotisch aktiven Frauen: Er (Carl Joseph) »genoß das wonnige Gefühl, den Tod des Freundes durch ein hartherziges Schweigen fürchterlich zu rächen. Geschichten von gefährlichen, kleinen [!], Männer mordenden, hübschen Frauen, oft wiederkehrend in den Gesprächen der Kameraden, fielen ihm ein. Zu dem gefährlichen Geschlecht der schwachen [sic!] Mörderinnen gehörte sie höchst wahrscheinlich. Man mußte trachten, unverzüglich ihrem Bereich zu entkommen. Er rüstete [!] zum Aufbruch.« (V. 250) Beinahe möchte man lesen: »Er rüstete zum Ausbruch« – denn darum geht es Carl Joseph in dieser Stunde: Eine starke, auch sexuell selbstbewusste Frau, die er begehrt(e), wäre nun ja frei geworden. Und das macht panische Angst. Sein Begehren ist dahin. Carl Joseph verpanzert sich und folgt seinem Fluchtreflex. Vieles in diesem Roman ist buffonesk arrangiert, vieles mit provozierend kunstgewerblich klappernden, quasi-lyrischen Effekten aufgehübscht; Gefühle werden oft wie provokativ oder ironisch zweitverwertend mittels Adaption schematischer und trivialkultureller Ausdrucksmuster exponiert. Zahlreiche Passagen spielen munter mit lustigen Einfällen und kolportagehaften Elementen, und man weiß nie genau, ob das geschieht, um zu vermeiden, allzu offensichtlich die Sehnsucht nach Untergang und Selbstpreisgabe zu zeigen, oder ob diese Todessehnsucht bereits ein Versatzstück und Zug im Spiel mit Simulationen und inszenierten Tragiken ist. Das Ersetzen des illusionistisch ausmalenden Beschreibens durch punktuelles Aufzählen und Nennen bildet auch die sprachkompositorische Basis des »Radetzkymarsch«, wenngleich das demonstrative Aufzählen von Kulissenmaterial und papierner Symbolik jetzt wohl deutlicher als zuvor humoristisch und selbstironisch eingefärbt wird. Der Text scheint bei aller Delikatesse pointierter Kommentare, humorvoller Charakterisierungen und Dialogwendungen ganz bewusst an der Grenze zur Selbstparodie der eigenen Theatralik entlang geschrieben zu sein.

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Möglicherweise kann man, wie in der Sekundärliteratur vorgeschlagen wurde, viele Einzelfügungen des Textes mit Hilfe der klassischen (aber formalen und offensichtlich ungenügenden) Bestimmung des Witzes als Nebeneinanderstellen des Unerwarteten beschreiben528. Erklärt wäre bezüglich der eigentlich ästhetischen Idee damit wenig, schließlich ist manches Unpassende nur unpassend und nicht witzig und ist auch das witzig Zusammengestellte durchaus nicht an sich poetisch. Das können sie nur durch individuelle Einbindung in einen Kontext oder Zuordnung einer Funktion innerhalb des Gesamtgewebes werden. Jedenfalls benutzte Joseph Roth das vermeintlich historische Material stets so, wie in seinen poetologischen Metareflexionen behauptet, als bloßes Material für den verbalen und gegenständlichen Spielund Bezugswitz. Die meisten exponierten Episoden werden im Augenblick des illusionistischen Errichtens sogleich ironisch oder in freischwebender Pointenintelligenz desillusioniert und als Ausgeburt eines unablässig auf Komik und Farce geeichten Autors kenntlich gemacht. Man hüpft und torkelt von tränenrühriger und immer etwas filmreifer Sentimentalität in farcenhafte Tableaus, von Persiflage und purer Situationskomik in poetische Delikatessen und Pointen. Diese durchgehend demonstrierte, humoristische Spieler-, Parodie- und Arrangementshaltung kann man dabei durchaus traditionalistisch oder sogar neuromantisch epigonal empfinden: Derlei gehörte schließlich ganz zentral zur romantischen Poetologie. Carl Joseph protestiert ebenso wenig gegen väterliche Weisungen, wie es sein Vater, der Bezirkshauptmann, gegen die Weisungen seines Solferino-Helden-Vaters tat. Auch er sagt nie selbstbestimmt »Ich« – wenn er es täte, würde er sich verlieren; insofern liegt darin paradoxerweise ein Stück Vernunft, zumindest, solange die Unfähigkeit zur selbstbestimmten Suche nach einer Balance von Individualität, Autonomie und Ein-Ordnung (Bindung) nicht überwunden ist. Er verliert sich im Trunk schon, weil er beständig mit dem 528

Weitzman 2013, S. 117.

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Wunsch zum Verlassen des militärischen Dienstes und seiner Unfähigkeit, es auch wirklich zu tun, hadert. Deshalb (und also nicht nur, um die Geschichte abzurunden durch eine kleinformatige Wiederholung der Heldentat des Ahns bei Solferino mit gegenteiligem Resultat) muss er vom Autor im Weltkrieg geopfert werden (natürlich nicht als Held an der Waffe, er ist ja ein Antityp zum Kriegshelden, sondern als nicht-kämpfender Kamerad, der für seine Kameraden sorgt): In der Epoche nach 1918 wäre er gezwungen gewesen, »Ich« zu sagen, schließlich brach die Epoche an, in der sich die Individuen nun (idealiter) gleichberechtigt ihre eigene Verfassung in freier Verhandlung gaben. Auch in seinem Leben ereignete sich ein Bruch: Aus der (ehrenvollen) Kavallerie ausgemustert, teilt man ihm einen Posten an der russischen Grenze zu. Weil er sich nie mit dem Offiziersdasein identifizierte, kann er auch gar nicht so radikal austreten wie sein Großvater, dessen Wesensart ihm immer rätselhafter wird – die Lösung dieses Rätsels der vermeintlich vitaleren, sinnhaft und sozial eingehegten Existenz des Helden von Solferino würde für ihn, so dürfte Carl Joseph annehmen, die Tür öffnen zu einer vollwertigen Lebensweise. Der Niedergang eines weltanschaulich überhöhten Staatsgebildes als Niedergang der Lebenskräfte von Generation zu Generation ist vielleicht selbst komisch mit all den arrangierten, banalen Symbolen, dem Vaterkomplex höherer Potenz. Teils wirkt der Roman wie eine listige, sich als virtuose Plauderei und parodistisches Spiel mit Klischees gebende, etwas neurotische, von Ressentiments und Larmoyanzen erfüllte komische Version der »Buddenbrooks«: Der Großvater wird durch Zufall Held und Ahnherr des kurzlebigen Geschlechtes derer von Trotta, weil er, so scheint es zumindest den Nachgeborenen (V. 203) mit ganzer Seele und daher ›selbstlos‹ dem Kaiser diente – und dieser ist nur eine Wiederholung der Vaterbeziehung von Gott und Welt: »Und hunderttausendmal verstreut im ganzen weiten Reich war der Kaiser Franz Joseph, allgegenwärtig unter seinen Untertanen wie Gott in der Welt. Ihm hatte der Held von

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Solferino das Leben gerettet« (V. 203). Diese Konstruktion wird hier als so argloses Spiel mit naiven Projektionsakten und kindlichen Wunschphantasien präsentiert, dass man es eigentlich nur als schreibendes Balancieren auf der Grenze zur Selbstparodie lesen kann. Vielleicht noch als bewusst verniedlichende Form romantischer Ironien beim Präsentieren des Größten und Komplexesten als Einfalt. Niemand kann von solchen kammerspielartigen Versatzstückphantasien ernsthaft eine Durchdringung der Geschichte erwarten – man goutiert wohl viel eher die Mischung aus Elegie, Versatz und Komik, die angeblich den »Ton« der »Guten Alten Zeit« getroffen habe, wiewohl dieser offensichtlich ein Produkt ästhetischen Wirkkalküls ist. In der Tat dürfte die Ironie so allgegenwärtig sein, dass sie auch den zuletzt zitierten Satz prägt. Ihm eingebaut war wohl wiederum eine grammatische Ironie: Es kann der Kaiser oder Gott selbst gemeint sein. Die unerschütterlich gottvertrauende Sinnerfüllung und Lebenskräftigkeit des Großvaters ist eine verklärende Illusion in den Köpfen der Söhne (auch der Diener und Vertrauten). Und das Leiden am Verlust einer Ganzheit eine veritable Methode der Autosuggestion, um die Fiktion der allumfassenden, hierarchisch wohlgeordneten Sinnfülle und unambivalenten Lebenskaft des Großvaters für wahr und historisch zutreffend, wenn auch bedauerlicherweise verblassend, zu erfahren. Darin mag sich die Erfahrung verbergen, dass Glück vor allem dann groß und mächtig scheint, wenn es gerade nicht vorhanden ist; oder auch die Rothsche Beziehungserfahrung, dass die erfüllte Bindung dann real wird, wenn sie zerbricht oder bedroht ist. Jedenfalls kann, wer wie der Großvater wegen einer Lappalie (der übertreibenden Darstellung seiner Heldentat in einem Schulbuch) bereit ist, in kindlichem Trotz die gotterfüllte Seligkeit zu verlassen, dort nie wirklich verwurzelt gewesen sein. Er war innerlich immer schon mit einem Teil der Seele woanders, oder zumindest auf dem Sprung. Und in der Tat wurde der Solferino-Held geadelt mit dem Prädikat »Sipolje«, dem Namen des Dorfes, aus

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dem sein Vater stammt: Der Name zeigt den Rothschen »Osten« an, die Gegenwelt zur urbanen, verrechtlichten, effizienzorientierten, beschleunigten Ordnungswelt der westlichen Moderne. So hat Roth das Geschehen wiederum in Grundstrukturen eingefügt, die er aus seiner elementarsten, metaphorischen Oppositionsfigur gewonnen hat – um dann diese Ost-West-Opposition harmonisch versöhnen und überwölben können in der »Idee« des väterlich gütigen Kaisers von Gottes Gnaden, die sich ganz offen als Verlängerung einer ganz diesseitigen Bevaterungssehnsucht ins vermeintlich Transzendente zu erkennen gibt. Auch das ist Teil des ironischen Spielcharakters des Ganzen, der allerdings kunst- und reizvoll die darunter schwelenden, existentiellen Sehnsüchte nach Partizipation an Ohnmacht und Verfall nicht völlig entwertet. Alle diese Konstruktionen haben etwas von einer riesigen Bastelei an sich, die schmunzelnd seelenvoll und menschenfreundlich die eigene Spiel- und Scherzlust kommentiert im Präsentieren; dennoch und gerade deshalb kann man den »Radetzkymarsch« als Kulminationstext des Rothschen Weltvergegenwärtigens überhaupt sehen – dementsprechend un- ja antipolitisch werden hier Geschichte und Politik modelliert: Nicht Rechtssysteme, ökonomische Prozesse, Machtkonflikte, soziale Gesetzmäßigkeiten, sondern psychologische Muster bilden den Grund des Geschehens. In früheren Erzähltexten wäre wohl nicht möglich gewesen, dass dieser Grund sich jetzt ganz offen, wenngleich in komischer Hyperbolik als pseudoreligiös gewendete Bevaterungssucht artikuliert; neu dürfte auch die Erscheinung der existentiellen Ambivalenz als nackte, überfordernde und daher lähmende Angst vor Verantwortung und Selbstbestimmtheit sein. Gleich geblieben ist die Maskierung dieses Grundes als historisch und sozial konditioniert. Die Ambivalenz im Verhältnis zur Psychologie des Erzählens und des Erzählten wird konsequent entfaltet und bestimmt die gesamte Konstruktion. Für Roth gab es nicht nur keine Möglichkeit, sondern paradoxerweise keine Notwendigkeit, sein Dilemma zu lösen, solange es als

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Quell der schöpferischen Imagination funktionierte. Er musste lediglich sein Leben außerhalb der schreibenden Fiktion soweit wie möglich reduzieren oder zumindest ausblenden, und die gesamte, sinnerfüllende Ich-Welt-Einordnung ins Schreiben verlegen. Der Alkohol mag dies Abblenden unterstützt haben – zusammenwirkend mit dem üblichen Verdrängen von Ängsten, Depressionen, Aggressionen usw. Ein derart fundamentales Ambivalenzdilemma kann, wenn es ungelöst bleibt, auf Dauer nur in die Sehnsucht nach Auslöschung oder einen märchenhaften Sprung aus der eigenen Existenz münden – wie immer diese Sehnsucht nach dem Verlassen des Selbst dann interpretiert wird: Dieser Sprung kann zur religiösen Erfahrung umgedeutet werden oder als Opferwerdung mit Hilfe von subjektiven Geschichtskonstruktionen (z.B. durch Unrechtszustände oder historische Konflikte) oder als bloße, psychiatrische Suizidalität erscheinen wie bei Demant. Im »Radetzkymarsch« deuten sich die Akteure in geläufigen Mustern, ergänzt durch höchst ambivalent zwischen Komik, Ironie und existentieller Pathetik changierende Adaptionen von Selbstdeutungsmustern der Dekadenz-Periode um die Jahrhundertwende. Die für Roth typischen Grundfiguren des Umschlagens von EinOrdnung bestimmen in mehreren Dimensionen auch diese Erzählwelt. Der Zufalls-Held fühlt sich von einem Moment zum anderen aus einem Elysium katapultiert, das auch Andreas Pum unter seine Bewohner zählte, »aus dem Paradies der einfachen Gläubigkeit an Kaiser und Tugend, Wahrheit und Recht, und gefesselt in Dulden und Schweigen« (V. 149). Der Major stellt nach seinem Absturz »grollend« seine Existenz auf den Kopf und wird »ein kleiner alter, slowenischer Bauer, der Baron Trotta« (V. 150) – was ein wenig an Roths Phantasien in »Juden auf Wanderschaft« erinnert, die Überlegenheit der Ostjuden erweise sich darin, dass diese – obgleich unfähig, ›wirklich‹ Bauern zu werden – erdgebundener als westliche Bürger seien und zugleich glühendere Bildungsidealisten wie auch erfolgreichere Karrieristen. Baron Trotta haust fortan im slowenischen

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Marktflecken seiner bäuerischen Ahnen – in seiner eigenen Welt sich als kaiserlicher Musteruntertan fühlend: ein Militär i.R. mit Liebe für formelle Etikette und Repräsentation par excellence, und ist doch zugleich ein störrischer, der Wiener Obrigkeit von kaiserlichen Gnaden huldigender, lebenslänglich grollender Landmann, ein Patriarch, ein Alleinherrscher in seinem kleinen Königreich.529 Zwischen totaler Unterordnung und restloser Alleinherrschaft liegt nichts. Roth zwingt diese rätselhaft verkehrte Existenz in ein ebenso rätselhaftes, vieldeutiges Gleichnis: Trotta »lebte dahin als der unbekannte Träger früh verschollenen Ruhms, gleich einem flüchtigen Schatten, den ein heimlich geborgener Gegenstand in die helle Welt des Lebendigen schickt« (V. 149. Hervorhebung S.K.). »Geborgen« ist Trotta nicht im ›Paradies‹ und nicht in beglückender Bindung, sondern ist nach der Verstoßung beheimatet im wohligen Dunkel des Ausgegrenztseins. Jeder Roth-Leser erkennt ein prototypisches Verhaltensmuster wieder: Bis hin zu Andreas Karnat in der »Legende« kennen Figuren dieses Typs kein inneres Abwägen der Vor- und Nachteile mit einem bestimmten lebensweltlichen System. Sie kennen kein schrittweises Nähern, kein bedingtes Identifizieren mit einigen Aspekten des Normensystems. Sie kennen keine absichtsvolle, Erfahrungen, Umstände, Möglichkeiten und eigene Bedürfnisse zueinander aktiv in Verbindung setzende Selbstgestaltung und Neupositionierung, noch weniger ein aktives, schrittweises Verändern der Umwelt. Sie werden hineingeboren oder geraten hinein, treiben darin ohne innere Distanz wie ein Baby im Badewasser, und wenn jener unvorhergesehene Anlass eintritt, werden sie verstoßen, finden sich als Ausgegrenzte wieder, fliehen wie in kindlichem Trotz schmollend hinaus und puppen sich dort gleichsam ein. Wenn jemand, wie es in Roths eigentümlich verdrehter, indirekt jedoch mehr oder minder 529

Der Major fühlt sich andererseits nach seiner Entlassung durchaus noch als vorbildlicher Untertan und begeht, obgleich Bauer geworden, alljährlich Kaisers Geburtstag, wie es sich für einen Offizier gehört.

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bewusst vieldeutiger Formulierung heißt, »heimlich geborgen« ist, dann erfährt er eine eigentümliche, relative Form der Geborgenheit, wurde aber auch (ohne Aufsehen) »geborgen« wie ein Schiffbrüchiger – was noch eigenartiger ist, denn Trotta wurde ja nicht durch eine Naturkatastrophe aus der »hellen Welt des Lebendigen« gestoßen, sondern durch eigenen Entschluss, motiviert von Trotz oder Kränkung. (Medizinisch würde man ein solches Verhalten mit der besonderen »emotionalen Vulnerabilität« zusammenbringen, die Psychiater heute zu den Symptomen der »Borderline«-Persönlichkeiten zählen530.) Wie ein gespenstisch unter den Menschen existierender Toter wirft dieser so doppeldeutig »geborgene« und damit wohl auch verborgene Schatten in die Lichtwelt der Lebenden. Ähnlich schlichte Hell-Dunkel-Metaphoriken trifft man bei Roth öfters531; im »Radetzkymarsch« sind sie verbunden mit einem Leitmotiv: Der Niedergang der Trottas (und damit natürlich – allegorisch – der Niedergang der Monarchie bzw. der Macht der quasireligiösen Idee des apostolischen Kaisertums), der hier in ein eigentümlich verrätseltes Sprachbild gefasst wird, korrespondiert einem leitmotivischen Gegenstand im Roman, einem Porträtgemälde, das gleichermaßen rätselhaft wird. Die rätselhaft zweigeteilte Existenz des heldischen Familienhauptes lebt nämlich als zwischen Licht und Schatten changierendes, quasi-visuelles Rätselbild fort und wirkt so, als wandlungsfähiges, vielsagend sich der semantischen Fixierung entziehendes Bild tief ins Gemüt der nachfolgenden Stammhalter hinein. Dieses Bild wurde symptomatischerweise nicht nach dem lebenden Modell des alten Barons Trotta, sondern aus der Erinnerung in der freien Natur gemalt (vgl. V. 153). Auch der Portraitierte war zum Zeitpunkt des Entstehens bereits physisch abwesend, ein erinnerter. Der Urheber des Gemäldes, Maler Moser, taucht später in einem weiteren Klischee auf – 530 531

Vgl. z.B. Sendera 2016, S. 40. Auch im »Hiob«, hier möglicherweise als Reminiszenz an biblische Sprache, vgl. Shchyhlevska 2013, S. 85–89.

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als dem Alkohol verfallener, abgebrannter und schnorrender Maler-»Professor«. Nüchtern betrachtet, lebt der alte Major in den Seelen von Sohn und Enkel weiter als jener Held, der ihre Sippe ins Licht der großen Geschichte und also des strahlenden Lebens katapultiert hat. Der Abstand zu ihm vergrößert sich gleichsam nicht nur temporal, sondern auch der Lebensgröße und -fülle nach von Generation zu Generation (welche wiederum patriarchal gedacht wird): Dem Anschein nach vergrößert sich vor allem der Abstand zu der selbstverständlichen Lebenspraxis innerhalb der semi-religiösen Vater-Kaiseridee und den sie repräsentierenden Institutionen und Konventionen. Der innere Zwiespalt des Solferino-Helden (mustergläubiger Anhänger des Kaisertums – trotzig gekränkter ›Aussteiger‹) lebt dagegen nur versteckt fort, in Grenzzonen des Bewusstseins; nicht als diskursiv einholbare Lebensprägung oder Werteordnung, eher als eine unbewusste Prägung der Lebenspraxis – und als (mal äußeres, mal inneres) Bild jener Heldengestalt. Unauffällig beginnt dieses unerklärliche Fortleben des Zwiespaltes sichtbar zu werden – zuerst in den oben zitierten Sätzen vom ›heimlich geborgenen Gegenstand‹. Dann materialisiert sich diese verbal visualisierende Figur zu einem Bild aus realer Farbe, nämlich im besagten, vom Jugendfreund Moser gemalten Portrait des alten Majors. Nicht nur, doch vor allem an den Gelenkstellen des Romans tritt es leitmotivartig auf; mitunter kommt es wie eine Idee fixe wieder ins Bild. Eine charakteristische Stelle wäre diese: Gerade eingerückt, empfindet der Enkel des alten Majors rätselhafterweise keine Genugtuung darüber, dass er nun Leutnant geworden ist, Inbegriff des altösterreichischen Offiziers und damit fleischgewordene »Humanität«. Die Ulanentracht wird ihm nicht zur zweiten, schützenden, Gemeinschaft stiftenden Haut, von der Roth und seine Helden zu träumen beliebten. (Einer Variante werden wir in der Funktion der Uniform für den Eichmeister in »Das falsche Gewicht« begegnen: Das Ablegen der Uniform bewirkt dort das erotische Desinteresse der Frau, weil sie den bloßen Körper des

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Mannes erblickt!) Kaum im Dienst, fühlt sich der Enkel elend einsam, und er würde alles darum geben, mit einem Zauberschlag seine ganze Existenz sogleich wieder eintauschen zu können: Die Kluft ist über Nacht zur Zwangsjacke geworden, und ihr Besitzer von einer Minute zur anderen vom brennenden Verlangen erfüllt, ins Dasein der ›ganz Anderen‹ zu springen, dem einfachen, gepressten Fußvolk, das vom Offiziersethos unberührt bleibt. In dieser Gestalt kehrt die heimliche (!) Ambivalenz des Solerino-Helden im Enkel wieder – am Verhältnis zur Ordnung, die nur selbstloses Aufgehobensein im Offizierscorps oder Flucht in eine völlig gegensätzliche Welt kannte (meist in pseudogeographischer Sprache mit Westen und Osten assoziiert). Einmal atmen ohne Ritual und Codex, ohne Repräsentation und Dienstvorschrift, das ist plötzlich die Sehnsucht des Nachfahren geworden. Roth greift auch hier, um die Attraktivität dieses ganz anderen Lebens zum eigenen Offiziers-Ich auszumalen, nach prekären Gefühlsklischees, die er jedoch gleich wieder in Richtung abstrakterer Formenspiele abmildert: Carl Joseph hätte »gern mit einem von den Männern getauscht. Dort saßen sie, halb ausgezogen, in den groben, gelblichen, ärarischen Hemden, ließen die nackten Füße über die Ränder ihrer Schlaffächer baumeln, sangen, sprachen und spielten Mundharmonika. […] Die große Wehmut dieser Instrumente strömte durch die geschlossenen Fenster in das schwarze Rechteck des Hofes und erfüllte die Finsternis [sic] mit einer lichten [sic] Ahnung von Heimat und Weib und Kind und Hof. […] Bauern waren sie, Bauern! Nicht anders hatte das Geschlecht der Trottas gelebt« (V. 194f). Der Ausbruch ins vermeintlich lebendigere, weniger entfremdete Leben einfacher Männer wird hier als Wiedergewinn verlorener Ursprünglichkeit gedeutet – und bedient wiederum Klischees von Unverbildetheit und Lebenswahrheit. Roth hat diese rückwärtsgewandte Sehnsucht seinen Trottas in ganzer Ambivalenz mit auf den Weg gegeben: Schon der Sohn des Solferinohelden wollte zurück aufs Land der Väter, doch man verbietet es ihm, was wie ein Regressionsverbot wirkt oder eine pädagogische rote Linie, die zu

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überschreiten den Untergang im ursprünglichen Leben bedeuten müsste. Dieser untergründig geerbten Ambivalenz wegen verfällt der schwache Enkel in süße Melancholie – geschlagen mit der Erkenntnis, dass er das Offiziersdasein nur als »Ziel und als Verlorenes« lieben kann. Diese Figur im Umgang mit Identität, Fixierung und EinOrdnung aus dem Elementarhaushalt Roths trat auf im Umgang mit intimen Bindungen wie mit historischen Konstellationen, in Tagträumereien und Ordnungsvorstellungen, mit und ohne Worte: In verbalen Äußerungen jedoch wurde sie als Stil- und Konstruktionsfigur bewusst und spielerisch kultiviert, teils auch mit dem eigenen Zwangsmechanismus solcher Denkweisen ironisch spielend. Daher kommt auch das Portrait des Majors an dieser Stelle wieder zum Einsatz und mit ihm die Metaphorik von Schatten und Licht und Zerfall in Einzelteile ohne Möglichkeit, ein Sinnganzes zu erfassen. Schon im Knabenalter zog es Carl Joseph zu heimlichen, stummen Konferenzen vor das Portrait des Großvaters – auch hier fällt übrigens wieder eine einfallsarme, in ihrer Billigkeit vielleicht lustig unernste, doch überraschend sentimental geladene Schematik der Bildung attributiver und gegenständlicher Kontraste und der Empfindungssprache auf: »Es zerfiel in zahlreiche tiefe Schatten und helle Lichtflecke […], die Pinselstriche und Tupfen fügten sich wieder zu der vertrauten, aber unergründlichen Physiognomie« (V. 168). Jahre danach, verlassen in den nackten Wänden der Offiziersklause, schiebt sich eben dieses »rätselhafte Bildnis« (V. 194) des Ahns in seine Tagträume vom Glück des (uniformlosen) Landlebens, von dem der Offiziersdienst ihn abgeschnitten hat. Ihm selbst ist die Flucht aus der regulierten Ordnung verwehrt. Er lebt nach dem Sündenfall, auch wenn er nicht sagen könnte, worin dieser eigentlich besteht. Der kantige Großvater dagegen besaß in seiner portraitvermittelten Imagination in den elegischen Tagträumen der Söhne noch den Schlüssel zur Paradiespforte, das heißt zum totalen Einssein mit der Ordnung (weshalb er auch ohne zu zögern sein Leben für den Kaiser

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hingeben wollte). Unverstanden von den Söhnen bleibt, dass dieses halluzinierte Einssein nur die Kehrseite der Kränkbarkeit also Labilität ist – und daher jederzeit in den trotzigen Ausbruch ins ganz Andere als ihm einziger Alternative zur übermäßigen Ein-Ordnung führen kann. Der Ahn hätte, heißt es im Roman, die Vehikel der Sehnsucht, die Lieder der Mannschaft, Inbegriff des Untergangs im einfachen, von keinem Zwang zur formellen Repräsentativität und ideologischen Überhöhung des Dienstes, »vielleicht verstanden«: »An dieses Bildnis klammerte sich die Erinnerung Carl Josephs« (ebd.)532. Das heißt: Er klammert sich an eine Erinnerung eines erinnerten (d.i. aus der Erinnerung gemalten) Bildes. Der »Radetzkymarsch« ist keineswegs das Dokument eines Wandels politischer oder werthafter Überzeugungen, sondern nur der konsequente Ausdruck einer lang zuvor gehegten, aus der Ambivalenz zu jeder fixierenden Ordnung und Identität hervorgegangenen, ästhetisierenden Auffassung, alle Versuche, das Leben gestaltend und systematisch verstehen und vor allem planen zu wollen, seien illusionär, ein lebensfeindlicher Ausdruck »westlicher« Entfremdung. Eine pauschalisierende, pseudophilosophische Überzeugung, die wenig mehr als eine ästhetisierende Chiffre für die Abwehr eines stabilen, verantwortlichen, zur Rechtfertigung seiner Handlungen und Ansprüche gezwungenen Selbst war – und die Sehnsucht danach, das schreibend-erschriebene Selbst möge anstelle des verantwortlichen Ich als eigentliche Realität anerkannt werden. Der spätere Roth baute lediglich eine pseudohistorische Kulisse um diesen Kern herum – allerdings mit der entscheidenden Pointe, dass das k.u. Offiziers-Kollektiv gleichsam bestraft wird für die Unfähigkeit, das Ganze der sozialen Wirklichkeit nicht mehr als durchdrungen von einem überparteilichen Vaterkaiser erfahren zu können. Als Strafe 532

Man könnte wohl sagen, für den Großvater war der Gegensatz von Bauer und Offizier einer, den er durch seine Herkunft vom Land noch in geordnete Opposition bringen konnte, keine Ambivalenz. Der Verfall der k.u.k-Welt wäre dann auch in Roths Auffassung ausgelöst durch zunehmende Ambivalenz!

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dafür bricht der Weltkrieg herein und läutet die Epoche des freigesetzten, zuallererst sich selbst verantwortlichen Individuums ohne väterliche Behütung und weltanschauliche Bevormundung ein. Die Lähmung des Vermögens freier Selbstgestaltung als Bedingung gelungener Individualität in der Moderne erscheint durch Roths historisierende Kostümierung nicht als persönliches Unvermögen – vielmehr als eine von vielen Akteuren lustvoll oder in theatralischem Fatalismus bejahte Lebenshaltung, gerade weil sie Trauer über diese Verhinderung der rationalen Selbstgestaltung einschließt: Mitzutrauern, sich in die Apathie zu schicken, erzeugt in diesem Roman deutliche Lust – die natürlich vom Erzähler (kaum je von den Figuren selbst) durch Ironie gebrochen wird: Das Individuum in dieser Verfallswelt ist von der als Bedrohung empfundenen, rationalen Selbstwahl und damit von einem wesentlichen Element der europäischen Moderne entbunden. Es ist mitnichten ein politischer oder sozialer Tagtraum, der diesen Roman inspirierte, sondern die Ambivalenz hinsichtlich der Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit, mithin der modernen Identität und Ein-Ordnung: im wohligen Einschwingen in den Verfall findet sie eine ästhetisierende Schein-Lösung von umfassender Einbindung. Und Roths Ironie legt auch diesen Schein-Charakter der ›alten Welt‹ vor dem Zeitenbruch des Weltkriegs als Schein offen – als Produkt eines literarischen Regisseurs, der nicht zuletzt den naiven, vormodernen Schicksalsglauben einiger Akteure ironisch kommentiert oder als humorvolles Arbeiten mit Versatzstücken neoromantisch zelebriert, sich immer auch ein wenig über die Naivität seiner eigenen Geschöpfe amüsierend – ohne diesen Aberglauben deshalb als bloße Halluzination abzutun533. So, wie die Idee des Kaisertums selbst immer auch als Projektion der Akteure erscheint, doch ebenso als eine äußere, das Ich und die Gemeinschaft strukturierende Lebensrealität. Dass Roth jenes »Damals« vor dem Weltkrieg widersprüchlich zeichnete, war vielleicht kein Lapsus, sondern 533

Ähnliche Deutung der Rothschen Ironie bei Krčal 2013, S. 145.

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eine selbsterteilte Lizenz in diesem Schreib-Spiel, die mit der ständigen Ironisierung der erzählend erzeugten Weltillusionen zu tun hat: So wird beispielsweise die alte, große Zeit als Leben aus wacher Erinnerung charakterisiert – doch ihre Akteure werden als Menschen mit besonderer Begabung für das Vergessen beschrieben534. Sie kommen von der verfallenden Ganzheit nicht los und leben dennoch in einer Momentblase. Carl Joseph selbst ist ganz aus dem verborgenen Vaterdilemma konstruiert: Er ererbt unbewusst die Unentschiedenheit zwischen einem Leben als selbstloses Glied einer straffen Sozialordnung und der Poesie des organisch flexiblen Lebens dort – durchlebt sie jedoch nicht mehr, wie der Großvater. Er erfährt die Instabilität nicht als im Alltagsleben verdrängte, jedoch bei nichtigsten Anlässen hervorbrechen könnende, übermäßige Kränkbarkeit, sondern als vage Sehnsucht nach einem einfachen Leben außerhalb der Regularien. Daher beginnt Carl Joseph, den Ahn als rein vorbildlichen Helden, als Bewohner des »Paradieses an einfacher Gläubigkeit« zu verklären. Die Ambivalenz des eigenen Daseins – diese Sehnsucht, der Uniform wie einer falschen Haut wieder zu entschlüpfen – kann er nur als Mangel empfinden, als Niedergang der Sinnfülle und Lebenskraft. Nur im Absterben vermag das dilemmatische Innenleben dieses Spätgeborenen sich noch an etwas zu binden, ohne Ich-Verlust zu leiden: Die absolute Ordnung besteht noch – in Symbolen, Idealen, Erinnerungen –, doch regelt und straft sie niemanden mehr, der ihrer Order nicht folgt, wie sie umgekehrt keinen metaphysischen, wohligen Trost schenkt, sondern bloß noch die tagtraumartig beschworene Erinnerung an Zeiten, worin das der Fall gewesen sein soll. Das wäre eine gleichsam tiefengrammatische Erklärung für Roths »Partnerschaft mit der Décadence«. Er war »fasziniert von seinem Verfall, und darum sah er in der Auflösung Österreichs den ›Weltuntergang‹«535.

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Krčal 2013, S. 135f. Rasch 1986, S. 126.

7 »Radetzkymarsch«

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So hat Wolfgang Rasch formuliert, ohne einen Grund dafür angeben zu können. Der alte Major und Baron lässt es sich bis ins letzte Lebensjahr nicht nehmen, bei voller Montur die nächste Garnisonsstadt aufzusuchen und den 18. August – Kaisers Geburtstag! – formell zu begehen (V. 152): Obwohl er der k.u.k. Ordnung realiter trotzig entsagt hat, sind ihm die symbolischen Ansprüche auf die universale Sinnordnung Franz Josephs I. unantastbar. Er, eigentlich doch einer der letzten wahrhaften Untertanen, ist nun ein Potentat im Kleinen geworden, der nicht den geringsten Widerspruch empfindet zur Offiziersehre, die Subordination unter die Kaiseridee verlangt. Auf dem eigenen Gut gibt er sich seine Gesetze selbst und huldigt dem großen Gesetz der Legitimität, also dem Traum vom Aufgehobensein in einem umfassenden Sinn- und Sozialganzen. So kann er in sich den »Westen« – das bürokratisch geregelte, militärisch abgesicherte Reich mit einem guten Vater an der Spitze – nach seinem trotzigkindisch, kränkungsbedingten Ausbruch, noch einmal mit dem Osten, der Herkunftsregion seiner Väter (!) versöhnen: Das Gut, auf dem er herrscht, liegt im fernen Slowenien, am äußersten Rand des habsburgischen Reiches, halb dazugehörend und halb nicht. Diese Gedankenfigur findet sich häufig in Roths Imaginationen des Ostens, etwa 1924, als er Galizien ähnlich idyllisierend konstruierte. Es sei per ›Funkenflug‹ symbolisch verdrahtet mit den kulturellen Zentren der westlichen Welt, »liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht isoliert; es ist verbannt [sic], aber nicht abgeschnitten« (II. 285). Häufig hat Roth die psychische Struktur in imaginierte Landschaften projiziert. Wie das habsburgische Universalreich überhaupt verkommen kann, wenn es es doch das gottgewollte war, lässt sich mit Roths kryptoreligiöser Verfallsmythologie leicht begründen: Es wurde eingerissen durch die satanischen Blendwerke »Nation« und »Fortschritt«, Effizienzkult und Streben nach formalen Systemen und Verbindlichkeit. (Dass das keine Begründung ist für den Verfall

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angeblich ewiger Gesetze, hat auch Theologen nie gestört.) Um darzustellen, wie die ideologischen Ansprüche des Kaisers als Statthalter Gottes auf Erden niedergehen konnten, macht vom Rothschen Grundmotiv des plötzlichen, rätselhaften Umsturzes Gebrauch. Der Monarch auf dem Portrait »schien eines Tages, innerhalb einer ganz bestimmten Stunde alt geworden zu sein; und seit jener Stunde in seiner eisigen und ewigen, silbernen und schrecklichen Greisenhaftigkeit eingeschlossen zu bleiben […] Und Carl Joseph fror unter den blauen Blicken seines Kaisers« (V. 203, Hervorhebung S.K.). Auffälligerweise trägt Roth auch an dieser Gelenkstelle ungeschickt, in kunstgewerblichem Lyrismus assonierend die affektsteigernden Attribute auf: eisig-ewig mit dem klapprigen Wort »Greisenhaftigkeit« und silbern-schrecklich. Es wirkt, als würde der Autor einen eigenen Hang zum Klischieren und zur plakativen Schminke lustvoll ironisch zelebrieren. Die Bildnisse der beiden physiognomisch ähnlich changierenden Ahnengestalten, Baron Trotta und seiner kaiserlichen Majestät, geben Carl Joseph gleiche Rätsel von Nähe und Ferne Licht und Opakheit auf (V. 168, 194, 202f). Der alte Major Trotta lebte (man erinnere) fort »gleich einem flüchtigen Schatten, den ein heimlich geborgener Gegenstand in die helle Welt des Lebendigen schickt« (V. 149); »unnahbar geborgen in seinem kristallenen Panzer« (V. 203) scheint der Kaiser Franz Joseph II. wie eine Gestalt eines barocken Deckengemäldes noch über den Lebenden zu schweben – Roth bemüht hier wiederum an charakteristischer Stelle schlichte Überlieferungsformen des Prächtigen und Sublimen irgendwo zwischen Disneyland, Volksmärchen, volkstümlichem Pilgerkitsch, kunstgewerblichem Neobarock und gespenstischen Remakes alter Totenkulte im 20. Jahrhundert. In Volks- und Kunstmärchen werden Schneewittchen und andere in einem Kristallsarg aufgebahrt bis zu neuerlicher Verwendung durch die Lebenden. In Nevers, dem stark frequentierten Pilgerort im Süden Frankreichs, liegt die 1879 verstorbene Schwester Marie Bernard (»Heilige Bernadette«) in der Kloster-

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kapelle aufgebahrt536. Die sterblichen Überreste des Heiligen Antonius liegen noch heute in Padua im Glassarg (oder -schrein)537. Allerdings dürfte die berühmteste Mumie der Moderne diejenige Lenins sein – gefolgt von der Maos538. Roth glich den adorierten Kaiser unter Missachtung aller Peinlichkeitsgrenzen und ästhetischer Sublimierungsansprüche verstörend distanzlos solchen populistischen, bigotten Inszenierungen, Satyrspielen einstiger Religionen an. Ambivalenzen und provozierte Rettungsgedanken sind oft Quellen und Motoren, doch nicht selten auch Feinde künstlerischer Phantasie. Allerdings: Es gehört zu den ästhetischen Qualitäten dieses Romans, dass kaum je unterschieden werden kann, was ironisch simuliert oder lustvoll gebastelte Staffage ist und was tatsächlich »gesagt« wird. 8 »Alle deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig« Ambivalente Oppositionskonstruktionen und Geschlechterstereotypen im Roman »Das falsche Gewicht« I Umschlagen gegensätzlicher Ordnungen und artifizielle Aneignung der »Oral tradition« Von wenigen Werken bloß sind mehrere Stadien erhalten, doch womöglich würde auch ein genaues Studium dieser Entwürfe, Vorfassungen und Skizzen (etwa die vom Leo-Baeck-Institut bewahr-

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https://www.heiligenlexikon.de/BiographienB/Bernadette_Soubirous_Marie_ Bernard.htm. Abbildung z.B. unter http://www.santantonio.org/de/content/rekognoszierung. Eine kurze Anschauung vermitteln Julia Smirnova und Frank Rumpf in: https://www.welt.de/reise/staedtereisen/article116180521/Gruselig-und-faszinierend-Ausfluege-ins-Jenseits.html.

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ten539), das Umstürzen von Ordnungen und Wertungen in ihr Gegenteil als Eigentümlichkeit des Schaffensprozesses nachvollziehbar machen: Ambivalenz wäre damit ganz konkret als Antriebskraft, Widerpart und Inspirationsmoment der schöpferischen Erfindungen erkennbar. David Bronsen hat dazu Instruktives geben können: Er zeigte, wie Roth im Laufe der Niederschrift Unvorhergesehenem mitunter soviel Raum gewährte, dass die Geschichte der anfänglich eingeschlagenen Richtung am Ende beinahe diametral entgegenlief540. (Die große Ausnahme, die diese Regel bestätigt, mag der »Radetzkymarsch« sein.) Wir sahen im einleitenden Teil, dass und wie der Erzähler Roth vermied, als ein den Stoff von Beginn an überblickender Souverän aufzutreten, der vorweg Groß- und Kleinform strategisch und kompositorisch durchorganisiert hat, und stattdessen Techniken der kontrollierten assoziativen Abirrung und quasimündlichen Abschweifung, der Sprunghaftigkeit im Kleinen und Großen, überhaupt der kleinteilig springenden Periodik kultivierte, ohne einen rhythmischen oder modulatorischen Plan zu besitzen – zumindest dem ästhetisch Schein nach, der meist in mehreren Arbeitsgängen künstlich nachbearbeitet und gewiss auch bewusst verstärkt wurde. Wiewohl der Erzähler sich dem Habitus nach als improvisierend den Verlauf der Geschichte selbst erst entdeckender Autor gibt, ist er andererseits umso allmächtiger: Er kann beliebig die Perspektiven wechseln, unmerklich rasch oder ironisch ausdrücklich gemacht. Oft verschleift Roth den Übergang von einer Binnenperspektive der Figur in eine Außenperspektive des Autors, aber auch von direkter und indirekter Rede.

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http://digifindingaids.cjh.org/?pID=121485. Viele der Typoskripte sind im Netz zugänglich, doch sind die erhaltenen Versionen offenbar meist schon nah an der späteren Druckfassung, z.B. der Erzählung »Leviathan«: http://www.archive.org/stream/josephroth_02_reel02#page/n618/mode/ 1up. Bronsen 1974, S. 319f.

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Roth inszenierte mit seiner Weise, an das mündliche Stegreiferzählen anzuknüpfen, einen Schein lebensweltlicher Ursprünglichkeit. Den verstärken sollten dann sicher auch die (vielleicht von Scholem Alejchem inspirierten) burschikose Gesten aus dem Repertoire der Mündlichkeit, zumal jene, die sich Redewendungen und Sprichwörtern verdanken: »So also starb der Eichmeister Anselm Eibenschütz, und, wie man zu sagen pflegt: Kein Hahn krähte nach ihm« (VI. 223), »Er hatte, wie man zu sagen pflegt, von der Pike auf gedient«; »Ach, sie sind einsam, die längerdienenden Unteroffiziere« (VI. 130). Aber auch die in der Schriftsprache als ungeschickt empfundenen Wortstellungen: »Aber der Zorn nutzte gar nichts dem Anselm« (VI. 131). Derlei Gesten machte Roth wie auch die Adaptionen von Schlagersentimentalität und lyrischen Standardmustern zu Teilmomenten seines Tonspektrums und seiner Poetik der »ordentliche[n] Verworrenheit« und »planmäßig exakten Willkür«, der »Ziellosigkeit von zweckhaft scheinendem Aspekt« (III. 229). Ordnungswille im Schein der Verworrenheit, das verborgen Planmäßige in der willkürlichen Bauanordnung, das Ziellose des scheinbar ganz Zweckmäßigen – diese Formeln sind direkt als poetolologische Selbstbeschreibungen lesbar, wie wir vielfach sahen. Im vorliegenden Abschnitt soll am Textdetail geprüft werden, ob dieser Eindruck auch für einen Roman zutrifft, der sich ostentativ die Rolle des mündlichen, quasi-improvisatorischen Erzählens zueigen macht: »Das falsche Gewicht«, nach Teilvorabdrucken in der »Pariser Tageszeitung«, 1937 vom legendären Amsterdamer Querido-Verlag publiziert (vgl. VI. 781). Wir werden sehen, dass das Dilemma von Ordnung und Ordnungsabwehr, Kalkül und Subversion, als kreative Spannung von Konstruktion und Improvisation, vorausschauender Planung und dem Charme des lebendigen Sich-Überraschenlassens, von Zufall, Launen, Momenteinfällen, aber auch als ambivalentes Spiel mit Ausdrucks- und Vorstellungsklischees wiederkehrt. Es gehört zum Reiz dieser Prosa, dass man im Detail nie genau weiß, wo spielt hier einer den launigen Gaukler und wo ist er es »wirklich«,

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wo improvisiert er ›tatsächlich‹ und wo mimt er Spontaneität. Vor allem ist der Roman das vielleicht glücklichste Beispiel für Roths kunstvolles Spiel mit Verbergen und Enthüllen. In den fein gebauten Eingangspassagen wird daraus ein raffiniertes Verbergen von motivischem Kalkül und architektonischer Konstruktion: Der Schein eines arg-, ja planlos daherkommenden Stegreiftones. Verhüllt jedoch werden dem noch jungfräulichen Leser Ahnungen und motivische Allusionen darüber preisgegeben, was einmal aus den Elementen werden wird, die im munter abwegigen Parlando des Anfangs anklingen. Die ersten vier Absätze nehmen kaum mehr als eine Druckseite ein, doch geben sie, während sie vielfaches Wiederaufnehmen und Fallenlassen der erzählerischen Maschen fingieren, ein aufs Äußerste verknapptes Bild der für den ganzen Roman substanziellen Bauelemente und -strukturen. Erst dann, im fünften Absatz (VI. 130), beginnt mit dem lakonischen Bericht über den äußeren Lebenswandel des Eibenschütz bis zum Quittieren des Armeedienstes, die »eigentliche«, empirisch-sachliche, linear fortschreitende Exposition. Die Absätze davor sind etwas wie ein Vorhang des Ganzen, eine rhapsodische, retardierende Ouvertüre, die das Kommende anklingen lässt in embryonaler Vorform. Sie schenken nur Ahnungen davon, wie diese Keime einmal im Reifezustand aussehen werden – Ahnungen, die als solche erst bewusst werden können im Rückblick und die doch des Exponierens im vagen Zustand der Vorahnung bedürfen, um der Geschichte Bündigkeit zu verleihen. VI. I »[129.1] Es war einmal im Bezirk Zlotogrod ein Eichmeister, der hieß Anselm [2] Eibenschütz. Seine Aufgabe bestand darin, die Maße und die Gewichte [3] der Kaufleute im ganzen Bezirk zu prüfen. In bestimmten Zeiträumen [4] geht Eibenschütz also von einem Laden zum andern und untersucht [5] die Ellen und die Waagen und die Gewichte. Es begleitet ihn ein [6] Wacht-

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meister der Gendarmerie in voller Rüstung. Dadurch gibt der [7] Staat zu erkennen, daß er mit Waffen, wenn es nötig werden sollte, die [8] Fälscher zu strafen bedacht ist, jenem Gebot getreu, das in der Heili[9]gen Schrift verkündet wird und dem zufolge ein Fälscher gleich ist [10] einem Räuber … [11] Was nun Zlotogrod betrifft, so war dieser Bezirk ziemlich ausgedehnt. [12] Er umfaßte vier größere Dörfer, zwei bedeutende Marktweiler und [13] schließlich das Städtchen Zlotogrod selbst. [14] Der Eichmeister benützte für seine Dienstwege ein ärarisches, einspän[15]niges, zweiräderiges Wägelchen, samt einem Schimmel, für dessen Er[16]haltung Eibenschütz selbst aufzukommen hatte. [17] Der Schimmel besaß noch ein ansehnliches Temperament. Er hatte [18] drei Jahre beim Train gedient und war nur infolge einer plötzlichen [19] Erblindung am linken Auge, deren Ursache auch der Veterinär nicht [20] erklären konnte, dem Zivildienst überstellt worden. Es war immerhin [21] ein stattlicher Schimmel, vorgespannt einem hurtigen goldgelben Wä[22]gelchen. Darin saß an manchen Tagen neben dem Eichmeister Eiben[23]schütz der Wachtmeister der Gendarmerie Wenzel Slama. Auf seinem [24] sandgelben Helm glänzten die goldene Pickel und der kaiserliche Dop[25]peladler. Zwischen seinen Knien ragte das Gewehr mit dem aufge[26]pflanzten Bajonett empor. Zügel und Peitsche hielt der Eichmeister in [27] der Hand. Sein blonder und weicher, mit Sorgfalt emporgewichster [28] Schnurrbart schimmerte ebenso golden wie Doppeladler und Pickel[29]haube. Aus dem gleichen Material schien er gemacht. Von Zeit zu Zeit [30] knallte fröhlich die Peitsche, und es war, als lachte sie geradezu. Der [31] Schimmel galoppierte dahin, mit ehrgeiziger Eleganz und mit dem [32] Elan eines aktiven Kavalleriepferdes. Und an heißen Sommertagen, [130.1] wenn die Straßen und Wege des Bezirkes Zlotogrod ganz tro-

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cken und [2] beinahe durstig waren, erhob sich ein gewaltiger, graugoldener Staub[3]wirbel und hüllte den Schimmel, das Wägelchen, den Wachtmeister [4] und den Eichmeister ein. Im Winter aber stand dem Anselm Eiben[5]schütz ein kleiner, zweisitziger Schlitten zur Verfügung. Der Schim[6]mel hatte den gleichen eleganten Galopp, Sommer wie Winter. Kein [7] graugoldener mehr, sondern ein silberner, ein Schneewirbel hüllte den [8] Wachtmeister, den Eichmeister, den Schlitten in Unsichtbarkeit, und [9] den Schimmel erst recht, da er fast so weiß war wie der Schnee. [10] Anselm Eibenschütz, unser Eichmeister, war ein sehr stattlicher Mann. [11] Er war ein alter Soldat. Er hatte seine zwölf Jahre als längerdienender [12] Unteroffizier beim Elften Artillerieregiment verbracht. Er hatte, wie [13] man zu sagen pflegt, von der Pike auf gedient. Er war ein redlicher [14] Soldat gewesen. Und er hätte niemals das Militär verlassen, wenn ihn [15] nicht seine Frau in ihrer strengen, ja unerbittlichen Weise dazu ge[16]zwungen hätte. [17] Er hatte geheiratet, wie es fast alle längerdienenden Unteroffiziere zu [18] tun pflegen. Ach, sie sind einsam, die längerdienenden Unteroffiziere! Nur [19] Männer sehen sie, lauter Männer! Die Frauen, denen sie begeg[20]nen, huschen an ihnen vorbei wie Schwalben. Sie heiraten, die Unter[21]offiziere, sozusagen um wenigstens eine einzige Schwalbe zu behalten. [22] Also hatte auch der längerdienende Feuerwerker Eibenschütz geheira[23]tet, eine gleichgültige Frau, wie jeder hätte sehen können. Es tat ihm so [24] leid, seine Uniform zu verlassen. Er hatte Zivilkleider nicht gern, es [25] war ihm zumute wie etwa einer Schnecke, die man zwingt, ihr Haus zu [26] verlassen, das sie aus ihrem eigenen Speichel, also aus ihrem Fleisch [27] und Blut, ein viertel Schnecken-Leben lang gebaut hat. […]«541 541

VI.129f. Die Zeilenmarkierung folgt dem Abdruck in der Werkausgabe.

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Roth exponiert die Grundelemente des Romans – es sind die seines Lebens, des plötzlichen Falls (oder Austritts) aus einer strikt geregelten Ordnung; letztere wiederum in der militärischen (Wert- und Sozial-) k.u.k. Ordnung verkörpert. Lustigerweise lässt er das Dienstpferd des Eibenschütz ebenfalls wegen eines kleinen Unglücksfalles aus dem Militärdienst scheiden. Er gehört damit zu den Figuren in Roths Erzählwelt, die aus der strikten Ordnungswelt fielen, Andreas Pum, der Helden-Vater Trotta etc. »Es war einmal« – so beginnt man keinen Bericht, sondern eine Fabel, ein Märchen oder eine Parodie dieser. Das Titelblatt versprach indes die »Geschichte eines Eichmeisters«, nicht eine Stegreifmär – künstlich angereichert mit Konsonanten, als ob schon hier das lustige Verwirrspiel mit Ernst und Flunkerei, Klarheit und systematischer Schlamperei beginne: Zugleich wird der nachfolgende Text »Roman« genannt. Die Diskrepanz ist einerseits lustig, andererseits fordert sie, wie alle Sprünge und Diskontinuitäten der Ouvertüre, den Leser in munterer Plauderei heraus, Reflexionen über den Status von Erzähler und erzählter Welt anzustellen – zumal nach der unbestimmten Eswar-einmal-Zeit sogleich überaus bestimmt der Name des Helden eingeführt wird: »[…] der hieß Anselm Eibenschütz«. Das ist eine Geste, der man den Ursprung im mündlich extemporierenden Erzählen ansehen soll, und es ist eine Art Taufe im Moment des Erzählens, die wenig oder allenfalls einen augenzwinkernden Anspruch auf Historizität stellen darf – umgekehrt doch so bestimmt daherkommt, als wäre dieser Sprecher nur ein historischer Augenzeuge. Der spielerische und ironische Umgang mit solchen Zweideutigkeiten gehört wesentlich zum Charme dieser Art Erzählrede. »Eibenschütz« ruft östliche k.u.k-Regionen auf: Es war unter anderem der deutsche Name der südöstlich von Brünn gelegenen Stadt Ivančic, ein verbreiteter Familienname, vorwiegend von Juden, darunter Rabbis542. 542

Isaac B.Singers Vater (wenn wir der romanesk ausgesponnenen Autobiographie Verloren in Amerika trauen dürfen, München 1983, S. 111f) war ein

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Schon am Ende von Satz zwei wechselt ohne ersichtlichen Grund die Zeitebene vom märchenhaften Es-war-einmal in die Gegenwart: »In bestimmten Zeiträumen geht Eibenschütz also […]«. Das Wörtchen »also« richtet sich an einen Rezipienten, der willig der Fiktion folgt, leiblich anwesend bei der mündlichen Präsentation der Geschichte. »also« fingiert eine nähere Bekanntschaft des Lesers mit der Figur, wiewohl ihm diese doch gerade erst vorgestellt wurde. Derlei heiter zelebrierte Sprünge insinuieren Lebendigkeit eines mündlich improvisierenden Erzählens. Doch ist Kalkül am Werk, ähnlich wie wir es am »Erdbeeren«-Entwurf beobachtet haben: Vom Eichmeister werden nur der in Osteuropa angesiedelte Bezirk, der Eigenname und seine Lebensaufgabe nennend aufgezählt. Das sind die Essentialien der Geschichte. Präsentiert mit einem lockeren »Es war einmal …«. Die Einführung der eichmeisterlichen »Aufgabe« (Zeile 2), nämlich die vom Buchtitel bereits vorangekündigte Prüfung der »Maße und Gewichte der Kaufleute im ganzen Bezirk«, erfolgt mit sehr viel mehr Kalkül, als der laxe Ton vermuten lässt: Diese Aufgabe wird dem Leser mitgeteilt, bevor der irgendetwas weiß über Alter, Umstände, Zeit und Ort. Dass der eigentliche Titel zweideutig ist, wird ihn zunächst nicht weiter beschäftigen: Ein Gewicht selbst kann eigentlich nicht »falsch« sein; man kann es lediglich für ein anderes, als es selbst ist, ausgeben. Und genau um dieses Als-etwas-anderesAusgeben geht es überhaupt im Roman – und der Eichmeister ist derjenige, der diese Als-etwas-anderes aufdecken und unterbinden soll. Wir sprechen vom falschen Gewicht allermeist in abstrakten Zusammenhängen: Man misst einer Sache falsches Gewicht bei. Aufgabe des Eichmeisters ist, dafür zu sorgen, dass ein jedes Gewicht, durch das anderes gewichtet und so symbolisch oder physisch Bewunderer und Parteigänger eines Rabbi Jonathan Eibenschütz, seines Zeichens Verfasser der »Tafeln der Zeugnisse«. Es existierte zudem eine weitverzweigte, seit der 2. Hälfte wirkende Künstlerfamilie dieses Namens, vgl. http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_E/Eibenschuetz_Familie.xml.

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tausch- und verstehbar wird, gleichsam es selbst, folglich mit sich identisch bleibt. Durch die märchenhaft unbestimmte Zeitangabe »Es war einmal« erscheint das Gewichten in diesem zweiten Satz wie eine Aufgabe, die jenseits von Zeit und Raum und unabhängig von konkreten Akteuren existiert, überindividuell und so, als ob der jetzige, in der begonnenen Erzählung auftretende Eichmeister nur einer in einer langen Reihe sei, die diese Aufgabe jeweils übernehmen müssen. Der Eichmeister betritt die Szene dann auch zunächst als bloßes, noch individualitätsloses Instrument im Dienste dieser höheren Aufgabe – während Anselms Vorgänger im Amt eine geradezu klassisch reine Verkörperung des »altösterreichischen Schlendrians« ist, eine Figur aus jener Vergangenheit des Rothschen Erzählkosmos, in der man noch in sich ruhende Individualitäten besaß (s.u.). Als ein solches gibt uns der Erzähler Anselm im Augenblick des Todes endgültig zu erkennen – als formbarer Geist in den Händen des gottgleichen »größten aller Eichmeister« tritt er ab, im Bewusstsein, seine Pflicht erfüllt zu haben (siehe VI. 222). Anselm ist tot, der Zwist von exakter (Meß-)Ordnung und unwägbarem Leben bleibt. Das wird in einem wiederum an Kitschgrenzen rührenden Opern- oder Filmschluss präsentiert. Wer nun erwartet, nach dem Ruck in die Gegenwart in Satz drei, also nach der mit ein paar halben Strichen hingesetzten kleinen Minimalszenerie des Eilens von Laden zu Laden um des Prüfens und Messens willen, werde doch der Held noch genauer vorgestellt und in die Welt konkreter Dinge versetzt, wird ein weiteres Mal enttäuscht. Der Erzähler lässt das Auge des Lesers sogleich zum Begleiter des Eichmeisters hinübereilen, zum Wachtmeister Slama (bekannt aus dem »Radetzymarsch«), der unverhofft ins Bild gesprungen scheint. (Er ist Gendarm, der Rang »Wachtmeister« macht seine Aufgabe in der Geschichte ausdrücklich.) Und auch hier schweift der Erzähler ab, noch bevor er ganz angekommen ist: Die Uniform wird salopp, wörtlich genommen unrichtig, als »Rüstung« vorgeführt,

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doch nur, um an diesen Hinweis sogleich eine kleine, lustige Volksbelehrung in Sachen Staatskunde zu knüpfen: »Dadurch gibt der Staat zu erkennen, daß er mit Waffen, wenn es nötig werden sollte, die Fälscher zu strafen bedacht ist«, mit den Weihen der Kirche obendrein. Das klingt possierlich, als spreche hier jemand zu einer Schulklasse. Was als kleine ironische Hyperbole aus einer Laune heraus eingestreut schien, ist zugleich von postromantischem Kalkül: Sie überbrückt die Diskrepanz zwischen der Gewöhnlichkeit der Helden und der höheren Aufgabe, in deren Dienst sie – ohne dass sie es ganz begreifen – stehen. Die Diskrepanz nimmt (als ein sozusagen unterirdischer Nebenfluss) im Laufe der geschilderten Ereignisse zu, um dann, wenigstens in der Figur des Eichmeisters, einem lustigen kleinen Opernfinale am Ende, das den Sinn der ganzen Geschichte offenbaren soll und ihn doch im Zweideutigen belässt, ›aufgehoben‹ zu werden. Man kann es vielleicht eine »architektonische Pointe« nennen, dass der sinnreiche Scherz mit dem hyperbolischen Epitheton »Rüstung« zwei Seiten später, am Ende des ersten Kapitels wiederholt wird – nun gemünzt auf den Eibenschützen und in umgekehrte Richtung. Krebsgängig wird das Eingangsmotiv (Zlotogrod-EichmeisterRüstung) aufgenommen und damit das erste Kapitel tektonisch unter Verwendung der von Roth gerne gebrauchten, anaphorischen Reihungstechnik in sich abgeschlossen: »Er rüstete ab. Er verließ die Kaserne, die Uniform, die Kameraden und die Freunde. Er fuhr nach Zlotogrod.« (VI. 130) Die Verschränkung von (re-inszenierter) Improvisation und vorausweisendem (manifestem, ostentativem) Kalkül reicht bis ins unscheinbare Detail. Drei Punkte beschließen den ersten Absatz und trennen vom übrigen Text. Sie stehen (auch) für ein Innehalten beim Erzählvorgang, so, als müsste dem Hörer Zeit gegeben werden, das eben Erklungene in geraffter Zeit noch einmal zu vergegenwärtigen oder sich weiter auszumalen. Die Punkte stehen dort auch so, als würde sich ein Vortragender darauf besinnen, zu weit

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vom erzählerischen Wege abgekommen zu sein, und müsste sich nun (mühsam) rekonstruieren, was sein eigentliches Ziel war. (Man erinnere die metareflexive Formulierung Roths »Eine Ziellosigkeit von zweckhaft scheinendem Aspekt«!) Der den Punkten nachfolgende Satz schlägt tatsächlich eine neue Richtung ein, weg von den Personen. Der Ort des Fahrend-Gefahrenwerdens kommt ins Blickfeld – aber eben so, als erinnerte der Erzähler, dass die Eingangsworte ja »Es war einmal im Bezirk Zlotogrod« lauteten und unterwegs nur kurzzeitig vergessen gingen: »Was nun Zlotogrod betrifft […]« (Zeile 11). Der erste Absatz, der den Grundriss im Verhältnis von Held und unwandelbarem, sanktionsbewehrtem Gesetz des Messens festlegte, wird durch diesen Neueinsatz des Erzählers rückwirkend zu einem in sich geschlossenen Bild, das den Eichmeister samt Staatsdiener an seiner Seite wie von außerhalb hereinkommend in raumzeitliche Lokalisierung exponiert: Die auffällige, zweimalige Nennung des Geschäftes von Eibenschütz (in Zeile 2f und 4f) erscheint wiederum als an Mündlichkeit angelehnte Redundanz, wird jedoch beim ersten Mal in der Es-war-einmal-Zeit exponiert, das zweite Mal schon in der konkreten Lokalität – in »bestimmten Zeiträumen« (Zeile 3, Hervorhebung S.K.). Der Erzähler verweigert sich einem »fixierten« Standpunkt. Jeder Schritt entsteht als Wechselwirkung von »Willkür«, sich fortlaufend verändernden Strukturierungsplänen, Hintergrundintuitionen über die wesentlichen Bauelemente einer Geschichte – aus dieser Mixtur entsteht der Schein, eine Geschichte würde sich gleichsam eigendynamisch entwickeln. Wie sehr dieser Schein vom Schreibkonzept abhängt, würde auch ein Vergleich mit den frühen, von durchgehender satirischer Distanz geprägten Erzählungen Roths zeigen: Im reifen Erzählwerk, gehört das ambigue Schlingern zwischen Ordnung und Ordnungsverweigerung, empathischem Involviertsein und ironischer Desillusionierung selbst ebenso zum Erzählen wie das fortlaufend ironische Präsentieren der erzählenden Erzeugung von Sachillusionen. Sätze wie »Anselm

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Eibenschütz, unser Eichmeister, war ein sehr stattlicher Mann. Er war ein alter Soldat.« (VI. 130) werden in ihrer Naivität des Einbeziehens von Zuhörern/Lesern durch das »uns« und dem vorkünstlerischen Plauderton nicht historisch genommen. (Reizvollerweise kann das »uns« auch das Schtetl-Kollektiv meinen, aus dem heraus der Erzähler zu sprechen vorgibt.) Das Besondere dieses Erzählens liegt gerade nicht in einem »individuellen Ton«; dieser »Ton« ist herzig naiv mündlich und klingt immer wie gutgelaunt arglos, entliehen und neu improvisiert aus Allerweltsbanalitäten. Das Besondere liegt darin, dass – anders als bei den ebenfalls Mündlichkeit adaptierenden Texten Alejchems – jeder Leser spürt, der »Ton« sei immer auch Maskerade, Spiel, Fassade. In dem sich selbst nicht vorab auf eine Strategie oder einen Ton festlegenden, Handlung und Umstände nur von Satz zu Satz fortspinnenden Erzähler versteckt sich der Regisseur eines Erzählexperimentes, das die Spannung von Regeln, Strategien, willentlicher Kontrolle und (angeblich) regelfeindlichem Leben auslotet, dabei zugleich die konstruktive, illusionsschaffende Rolle des Erzählers selbst ironisch mit einbringend. Das Experiment ergründet, genauer gesagt, die Spannungen von objektivierter, expliziter, sanktionsbewehrt geregelter Ordnung und ihren Gegenkräften auf der Objektebene in (häufig ironisierter) Wechselwirkung mit einer strukturähnlichen Spannung auf der (sich ironisierenden) Erzählebene. Unstet auf kleinem Raum bleibt der Erzähler, nachdem er in Zeile 11ff die konkrete raum-zeitliche Welt skizzenhaft vor Augen führte. Nur zwei Sätze, und auch dieser Strang der Vorstellung des landschaftlichen Kontextes geht ebenfalls ins Leere: Unvermittelt gleitet das Augenmerk wieder (Zeile 14) zum Eichmeister zurück – so als ob erst einmal eine provisorische Kulisse gezimmert werden musste, um ihn konkret sehen zu können. Dem ersten Anschein nach kommt er jetzt als jemand in den Blick, der nicht nur gefahren wird und dient, sondern auch selbst Lebensfäden in der Hand hält, also aktiv gestaltet: »Der Eichmeister benützte für seine Dienstwege […]«.

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Doch abermals, wie zuvor beim Streiflicht auf den Gendarm im ersten Absatz, springt der Erzähler rasch und unzeitig wieder davon: Jetzt lässt er sich in irritierender Ausführlichkeit über (scheinbares) Beiwerk aus, Anselms Dienstgefährt. Vom Ort selbst war zuvor in typischer Floskel mündlicher Konversation (»Was nun Zlotogrod betrifft«) lediglich gesagt worden, dass wir es mit einer Provinz zu tun haben, die »ziemlich ausgedehnt« sei. Genau besehen wird mit dieser eingestreuten Allerweltseigenschaft jedoch eine für die spätere Handlung entscheidende Eigenschaft des Ortes vorgestellt: Der »ziemlichen Ausgedehntheit« wegen ist er schwierig zu überwachen, und wer versucht, das zu tun, braucht ein Gefährt. Ausdehnung, Zerstreutheit – das sind wiederkehrende Eigenschaften des Rothschen Ostens, der Gegenwelt zur unbestechlichen, quantifizierbaren Welt der Ordnung, deren Handlanger Gendarm und Eichmeister sind. Anselm, der, vom Armeedienst entlassen, in die Tiefen der Provinz versetzt wurde, betritt, nachdem die geographische Kulisse im Schnellverfahren wie in einer Punkt-Strich-Zeichnung aufgezogen wurde, nicht als durch freien Willen gesteuerter Handelnder die Bühne, sondern als passives Instrument, als Insasse des von der Ordnungs-Macht gestellten Transportmittels. Daran wird sich der Leser am Schluss des Romans erinnern: Anselm verlässt diese Provinz, die (für ihn) identisch mit der Bühne des Lebens geworden ist, so wie er sie betrat – dahingetragen auf einem pferdgezogenen Gefährt. Dass das ganze Geschehen in dieser Weise auf der Bühne des Lebens inszeniert wird, gehört zu den Kunstgriffen des Textes, und auch, dass man erst vom Ende her begreift, wie sehr das bereits zu Beginn der Fall war. Zudem korrespondiert dieser Inszenierungscharakter der inszenierten Mündlichkeit selbst. Ebenso wie Roths Arbeit mit motivischen Verknüpfungen, Oppositionsfiguren, Übertragungspointen u.a. gehört dieses implizite Einbetten des Geschehens in einen bühnenartigen Raum zu den Techniken, die einen solchen Text prinzipiell über jedes naive Geschichtenerzählen hinausheben. Ein Autor mit Kunstverstand wie Joseph Roth erzählt niemals eine Ge-

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schichte – er bedient sich allenfalls des Geschichtenerzählers als Naivitätsmaske, mithin als Teilmoment eines künstlerischen Spiels. Ein Beispiel für Tonlagenwechsel wäre im dritten Absatz »ein ärarisches, einspänniges, zweirädriges Wägelchen«. Das ist zunächst eine lustige Spielerei mit vier Worten, in deren Zentrum der /ä/-Laut steht, wobei die drei Adjektive viersilbig und von reimartig ähnlicher /i/+Konsonant-/es-Struktur sind. Das vierte Wort variiert diese Endung und kontrastiert als Nomen auch in der Wortgattung, ist jedoch sonst Teil der Kette und korrespondiert dem Wort »ärarisch«, insofern das /ä/ auch dort in der ersten Silbe auftritt. Die beiden äußeren Worte der Vierergruppe umfangen daher die mittleren beiden. Eigentümlich hört man die Steigerung ein-zwei-Wägelchen heraus. »ärarisch« selbst bricht mit dem vorherigen Einfachheitston, es klingt lustig gespreizt, zumal es mit der Dürftigkeit des bloß einspännigen und zweirädigen Wägelchens kontrastiert. Der Tonbruch mag in diesem Falle auch motiviert sein durch ein kleines stilistisches Dilemma: »immerhin ein stattlicher Schimmel« heißt es IV. 129, Z. 21; Eibenschütz »war ein sehr stattlicher Mann« in VI. 130, Z. 10. Der Kutschwagen würde naheliegenderweise ebenfalls »staatlich« genannt werden – das allerdings machte die stattlich-staatlich Wortgruppe zu auffällig konstruiert. Von dieser speziellen Motivation abgesehen, gehört es zum Konzept des scheinnaiven, quasi-mündlichen Geschichtenerzählens, eine Vielfalt des Tonwechsels zu integrieren; das Spiel mit Farbkontrasten und leichten Dissonanzen solcher Vokabeln, mit idiomatischen Querständen gehört zur humoresk gebrochenen Artifizialität dieser Prosa. Mitunter rutscht man unbemerkt in andere Idiomatiken, andernorts wird ein auffälliger Bruch der Tonlage heiter ausgekostet und dem Leser wie eine Prise neuen Gewürzes unter die Nase gehalten: Das Attribut »ärarisch« kontrastiert mit dem wiederum leicht märchenhaft klingenden Diminutiv »Wägelchen« – auf den Hintersinn dieses Kontrastes kommen wir zurück. Der Satz endet in eigentümlichem Papierdeutsch: »einem Schimmel, für dessen Erhaltung der

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Eibenschütz selbst aufzukommen hatte.« Auch hier stellen sich reizvolle Konnotationen ein: »aufzukommen« meint sicher den finanziellen Aufwand, und das papierne »Erhaltung« klingt, als gehe es um die Funktionstüchtigkeit einer Maschine. Doch man kann bereits das empathische Besorgtsein, die Pflege, die Intimität im Umgang mit dem Schimmel angelegt und zugleich kaschiert finden, die an entscheidenden Gelenkstellen des Romans sichtbar werden. Das ist zuerst im Kapitel XII der Fall, worin der Schimmel dem Eibenschütz das nächstvertraute Wesen wird, dem er einen Eigennamen gibt, und ihm »Gute Nacht« sagen möchte, »aber plötzlich kehrt er um, sagt, wie zu einem Menschen: ›Einen Moment, bitte!‹ und geht in den Schuppen, und holt den Schlitten und führt das Pferd hinaus und schnallt mit zitternden und dennoch sicheren Fingern das Riemenzeug um, und die warme Wollhaardecke rollte er um den Leib des Tieres […].« (VI. 154) Dieser Augenblick der anthropomorphisierenden Intimität leitet die entscheidende Wende ein – den Eibenschütz zieht es unwiderstehlich zur erotisch lockenden Zigeunerin in die Grenzschenken. Er verschmilzt in dieser Sehnsucht nach erotischer Entgrenzung beinahe mit dem Schimmel zu einem Doppelwesen: »Es ist, als hätte er [der Schimmel] auch Sehnsucht, wie sein Herr, nach der Zigeunerin Nikitsch.« (ebd.). Dieser tragödienartige Wendepunkt des Geschehens entsteht weder aus einem alternativlosen Zwang noch einer freien Willensentscheidung heraus – sondern durch eine plötzliche Intuition, beinahe zufällig und zugleich beinahe ferngesteuert, zumindest im subjektiven Bewusstsein des Eibenschützes. Er will nur noch einmal kurz zum Schimmel in den Schuppen und ihm »Gute Nacht!« sagen – im nächsten Moment ist alles entschieden, obwohl niemand wirklich entschieden hat, will sagen: kein reflektierendes »Ich«. Das dürfte in solchen Lebenslagen gleichsam vernünftig sein. Und den Schimmel selbst kann es wie Eibenschütz zur verlockend entgrenzenden Zigeunerin in der anarchischen Grenzregion ziehen, weil er, der Schimmel, ja selbst, wie der Eibenschütz, ebenfalls aus dem Militärdienst

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entlassen und zwangsweise (wegen der einseitigen Erblindung!) »dem Zivilidienst überstellt worden« ist (VI. 129, Zeile 20). Schon hier, in dem Einleitungspassus der Geschichte, wird der Schimmel also (humoristisch) anthropomorphisiert und so zum Schicksalsgenossen des Eibenschütz, was das Herausfallen aus der ehrenvollen, strikt regulierten Welt des Militärs angeht. Dass zudem die einseitige Erblindung des Schimmels der einseitigen Erblindung des Vaters des Helden von Solferino im »Radetzkymarsch« entspricht, mag eine Art humoresker Querverweis Roths innerhalb des eigenen Werkes sein. (Auch die einseitige Erblindung des Wachtmeisters Trotta erzwingt die Beendigung des Militärdienstes.) II Romantische Klischees, Geschlechterstereotypen, Männerängste und Oppositionskonstruktionen Eibenschütz geht nach dieser schicksalsentscheidenden Wende, ausgelöst durch die intime Ansprache des Schimmels, konsequent auf einem inneren Weg fort, den er selbst – wie oft begegnet man diesem Motiv in Roths Erzählwerken! – gar nicht wirklich und planvoll vorausschauend gehen wollte und daher nicht ganz verantworten muss. Sein Weg zur Zigeunerin wird ihn lehren, was er nie gekannt hatte – Leidenschaft, unbedingtes Verlangen, Hitze statt der zeitlebens ihn beherrschenden Lauheit: »Bieder und einfach, wie er war, mit etwas schwerfälligem Gemüt, erlebte er die erste Leidenschaft seines Lebens gründlich, ehrlich, mit allen Schauern, Schaudern, Seligkeiten.« (VI. 183) Er war in der Armee, die die Unterordnung des bloß Subjektiven unter das Reglement und die Etikette verlangt, ausgerechnet als »Feuerwerker« verdingt (VI. 130, Z 22). Es ist, als würde seine Berufsbezeichnung etwas wissen, was Eibenschütz selbst noch nicht ahnte. Denn eine Feuertaufe wird ihm die Begegnung mit der Zigeunerin fürwahr bringen – und das in einer überraschend distanzlosen Adaption romantischer Klischees der geheimnisvollen, erotischen Freizügigkeit von Zigeunerinnen, an der die Romantik diverse

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Helden zugrunde gehen ließ. In diesem Falle adaptierte Roth wohl wirklich naiv ein Versatzstück des romantischen Repertoires, am prominentesten vertreten durch Mérimées (bzw. Bizets) »Carmen« und Victor Hugos »Esmeralda« (aus dem »Glöckner von NotreDame«). Die abendländischen Zigeunerklischees selbst sind allerdings sehr viel älter, in die Literatur wurden sie wirkmächtig von Cervantes eingebracht: »Wie in den exotistischen und orientalistischen Diskursen, mit denen es symptomatische Überschneidungen gibt, dient die ›schöne Zigeunerin‹ vor allen Dingen als Objekt männlichen sexuellen Begehrens. Auf sie werden nichtbürgerliches Rollenverhalten, ›natürliche‹ Weiblichkeit, gefährliche Wildheit, die Bereitschaft zur Promiskuität und schließlich immer wieder pädophile Phantasien projiziert.«543 Reflexive Distanz zu solchen althergebrachten Stereotypen von Männlichkeit gehörte, wie wir im Abschnitt zur »Legende vom Heiligen Trinker« sahen, eher nicht zu den Stärken des Joseph Roth. »›Schöne Zigeunerinnen‹ befremden durch eine geheimnisvolle Unzugänglichkeit selbst in Augenblicken intimer Nähe und die Entrückung in eine andere verborgene, nicht-zivilisatorische Ordnung oder animalische Sphäre.«544 Auch und gerade den Lebensort der Euphemia – die Grenzschenke – hat Joseph Roth in den Bahnen der postromantischen Klischees konstruiert: »Zu Beginn des 19. Jahrhunderts geht es um einen geheimnisvollen Raum, den die Zigeuner zu verbergen scheinen: eine unsichtbare Welt irgendwo draußen in der Natur oder im Inneren ihrer ›schwarzen‹ Seelen – vielleicht auch um das verlorene Paradies der modernen Industriegesellschaft: eine Insel selbstbestimmten Lebens.«545 Bei aller Konventionalität der Rothschen Auffassung figurengebundenen Erzählens ist auch »Euphemia« charmant individualisiert – dennoch verstört die Adaption jenes Klischee besonders, denn Roth romantisiert ungebrochen die Projektionen und damit das Jahr543 544 545

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hunderte alte (lange Zeit negativ besetzte) Merkmal »sozialer Devianz« der Zigeuner – einige Jahre nach der »Machtergreifung« Hitlers, als die rassistischen Verfolgungen längst eingesetzt hatten. Eibenschützʼ eigentlicher Austritt aus der lebenslähmenden, alles bedrohliche Begehren tötenden, Sicherheit jedoch und Sinnstabilität stiftenden Armee war eigentlich keine Folge eines Entschlusses, sondern der entscheidungsunwillige Gehorsam gegenüber seiner Gattin – was doppelt unverständlich ist, da er sie seinerseits aus blanker Gleichgültigkeit gegenüber jeder Bindung außerhalb des Militärs heiratet, aus willenloser Anpassung an seine Umwelt, in der man, wie Roth hier in seiner Schwäche für willkürliche und augenblicksbedingte Pauschalisierung sagt, das stets so machte. Die Begründung verdankt sich allerdings trotz des munteren Spiels mit willkürlichen Verallgemeinerungen der hysterischen Ambivalenz: Es gibt keine anderen Beziehungen als bedeutungslose Flüchtigkeit oder lähmende Verbindlichkeit der Ein-Bindung: »Er hatte geheiratet, wie es fast alle längerdienenden Unteroffizieren zu tun pflegen. Ach, sie sind einsam, die längerdienenden Unteroffiziere! Nur Männer sehen sie, lauter Männer! Die Frauen, denen sie begegnen, huschen an ihnen vorbei wie Schwalben. Sie heiraten, die Unteroffiziere, sozusagen um wenigstens eine einzige Schwalbe zu behalten. Also hatte auch der längerdienende Feuerwerker Eibenschütz geheiratet, eine gleichgültige Frau, wie jeder hätte sehen können.« (VI. 130) In diesem trostlosen Kontext sticht das Wort »Feuerwerker« heraus – erst am Ende wird der Leser wissen, weshalb. Die Aufzählung der Haltungen und Emotionen, deretwegen Eibenschütz dennoch geheiratet haben sollte, ist selbst ein Musterbeispiel von Ambivalenzen und willkürlicher Generalisierung: »Die meisten hatten Frauen: aus Irrtum, aus Einsamkeit, aus Liebe: Was weiß man! Alle gehorchten [!] den Frauen: aus Furcht und aus Ritterlichkeit und aus Gewohnheit und aus Angst vor Einsamkeit: Was weiß man!« (ebd.) Eben diese Gattin des Eichmeisters wird jedoch ungewollt das, was auch der Schimmel sein wird – ein Instrument des Geschicks,

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um Eibenschützʼ Schicksal zu vollenden. Als der ihren Forderungen nachgibt und den Dienst quittiert, ist es, wie erfahrene Leser Roths hier schon ahnen, nur noch eine Frage der Zeit, bis es ihn magisch in die diffuse Anti-Ordnung zieht, für die einige Gäste der Grenzschenke und vor allem die Zigeunerin stehen. Man erwartet die Figur des momentschnellen Umschlagens von entleerender, aber behütender Einbindung. Am Ende des Kapitels I erscheint es denn auch, in Gestalt eines ersten Auftretens intensiverer Gefühle in Eibenschützʼ leer routiniertem Leben. Die (hier unnötige) Bezeichnung »Feuerwerker« markiert auffällig diesen Umschlagpunkt, er gerät gleichsam in Zornesfeuer: »Alle Gesuche des Eibenschütz wurden abschlägig beschieden. Da ergriff ihn zum erstenmal ein echter Zorn gegen seine Frau. Und er, ein Feuerwerker, der so vielen Manövern und Vorgesetzten standgehalten hatte, gelobte sich selbst, daß er von Stunde ab stark gegen seine Frau sein würde.« (VI. 131) Das ist überdies der einzige, willentliche Entschluss des Eibenschütz – dieser entschiedene Vorsatz, die Frau abzuwehren, die so haargenau in seine emotional gleichgültige, doch angenehme Ich- weil Begehrens-lose Zeit in der Armee passte, also auf sie in bestimmter Weise zu reagieren. Und frei ist der Entschluss nicht; er wird diktiert von Erbitterung oder Kränkung. Frei wäre, sich aktiv dazu zu verhalten. Höchst bemerkenswert ist Roths Konstruktion, insofern der Ausbruch aus dem Korsett der Dienstregeln aus sexuellem und emotionalem Berauschungsverlangen zugleich ein Aufbruch zu einem anderen Selbst ist. Sexualität und Ich-Bildung bedingen sich gegenseitig. Eibenschütz ›entschließt‹ sich dazu, als es schon zu spät ist, weil er den entscheidenden Schritt bereits ihr gehorchend vollzogen hat. Und das, obgleich oder weil ihre Bindung nie etwas mit Verständnis, gemeinsamer Entwicklung zu tun hatte, sondern das Ergebnis einer kühlen Entscheidung war. (Die simulierte Gleichgültigkeit gegenüber Partner aus der »Legende« findet sich also auch hier.) Der plötzliche Hass auf die Frau (albern überdeutlich »Regina«, Königin,

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genannt) kann man dabei als unbewusste Abwehr vor Sexualängsten und zugleich Bestätigung von Frauenklischees verstehen. Regina nämlich war es, die einstmals als einzige der beiden Leidenschaft offen gezeigt hatte – also keineswegs so gleichgültig war, wie es eine Seite zuvor behauptet wurde (VI. 130, Z 23). Und ihre jetzige Gleichgültigkeit ist für das männliche Ego des Eibenschütz so kränkend wie nur denkbar: Sie hat ihn zu oft nackt, ohne den Schutzmantel der Uniform gesehen und ist offenbar enttäuscht von seiner Körperlichkeit. Ihre Forderung nach Austritt aus der Armee erscheint beinahe als symbolischer Akt der Entmännlichung oder Kastration. Die regressive Sehnsucht nach militärischer Uniformierung im doppelten Wortsinn dürfte also auch eine Flucht vor Ängsten des körperlichen Ungenügens sein – wozu umgekehrt Roths polemische Ablehnung des neuen Kultes der Nacktheit und des Sports zumal in Bezug auf Frauen passt. Die zeitlebens virulente Sehnsucht nach militärischer Ordnung ist an einigen Stellen ganz unverschlüsselt mit den gefährlichen Seiten der Sexualität und des männlichen Körpers verbunden – am meisten Gefahr und Kränkung geht von der sexuell aktiven Frau aus. Die Lethargie und Leidenschaftslosigkeit des Mannes in Uniform wirkt, als sei sie der seelische Mechanismus, sich dagegen zu schützen. Die Kränkung des Eibenschütz wird vermehrt, weil die Gattin ihn gegen einen Rangniederen (er ist Amtsschreiber), uniformlosen, aber jüngeren Mann ausgetauscht hat. Der Ehemann dagegen ist schnell gealtert: »In seine [des Eibenschütz] Uniform hatte sie sich dereinst verliebt – fünf Jahre war es im ganzen her. Jetzt, nachdem sie ihn in vielen Nächten nackt und ohne Uniform gesehen und besessen hatte, verlangte sie von ihm Zivil und Stellung und Heim und Kinder und Enkel und was weiß man noch alles!« (VI. 131). Hier treffen vermutlich zwei Männerängste aufeinander: Die Frau ist als sexuell aktives Wesen gefährlich, zumal bereit, für ihre vom Ehemann nicht mehr erfüllten Bedürfnisse andere Männer heranzuziehen. Sie fordert die eheliche Bindung mit Inhalt zu füllen. Regina

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macht ihrem Namen Ehre, indem sie das Heft in die Hand und sich einen Liebhaber nimmt. Wiewohl ihm gar lästig ist, er sie regelecht verachtet, seit sie ihn zwang (!), die Uniform abzulegen, verfällt Eibenschütz aller demonstrierten Kälte zum Trotz in Eifersucht. Er rächt die Kränkung, indem er den Liebhaber versetzen lässt. Es war ein Rothsches Lebensthema: Sexuelles Begehren und EinOrdnung schließen sich schon für Anton Wanzl (s.o.) aus, ebenso für den »sehr stattlichen«, doch schwachen Eibenschütz – nicht aber für eine Frau wie Regina. (Allerdings ist möglich, dass auch für sie die verbotene außereheliche Beziehung erregend ist, weil sie die moralische Gewohnheitsordnung durchbricht und neue Reize setzt.) Für eine Mehrzahl der männlichen Gestalten Roths jedoch dürfte dieses Ausschlussprinzip gelten. Wenn Shaked (1986, S. 91) behauptet: »der ›nationalistische‹, genau wie der sexuelle Assimilationsprozeß« werde von Roth »als negativ und zerstörerisch gewertet«, ist das daher abwegig; die Entleerung durch strikte, stabile, Geborgenheit in Gruppe oder Kollektiv erzeugende Einbindung betrifft Juden und Nicht-Juden, Sexualität und Nicht-Sexualität gleichermaßen. Männerphantasien und -ängste finden sich auch in diesem Erzähltext – verbunden mit Fragen der Macht und der Position in einer sozialen Bezugsgruppe. Die oben zitierte Passage über die angeblich typische, gleichgültige Partnerwahl betrifft nicht die Offiziere schlechthin, sondern nur Unteroffiziere. Sie scheinen so geringe Chancen zu haben, dass sie mit Zweckbeziehungen zu ihnen wenig attraktiven Frauen vorliebnehmen müssen. Sexuelle Beziehungen sind auch in diesen Phantasien Roths marktförmig organisiert – man kann sie, nötige Indiskretion vorausgesetzt, mit Roths Adoration von Erfolgsmenschen, Geldadel und Karriere zusammenbringen. Jedoch nur unter Beachtung des ambivalenten Verhältnisses zumal zu diesen Dingen. Von Männerphantasien im Verbund mit dem Ambivalenzdilemma werden auch Kairos und Katastrophe in »Das falsche Gewicht« bestimmt. Phantasien sind die Kehrseite von Ängsten – vor Versagen, Ungenügen, Konkurrenz und insbesondere der sexuell unersätt-

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lichen, die Männer tauschenden, gegeneinander ausspielenden und sich innerlich nie wirklich bindenden Frau – wie umgekehrt vor solchen, die sich allzu stark binden wollen. Eibenschütz erlebt zum ersten Mal, was überhaupt erotische Leidenschaft sein kann, als er nicht Liebhaber, sondern bezeichnenderweise Zweitliebhaber der Zigeunerin mit dem sprechenden Namen »Euphemia« ist. (Klar bleibt, dass Jadlowker ihr eigentlicher Gespiele bleibt, sobald er aus dem Gefängnis freikommt. Eibenschütz ist eine temporäre Lösung für eine Lücke, die der ungleich stärkere, ursprünglichere, maskulinere Mann hinterlassen hat – und auch das nur, bis im Winter der noch ursprünglichere Maronibrater zurückkehren wird.) Die pejorative Bedeutung unseres heutigen »Euphemismus« besaß die griechische Ursprungsform εὐφημία (euphēmía) noch nicht. Es meinte etwas wie »Worte von guter Vorbedeutung«. Roth muss bei der lustig-listigen Namensgebung beide Bedeutungen im Auge gehabt haben. Euphemia ist einerseits so promiskuitiv, wie Männerphantasien es solchen (natürlich schönen) Frauengestalten am Rande der Gesellschaft bis heute gern zuschreiben – doch insgeheim lebt sie, wie wir sehen werden, freiwillig in höchster Unselbständigkeit und in ihrerseits reaktionären Männerrollen: Sie »gehört« das Jahr über dem gewaltbereiten Boss vor Ort, Jadlowker, und im Winter »gehört« sie dem Kastanienbrater – worin wiederum Klischees einer Nähe fahrender Völker zum Zyklus der Natur stecken. Euphemia selbst definiert das als archaische Besitzbeziehung! Diese ambivalente Konstruktion legt Roth über die klischeehafte Passion des Eibenschütz für die sexuell unerschöpfliche Zigeunerin: Er kann sein entgrenzendes, in Exzentrik und Ich-Verlust reißendes Begehren (es soll durchaus »Liebe« sein) nur entwickeln, weil für ihn als Lückenfüller keine Gefahr einer exklusiven, verpflichtenden Bindung besteht. Insofern extremiert und potenziert Roth die (hysterischen) Ambivalenzen, die im traditionellen Zigeunerinnenstereotyp schon angelegt waren. Ganz und gar Männerangst ist aber, dass Eibenschütz kollabiert und zum willenlos dahintreibenden Alkoho-

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liker wird, als er vom Kraft- und Naturmensch Sameschkin verdrängt wird – ohne dass es Euphemia irgendetwas ausmacht. Zumindest aus daraus ging die Konstruktion Euphemia-Grenzschenke hervor, eine Art Venusberg in einem kapriziös-selbstironischen Satyrspiel des postromantischen Romans, in dem man, sehr wohlwollend, Ansätze zu einem postmodern ironisch zweideutigen Spiel mit Klischees von Ethnien, Außenseitern und Geschlechtern finden mag. III Der Inszenierungscharakter des extemporierenden, quasimündlichen Erzählens in der Romanexposition Kehren wir nach diesen wenig systematischen Bemerkungen zum Verhältnis von (Ein-)Ordnung und Geschlechterkonstruktionen noch einmal zu den oben abgedruckten Anfangsabsätzen zurück. Absatz zwei (»Was nun Zlotogrod betrifft«) und drei (»Der Eichmeister benützte«) exponieren in komplementären Bildern Roths Grundmotiv der widerstreitenden Kräfte von West und Ost. Der Antagonismus wird hier durch die Attribute der Ausgedehntheit des Ortes (Zeile 11) und dem als »ärarisch« und diminutiv ironisierten »Wägelchen« befestigt. Eibenschützʼ Daseinskonflikt entsteht, weil er zu beiden Strukturregionen eine ambivalente Beziehung unterhält. Man könnte das als Kennzeichen fürs späte Werk Roths sehen: Der »ferne Osten der Monarchie« (VI. 131) ist nun kein sicheres Refugium mehr, worin sich die bürokratische Regulierung der Staatsordnung wundersam harmonisch mit der auf Gewohnheitsrecht gewachsenen Hierarchie (einer leiblich direkten Beziehung) arrangiert. Das existentielle Dilemma spielt sich beim späten Roth innerhalb dieser k.u.k Welt selbst ab. Es hat sich gelöst von den kulturkritischen Klischees des seelentiefen, organisch gewachsenen Ostens und eines egalisierenden, bürokratisierenden und kommerzialisierenden Westens. Es wird schon im Buchtitel als gleichsam zeitloses des abstrahierenden Messens und des »Lebens« vorgestellt.

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Medium der Überbrückung jenes anfangs in einem selbstgestrickten Netz aus (»westlicher«) Regulierungsideologie und leerer Ehe eingesperrten Eibenschütz und der ursprünglicheren Vitalregion rund um die Grenzschenke ist – der Schimmel, der wie der Eibenschütz selbst aus dem Militärdienst entlassen wurde! War beim erstmaligen Lesen schon schwer einzusehen, weshalb zunächst statt des Eichmeisters dessen so unspektakuläres Gefährt in den Blick kommt und, mehr noch, was so bemerkenswert sein soll an dem Umstand, dass er für die Erhaltung des zugehörigen Gaules »selbst aufzukommen hatte« (VI. 129, Zeile 16), so befremdet im vierten Absatz (»Der Schimmel besaß […]«) umso mehr, dass ausgerechnet der abgehalfterte Militärklepper Gegenstand der ersten ausgiebigen deskriptiven Passage wird und nicht etwa zum Beispiel die Insassen, von denen die Geschichte doch handeln soll und die auch ganz zu Anfang der Erzählung aufgerufen werden. Gerade diese Überraschung aber wird den Schimmel im Gedächtnis des Lesers halten. Im schon erwähnten Kapitel XII schlägt dann die Stunde des halbvergessenen Gauls als Bild jener Lebenskräfte, die mehr wissen als die Akteure von sich und dem Zukünftigen wirklich wissen können oder wollen. Die Farbe des Schimmels, das Weiße, steht denn auch in Verbindung mit dem Winter, jener Zeit, in der nicht zuletzt der Maroniebrater Sameschkin wiederkehrt und seine angestammten Besitzrechte auf Euphemia geltend macht, als wäre er ein wiederkehrendes Alphatier einer Primatengruppe. Der Schimmel trägt den Eichmeister im Moment höchster Irritation, dem Zustand liebesbedingt paralysierten Bewusstseins, weg von der ausgehöhlten Ehe und allzubeherrschter, penibel sterilisierter Lebensordnung hinauf in die romantische Region der Ausgegrenzten und des entgrenzten Begehrens. Der »stattliche« Vierbeiner entführt seinen »sehr stattlichen« Herrn, der offiziell der Versorger und Regent, insgeheim jedoch gleichfalls abhängig und geführt ist, ohne Zwischenstufe aus der Quarantäne in das anarchisch brodelnde Leben draußen; hinaus in die im mehrfachen Wortsinne Grenzen

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überschreitenden Landschaft, deren Bewohner zumindest für den Eibenschütz ohne fixierbare Regeln existieren (wollen). Wie im Traum oder Märchen (s.o.) wird die Ordnungsexistenz des Eichmeisters an den Ort seines überwältigenden, wenn auch vielleicht (körperlich) nicht wirklich ausgelebten Glückserlebens versetzt, in die »helle Mitte« zwischen den Ordnungen, wo die Grenzschenke liegt (s.o.). Die Aggressionen des Eibenschütz gegen die führenden männlichen Bewohner der Grenzschenke haben mehrere Quellen: Die Missachtung des von ihm vertretenden Prinzip des staatlich kontrollierten, objektivierbaren Messens der Dinge ist nur die eine. Die Gefährdung durch den entgrenzenden, nicht in Exlusivbesitz nehmbaren und nicht per Gesetz einhegbaren Sexus der Zigeunerin, eine zweite. Eine dritte ist die mit beiden zusammenhängende männliche Konkurrenz zu Jadlowker. Dieses zwölfte Kapitel wiederum steht, im Gegensatz zu (fast) allen anderen, im Präsens, jenem Tempus mithin, in der ganz zu Beginn – »In bestimmten Zeiträumen geht Eibenschütz also […]« (VI. 129, Zeile 3f) – das Wirken der entscheidenden, letztlich überpersönlichen Kräfte bildlich (bzw. »verkörpert«) vorgestellt wurde: das Messen und Prüfen der Gewichte als Maßeinheiten für den Tausch von Waren (wohl meist, aber nicht nur gegen Geld). Im Kapitel XII wird der Gaul zum Vollstrecker des Schicksals und führt Anselm an den gefürchtet-begehrten Ort gerade in dem Augenblick, da er seines Handlungswillens beraubt ist. Das Kapitel endet im Augenblick, da sich Anselm willenlos dem Schimmel überlässt. Sein Blick geht ins Firmament hinauf, denn da steht – ganz traditionell – sein Schicksal geschrieben: »Die Sterne sieht man nicht, […] aber man fühlt sie hart und klar […]. Wohin saust man mit dem Schimmel Jakob? Er weiß den Weg allein.« (VI. 154) Die vor äußeren Ablenkungen gefeite, wohl rhythmisierte Unbeirrbarkeit des Schimmels ist nur die Kehrseite eines intimen Kontaktes zur höheren, nicht unmittelbar sichtbaren, schicksalhaften Ordnung: Daher ist Anselms Führer »immerhin ein stattlicher Schimmel«, doch auf einem Auge blind

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infolge einer Krankheit, »deren Ursache auch der Veterinär nicht erklären konnte« (VI. 129, Zeile 19f.). Seine Sinne sind, humorvoll frei nach dem Topos vom blinden Seher, halb vom Diesseitigen abgezogen, doch weiß er sich darum nur umso schlafwandlerischer zu bewegen hienieden. Auch in dieser Hinsicht findet sozusagen eine Real-Übertragung von Topoi der Menschenwelt auf das Tier statt, und Roth erlaubt sich den Scherz, diese Übertragung in einer Schlussarabeske humoristisch offenzulegen: »Es ist, als hätte er [der Schimmel] auch Sehnsucht, wie sein Herr, nach der Zigeunerin Euphemia Nikitsch.« (VI. 154) Eben diese Übertragung wurde bereits in der Exposition subtil entwickelt aus alltäglichen Idiomatiken, die uns so reden lassen, als ob Gegenstände Gefühle und Bewusstsein hätten – das Übertragen auf Tiere war dabei nur eine der Spielarten: Der Staat gibt etwas zu erkennen (VI. 129, Z 7); der Bezirk war ausgedehnt und umfasste vier Dörfer (Z 11f); dann: »Der Schimmel besaß noch ein ansehnliches Temperament« (Z 17) – die Lehre vom Temperament ist eigentlich anthropologisch. Es scheint jedoch auch – ein weiterer, feiner Witz dieser Exposition – umgekehrt zu verlaufen. Zunächst wird gesagt, der Schimmel sei »immerhin ein stattlicher« (VI. 129, Zeile 20f), eine Seite später (VI. 130, Zeile 10) heißt es vom Eichmeister, er »war ein sehr stattlicher Mann.« Auf den Folgeseiten wird der Eibenschütz noch zweimal »stattlich« genannt, als sollte das Attribut dem Leser eingeschärft werden. (Diese Arbeit mit wiederkehrenden Leitattributen klingt wie eine locker gewitzte Parodie auf traditionelle Epik.) Zwei Seiten nach der ›Ouvertüre‹ fällt das Adjektiv erneut, diesmal dient es der Gegenüberstellung Anselms und seines nachlässigen (»faulen«) Vorgängers, einer Inkarnation des »altösterreichischen Schlendrians«. Dieser, dem Alkohol verfallen und mimetisch angepasst an das schlitzohrige oder auch schicksalergebene Ungefähr der Provinz, hatte »niemals die Maße und Gewichte im Städtchen Zlotogrod geprüft«: »Wie lange war es her […], daß es überhaupt Maße und Gewichte gab! Es gab nur Waagen. Nur Waa-

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gen gab es. Stoffe maß man mit dem Arm […] Sie wogen in der Hand, und sie maßen mit dem Augʼ. Es war keine günstige Gegend für einen stattlichen Eichmeister.« (VI. 131). Das ist eine charmant plaudernde, doch inkonsistente und überraschend simple Art, existentielle Topik – die Invalidität der Schicksalswaage – in eine Geschichte einzubringen. Das Attribut »stattlich« verbindet Anselm mit seinem »ärarischen« Schimmel und beide mit der »staatlichen« Aufgabe des exakten Messens. Es liegt auf der Hand, wie dieses Kernmotiv mit der Frage nach der Funktion des Geldes, einem unlösbar ambivalent besetzten Lebensthema Roths, verbunden ist. Im Roman stehen beide auch mit der gegenstaatlichen Ordnung der Grenzschenke in Beziehung – verknüpft mit dem Rothschen Lebensmotiv des Maskierens und Rollenspielens: Die Abwehr der formellen Rechtsordnung vereint deren Bewohner, aber auch ihr Verhältnis zum Geld und zu den Namen (vulgo Identitäten). Jadlowker, der Wirt, heißt eigentlich anders (»Kramrisch«), war einst wegen eines Tötungsdeliktes im Zuchthaus, versammelte dann um sich eine Gesellschaft, die die alten Klischees vom Zigeuner- und Randgängermilieu erfüllen: Kleinkriminelle, Herumtreiber, Deserteure. Zudem hantiert er mit gefälschten Handelskonzessionen und Gewichten – ist also direkter Gegenspieler des Eibenschütz – er hat gleich mehrere Hypotheken auf die Grenzschenke aufgenommen, lebt also wortwörtlich auf einem kleinen Berg Schulden. Als Eibenschütz ihn verhaften lässt, gewinnt er – Inbegriff des korrekten, objektiven Messens – vorübergehend die Aufsicht über die Schenke und damit Zugriff auf das Sexualobjekt Euphemia, die zu seinem Leidweisen ein bindungsloses Sexualsubjekt ist und Sex als eine Art Tauschhandel versteht. Gerade (auch) deshalb dürfte Eibenschütz hier seine romantische Leidenschaft gewinnen. Sein Sieg über Jadlowker via Durchsetzung der objektivierten Ordnung ist ein vorübergehender über einen sexuell Überlegenen. Dieser Sieg wird dann sinnigerweise durch eine naturhafte Katastrophe beendet, Jadlowker kommt frei und

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rächt sich an dem Konkurrenten. Die Gesellschaft der Grenzschenke steht generell im Bunde mit Naturkräften. Die Gewichte und das Gewichten sind also vielfach mit anderen Sphären verwoben, auch mit Roths »kulturkritisch« überformtem Ost-West-Konstrukt: Nicht Eibenschütz, sondern sein trunksüchtiger Vorgänger ist die wahre Verkörperung des k.u.k. Ostens. Der Beginn des Abschnitts II im Roman (VI. 131ff) ist eingebettet in diese Komplementarität – der nächste Absatz greift das Motiv heraus und macht es zum Thema des nachfolgenden, typische Wiederholungen von Erzählteilen imitierenden Absatzes: »Der Bezirk Zlotogrod lag im fernen Osten der Monarchie. In jener Gegend hatte es vorher einen faulen Eichmeister gegeben […]. Es war keine günstige Gegend für einen staatlichen Eichmeister. // Es hatte, wie gesagt vor der Ankunft des Feuerwerkes Anselm Eibenschütz noch einen [!] Eichmeister gegeben. Aber, was war das für ein Eichmeister gewesen! Alt und schwach und dem Alkohol ergeben, hatte er niemals die Maße und die Gewichte im Städtchen Zlotogrod selbst geprüft […]« (VI. 131). Die schicksalhafte Verkettung von Eichmeister und Schimmel, die im dritten Absatz angedeutet wurde, wirkt noch weiter als bis zur Wende in Kapitel XII, wo er sich von »Jakob« (dem Schimmel) zur Zigeunerin in die Grenzschenke tragen lässt. Jadlowker kann Anselm (vgl. Kapitel XL) nur erschlagen, weil der Eibenschütz das Tier nach der Ankunft in der Grenzschenke eigenhändig anbinden will: Im Augenblick des Anbindens wird er ermordet (VI. 221). Ihm ist es nicht mehr gegeben, sein Schicksal an den Ort des (verlorenen) Glücks in der antibürgerlichen Anarchie der Grenzschenke ›zu binden‹. Der Eichmeister stirbt, so gesehen, an seiner Illusion, er könne aus seiner Ordnungsexistenz herausspringen, das große Glück, das es selbstredend nur außerhalb der strengen Regeln gibt, erfahren, ohne zerrissen zu werden. Der Schimmel »begann durch den Hof zu wandern, mit schleifenden Zügeln« (ebd.), denn sein Ernährer und Erhalter liegt paralysiert am Boden. Jadlowker muss das Tier nun

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eigenhändig »fest an den eisernen Ring der Scheunentür« koppeln, damit es nicht davonzieht ohne seinen Herrn. Der Unhold hat die Vorherrschaft im Bezirk der »hellen Mitte« – auch und gerade, was das Messen und Abwägen und das hier residierende Objekt erotischer Begierde angeht – mit den dortigen Gepflogenheiten wieder an sich gerissen. Durch die beiden Taten Jadlowkers, den Mord und das Ankoppeln, wird Anselm paradoxerweise zurückgeholt in die Bezirke der ärarischen, aber auch der höheren Ordnung, deren Abbild zu sein das katholische Universalreich einmal beanspruchte. Der Schimmel läuft nicht fort, sondern ist noch dort, als der Wachtmeister nach dem Rechten sieht, den Entseelten findet und mit Schimmels Kraft zurück in die Stadt bringt. An drei Kardinalstellen zeigt uns der Erzähler den Eichmeister dahingleitend durch Schimmels »noch ansehnliches Temperament«. Von Mal zu Mal nähert sich dieser Vorgang einer Allegorie des Getragen- und Getriebenwerdens durch unbewusste oder schicksalhafte Mächte an. Von Mal zu Mal nimmt das Bewusstsein des Helden ab: Am Buchanfang war er wach, doch ohne eigentliche Wahlfreiheit und Interesse an der eigenmächtigen Steuerung. Bei der ersten Fahrt zur (werdenden) Geliebten im Kapitel XII war er bei wachen Sinnen, doch schon ohne jede bewusste, willentliche Steuerungsmöglichkeit. Beim dritten, ausführlich geschilderten Mal nun, auf seiner letzten Fahrt, sind auch die äußeren Sinne abgetötet: Der steuernde Wachtmeister hält den Eibenschütz für gestorben, und für die Welt ist er das auch – doch ganz im verborgenen Inneren glimmt seine Seele noch fort, gerade so stark, dass er vermutlich den höheren Sinn seiner Lebensaufgabe im ambivalenten Bild erfährt. Und nur um dieses – zweideutige – Gericht des gottgleichen ›großen Eichmeisters‹ zu erfahren, trägt ihn sein Schimmel noch. Erzähltechnisch kann man das als riskante, distanzlose Wiederverwendung tradierter Topoi empfinden; der Gesamtarchitektonik nach ist es weitaus durchdachter, als die recht naive Adaption religiöser Bebilderungen von Todesfahrten oder Jenseitsreisen vermuten lässt.

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Was ist das für eine höhere Bestimmung in einem Dasein, das zerriss zwischen tiefer Anhänglichkeit an exakteste Ordnung und hochschäumendem, subversiv erotischen Glücksbegehren bei den Ausgegrenzten? Roth lässt, was Wunder, (beinahe) alles im humoresken Zwielicht: Ob es den »Großen Eichmeister« nur in der Einbildung Anselms oder auch darüber hinaus gibt, bleibt offen546. Niemand anders hat allerdings diesen ominösen Götzen kennengelernt, und hinter der Erscheinung des Großen Meisters steht bizarrerweise ein Gendarm mit Bajonett, als wären die beiden eine farcenhafte Verwandlungsgestalt von Gottvater und Erzengel – oder der erhabenen Totenwache beim Militär. Das grenzt an Selbstparodie, ist aber zugleich ein humoriger Wiederbelebungsversuch des Romantischen: In der romantischen Ironie (mindestens) von Jean Paul bis Baudelaire konnte das Niedrige, Kindische und Derbkomische oder auch Entstellte und Abgelebte die Erscheinungsform des Transzendenten in der Moderne sein. Die Art der Vision ist dabei durchaus dem naiven Gemüt des Eibenschütz gemäß – andererseits gehört es zum Witz der Offenheit, dass Anselm und der Gendarm Piotrak umgekehrt ein irdisches Abbild der tatsächlich existierenden höheren Mächte (Schicksal, Gott) sein könnten, nur in kurios kleinem, allzumenschlichem Gewand. So oder so: Der Erzähler musste wenigstens so viel Mehrdeutigkeit in diesem naiven Finale lassen. Andernfalls wäre die erzwungen religiöse Dimension nur Selbstparodie, leeres Spiel mit lustigen Projektionen oder plumpe Mimikri an Volkstümlichkeit. Merkwürdig bleibt, dass mit diesem Schluss das eigentliche Drama zuvor, die Unvereinbarkeit von Lust und formalem Ordnungszwang, gar nicht mehr vorkommt. Ungelöst ist auch der Konflikt zwischen Eibenschützʼ Stolz als »Ordnungshüter« und Jadlowkers systematischer Verachtung der staatlichen Ordnung. Der wird grundiert vom Kon546

Wenn es heißt, Anselm sei dieser überwirkliche Gendarm unbekannt, kann das sehr gut bedeuten, dass er seine eigenen Projektionen nicht versteht, es wäre für Träume ja durchaus nichts Ungewöhnliches.

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kurrenzkampf um Euphemia – den Roth wiederum in bedenklich naiver Gefühlssprache schildert: »Auch im Amt konnte er [d.i. Eibenschütz] sich nicht enthalten, an die Freundin Jadlowkers zu denken, an die Zigeunerin Euphemia Nikitsch. Auf eine seltsame Weise vermischte sich in ihm der berufliche und menschliche Ekel vor dem Gastwirt Jadlowker mit der schönen Sehnsucht nach der Frau Euphemia. Er wußte selbst nicht, der arme Eichmeister, was ihm da geschah.« (VI. 156f) Es beunruhigt ihn, dass er »dermaßen gleichmäßig an die gesetzlichen Verfehlungen Jadlowkers denken musste wie an die Schönheit Euphemias. Gleichermaßen dachte er an beides und auch gleichzeitig. Eins ging nicht ohne das andere.« (VI 157) Würde man diese Passage verallgemeinern, müsste man daraus folgern, dass Roths existentieller Lebenskonflikt um die Ein-Ordnung letztlich nicht zu trennen war oder sich sogar speiste aus einem höchst prekären Verhältnis zur Identität als Mann bezüglich Macht und Sexualität. Genau besehen, handelt es sich jedoch nicht bloß um den Konflikt einer männlichen, systematischen, hierarchischen, formalen Ordnung mit unüberschaubarer Weite, Natur, Weiblichkeit, zerfließenden Grenzen, Vielfalt und Sexualität. In Jadlowkers Schenke herrscht vielmehr ein straffes Ordnungssystem, unerbittlicher die Freiheit des Einzelnen beschränkend als jedes staatliche Recht – nur wird es nicht ausdrücklich gemacht als »gesatztes« Recht. Daher wird es romantisiert von Roth, der sich sehr nach Führung und Schutz durch Autoritäten sehnte, dass er blind gewesen sein muss für die Freiheit und Gleichheit schaffende Kraft eines modernen, formalen Rechtssystems – eine Freiheit, die praktisch zu leben er jederzeit für sich in Anspruch nahm. Das Regime in der Grenzschenke ist eines, worin das Recht der Gewohnheit, des nackten Inbesitznehmens, und vor allem des stärkeren und verschlageneren, rohen Mannes, des Alpha-Tiers gilt, was wiederum für Männer mit brüchigem Selbstwertgefühl oft faszinierend wirkt – so lange sie nicht Teil des Systems, sondern dessen Betrachter oder Erträumer sind.

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Archaische Abhängigkeiten strukturieren die lockere Gemeinschaft, gemeinsames Feindbild (die Staatsmacht, das exakte Messen) stiftet ein Zusammenhalt – was gegebenenfalls eine wiederum gemeinschaftsstiftende Verstellung oder Doppelexistenz nach sich zog, Formen des Daseins, die Roth stets faszinierten. In Bezug auf Frauen als Sexualobjekte herrscht ein quasi-archaisches Besitzrecht unter denen, die die staatliche Gesetzesordnung ausgrenzte (und die daher auf keine Sexualpartner innerhalb der Ordnung mehr hoffen können). Als Euphemia den Eibenschütz eines Tages wegschickt, weil der Kastanienhändler Sameschkin wie jeden Winter angekommen ist, gibt es keine gefühlshafte Begründung für die Notwendigkeit dieser Trennung einer Liaison auf Zeit, außer der: Sameschkin »kommt jeden Winter. Ihm gehöre ich eigentlich.« (VI. 186) Die, die scheinbar keinem gehören kann und ihre Partner frei wählt, ist einem periodisch einherkommenden, naturnah urwüchsigen, eher rohen Menschen vermutlich nicht gefühlshaft verbunden – sondern als Besitz wie in archaischen Zeiten. So trivialromantisch diese Konstruktion ist, bleibt sie doch typisch für die Ambivalenzen und Männerphantasien Roths – welche wiederum in Klischees und stereotype Oppositionen gebunden waren: Eibenschütz ist ein etwas schwächlicher, biederer, gehemmter Durchschnittsbürger, der lange Zeit nicht an seiner Asexualität (in der Ehe) litt, dann plötzlich Gefühle zeigt und sich adoleszent entgrenzend vernarrt in eine einzige, individuelle Frau; Sameschkin dagegen ist der urwüchsige Mann, abhold jeder Gefühlsduselei, der sich eine Frau »nimmt«, und diese Frau gibt sich willig als Sexualobjekt hin. Das Besitzrecht steht fest, auch oder gerade, weil es nirgends verschriftlicht, vielleicht nicht einmal ausdrücklich gemacht wird. Insofern ist Roths herbeiphantasierter Osten unterlegt mit Männerphantasien und in sich extrem ambivalent! Mit wunderbarer Freiheit im Gegensatz zu einer gleichmacherischen, wissenschaftlich entzauberten westlichen Moderne hat dieser Osten des späten Roth nichts zu tun.

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Die Opposition der beiden Ordnungstypen – Jadlowker+Grenzschenke versus Eibenschütz+ärarische Maßordnung – ist also komplexer und ambivalenter als auf den ersten Blick, und sexuelles Begehren wie daraus erwachsene Identitätskonflikte spielen eine entscheidende Rolle. Sie hat viel mehr mit der Opposition Lohse-Lenz aus dem »Spinnennetz« gemeinsam, als man zunächst denken möchte. Die angeblich romantisch-anarchische, bunte Ordnung der Grenzschenken-Welt-in-der-Welt ist näher besehen straffer strukturiert als die staatliche (k.u.k.) Ordnung. Sie ist die Sphäre der nackten Verfügungsmacht des starken, rohen Mannes über andere Männer und vor allem über weibliche Sexualobjekte – wobei in dieser Grenzschenkenwelt bezeichnenderweise Frauen, die nicht dem Zigeunerinnenklischee entsprechen, nahezu inexistent sind. In der das Begehren tötenden Staatsordnung dagegen (zumindest in Eibenschütz öder Unteroffizierswelt) können Frauen dominant sein und aktiv gestaltend den Mann beherrschen: Eibenschützʼ Ehefrau Regina tut das, ähnlich wie die Ehefrau des Dr. Demant im »Radetzkymarsch«. Sie zwingt Eibenschütz ›gewaltfrei‹, zurück in den Osten (!) zu gehen. Gleichberechtigte Dialoge über Bindung und Lebensgestaltung oder über Interessenskonflikte gibt es hier so wenig wie in anderen Sphären der Rothschen Erzählwelten. Die in Registraturen und Verhaltenskodexe eingezwängte Welt erscheint als Sphäre der Erfahrungslosigkeit, der lebenslähmenden peniblen Ordnung und der kollektivneurotischen Angst vor Begehren und emotionaler Entgrenzung – und ist damit eine ausdifferenzierte, erzählerisch reichere, wenngleich im Zugriff auf Klischees wiederum höchst problematischere Nachfolgekonstruktion zur dualistischen Begehrenskonstruktion des Anton Wanzl in Roths frühesten Erzählungen. So viel Roth erfunden haben mag in Bezug auf seine Person, die Erzähltexte belegen nachdrücklich, dass er in dieser Hinsicht tatsächlich zentrale Elemente seines Binnenlebens und seiner persönlichen Erfahrungen den Figuren mitgab – und dass Frauen, die ihn gut

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kannten, das sehr klar sahen, wohl klarer als Roth selbst. Man erinnere die im Abschnitt zur »Legende« zitierte Beschreibung Manga Bells von Roths panischer Eifersucht, männliche Konkurrenz-, Versagens und Verlustangst ihn dazu brachten, das Sexualobjekt pausenlos zu kontrollieren und jede Möglichkeit zu Kontakten mit Konkurrenten auszuschalten. Das Ende des Romans »Das falsche Gewicht« ist semantisch auch in anderer Hinsicht offen, zumal der Richterspruch selbst. Zum Bemühen des kleinen Eichmeisters, alles hienieden auf ein Maß zu bringen, orakelt der große wie in einer volkstümlichen legendarischen Sterbenserzählung: »Alle deine Gewichte sind falsch, und alle sind dennoch richtig. Wir werden dich also nicht anzeigen!« (VI. 222). Unentscheidbarkeit wird in diesem buffonesken Theaterfinale als religiöse Bestimmung der irdischen Dinge ausgegeben; allenfalls der (wie immer kindisch vom delirierenden Eibenschütz halluzinierte) Gott kann wissen, was jenseits der Ambivalenz liegt. Eibenschütz musste sterben, weil er eine den lebens- und sexualitätslöschendem Ordnungszwang mit adoleszent verschwärmter erotischer Ausbruchssehnsucht daraus zu vereinbaren versuchte. Insofern war sein Tod durch die Hand des Mannes, der in der Gegenwelt der Grenzschenke das Gesetz der rohen, naturnahen männlichen Stärke und Gewalt am besten beherrscht, die einzige Art »Lösung« für seinen Konflikt – eine Lösung, die allerdings auch in diesem Roman wieder durch Verfall in Trunksucht und innere Apathie bezüglich jeder Möglichkeit, sein Leben zu gestalten, vorbereitet wurde. IV Schimmel und romantisierte Naturganzheit Ganz zu Anfang, im vierten Absatz (VI. 129, Z. 17ff), als das bewegte Bild vom (unwillkürlichen) Dahingleiten unter der Führung des Schimmels eingeführt wird, ist sogar die Satzordnung genau auf seine spätere Bedeutung zugeschnitten. »Der Schimmel besaß«, setzt dieser Absatz ein, der Slama und Eibenschütz auf dem Wägelchen dahin-

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gleitend zeigt, immer tiefer hinein in den rundherum treibenden Schnee, ins Elementarische, Weiß mit Weiß verschmelzend: Ein »Schneewirbel hüllte den Wachtmeister, den Eichmeister, den Schlitten in Unsichtbarkeit, und den Schimmel erst recht [sic], da er fast so weiß war wie der Schnee« (VI. 130, Z. 7ff). Wie wichtig es Roth ist, das Eingehülltwerden vom Elementarischen schon hier zu Anfang bildhaft vorzuführen, bezeugt ein weiterer Sprung: Von einem Satz auf den andern wird der Sommer, der bis in die Mitte des vierten Absatzes herrschte, zum Winter. Aus dem »zweirädrigen Wägelchen« wird ein »kleiner, zweisitziger Schlitten« (VI. 130, Z. 5) – nur der Schimmel, der »hatte den gleichen Galopp, Sommer wie Winter« (ebd., Z. 6). Das ist natürlich nicht zuletzt ein Vorklang jener schimmelgeführten Fahrten des Eibenschütz zu Euphemia in die Grenzschenke, dem zigeunerromantischen Pendant zum Venusberg – wo dem im Rhythmus der Jahreszeiten lebenden Kastanienbrater das angestammte Besitzrecht auf Euphemia zukommt. Sameschkin verkörpert womöglich zugleich den ebenso ›natürlichen‹ wie männlichen Kampf ums Dasein innerhalb der menschlichen (Rand-)Zivilisation. Er geht lediglich Zweckbündnisse innerhalb von Gruppen mit gemeinsamen Feinden ein, die kein offizielles und noch weniger ein universelles Recht anerkennen, sondern nur das des Stärkeren oder Verschlageneren. Im Übrigen gründet diese Welt-in-der-Welt in einem halb-archaischen Näheverhältnis zu Rauschmitteln. Im Zentrum steht schließlich die Schenke, und deren Hauptzweck ist das Organisieren und Verteilen von Rauschmitteln, ohne die hier, im vermeintlichen Gegenreich der Freiheit von zuviel sozialer Kontrolle und rechtlicher Eigenverantwortung, kaum einer auszukommen scheint. »Eingehüllt« sind die Insassen schon durch die Anordnung des in sich dreiteiligen vierten Absatzes am Romanbeginn: Der erste (Zeile 17–21) charakterisiert den Schimmel, der mittlere die Fahrenden (Zeile 22–31), der letzte (ab Zeile 31ff: »Der Schimmel galoppierte dahin, mit ehrgeiziger Eleganz«) wieder primär den Schimmel, sei-

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nen gleichmäßigen Trott, der alle ins Elementarische hineinzieht – und das so, als müsste er dazu gar nicht gelenkt oder getrieben werden. Dass das Pferd bzw. die durch es vertretenen Kräfte und nicht der Eibenschütz oder Slama der (eigentliche) Träger der Handlung ist, lässt Roth an zwei Details schon in diesem vierten Abschnitt durchblicken. Erstens: Das Pferd ist »stattlich« und verfügt über ein »noch ansehnliches Temperament« (VI. 129, Z. 17 u. 21). Es »galoppierte dahin, mit ehrgeiziger Eleganz und mit dem Elan eines aktiven Kavalleriepferdes«. Der Eibenschütz dagegen hat ja gerade diese Eleganz des aktiven Dienens beim Militär durch die Ausmusterung verloren. Das von ihm gezogene Gefährt aber ist ein eher niedliches Ding im Diminutiv, ein ›hurtiges, goldgelbes Wägelchen‹, und so ein Leichtgewicht im Schlepp vermag er mühelos zu beherrschen, während im »ziemlich ausgedehnten Bezirk« die Insassen ohne das Fahrzeug ohnmächtig wären. Zweitens: Nach (sieben) Sätzen, die die Insassen, die nominellen Lenker des Geschicks, gerade einmal flüchtig skizzieren, nimmt sich der Erzähler für die auffällig assonierende (ehrgeizige) Eleganz und den Elan des ›aktiven‹ Pferdes sehr viel mehr Zeit. Das einzige, was umgekehrt bei den Fahrenden als Aktivität erscheinen könnte, nämlich das Führen und Antreiben des Tieres, wird von Bildern bloßen Bewegtseins verdrängt: »Zügel und Peitsche hielt der Eichmeister in der Hand« – er hält sie eben nur, denn drei Sätze weiter knallt »fröhlich die Peitsche«, ohne dass gesagt wird, jemand habe sie bewegt – sie tut es von alleine, und Roth führt das Spiel mit dem Eigenleben des unbelebten Dinges humoresk fort: »es war, als lachte sie [die Peitsche] geradezu« (VI. 129, Z. 30). Das ist eine denkbar schlichte Heiterkeit der Metaphorik, die ihre ästhetische Qualität allererst durch die Einbettung in eine Mikrodramaturgie gewinnt: Sie tritt innerhalb lockerer, doch wohlbedachter Abfolgen von Übertragungen menschlicher Eigenschaften (Lachen) auf nichtmenschlichte belebte (Schimmel) und dann auf unbelebte Wesen (Kutsche) und ist auf

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diese Weise verknüpft mit den wechselseitigen Spiegelungen von Natur-(Sexualitäts)-Verdrängung im Staatssektor, Eingehülltsein in Naturkräften in der Grenzschenkenwelt. Die Insassen des »Wägelchens« sind in der Ouvertüre, wo die Grundsubstanz des Romans variantenreich verschleiert entfaltet wird, nicht nur bloße Gefahrene, sondern auch buchstäblich gesichts- und geschichtslos. Als wären sie bloße Platzhalter künftiger Individuen, gehen sie auf im typisierten, lediglich durch markante Punkte angedeuteten Erscheinungsbild: Slama existiert bislang nur als Doppeladler und goldener Pickel, Anselm bloß durch seinen »mit Sorgfalt emporgewichsten Schnurrbart«. Der Leser wird gleichsam auf Distanz gehalten. Ganz anders im Verhältnis zum Schimmel: Er wird überraschend ausführlich, mit demonstrativer Liebe zum physischen und ›biographischen‹ Detail gewürdigt. Dessen immerwährend »gleicher eleganter Galopp« ist der rote Faden dieses Abschnitts und damit all dessen, was kommen wird. Er zieht aus unbestimmten Vergangenheiten herein und reicht über das Ende der Handlung hinaus – womit er bereits hier die Welt der staatlichen Regulierungen mit der ihr scheinbar nur gegensätzlichen, vitalen, zyklischen Natur verbindet. Alle entscheidenden Personen lässt der Erzähler hingegen abtreten, per Tod, Versetzung, Inhaftierung oder, indem er sie in die Ferne schickt. Das verstärkt den Charakter eines Bühnenauftritts – zu dem notwendigerweise der -abgang gehört. Nur die im Grunde kaum an der Entwicklung des tragischen Geschicks des Eibenschütz beteiligten Bewohner der »ziemlich ausgedehnten« Gegend bleiben unverändert zurück – als ob nur das Leben in der staatlichen (Über-)Regulierung eine große Inszenierung wäre, die Grenzschenken-Welt-in-der-Welt dagegen, die doch so offensichtlich aus Versatzstücken der Zigeuner-, Verbrecher- und Außenseiterromantik zusammengekittet wurde, wie eine naturhaft gewachsene, zeitlose erscheint. Die Inszenierung der Welt als Bühne ist natürlich selbst ein alter literarischer Topos, doch Roths Einführung des Bühnencharakters der Landschaft ist subtil und kann erst im

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Nachhinein in seinen Konsequenzen verstanden werden: Die Gegend mit dem lockeren Verbund kleiner Ansiedlungen ist ausgedehnt, horizontal, nicht vertikal oder hierarchisch strukturiert wie die Kapitale. Vor allem ist sie einfach und undramatisch vorhanden. Wie vor Kulissen vollzieht sich hier des Eibenschützʼ Erscheinen: Im Wägelchen wird er hindurch getragen, ist der Neuankömmling und dringt von außen herein mit seiner Lebensaufgabe des objektivierten Messens – und lässt sich wohlig passiv dahingleiten, gezogen vom seine Kavallerieeleganz trotz halber Erblindung bewahrt habenden Schimmel. Innerhalb der Grenzschenken-Staffagen-Welt ist es überraschenderweise die besonders augenfällig aus tradierten Klischees zusammengesetzte Euphemia, die am wenigsten Attrappe ist. Anselm will sie gleichsam in seine Ordnungswelt holen und sich letztlich zueigen machen. Das ist per se unmöglich, denn sie ist eher eine Art magisch erotisches Zentrum der Gegenwelt, die über den Händeln der anderen steht, ein Jungbrunnen, der vielen Glück zu schenken vermag ohne Rücksicht auf den gesellschaftlichen und moralischen Status der Günstlinge. Insofern eine romantisierte Schwester jener Frauen, die Friedrich Kargans Weg kreuzen (s.o.), interpretiert sie sich selbst allerdings als (sexueller) Besitz zweier Männer. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie schier unerschöpflich in Naturkräften ruht und Freuden spendet, mag sie dem von täglicher Unbill unbeirrten, »elegant galoppierenden« Schimmel ähnlich machen. Am entscheidenden Kapitel XII (s.o.) jedenfalls haben beide gleichen Anteil, und der Eichmeister ist der einzige, der zu »Euphemia« und dem Schimmel »Jakob«, der »Verschönerin« und dem Stammvater, eine innige Beziehung unterhält. Sie sind an keine einzelne Person gebunden, dienen einem ihnen zugleich verpflichteten Herrn, ohne sich zu veräußern und auf diesen beschränkt zu sein. (Jakob transportiert ja auch Slama und andere.) Anselm, der sich beiden anheimgibt, erfährt als einziger ein schicksalhaft großes Glück – das hat er vermutlich Jadlowker und Sameschkin voraus, denn diese leben noch nahe am Tierverhalten.

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Den euphorischen erotischen Ausbruch kann nur Eibenschütz erleben, der nach jahrelanger Selbstauslöschung buchstäblich seine Existenz aufs Spiel setzt, als die Triebe wiedererwachen. Der Preis der Neugeburt ist der Untergang. Dieser Untergang scheint indes seinerseits eine Wiedergeburt, wenn auch bloß eine opernhaft inszenierte – mag der Regisseur dabei der Autor, der Erzähler oder Eibenschützʼ naiver Geist im Zustand der Paralyse sein. Die eigenartig tiefe Bindung Anselms an seinen Schimmel lässt dem Erzähler keine Wahl, als sie zusammen abtreten zu lassen. In einem Epilog (Kapitel XLI) gibt Roth noch einen kurzen Abriss des Nachlebens der Verbliebenen. Da das Motiv des Dahingleitens durch Schimmels Kraft Präludium und Coda der Handlung verklammert, können wir erwarten, dass auch zum anfangs exponierten Bild des Verschlungenwerdens vom Schnee ein Pendant auftaucht. Ein wörtliches kann es natürlich nicht mehr geben, sind die bedingungslosen Handlanger formal strenger Ordnung doch scheiternd abgetreten, der Schimmel herrenlos. Eine variierte Wiederaufnahme aber findet sich. Nach Anselms Tod saßen Kapturak und Jadlowker »schon seit acht Tagen im Zloczower Untersuchungsgefängnis, als plötzlich das große alljährliche Ereignis des Bezirkes Zlotogrod ausbrach. Es krachte nämlich das Eis über der Struminka, und der Frühling begann« (VI. 223). Diese Bild, für östliche Gegenden wiederum ein Topos, korrespondiert direkt mit Bildern der Exposition, und dort werden sie – wiederum in einer recht naiven Beanspruchung großer Topoi mit Ahnungen des kommenden, eigenen Schicksals verknüpft (IV. 133). Der Eichmeister war zu Beginn in Zlotogrod »im Frühling, an einem der letzten Märztage« eingezogen; der »kleine Fluß, Struminka hieß er, schlief noch unter einer schweren Eisdecke, und die Kinder glitschten fröhlich über ihn dahin und die Fröhlichkeit machte den armen Eichmeister noch trauriger. Plötzlich in der Nacht, vom Kirchturm hatte es noch nicht [!] Mitternacht geschlagen, hörte Eibenschütz das große Krachen der geborstenen Eisdecke.« (VI. 132) Nur die Kinder sind spielend eins mit dem Eis – ähnlich, wie es im

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Schlussbild des Romans der Maronibrater Sameschkin, auf seine Weise vielleicht die konsistenteste Figur der Erzählung, sein wird. Er und Euphemia sind zwar durch eine merkwürdige, archaisch anmutende Besitzbeziehung sexuell aneinander gebunden; doch beide verbindet auch, dass sie im Rhythmus der äußeren und der Trieb- und Macht-Natur leben und frei sind, weil ihre Bindungen an die Menschenwelt Teil des natürlichen Systems flexibler Bindungen zum gegenseitigen Nutzen auf Zeit zu sein scheinen. Während alle anderen Figuren kurz und einfach verschwinden, verharrt der Erzähler lange beim davonziehenden Sameschkin. Der gerät nicht ins Nirgendwo, sondern verliert sich langsam und sicheren Schrittes über die Sümpfe hinweg, versinkt in die Eintracht und Zwiesprache mit Fröschen und Lerchen. Ob bei alledem der Blick in die menschenübersteigende Natur (den auch andere Rothsche Romane kennen) eine Lösung des Dilemmas anzeigt, muss (und darf) ohne Antwort bleiben – Roth belässt es bei ästhetisierter und wiederum offen sentimentaler Evokation gefühligen Umfangenwerdens durch die Natur: Das Aufgehobensein im schoßartigen und zugleich sanft regelgeleiteten Ganzen, die Erfüllung einer Lebenssehnsucht Roths, lässt er nur dem (›östlichen‹) Natur- und Kraftmenschen Sameschkin zuteil werden. Für den ›westlichen‹, ordnungsliebenden und zugleich -fliehenden Eibenschütz ist sie unerreichbar – es sei denn, der Tod wäre für ihn ein Übergang ins gewachsene Ganze. Sameschkin ist eine in sich ruhende Existenz, die sich verpflichtend binden kann, allzeit jedoch die Freiheit zum Weggang braucht; daher steckt in ihm gewiss eine Art Lösung für Roths eigenes Dilemma – man erinnere den Panegyrikos auf ähnliche Angebote in der Heilanstalt ›Hephata – in denkbar großem Kontrast zur eigenen Lösung, dem Schreiben. Sameschkin findet nicht nur in verschiedenen Ordnungen schnell seinen Platz, er wird vor allem begehrt, ohne gebunden zu sein – verkörpert insofern ein Rothsches Ideal von »Individualität«: Die einzige tiefere, gegenseitige, sexuelle Bindung ist eine, in der absoluter Besitz, Promiskuität und pure Abwesenheit

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sich abwechseln. Abwesenheit, Kommunikationslosigkeit und periodische Intimgemeinschaft gelten offenbar gleich – werden zusammengehalten durch einen archaischen Bund des nicht weiter zu begründenden Besitzverhältnisses an der Frau. Sameschkin genießt diesen Status, ohne etwas dafür tun zu müssen und ohne Angst, etwas könne sich daran ändern: Entwicklung oder gar Reifung ist in Roths Bindungsspektrum typischerweise nicht vorgesehen. Euphemia selbst spricht, als ob sie von jeher im Besitz Sameschkins war und es auch bleiben werde. Eine Entwicklung schließt auch sie per se aus. Sie erfüllt in dieser Hinsicht die Wünsche der Männer und lebt, Roths regressiver Sehnsucht gemäß, gleichfalls in Momentblasen. Hysterische Ambivalenz findet (oder sucht) hier Erfüllung in einer halluzinierten archaischen Besitzbindung, die autoritäre Bindung und Nicht-Bindung paradox vereint sind. Eibenschütz dagegen kann keine Lösung seines Dilemmas zwischen entgrenzendem Begehren und leer durchregulierter Staatsdienerwelt finden; deshalb verliert er sich in der Grenzschenkenregion – was wiederum eine Sehnsucht erfüllt, das alte Selbst abzustreifen. Ob der Preis für sein Glück zu hoch war, ist nicht auszumachen. So handelt das fein durchkonstruierte, zugleich gefährlich mit Klischees und Ressentiments hantierende Spätwerk »Das falsche Gewicht« auch über Reiz und Unbill zweier Phänotypen von Individualität – definiert durch ihr Verhältnis zur Ordnung, die wiederum verbunden ist mit den Sphären Sexualität, Natur, Gesetz und des Daseins als Rollenspiel. Sameschkin lebt wohl stets im Einklang mit sich, doch bleibt ihm das entgrenzende Glück vorenthalten, weil er anders als Eibenschütz aus keiner Begrenzung durch eine formalistische Ordnung ausbrechen muss. Er kann über das Sexualobjekt vermutlich deshalb verfügen, weil er eins mit den endlosen, zyklischen Kräften der Natur und deshalb männlich stark ist, ohne alle Zumutungen der modernen, abstrakten Ich-Individualität mit ihren Risiken der Bindung und individuellen Sinn- und Selbstsuche, frei vom Ideal einer Partnerschaftlichkeit auf Augenhöhe, die davon lebt, sich gegen-

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seitige Selbstbestimmung zu gönnen. In dieser Hinsicht erinnert Sameschkin an eine Sehnsuchtsfigur in Roths kleinem erzählerischen Kosmos, die auf den ersten Blick so verschieden und fern von ihm zu sein scheint wie nur denkbar, das Wunderkind Jackie, dem der Applaus, die Aufmerksamkeit, die Liebe ebenfalls einfach und ohne Bezug zu seinem Innenleben zufällt, wiewohl er nichts leistet, nicht einmal schauspielert, vielmehr einfach »ist«, eins mit sich, Teil der und doch außerhalb aller gewohnten Ordnung. Das initiale Bild vom Bewegtwerden des Eibenschütz zieht gleichsam einen poetischen Vorhang über die ersten vier Absätze des Romans, die den untergründigen motivischen Horizont der nachfolgenden Geschichte entwerfen. Der Eingang ins Schneegetümmel (VI. 130, Zeile 7–9) ist die ausgedehnte Schlusskadenz einer Ouvertüre voller Leitmotive, die zur Handlung nichts beiträgt – man könnte die Geschichte ohne Weiteres erst mit dem fünften Absatz beginnen lassen –, die aber untergründige, erst nach und nach im Laufe der Lektüre hervortretende Konnotationen herstellt, um ihre poetischen Potentiale zu entfalten. Die ›eigentliche‹ Exposition ist eine vergleichsweise nüchterne biographische Skizze des Eichmeisters in den Absätzen fünf (VI. 130, Zeile 10ff) und folgende. Auf sie fällt von der vier Absätze umfassenden Ouvertüre her ein eigentümliches Licht, war doch gerade eben erst der Held mit Schimmelskraft hinweg- und in den stöbernden Schnee hineingetragen worden. Jetzt präsentiert uns der Erzähler, als wäre noch gar nichts »wirklich« geschehen, einen Eibenschütz in Fleisch und Blut, mit einer eigenen, ganz diesseitigen und deshalb an sich bedeutungsarmen äußeren Biographie. Er liefert also nach, was die ›Ouvertüre‹ zuvor uns Lesern mehrmals vorenthielt, und das im Berichtton. »Anselm Eibenschütz, unser Eichmeister, war ein sehr stattlicher Mann. […] Er hat seine zwölf Jahre als längerdienender Unteroffizier beim Elften Artillerieregiment verbracht« hebt dieser fünfte Abschnitt an, als wäre Anselm für uns Leser (Hörer) schon längst vertraut. Durch den Allerweltskniff des

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quasi-mündlichen Einbezugs des Lesers werden in diesem Falle zwei Dinge zusammengeführt: das unmittelbar vorhergehend exponierte Bild der getrieben-verwehten Proto-Existenz des Eibenschütz und ein Bild von Eibenschütz als seiner selbst mächtige, willensgeleitete Person. Wie sich beide Teile genau zueinander verhalten, bleibt der Phantasie überlassen und zwar bis zum Ende des Romans, denn auch an diesem Ende der Geschichte bleibt, wie erwähnt, offen, ob Anselm ›wirklich‹ im Dienste einer höheren (metaphysischen) Ordnungsmacht stand oder ob seine Vorstellungen vom ›Großen Eichmeister‹ eben bloß seine subjektiven, kindlichen Phantasien vom großen, väterlichen Regelsetzer im Himmel waren. Die Exposition ist deutlich in zwei Hälften geteilt, und beide Teile kontrastieren durch einen je eigenen syntaktischen und rhetorischen Fluss. Den vielgestaltigen Modulationen der ersten vier Absätze, die ein großes Tonspektrum zu instrumentieren verstehen – vom märchenhaften »Es war einmal« über den theologischen Merksatz, das ironisch eingefärbte Dingwort (»Rüstung«, »Wägelchen«) und den empfindsam skurrilen Ton der ›Biographie‹ des Schimmels Jakob –, kontrastiert der Abschnitt fünf (VI. 130, Zeile 10ff) auffallend stark: Er besteht aus einer der von Roth häufig bemühten, anaphorischen Reihungen von wenig bis gar nicht ausgeschmückten Subjekt-Prädikat-Sätzchen. Vier dieser fünf Sätzchen beginnen mit »Er war […]« oder »Er hatte […]«, so als könnte die syntaktische Phantasie nicht weit genug reduziert werden, um ein Spiegelbild der soeben betretenen, nüchternen Welt des Hier und Jetzt abzugeben. Solche Modulationen innerhalb des artifiziell naiven, teils kindlichen, neo-oralen Parlandotons gehören, wie wir sahen, wesentlich zur Kunst Joseph Roths. Sie operierte dabei in oft prekärer Distanzlosigkeit zu Klischees der Sachen (Geschlechter, Sozialordnungen usf.) sowie des Ausdrucks, überrascht dabei jedoch auch immer wieder mit subtilen Brechungen, ironischen Quasi-Zitierungen von Versatzstücken, Spielen mit den Übergängen von Simulationen, Illusionen und Sachdarstellungen.

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Fünfter Teil: Ambivalenz im lyrischen und erzählerischen Werk

Was den prinzipiellen Begriff von Sprache, Text, Denken, Welterfahren anging, wehrte sein Konzept des literarischen Sprechens und Schreibens alle Irritationen und Pluralisierungen der Moderne, die in Roths Generation in den Avantgarden hervorbrachen, von vornherein ab. Innerhalb des populären, vermeintlich alternativlosen und naturwüchsigen Begriffs von Text, des Literarischen, des Sinns und der verbalen Darstellung von Geist und Welt hat Roth sich ein bewegliches, in vielerlei Hinsicht tatsächlich ganz aus dem komponierenden Vollzug des Schreibens hervorgehendes Konzept von Denkens-ausder-Sprache bzw. ›Denken-erst-durch-die-Sprache‹ geschaffen – und das nicht aus freien Stücken, sondern aus existentieller Not(wendigkeit) heraus. Nur im Vollzug dieser Art Schreibvorgangs konnte er Selbst, Fühlen, Geist und Welt in so bewegliche und zugleich verbundene Beziehungen setzen, dass er sich heimisch in der Welt zu fühlen vermochte, tagträumend an alle und alles gebunden, doch flexibel und ohne jede Verpflichtung auf Ich-Stabilität und Selbstverantwortung bleibend. Nur im Schreiben mochte er sich mitten im Leben, ganz »es selbst« und doch außerhalb seiner fühlen. Als gäbe es keine Kluft zwischen An- und Abwesenheit und keine zwischen erschriebener und leiblicher Welt, wechselte er spielend leicht, charmierend, alles in eine Schwebe humoresker Ironie versetzend, von Konversation zur Erzählung, von Brief zu Bericht, von fremden zu vertrauten Menschen, von leiblich anwesenden zu abwesenden, von halluzinierten zu historischen.

Bibliographie Bibliographie Einmalig oder nur beiläufig zitierte Werke werden nicht aufgeführt. In Klammern gesetzte große römische Ziffern mit nachgestellter arabischer Ziffer verweisen auf die Bände I–VI der 1989 im Kiepenheuer & Witsch-Verlag Köln erschienenen, sechsbändigen Werkausgabe, herausgegeben von Klaus Westermann und Fritz Hackert. »Briefe« verweist auf den von Hermann Kesten 1970 im selben Verlag herausgegebenen Band Joseph Roth. Briefe 1911–1939. »Freud« plus römische Ziffer verweist auf die Bände der von A. Mitscherlich 1969–79 im S. Fischer Verlag herausgegebenen Studienausgabe der Werke Sigmund Freuds (Band I-X plus Ergänzungsband). »Tucholsky« plus römische Ziffer verweist auf die Bände der von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz im Rowohltverlag 1975 veranstalteten Leseausgabe Gesammelte Werke. Agnon 1993 Alejchem 1995 Amthor/ Brittnacher 2012 Asmus 2012

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Chertenko 2012 Cziffra 1983 Dane 2012

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